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German Pages 224 Year 1983
Einführung in die Kommunikationswissenschaft
Ein Kurs im Medienverbund Dritte, verbesserte Auflage Erarbeitet von einer Projektgruppe am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität München KGSaur München · New York · London · Paris 1983
Das vorliegende Studienmaterial wurde erarbeitet von der Projektgruppe FIM-Kommunikationswissenschaft am Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) der Ludwig-Maximilians-Universität München. Leitung des Projekts: Redaktionsgruppe:
Horst Decker, Walter Homberg, Wolfgang R. Langenbucher Horst Decker, Petra Dorsch, Elisabeth Gallenkamp, Walter Homberg,
Gisela Hundertmark, Ludwig Maaßen, Norbert Schreiber Didaktik:
Frank Giesen, Hermann Eggert
Curriculum-Konzeption: Evaluationsansatz:
Ingrid Busack
Frank Giesen
Erstellung der Treatments: Schlußredaktion:
Georg Feil
Walter Homberg, Elisabeth Gallenkamp
Das Projekt wurde finanziert aus Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk, die vom Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen verwaltet wurden (Projektbetreuung: Ursula Schwarz). Die audio-visuellen Teile des Lehrsystems wurden als Fernsehfilme produziert vom Südwestfunk Baden-Baden, Hauptabteilung Ausbildungs- und Familienprogramm (Leitung: Werner O. Feißt; Redaktion: Ursula Goetzl und Josef Becker). Video-Kopien (VCR- und U-matic-Kassetten) werden über das Institut für den Wissenschaftlichen Film, Nonnenstieg 72, D-3400 Göttingen, verliehen. Eine bearbeitete und stark verkürzte Fassung des vorliegenden Studienmaterials ist als Begleitbuch zur Fernsehserie 1976 unter dem Titel „Politische Kommunikation. Eine Einführung" im Verlag Volker Spiess, Berlin, erschienen. Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Bernhard Badura (Universität Oldenburg), Prof. Dr. Hans Heinz Fabris (Universität Salzburg), Prof. Dr. Rainer Geißler (Universität Siegen), Prof. Dr. Ferdinand Graf (Pädagogische Hochschule Freiburg), Prof. Dr. Manfred Hättich (Politische Akademie Tutzing), Prof. Dr. Jürgen Hüther (Hochschule der Bundeswehr München), Prof. Dr. Werner Kaltefleiter (Universität Kiel), Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann (Universität Mainz), Prof. Dr. Harry Prass (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Manfred Rühl (Universität Hohenheim), Prof. Dr. Ulrich Saxer (Universität Zürich), Prof. Dr. Hans Schiefele (Universität München) Redaktion der zweiten, aktualisierten Rudolf Huber Redaktion der dritten,
und erweiterten Auflage ( 1982): Walter Homberg,
verbesserten Auflage: Walter Homberg
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Einführung in die Kommunikationswissenschaft: d. Prozess d. polit. Meinungs- u. Willensbildung ; e. Kurs im Medienverbund / erarb. von e. Projektgruppe am Inst, für Kommunikationswiss. d. Univ. München. [Leitung d. Projekts: Horst Decker . . . ] . — München ; New York ; London ; Paris : Saur Teilw. im Verl. Dokumentation, München (früherer Name d. Saur-Verl.) ISBN 3-598-10519-3 ISBN 3-598-10410-3 (gültig f ü r d . 2. Aufl.) ISBN 3-7940-3235-7 (gültig f ü r d . 1. Aufl.) NE: Decker, Horst [Hrsg.]; Projektgruppe FIMKommunikationswissenschaft Teil 1. - 3., verb. Aufl. - 1983. ISBN 3-598-10520-7
© 1 9 8 3 K. G. Saur Verlag KG, München Printed and bound in the Federal Republic of Germany by Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg ISBN 3-598-10519-3 (gesamt) ISBN 3-598-10520-7 (Teil 1) ISBN 3-598-10521-5 (Teil 2)
Inhalt Vorwort zur ersten Auflage Von Otto B. Roegele
5
Vorwort zur dritten Auflage Von Walter Homberg und Wolfgang R. Langenbucher
7
Einleitung: Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
9
Von Ingrid Busack, Elisabeth Gallenkamp, Frank Giesen, Walter Homberg und Wolfgang R. Langenbucher Studieneinheit 1: Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
27
Von Hans Peter Bleuel und Wolfgang R. Langenbucher Studieneinheit 2: Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit Demokratietheoretische Aspekte
51
Von Ludwig Maaßen und Horst Decker Studieneinheit 3: Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament im Prozeß der politischen Kommunikation
89
Von Walter Homberg und Norbert Schreiber Studieneinheit 4: Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle der politischen Kommunikation. . . 127 Von Ludwig Maaßen Studieneinheit 5: Wege der Interessenartikulation
161
Von Elisabeth Gallenkamp Studieneinheit 6: Politisches System und Massenkommunikationssystem
19*3
Von Gisela Hundertmark
3
Inhaltsübersicht zu Teil 2 Studieneinheit 7: Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem
225
V o n Gisela Hundertmark Studieneinheit 8: Die politische Rolle der Journalisten
259
V o n Walter Homberg und Hans Heinz Fabris Studieneinheit 9: Informationsinput aus dem politischen System und Informationsoutput des Massenkommunikationssystems
289
V o n Elisabeth Gallenkamp Studieneinheit 10: Instanzen der politischen Sozialisation
329
V o n Rainer Geißler Studieneinheit 11 : Politisches Verhalten und Mediennutzung
359
V o n Petra Dorsch Studieneinheit 12: Persuasive Kommunikation und Wirkungsforschung
381
V o n Petra Dorsch Studieneinheit 13: Demokratische Kommunikationspolitik
417
V o n Norbert Schreiber Register
45g
V o n Elisabeth Gallenkamp Anhang: Teil I: Neuere Entwicklungen in Kommunikationswissenschaft und Kommunikationspolitik Teil II: Reaktionen, Rezensionen, Resonanz — Erfahrungen mit dem Lehrsystem
4
4 7 1
Vorwort zur ersten Auflage Diese Sammlung loser und daher ergänzungsfähiger und austauschbarer Blätter stellt ein Lehrbuch besonderer Art dar. Zum Verständnis und zum nutzbringenden Gebrauch bedarf es der Kenntnis des größeren Zusammenhanges, in dem dieses Studienmaterial steht. Sein Zweck ist es, die durch dreizehn audio-visuelle Lehreinheiten vermittelten Kenntnisse des Projekts „Einführung in die Kommunikationswissenschaft" weiterzuführen, zu ergänzen und zu vertiefen. Das Gesamtunternehmen „Einführung in die Kommunikationswissenschaft — Der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung" gehört zu den leider nicht sehr zahlreichen Versuchen, mehrere Medien zur möglichst optimalen Wissensvermittlung heranzuziehen. Es entstand in enger Verbindung mit dem Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) der Ludwig-Maximilians-Universität zu München, jedoch in der selbständigen Trägerschaft der Projektgruppe FIMKommunikationswissenschaft. Es wurde angeregt und wissenschaftlich geleitet durch Professor Dr. Wolfgang R. Langenbucher und bearbeitet von einem interdisziplinär zusammengesetzten Team junger Wissenschaftler. Über die Notwendigkeit, durch neue Formen des Studiums die begrenzte Kapazität der Hochschulen zu erweitern und besser auszunützen, ist viel, möglicherweise allzuviel geschrieben und geredet worden. Den zu hoch gesteigerten Hoffnungen mußte die klärende, aber auch schmerzende Ernüchterung folgen. Das hier in Rede stehende Unternehmen versteht sich als Beitrag zum „Studium im Medienverbund" und zum „Fernstudium im Medienverbund"; seine Autoren sind sich jedoch der Grenzen stets bewußt gewesen, die solchen Vorhaben gezogen sind. Sie wissen, daß sie ein Hochschulstudium nicht ersetzen können. Aber sie hoffen, daß ihr Werk vielen Studierenden den Zugang zum Fachstudium und die ersten Schritte in ihm erleichtern wird. Sie wären sehr glücklich, wenn durch eine möglichst weitreichende Verwendung dieses Lehrmaterials an den deutschsprachigen Hochschulen
auch erreicht werden könnte, daß die in den letzten Jahren beobachtete Auseinanderentwicklung der Studiengänge und -inhalte aufgehalten, ja vielleicht sogar rückgängig gemacht wird. Aber nicht nur auf die Hochschule ist dieses Werk gemünzt. Es will auch den Schülern der Oberklassen des „sekundären Systems", die sich Themen wie Massenmedien, öffentliche Meinung, soziale Kommunikation als Schwerpunkten ihres Interesses widmen wollen, das Geleit zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit dem Gegenstand geben. Schließlich hat man versucht, das Studienmaterial so zu gestalten, daß es auch vom interessierten Fernseh-Zuschauer und -Zuhörer, der sich durch die dreizehn Halbstundenprögramme zu einem tieferen Eindringen in die Probleme anregen läßt, mit Nutzen verwendet werden kann. Ihm soll es eine Wegweisung sein, die so beschaffen ist, daß der Benutzer selbst bestimmen kann, bis zu welchem Grad der „Wissenschaftlichkeit" und damit auch der Schwierigkeit er vordringen will. Was bei diesem — von vielen vorhergesehenen und unvorhersehbaren Hindernissen aufgehaltenen, unter ständigem Termindruck stehenden — Versuch herausgekommen ist, mag der Benutzer der Werke selbst beurteilen. Zum richtigen Verständnis muß jedenfalls bedacht werden, daß es sich um die Arbeit eines Teams (auch politisch) engagierter junger Wissenschaftler handelt, das nicht immer leicht zu einer gemeinsamen Meinung und Aussage gelangen konnte. Die Fülle und Heterogenität, auch die Verschiedenwertigkeit der zu verarbeitenden Literatur sind nicht ohne Wirkung auf den Text geblieben. Dieser ist das Ergebnis mancher Um- und Neubearbeitungen, deren Spuren nicht zu übersehen sind. Manchem mag manches zu progressiv erscheinen, anderes zu konservativ — auch das ist ein Preis, der gezahlt werden mußte, wenn die Ideen und Meinungen derer, die an diesem Unternehmen arbeiteten, unverkürzt und unverändert ans Licht treten und nicht durch einen Oberredakteur auf einen (Kompromiß-)Nenner gebracht werden sollten.
5
Vorwort zur ersten Auflage
Mancher wird, und das ist ein gewiß sehr ernstzu-
die Aufgeschlossenheit für die ganz neuartige Konzep-
nehmender Einwand, die „gemeinsame Linie", die
tion, die so verschiedene Zielgruppen einbezieht, ohne
große, alles erklärende Theorie vermissen. Es wäre
die Bereitschaft zu flexiblem Verhalten gegenüber
durchaus möglich und sicherlich viel einfacher ge-
den zuweilen recht divergenten Vorstellungen der
wesen, dieses Lehrstück unter den Anspruch einer
Beteiligten und ohne den Humor der Baden-Badener
bestimmten Doktrin zu stellen. Daß das nicht ge-
wäre das Unternehmen wohl nicht zu einem guten
schehen ist, geht darauf zurück, daß die derzeitige
Ende gelangt.
Lage des Faches, und zwar im internationalen Rahmen, eine solche Festschreibung nicht zuläßt, son-
Wer weiß, wie schwierig es ist, Mitarbeiter aus ver-
dern Offenheit für verschiedene Theorieansätze und
schiedenen Fachbereichen (Kommunikationswissen-
klare Hinweise auf Lücken im Theorie-Bemühen
schaft, Politologie, Soziologie, Psychologie, Litera-
notwendig macht. Auch für viele Studierende wäre
turwissenschaft, Pädagogik) und unterschiedlichen
es leichter, sie könnten hier auf eine bestimmte
Studiensituationen für eine befristete Zeit intensiver,
Sicht der Dinge eingeschworen und dann mit einem
zielstrebiger Kooperation zusammenzuführen und
für alle vorkommenden Fälle brauchbaren Erklä-
zusammenzuhalten, kann die persönliche Leistung
rungsschema entlassen werden. Die kontroverse
von Horst Decker und Dr. Walter Homberg in der
Diskussion über fundamentale Fragen des Faches
Leitung des Projekts nicht hoch genug einschätzen.
verbietet das. Was dem Anfänger den Anfang erleichterte, würde dem Fortschreitenden das Ver-
Besonderer Dank wird den Mitgliedern des Wissen-
stehen der Probleme versperren.
schaftlichen Beirats geschuldet, die sich in selbstloser Weise zur Verfügung stellten, um das Arbeits-
Daß dieses Vorhaben möglich wurde, ist vor allem
team zu beraten, um an einigen Lehreinheiten mit-
der Stiftung Volkswagenwerk, die alle Vorarbeiten
zuwirken und, vor allem, das Gesamtvorhaben so
finanzierte, und dem Südwestfunk in Baden-Baden,
zu steuern, daß die von ihnen vertretenen Diszipli-
der die audio-visuellen Einheiten produzierte, zu
nen in angemessener Weise Berücksichtigung fan-
danken. Das Deutsche Institut für Fernstudien, das
den. Die Diskussionen im Wissenschaftlichen Beirat
die Mittel der VW-Stiftung verwaltete und die wis-
gehörten zu den ermutigendsten Erfahrungen, die
senschaftliche Arbeit betreute, war als Vermittlungs-
die Beteiligten im Laufe ihrer Arbeit machen durf-
instanz tätig.
ten, da sie ebenso sachbezogen wie engagiert, ebenso freimütig wie wohlwollend verliefen.
Die erste Entwicklungsstufe des Projekts bis zur offiziellen Antragsstellung wurde von einer Gruppe
Alle Mitarbeiter an diesem Unternehmen wissen,
junger Fachkollegen und der Arbeitsgemeinschaft
daß sie ein Lehrsystem auf den Weg zu den Lern-
für Kommunikationsforschung in München geleistet.
willigen schicken, das kein Vorbild hat, das ein
Besonders Walter A. Mahle, dem Geschäftsführer der
Experiment darstellt und das verbesserungsfähig
AfK, ist dafür zu danken, daß er das Unternehmen
ist. Sie wünschen sich nicht nur eine weite Verbrei-
auch im weiteren Verlauf stets tatkräftig unterstützt
tung an allen Hochschulinstituten des Faches, in
hat.
der Medienpädagogik, in den „Dritten Programmen", in der Erwachsenenbildung, in der beruflichen Aus-
Frau Ursula Schwarz vom DIFF in Tübingen war eine unermüdlich hilfsbereite und verständnisvolle Projektbetreuerin; ihr Engagement ging weit über das übliche Maß hinaus.
und Weiterbildung für Kommunikationsberufe, in der Oberstufe der Höheren Schulen und bei allen, die sich mit der sozialen Kommunikation befassen, sondern auch eine kritisch-interessierte Aufnahme
Mit der Produktion durch den Südwestfunk ist ein
und viele Rückmeldungen, zumal Verbesserungsvor-
Meilenstein in der Zusammenarbeit von öffentlich-
schläge, Korrekturen, die bei der Weiterarbeit Be-
rechtlicher Rundfunkanstalt und Universität gesetzt
rücksichtigung finden sollen.
worden. Daß dies möglich wurde, ist vor allem das Verdienst von Fernsehdirektor Dieter Stolte, Hauptabteilungsleiter Werner O. Feißt und dessen Mitarbeiterin Dr. Ursula Goetzl in Baden-Baden. Ohne
6
Otto B. Roegele
Vorwort zur dritten Auflage
Als das vorliegende Studienmaterial erstmals ver-
Deshalb beschränkt sich die Bearbeitung auf eine
öffentlicht wurde, gab es im Bereich der Kommu-
vorsichtige Aktualisierung von Daten und Fakten.
rungsschriften, geschweige denn didaktisch aufbe-
zelnen Studieneinheiten verarbeiteten empiri-
nikationswissenschaft(en) so gut wie keine Einführeitete Lehrbücher. Diese Situation hat sich inzwi-
schen geändert. Als Medienverbundprojekt, geplant und realisiert in Zusammenarbeit mit einer Rund-
funkanstalt, ist unsere Einführung allerdings innerhalb des Faches ohne Nachfolger geblieben.
Das Vorwort zur ersten Auflage betont, daß es
sich bei diesem Lehrsystem um ein Experiment
handelt. Die Resonanz hierauf war insgesamt ermutigend. Daß unser Kommunikationsangebot
angenommen wurde, zeigt sich nicht zuletzt da-
ran, daß innerhalb von wenigen Jahren bereits zwei Neuauflagen notwendig wurden.
Die Erfahrungen, die mit dem Studienmaterial in
Dagegen war es nicht notwendig, die in den ein-
schen Studien durch neueres Material zu ersetzen,
da diese älteren Erkenntnisse — soweit wir sehen — nicht überholt sind und deshalb ihren didaktischen Zweck weiterhin erfüllen.
Umfangreichere Ergänzungen mit weiterführenden Hinweisen werden, nicht zuletzt aus Kostengrün-
den, im Anhang gebracht. Der erste Teil beschäf-
tigt sich exemplarisch mit neueren Entwicklungen in Kommunikationswissenschaft und Kommuni-
kationspolitik: mit der Konstitutionsproblematik
und Theorieentwicklung des Faches, mit dem Stand
der Pressekonzentration und der Diskussion um
die Neuordnung der Rundfunk- und Kabelkommunikation, mit neueren Ansätzen und Ergebnissen
vielen Seminaren gemacht wurden, legten es nahe,
der journalistischen Berufsforschung sowie der
der Vergleich mit dem Forschungsstand machte
zweite Teil des Anhangs analysiert die Resonanz
Zwar haben sich das Fach Kommunikationswis-
Erfahrungen aus.
senschaft) und darüber hinaus das weitere For-
Allen denen, die uns ihre Erfahrungen mitgeteilt
den Text im wesentlichen zu übernehmen. Auch keine grundlegende Überarbeitung notwendig:
Mediennutzungs- und -Wirkungsforschung. Der
auf das Lehrsystem und wertet die didaktischen
senschaft (Publizistikwissenschaft/Zeitungswis-
schungsfeld Kommunikation in den letzten Jah-
ren durch empirische Forschungen rasch entwik-
kelt, aber die dadurch neu gewonnenen Erkennt-
nisse bestätigten aufs Ganze und in vielen Einzel-
haben, danken wir sehr. Um Kritik und Verbesserungsvorschläge bitten wir auch die Benutzer der dritten Auflage.
heiten die von uns gewählte wissenschaftstheo-
retische, inhaltliche und didaktische Konzeption. Grundlegende Neuorientierungen sind ausgeblie-
ben. Dies gilt vor allem für den Ansatz, die Medien
Walter Wolfgang R.
Homberg
Langenbucher
und ihre Funktionen aus dem Gesamtzusammen-
hang von Politik als Kommunikation zu verstehen.
7
Einleitung Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems 1.
Beschreibung des Projekts
tungen gingen: entweder einseitig in die einer politökonomisch oder neomarxistisch inspirierten Medienphilosophie (ein Boom in der Buchproduktion nach
1.1
Entstehungsgeschichte
Die ersten Überlegungen zu diesem Projekt wurden schon im Jahre 1971 angestellt. Sie entstanden zunächst im Diskussionszusammenhang mit der These, daß zu einer zeitgemäßen politischen Bildung auch die Kenntnis und die Fähigkeit zum bewußten, kritischen Umgang mit den Massenmedien gehören. Dieser Ansatz wurde inzwischen für den Bereich der Erwachsenenbildung mit dem Lehrsystem „Medienkunde" des „Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht" verwirklicht. Medienkunde verfolgt in erster Linie pädagogische Absichten. Sie kann eine kritische Nutzung der Medien fördern. Sie kann helfen, die Massenmedien in ihrer Funktion richtig einzuschätzen: als — potentiell — für jedermann zugängliche Vermittlungsinstitutionen in einer demokratischen Gesellschaft. Sie kann helfen, in den Inhalten der Medien eine notwendigerweise vermittelte Wirklichkeit zu erkennen, deren Darstellung bestimmten Zwängen der Medienorganisation, der Technik und anderen Einflüssen unterworfen ist. Sie kann Wissen darüber vermitteln, wie massenmediale Prozesse ablaufen, welche Rolle der einzelne dabei spielt, wie journalistische Arbeit vonstatten geht, und sie kann Vorurteile abbauen helfen. Ideen zu einer Medienkunde wurden auch in den Rundfunkanstalten diskutiert. Vor allem für das Fernsehen wurde gefordert, daß es sich, mit fernseheigenen Mitteln, der Kritik stellen müsse, daß die Anstalten trans-
1970!) oder in die Richtung einer theorielosen puren Stoffaddition zum Thema Medien. Beides blieb hinter dem Erkenntnisstand zurück, den eine als Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kommunikation begriffene Disziplin, die traditionell als Publizistik- oder Zeitungswissenschaft an den Universitäten firmierte, trotz aller Erkenntnis- und Forschungslücken immerhin anzubieten hatte. Nach dem verschieden begründeten, im nachhinein auch kaum mehr rekonstruierbaren und oft zufallsbedingten Scheitern und Versanden der Versuche, kommunikationswissenschaftliche Perspektiven in den erwähnten Zusammenhängen zur Geltung zu bringen, bot sich 1972 mit dem Fernstudium im Medienverbund, kurz F IM, und dem Studium im Medienverbund, kurz S I M genannt, eine neue Möglichkeit an. Kapazitätsprobleme und didaktische sowie soziale Reformpläne hatten bei den Universitäten, den Kultusministerien und den Fernsehanstalten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten eines FIM geführt. Nach mehreren Initiativen von Rundfunkanstalten, die schon 1966 mit der Ausstrahlung von FIM-Kursen begonnen hatten (der Hessische Rundfunk mit dem Funkkolleg, der Bayerische Rundfunk mit dem Telekolleg), wurde 1967 das Deutsche Institut für Fernstudien ( D I F F ) an der Universität Tübingen ins Leben gerufen. Mit der Gründung des D I FF traten die Überlegungen zu einem Fernstudium in eine neue, entscheidende Phase. Folgende Punkte werden als Ziele der Planungsarbeiten angegeben:
parenter werden müßten und eine Kommunikation zwischen Programm und Publikum in Gang zu kommen habe. Resultate solcher Forderungen waren und sind Sendungen wie „Glashaus" oder „betrifft: Fernsehen" (1). Die Überlegungen, hier auch von der Kommunikationswissenschaft her aktiv zu werden, wurden u.a. durch den Eindruck motiviert, daß die bis dahin da und dort diskutierten medien- und speziell fernsehkundlichen Konzepte in — nach unserem Urteil — falsche Rich-
1)
Vgl. hierzu u.a. Werner Höfer (Hrsg.) : Fernsehen im Glashaus. Zur Kommunikation zwischen Programm und Publikum. Düsseldorf 1972; Helmut Greulich: Manipulation im Fernsehen. In: Dieter Baacke (Hrsg.): Mediendidaktische Modelle: Fernsehen. München 1973; HeinzWerner Stuiber: Weniger wäre mehr. In: Das Parlament, Tele-Forum vom 14.10.1972.
9
Einleitung
„1.
2.
3.
FIM tritt neben den herkömmlichen, an Ort und Personen gebundenen Hochschulunterricht mit dem Ziel (a) einer Öffnung der Hochschulen für neue Bevölkerungskreise oder (b) einer Kapazitätserweiterung des bestehenden Hochschulbereichs. SIM bedeutet eine qualitative Veränderung im bestehenden Hochschulbereich mit dem Ziel einer funktionsspezifischen, stärker arbeitsteiligen Lösung der universitären Ausbildungsaufgaben, also einer Reform von Studium und Lehre. Ein Entlastungseffekt für die Hochschulen kann erreicht werden — bei FIM: (a) von neuen Aufgaben, die sonst von den bisherigen Hochschulen übernommen werden müßten, (b) durch Kanalisierung des Studentenstroms und seine Verteilung auf 2 verschiedene Systeme. -
bei SIM: innerhalb der bisherigen Aufgabenbereiche der Hochschulen, so daß sich die Dozenten wieder stärker den notwendigen sozialen Phasen widmen können.
Eine wesentliche Kapazitätserweiterung im Sinne einer Bewältigung des immer größer werdenden Studentenandrangs ist jedoch — ohne zusätzliche Maßnahmen — in naher Zukunft weder von FIM noch von SIM zu erwarten"(2). In der Folge bemühten sich sämtliche an einem Fernstudium interessierten und dafür verantwortlichen Institutionen, Pläne für eine mögliche Organisation des Fernstudiums, seine Einpassung in das bestehende Bildungssystem und seine Finanzierung zu erarbeiten und zu verabschieden. Der entscheidende Durchbruch für ein einheitliches Konzept in Form eines Staatsvertrages für das Fernstudium im Medienverbund ist jedoch ausgeblieben. Günther Dohmen zieht Ende 1974 eine eher negative Bilanz. Solange Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern die bildungspolitische Szene beherrschten, blieben die verschiedenen FIMProjekte notwendig unkoordiniert und ohne Zukunftsperspektive. „So wie die Dinge jetzt stehen, gibt es auch für die nächste Zukunft, die durch eine zunehmende Finanznot und durch weitere politische Polarisierung gekennzeichnet sein dürfte, keine Chance mehr 10
für einen politischen Durchbruch zu konstruktiven überregionalen Lösungen"(3). Ein Bundesland hat nun im Alleingang den Weg beschritten: Nordrhein-Westfalen hat mit dem Aufbau einer Fernuniversität in Hagen begonnen; bereits zum Wintersemester 1975 wurde der Lehrbetrieb aufgenommen. Und immerhin hat sich die Ministerpräsidentenkonferenz im Februar 1974 für eine zweite — fünfjährige — Vorlaufphase (die erste — siebenjährige — war bereits abgelaufen) zur Erprobung des FIM entschieden und einen darauf bezogenen Geschäftsbesorgungsvertrag mit dem DI FF abgeschlossen. Von der VW-Stiftung, die 1970 und 1971 einen Betrag von insgesamt 10,78 Millionen D M für Planungs-und Entwicklungsprojekte zur Verfügung stellte, wurde eine Realisierungschance auf der Ebene von Pilotprojekten geschaffen. Die Vergabe der Mittel erfolgte durch den Wissenschaftlichen Beirat „Fernstudium im Medienverbund" und eine Arbeitsgruppe gleichen Namens, die beim DIFF in Tübingen ihren Sitz hatte. Insgesamt wurden zwischen 1970 und 1972 26 Projekte vergeben und beraten und bis Ende 1975 abgeschlossen. Für eines der letzten Arbeitsvorhaben dieser Art reichte die „Projektgruppe FIM-Kommunikationswissenschaft am Institut für Zeitungswissenschaft der LudwigMaximilians-Universität München" am 14. August 1972 ihren Förderungsantrag ein. Die Konzeption war nun eindeutig an den universitären Ausbildungszielen orientiert, aber aus dem ursprünglichen Diskussionszusammenhang war nicht nur die Absicht übernommen worden, auch andere — nichtstudentische — Zielgruppen einzubeziehen, sondern vor allem die Idee, bei der Produktion der audiovisuellen Teile des Lehrsystems mit den Rundfunkanstalten zusammenzuarbeiten. So wurde in der Kalkulation auf die Beantragung entsprechender Produktionsmittel verzichtet. Nach längeren Verhandlungen zwischen der Projektgruppe FIM-Kommunikationswissenschaft und der Arbeitsgruppe FIM beim DIFF wurden schließlich aufgrund eines Beschlusses des Wissenschaftlichen Beira2)
3)
Erhard U. Heidt/Jürgen Wurster: Planungsarbeiten für einen Fernstudienverbund. Ansätze zur Organisationsplanung eines Hochschulverbundes für das Fernstudium. Tübingen 1973, S. 25 f. Günther Dohmen: FIM-Bilanz 1974. In: Fernsehen und Bildung, Heft 3 - 4 / 1 9 7 4 , S. 179.
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
tes „Fernstudium im Medienverbund" vom 2.13. No-
1.2
Zielsetzungen
vember 1972 Mittel der Stiftung Volkswage η werk in einer Höhe bis zu maximal 492 000 D M bewilligt. Das
Aus dem geschilderten „historischen" und institutio-
Bewilligungsschreiben enthielt eine Reihe von Voraus-
nellen Zusammenhang ergab sich, daß im Förderungs-
setzungen, darunter die Verpflichtung zur Kooperation
antrag der Projektgruppe als allgemeine Intention des
mit einer Rundfunkanstalt: „Die Freigabe der gesam-
Projekts die Entwicklung einer FIM-Einheit für den Be-
ten Mittel wird davon abhängig gemacht, daß vor Be-
reich der Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt auf
ginn der Projektarbeit für die Produktionskosten der
dem Sektor Kommunikationswissenschaft bezeichnet
audio-visuellen Materialien eine Kostenübernahme-Er-
wurde. Ihr Stellenwert leitet sich dabei nicht zuletzt
klärung vorgelegt wird."
aus der Tatsache ab, daß für diesen Wissenschaftsbe-
Entgegen unseren Erwartungen erwies sich dieser Punkt als eigentliches Hemmnis für die Projektrealisation. Die
reich bislang kein derartiges Lehrsystem im Medienverbund vorlag.
Verhandlungen mit den Rundfunkanstalten gingen nur
Diesem Mangel an didaktisch kontrolliertem und we-
zäh voran. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe dafür
nigstens im Ansatz standardisiertem Unterrichtsmate-
im einzelnen zu erörtern. Jedenfalls führten diese Ver-
rial standen Fakten gegenüber, die nicht mehr überse-
zögerungen zu großen Schwierigkeiten bei der Ab-
hen werden konnten:
wicklung des Projekts. Ende 1973 kam schließlich eine Vereinbarung mit dem Südwestfunk Baden-Baden
-
(III. Programm) zustande. Die Mittel der VW-Stiftung
-
für FIM/SIM waren zeitlich begrenzt, so daß die ur-
daß die Zahl der Studenten rasch anwuchs; daß die Institute in ihrer personellen und sachlichen Ausstattung sich nur langsam entwickelten und des-
sprünglich im Förderungsantrag vorgesehene Laufzeit
halb die Ausbildungsgänge nur wenig strukturiert
von 34 Monaten sich auf 13 Monate (1.3.1974 bis
werden konnten;
30.3.1975) reduzierte. Außerdem bestand die ursprüngliche Projektgruppe nicht mehr, da einige ihrer Mitglieder sich in der Zwischenzeit beruflich anders orientiert hatten. Diese zeitliche und personelle Um-
— daß das Interesse an kommunikationswissenschaftlichen Fragen auch in anderen Disziplinen anstieg; — daß beispielsweise immer häufiger eine gezielte medienkundliche Vor- und Weiterbildung für die Lehr-
strukturierung brachte - trotz einer Verlängerung
berufe gefordert wurde und daß auch die Idee einer
der Laufzeit mit reduziertem Personal bis zum
Weiterbildung von Journalisten immer mehr Anhän-
30.9.1975 — viele Schwierigkeiten und notwendige
ger fand.
Umstellungen der Projektanlage mit sich. Bei der Planung wurde von vornherein auch an eine spätere regionale Verwendung des Projekts im S I M gedacht. Institutionell sicherte dies ein Wissenschaftlicher Beirat, der einerseits die Interessen der kommunikationswissenschaftlichen Institute im deutschsprachi-
Auf diese Entwicklungen bezieht sich die Arbeit in mehrfacher Weise. Das vorliegende Projekt dient daher nicht zuletzt folgenden Zielen: 1. der Entlastung und Intensivierung kommunikationswissenschaftlicher Ausbildung; 2. der Einleitung hochschuldidaktischer Forschung in
gen Raum und andererseits Anregungen der benachbar-
einem bisher in dieser Hinsicht vernachlässigten Be-
ten Disziplinen (wie Politologie, Pädagogik, Psychologie,
reich;
Soziologie) in die Arbeit der Projektgruppe einbrachte.
3. der Verbreiterung kommunikationswissenschaftli-
Er hat insgesamt viermal getagt und vor allem zur Fest-
cher Ausbildung und Fortbildung, indem andere so-
legung der Themen der einzelnen Lehreinheiten, zur
zialwissenschaftliche Disziplinen und die Bereiche
Gewichtung der Lernziele und zur dramaturgischen
Lehrerbildung, Journalistenaus- und -fortbildung
Planung der AV-Einheiten durch Diskussionen und ge-
sowie Erwachsenenbildung als Zielgruppen einbezo-
zielte Einzelhinweise beigetragen. Zwei Mitglieder des Beirats wirkten außerdem als Autoren an dem Projekt mit.
gen werden; 4. der Umsetzung von Ergebnissen der in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland intensiv in Gang gesetzten empirischen kommunikationswissenschaftlichen Forschung für die universitäre und außeruniversitäre Lehre;
11
Einleitung
5. der Profilierung der „älteren" Zeitungs- und Publi-
der nicht nur fachspezifisch interessiert. Dabei konzen-
zistikwissenschaft als „Wissenschaft von der gesell-
trierte sich die Diskussion immer stärker auf das The-
schaftlichen Kommunikation", die in Zukunft eine
ma „Politische Meinungs- und Willensbildung", das heu-
Integrationsfunktion für das weite Forschungsfeld
te in verschiedenen Disziplinen Gegenstand wissen-
der Kommunikationswissenschaft übernehmen
schaftlicher Untersuchungen ist. Dabei stand nicht der Versuch im Vordergrund, an der „Front" der Forschung
könnte. Neben diesen im engeren Sinne wissenschaftlichen und didaktischen Zielsetzungen gibt es auch akzentuiert politische Intentionen: Kommunikationswissenschaftli-
einen Beitrag zu leisten, sondern aus dem Ergebnisstand der Forschung ein einführendes Lehrsystem zu konzipieren.
ches Wissen und Denken sollte beitragen — zur Einsicht in eine notwendigerweise vermittelte
1.3
Begründung des gewählten Gegenstandes
Welt; — zu der Fähigkeit, sich in ihr selbständig zurechtzu-
In den letzten Jahren setzte in der Bundesrepublik Deutschland eine intensive Auseinandersetzung mit
finden; — zu der Erkenntnis, daß im Prozeß der politischen Kommunikation alle für unsere Gesellschaft relevanten Entscheidungen vorbereitet werden und daß jeder zur Teilnahme und Mitbestimmung aufgefordert ist; — zum Erkennen der Barrieren, die eine chancengleiche Beteiligung aller Bürger am Prozeß der gesellschaftlichen Kommunikation beschränken, und der Umstände, die den Prozeß der Willensbildung verfälschen; — zur realistischen Bewertung der Funktionen und Leistungen der Massenkommunikation; — zum bewußteren kritischen Umgang mit den Massenmedien.
Kommunikationstheorien ein. In den verschiedensten — besonders sprach- und sozialwissenschaftlichen — Disziplinen versuchte man, durch die Rezeption kommunikationswissenschaftlicher Begriffe und Ansätze eine Tieferlegung der theoretischen Fundamente zu erreichen. Diese Entwicklung forderte von der überkommenen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft eine gründliche Überprüfung ihrer Ansätze. Jahrzehntelang war es vor allem diese Disziplin, die Kommunikationsphänomene als ihren eigentlichen Gegenstand begriff. Lange Zeit herrschte dabei eine historisierende Medienkunde vor, die zunächst der Druckpresse und dann mit dem Aufkommen der audiovisuellen Medien auch Hörfunk und
Aus beiden Aspekten zusammen, dem kommunikations-
Fernsehen galt. Nach 1945 vollzog sich — anfangs
wissenschaftlichen und dem politischen, resultiert die
hauptsächlich unter dem Einfluß amerikanischer For-
Absicht, mit diesem Lehrsystem über den engeren Be-
schung - ein Wandel, der langsam dazu führte, daß die
reich der Universität hinaus wirksam zu werden. Für
Fachvertreter der traditionellen Zeitungs- und Publi-
folgende Bereiche ist der Einsatz des Kurses vorgese-
zistikwissenschaft ihre Disziplin mehr und mehr als ei-
hen:
ne Sozialwissenschaft verstanden, die mit Fächern wie
•
Grundstudium der Kommunikationswissenschaft
•
Grund- und Ergänzungsstudium anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen
•
Lehrerausbildung und Kontaktstudium für Lehrer als Teil des sozialwissenschaftlichen Grundstudiums bzw. Kontaktstudiums
•
Berufsausbildung und Kontaktstudium für Kommunikationsberufe
•
Soziologie, Sozialpsychologie, Politologie u.ä. in eine Reihe rückt. Diese Entwicklung zu einer Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kommunikation (und eben nicht nur der Kommunikationsmedien wie Zeitung, Fernsehen oder Buch) zwang zu einer klaren Gegenstandsbestimmung. Die Diskussion darüber bestimmt bis heute die Auseinandersetzung in den Fachzeitschriften. (Näheres dazu im zweiten Teil der Studieneinheit 1.)
Erwachsenenbildung
Von den allgemeinen Zielsetzungen her leitete sich die
Die Anwendung kommunikationswissenschaftlicher
Überlegung ab, daß ein FIM/SIM-Lehrsystem aus die-
Erkenntnisse läßt sich besonders in zwei Bereichen ab-
sem Fachbereich eine Einführung
in Methode und Ge-
lesen: Zum einen ist die praktische Media- und Rezi-
genstand der Kommunikationswissenschaft leisten soll-
pientenforschung in den großen Verlagen und in den
te, und zwar exemplarisch an einem Problembereich,
Rundfunkanstalten zu einer Selbstverständlichkeit ge-
12
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
worden (4). Zum anderen vermag die Kommunikationsforschung im politischen Bereich wichtige Entscheidungshilfen zu geben (5).
1.4 Stellenwert des Themas „Der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung" Dieses Lehrsystem versucht die Einführung in die Kommunikationswissenschaft auf exemplarische Weise zu geben, d.h. nicht mittels eines allgemeinen Überblicks über das Fach und seine verschiedenen Teildisziplinen, sondern durch die Darstellung eines bestimmten, konkreten Gegenstandes aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dabei wurde dieser Teilbereich - „Der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung" — ausgewählt, weil er von zentraler Bedeutung für eine kommunikationswissenschaftliche Aus- und Fortbildung ist. Dafür lassen sich praktische, politische und theoretische Gründe zitieren: Praktisch ist jedermann aktiv und/oder passiv von diesem Prozeß politischer Kommunikation direkt betroffen. Das resultiert nicht zuletzt aus der zur Selbstverständlichkeit gewordenen Omnipräsenz und Universalität der Massenmedien. Obwohl massenmediale Kommunikation einen immer größeren Anteil an der Kommunikation insgesamt und insbesondere an der Freizeitkommunikation hat, sind die meisten Menschen nicht vorbereitet auf einen sinnvollen und kritischen Umgang mit den Massenmedien. Das sich hieraus ergebende Mißtrauen macht offen für unrealistische Kulturkritik verschiedenster Richtungen und beeinträchtigt nicht nur das Verhältnis zu den Massenmedien, sondern auch die Entwicklung eines adäquaten modernen Demokratieverständnisses. So scheinen grundlegende Mißverständnisse und davon abgeleitetes Unbehagen an modernen Industriegesellschaften daher zu rühren, daß man glaubt, diese am idealisierten Maßstab einer direkten Stadtdemokratie oder an der Idylle einer Dorfgemeinschaft messen zu können, in der jeder mit jedem direkten Kontakt hat, in der gesellschaftliche (und damit auch kommunikative) Strukturen leicht überschaubar sind, in der Meinungsbildung, Konfliktaustragung und Interessendurchsetzung in direkter und leicht handhabbarer Weise sich vollziehen. Politisch ist der Prozeß der Meinungs- und Willensbildung ein konstituierendes Element, eine Bedingung der Möglichkeit von Demokratie. Diese Oberzeugung war
in der traditionellen Demokratietheorie im Begriff der „öffentlichen Meinung" aufbewahrt. Die seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland nie abgebrochene Diskussion und politische Auseinandersetzung über die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit und vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über den hier relevanten Artikel 5 des Grundgesetzes zeigen, daß das Funktionieren der politischen Meinungs- und Willensbildung, die Ordnung der gesellschaftlichen Kommunikation, ein ständiges Problem demokratischer politischer Kultur ist. Theoretisch scheint es bemerkenswert, daß in der neueren Demokratietheorie mit den Begriffen „Öffentlichkeit", „Partizipation" und „Transparenz" Aspekte in den Mittelpunkt gerückt wurden, die im Grunde auf die „Qualität" der politischen Kommunikation abzielen. Außerdem fällt auf, daß in den derzeit aktuellsten allgemeineren Entwürfen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung ebenfalls Fragen der politischen Kommunikation thematisiert wurden und in Zukunft wahrscheinlich noch mehr an Bedeutung gewinnen (6).
1.5 Politische Kommunikation als Lehrgegenstand für verschiedene Studiengänge und Aus- bzw. Fortbildungsbereiche Dieser praktisch, politisch und theoretisch zentrale Stellenwert der politischen Kommunikation hat verständlicherweise auch zur Folge, daß es hinsichtlich dieses Themas eine gewisse Konvergenz verschiedenartiger Studiengänge und Aus- und Fortbildungsbereiche gibt. Das gilt insbesondere für die Fächer Kommunikationswissenschaft, Politologie und Soziologie. Am Beispiel politologischer Literatur aus den letzten Jahren — vor allem zur Demokratiereform — läßt sich ein wachsendes Interesse am Thema „politische Öffentlichkeit" ablesen. Von unterschiedlichen Ausgangspunk4) 5)
6)
Vgl. dazu vor allem die letzten Jahrgänge der Zeitschrift Media.Perspektiven. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Kommunikationspolitische und kommunikationswissenschaftliche Forschungsprojekte der Bundesregierung (1974—1978). Eine Übersicht über wichtige Ergebnisse. Bonn 1978. Vgl. insbesondere die Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung? Frankfurt am Main 1971 ; ferner Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1973.
13
Einleitung
ten her kommen die Autoren dabei zu der Frage, wel-
2.
Entwicklung und Aufbau des Projekts
2.1
Theoretische Vorüberlegungen
che Struktur der politische Meinungs-, Willensbildungsund Entscheidungsprozeß faktisch hat und welche er — im Interesse einer partizipativen Demokratievorstellung — haben sollte. Von daher darf erwartet werden,
Im folgenden soll das dem vorliegenden FIM-Studien-
daß eine Theorie der politischen Kommunikation auch
material zugrundeliegende theoretische Modell einer
im Studiengang der Politologie einen wichtigen Stellen-
Curriculumkonstruktion erläutert werden. Selbst wenn
wert bekommen wird.
an dieser Stelle nur die Grundzüge des Curriculuman-
In der Soziologie entwickelte sich in den letzten Jahren auch in Deutschland eine sogenannte BindestrichSoziologie — konzentriert überwiegend auf Fragen der Massenkommunikationsmittel. In der angewandten Sozialforschung gewann die empirische Rezipientenforschung zunehmend an Bedeutung.
satzes umrissen werden können, scheint es dennoch notwendig zu sein, Begründung, Implikationen und Ableitung eines curricularen Studienplanes theoretisch-systematisch zu beschreiben, um dem Studierenden Entwicklung, Aufbau und Rechtfertigung des FIM-Lernprogramms transparent und die heute überall im Bereich der Bildungsreform geforderte Curriculumerstel-
Wenn, wie z.B. im neuen Fachbereich Sozialwissen-
lung verständlich zu machen. Für weitergehende Infor-
schaft der Universität München, diese drei Fächer
mationen wird jeweils auf die angegebene Fachlitera-
auch institutionell näher aneinanderrücken, so wird
tur verwiesen.
sich — wahrscheinlich nicht zuletzt aus bildungsökonomischen Gründen — in Zukunft einmal die Fra-
Auf der Basis eingehender Vorstudien der Ergebnisse
ge eines integrierten sozialwissenschaftlichen Grund-
hochschuldidaktischer Forschung (7) entschied die
studiums stellen. Das vorliegende Lehrsystem könnte
mit dem Projekt beauftragte Arbeitsgruppe, das Lern-
hier Pilotcharakter haben.
programm als Curriculum zu konstruieren. Die Realisierung der Forderungen der Curriculumtheorie (8) in
Über diesen engeren Bereich hinaus zielt das Projekt
der knappen Zeit von einem Jahr und in dem vorgege-
auf Studiengänge für pädagogische Berufe — sowohl im
benen institutionellen Rahmen brachte Schwierigkei-
allgemeineren Zusammenhang von politischer Bildung
ten und unvermeidbare Verkürzungen der Entwicklungs-
als auch konkret im Hinblick auf die Tatsache, daß die
phasen eines Curriculum mit sich. Diese schienen je-
in den Schulen durch die neuen Lehrpläne verlangte
doch aufgewogen durch die Möglichkeit, Defizite der
Medienerziehung durch entsprechende curriculare
universitären Ausbildung zu kompensieren, die im we-
Elemente in den Studiengängen für Lehrer abgesichert
sentlichen mit folgenden Stichworten markiert werden
werden sollte.
können:
Weiter zeigen die ersten Versuche zu einer Realisierung der Aus- und Fortbildung für Journalisten und andere Kommunikationsberufe, daß der Gegenstand politische Kommunikation geeignet scheint, einige der wichtigsten Lernziele in diesem Bereich abzudecken, so vor allem die Dimensionen „berufliches Rollenverständnis" und „demokratisches Normenverständnis" hinsichtlich der gesellschaftlichen Kommunikation.
•
Inwieweit diese Annahmen, die der Konzeption zugrundelagen, richtig waren, wird sich erst in Zukunft
auf die Berufspraxis; •
mangelnde Studienberatung zu Beginn und während des Studiums, keine Aufklärung über die Arbeitsmarktsituation und die beruflichen Möglichkeiten der Studienabsolventen;
•
Überfüllung der Hochschulen, Vermassung des Studiums, zu wenig Dozenten und Assistenten;
•
keine pädagogische Ausbildung der Lehrkräfte, mangelnde Effizienz der Lehre aufgrund veralteter Un-
— bei der Verwendung des Lehrsystems und seiner
terrichts- und Lernmethoden;
Überprüfung — zeigen. 7)
8)
14
Keine Berufsbezogenheit der Studieninhalte, keine Rückbezogenheit der universitären Arbeitsprozesse
Vgl. Lothar Schweim: Der andere Studienführer. Berlin, Basel 1973; Klaus Uhlig: Aktuelle Konzeptionen der Hochschuldidaktik. München 1974; Brigitte Eckstein: Hochschuldidaktik und gesamtgesellschaftliche Konflikte. Frankfurt am Main 1972. Hans-Albrecht Hesse/Wolfgang Manz: Einführung in die Curriculumforschung. Stuttgart 1972.
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
•
•
Reglementierung des Studiums, mangelnde Transpa-
lysiert und in ihren Zusammenhängen erklärt. Ziel die-
renz der Entscheidungsprozesse und Kriterien der
ser Phase müßte es sein, eine theoretische Konzeption
Auswahl und Gewichtung der Lehrinhalte;
der Gesellschaft vorzulegen, die eine „tragfähige Be-
keine Einbeziehung der Funktion von Forschung
gründung allgemeiner Ziele" eines Curriculum bieten
und Lehre in den gesamtgesellschaftlichen Zusam-
und Basis sein könnte für die Definition „positiver Al-
menhang, kritiklose Übernahme tradierter Bildungs-
ternativen im Sinne des Entwurfs der anzustrebenden
ziele, die den aktuellen gesellschaftlichen Bedürfnis-
Lebens-, Gesellschafts- und Kulturverhältnisse"(13).
sen und Interessen kaum mehr entsprechen (9).
Gleichzeitig reflektiert die mit der Entwicklung des
Eine Möglichkeit, diese Kritik aufzufangen und zumin-
Curriculum beauftragte, interdisziplinär zusammenge-
dest im Bereich der Lehre notwendige Reformen zu ini-
setzte Gruppe von Wissenschaftlern ihren wissenschafts-
tiieren, bieten die theoretischen Ansätze der Curriculum-
theoretischen und gesellschaftspolitischen Standort und
forschung. Dabei geht es darum,
bemüht sich um die Klärung und Darstellung ihrer grup-
1. „inhaltliche Curriculumentscheidungen aus dem schieren Dezisionismus herauszuheben — wer immer sich die Normenkompetenz [d.h. Entscheidungen über die Inhalte des Studienganges] aneignet — und auf ausgesprochene und akzeptable Kriterien zu gründen" (10); 2. das gesamte Lehrsystem und seine Teilbereiche so
penspezifischen Normen und Interessen, die als Vorentscheidungen in die Analyse eingehen und die Konzipierung des theoretischen Rahmens beeinflussen bzw. ihrerseits durch die zu leistende Arbeit konkretisiert oder modifiziert werden. Die normativen Zielsetzungen der Projektgruppe und ihre Begründungen, die in die inhaltlichen und metho-
zu beschreiben und zu operationalisieren, daß sie
dischen Entscheidungen des gesamten Arbeitsprozesses
einer permanenten Evaluation (Überprüfung und
einfließen, werden also explizit zu benennen versucht,
Kontrolle „mit wissenschaftlichen, hermeneutischen
um sie diskursiv rechtfertigen (14), auf ihre Rationali-
und u.U. didaktischen empirischen und ideologie-
tät überprüfen und revidieren zu können.
kritischen Methoden"(11)) und Revision unterzogen werden können.
Phase 2:
Situationsanalyse
Diese ursprünglich für den Schulbereich entwickelten
Die für das Studium relevanten Tätigkeitsfelder wer-
Konzepte lassen sich insofern auf die Hochschule über-
den beschrieben, ihre Aufgaben und Funktionen im ge-
tragen (12), als die zu verändernden Verhältnisse in
sellschaftlichen Kontext mit Hilfe empirischer Metho-
beiden Bereichen die gleichen sind: die Lehr- und Lern-
den untersucht. Zur Ergänzung dieser Analysen werden
situationen.
bereits vorliegende statistische Erhebungen, Prognosen
Curriculum ist auf universitärer Ebene als Studienplan zu definieren, der im Gegensatz zu den traditionellen Lehrplänen allgemeine und fachspezifische Qualifika-
und Berufsrollenbeschreibungen herangezogen, um so die derzeitige und künftige Situation des Berufsfeldes zu ermitteln.
tionen und Lernziele aufführt und diesen begründet
In einer weiteren Analyse werden die sozio-demogra-
Lerninhalte und -methoden zuordnet. Der Katalog an
phischen Daten (Herkunft, Vorbildung, Motivation
Lernzielen, Inhalten und Methoden wird erarbeitet
etc.) der Studenten erfaßt sowie die situativen und in-
und legitimiert im Laufe eines Arbeitsprozesses, dessen
stitutionellen Bedingungen des Studiums beschrieben.
Arbeitsschritte und Entscheidungen Gegenstand per-
Hieran schließt sich eine Analyse der für die untersuch-
manenter Reflexion und Überprüfung sind und der sich in die folgenden idealtypisch formulierten Phasen aufgliedern läßt.
et 10)
2.1.1
Entwicklungsphasen eines Curriculum
Phase 1:
Gesellschaftsanalyse
11 ) 12) 13)
Die ökonomische Struktur, die Institutionen, die Normensysteme und ihre Umsetzung in die Praxis der aktuellen Gesellschaft werden beschrieben, kritisch ana-
14)
Wilfried Müller: Berufsforschung und Hochschuldidaktik. In: Hochschuldidaktische Stichworte, Heft 3/1973 Saul Β. Robinsohn: Bildungsreform als Revisionscurriculum. 2. Aufl. Neuwied 1969, S. 44. Hesse/Manz, S. 22. Hesse/Manz, S. 122. Tobias Riilcker: Allgemeine Ziele, Normenkonsens und Gesellschaftstheorie. In: Pädagogische Rundschau, Heft 2/1973, S. 144. Vgl. Peter Krope: Entwurf einer Theorie zur Entwicklung von Lernzielen. In: Blickpunkt Hochschuldidaktik, Heft 23/1972.
15
Einleitung
te Berufs- und Studienpraxis relevanten Wissenschaf-
wertung ihrer Resultate. Z u d e m reflektieren sie die wis-
ten an, deren Theoriebildung, spezifischer Gegenstand
senschaftliche und gesellschaftlich-politische Position
und Methoden dargestellt werden. Die Auswertung und
der Arbeitsgruppe sowie die explizierten Zielsetzungen.
Interpretation der Resultate führen in einem nächsten Ergebnis dieses Verfahrens ist eine unstrukturierte Li-
Schritt zur
ste von kritischen Anmerkungen, Änderungsvorschlä-
Phase 3:
Benennung der fachspezifischen und allgemeinen Qualifikationen und der für die analysierten Tätigkeitsfelder relevanten Fachwissenschaften
Die fachspezifischen und allgemeinen Qualifikationen benennen die praktischen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die als unerläßlich für die untersuchten Berufsfelder ausgewiesen werden. Die fachspezifischen Qualifikationen werden sachbezogen als wissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten identifiziert, während die allgemeinen Qualifikationen auf einer generellen Verhaltensebene durch Fähigkei-
gen, artikulierten Bedürfnissen und Interessen, die die Curriculumgruppe systematisiert und als Basis für die Erstellung eines revidierten Katalogs von allgemeinen und fachspezifischen Qualifikationen verwendet. Als weitere Evaluationskriterien werden die soziokulturellen Determinanten der Zielgruppen herangezogen, d.h. die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen des Studiums sowie die persönlichen Daten und Sozialisationsfaktoren der Studenten und Dozenten. A u f diese Weise sollen die idealtypischen Qualifikationen im Hinblick auf die konkrete Studiensituation ergänzt und präzisiert werden.
ten wie Kommunikationsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Selbständigkeit, Anpassungsfähig-
Phase 5:
keit, soziale Sensibilität usw. beschrieben werden. A n z u m e r k e n ist, daß m i t wachsender Unvollständigkeit der Situationsanalysen die Liste der Qualifikationen in zunehmender Abhängigkeit von dem wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Vorver-
Identifikation und Organisation der Lernziele
U m die berufsfeldspezifischen Qualifikationen einer Erfolgskontrolle zugänglich zu machen, werden sie als Verhaltensdispositionen f o r m u l i e r t und in fachspezifische und allgemeine Lernziele gefaßt, die anhand pä-
ständnis der Arbeitsgruppe formuliert wird. A u f der
dagogischer, psychologischer und didaktischer Überle-
Grundlage ihres Standortes und ihrer Kenntnis der
gungen differenziert und systematisiert werden. Der so
einzugrenzenden Berufe definiert die Arbeitsgruppe
gewonnene Lernzielkatalog w i r d konkretisiert durch
Tätigkeitsbündel und Funktionsmerkmale für die betreffenden Berufsfelder, aus denen die allgemeinen und
Phase 6:
fachspezifischen Qualifikationen abgeleitet werden können.
Auswahl und Organisation der Studieninhalte
Die in der Arbeitsphase 3 aufgeführten Disziplinen und
Die Auffächerung und die Analyse der benannten
ihre Problembereiche, die zu der Ausbildung der allge-
Qualifikationen ergeben ein Raster zur Identifizierung
meinen und fachspezifischen Qualifikationen führen
der Fachwissenschaften, deren Problembereiche zur V e r m i t t l u n g der fachspezifischen und allgemeinen Qualifikationen dienen sollen.
sollen, werden unter erneuter Berücksichtigung der Zeitperspektive des Studiums und der artikulierten Bedürfnisse der Studenten und Dozenten aufgefächert, in Sequenzen organisiert und als Lernziele formuliert.
U m Einseitigkeiten zu vermeiden und auf der Ebene der Qualifikationen einen gesellschaftlich-politischen
Diese Lernziele beschreiben Lernen als Veränderung
und einen wissenschaftlichen Entscheidungsprozeß zu
des Verhaltens ( 1 6 ) unter Benennung des Gegenstan-
ermöglichen ( 1 5 ) , w i r d anschließend eine Kontrolle
des, der anzuwendenden Unterrichtsmethoden und der
der ersten drei Arbeitsschritte vorgenommen.
Rahmenbedingungen der Lernsituation. Sie werden,
Phase 4:
15)
Evaluation und Revision
Fachwissenschaftler, Vertreter von Berufsgruppen, Parteien und Verbänden sowie Studenten und Dozenten überprüfen die durchgeführten Analysen und die Aus-
16
16)
Vgl. Doris Knab: Konsequenzen der Curriculum-Problematik ¡m Hinblick auf Curriculumforschung und Lehrplanentscheidungen in der Bundesrepublik. In: Frank Achtenhagen/Hilbert L.Meyer (Hrsg.): Curriculumrevision. Möglichkeiten und Grenzen. München 1971, S. 159 f. Robert F. Mager: Lernziele und programmierter Unterricht. 14. Aufl. Weinheim 1970.
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
soweit es auf Hochschulebene möglich ist und der For-
•
von Dozenten und Studenten innerhalb des curri-
derung der Dozenten und Studenten nach Beteiligung
cularen Rahmens;
an den curricularen Entscheidungen entspricht, opera· tionalisiert, um eine summative Evaluation (Überprü-
•
fung der Effizienz der Lernprozesse und der Strategien des Curriculum in der Lehr- und Studienpraxis) zu ge-
der zeitlichen Beanspruchung und Gebundenheit
der Festschreibung von Lernzielhierarchien und Inhaltssequenzen;
• der Zuordnung von Lehr- und Lernmethoden zu
währleisten.
den Lerninhalten, die als Manipulation und potentielle Ideologisierung der am Lernprozeß Beteiligten
Phase 7:
qualifiziert werden.
Entwurf einer Prüfungsordnung
Die Arbeitsgruppe überprüft die Vereinbarkeit der Stu-
Diesen Einwänden, deren Berechtigung nicht von der
dieninhalte mit den Anforderungen, die in den Rah-
Hand zu weisen ist, kann entgegengehalten werden, daß
menrichtlinien der Kultusministerkonferenz und der
die Curricula auf Hochschulebene (18) erstellt sind als
Prüfungsordnung des zuständigen Kultusministeriums
offene Curricula, deren besondere Kennzeichen ihre
festgeschrieben sind. Wenn der curricular erstellte Studienplan eine andere Gewichtung sachbezogener Problembereiche, eine stärkere Betonung sozialer Fähigkeiten und wissenschaftli-
laufende Überprüfung und Weiterentwicklung sowie die Teilnahme der Betroffenen (Studenten und Lehrkräfte) und relevanter gesellschaftlicher Interessengruppen an diesem Revisionsprozeß sind.
chen Problemlösungsverhaltens aufweist, sucht die Ar-
Innerhalb des curricularen Systems hat der Studierende
beitsgruppe eine Einigung mit dem Kultusministerium
die Möglichkeit, Teilgebiete nach seinen individuellen
über die gegenüber der geltenden Prüfungsordnung als
Bedürfnissen und Interessen auszuwählen oder Alterna-
gleichwertig anzuerkennenden Curriculumelemente zu
tivvorschläge allein oder in Gruppen zu erarbeiten; der
erreichen und diese als Prüfungsgegenstände zu fixieren.
Dozent kann Inhalte, die seinen Forschungsinteressen oder seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten entsprechen, im Einvernehmen mit dem Fachbereich fixieren.
2.1.2
Lernen und Arbeiten innerhalb des curricular organisierten Studiums
Das Lernen und Arbeiten in diesem vorgegebenen Rahmen erfordert zunächst, daß der Studierende Zugang zu den Prinzipien und Implikationen des Curriculum findet und vom Studienbeginn an Einblick in die zeitliche und inhaltliche Planung der Lernprozesse gewinnt (17). Dazu ist es notwendig, dem Studenten die unterschiedlichen Konzepte der Curriculumforschung und ihr erkenntnisleitendes Interesse zu erläutern, die Wahl des Ansatzes, der dem von ihm aufgenommenen Studium zugrunde liegt, zu begründen, die Berufsmöglichkeiten des Studienfaches aufzuzeigen sowie die Funktion dieser Berufspraxis im gesellschaftlichen Kontext darzustellen und zu problematisieren,
Der vorgegebene Katalog der Lehrmethoden kann ebenfalls durch den Fachbereich modifiziert werden, der aufgrund laufender Informationen über die Forschungsergebnisse der Hochschuldidaktik in die Lage versetzt wird, bei der Auswahl der Unterrichtsmethoden lernund motivationstheoretische Erkenntnisse ebenso wie sozialpsychologische Aspekte des Lernens und Lehrens zu berücksichtigen. Somit läßt sich das Argument der Verschulung in eine bewußte „Pädagogisierung" des Studiums (19) umkehren, das an Hochschullehrer und Studenten Anforderungen stellt, die eine kritische Reflexion ihres Selbstverständnisses, ihrer Rollen und Funktionen implizieren. Zusammenfassend soll noch einmal unterstrichen wer-
Vor diesem Informationshintergrund werden die Ein-
den, daß die curriculare Organisation der Studiengänge
wände gegen ein curricular konzipiertes Studium thematisiert und diskutiert. Wesentliche Kritikpunkte
17)
scheinen die Verschulung und Reglementierung des Studiums zu sein. Dieser Vorwurf wird begründet mit •
18)
der Betonung des Primats der Lehre, die Forschung nur als Teil und Gegenstand der Studienprojekte zuläßt;
19)
Margret Bülow/Jürgen Klüver: Theorie und Praxis in Hochschulcurricula. In: Hochschuldidaktische Stichworte, Heft 5/1973. Hans Brüggelmann: Offene Curricula. Der experimentell-pragmatische Ansatz in englischen Entwicklungsprojekten. In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 18/1972, S. 95-118. Vgl. dazu Hartmut v. Hentig: Magier oder Magister. Stuttgart 1972.
17
Einleitung
die Transparenz und Effizienz der universitären Ausbil-
renden Vorgaben möglich, den Auftrag in der zur Ver-
dung erhöhen kann. Die Begründung der Ausbildungs-
fügung stehenden Zeit von gut einem Jahr zu erfüllen.
ziele durch die Analyse der Gesellschaft, der Studien-, Be-
Zudem konnten, durch die Festschreibung von The-
rufs- und Arbeitsmarktsituation zeigt die gegenseitige
menbereich und Funktion des Kurses legitimiert, die
Abhängigkeit von Ausbildung und Produktionsbereich
Arbeitsphasen 1 und 2 (Gesellschaftsanalyse, Analyse
und bezieht sie in die Lernprozesse ein.
der Berufs- und Studiensituation), wie in den folgenden Abschnitten dargestellt, modifiziert werden. Der Projektantrag enthielt einen emanzipatorischen
2.2
Realisierung im FIM-Projekt
Anspruch, den die Arbeitsgruppe in ersten Grundsatzdebatten konkretisierte und in Form eines Katalogs all-
Der curriculare Ansatz und seine Konsequenzen für die
gemeiner Lernziele auswies (z.B. selbständiges Problem-
Studiensituation wurden beschrieben, um die Kluft
lösungsverhalten, Kritikfähigkeit, Kommunikationsfä-
zwischen dem als ¡dealtypisch formulierten theoreti-
higkeit, Kooperationsfähigkeit). Innerhalb der
schen Anspruch der Curriculumforschung und seiner
curriculumtheoretischen Systematik muß dieser
Anwendung auf die Studienpraxis aufzeigen zu kön-
Arbeitsschritt als abhängig von dem gesellschaftlich-
nen.
politischen und wissenschaftlichen Standort der Cur-
Das generelle Problem liegt, wie zu zeigen sein wird, in der Identifikation der Qualifikationen und ihrer begrün-
riculumgruppe sowie von der Beurteilung der Berufsund der Studiensituation gesehen werden.
deten und wissenschaftlich stringenten Ableitung aus
Daher bemühte sich die Projektgruppe zunächst, ihre
der Gesellschafts- und Situationsanalyse. Diese Analy-
gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Position
sen sind entweder, wie die Gesellschaftsanalyse, in dem
zu beschreiben und die normativen Vorentscheidungen
geforderten Ausmaß zur Zeit schon deswegen nicht zu
und Zielsetzungen, die in den gesamten Arbeitsprozeß
leisten, weil die Frage der anzuwendenden Methoden
einfließen, darzulegen. Diese Normen und Werte konn-
und ihrer Zuordnung noch nicht zureichend geklärt
ten zwar nicht explizit, wie bereits angedeutet, durch
ist (20), oder, wie die Tätigkeitsfeld-, die Arbeitsplatz-
eine — curriculumtheoretisch geforderte — Gesellschafts-
und die Arbeitsmarktanalysen, aus arbeitstechnischen
und Wissenschaftsanalyse begründet werden, sind je-
und finanziellen Gründen nicht so ausführlich durchzu-
doch als ausgesprochene und offengelegte Entschei-
führen, daß sie dem idealtypischen Anspruch der Cur-
dungskriterien zumindest intersubjektiver Kritik und
riculumtheorie genügen könnten. Die unter diesen Vor-
Überprüfung zugänglich.
aussetzungen möglichen Arbeitsschritte sollen deshalb kurz skizziert werden.
2.2.1
Bevor nun die Projektgruppe mit der Planung und Organisation der einzelnen Arbeitsphasen begann, disku-
Zum politisch-gesellschaftlichen Vorverständnis
Soziale Mobilität
tierte sie Aufgabenstellung, Themenbereich, anzuwendende Medien sowie Einsatzmöglichkeiten im tertiären
Die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland,
Bildungsbereich, wie sie in dem Förderungsantrag an
auf die wir uns in diesem Kurs beziehen, ist von einer
die VW-Stiftung beschrieben sind. Dieser Projektantrag
immer stärkeren Rollendifferenzierung gekennzeichnet.
definiert somit die Rahmenbedingungen der zu leisten-
Der einzelne steht in einer Vielzahl sozialer Handlungs-
den Arbeit, die von Anfang an in die Entwicklungs-
felder, von denen er in der Regel nur zeitlich begrenzt
schritte des Lernsystems einbezogen werden mußten.
in Anspruch genommen wird. Diese Rollenvielfalt setzt soziale und kommunikative Sensibilität, d.h. die Fähig-
Curriculumtheoretisch besitzen derartige vorgegebene Bedingungen restriktive Funktion und sind als solche zu kennzeichnen, da sie die Arbeitsphasen der Curriculumkonstruktion verändern, z.B. andere als die dem gewählten (curriculum-) theoretischen Ansatz immanenten Ziele setzen können. Dagegen war es arbeitsökonomisch betrachtet nur aufgrund der Vorarbeiten zu dem Projektantrag und der hieraus resultie18
keit zur Anpassung an neue Situationen und zu einem demokratischen Problemlösungsverhalten voraus. Sie ermöglicht einerseits berufliche und gesellschaftliche Mobilität. Andererseits hat die hochgradige Arbeitsteilung zur Folge, daß der Mensch die Beziehung zu dem
20)
Vgl. Hesse/Manz, S. 22.
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
Produkt, das er herstellt, zum Ganzen, von dem er ein
die Verbesserung der „kommunikativen Kompetenz"
Teil ist, aus den Augen verliert.
als Voraussetzung einer wirklichen Chancengleichheit bei der Artikulation eigener Bedürfnisse.
Vermittelte Welt Angesichts der immer komplexer werdenden Lebensverhältnisse kann der einzelne seine Urteile und Hand-
Ökonomische Aspekte
lungen immer weniger auf eigene Erfahrungen gründen.
Das System der Marktwirtschaft hat sich nach dem Krie-
Er ist nicht mehr in der Lage, alle Vorgänge von gesell-
ge gegenüber der Forderung nach Sozialisierung durch-
schaftlicher Bedeutung zu überblicken oder gar aktiv
gesetzt. Allerdings entspricht das liberale Modell vom
auf allen Gebieten mitzuwirken, sondern muß seine Ak-
freien Spiel ökonomischer Kräfte nicht den Anforderun-
tivität überwiegend auf Familie, Arbeitsplatz und un-
gen hochindustrialisierter Gesellschaften; der Staat
mittelbare Umgebung beschränken. Um so wichtiger
greift als globale Steuerungsinstanz mit einer Fülle von
wird der Erfahrungsaustausch mit den Mitmenschen.
Regelungsinstrumenten - von der Steuergesetzgebung
Voraussetzung für das Zusammenleben ist ein Netz von
bis zur Subventionierung - in den Wirtschaftskreislauf
Kommunikationswegen, das es Individuen und Gruppen
ein. Angesichts der negativen Nebenfolgen der Expan-
ermöglicht, ihre Bedürfnisse, Meinungen und Absich-
sionseuphorie der vergangenen Jahrzehnte — Umwelt-
ten austauschen und vergleichen zu können. Auf ge-
verschmutzung und Naturzerstörung seien hier nur als
sellschaftlicher Ebene haben unter anderem die Massen-
Stichworte genannt - zeigen sich die Grenzen eines un-
medien diese Funktion zu erfüllen.
gezügelten wirtschaftlichen Wachstums; statt allein auf die quantitative muß das Augenmerk stärker auf die
Gleichheit der Lebenschancen
qualitative Entwicklung gelegt werden.
Die Qualität der politischen Ordnung in der Bundesre-
Eines der größten Probleme heutiger Gesellschaften mit
publik ist im Grundgesetz formal mit den Begriffen
kapitalistischer Wirtschaftsordnung besteht in dem
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlich-
„over-spill" ökonomischer in politische Macht. Die un-
keit umschrieben. Dahinter steht die Absicht, allen Bür-
gleichen Einflußchancen widersprechen den demokra-
gern Gleichheit vor dem Recht, soziale Sicherheit so-
tischen Normen. Es ist sehr fraglich, ob das bisherige
wie die Chance persönlicher Selbstverwirklichung zu
staatliche Instrumentarium — etwa der Kartellgesetzge-
garantieren.Normativ wird also gefordert, daß alle Ak-
bung usw. — zur Behebung solcher struktureller Defizi-
tivitäten der Gesellschaft auf den Menschen bezogen
te ausreicht. Die Erweiterung der Verfügungsgewalt der
sein und ihm dienen sollen. Er soll sich frei entfalten
abhängig Beschäftigten, wie sie vor allem unter dem
können und nur so weit eingeengt werden dürfen, als
Stichwort „Mitbestimmung" diskutiert wird, scheint
sich dies im Leben der Gemeinschaft als notwendig er-
hier ein gangbarer Weg zur evolutionären Veränderung
weist. Dieselben Garantien gelten auch für Zusammen-
zu sein. Die Situation an den Hochschulen hat hier in
schlüsse von Menschen.
den letzten Jahren exemplarisches Anschauungsmaterial für die Chancen einer solchen Entwicklung, aber auch
Der tatsächliche Einfluß einzelner Machtgruppen zeigt
über die Schwierigkeiten ihrer Verwirklichung geliefert.
jedoch einen deutlichen Bruch zwischen Verfassungsnorm und Realität. Artikulations- und Einflußchancen sind ungleich verteilt. Diese Asymmetrie hat verschie-
Demokratie und Partizipation
dene Ursachen: zum Beispiel ökonomische Macht oder
In einer Demokratie müssen alle Bürger die gleiche
soziales Prestige oder heterogene Bildungsvorausset-
Chance haben, auf politische Vorgänge einwirken zu
zungen.
können. Diese Einwirkung findet in den industriellen Großgesellschaften der Gegenwart, die durch zuneh-
Einer der wichtigsten Bereiche zur Verteilung der Le-
mende Komplexität gekennzeichnet sind, im allgemei-
benschancen ist der Prozeß der Erziehung und Bildung.
nen nicht mehr direkt, sondern vermittelt statt: durch
Bildung bedeutet in einem demokratischen Staat Bür-
Repräsentation.
gerrecht. Bisher jedoch wurde dieses Postulat in der Bundesrepublik nur unzureichend verwirklicht — als
Angesichts der weitverbreiteten politischen Apathie ist
Beispiel sei nur auf schichtspezifische Barrieren oder
einerseits nach den Voraussetzungen und Möglichkei-
das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land verwiesen.
ten zur Artikulation der eigenen Interessen, Bedürfnis-
Eine der Hauptzielsetzungen dieses Kurses ist deshalb
se und Wertvorstellungen, andererseits nach der Be19
Einleitung
schaffenheit der Kommunikationskanäle im politischen
Die Wissenschaft darf sich nicht durch Abstraktionsni-
Bereich zu fragen. Eines der wichtigsten Lernziele zeit-
veau und Generalisierungsstrategien gegenüber einer rea-
genössischer politischer Bildung läßt sich mit dem
litätsbezogenen Detailkritik immunisieren; sie muß
Stichwort „Fähigkeit zur Partizipation" bezeichnen.
stets die sogenannte Rekognitionsproblematik beach-
Damit sind die Möglichkeiten gesellschaftlicher Frei-
ten, d.h. das Problem des Wiederfindens abstrakter Ka-
heit, individueller Entfaltung und politischer Einfluß-
tegorien in der gesellschaftlichen Realität.
nahme im demokratischen Prozeß angesprochen.
Kritische Wissenschaft ist nach diesem Verständnis ei-
In Anwendung auf unser Lehrsystem gilt die angestreb-
ne auf die Lösung praktischer sozialer Probleme gerich-
te Partizipationsfähigkeit für drei Bereiche:
tete Wissenschaft, die ihre eigenen Thesen und Theo-
*
für den gesamten politisch-gesellschaftlichen Bereich: durch den Abbau von restriktiven Bedingungen soll
Die genannten Forderungen beziehen sich in besonde-
Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsprozes-
rem Maße auf die Sozialwissenschaften, die „Gesell-
sen erreicht werden; *
für bestehende und künftige Tätigkeitsfelder, indem deren soziale Randbedingungen und Konfliktsituationen aufgezeigt und so die Berufsrolle und spezielle Möglichkeiten der Teilnahme beschrieben werden;
*
rien ständig in Frage zu stellen bereit ist.
für den Hochschul- und sonstigen Studienbereich: Teilhabe an der Gestaltung der Studiengänge, Mitwirkung in einzelnen Interessengruppen und bei der allgemeinen und fachbezogenen Studienreform.
2.2.2
Zum wissenschaftlichen Vorverständnis
Wissenschaftliche Theorien und Erklärungsmodelle entstehen und verändern sich jeweils in einem konkreten historischen und gesellschaftlichen Kontext. Das heißt: Sie sind nicht in einer Sphäre „reinen Geistes" angesiedelt, ausschließliches Produkt des sie hervorbringenden Subjekt, sondern sie zeugen auch von einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Wissenschaftliche Arbeit ist also immer von ihrem konkreten Entstehungszusammenhang geprägt. Wissenschaft und Gesellschaft stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Mit der zunehmenden Beanspruchung einer gesellschaftlichen Orientierungsfunktion durch die Gruppe der Wissenschaftler vergrößert sich einerseits ihre Macht, andererseits verstärkt sich der Legitimationsdruck von Seiten der Gesellschaft. Die These von der Wertfreiheit der Wissenschaft führt zu einer Beliebigkeit der Verwertung. Die - wie allen gesellschaftlichen Arbeitsfeldern - auch der wissenschaftlichen Tätigkeit immanente Normsetzung wird kaschiert und bleibt unkontrolliert. Statt dessen ist eine Offenlegung der eigenen Wertprämissen nötig. Nur so bleiben auch die normativen Voraussetzungen rationaler Diskussion zugänglich. 20
schaft" als Objekt ihrer Forschung haben. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung beschäftigt sich die Kommunikationswissenschaft mit sozialer, mit öffentlicher und mit vermittelter Kommunikation. (Zur Diskussion um den binnenwissenschaftlichen Stellenwert vgl. den zweiten Teil der Studieneinheit 1.)
2.2.3
Zur Berufs- und Studiensituation
An die bisherigen normativ orientierten Vorarbeiten Schloß sich die Arbeitsphase 2 (Situationsanalyse) an - wenn auch in notwendigerweise ebenfalls verkürzter Form. Schwerpunkte der Arbeit lagen hier in der kritischen Sichtung der Literatur über die bisherige Ausbildungspraxis hinsichtlich ihrer Leistungen für die journalistische Berufsausübung, in der Analyse der Modellstudiengänge in München, Berlin, Köln, Mainz und Dortmund sowie in der Auswertung vorliegender empirischer Untersuchungen über die Berufssituation der Journalisten (21).
Das für das FIM-Projekt relevante Berufsfeld Kommunikationsberufe / journalistische Berufe umfaßt eine Reihe von Tätigkeitsbereichen (z.B. Pressestellen-Journalismus, Public Relations, Medienpädagogik, Fachjournalismus, angewandte Forschung u.a.), von denen bisher nur das klassische Berufsfeld des Medienjournalisten annähernd definiert und beschrieben ist. Eine „repräsentative Journalistenenquête" der Arbeitsgemeinschaftfür Kommunikationsforschung in München untersuchte Vorbildung, Ausbildung und Einstellungen
21)
Vgl. Jörg Aufermann/Ernst Elitz (Hrsg.): Ausbildungswege zum Journalismus. Opladen 1975; sowie Journalismus als Beruf. Sonderheft der Zeitschrift Publizistik, Heft 3 - 4 / 1 9 7 4 , Heft 1-2/1975.
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
von Medienjournalisten. Dabei wurden vier Berufsgruppen unterschieden: Fernsehjournalisten, Hörfunkjournalisten, Journalisten, die in beiden Medien arbeiten, und Pressejournalisten. Von den Befragten hatten 75 Prozent Abitur, 12 Prozent mittlere Reife und 13 Prozent Volksschulabschluß mit anschließender Berufsausbildung oder abgebrochene Oberschule. Die meisten der Abiturienten begannen im Anschluß ein Hochschulstudium; 54 Prozent brachen es - aus unterschiedlichen Gründen — vorzeitig ab. Die Einstellungen in bezug auf Aus- und Weiterbildung sind stark geprägt von dem journalistischen Selbstverständnis. So halten 85 Prozent der Befragten den Journalismus für einen Begabungsberuf — woraus zu schließen wäre, daß beruflicher und wissenschaftlicher Ausbildung nur ein geringer Stellenwert zugemessen wird. Dagegen stimmen 65 Prozent der Befragten auch der These zu: „Als Journalist sollte man eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung haben"(22). Der scheinbare Widerspruch zwischen beiden Antworten löst sich insofern auf, als sich die Zustimmung zu wissenschaftlich fundierter Ausbildung weniger auf ein achtsemestriges Studium mit integrierten Praktika bezieht, als vielmehr eine „allgemeine Hilfestellung" zur Bewältigung der anfallenden Arbeitsprobleme meint (23). Dennoch werden derzeit im Bereich der Universität eine Reihe von Modellversuchen zur Journalistenausbildung durchgeführt. All diesen Konzeptionen ist gemeinsam, daß ihre Kriterien Berufsbezogenheit und Wissenschaftlichkeit als Auswahlprinzipien für die zu vermittelnden Studieninhalte dienen, die vier Grundelemente verbinden sollen: — — — —
kommunikationswissenschaftliches Studium, gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium, Fachstudium und Praxis (24).
Die genannten Modellstudiengänge sollen, wie auch das FIM-Studiensystem, zur einer inhaltlichen Neuorientierung und Veränderung der beruflichen Ausbildung und damit letztlich auch der Berufssituation der Journalisten beitragen. Die Diskussion um die berufliche Situation ist durch folgende Stichworte gekennzeichnet: • Zugangsfreiheit zum Beruf des Journalisten, d.h. keine staatlich vorgeschriebenen Studienabschlüsse und Prüfungen
• in der Regel Beschränkung der Ausbildung auf ein Volontariat bzw. kurzfristige Arbeit als Praktikant • geringe Bedeutung des Studiums der Publizistikund Kommunikationswissenschaft als Berufsqualifikation (25) • Heterogenität der Berufsfelder und Tätigkeitsmerkmale • starkes Standesbewußtsein (Begabungsideologie) • gespannte Arbeitsmarktlage, wenige offene Stellen, Entlassungen als Folge von Konzentrationsprozessen, hoher Konkurrenzdruck • häufige Interessenkollision zwischen den ökonomisch und politisch definierten Zielen der publizistischen Institution und dem Informationsanspruch der Rezipienten Da die Tätigkeitsfelder sich als zu komplex und heterogen für eine erste Ableitung von berufsrelevanten Qualifikationen erwiesen, beschrieb die Projektgruppe die journalistischen Tätigkeitsbündel zunächst zusammenfassend als Berufsfeld des Kommunikationspraktikers, der eine Vielzahl und Vielfalt von Informationen rasch zu erfassen, unter übergeordneten Gesichtspunkten zu systematisieren und weiterzuvermitteln in der Lage ist. Allen diesen Tätigkeiten ist gemeinsam, daß sie im Bereich der öffentlichen Kommunikation liegen, der geprägt ist durch die rechtlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland. Im Anschluß an die Analyse der Ausbildungs- und Berufssituation der Journalisten wurde die Studiensituation beschrieben und als situative und institutionelle Rahmenbedingung des FIM-Lernsystems analysiert. Die Situation an den Universitäten hat sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Die Hochschulen sind zu Masseninstitutionen geworden, in denen auf individuelle und gruppenspezifische Bedürfnisse sowie auf die Probleme einzelner kaum Rücksicht genommen werden kann. Die überlangen Studienzeiten — soweit noch möglich - und die hohen Quoten von Studienabbrechern sind zum großen Teil auf Frustrationen und Un22)
23) 24)
25)
Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung: Repräsentative Journalistenenquete. München 1974 (masch. vervielf.), S. 110. Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung, S. 114. Christina Oberst-Hundt: Grundelemente eines Curriculums für eine wissenschaftliche Journalistenausbildung. In: Publizistik, Heft 3 - 4 / 1 9 7 4 , Heft 1 - 2 / 1 9 7 5 , S. 4 8 f. Rolf Sülzer: Berufschancen für Publizistikstudenten. In: Jörg Aufermann/Ernst Elitz (Hrsg.): Ausbildungswege z u m Journalismus. Opladen 1975, S. 85—98.
21
Einleitung
Sicherheit zurückzuführen, die hauptsächlich aus der Diskrepanz zwischen den Studienerwartungen und der Studienrealität resultieren. Die langjährige schulische Sozialisation, die auch wegen der bestehenden Studienplatzbeschränkungen stark leistungsorientiert ist, deutliches Konkurrenzverhalten und Autoritätsgebundenheit fördert, bildet starke Barrieren gegen die Entwicklung selbstbestimmten Verhaltens, Lernens und Arbeitens. Die neuen Studien- und Prüfungsordnungen, insbesondere die geplante Einführung von Regelstudienzeiten, unterstützen — falls sie nicht mit einer inhaltlichen Reform des Studiums einhergehen — die Tendenz der Studienanfänger, sich an die Ziele der Institution anzupassen, um nicht aufzufallen und in kurzer Zeit nur die erforderlichen Leistungsnachweise zu erwerben. Eigeninitiative, kritische Kompetenz, soziale Sensibilität, politisches Engagement u.ä. werden zwar als erstrebenswerte Ziele überall benannt, aber in der konkreten Studiensituation nur sehr wenig gefördert und unterstützt. Über die Motivation zur Wahl des Studiums der Kommunikationswissenschaft liegen nur wenige empirische Befragungen vor. Eine Umfrage unter Münchener Studenten der Zeitungswissenschaft im Jahr 1971 ergab: „Die überwiegende Mehrheit der Studenten strebt einen journalistischen Beruf... an, wobei Presse und Fernsehen die bevorzugten Medien sind" (81 Prozent) (26). Bei den Soziologie- und Politologiestudenten zeigt sich eine ähnliche Zielsetzung (27). Dieses Ergebnis steht im krassen Widerspruch zu der Berufsrealität, da nur ein kleiner Teil dieser Studienabsolventen in den Massenmedien eingestellt wird. Die Untersuchungen, die am Institut für Zeitungswissenschaft in München durchgeführt wurden, unterstreichen diese Resultate. Sowohl Studenten als auch Absolventen des Faches nannten als Grund für die Wahl ihres Studiengebietes überwiegend „ein konkretes Berufsziel, für das Zeitungswissenschaft sinnvoll erschien"(28). Ergänzend ist zu erwähnen, daß Kommunikationswissenschaft bisher noch nicht zu den Numerus-claususFächern gehörte und so eine Ausweichmöglichkeit für abgewiesene Studenten anderer Disziplinen bot. Die genannten Gründe für die Studienwahl deuten schon einen weiteren Faktor an, der besonders die Situation des Studienanfängers in vielen Fällen prägt: 22
die Unsicherheit über das aufgenommene Studium und seinen Gegenstand sowie Unkenntnis oder falsche Vorstellungen über die spätere berufliche Verwendung und den künftigen Arbeitsmarkt. Verstärkt wird diese Unsicherheit durch die Schwierigkeiten, mit der neuen Rol le als Student in einer noch fremden Umgebung fertig zu werden. Dem Betroffenen fehlen dabei vor allem auch Informationen über Ziele, Struktur und Organisation der Hochschule im allgemeinen und den Aufbau wie die Anforderungen seines Studienganges im besonderen (29).
2.2.4
Die Benennung der fachspezifischen und allgemeinen Qualifikationen
Im Anschluß an die Formulierung des gesellschaftspolitischen Standorts, des wissenschaftlichen Vorverständnisses der Projektgruppe und der Darstellung der Berufs· und Studiensituation wurde das hieraus gewonnene Material zur Identifikation allgemeiner und fachspezifischer Qualifikationen erneut überprüft im Hinblick auf die in dem Projektantrag vorgegebene — Funktion: Einführung in die Kommunikationswissenschaft, — Zeitperspektive: ein Studienjahr, — und Zielgruppe des Lernsystems. Um den curricularen Anforderungen gerecht zu werden, war es notwendig, unter Beibehaltung der vordefinierten Funktion und der zeitlichen Vorgabe die Zielgruppenbestimmung zu revidieren. Zwar bleibt es hiernach möglich, das F IM-Lernprogramm im Bereich der Lehrer- und Erwachsenenbildung sowie in der Weiterbildung von Berufspraktikern, wie im Antrag vorgesehen, zu verwenden; die Definition der Qualifikationen und Lernziele orientiert sich jedoch überwiegend an der beschriebenen Situation der Studenten mit Haupt- oder Nebenfach Kommunikationswissenschaft und an dem für dieses Studium relevanten Berufsfeld. Diese Beschränkung mußte vor allem auch deswegen 26) 27)
28)
29)
Walter A. Mahle: Warum studiere ich Zeitungswissenschaft? Bericht über die Münchner Studentenenquete 1971. In: Publizistik, Heft 1/1973, S. 61. Konstanzer Soziologenkollektiv: Berufe für Soziologen. München 1 9 7 1 . S . 18ff.; Dirk Hartung/Reinhard Nuthmann/Wolfgang D. Winterhage··: Politologen im Beruf. Stuttgart 1970, S. 76. Mahle, S. 61; Dieter R. Kojilick: Zeitungswissenschaft und Beruf. Erste Ergebnisse der Münchner Absolventenbefragung 1974. In: Publizistik, Heft 3 - 4 / 1 9 7 4 , Heft 1 - 2 / 1 9 7 5 . S. 362. Vgl. Veronika Reiß/Rolf Schulmeister: Sozialisation in der Hochschule. In: Hochschuldidaktische Stichworte, Heft 4/1973.
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
erfolgen, weil es sich als unmöglich erwies, die unterschiedlichen soziokulturellen Determinanten (Sozialdaten, Motivation, Einstellungen, berufliche Vorerfahrungen usw.) bei der Konstruktion des Kurses hinreichend zu berücksichtigen. Ergebnis der bisherigen Arbeit war die Benennung allgemeiner und fachspezifischer Qualifikationen, die, in Lernziele aufgefächert, in die Erarbeitung der vorliegenden 13 Studieneinheiten eingingen. Hierbei ist jedoch festzustellen, daß Lernziele, wie sie von den unten aufgeführten Qualifikationen abgeleitet sind, auch den Erwerb von sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten umfassen, die als solche nur in einer sozialen Lernsituation entwickelt werden können. Da aber das methodische Instrumentarium des FIM-Lernsystems zunächst auf Fernsehfilme und schriftliches Arbeitsmaterial beschränkt ist, können hier nur Kenntnisse und Informationen über die angestrebten sozialen Verhaltensweisen und deren Voraussetzungen vermittelt, Bewußtseinsprozesse initiiert, soziale Fähigkeiten jedoch weniger eingeübt werden. Insofern gewinnt das F IM-Lernprogramm seinen Stellenwert erst durch die Einordnung in einen Grundstudiengang, in dem die FIM-Studieneinheiten durch Lehrstrategien wie Kleingruppenarbeit, Übungen u.a. ergänzt werden (SIM). Als FIM-Kurs kann das vorliegende Projekt also nur einführende Funktionen übernehmen, indem es kognitive Grundlagen und notwendiges Vorwissen für die Erreichung allgemeiner Qualifikationen vermittelt und exemplarisch versucht, den spezifischen Gegenstand der Kommunikationswissenschaft, die gesellschaftliche Kommunikation, anhand des Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung darzustellen.
sen kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls Handlungsalternativen zu entwickeln; 4. Fähigkeit, sich kommunikativer Mittel zu bedienen, sich in Gruppen zu artikulieren, Toleranz gegenüber anderen Aussagen und Meinungen zu zeigen, sich in der Diskussion als gleichberechtigter Partner zu erweisen, um zielorientiert im Team arbeiten zu können; 5. Fähigkeit, Erfahrungen aus den Praktika zu artikulieren, auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Kenntnisse zu reflektieren und begründet zu beurteilen; Fähigkeit, soziale Sensibilität für typische Situationen journalistischen Handelns zu entwickeln; 6. Kenntnis der theoretischen Ansätze und der Ergebnisse relevanter Sozialwissenschaften; Fähigkeit, diese für die Lösung kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen anzuwenden; 7. Kenntnis der Methoden der empirischen Sozialforschung, ihrer Funktionen und Anwendbarkeit; Fähigkeit, mit Hilfe dieser Methoden Fragestellungen der Kommunikationswissenschaft empirisch zu untersuchen und anhand der Ergebnisse theoretische Aussagen der Kommunikationswissenschaft zu überprüfen; 8. Kenntnis des spezifischen Gegenstandes der Kommunikationswissenschaft: soziale Kommunikation, öffentliche Kommunikation, Massenkommunikation; Kenntnis der wechselseitigen Bedingtheit von Gesellschaft und Kommunikation auf dem Hintergrund sozialer, politischer, historischer, ökonomischer und erkenntnistheoretischer Zusammenhänge.
Folgende Qualifikationen wurden als Basis für die Ableitung von Lernzielen und Lerninhalten der einzelnen Studieneinheiten formuliert:
2.2.5
1. Kenntnis der Techniken und Hilfsmittel des wissenschaftlichen Arbeitens im Fachgebiet der Kommunikationswissenschaft;
Zur Vermittlung der allgemeinen und fachspezifischen Qualifikationen wurden die folgenden Inhalte herangezogen und benannt:
2. Fähigkeit, ein Referat, eine Klausur, einen journalistischen Beitrag zu planen, zu strukturieren und zu formulieren; 3. Fähigkeit, das Studium und die zu durchlaufenden Praktika als Sozial isationsinstanzen zu erkennen, die geforderten Einstellungen und Verhaltenswei-
Auswahl und Organisation der Studieninhalte
Studieneinheit 1: Kommunikation und Kommunikationswissenschaft Intention dieser Einheit ist, Kommunikation als grundlegenden sozialen Prozeß und als Voraussetzung für politische Meinungs- und Willensbildung darzustellen. 23
Einleitung
Studieneinheit 2: Normative Konzeptionen von po-
Studieneinheit 8: Die politische Rolle der Journalisten
litischer Öffentlichkeit — Demokratietheoretische Aspekte
Intention dieser Einheit ist, den Stellenwert beruf-
Intention dieser Einheit ist die Darstellung der nor-
licher Kommunikationsrollen für die politische
mativen Grundlagen des Prozesses der politischen
Kommunikation zu klären.
Meinungs- und Willensbildung aus der Sicht des Individuums.
Studieneinheit 9: Informationsinput aus dem politischen System und Informations-
Das politische System als Kommunikationssystem Studieneinheit 3: Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament im Prozeß der politischen Kommunikation Intention dieser Einheit ist, Institutionen des politischen Systems in ihrer Funktion als Kanäle politischer Kommunikation zu analysieren. Studieneinheit 4: Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle der politischen Kommunikation Intention dieser Einheit ist, am Beispiel der politischen Wahl das praktische Funktionieren der politischen Öffentlichkeit, insbesondere der Kommunikationskanäle .Parteien', zu überprüfen. Studieneinheit 5: Wege der Interessenartikulation Intention dieser Einheit ist, die institutionalisierten und die Ad-hoc-Strukturen darzustellen, mittels derer im Prozeß der politischen Kommunikation Interessen formuliert und durchgesetzt werden.
Politisches System und Massenkommunikationssystem Studieneinheit 6: Politisches System und Massenkommunikationssystem
output des Massenkommunikationssystems Intention dieser Einheit ist, die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten zu analysieren, die durch die Informationstätigkeit der Massenmedien hergestellt wird.
Politische Sozialisation durch Kommunikation Studieneinheit 10:
Intention dieser Einheit ist, das politisch-kommunikative Verhalten der Individuen aus dem Zusammenhang lebenslang ablaufender Sozialisationsprozesse verständlich zu machen. Studieneinheit 11:
- bei der Herstellung von Öffentlichkeit für den Prozeß der politischen Kommunikation herauszuarbeiten.
Intention dieser Einheit ist, das politisch-kommunikative Verhalten der Individuen gegenüber den Massenmedien darzustellen und zu erklären. Studieneinheit 12:
Persuasive Kommunikation und Wirkungsforschung
Intention dieser Einheit ist, Mechanismen und Bedingungen der Wirkung von Massenmedien darzustellen. Studieneinheit 13:
Demokratische Kommunikationspolitik
Intention dieser Einheit ist, den Stellenwert zukunftsgerichteter kommunikativer Ordnungspolitik für einen demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß deutlich zu machen.
Studieneinheit 7: Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem Intention dieser Einheit ist, am Beispiel der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu analysieren, welche kommunikationsorganisatorischen Vorkehrungen das politische Funktionieren aktuell-universeller Forumsmedien sicherstellen können. 24
Politisches Verhalten und Mediennutzung
Intention dieser Einheit ist, die Rolle der Kommunikationsmedien — insbesondere der „Massenmedien"
Instanzen der politischen Sozialisation
2.2.6
Evaluation und Revision
Zur Verbesserung des Lehrsystems bedurfte die Interpretation der Resultate aus den bisherigen Analysen der Überprüfung durch Beteiligte und Betroffene. Den Rahmen für die Evaluation bildeten einerseits Gespräche mit Studenten und Dozenten des Instituts für Kom-
Konzeption und Entwicklung des Lehrsystems
munikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) sowie dem Wissenschaftlichen Beirat des Projekts, andererseits Tests mit der Zielgruppe Studenten im ersten oder zweiten Semester Kommunikationswissenschaft. Die Ergebnisse dieser Kontrollverfahren bildeten die Grundlage für eine Revision des schriftlichen und visuellen Materials. Eine umfangreichere Evaluationsuntersuchung ist im Rahmen einer Dissertation am Institut für Kommunikationswissenschaft (Zeitungswissenschaft) der Universität München durchgeführt worden (vgl. Anhang, Teil II). 2.2.7
Studiennachweis
Innerhalb des Grundstudiums ist für das erfolgreiche Absolvieren des Kurses die Vergabe eines Leistungsnachweises (Proseminarschein) vorgesehen.
3.
Handanweisung zur Benutzung des Lehrsystems
Das vorliegende Kursprogramm umfaßt sowohl in der Buch- als auch in der Lose-Blatt-Form 13 Lektionen und die zu jeder Lektion gehörenden Filme. Aus Testläufen ergab sich eine Mindestbearbeitungszeit des schriftlichen Teils von durchschnittlich 4 - 6 Stunden. Bei den Teilnehmern des SIM ist sowohl der zeitliche Aufwand für die Diskussion des Materials in Seminaren und für eventuelle Gruppenarbeitsphasen als auch für die Rezeption des AV-Teils (ca. 30 Minuten pro Lektion) hinzuzurechnen. Für Teilnehmer des FIM entfallen die Diskussionsund Gruppenarbeitsphasen.
Im vorliegenden Lehrsystem werden folgende Unterrichtsmethoden und -medien verwendet: 1. Vorinformation 2. Film 3. Schriftliches Material, bestehend aus — Arbeitstext — Aufgaben — Literaturhinweisen zum weiteren Studium (annotierte Bibliographie) — Lösungen zu den Aufgaben
Jeder dieser Teile ist über alle Lektionen hinweg durch den gleichen graphischen Hinweis (Vignette) gekennzeichnet. Zur schnellen Auffindung der einzelnen Teile soll das vor jedem Arbeitstext stehende Inhaltsverzeichnis dienen. Die Lektionen beginnen mit einer Vorinformation. Sie dient einerseits der Vorbereitung auf den Film, andererseits strukturiert sie als Problemaufriß und als kurzer Überblick den Inhalt der schriftlichen Lektion. Jede Vorinformation knüpft an die vorausgegangenen Studieneinheiten an, präzisiert den neuen Problembereich und enthält Querverweise zu anderen Studieneinheiten. Der Vorinformation folgt der Film. Er verzichtet auf eine eingehende und umfassende Wiedergabe des Inhalts jeder Lektion zugunsten einer anschaulichen und verständlichen beispielhaften Benennung des Problems aus der Realität. Im Rahmen dieser schlaglichtartigen Einführung in das Thema problematisiert er denkbare Konflikte aus dem Bereich der politischen Kommunikation und informiert über deren Hintergründe. Seine Intentionen lassen sich wie folgt beschreiben:
Lerntechniken
• • • •
Anknüpfung an (latentes) Alltagswissen Verfremdung von Alltagserfahrung Initiierung von Problemlöseverhalten Motivierung zur gründlichen Auseinandersetzung mit dem schriftlichen Material
Die damit angesprochenen Lerntechniken beschränken sich für FIM auf Einzelarbeit; als Medien werden Fernsehfilm und schriftliches Arbeitsmaterial verwendet. Im SIM stehen als Lerntechniken Einzel- und Kleingruppenarbeit sowie Diskussionen zur Verfügung, als Medien Filmaufzeichnung und schriftliches Arbeitsmaterial.
Das schriftliche Material jeder Lektion behandelt die in den Filmen und Vorinformationen angerissenen Probleme ausführlich in Form von Aufsätzen und Textcollagen. Zur Unterstützung des Lernprozesses ist es stark gegliedert; jedes neue Thema ist durch Überschriften gekennzeichnet.
25
Einleitung
•
Mehrfachwahl-Aufgaben; hier können eine oder mehrere Antworten richtig sein. Kreuzen Sie die Lösung an, die Ihnen richtig erscheint.
•
Zuordnungsaufgaben; es sind mehrere Elemente einander zuzuordnen.
•
Praktische Übungsaufgaben; sie erfordern die unmittelbare Umsetzung theoretischer Kenntnisse.
werden Sie häufiger begegnen. Er schlägt Ihnen Arbeitspausen vor, die Sie einhalten sollten, aber nicht einhalten müssen, wenn sie Ihren Arbeitsrhythmus stören. Der schriftliche Arbeitstext enthält weiterhin Kontrollaufgaben, die zum Teil in den Text eingearbeitet sind, in der Mehrzahl aber am Ende der Lektionen stehen. Sie sind an der Stelle zu lösen, an der sie auftreten, und sollten möglichst ohne nochmaliges Nachlesen be-
Die Lösungen zu den Aufgaben finden Sie am Ende jeder Studieneinheit. Den Kontrollaufgaben folgt das Literaturverzeichnis, das sämtliche im Text zitierte Literatur alphabetisch nach den Verfassernamen geordnet enthält. Daran schließt sich eine annotierte Bibliographie an, in der solche Titel kommentiert werden, die zum Weiterstudium anregen sollen bzw. einen guten Einstieg in bestimmte Problembereiche bieten.
arbeitet werden. Ihre Funktion ist es, Rückmeldung über Lernfortschritte zu geben und den Lernerfolg überprüfen zu helfen. Folgende Aufgabenarten lassen sich unterscheiden: •
Aufgaben, die eine Reproduktion des durch die Textlektüre erworbenen Wissens verlangen;
•
themenübergreifende Aufgaben, die eine Reorganisation bereits erworbenen Wissens unter neuen Aspekten und damit eine Transfer-Leistung verlangen;
•
Aufgaben, die an Alltagserfahrungen anknüpfen und zur Reflexion über die eigene Situation anregen sollen.
Im Text wurden folgende graphische Mittel verwendet: 1. Hervorhebungen in Zitaten (Kursivdruck); sie sind nicht in allen Fällen mit den Hervorhebungen im Originaltext identisch. 2. Zusätzliche Materialien wie Beispiele, Textergänzungen usw. sind in Kästchen gesetzt. 3. Auf besonders wichtige Textpassagen, z.B. Grundgesetzartikel, wird durch einen Pfeil hingewiesen. 4. Zitate enthalten den Namen des Autors und die Seitenangabe der Fundstelle. Vollständige Literáturangaben finden Sie im Literaturverzeichnis.
Als Aufgabentypen wurden verwendet: •
Zweifachwahl-Aufgaben; hier ist nur eine Lösung richtig.
26
Das Register am Ende des schriftlichen Studienmaterials enthält die wichtigsten Sachbegriffe.
Studieneinheit 1 Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
„Kommunikation" — dieser Begriff ist mehr als ein Modewort: Er bezeichnet einen Vorgang, der in den verschiedensten Lebensbereichen eine zentrale Rolle spielt, der für das menschliche Leben geradezu konstitutiv ist.
[ Vorinformation ]
Kommunikation in der Tierwelt, kommunikative Gebärden, Kommunikationsformen und -mittel, kommunikative Symbole: im ersten Teil der Studieneinheit wird die ganze Bandbreite kommunikativen Verhaltens und kommunikativer Einrichtungen angesprochen. Jede Gesellschaft basiert auf zwischenmenschlicher Kommunikation. Eine demokratische Gesellschaft setzt voraus, daß jeder Bürger die Fähigkeit ausbilden kann und die Chance erhält, Erfahrungen und Meinungen mit seinen Mitbürgern auszutauschen, sie kommunikativ zu überzeugen, mit ihnen Meinungs- und Willensbildungsprozesse in Gang zu setzen und aufrecht zu erhalten. Im zweiten Teil der Studieneinheit wird gezeigt, welche Wissenschaften sich mit dem Gegenstand „soziale Kommunikation" beschäftigen und welchen Ausschnitt hieraus die Kommunikationswissenschaft im engeren Sinne untersucht. Außerdem wird begründet, warum sich dieser Einführungskurs gerade mit dem Bereich der politischen Kommunikation beschäftigt.
Mutzmanns Zärtlichkeiten" Das Ehepaar Mutzmann spielt in einer „alltäglichen Szene" einige kommunikative Situationen vor. Schon in diesem Zweierverhältnis offenbart sich, wie vielfältig die Faktoren sind, die Art und Gegenstand der Kommunikation bestimmen können, und wie diese wiederum Auftreten und Handeln der Partner prägen. Der Moderator gibt eine Einführung in den Gesamtkurs.
27
Studieneinheit 1
Inhalt Teil I:
ZZ3
„Kommunikation": Begriff, Formen, Funktion
1. Kommunikation — Inflation eines Begriffes
28
2. Formen der Kommunikation
29
3. Sprache: Mittel menschlicher Kommunikation 4. Soziale Kommunikation
32 34
Teil II:
Der Gegenstand der Kommunikationswissenschaft
1. Zur Entwicklung des Faches
38
2. Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kommunikation
40
3. Die Bedeutung theoretischer Begriffsbildung und Thesenentwicklung
41
4. „Öffentlich" und „aktuell": zwei spezifische Begriffe der Kommunikationswissenschaft
43
5. Die interdisziplinäre Orientierung der Kommunikationswissenschaft
44
6. Warum „politische Kommunikation"?
45
Aufgaben
46
Literaturverzeichnis
47
Literaturhinweise zum weiteren Studium
48
Lösungen
49
Teil I „Kommunikation": Begriff, Formen, Funktion 1.
Kommunikation — Inflation eines Begriffes
Auslösend war dabei sicher die rasche Ausbreitung und zunehmende Bedeutung der
Kommunikationsmittel
Hörfunk und Fernsehen. An die Einrichtung des Telefons denkt man dabei schon kaum mehr, obwohl von Kommunikation:
das Wort ist Bestandteil unserer Um-
hier die Entwicklung der
Kommunikationstechniken
gangssprache geworden, man hört, liest, verwendet es
bis hin zu Satellitenfunk und Datenverarbeitung ihren
fast Tag für Tag. Aber noch gar nicht so lange.
Ausgang nahm.
Der Große Brockhaus in der Ausgabe von 1952—1957
Die zentrale Rolle, die den öffentlichen Medien Zeitung und Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen in der Entfaltung komplexer Gesellschaftsstrukturen wie in der Lebensgestaltung und den Erfahrungshorizonten jedes einzelnen zuwuchs, lenkte das Bewußtsein verstärkt auf die inhaltliche Bedeutung des Vorganges „Kommunikation" hin.
lieferte zum Stichwort „Kommunikation" kaum fünf Zeilen, die nur vage Erklärungen wie „Mitteilung", einen Hinweis auf die Nachrichtentechnik und einen weiteren auf Karl Jaspers („das verstehende Miteinander von Mensch zu Mensch") enthielten. Die karge Auskunft des Mammut-Lexikons führt eindrucksvoll vor Augen, in welchem Ausmaß sich binnen
Der Politiker „kommuniziert" mit den Bürgern oder
20 Jahren die Lebensbedingungen und das Weltver-
seinen Wählern über die Medien: sei es die Fernsehüber-
ständnis der modernen Gesellschaften gewandelt haben.
tragung aus dem Bundestag, sei es der Bericht über die
Der Begriff Kommunikation ist in vielen Formen und
Gemeinderatssitzung im Lokalteil der Tageszeitung.
Zusammenhängen heute jedem geläufig, wenn es das
Oder, so lautet der Zweifel, stellt er sich nur „medien-
facettenreiche Geflecht menschlicher Beziehungen,
gerecht" dar, ist das eine einseitige Kommunikation oh-
Mitteilungen und Vermittlung zu bezeichnen gilt.
ne Antwort?
28
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
Es liegt hier der vergleichende Gedanke an die demokra-
kontaktarmer alter Menschen wird die Tragweite
tischen Stadtstaaten der Antike oder die bürgerliche
solchen Kommunikationsverlustes überaus anschau-
Stadtkultur der frühen Neuzeit nahe. War diese „direk-
lich.
te Demokratie" nicht allein deshalb möglich, weil es auch die „direkte öffentliche Kommunikation" der Betroffenen auf der Agora, dem Marktplatz, gab? Wirken diese Stadtkulturen nicht deshalb so geschlossen, weil die sie tragende Bürgerschaft in wechselseitiger unmittelbarer Kommunikation stand? Daraus stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit, vor allem aber den Bedingungen und Möglichkeiten kommunikativer Vermittlung in den Großgesellschaften unserer Tage. Darüber hinaus macht der Sprachgebrauch deutlich, daß der Begriff Kommunikation nicht nur ein rationales System des Austausches von Informationen und Meinungen bezeichnet. •
Im Alltagsgebrauch bedeutet das Wort Kommunikation schon weit mehr als lediglich Empfang oder Austausch von Mitteilungen und Meinungen. Es ist Synonym für die Beziehungen, in die Menschen zueinander und zu ihrer Umwelt treten. Kommunikation ist die Voraussetzung von Gesellschaftsbildung und Gesellschaftsfähigkeit. •
in alle Lande (1. Mos. 11). Sie konnten sich nicht mehr miteinander verständigen. •
Kaspar Hauser, der 16 Jahre in einem dunklen Behältnis gesessen hatte, war seiner Umwelt ein stau-
In der Architektur ist immer häufiger davon die Re-
nenswertes Monstrum. Seine geistige Entwicklung
de, daß bestimmte Gebäude oder räumliche Anord-
und seine Ausdrucksfähigkeit blieben eng begrenzt.
nungen „nicht miteinander kommunizieren". In der Bildenden Kunst gibt es einen modisch prononcier-
Als die Babylonier ihren „Turm der Hoffart" erbauten, verwirrte Jahwe ihre Sprache und zerstreute sie
•
Der Hohenstaufenkaiser Friedrich II. ließ 90 Säug-
ten „kommunikativen" Ansatz. Doch grundsätzlich
linge von Ammen ohne jede (kommunikative) Zu-
ist jede Art künstlerischer Gestaltung von lyrischen
wendung aufziehen, um der „Ursprache" auf die
Konstrukten bis zum Werbe-Design auf Kommuni-
Spur zu kommen. Sie starben alle im ersten Lebens-
kation angelegt. Die Beziehung zum Wahrnehmen-
jahr.
den soll durch auch ästhetische oder emotionale Kategorien vermittelt werden. •
Wenn in einem Betrieb das Arbeitsklima verbessert werden soll, ist mit Sicherheit auch von „größerer
2.
Formen der Kommunikation
Durchlässigkeit der Kommunikationsstrukturen" die Rede. Damit ist gewiß nicht gemeint, daß der Dreher mit seinen Rationalisierungsvorschlägen zum Product-Manager läuft; wohl aber — neben der Verbesserung direkter Informationswege - , daß sie auch miteinander an einem Kantinentisch essen können. Wie fremd diese Vorstellung für manchen auch sein mag — intentional steckt darin, genau wie in dem Slogan „Seid nett zueinander", die Hoffnung auf die Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Kommunikation „von Mensch zu Mensch". •
Vollends deutlich wird dieser Wortsinn in der Diskussion um städtische Sanierungsgebiete und Altbauviertel. Die Überalterung und Zerstörung gewachsener Nachbarschaftsverhältnisse, die Auflösung der zahlreichen Kleinhandelsgeschäfte führten
Vorgang und Erlebnis von Kommunikation sind offenbar lebensnotwendig und Grundlage für das Leben in Gemeinschaften. Das gilt auch für das Leben der Tiere — die Verhaltensforschung hat dafür in den letzten Jahrzehnten erstaunliche Belege gefunden. A n ihnen ist entwicklungsgeschichtlich ablesbar, wie sich die Formen von Kommunikation erweitern und verfeinern.
Die Sprache der Tiere Das berühmteste Beispiel ist wohl der Schwänzeltanz der Bienen, mit dem sie den anderen Arbeiterinnen im Stock Himmelsrichtung und Entfernung einer neuen Futterquelle aufzeigen. Aber auch die Duftstoffe, mit denen ein Seidenspinnerweibchen Männchen anlockt,
zur Verarmung der Kommunikation.
sind ein höchst wirksames Verständigungsmittel. Die
Der Plausch im Hausflur, das Gerede im Gemüsela-
ihrem Volk ihre Anwesenheit signalisiert und einerseits
den nebenan bedeuten „Lebensqualität" - im Bild
verhindert, daß weitere Königin-Larven herangezogen
Bienenkönigin sondert eine Pheromon-Substanz ab, die
29
Studieneinheit 1
werden, andererseits die Entwicklung der Eierstöcke bei den Arbeiterinnen hemmt und darüber hinaus beim Hochzeitsflug die Drohnen zur Kopulation führt; auch das ist ein höchst wirkungsvoller (biologischer und chemischer) Regelungsprozeß. Termiten und Ameisen, Bienen und Wespen können an einem spezifischen Geruch die Mitbewohner ihrer Kolonie erkennen (vgl. Wilson, S. 43 ff.).
Kommunikative Gebärden sind nicht-sprachliche spontane Reaktionen Solche Vergleiche sind freilich schief, denn sie lassen den entscheidenden Entwicklungssprung außer acht, den die Wissenschaften bislang nicht annähernd zu erfassen vermögen. Sprache bedeutet eine Form und Fähigkeit der Kommunikation, die sich von all diesen kommunikativen Gebärden essentiell unterscheidet.
Bei den Vögeln ist diese Wahrnehmungsfähigkeit höher
Sie ermöglicht und beinhaltet die reflektierte und ab-
entfaltet: Viele können individuelle Unterscheidungen
strahierte Verständigung über die Bedeutung der Sym-
treffen. Bestimmte Singvogelarten reagieren gar nicht
bole, mit denen Lebewesen sich untereinander in Ver-
auf die Rufe von Reviernachbarn, doch mit lebhaften
bindung setzen und in denen Welt und Wirklichkeit
Aggressionen auf revierfremde Artgenossen. Die Eltern
dem Menschen erscheinen.
und Jungen von Lummen, Alken und Pinguinen, die in großen Brutkolonien leben, erkennen sich gegenseitig an ihren Rufen. Andere Vogelarten entwickeln regelrechte Wechselgesänge, mit denen die Pärchen ihre Verbindung aufrechterhalten (vgl. Wilson, S. 47 f.). Die Beispiele für die vielfältigen Signale der Tierwelt
Kommunikative Gebärden hingegen sind als spontane Reaktionen zu verstehen, deren Ursprung o f t im Dunkeln bleibt, die in einem evolutionären Prozeß aber als Verhaltensmuster einer A r t wirksam und zum Signal werden. Dieser Vorgang wird Ritualisierung
genannt:
Es entsteht ein Kode der Verständigung zu gegenseiti-
lassen sich fortsetzen. Aus zahlreichen Filmen zu frü-
gem Nutzen und Schrecken, von dem die Überlebens-
her Abendstunde ist heute schon Kindern bekannt, wie
chance der A r t abhängen kann.
Fische durch wechselnde Farbgebung Artgenossen und Feinden Zeichen geben, Graugänse aufgrund erster Kom munikationserfahrung Menschen an Elternstatt anneh-
Nicht-sprachliche menschliche Kommunikation
men, Elefanten oder Affen durch Unterwerfungsgesten
Auch der „ h o m o sapiens" hat ein ganzes Netz solcher
die Überlegenheit des Leittieres in der Herde anerken-
nicht-sprachlicher
nen. Mit der Entwicklung des Sozialverhaltens nimmt
und beibehalten, welche die verbale Verständigung er-
auch die Zahl der kommunikativen
gänzen oder überbrücken.
Gebärden zu. Nach
menschlichen Maßstäben allerdings ist sie eng begrenzt.
Kommunikationsformen
entwickelt
Die erste Gedankenverbindung läuft hier begreiflicher-
Bei einer Untersuchung frei lebender Wirbeltiere vari-
weise zu Urwald-Trommeln, indianischen Rauchzei-
ierte die Anzahl kommunikativer Gebärden innerhalb
chen, germanischen Feuersignalen oder Blinkspiegel-
der Klassen weit stärker als zwischen den Klassen. Bei
Ketten.
sechs Fischarten ergab sich ein Durchschnitt von 17 Gebärden, bei zehn Vogelarten von 21 Gebärden und bei 14 Säugetierarten von 25 Gebärden. Das Maximum von durchschnittlich 37 Gebärden erreichten Rhesusaffen — jene Primaten, die in der Vielfalt der sozialen Beziehungen dem Menschen am nächsten stehen (vgl. Wilson, S. 51). Steigerungen über dieses Maß hinaus sind schwer denk-
Schon die Aneinanderreihung macht klar, daß solche Kommunikationsmittel
nur auf der Basis sprachlicher
Übereinkunft funktionieren können. Ein innerafrikanisches Negervolk konnte vielleicht die tam-ta-ta-tamÜbertragung von der Küste durch lange Gewöhnung ebenso als „Gefahr" deuten, wie eine Krähe den Elsterschrei von der übernächsten Waldecke; aber Ausmaß und Bedeutung dieser Gefahr konnte nur durch Diffe-
bar. An der University of California wurde ein Schim-
renzierung von Relaisstation zu Relaisstation vermit-
pansenweibchen auf Signalerkennung trainiert: Sarah
telt werden, und dazu bedurfte es sprachlicher Vermitt-
erwarb, verblüffend genug, einen „Wortschatz" von
lung. Der Kode mußte noch viel komplizierter sein,
128 Symbolen. Das Vokabular eines eindreivierteljäh-
wenn die bourbonischen Semaphoren signalisierten:
rigen Kindes umfaßt etwa die gleiche Zahl von Wörtern.
Der König kommt und hat Schnupfen.
30
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
In diesen Zusammenhang gehören auch Ampeln und
wie Ratlosigkeit wie Verweigerung wie Spott bedeuten;
Schilder im Straßenverkehr, Leuchtfeuer, Markie-
ein Lächeln kann Zuneigung wie Feindseligkeit, Heiter-
sprache der Mathematik und der Naturwissenschaften,
entweder kaum wahrnehmbar oder werden absichtlich
rungen und Heulbojen in der Schiffahrt, die Formel-
die Zahlensymbole und Warnzeichen der Technik.
Von der Farbe Grün, die uns das Recht auf freie Durchfahrt gibt, über die Chiffre E=mc^, die wir als Definition von Energie lernen, bis zu dem Signum 380 V, das uns vor dem Gebrauch der elektrischen Zahnbürste warnt, sind das alles Symbole des Alltags — nichtsprachlich, aber durch Sprache eindeutig vermittelt. Eine eigene Sprache, bei der wir nicht an Kommunika-
tion und noch viel weniger an Ritualisierung denken: Uniformen, Berufskleidung, Fahnen, Abzeichen, In-
signien, Orden, Firmenzeichen, Markenartikel, Statussymbole.
Bei solchen Stichworten verwandelt sich die Reaktion;
durch Verblüffung oder Ungläubigkeit wird reflektier-
te Erinnerung in Gang gesetzt. Man versucht, unter Ab-
tastung der Begriffsinhalte und des eigenen Erfahrungshorizontes den Symbolgehalt von Worten und Erschei-
nungen historisch zu erfassen. Das ist zum einen innere
Kommunikation: Denken. Und am Ende dieses Vorganges kann die Erkenntnis stehen: Eigenarten wie Overall
oder Frack, Bundesstander und Vereinswimpel, ADAC-
Plakette oder Mercedes-Stern sind kommunikative Sym-
bole, die soziale Einordnung und Zuordnung ermöglichen oder herausfordern. An diesem Punkt wird der
600 000-Wörter-Mensch mit den 40-Gebärden-Lebewesen vergleichbar; er beschränkt sich auf eine Zahl von
keit wie Bitternis ausdrücken. Die Unterschiede sind
unterdrückt — oder betont. Diese Mehrdeutigkeit oder Irreführung ist das Gegenteil jener Ritualisierung, die
kommunikativen Gebärden bei Tieren als soziales Ver-
ständigungsmittel zukommt — sie könnte dort leicht tödlich wirken.
Eine solche Verfeinerung, Subtilität — und damit Viel-
zahl — von nicht-sprachlicher Ausdrucksweise ist nur möglich, weil man sich über den Inhalt der Symbole
durch Sprache verständigen kann, weil sie Sprache be-
gleiten: die Pantomime greift auf die Eindeutigkeit der
Gebärden zurück bzw. benutzt ihre Mehrdeutigkeit sehr bewußt als verwirrendes oder tragisches Kunstmittel. Die nicht-sprachlichen Formen der Kommunikation
unter Menschen sind — mit wenigen, bezeichnenden
Ausnahmen, die dem Bereich der Lebens- und Arter-
haltung angehören — nur durch die Entwicklung von
Sprache verwendbar, nämlich erklärbar geworden.
Über die Bedeutung von Trommelsignalen wie von Ver-
kehrszeichen, von Bischofslila wie von Händeklatschen
wird erst durch Sprache eine Übereinkunft getroffen,
bevor sie im jeweiligen sozialen Feld zur Verständigung untereinander tauglich sind.
Schema eines Kommunikationsvorganges Es gibt, so kompliziert das im ganzen scheint und so
Ritualisierungen, die gerade groß genug ist, um die ei-
differenziert die Voraussetzungen und Wege im einzel-
behaupten zu können.
vorganges, das sich auf alle Formen von Kommunika-
gene soziale Dominanz gegenüber anderen Menschen
Den natürlichen Prozeß nonverbaler Kommunikation
vollziehen wir allerdings in einem vierten Bereich: Die menschliche Mimik und Gestik — in der Fachsprache
mit dem Sammelwort Kinesik bezeichnet — übertrifft in ihrer Reichhaltigkeit die Anzahl kommunikativer
Gebärden im Tierreich um ein vielfaches. Birdwhistell
hat rund 300 Symbole aufgezählt, die durch körperli-
chen Ausdruck dargestellt werden.
Menschliche Gebärden sind vieldeutig Diese nonverbale Kommunikationsweise unterscheidet
nen sind, dennoch ein Schema des Kommunikationstion anwenden läßt. Es wurde zuerst von Claude Shannon und Warren Weaver 1949 entwickelt (s. Abb. S. 32). Ein Sprecher (Informationsquelle) sitzt vor dem Mi-
krophon und verliest Nachrichten (Botschaft), die von einer Funkanlage (Sender) durch elektromagnetische
Wellen (Signal) ausgestrahlt werden. Atmosphärische
Störungen oder defekte Geräte (Störquelle) beeinträchtigen die Übertragung, welche von einem Rundfunkgerät aufgefangen und entschlüsselt wird (Empfangsme-
chanismus) und als Text eines Nachrichtensprechers (Botschaft) den Hörer (Bestimmungsort) erreicht.
sich zudem von der „Gebärden-Sprache" anderer Lebe-
Gleichermaßen lassen sich der Weg biologischer Duft-
vieldeutig. Ein Achselzucken kann sowohl Unkenntnis
Farbänderung eines bedrohten Barsches, das Boden-
wesen in einem zentralen Punkt: Sie ist in der Regel
stoffe, der Warnschrei aufgeschreckter Krähen, die
31
Studieneinheit 1
Kommunikationsmodell
klopfen eines unterlegenen Schimpansen als Kommu-
nach Shannon
•
zum anderen über was, über welchen Gegenstand sie kommunizieren wollen und welche Bedeutung sie
nikationsprozesse aufgliedern.
diesem beimessen.
Das Schema ist richtig, auf den ersten Blick überzeugend. Beim zweiten Blick entdeckt man seine Lücken:
und Weaver
Sprache bietet die Möglichkeit hierzu.
wenn es nämlich auf menschliche oder (die Tautologie macht es auffallender) zwischen-menschliche Kommunikation angewandt werden soll.
Was kennzeichnet Kommunikation zwischen Menschen? Der Prozeß der Rückkopplung in der menschlichen Kommunikation, die Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten oder die Mitteilung eines Kommunikationspartners, die sehr unterschiedlich ausfallen können, werden hier nicht entsprechend erfaßt. Menschliche Kommunikation unterliegt vielen Einflüssen und potentiellen Störfaktoren. So kann die Reaktion eines Gesprächspartners davon abhängen, ob ihm Aussehen, Mimik, Geruch oder Gebaren des anderen
3.
Sprache: Mittel menschlicher Kommunikation
Der Mensch besitzt als einziges Lebewesen Sprache und damit die Fähigkeit, „abstrakt", d.h. in Symbolen zu denken; denn Sprache ist nichts anderes als ein äußerst kompliziertes und wandlungsfähiges Gefüge von Zeichen. „Haus" oder „Nadel", deutlicher noch „Frieden" oder „Liebe" sind nicht die Sache selbst, sondern Zeichen für sie: Bezeichnungen, für deren Gültigkeit und Bedeutung eine Übereinstimmung getroffen und erlernt werden muß.
gefallen oder ob ihn die Aussage persönlich stark be-
Das Kind erlernt im Prozeß der Sozialisation diese Zei-
rührt oder gar nicht sonderlich interessiert.
chen-Sprache. Es stellt Beziehungen zwischen den Ob-
Auch stimmen die kommunikativen Absichten eines Politikers, Chefs, Lehrers oder Vaters oft nicht mit denen eines Wählers, Arbeiters, Schülers oder Kindes überein; die verschiedenen Subjekte werden von eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Zielsetzungen und Denk-
jekten und den Zeichen her, dann zwischen den Zeichen untereinander. Voraussetzung dafür ist seine Fähigkeit, eine Metasprache zu entwickeln: sprachliche Zeichen zu vergleichen, um sich über die Sprache zu unterhalten (vgl. Jakobson, S. 70).
weisen geprägt, was sich auch in ihren Einstellungen
Im Alter von zwei Jahren verfügt ein Kind über 300
und Äußerungen bemerkbar macht.
bis 400 Wörter und formt bereits Kurzsätze mit Sub-
Damit Kommunikation zwischen Menschen überhaupt
det es täglich 1 000 bis 1 200 Wörter an, bildet kom-
stattfinden, d.h. eine gemeinsame Verständigungsbasis gefunden werden kann, müssen sie sich auf zwei Ebenen einigen: •
einmal über die Art und Weise, wie sie sich einander verständlich machen wollen, welche kommunikativen Zeichen sie benutzen und welchen Sinn diese haben;
32
stantiven, Verben und Adjektiven. Mit vier Jahren wenplexe Sätze mit Beziehungswörtern. Mit sechs Jahren hat es sich schon ein Arsenal von 2 500 Wörtern erarbeitet und beherrscht, ohne sie erklären zu können, weitgehend die Flexion der Sprache und der Grammatik. Mit acht Millionen Fragen hat es sich über die Bedeutung der sprachlichen Zeichen und ihre Beziehungen zueinander orientiert.
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
Die Aneignung von Sprache zum Zweck sozialer Kommunikation wird ergänzt durch den Vorgang der Verinnerlichung von Sprache, den Dialog mit sich selbst. Es ist einleuchtend, daß dabei wachsende Selbständigkeit, eine zunehmende Unabhängigkeit von der sprachlichen Vorgabe der Umgebung (des „Milieus" z.B.), die Entwicklung der inneren Sprache parallel zur Gestaltung neuer Ideen fördert. Ihre Möglichkeiten sind, wie der Kommunikationswissenschaftler Dieter Baacke erklärt, im Grunde unbegrenzt: „Der Kompetenz des Menschen zu variablen und innovativen Verhaltensweisen entspricht die Struktur der Sprache, die eine ebenfalls potentiell unbegrenzte Anzahl von Sätzen zu formulieren erlaubt. Ein solcher Prozeß ist als unabschließbar zu denken" (Baacke, S. 260).
V ^ „ D a s Denken selbst geschieht in einer Sprache in Englisch, in Deutsch, in Sanskrit, in Chinesisch . . . Und jede Sprache ist ein eigenes riesiges Struktursystem, in dem die Formen und Kategorien kulturell vorbestimmt sind, aufgrund deren der einzelne sich nicht nur mitteilt, sondern auch die Natur aufgliedert, Phänomene und Zusammenhänge bemerkt oder übersieht, sein Nachdenken kanalisiert und das Gehäuse seines Bewußtseins baut" (Whorf, S. 52 f.). Solche Differenzen bestehen und entstehen aber auch innerhalb sprachlicher Zeichensysteme, nämlich zwischen den verschiedenen Sprachebenen. Dabei braucht man nur an die zahlreichen Fachsprachen (der Technik, der Wissenschaften, der Behörden usw.) oder die Sprachbarrieren zu denken. Einerseits ergeben sie sich aus ganz bestimmten äußeren Bedingungen; anderer-
Die individuelle wie soziale Entfaltung von Sprache ist abhängig von den Bedingungen der Umwelt Ethnologen und Linguisten haben jedoch m i t Nachdruck darauf hingewiesen, daß es nicht angeht, etwa
seits wirken sie zurück und erzeugen wieder besondere Mentalitäten und Verhaltensweisen.
Sprache spiegelt und bewirkt soziale Verhaltensweisen
von „armen" und „reichhaltigen" Sprachen zu reden.
Basil Bernstein hat zuerst die Aufmerksamkeit auf den
Die Sprachen spiegeln lediglich die unterschiedlichen
Gegensatz zwischen dem „elaborierten" (ausgearbeite-
Strukturen des Lebens und Denkens, ohne deshalb als
ten) Sprachkode der Mittelschichten und dem „restrin-
Zeichensystem weniger vielfältig und komplex zu sein
gierten" (eingeschränkten) Sprachkode der unteren So-
als irgendwelche andere.
zialschichten gelenkt. Für Sozialverhalten und soziale
Die Sprache der Eskimos besitzt 17 verschiedene Be-
Kommunikation sind dabei nicht so sehr die krassen
zeichnungen für „Schnee" — und kann ein Wort in meh-
Unterschiede im Umfang des Wortschatzes bedeutsam,
reren hundert Formen abwandeln. Im Arabischen gibt
sondern die der Sprachstrukturen. Der Komplexität des
es 6000 Wörter, die dem Kamel, seinen Körperteilen,
beziehungsreichen elaborierten Kodes m i t hoher Ab-
seiner Ausrüstung gelten.
straktionsfähigkeit steht die sehr verkürzte, eng an konkreten Schilderungen haftende restringierte Sprechweise gegenüber, in der die Verflechtung der Objekte, Zei-
Durch Sprache wird Denken nicht nur reproduziert, sondern auch geformt
chen und Beziehungen nur wenig Ausdruck findet
Um wieder den Rückbezug herzustellen: In Sprache
Wirklichkeit, für die soziale Kommunikation bedeutet
wird zugleich ein Weltbild geschaffen und übertragen,
das: Angehörige der unteren Sozialschichten können
(vgl. Bernstein, S. 283 ff.). In der gesellschaftlichen
denn durch seine Zeichen-Gebung lebt sich der Mensch
o f t nicht den Inhalt, geschweige den Sinn der Äußerun-
ja in eine symbolische Umwelt ein. Wer mit 6000 Wör-
gen von Mittelschichtangehörigen rezipieren; sie sind
tern zum Phänomen Kamel aufwächst, wird die Welt
in ihren Denkbewegungen (innere Sprache) wie in ih-
sicher mit anderen Augen sehen als jemand, der das
rer Ausdrucksfähigkeit eingeschränkt und werden dar-
Vokabular der Technik schon in der Vorschule auf-
um ihrerseits nicht verstanden. Man redet „über die
nimmt.
Köpfe weg" oder „aneinander vorbei". Sprachgebaren spiegelt Herrschaftsordnung. Die Sprachbarriere wird
Das persönliche Denken eines jeden Menschen wird
zur Kommunikations- und Sozialschranke.
durch Strukturgesetze beherrscht, die dem einzelnen o f t nicht bewußt sind. Diese Strukturgesetze sind nach
In den Strukturen der Sprache sowie in der Beherr-
Whorf die komplizierten Systematisierungen in der ei-
schung dieser Strukturen, der Sprach-Fähigkeit, spie-
genen Sprache des Menschen.
geln sich die sozialen Verhältnisse, sie werden abge-
33
Studieneinheit 1
bildet. Andererseits kann die Sprache wieder dazu
litischen Verhältnisse einer Gesellschaft, ihre Tabus und
dienen, soziale Tatbestände zu verdecken, und schließ-
Restriktionen und ihre Fähigkeiten, Wirklichkeit zu be-
lich bewußt und zielstrebig zur Sicherung von Herr-
wältigen und zu gestalten.
schaft eingesetzt werden. •
Karl Korn hat kulturkritisch analysiert, wie etwa in der „verwalteten Welt" die Sprache registrierender Abstraktion vordringt und ausgetrocknete Wortungeheuer („Aufbereitungsstätte", „ideenmäßig", „zur Maßgabe gebracht", „Anliegen") hervorbringt.
•
Das „Wörterbuch des Unmenschen" umfaßt ein ganzes Arsenal von Begriffen („Gleichschaltung", „Säuberung", „Endlösung"), mit denen Terror-„Maßnahmen" bis zum Völkermord verschleiert und verharmlost wurden.
•
In utopischen Alpträumen wie George Orwells „ 1 9 8 4 " wird Sprache konsequent als Herrschaftsund Verdummungsinstrument manipuliert. Eine „Neusprache" konformer Begriffe soll geschaffen werden mit dem Ziel, „Gedankenverbrechen buchstäblich unmöglich zu machen", da es am Ende „keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrücken könnte.. . Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewußtseins kleiner und immer kleiner werden". Ein „Wahrheitsministerium" reglementiert und kontrolliert zu diesem Zwecke die gesamte Kommunikation, jedermann wird durch den „Televisor" überwacht, so daß jede abweichende Kommunikation
4.
Soziale Kommunikation
Bringt man es auf den einfachsten Nenner, so ist soziale Kommunikation
an das Bestehen oder Zustandekom-
men von drei Grundvoraussetzungen gebunden. 1. Es müssen mindestens zwei Partner vorhanden sein. Dabei ist zunächst gleichgültig, ob es sich um ein Ehepaar im Streit, um Teilnehmer und Auditorium einer Parlamentsdebatte oder um Millionen einzelner handelt, die vor dem Fernsehschirm die Nachrichten verfolgen. 2. Die Teilnehmer müssen sich über den Gegenstand ihrer Kommunikation einig sein. A m Beispiel des Ehepaares: Wenn sich die Frau über das knappe Haushaltsgeld beschwert, der Mann daraus den Vorwurf mangelnden Verdienstes hört, die Frau aber eigentlich ihrem Unbehagen über ihre Hausfrauen-Rolle und die Vernachlässigung durch den Ehemann Ausdruck geben will — dann ist die Verständigungsbasis verfehlt. Kommunikation erfordert, daß die Partner aufeinander eingehen und die Erwartungen des anderen erwarten können. Für politische Auseinandersetzungen lassen sich hier noch drastischere Beispiele beabsichtigten Mißverstehens finden.
der Bürger aus Angst vor Entdeckung oder Denun-
3. Die Kommunikationspartner müssen über ein ge-
ziation erstirbt (vgl. Orwell, S. 49 f.).
meinsames Kommunikationsmedium verfügen. Das
Diese äußerste Konsequenz, an deren Ende Sprachlosigkeit stehen müßte, wird wohl Utopie bleiben. Der gegenseitigen Steuerung von Sprache und Herrschaft sind in der Realität durch innovative Reaktionen des einzelnen, durch gärende soziale Prozesse oder politi-
reicht vom Kode ihrer Gebärden und Gesten über ritualisierte Zeichen und Symbole bis zur Sprache — auch der Aussage der „Bildsprache" optischer Wahrnehmung. Im einfachen Bild: Sie müssen die gleiche Sprache sprechen.
sche Einwirkungen von außen Grenzen gesetzt. Die
„Sprache" haben wir als das Mittel erkannt, welches
„Flüsterwitze" oder das „Zwischen-den-Zeilen-lesen"
erst die reflektierte und abstrahierte Verständigung
in diktatorischen Systemen sind Beispiel solcher Vor-
über die Bedeutung von Symbolen, über ihren „ S i n n " ,
gänge: Sprachliche Kommunikation schafft sich neue
erlaubt — und damit soziale Kommunikation
Formen.
licht. Denn in sozialer Kommunikation werden nicht
Der „Zeitgeist" drückt sich in Sprache aus — der Geist ebenso wie der Ungeist. Das behindert eine Standardi-
ermög-
nur Informationen ausgetauscht, sondern — was weit mehr ist — „Sinn".
sierung der Sprachstrukturen ebenso wie eine Erstar-
Über die gewaltig gewachsene volkswirtschaftliche Be-
rung der Kommunikation. Sozialer Wandel und sozia-
deutung des Rohöls als Energielieferant konnte jeder-
le Kommunikation sind entsprechende Vorgänge; der
mann seit Jahren informiert sein. Diese
eine weist den anderen aus. In der jeweiligen Sprache
erhielt aber einen ganz anderen Sinn, als im Gefolge
und ihrer Anwendung spiegeln sich die sozialen und po-
des Rohölembargos von 1973 Verknappung und Ko-
34
Information
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
stensteigerung dieses Rohstoffes für jeden einzelnen als
den einzelnen stellt und in der der Anteil eigenen Wis-
Verteuerung seiner persönlichen Lebenshaltung wie als
sens und eigener Erfahrungen immer geringer wird.
weltwirtschaftlicher Krisenfaktor fühlbar und einsichtig wurden.
Zwischen den Individuen in der Gesellschaft und ihren Gruppen findet ein Prozeß sozialer Kommunikation
„Die Selbstverständlichkeiten des einen können die Überraschungen des anderen sein, und das gleiche gilt in der Zeitdimension: ein Buch, das heute schwer verständliche, belanglos umständliche Satzgebilde enthält, kann morgen informativ zünden, wenn die eigenen Erwartungsstrukturen so umgebildet sind, daß es Fragen zu beantworten oder aufzuwerfen vermag" (Luhmann [ 1 ] , S. 41). Besteht soziale Kommunikation nicht nur in der Vermittlung von Informationen, sondern im Austausch von Bewußtseinsinhalten, von Sinn, so ist es wichtig, zu erkennen, daß es sich nicht um einen Prozeß der Über-mittlung, sondern der Ver-mittlung von Sachverhalten und Bewußtseinsinhalten handelt: Ich teile eine Kenntnisoder Anschauung m i t , die ich gleichzeitig behalte. ^ „ K o m m u n i k a t i o n ist keineswegs, wie man im
statt, der alle betrifft und von der aktiven Teilnahme aller getragen wird, der sich fortwährend erneuert und sozusagen unendlich währt. In diesem Prozeß nimmt der einzelne an gesellschaftlichen Lernprozessen teil, schafft sich gleichzeitig die Grundlage für Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung und für die Übernahme sozialer Wert- und Normensysteme sowie sozialer Verhaltensweisen (vgl. Stemmle, S. 96 f.). Eine Gesellschaft wiederum ist nur lebensfähig, wenn sie Kommunikation strukturiert und über den Prozeß sozialer Kommunikation die Stabilisierung einer sozialen Ordnung erreicht, deren Werte und Normen von den Individuen anerkannt werden. In der sozialen Kommunikation wird das gesellschaftliche Bewußtsein bewahrt, verändert und erweitert. Dieser Zusammenhang macht sofort anschaulich, daß
Alltagsverständnis und o f t auch bei unbedach-
komplexe Gesellschaften m i t den Grundformen unmit-
ter wissenschaftlicher Verwendung des Begriffs
telbarer Kommunikation — wie dem Zwiegespräch, dem
zumeist meint, ein Vorgang der .Übertragung'
Familienrat oder der Volksversammlung — nicht mehr
von Sinn bzw. Information; sie ist gemeinsame
auskommen können — ja, überhaupt nicht hätten ent-
Aktualisierung von Sinn, die mindestens einen
stehen können. Damit die komplizierten Gesellschafts-
der Teilnehmer i n f o r m i e r t " (Luhmann [ 1 ] ,
gebilde von heute zusammenwachsen konnten, mußten
S. 42). Mit der gemeinsamen Aktualisierung
neue und weiterreichende Formen der Kommunikation von Sinn werden
gefunden und entwickelt werden.
eine gemeinsame Kommunikationsbasis geschaffen und
In historischer Frühzeit der Sammler- und Jägerkultu-
die Bewußtseinsinhalte der Kommunikationspartner er-
ren, in denen die soziale Organisation sich auf die Ein-
weitert.
heit von Familie, Sippe oder Clan beschränkte, konnte die direkte Kommunikation durch einen Kode von Ge-
Kommunikation, Individuum und Gesellschaft bedingen sich gegenseitig
bärden, Sprachgesten und ritualisierten Symbolen ge-
Kommunikation ist eine grundlegende Bedingung
Bereits der Zusammenschluß zu Stämmen oder gar
nügen.
menschlicher Existenz. Weder das Individuum noch
Völkerschaften erforderte verfeinerte Regeln und Me-
die Gesellschaft, in der es lebt, sind ohne Kommunika-
thoden der Kommunikation. Dabei ist nicht nur an die
tion denkbar. Das Individuum kann sich erst selbst ver-
mittelbare Verständigung durch Rauchzeichen, Runen
wirklichen, wenn es aus seiner Isoliertheit ausbricht
und reitende Boten zu denken. Auch die unmittelbare
und m i t anderen kommuniziert und interagiert.
Kommunikation dieser doch überschaubaren Gesellschaften bedurfte besonderer Sicherung und Organisa-
Die Erweiterung der individuellen Bewußtseinsinhalte,
tion. Das Ding ( „ T h i n g " ) , die germanische Volks- und
die Ergänzung und Korrektur eigenen Wissens und eige-
Gerichtsversammlung, die über alle das Volk betreffen-
ner Erfahrungen durch die Erfahrungen und das Wissen
den Fragen einschließlich Krieg und Frieden zu ent-
anderer gewinnen in einer immer komplexer werdenden
scheiden hatte, wurde durch die feierliche Hegung als
Gesellschaft an Bedeutung, die zunehmend neue und
Stätte der Kommunikation geschützt und m i t dem Ding-
sich ständig wandelnde Verhaltensanforderungen an je-
frieden belegt; und das entscheidende Wort hatten die 35
Studieneinheit 1
Gefolgsherren — eine frühe Andeutung des Systems repräsentativer Demokratie.
Moderne Gesellschaften verfügen über vielfältige personelle und mediale Kommunikationsstrukturen
„Massengesellschaften" benötigen vielschichtige Kommunikationssysteme
In einem Punkt ist Welcker zu korrigieren: Die neuen
Die entstehenden Massengesellschaften unserer Zeit ver-
und treten schon gar nicht an ihre Stelle. Sie ergänzen,
langen ein System der Massenkommunikation - sonst
erweitern, überlagern sie — doch sie verdrängen sie
hätten sie nie jenes Mindestmaß an gemeinsamer Kennt-
nicht. Das gilt für die personellen ebenso wie für die
nis und gemeinsamem Bewußtsein, an politischem Kon-
medialen Kommunikationsstrukturen:
sens und sozialer Verständigungsfähigkeit erreicht, das für ihren Bestand unerläßlich ist. Carl Theodor Welcker, der badische Liberale und Staatsrechtslehrer, hat diesen Vorgang bereits 1830 beschrieben.
Kommunikationsformen „größerer Wirksamkeit und Leichtigkeit" setzen die alten kaum außer Gebrauch
Das Geheimgespräch und die öffentliche Versammlung, das wissenschaftliche Kollegium und der literarische Salon, die Betriebsversammlung und die Manager-Konferenz, der politische Zirkel und die Partei-Organisation, Parlament, Kabinett, Konzertierte A k t i o n , Inter-
„Der Gebrauch der Presse hat jene älteren Orga-
essenverbände; das Flugblatt, das Buch, die Tageszei-
ne der Mitteilung durch seine größere Wirksam-
tung, die illustrierte Zeitschrift und das Fachorgan, das
keit und Leichtigkeit vielfach außer Gebrauch ge-
Straßentheater, die Schaubühne und der Film, Telefon,
setzt, und ist an ihre Stelle getreten. Er trat an die
Hörfunk und Fernsehen — all diese Formen der Kom-
Stelle nicht bloß des früher ausgedehnteren Ge-
munikation entstanden nach und nach, keine ist ver-
brauchs von Handschriften und Inschriften aller
schwunden, sie bilden vielmehr miteinander und neben-
A r t , sondern besonders auch an die Stelle jener
einander das Kommunikationssystem einer modernen
täglichen, unmittelbaren demokratischen Ver-
Gesellschaft.
sammlungen und mündlichen Besprechungen und Belehrungen aller Bürger, der in ihnen stattfindenden Bildung der öffentlichen Meinung und nationaler Sittengerichte, der in ihnen vorgenommenen Verhandlung und Entscheidung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten. Unsere heutigen freien Staaten sind ungleich größer, als die früheren kleinen Stadt- und Gemeinde- und Gaustaaten. Es sind zugleich die Güter der Freiheit und des Bürgerrechts auf alle Bewohner ausgedehnt. So könnten sich denn jetzt ohne Preßfreiheit die einzelnen Staatsglieder nicht einigermaßen gegenseitig vernehmen und fortdauernd austauschen und verständigen" (Welcker, S. 7).
Wolfgang Riepl hat aus dieser Erkenntnis 1913 ein nach ihm benanntes „Gesetz" formuliert, dessen Gültigkeit durch die Fortschritte der Kommunikationstechniken in den letzten Jahrzehnten nur bestätigt worden ist: ^ ^
Es „ergibt sich gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von dem vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen" (Riepl, S. 5).
Für die geforderte und angemessene Information und
Welche Formen der Kommunikation mehr und wich-
Artikulation aller Bürger sind also ein gesicherter Frei-
tigere Kommunikationsinhalte transportieren, hängt
raum (eine „Hegung"), in dem sich Kommunikation
von den kulturellen Gegebenheiten in einer Gesellschaft
konstituieren kann, und die Bereitstellung von Medien
ab. Das hervorragende Element der Kommunikations-
erforderlich, die es ermöglichen, daß die Bürger ihre
kultur industrieller Gesellschaften ist das System der
kommunikativen Rechte wahrnehmen und entfalten
Massenkommunikation,
können.
se, Hörfunk und Fernsehen getragen wird.
36
das von den Medien Buch, Pres-
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
Es gibt dafür ein sehr überspitztes populäres Bild: Der
nimmt und für wahr zu nehmen veranlaßt wird, ist eine
Dachstuhlbrand im Nebenhaus ist erst wahr, wenn man
„vermittelte Welt" — wenn man so will, auch eine „ma-
davon in der Zeitung liest. Richtig an diesem Bild ist:
nipulierte Welt". Und dies in einem doppelten Sinn:
Die Strukturen der modernen Gesellschaft sind so dif-
Einmal ist der Ausschnitt aus der Fülle der Realitäten
ferenziert, die Rolle des einzelnen in ihr ist so eingleisig
und Imaginationen um ein Vielfaches verkleinert: durch
und unüberschaubar zugleich geworden, daß auch Er-
die Themenauswahl der Kommunikationsmedien und
eignisse und Entwicklungen in der unmittelbaren Nach-
durch die Selektion jedes einzelnen aus dem Angebot
barschaft o f t erst durch die Vermittlung der Kommuni-
dieser Medien. Zum anderen ist auch dieser Ausschnitt
kationsmedien wahrnehmbar sind. Erst die Massenmedien ermöglichen es, daß die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Menschen und sozialen Gruppen in großen räumlichen und zeitlichen
sozialer Kommunikation durch den Zwang zeichenhafter und rationalisierter Darstellung noch verkürzt und Mißverständnissen offen: Die Nachricht von einem Vorgang ist nicht der Vorgang selbst.
Dimensionen geknüpft werden. Sie bieten ein hinrei-
Bisweilen wird dieser Zug von Irrealität in der Vermitt-
chend großes Kommunikationspotential, das die Struk-
lung realer Ereignisse spürbar. Wenn nämlich ein Nach-
turierung und Artikulation aller nur möglichen The-
richtensprecher aufgrund beabsichtigter oder schwer
men von gesellschaftlicher Relevanz erlaubt und diese
zu überwindender Ungewißheit der Information einen
den einzelnen Mitgliedern zugänglich macht.
Satz zu formulieren hat, dessen sprachliche Umständ-
Wir sind auf eine vermittelte Welt angewiesen
verrät: „Nach Meldungen aus Kampala soll der Wagen
lichkeit das Maß der Abstraktion von der Wirklichkeit
m w
„Die nicht mehr unmittelbar erfahrbare Welt, die nicht mehr unmittelbar erfahrbaren Handlungs- und Meinungspositionen von Menschen und Gruppen, die nichtsdestoweniger unsere eigene individuelle und soziale Existenz unmittelbar berühren, betreffen und in sie eingreifen, diese sucht der Mensch über Massenkommunikation zu erfahren. Dazu ist er auf massenkommunikative Vermittlung ausschließlich angewiesen" (Wagner [ 1 ] , S . 601).
Dieter Baacke bezeichnet die modernen Kommunikationssysteme als ein „institutionalisiertes Gesellschaftsbewußtsein": „Kommunikationssysteme helfen, die Zunahme von Gedachtem, Gewußtem und Gemeintem, von Tatsachen, Sachverhalten und Prozessen überhaupt noch kommunizierbar zu machen. Sie sind ein institutionalisiertes Gesellschaftsbewußtsein, das notwendig ist, weil sich der einzelne zur Beurteilung öffentlicher, aber auch ihn persönlich betreffender Vorgänge kaum noch auf den Maßstab eigenen Wissens und Erfahrens beschränken kann. Kommunikation ist nur möglich, wenn sie so geregelt verläuft, daß die Komplexität möglicher Beziehungen und Themen bewältigt w i r d " (Baacke, S. 238).
des Ministerpräsidenten unter
Maschinengewehrbe-
schuß genommen worden sein. "
Wie muß Kommunikation in einer Gesellschaft strukturiert sein? Je komplexer und anspruchsvoller sich das Leben in unseren modernen Gesellschaften gestaltet, je schwieriger die Verständigung zwischen den Menschen wird, umso schwerer wiegt die Frage nach der Struktur sozialer Kommunikation in einer Gesellschaft, insbesondere auch danach, wie die Kommunikationsmedien organisiert sind, wie ihre Inhalte Zustandekommen, wen sie erreichen und ob sie den kommunikativen Bedürfnissen der Rezipienten entsprechen. ^ ^
Es geht darum, daß alle Menschen in einer Gesellschaft die Möglichkeit haben, kommunikative Fähigkeiten zu erlernen und zu erproben, und die gleiche Chance besitzen, sich ohne Einschränkung zu informieren und zu artikulieren. Soziale, politische und wirtschaftliche Barrieren, die einzelne Gruppen und Individuen benachteiligen, gilt es zu erkennen und zu überwinden — ebenso vermeintliche Sachzwänge, die als Ar-
Der einzelne muß sich der Kommunikationssysteme be-
gument dienen, gesellschaftliche Kommunika-
dienen, wenn er einen Überblick oder besser einen Ein-
tion nach den Wünschen und Zielen weniger
blick in die Vorgänge und Zusammenhänge seiner Zeit
oder nach den nüchternen Vorstellungen einer
gewinnen und „kommunikabel" bleiben will. Die Welt,
technokratischen Gesellschaftsauffassung zu ge-
die der Mensch in Kommunikationsprozessen wahr-
stalten.
37
Studieneinheit 1
Teil II Der Gegenstand der Kommunikationswissenschaft 1.
Zur Entwicklung des Faches
Ein weiterer Impuls resultierte aus den zahlreichen Forschungsergebnissen der verschiedenen Humanwissenschaften, die zur Einführung der Kategorie „ K o m -
Kommunikation
— dieser Begriff, das zeigt unser Über-
blick, umschreibt ein umfassendes sozia les Phänomen. Es ist Teil aller Bereiche des individuellen,gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens. Jeder ist an diesem Vorgang beteiligt — von seinem ersten Lebenstag an. Das scheint jahrhundertelang
lichen Phänomens führten — und nicht zuletzt zu der Erkenntnis, wie viele individuelle und gesellschaftliche Probleme auf Kommunikationsstörungen beruhen (vgl. hierzu Watzlawick/Beawin/Jackson sowie Mandel/ Mandel/Stadler/Zimmer).
dazu geführt zu haben, daß auch der nötige Abstand für
In den letzten dreißig Jahren, beginnend m i t der For-
den theoretisch distanzierten Blick fehlte, der die Vor-
mulierung einer mathematischen Kommunikations-
aussetzung für eine wissenschaftliche Beschäftigung
theorie durch Claude E. Shannon und inspiriert vor al-
m i t dem Gegenstand Kommunikation darstellt.
m
m u n i k a t i o n " als eines grundlegenden zwischenmensch-
w
„Solange die Kommunikation sich auf Sprache und Schrift und einige weitere, sehr eingeschränkt verwendbare Zeichen- und Symbolsysteme ( z.B. Gesten, Gebärden) beschränkte, hat man kaum über sie nachgedacht: das Selbstverständliche, Fundamentale und Alltägliche wird selten zum Gegenstand der Reflexion. Kommunikation war im Abendland allenfalls Gegenstand und Methode der Philosophie, etwa in der Dialektik des Sokrates, oder wurde in Rhetoriken für Staatsmänner oder Richter behandelt. Dabei vertraute man dem richtig und wirksam eingesetzten Wort selbst am meisten und kümmerte sich wenig um die Bedingungen, unter denen Sprache und Sprechen ihre Wirkung entfalten. Eine moderne Kommunikationswissenschaft als bewußte und methodisch reflektierte Untersuchung entstand erst, als Massenpresse und die folgenden Massenmedien eine Revolutionierung symbolischer Interaktion darzustellen schienen — sie ist eine Folge der technischen Neuerungen sowie der Hoffnung und Unsicherheit, die sie hervorriefen, eine junge Wissenschaft also m i t verspäteten Ergebnissen" (Baacke, S. 18).
Der Prozeß der technischen Neuerungen hat im 20. Jahrhundert — m i t einer sich in die Z u k u n f t fortsetzenden Beschleunigung (man denke nur an Kabelkommunikation, Satellitenfernsehen, audiovisuelle Medien, Computertechnik und vieles andere mehr) — zu einer „ E x p l o s i o n " der menschlichen und technischen Kommunikationsmöglichkeiten geführt. Ihr entspricht eine Explosion der wissenschaftlichen und gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen mit der
lem von der sich neu entwickelnden Disziplin „Kybern e t i k " , wurden kommunikationswissenschaftliche Denkmodelle in immer zahlreicheren Fachgebieten aufgegriffen. Wenn man sich über diese Entwicklung einen Überblick zu verschaffen versucht, so lassen sich zwei Beobachtungen machen, die jedem Wissenschaftler und jeder Disziplin, die selbst den Begriff „Kommunikationswissenschaft" für sich in Anspruch nehmen, die Schwierigkeit bringen, sich klar ab- und einzugrenzen: 1. Eine einheitliche Disziplin Kommunikationswissenschaft mit einem klar umrissenen Gegenstand gibt es gar nicht. Praktisch sind es ganz unterschiedliche Einzelwissenschaften, die diesen Namen für sich in Anspruch nehmen (vgl. Held, S. 9 f.). 2. In der Bundesrepublik Deutschland fanden kommunikationstheoretische Ansätze in den letzten Jahren auch deshalb Interesse, weil sie scheinbar die Grundlagen einer neuen Universalwissenschaft boten. „ A n den Universitäten des Mittelalters war es die Theologie. Dann war's die Philosophie, die Mutter aller Wissenschaften zu sein beanspruchte. Neuerdings suchte man in der Kybernetik, in der Semiotik jene übergreifende Disziplin, die alle Einzelwissenschaften umfassen würde, der sich jene unterzuordnen hätten. Der Wunsch nach der Zauberformel ist unauslöschbar. Nun ist Kommunikationswissenschaft das magische Wort. So weit wird sie definiert, so allgemein expliziert, daß nahezu alles ihr zugehört — und sie zuletzt nichts mehr bedeutet" (Rothschild, S. 1092).
Kommunikation und vor allem den sogenannten „Mas-
Die Diskussion über Sinn und Gegenstand der Kommu-
senmedien".
nikationswissenschaft ist heute lebhaft im Gange. Wie
38
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
und wo ist hier dieser Kurs einzuordnen? Welches Ver-
Kurt Koszyk, Wilmont Haacke, Franz Dröge, Otto B.
ständnis von Kommunikationswissenschaft liegt ihm
Roegele und den oben genannten Münchener Zeitungs-
zugrunde? Wie grenzen sich seine Autoren von anderen
wissenschaftlern).
Kommunikationswissenschaftlern ab? Auf diese Frage geben natürlich die Inhalte der folgenden zwölf Studieneinheiten eine praktische Antwort, aber vielleicht ist es für das Verständnis dieser Inhalte nützlich, noch ein paar Hinweise zu geben, die dem Benutzer erlauben, dieses Lehrsystem und seinen Ansatz besser einzuordnen und abzugrenzen, wenn er andere Kurse, Bücher und Aufsätze in die Hand bekommt.
Der Zeitungsbaum KarI
— ein organologisches
Modell
von
d'Ester
Zeitungskunde, Zeitungswissenschaft, Publizistik Lange bevor sich der oben erwähnte modische Trend zu kommunikationswissenschaftlichen Theorien entwickelte, war in Deutschland (wie auch anderen Ländern) eine Wissenschaft entstanden, die sich mit den Kommunikationsmedien beschäftigte. Das Fach wurde zunächst „Zeitungskunde" oder „Zeitungswissenschaft", gelegentlich auch „Journalistik" genannt. Als dann andere Medien zur Presse hinzukamen, wurde dieser Name von vielen Fachvertretern als zu eng angesehen; bei der Suche nach einer neuen Bezeichnung setzte sich schließlich seit etwa 1930 der Begriff „Publizistik" bzw. „Publizistikwissenschaft" an den meisten Universitäten durch, an denen die Disziplin überhaupt vertreten war. Während des Dritten Reiches war dieser Name auch ein politisches Programm: Als Wissenschaft von den publizistischen Führungsmitteln, der nationalsozialistischen Propaganda, wurde die „Publizistik" nachhaltig gefördert (vgl. Groth [ 2 ] , S. 337 f.). In München blieb es bis zum Jahre 1974 bei „Zeitungswissenschaft", wobei der Ablehnung des Begriffs „Publizistik" auch ein Dissens über die Abgrenzung des Fachgegenstands zugrunde lag. (Zur Münchener Zeitungswissenschaft siehe insbesondere die Aufsätze von Bernd Maria Aswerus, Hanns Braun, Heinz Starkulla
2
und Hans Wagner in der Zeitschrift „Publizistik" der Jahre 1960, 1961,1965 und 1968 sowie das grundlegende Werk von Otto Groth: „Die unerkannte Kulturmacht".) Dieser Streit beherrschte über ein Jahrzehnt lang alle wissenschaftlichen Tagungen innerhalb der Disziplin und läßt sich in zahlreichen Beiträgen der Fachzeitschrift „Publizistik" nachlesen (vgl. vor allem die Bände der Jahre 1960 bis 1965, 1967 und 1968 mit Bei-
3
Die Vorstufen des Zeitungswesens I Die gesprochene Zeitung; II Die geschriebene Zeitung; III Die gedruckte Zeitung; IV Die Bildzeitung. - 1 Minnesänger; 2 Bänkelsänger und Boten. - 1 Privatbrief; 2 Kaufmannsbriefe; 3 Diplomatenbrief; 4 Gelehrtenbrief. — 1 Einblattdruck; 2 Ν e we Zeitung; 3 Flugschrift; 4 Postzeitung. — 1 Stempelschnitt und Briefmalerei; 2 Holzschnitt; 3 Kupferstich. — A Neuigkeitsbedürfnis; Β Zeitströmungen; C Nachrichtenwesen, Verkehr und Post; D Maßnahmen des Staates (Zensur, Privilegien, Besteuerung); E Unternehmergeist sowie die geistige Arbeit der Redaktion (d'Ester, S. 11 ).
trägen von Emil Dovifat, Fritz Eberhard, Henk Prakke, 39
Studieneinheit 1
2.
Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kommunikation
Strittig freilich ist geblieben, ob es eines weiteren — und welches weiteren — Begriffes zur Abgrenzung des spezifischen Gegenstandes der zur „Wissenschaft von der gesellschaftlichen Kommunikation" fortentwickelten alten Zeitungs- und Publizistikwissenschaft bedarf. Daß
In den letzten Jahren jedoch bildete sich ein hohes Maß
dies kein einfaches Problem ist, zeigt die Tatsache, daß
an Übereinstimmung der verschiedenen Lehrmeinungen
es sehr unterschiedliche Arten von sozialer (= mensch-
heraus. Egal, wie das Fach jeweils benannt ist — sein Ge-
licher, gesellschaftlicher) Kommunikation gibt, mit de-
genstand wird heute im allgemeinen als gesellschaftliche
nen sich die verschiedensten Wissenschaften beschäfti-
(oder: soziale) Kommunikation
gen (siehe die folgende Abbildung). Die Kommunika-
umschrieben.
Der Gegenstand der
40
Kommunikationswissenschaft
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
tionswissenschaft, wie sie in diesem Lehrsystem verstanden wird, aber ist eine Einzelwissenschaft, die nicht den Anspruch erhebt, alles kommunikative Handeln von der Schüler-Lehrer-Kommunikation über die nichtsprachliche Gebärdenkommunikation bis zur Massenmedienkommunikation — wissenschaftlich mit einem einheitlichen theoretischen Begriffsystem untersuchen zu können. „Auch Biologen, Psychologen und Soziologen, Ökonomen, Verhaltensforscher studieren Kommunikation; aber sie setzen sie in ein anderes Bezugssystem. Sie fragen nach anderen Abhängigkeiten und Beziehungen... Es sind nicht in erster Linie die Materialien, die voneinander trennen, was man Geistes-, Gesellschafts-, Kultur-, Sozial- und Humanwissenschaften nennt, sondern die unterschiedlichen Relationen, in die sie die Materie zu bringen suchen... Mit anderen Worten: Kommunikationswissenschaft ist nicht Geschichtswissenschaft, nicht politische Ökonomie, nicht Biologie, nicht Anthropologie, nicht Religionswissenschaft etc. und muß dennoch Gegenstände und Vorgänge untersuchen, die auch von diesen Wissenschaften studiert werden, wie andererseits diese Wissenschaften sich unablässig mit Kommunikation befassen, ohne deshalb zur Kommunikationswissenschaft zu werden" (Pross, S. 20).
3.
Die Bedeutung theoretischer Begriffsbildung und Thesenentwicklung
Um seinen Gegenstand erfassen und erklären zu können, muß der Kommunikationswissenschaftler wie jeder andere Wissenschaftler ein eigenes theoretisches Bezugssystem entwickeln. Hans L. Zetterberg sagt über das Problem der Theoriebildung: „Die Zeiten, in denen .Theorie' und .Spekulation' dasselbe bedeuteten, gehören der Vergangenheit an; der moderne Theoretiker, wie wir ihn verstehen, muß mehr empirische Forschungsergebnisse kennen als der empirische Forscher. Denn der Theoretiker beschäftigt sich mit der Systematisierung des gesammelten Wissens; das Ergebnis seiner Arbeit besteht in der Zusammenfassung früherer Entdekkungen und der Voraussage künftiger Entdeckungen und Ereignisse" (Zetterberg, S. 65). Der Kommunikationsforscher und seine Wissenschaft von der sozialen Kommunikation befinden sich dabei
in einer ähnlichen Lage wie der Soziologe und die Soziologie, zu denen Zetterberg ausführt: „Eine anfängliche Schwierigkeit für den soziologischen Theoretiker ist die große Vielfalt und Komplexheit der Phänomene, mit denen sich seine Disziplin herkömmlicherweise beschäftigt. Die Sachgebiete sind weitreichend: Familienprobleme, soziale Mobilität, Beziehungen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmensleitung, Propaganda, öffentliche Meinung, Verbrechen, Wohnungsprobleme, Land-Stadt-Wanderung, Rassenprobleme sowie Fragenkomplexe, die mit der Organisation und den Institutionen des Staates, der Industrie, der Geschäftswelt, Erziehung, Religion, Fürsorge, Kommunalpolitik, Massenkommunikationsmittel usw. verbunden sind. Es gab Zeiten, in denen die Soziologie derart imperialistisch war, daß sie alle Aspekte sozialer Phänomene als den ihr eigenen Forschungsbereich beanspruchte. Doch die ständig wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Wesen der Gesellschaft können niemals von einer einzigen akademischen Disziplin monopolisiert werden. Die Erforschung der Gesellschaft ist ein gemeinsames Unternehmen von Vertretern der Geschichtswissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Politikwissenschaft, Demographie, Soziologie, Ethnologie, Geographie und anderer. Diese beiden Umstände — nämlich die Tatsache, daß sich die Soziologie mit nahezu allen Phänomenen befaßt, und die weitere Tatsache, daß die Soziologie nur eine spezielle unter den vielen Sozialwissenschaften ist — ergänzen einander keineswegs. Eine spezialisierte Wissenschaft kann sich nicht zugleich mit allen sozialen Phänomenen befassen. Die Mannigfaltigkeit der Erkenntnisgegenstände und die Notwendigkeit zur Spezialisierung schaffen ein echtes Dilemma. Im Prinzip erscheint die Lösung dieses Dilemmas nicht schwierig. Keine Wissenschaft beschäftigt sich mit allen Aspekten eines Gegenstandes, den der gesunde Menschenverstand als ein einziges Phänomen ansieht. Die Spezialisierung der Soziologie liegt in ihrer Konzentration auf bestimmte Aspekte von sozialen Problemen oder sozialen Institutionen und nicht darin, daß sie nur einige wenige Institutionen oder soziale Probleme erschöpfend untersucht. Die erste Aufgabe der theoretischen Soziologie — wie die einer jeden anderen Wissenschaft — ist die Festlegung der von ihr zu erfassenden Dimensionen der Wirklichkeit. So kennzeichnet der Geograph ein bestimmtes Gebiet nach Längen- und Breitengraden und überläßt dem Geo-
41
Studieneinheit 1
logen die Charakterisierung des gleichen Gebietes nach dem Alter der Gesteinsformationen. Entsprechend analysiert der Soziologe eine Gruppe im Hinblick auf soziale Rangunterschiede und Normen, die zu seinen Schlüsselbegriffen gehören, und überläßt dem Psychologen die Analyse der Persönlichkeitsstruktur der einzelnen Gruppenmitglieder" (Zetterberg, S. 65). Der Kommunikationswissenschaftler, so könnte man ergänzend fortfahren, analysiert die Inhalte einer Zeitung daraufhin, wer in ihnen zu Wort kommt, und überläßt es dem Linguisten, die in der Zeitung angewandte Sprache zu analysieren. Zetterberg unterscheidet zwei Formen theoretischer Aktivitäten: dimensionale Analyse und Modellkonstruktion (S. 67).
Dimensionale Analyse
Modellkonstruktion
Gegenstand der Forschung
Dimension der Natur
Naturgesetze
Typische Satzform
„ X = df (a, b , . . . ) "
„Wenn X , dann Y"
Bezeichnung der Sätze
Definitionen
Anwendung der Sätze auf neue Gegenstände
Diagnose
Ergebnis
Deskriptives Schema (Taxonomie)
Modell (Theorie)
Entsprechende empirische Forschungstätigkeit
Beschreibende Studie
Erklärende Studie
Thesen Erklärung
„Den besonderen Aspekt der Wirklichkeit, den ein Wissenschaftler behandeln will, nennen wir eine ,Dimension der Natur'. Diese Dimensionen werden mit verschiedenen Namen oder .Begriffen' bezeichnet. Es ist wichtig, zu vermerken, daß die Dimension als Eigenschaft der Wirklichkeit aufgefaßt wird, während der Begriff Teil einer Sprache ist, mit deren Hilfe diese Wirklichkeit besprochen wird. Das Ziel, das sich die dimen-
42
sionale Analyse setzt, ist die Aufstellung eines Begriffssystems der Dimension des Sozialen. Der Wissenschaftler, der sich einem Forschungsgegenstand gegenübersieht, kann damit unmittelbar die entscheidenden Aspekte oder Variablen herausfinden" (Zetterberg, S. 66). In diesem Zusammenhang ist etwa die große theoretische Leistung des Soziologen Talcott Parsons zu nennen, der im Rahmen einer dimensionalen Analyse ein deskriptives Kategorienschema entwickelt hat. Zur Verdeutlichung hier wiederum eine Erläuterung von Zetterberg: „ U m seine Theorie zu ,überprüfen', betrachtet Parsons Gegenstand X und zeigt, daß die generellen Begriffe, die seine Dimension definieren, ein entsprechendes Gegenstück in X haben. Parsons schreibt einem sozialen System zum Beispiel bestimmte abstrakte Eigenschaften (attributes) zu, wendet sich dann, sagen wir, der Wirtschaft zu und findet, daß das ökonomische Denken diese Dimensionen in Betracht zieht; daraus schließt er, daß die Wirtschaft ein soziales System ist. In diesem Sinne spricht man gelegentlich von der .Ableitung' oder der .Erklärung' des X aus der Theorie, Sprachgewohnheiten, die außerhalb des dimensionistischen Lagers nicht geteilt werden. Um Mißverständnissen zu begegnen, sollte man besser von Diagnose sprechen. Die soziologische Diagnose eines Gegenstandes oder Problems X geben, heißt, X im Rahmen einer begrenzten Anzahl soziologischer Definitionen oder Dimensionen zu beschreiben. Wenn beispielsweise Parsons und Neil J . Smelser (1956) feststellen, daß die Unterscheidung zwischen kurzfristigem Angebot und kurzfristiger Nachfrage in der Wirtschaft ein Spezialfall der Unterscheidung zwischen Leistung (performance) und negativer oder positiver Reaktion darauf (sanction) in einem sozialen System ist, so ist das keine soziologische Ableitung oder Erklärung von Angebot und Nachfrage; es ist vielmehr eine soziologische Diagnose" (Zetterberg, S. 66). In der Kommunikationswissenschaft liegt mit Otto Groths siebenbändigem Werk „Die unerkannte Kulturmacht" ein derartiger Versuch eines umfassenden Kategorienschemas vor. Als zweite Aufgabe des Theoretikers bezeichnet Zetterberg die Aufstellung von Thesen, die innerhalb verschiedener institutioneller Strukturen gültig sind:
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
„Das System untereinander verbundener Thesen, welches das Ergebnis dieses Bemühens ist, wird o f t Theorie oder .Modell' genannt, und das diesem Ansatz entsprechende Theoretisieren könnte man im Unterschied zur dimensionalen Analyse als Modellkonstruktion bezeichnen. Die Begriffe .Überprüfung einer Theorie', ,Ableitung' und .Erklärung' haben in der Modellkonstruktion eine andere Bedeutung als in der dimensionalen Analyse. Bei der .Überprüfung' eines Modells untersuchen wir, wie weit jede einzelne These mit bereits bekannten empirischen Angaben übereinstimmt und in welchem Maße mehrere miteinander verbundene Thesen das Ergebnis einer bestimmten Situation vorhersagen. Wenn eine solche .Ableitung' (oder Voraussage) erfolgreich ist, dann bezeichnen wir das Ergebnis als .erklärt'; wir verlangen also, daß die beobachteten Ereignisse m i t bekannten Thesen übereinstimmen... Thesen fassen frühere Ergebnisse zusammen und sagen künftige Ereignisse voraus" (Zetterberg, S. 66 f.).
Damit beziehen sich diese Abgrenzungsversuche auf die in der Geschichte dieser Wissenschaft entwickelten Merkmale der Aktualität
und Publizität,
die vor allem
von Otto Groth als theoretische Kriterien zur „Grundlegung der Zeitungswissenschaft" neben den Begriffen Universalität
und Periodizität
herangezogen wurden.
Die Diskussion über die Brauchbarkeit dieser publizistischen Kriterien hält bis heute an. Zuletzt befaßte sich der Soziologe Klaus Merten kritisch damit. Er versuchte nachzuweisen, daß „Aktualität und Publizität ausgedient haben" — zumindest im bisherigen Verständnis; er kommt zu dem Ergebnis, daß Publizität von der Aktualität abhängig ist, und postuliert deshalb: „Publizitätsforschung ist Aktualitätsforschung" (Merten, S. 229). Damit ist eine der wichtigsten und zentralen Aufgaben der modernen Kommunikationswissenschaft angesprochen. Ähnliche Überlegungen liegen auch der Konzeption dieses Kurses zugrunde. Das Kriterium aktuell, die Tatsa-
Eine bekannte kommunikationswissenschaftliche These aus dem Bereich der Wirkungsforschung ist die soge-
che der Zeitbedingtheit, ist wohl besser als der Begriff
nannte Verstärker-These:
öffentlich
dien wird selektiv
„Das Angebot der Massenme-
geeignet, schlüssig abzuleiten, welcher Aus-
schnitt der kommunikativen Wirklichkeit den Gegen-
wahrgenommen. Die Menschen se-
hen, hören und lesen vornehmlich diejenigen Mitteilun-
stand dieser Kommunikationswissenschaft ausmacht,
gen, die ihre schon bestehende Meinung unterstützen:
so daß ihre Gegenstandsbestimmung ausgeschrieben lau-
Das Individuum strebt nach Stabilität seiner Einstellun-
ten würde: „Wissenschaft von der gesellschaftlichen
gen. Es versucht, sich seine Sicherheit zu erhalten, in-
Zeitkommunikation"
dem es gegenüber Argumenten, die seine Einstellung
munikationswissenschaft" lediglich als griffiges Kürzel
bedrohen, Augen und Ohren verschließt; das geschieht
anzusehen ist.
umso entschiedener, je engagierter jemand in einer Frage ist.. . Die Wirkung der Massenmedien liegt vornehmlich im Verstärken bestehender Einstellungen" (NoelleNeumann, S. 318 f.). Inhaltlich wird zu dieser These, die in der Diskussion um die Wirkung der Massenmedien eine große Rolle spielt, in der Studieneinheit 12 Stellung genommen — hier steht sie nur als Beispiel.
4.
„ Ö f f e n t l i c h " und „aktuell": zwei spezifische Begriffe der Kommunikationswissenschaft
Zur näheren Bestimmung des Gegenstandes Kommunikation in der Kommunikationswissenschaft werden heute vor allem zwei Begriffe verwendet: „ ö f f e n t l i c h " und „aktuell".
^
und der eingängige Begriff „Kom-
„Die gesellschaftliche Kommunikation zurZeit, das heißt die Kommunikation der Zeitgenossen zu den Themen der Zeit (und nicht etwa zu den rein wissenschaftlichen, künstlerischen oder den fundamentalen Fragen der Welt und des Menschen, die an keine Zeit gebunden sind und gegebenenfalls einen Zeitbezug nicht aufweisen) . . . gibt der Zeitungswissenschaft ihren spezifischen, eigenständigen Gegenstand. Es bleibt darauf hinzuweisen, daß Zeitung in dieser Wortverbindung nicht Presse meint, sondern das zeitlose, soziale Lebensphänomen ,Mit-Teilung zur Zeit', als welche das Wort .Zeitung' bis in Schillers Tage hinein begriffen wurde" (Starkulla, S. 564). Und Hans Wagner erläutert: „Das Zeitgespräch . . . greift stets das Neue auf. Die in der Zeit vorhandenen und vorgehenden Veränderungen und Wandlungen, die je sich ereignenden Vorgangsphasen und Entwicklungsstufen, die je gefundenen neuen Erkenntnisse und Meinungen, die je durch die Entwicklungen
43
Studieneinheit 1
— sei es durch solche, die mit oder durch solche, die ohne Zutun des Menschen eingetreten sind — aus dem Rahmen des Bisherigen und des Selbstverständlichen, des Normalen fallenden Vorgänge und Geschehnisse, Stellungnahmen und Aussagen sind jene Themen, denen sich das Zeitgespräch zuwendet. Die Zeit also schreibt dem Zeitgespräch die Themen vor. Was in das Zeitgespräch eingeht, ist abhängig von dem, was die Zeit bringt, vor dem, was geschieht. Diese Zeitabhängigkeit der sozialen Kommunikation hat ihren Grund im Dasein und im Sosein des Menschen. Der Mensch kann nur mit anderen Menschen existieren, wenn er sich je mit seiner besonderen Situation, mit seiner besonderen Lage auseinandersetzt. Der Wandel und die Entwicklung, vom Menschen verursacht und vorangetrieben, stellen den Menschen immer neu vor Entscheidungen, zwingen ihn zur Orientierung, zur Beurteilung, zum Handeln. Er bedarf also zu seiner individualen und sozialen Existenz unablässig dieser .Benachrichtigung' und .Berichtigung' im Gespräch der Zeitgenossen... Ein Letztes: Die .Welt' der sozialen Zeitkommunikation existiert nie ,an sich', ist nicht ohne den Menschen zu denken. Es gibt sie nur in Kommunikation, das heißt immer nur als Reflex des menschlichen Bewußtseins, immer nur als das, was Menschen gesehen oder gehört haben, was sie vom Wahrgenommenen und Gewußten halten, meinen und denken" (Wagner [1],S. 358, 360).
5.
Die interdisziplinäre Orientierung der Kommunikationswissenschaft
Die oben behauptete Konvergenz der verschiedenen zeitungs- und publizistikwissenschaftlichen Ansätze zeigt sich über die Gegenstandsbestimmung hinaus mehr und mehr auch in einer prinzipiell interdisziplinären Orientierung. Was bedeutet Interdisziplinarität? Dieter Baacke gibt folgende Erläuterung: „1. Übernahme analytischer Methoden und Geräte aus verschiedenen Wissenschaften (z.B. mathematische Spieltheorie und Computersimulation zur Programmplanung und hypothetischen Effektmessung; empirische Methoden der 44
Soziologie zur Wirkungsforschung im Feld; das Laborexperiment der empirischen Psychologie für die Untersuchung spezieller Variablen, die im Kommunikationsprozeß eine Rolle spielen, usw.). 2. Allmähliche Integration ursprünglich getrennter Ansätze (z.B. Neurophysiologie und soziologische Gesellschaftstheorie; Kleingruppen- und Organisationsforschung; Nachrichtentechnik und kybernetische Ästhetik; Informationstheorie und philosophische Spekulation; alle unterliegen einer zunehmenden Mathematisierungund Formalisierung). 3. Kooperation von Vertretern verschiedener Sachbereiche an meist fachübergreifenden Projekten der Kommunikation (z.B. Programmplanung von Rundfunk- und Fernsehanstalten; Grundlagenforschung zum Phänomen der Kommunikation). 4. Angewiesensein auf Arbeitsfelder, die mehr den Status von Hilfswissenschaften haben (z.B. Dokumentation; Historiographie der Medien). Einige Wissenschaften tragen vorwiegend integrierende Aspekte bei, z.B. die Kulturanthropologie mit ihren Untersuchungen zu Sprache und Kommunikationsformen verschiedener Kulturen. . . oder die Soziologie, die sich mit der systematischen Erklärung von gesellschaftlichen Interdependenzen beschäftigt. 5. Andere Wissenschaften verhelfen gerade durch ihre Ausdifferenzierung aus größeren Untersuchungsfeldern und die damit verbundene Spezialisierung zur Erweiterung des Wissens über Kommunikationsvorgänge, so etwa die Psycholinguistik auf der einen, die Psychophysiologie auf der anderen Seite. Man entdeckte die Analogie bestimmter, von beiden Forschungsrichtungen durchaus getrennt beobachteter Prozesse in bestimmten strukturellen Zügen und in der Leistung; oder menschliche Operationen als von verschiedenen wissenschaftlichen Zugängen aus erklärbar, wie etwa das Phänomen der Wahrnehmung. Diese Sachlage legt das Fazit nahe: Es gibt nicht die Kommunikationswissenschaft, sondern allenfalls Kommunikationswissenschafte/? als akademische Disziplinen, die in der Grundlagenfor-
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
schung einander ergänzen und zudem, je nach
Beachtung. Zunehmend wird im Kontext der gesamt-
dem Projekt, das zu erforschen ist, in verschie-
gesellschaftlichen Entwicklung die Bedeutung der K o m -
dener Zusammensetzung kooperieren" (Baacke,
munikation gesehen. Gerade auch im Vergleich ver-
S. 29 f.).
schiedener politischer Ordnungen werden Kommuni-
Interdisziplinärst ist freilich bislang mehr gefordert als praktiziert worden. A u c h aus dieser Überzeugung und Beobachtung entstand dieses Lehrsystem, denn der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung, die politische Kommunikation, ist zentraler Gegenstand mehrerer Disziplinen, deren Ergebnisse
kationsprozesse als wichtige Variable erkannt. Untersuchungen hierzu haben vor allem amerikanische Politikwissenschaftler wie Almond, Deutsch, Fagan, Lerner, Pye, Schramm und Verba vorgelegt (vgl. den Überblick bei Naschold, S. 78 ff.). 2. Z u den klassischen demokratischen Begriffen ge-
selten integriert werden. Dies trifft vor allem für die
hört jener der „öffentlichen
hier vertretene Kommunikationswissenschaft und die
zahl- und umfangreicher Versuche nicht gelang, ihn
Politikwissenschaft zu. Es gilt, „politikwissenschaftli-
wissenschaftlich in den Griff zu bekommen, wurde er
Meinung".
Weil es trotz
che und kommunikationswissenschaftliche Gesichts-
häufig totgesagt. Aber damit waren die Probleme nicht
punkte miteinander in Verbindung zu bringen, da diese
aus der Welt geschafft, die mit diesem Begriff erfaßt
beiden wissenschaftlichen Disziplinen aufgrund der
werden sollten (siehe die Studieneinheit 2), ja sie be-
traditionellen Arbeitsteilung im deutschen Forschungs-
kamen in der Demokratiekritik der letzten Jahre sogar
betrieb bisher ohne tiefere Kontakte nebeneinander-
einen neuen, wichtigen Stellenwert. In einer system-
herarbeiten" (Geißler, S. 199 f.).
theoretischen Rekonstruktion stellte Niklas Luhmann
S o leitet die Darstellung in den Lehreinheiten zwar immer ein kommunikationswissenschaftliches Interesse, aber ohne Ansätze und Forschungsergebnisse etwa der politischen Soziologie oder der Politologie wäre vieles fragmentarisch geblieben.
die These auf, daß der Problemlösungsbereich für die mit dem Begriff der öffentlichen Meinung benannten Probleme im Prozeß der politischen Kommunikation zu suchen sei (vgl. Luhmann [3] ). 3. A u s zwei Praxisbereichen werden heute Anforderungen und Fragen an die Kommunikationswissenschaft gestellt, die nur aus dem Zusammenhang einer Theorie der politischen Kommunikation zureichend
6.
Warum „politische Kommunikation"?
beantwortet werden können. Das ist zum einen der Journalismus mit dem Problem einer künftigen, durch
Die moderne Wissenschaft von der gesellschaftlichen,
Ausbildungsreform zu realisierenden Professionalisie-
aktuellen Kommunikation hat mehrere Fächergebiete
rung dieses Berufsfeldes und zum anderen die Politik
und befaßt sich mit vielen Einzelproblemen. Deshalb
mit Problemen, die man als Kommunikations- bzw.
soll nochmals (siehe auch die Einleitung zu diesem
Medienpolitik zusammenfaßt (wie Innere Pressefrei-
Kurs) begründet werden, warum die hier entworfene
heit, Rundfunkkontrolle, Lokalmonopol u.ä.). Meist
Einführung in diese Disziplin exemplarisch mit der The-
werden diese Fragen isoliert voneinander behandelt —
matik Meinungs- und Willensbildung bzw. politische
zugrunde liegen aber immer Probleme der Funktion
Kommunikation versucht wird. Das stand nicht von
von Kommunikationsmedien in einer Demokratie. Wis-
vornherein fest, sondern war das Resultat vieler Diskus-
senschaftlich und praktisch lassen sich all diese Fragen
sionen und konzeptioneller Überlegungen. Als wichti-
erst im Zusammenhang einer Theorie der politischen
ge Gründe tauchten dabei vor allem die folgenden Ar-
Kommunikation behandeln und lösen.
gumente auf: 1. Nachdem der Bereich der Politik wissenschaftlich
4. In der neueren Demokratiekritik und Demokratietheorie ist der Zusammenhang von Macht und K o m -
lange Zeit vorwiegend unter institutionellen und nor-
munikation zu einem intensiv behandelten Gebiet ge-
mativ-verfassungsrechtlichen Aspekten betrachtet wor-
worden. Dies führte zu der kritischen Frage an die K o m -
den ist, macht sich hier seit einigen Jahren ein Perspek-
munikationswissenschaft, welche Erkenntnisse vorlie-
tivenwechsel bemerkbar: Der Prozeßcharakter der Po-
gen zu der These, daß Kommunikationsprozesse auch
litik und der Zusammenhang mit sozialen, ökonomi-
Machtprozesse sind, und inwieweit in der Forschung
schen und kulturellen Faktoren findet immer stärkere
bisher beachtet wurde, daß das Problem der „ M a c h t "
45
Studieneinheit 1
als Variable in kommunikationswissenschaftlichen An-
bildung zerstören und damit große Lücken der Interes-
sätzen berücksichtigt werden muß (vgl. Naschold, S.
senartikulation entstehen. Und weiter, ob nicht gera-
127). Konkret ist damit das Problem aufgeworfen, wie
de die Massenmedien in ihrer großbetrieblichen Orga-
die kommunikativen Artikulationschancen in einer Ge-
nisationsform in der Gefahr sind, sich soweit zu ver-
sellschaft verteilt sind, vor allem, ob hinsichtlich des
selbständigen, daß sie nicht Kommunikationsmittel,
Gebrauchs der modernen Massenmedien die demokra-
sondern Kommunikationsbarrieren darstellen, die den
tisch geforderte Chancengleichheit, also auch eine Kom-
Interessen und Bedürfnissen derer in einer Gesellschaft,
munikationsgerechtigkeit, gegeben ist oder ob die Kom-
die nur Argumente, aber keine Macht haben, keine Ver-
munikationsmittel der einseitigen Steuerung der Ge-
öffentlichungschance geben (vgl. Müller, S. 199). Um
sellschaft durch eine kleine Elite dienen. In der Ver-
solche Fragen zu klären, wären zahlreiche empirische
bands- und Parteienforschung tauchte so z.B. die Fra-
Untersuchungen notwendig, ihre Konzeption aber ist
ge auf, ob nicht gegebene Machtstrukturen auch die
aus einer Theorie der politischen Kommunikation ab-
Möglichkeiten der offenen, konkurrierenden Willens-
zuleiten.
Aufgaben
1. Überlegen Sie, welche Arten von kommunikativen Kontakten Sie im Laufe des gestrigen Tages hatten, und notieren Sie, welche davon direkt und welche mediaI vermittelt direkte kommunikative Kontakte
waren.
medial vermittelte kommunikative Kontakte
2. Wie muß Kommunikation Ihrer Meinung nach in einer demokratischen Gesellschaft strukturiert sein?
46
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
m
Literaturverzeichnis
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Studieneinheit 1
Stemprile, Thomas Ν.: Zu einer Futurologie sozialer Kommunikation. In: Christian Padrutt/Hermann Strehler/Hans Zollikofer jun.(Hrsg.): Die Zeitung auf dem Weg ins Jahr 2000. St. Gallen 1972, S. 91-110 Wagner, Hans (1): Die Partner in der Massenkommunikation. Zeitungswissenschaftliche Theorie der Massenkommunikation. 3 Bände, Habilitationsschrift München 1974 (masch. vervielf.) Wagner, Hans (2): Ansätze zur Zeitungswissenschaft. Faktoren und Theorien. In: Publizistik, Heft 3/ 1965, S. 2 1 7 - 2 3 8 Wagner, Hans (3): Die Kategorie der Reziprozität in der sozialen Kommunikation. Oder: Das Gespräch über's Wetter. In: Publizistik, Heft 5/1968, S. 581-594 Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen und Paradoxien. 4. Aufl. Bern 1974
Welcker, Carl Theodor: Die vollkommene und ganze Preßfreiheit. Freiburg 1830 Wiener, Norbert: Kybernetik. 2. Aufl. Düsseldorf, Wien 1963 Whorf, Benjamin Lee: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Reinbek bei Hamburg 1963 Wilson, Edward O.: Was lehrt uns die „Sprache" der Tiere? In: Kommunikation. 11 Wissenschaftler berichten über technische, physiologische, psychologische, politische, soziologische und linguistische Aspekte. Frankfurt am Main 1973, S. 4 3 - 5 8 Zetterberg, Hans L.: Theorie, Forschung und Praxis in der Soziologie. In: Réne König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 1, 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 6 4 - 1 0 4
Literaturhinweise zum weiteren Studium
Baacke, Dieter
Kommunikation und Kompetenz. Grundlegung einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München: Juventa Verlag 1973; 408Seiten (Ein grundlegendes Buch, das nahezu alle Bereiche der Kommunikationswissenschaft in der aktuellen Diskussion anspricht. Nachteil: Die Vielfalt der angerissenen Probleme und die Dichte der Darstellung erschweren ein flüssiges Lesen.)
Groth, Otto
Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München: Verlag Weinmayer 1948; 376 Seiten (Dieses Werk, das auch als Nachschlagewerk geeignet ist, zeichnet die wissenschaftlichen Bemühungen um die soziale Zeitkommunikation in der Geschichte nach.)
Orwell, George
Neunzehnhundertvierundachtzig. Roman. 22. Aufl. Zürich: Diana Verlag 1974; 283 Seiten (Dieser Science-fiction-Roman zeigt in eindrucksvoller Weise, wie unmenschlich eine Gesellschaft ist, in der sich „Kommunikation" vorwiegend auf die Befehle eines „Großen Bruders" auf dem Bildschirm reduziert und eine allmächtige Verwaltung diesen Zustand der Nicht-Kommunikation mit allen Mitteln aufrechterhält.)
48
Kommunikation und Kommunikationswissenschaft
Lösungen 1. direkte kommunikative Kontakte
medial vermittelte kommunikative Kontakte
Gespräch beim Einkaufen Besuch einer Freundin Streit mit dem Nachbarn Teilnahme an einer Versammlung Konzertbesuch usw.
Lesen der Morgenzeitung Hören der Verkehrsmeldungen im Autoradio Telefonanruf Fernsehen Schreiben eines Briefes usw.
2. Kommunikation sollte in einer demokratischen Gesellschaft so strukturiert sein, O daß alle Menschen die Möglichkeit haben, kommunikative Fähigkeiten zu erlernen und zu erproben; θ daß alle die gleiche Chance haben, sich ohne Einschränkung zu informieren und zu artikulieren; O daß die Möglichkeit besteht, soziale, politische und wirtschaftliche Zwänge zu erkennen und zu ihrer Überwindung beizutragen.
49
Studieneinheit 2 Normative Konzeptionen von politischer ÖffentlichkeitDemokratietheoretische Aspekte Die Studieneinheit 2 gibt einen Überblick über die Bedingungen und Möglichkeiten politi^
^
^
^
scher Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland. Ausgehend von den verfassungs-
M Ü J d
rechtlichen Normen und den darin zum Ausdruck kommenden demokratietheoretischen Vorstellungen, werden die politische bzw. soziale Öffentlichkeit und die Diskussion über die-
11
ses zentrale Problem der politischen Kommunikation behandelt.
Vorinformation ] π
'
Zunächst wird die Kommunikationsgrundordnung der Bundesrepublik beschrieben. Im einzelnen geht es dabei um Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit sowie das Petitionsrecht. Im zweiten Teil zeigen wir, auf welchen demokratietheoretischen Vorstellungen die Kommunikationsgrundordnung basiert. Dazu gehört, daß die Bürger an den alle betreffenden Entscheidungen beteiligt werden sollen. Im Mit-, Neben- und Gegeneinanderwirken von Individuen und Gruppen, von Interessen und Werten werden — so die pluralistische Theorie — vernünftige Lösungen gefunden. Die Verfechter des Pluralismus sind jedoch, vor allem in letzter Zeit, heftiger Kritik ausgesetzt, die vornehmlich den Defiziten der politischen Praxis gilt. Wir fassen die Konzepte der Pluralismustheoretiker sowie die Argumènte ihrer Geaner zusammen. Den Raum, in dem die Auseinandersetzungen einer Gesellschaft stattfinden, nennen wir politische Öffentlichkeit. In dieser Studieneinheit wird versucht, einen Überblick über die wissenschaftliche Diskussion zum Thema „Öffentlichkeit" zu geben, die verschiedenen Positionen zu werten und auf ihre Bedeutung für die Partizipationschancen der Bürger innerhalb einer sozialstaatlichen Massendemokratie hin zu überprüfen. Da wir uns hier hauptsächlich mit den normativen Aspekten der politischen Kommunikation beschäftigen, können die meisten der angeschnittenen Probleme nicht ausdiskutiert werden. Viele der bei der Lektüre auftauchenden Fragen werden aber in einer der folgenden Studieneinheiten geklärt.
„Der Mann auf dem Marktplatz" Wennedenz (ein Facharbeiter): „Ich bin kein linker Spinner! Ich mach' von meinem Recht als Bürger Gebrauch, ich äußere meine Meinung, und das laß' ich mir nicht verbieten! Man kann mir nämlich nicht den Mund verbieten in diesem Land." (Ein Zitat aus dem Film.) Ein Mann versucht, die Öffentlichkeit auf Probleme hinzuweisen, die, wie er meint, alle angehen. Dabei sieht er sich manchen Schwierigkeiten gegenüber und muß erfahren, wie eng der Spielraum des allen Bürgern garantierten Rechtes auf Meinungs- und Artikulationsfreiheit sein kann. 51
Studieneinheit 2
52
1.
Verfassung und politische Öffentlichkeit
53
1.1
Demokratische Legitimation und Verfassung
53
1.2
Prinzipien der bundesrepublikanischen Verfassung
53
1.3
Die Wertordnung des Grundgesetzes
54
1.4
Die Bedeutung der Grundrechte
54
1.5
Die Rechte der Staatsbürger
54 54
2.
Die kommunikative Grundordnung
2.1
Meinungs- und Informationsfreiheit als Voraussetzung für soziale Kommunikation — Artikel 5 des Grundgesetzes
55
2.2
Die kollektiven Grundrechte - Artikel 8 und 9 des Grundgesetzes
56
2.3
Das Petitionsrecht — Artikel 17 des Grundgesetzes
57
2.4
Fazit
58
3.
Modelle demokratischer Herrschaft
59
3.1
Das klassische Modell
59
3.2
Das pluralistische Modell
60
4.
Mängel „pluralistischer" Gesellschaften
61
4.1
Kritik von rechts
62
4.2
Kritik von links
63
4.3
Pluralismus — ohne Alternative?
64
5.
Demokratische Legitimation durch Öffentlichkeit
65
5.1
Die Gesellschaft und ihre Repräsentanten
65
5.2
Die Entstehung politischer Öffentlichkeit
66
5.3
Der Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert
66
6.
Politische Öffentlichkeit heute
67
6.1
Zur Neubelebung des Begriffs der Öffentlichkeit
67
6.2
Die „pragmatische" Position
67
6.3
Die „normativ-kritische" Position
69
6.4
Die „marxistische" Position
70
6.5
Bedingungen und Grenzen individueller Teilnahme
71
7.
Wiederherstellung und Erhaltung politischer Öffentlichkeit
72
7.1
Die Öffentlichkeit politischer Organisationen
72
7.2
Erziehung zur öffentlichen Neugier
73
7.3
Die Vermittlung demokratischer Fähigkeiten durch Partizipation
74
7.4
Das Verhältnis von aktiver und passiver Öffentlichkeit
74
7.5
Ein komplexes Konzept politischer Öffentlichkeit
76
Aufgaben
77
Literaturverzeichnis
82
Literaturhinweise zum weiteren Studium
84
Lösungen
85
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
1.
Verfassung und politische Öffentlichkeit
1.2 Prinzipien der bundesrepublikanischen Verfassung In Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es: ^ ^ „(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein de-
1.1 Demokratische Legitimation und Verfassung
mokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen
Es gibt wohl kaum einen Staat auf der Welt, der von
und durch besondere Organe der Gesetzgebung,
sich nicht behauptet, er sei demokratisch. Demokratie,
der vollziehenden Gewalt und der Rechtspre-
so scheint es auf den ersten Blick, ist zum allenthalben
chung ausgeübt.
anerkannten Gestaltungsprinzip staatlicher Gemeinschaften geworden. In Wirklichkeit aber herrschen große Meinungsverschiedenheiten über die Frage, wie ein demokratisch organisierter Staat auszusehen habe. Der Kern des demokratischen Gedankens besteht aus der Unterordnung staatlicher Herrschaft unter das Volk. Anders als beispielsweise in den Monarchien des Mittelalters, die ihren Herrschaftsanspruch aus göttlichem Recht (Gottesgnadentum) ableiteten, geht heute in demokratisch verfaßten Staaten die Staatsgewalt „vom Volke aus" (Art. 20 Abs. 2 GG). Demokratische Legitimität basiert also auf der Rechtfertigung der staatlichen Herrschaft durch freiwillige Zustimmung der Beherrschten; das Volk ist der oberste Souverän. Dieser allgemeine Grundsatz sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie der Demokratieanspruch in die Realität umzusetzen ist und nach welchen Regeln das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten strukturiert und organisiert werden soll. Derartige Regeln gibt sich ein Volk in Form einer Verfassung. In ihr sind die Leitprinzipien sowohl des staatlichen wie auch des gesellschaftlichen und privaten Lebens festgelegt. Die Verfassung gilt als oberstes Normensystem, an dem sich jede weitere Ordnung in Staat und Gesellschaft zu orientieren hat; sie ist die rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens. Die Verfassung der Bundesrepublik ist im Grundgesetz vom 23. Mai 1949 festgehalten; alle weiteren Rechtsnormen müssen den dort festgelegten Prinzipien entsprechen.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Dem Demokratiegebot sind in Artikel 20 zwei weitere gleichrangige Verfassungsprinzipien zugeordnet, nämlich die Rechtsstaatlichkeit und die Sozialstaatlichkeit. Rechtsstaatlichkeit bedeutet zunächst die Bindung der Staatsgewalt und der Herrschenden an das für alle Staatsbürger geltende Recht. Die Verfassunggeber beließen es jedoch nicht beim Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern stellten diese Verfassungswerte unter das Vorzeichen des sozialen Prinzips: „Die alte Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit... wird nicht nur durch die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern erst durch die Gleichheit der Chancen so weit gelöst, wie dies in der Pluralität einer freien Gesellschaft möglich ist. Dem Rechtsstaat der Demokratie ist deshalb nicht allein die Aufgabe gesetzt, Schutz gegen bereits erfolgte Eingriffe des Staates in die Freiheitssphäre zu gewähren. Er muß auch die Entstehung wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen verhüten, aus denen eine Gefährdung oder Beeinträchtigung der Grundrechte erwachsen könnte" (Fraenkel/Bracher, S. 75).
53
Studieneinheit 2
1.3 Die Wertordnung des Grundgesetzes Das Grundgesetz ist zwar weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral. Das bedeutet: Die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik orientiert sich an bestimmten Grundwerten. Als oberster Wert gilt die Würde des Menschen; um sie zu schützen, sind alle Ordnungsprinzipien an einem Menschenbild ausgerichtet, das insbesondere in den ersten Artikeln des Grundgesetzes zum Ausdruck kommt, dem sogenannten Menschenrechtskern. Zum Menschenrechtskern gehören neben der Unantastbarkeit der menschlichen Würde die Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, das Prinzip der Gleichbehandlung aller Individuen sowie die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit und — damit verbunden — die Meinungsfreiheit. Der Mensch soll sein Leben in eigener Verantwortung gestalten können; die Rechtsordnung hat die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zu garantieren.
1.4 Die Bedeutung der Grundrechte Die Freiheit des einzelnen und die freiheitlich-demokratische Staatsform werden im Grundrechtsteil der Verfassung behandelt. Dieser Teil des Grundgesetzes erschien den Vätern der Verfassung für die allgemeine gesellschaftliche Ordnung so fundamental, daß sie ihn mit ausgiebigen Bestands- und Rechtsschutzgarantien ausstatteten. Wenn ein Grundrecht durch Gesetz eingeschränkt werden soll, so bestimmten sie, darf in keinem Fall sein Wesensgehalt angetastet werden. Grundrechte haben in erster Linie die Funktion, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Mit dieser Auslegung des Bundesverfassungsgerichts folgt das Grundgesetz dem Gedanken des klassischen Liberalismus, der davon ausging, daß in einer Gesellschaft, in der Menschen in Freiheit handeln, die verschiedenen Interessen sich durch das Prinzip des „laissez faire" quasi von selbst ausgleichen. Diese Annahme wurde jedoch durch die soziale Wirklichkeit nicht bestätigt — die Mehrheit der Bevölkerung konnte ihre Bedürfnisse und Interessen weder artikulieren noch durchsetzen. So mußte das liberale Gedankengut in der bundesrepublikanischen Verfas54
sung durch übergeordnete ergänzende Prinzipien modifiziert werden. Die Grundrechte sind nicht mehr ausschließlich als individuelle Freiheits- und Abwehrrechte gegen den Staat zu sehen. Ihre Auslegung muß den Bezug zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat erkennen lassen; dem Staat kommt eine begrenzte Ordnungsfunktion zu, die einen Ausgleich der verschiedenen Bedürfnisse und Interessen in der Gesellschaft gewährleisten soll.
1.5 Die Rechte der Staatsbürger Im demokratischen Staat müssen alle Bürger die gleiche Chance haben, ihre Wünsche und Bedürfnisse in die politischen Entscheidungsprozesse einzubringen. Einmal muß jeder Bürger in freien Wahlen durch seine Stimme für einen Kandidaten und eine Partei Einfluß nehmen können. Zum anderen muß eine öffentliche Diskussion gewährleistet sein, in der sich die Betroffenen mit den Absichten und Maßnahmen der Regierenden auseinandersetzen können. Der Spielraum für die geistige Auseinandersetzung ist durch die kommunikative Grundordnung im Grundgesetz vorgegeben. Sie regelt die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft und innerhalb der Gesellschaft und bestimmt in mehreren Artikeln das Recht der Bürger, hieran aktiv teilzunehmen. Um die Teilnahmemöglichkeiten des einzelnen zu sichern, stellt die Verfassung verschiedene gesellschaftliche Organisationen und Institutionen unter den besonderen Grundrechtsschutz. Sie entspricht damit der Erkenntnis, daß in der heutigen Gesellschaft organisierte Interessen effektiver zu vertreten und besser durchzusetzen sind als isolierte Einzelmeinungen.
2.
Die kommunikative Grundordnung
Geistige Freiheit, die unmittelbar zur Würde des Menschen gehört, ist nur dann gegeben, wenn der einzelne im Umgang mit seiner Umwelt diese Freiheit ungehindert nutzen kann, wenn die Freiheit der allgemeinen Kommunikation in der Gesellschaft gewährleistet ist. Im folgenden sollen die in den Artikeln 5, 8, 9 und 17 GG festgelegten Kommunikationsgrundrechte behandelt werden.
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
2.1 Meinungs- und Informationsfreiheit als Voraussetzung für soziale Kommunikation — Artikel 5 des Grundgesetzes ^ ^
„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung."
Das zu Beginn des Artikels 5 angesprochene Recht auf freie Meinungsäußerung bezeichnet Herzog als „das Verbot an den Staat, dem Bürger ,den Mund zu verbieten'. Mehr wird man aus ihm nicht entnehmen können. Von grundlegender Bedeutung dagegen ist die Modalität des Verbreitens"
(Maunz/Dürig/Herzog,
Die Grenzen der Meinungsfreiheit Es gibt kein Gesetz, das das Bürgerrecht der Meinungsäußerung durchgängig einschränkt. Allenfalls ist nach einem Spruch des Bundesverfassungsgerichtes von Fall zu Fall zu entscheiden, ob der Inhalt einer Meinungsäußerung gegen „allgemeine Gesetze", gegen Bestimmungen des „Jugendschutzes" oder die „persönliche Ehre des einzelnen" verstößt.
Meinungsfreiheit bedingt Informationsfreiheit Das Recht der freien Meinungsäußerung nimmt unter den Grundrechten eine besondere Stellung ein. Seine zweifache Ausrichtung beschreiben Leibholz und Rinck wie folgt: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt; schon das verleiht ihm besonderes Gewicht. Darüber hinaus ist es für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinne die Grundlage jeder Freiheit überhaupt" (Leibholz/ Rinck, S. 122).
A r t . 5, Randnummer 56 f.). Das Kommunikationsrecht der Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, das der
Der Wert der Informationsfreiheit für die demokrati-
Gemeinschaftsbezogenheit des einzelnen Rechnung
sche Ordnung darf in diesem Zusammenhang nicht ge-
trägt. Das dritte mit Artikel 5, Absatz 1 verbürgte
ringer als der der Meinungsfreiheit angesehen werden.
Recht, die Informationsfreiheit,
Es ist wichtig, daß sich der Bürger aufgrund einer mög-
weist eine „gebende"
und eine „nehmende" Komponente auf. Dabei gehört
lichst objektiven Kenntnis der Tatsachen frei eine Mei-
die Informationsvermittlung - das Geben - zur Mei-
nung bilden kann. Nur so kann er in der demokrati-
nungsverbreitungsfreiheit. Das Nehmen meint das
schen Auseinandersetzung bestehen.
Recht, sich selbst zu informieren. Somit ist angedeutet, daß jeder, der eine Meinung äußern will, sich vorher informieren sollte. Das Recht der Meinungsäußerung hat eine soziale, gruppenbildende Funktion. „Das Recht der freien Meinungsäußerung ist das
Informationsfreiheit und Meinungsfreiheit des einzelnen — am Beispiel des Zugangs zu den Medien Sowohl bei der Unterrichtung und Information des ein-
Recht des Individuums, sein .Meinen' (Denken)
zelnen als auch bei der Artikulation und Verbreitung
in der Außenwelt zu manifestieren: in seiner
von Meinungen nehmen die Massenmedien eine zentra-
Geistigkeit also frei nach außen zu wirken. Es
le Position ein.
umfaßt daher alles, w o m i t der Mensch geistig wirken kann: alle irgendwie .denkbaren' und ,artikulierbaren' geistigen Inhalte (Informationen). Nicht der Terminus .seine Meinung', sondern das Zeitwort .äußern' kennzeichnet die Zielrichtung des A r t . 5 Abs. 1 G G " (Windsheimer, S. 97). 55
Studieneinheit 2
„Die meisten Kommentare zu Artikel 5 des Grundgesetzes, die Praxis der Rechtsprechung wie auch die Äußerungen zahlreicher Vertreter der Massenmedien . . . zeigen nachdrücklich, daß Presse, Rundfunk und Fernsehen zumindest mit ihrer informatorischen Aktivität eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen. Inhalt dieser Aufgabe ist, einen Beitrag zur Stabilisierung und
2.2 Die kollektiven Grundrechte - Artikel 8 und 9 des Grundgesetzes In den Grundrechten der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit berücksichtigt der Gesetzgeber, daß Informations- und Meinungsfreiheit für den Bürger erst dann einen Sinn haben, wenn er diese Rechte und Freiheiten in der Kommunikation mit anderen wahrnehmen kann.
Weiterentwicklung der verfassungsrechtlich fixierten freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu leisten — und zwar durch Etablierung eines Forums für den pluralistischen Widerstreit von
Schutz der Versammlungsfreiheit — Artikel 8
Meinungsäußerungen zu gesamtgesellschaftlich relevanten Problemen sowie — damit zusammen-
^ ^
„(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne
hängend — durch Anbieten von Entscheidungs-
Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne
hilfen, die dem einzelnen ermöglichen, den
Waffen zu versammeln.
grundgesetzlich verankerten Forderungen nach
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel
Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit
kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund
demokratischer Persönlichkeiten zu entsprechen"
eines Gesetzes beschränkt werden."
(Holzer, S. 56).
Wenn die Beteiligung am politischen Kommunikationsprozeß „als Ausfluß der Verfassungsprinzipien der Menschenwürde und der Gleichheit ein jedermann zustehendes Recht ist, muß Pressefreiheit im Sinne einer Teilhabegarantie als mediale Kommunikationsfreiheit die gleiche Zugangschance eines jeden Bürgers mit seinem Gesprächsbeitrag zum öffentlichen Meinungsmarkt sichern" (Richter, S. 89).
Wer sich als Staatsbürger informieren will, ist heute hauptsächlich auf die Vermittlung der Massenmedien angewiesen. Durch die Teilnahme an Versammlungen hat er die Möglichkeit, diese Vermittlungsebene zu umgehen. Auf dem Wege „interpersonaler Kommunikation" kann er sich über andere Meinungen direkt sein Urteil bilden und auch seine eigene Meinung in die Diskussion mit einbringen. Die Versammlungsfreiheit bildet die Grundlage für eine gewissermaßen spontane
Dabei geht es für den einzelnen Staatsbürger nicht dar-
Gruppenbildung.
um, sich für seinen „privaten Gebrauch" zu informieren, sondern auf dem öffentlichen Markt der Meinungen mitreden zu können. Kommunikationsfreiheit kann sich also nicht darauf beschränken, individuelle Rechte zu garantieren. Sie muß es dem Bürger vielmehr ermöglichen, sich aktiv in die politischen Auseinandersetzungen einzuschalten. Nur so kann eine öffentliche Diskussion entstehen, und nur so können in der Öffentlichkeit sich entfaltende Ideen auf das politische System einwirken.
„Die Möglichkeit, sich mit anderen zu treffen, um diese von der eigenen Meinung in politischen Fragen zu unterrichten, um ihnen Fakten zur Bildung ihrer eigenen Meinung mitzuteilen, aber auch um sich als Zuhörer selbst zu informieren, und schließlich um in Gemeinschaft mit anderen eine bestimmte Auffassung gegenüber Dritten — insbesondere den Staatsorganen — zum Ausdruck zu bringen, ist eine fundamentale Voraussetzung jeder freien Meinungsbildung" (Maunz/Dürig/Herzog, Art. 8, Randnummer 2).
Daraus kann der Staatsbürger jedoch kein einklagbares
Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit gehören
Recht ableiten, das die Veröffentlichung seiner Mei-
eng zusammen. So bildet Artikel 8 auch die verfassungs-
nung in den Medien garantiert. Es geht hier vielmehr
rechtliche Grundlage für Demonstrationen und Bürger-
um den demokratischen Anspruch, daß die Medien in
initiativen, wobei nicht die bei Versammlungen vorge-
ihrer Gesamtheit das pluralistische Meinungsbild der
brachten Äußerungen, sondern vielmehr die mit der
Gesellschaft wiedergeben. Der einzelne sollte also mit
Teilnahme zum Ausdruck gebrachte Haltung geschützt
seiner Meinung in den Medien potentiell vertreten sein.
wird.
56
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Die Vereinigungsfreiheit — Artikel 9 H
Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig." Die Vereinigungsfreiheit unterscheidet sich von der Versammlungsfreiheit durch zwei Merkmale: zum einen durch das Kriterium der Dauerhaftigkeit einer Vereinigung im Gegensatz zum „Augenblicksverband" der Versammlung; zum anderen durch das Kriterium der organisierten Willensbildung, das nicht notwendig zum Versammlungsbegriff gehört. Dieses Merkmal gilt als erfüllt, „wenn der Verein eine vom Willen jedes einzelnen Mitgliedes losgelöste Gesamtwillensbildung besitzt und das einzelne Mitglied kraft der rechtlich wirksamen Verbandsdisziplin dieser Gesamtwillensbildung unterworfen ist" (Maunz/Dürig/Herzog, Art. 9, Randnummer 42). „Der Zusammenschluß der Vereinigungen ist ein unentbehrliches Mittel, um politische Meinungen zu bilden und zu verbreiten, insbesondere um sie gegenüber staatlichen Organen wirksam zu vertreten" (Maunz/Dürig/Herzog, Art. 9, Randnummer 13). Aus den erwähnten Kriterien ergibt sich, daß Artikel 9 nicht nur dem einzelnen das Recht einräumt, einen Verein zu gründen oder sich einem solchen anzuschließen, sondern daß er auch die Vereinigung selbst schützt.
Organisierte Interessen und Meinungen im Grundgesetz In der heutigen komplexen Gesellschaft-hat der einzelne Staatsbürger keine Chance, seine Wünsche und Interessen ohne die Unterstützung anderer durchzuset-
zen. Bedeutung und Notwendigkeit kollektiver Meinungsbildung und gemeinsamer Interessenvertretung sind mit der allgemeinen Vereinigungsfreiheit im politischen System berücksichtigt. Besonders deutlich kommt dies im Parteien- und Verbandswesen zum Ausdruck — in Institutionen also, die bei der Formung des politischen Willens eine zentrale Rolle spielen. Die politischen Parteien hebt das Grundgesetz besonders hervor, weil sie im Gegensatz zu den Interessenverbänden nicht spezielle, sondern allgemeine Ziele vertreten und im politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß einen bedeutenden Einfluß ausüben.
Einschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Wie die Meinungs- und Informationsfreiheit können auch Versammlungen und Vereinigungen vom Staat rechtlich eingeschränkt werden. Artikel 9 läßt offen, wer die Einschränkungen im einzelnen vornehmen darf. Der Staatsbürger kann in jedem. Fall verfassungsgerichtlich prüfen lassen, ob eine Einschränkung seiner Kommunikationsrechte zulässig ist.
2.3 Das Petitionsrecht — Artikel 17 des Grundgesetzes ^
„Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gesellschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden."
Die bisher in den Artikeln 5, 8 und 9 behandelten Kommunikationsrechte ermöglichen es dem Bürger, durch kommunikative Handlungen indirekt auf die politischen Entscheidungsträger einzuwirken. Derartige Versuche müssen aber Hürden und Zwischeninstanzen überwinden. Mit dem Petitionsrecht besitzt der Bürger die Möglichkeit, sich ohne Zwischenträger unmittelbar an die Verantwortlichen im Staat zu wenden. Staatliche Stellen hören die Klagen von Bürgern häufig nur dann, wenn die Massenmedien diese Beschwerden zum Gegenstand ihrer Berichterstattung machen; das Petitionsrecht will eine direkte Kommunikation zwischen dem einzelnen Staatsbürger und den politischen Entscheidungsträgern gewährleisten. Der einzelne, aber auch gesellschaftliche Gruppen haben danach die Mög-
57
Studieneinheit 2
lichkeit, sich mit Beschwerden, Bitten und Vorschlä-
Die Freiheit der Meinung und der Information ist ein Recht des einzelnen und steht im Dienst der Gesellschaft „Ein politisches und gesellschaftliches System ist in der dynamisierten Umwelt unserer Tage nur dann lebensfähig, wenn es eine ausreichende Anzahl von Antennen oder Sensoren besitzt, durch die es über die laufenden Veränderungen der Umwelt möglichst präzise informiert wird, und wenn es, um in diesem Bild zu bleiben, außerdem über eine ausreichende Anzahl von Handlungsorganen verfügt, die es in den Stand versetzen, die immer wieder neu herandrängenden Probleme möglichst rasch und effektiv zu bewältigen. Dieser Satz ist auch in einer vorsichtig quantifizierenden Fassung richtig, die etwa lauten müßte: Je mehr Sensoren und Organe der soeben geschilderten A r t ein politisches System besitzt, desto größer ist seine Überlebenschance in der dynamisierten Umwelt. In jedem Fall aber ergibt sich aus alledem die Frage, wie es in unserer Gesellschaft mit diesen Sensoren und Handlungsorganen bestellt ist. Im Grundsatz liegt die Antwort jetzt auf der Hand: Die Tatsache, daß in unserem System Grundrechtsverbürgungen jedem einzelnen das Recht garantieren, Probleme zu erkennen, anderen mitzuteilen, den Versuch von Lösungen selbst in die Hand zu nehmen, ja sie unter Ausübung demokratischer Rechte in die Willensbildung der staatlichen Organe einzufüttern, setzt die Zahl der denkbaren Sensoren zumindest theoretisch der Zahl der Staatsbürger, also der höchsten überhaupt denkbaren Zahl, gleich und hebt sie in eine Größenordnung, die in keinem anderen System je erreicht werden könnte, so vielfältig und verzweigt dessen Planungssystem auch sein mag — ganz abgesehen von der Selbstverständlichkeit, daß ein solches Planungssystem natürlich auch in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen existieren könnte, nur eben nicht als einziger Sensor, sondern als einer von unendlich vielen. Soweit die Theorie. Z u m Abschluß ist die Frage aufzuwerfen, ob unsere Freiheitsrechte, insbesondere die Rechte des Denkens und Redens, u m die es uns heute geht, auch tatsächlich so ausgeübt werden, daß davon diese systematische Leistung erwartet werden k ö n n t e " (Herzog, S. 10).
58
gen an die „zuständigen" staatlichen Stellen und das Parlament zu wenden, welche wiederum verpflichtet sind, die Petitionen zur Kenntnis zu nehmen. Umgekehrt ist das Petitionsrecht im Bereich politischer K o m munikation „eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten der Volksvertretung, die Hand am ,Pulsschlag' des Volkes zu halten . . . Die Petitionen ermöglichen dabei nicht nur Kontrollfunktionen der Volksvertretung; sie vermitteln zusätzlich ein Bild dessen, was die Bürger über eine Rechtmäßigkeit der geltenden Gesetze hinaus als Gerechtigkeit' empfinden" (Münch, S. 556).
2.4
Fazit
Ein freiheitlich-demokratischer Staat lebt von der Bereitschaft seiner Bürger, die Entscheidungsträger nicht nur durch — regelmäßig stattfindende — Wahlen, sondern auch durch öffentliche Diskussion und Mitwirkung an politischen Entscheidungen zu kontrollieren. Die kommunikative Grundordnung — verankert in den Artikeln 5, 8, 9 und 17 des Grundgesetzes — garantiert die Möglichkeit zur freien geistigen Auseinandersetzung. Sie sieht vor, daß die Bürger sich informieren, ihre Meinung frei bilden und äußern, sich darüber hinaus zu Kollektiven versammeln sowie zu organisierten Grup pen zusammenschließen können.
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
3.
Modelle demokratischer Herrschaft
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland basiert auf zwei Komponenten: Zum einen läßt es sich aus der konkreten historischen Situation der Bundesrepublik in den Jahren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sowie aus der politischen und kulturellen Tradition erklären. Zum andern sind in diesen Verfassungstext demokratietheoretische Vorstellungen eingegangen; diese sollen im folgenden Kapitel behandelt werden. Die Auffassungen darüber, wie ein staatliches Gebilde organisiert sein muß, um sich mit Recht demokratisch nennen zu können, gehen weit auseinander. Im Laufe der Geschichte wurden dazu die verschiedensten Konzeptionen und Theorien vorgelegt. Die Diskussionen und Entwürfe bewegen sich — vereinfachend ausgedrückt — um zwei Grundpositionen: • das von Pufendorf und Rousseau entworfene sogenannte klassische Modell, das die Einheit (Identität) von Regierenden und Regierten postuliert; • die am Konkurrenz- oder Repräsentationsgedanken orientierte Demokratietheorie, die die gesellschaftliche Pluralität anerkennt und das klassische Modell als unrealistisch, als utopisch verwirft.
3.1
Das klassische Modell
Das klassische, radikaldemokratische Modell beruht auf der Vorstellung, daß eine Gesellschaft homogen ist (und auch sein sollte) und daß es ein von vorneherein (a priori) erkennbares Gemeinwohl gibt. Aus dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entsteht, so wird hier angenommen, ein einheitlicher Volkswille (volonté générale), der alle Bereiche staatlichen und gesellschaftlichen Lebens erfaßt; Gruppenund Parteibildungen werden ebenso wie das Prinzip der Repräsentation entschieden abgelehnt. Zwar ist es nach Jean-Jacques Rousseau (1712—1778) durchaus möglich, daß Gesamtwille (volonté de tous — die Summe der Einzelinteressen) und Gemeinwille (volontégénérale) nicht übereinstimmen. Erfordert jedoch, daß die im Gesamtwillen zum Ausdruck kommenden Partikularinteressen der Individuen keinerlei Einfluß auf öffentliche Belange, ja nicht einmal auf die Meinungsbildung erhalten dürfen.
Der Wille des Volkes ist für alle Bürger gleichermaßen bindend; da dies auch die Regierung betrifft, kann Rousseau von der Identität zwischen Regierenden und Regierten sprechen. Obwohl die Theorie vor dem Hintergrund eines überschaubaren Gemeinwesens, nämlich des Stadtstaates Genf, entworfen wurde, hat man immer wieder versucht, sie auf komplexe Gesellschaften zu übertragen. Das klassische Modell, das sich philosophiegeschichtlich bis in die Antike zurückverfolgen läßt, dient all den neueren plebiszitären Demokratietheorien als Vorbild, die eine weitgehende Beteiligung aller Bürger an den Entscheidungen von Staat und Gesellschaft vorsehen. Die Vertreter solcher identitärer Demokratiekonzeptionen lehnen jegliche zwischen Regierende und Regierte geschalteten Instanzen ab; die Volkssouveränität ist oberster Leitsatz dieser Theorie. Eine konkrete Ausformung dieser Vorstellungen ist das sogenannte Rätesystem. Es beharrt auf dem Anspruch ständiger Legitimation der Gewählten gegenüber den Wählern; an den Lösungen konkreter Probleme sollen die Wähler kontinuierlich beteiligt sein. Prinzipien wie Grundrechtsschutz, Gewaltenteilung und Repräsentation werden abgelehnt.
Karl Marx hat das Rätesystem am Beispiel der Pariser Kommune beschrieben: „Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Z e i t . . . Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein" (Marx, S. 70 f.).
59
Studieneinheit 2
Die Demokratie des Grundgesetzes Nach dem Willen der Verfassungsväter sollte die Bundesrepublik Deutschland eine rechts- und sozialstaatliche Demokratie sein. Mit der Garantie der unveräußerlichen Individual- und Gruppenrechte im Grundgesetz bekannten sie sich zugleich zu einem Pluralismus der Werte und Interessen, der Individuen und der Gruppen. Heute ist die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft nicht mehr primär durch das Verhältnis des Staates zum Individuum gekennzeichnet, sondern durch die Beziehungen des Staates zu den verschiedenen Interessengruppen in der Gesellschaft. Den gegenwärtigen Zustand beschreibt die pluralistische Theorie, die - am Beispiel der neopluralistischen Konzeption Ernst Fraenkels — kurz skizziert werden soll; ihre zahlreichen Varianten müssen hier unberücksichtigt bleiben.
stenz von Meinungsverschiedenheiten in wichtigen Detailfragen nicht nur für unvermeidlich, sondern sie bejaht sie ausdrücklich. „Sie hält es weder für wünschenswert noch für möglich, daß in einem freiheitlichen Staatswesen ein einheitlicher Gemeinwille besteht, der die divergierenden Gruppenwillen restlos in sich aufsaugt. . . Die offene Austragung der in jedem Staat unausbleiblichen Meinungsverschiedenheiten und die Kompromisse, durch die diese Konflikte beigelegt werden, betrachtet sie als den einzig geeigneten Weg, eine tragbare Lösung für Probleme zu finden, über die ein consensus omnium nicht besteht" (Fraenkel, S. 200). Der Problemlösung dient ein auf prinzipieller Chancengleichheit beruhender Konkurrenz- und Kompromißmechanismus, durch den nach dem Konzept pluralistischer Regierungssysteme alle gesellschaftlichen Interessen — zumindest über längere Zeiträume hinweg — ausgeglichen werden. Minderheiten können die Revision von für sie negativen Beschlüssen betreiben
3.2 Das pluralistische Modell
und ihr Anliegen neu zur Disposition stellen — freilich
Die Identitätslehre des klassischen Modells wird von
Abstimmung an die einmal gefaßten Beschlüsse halten.
den pluralistischen Theorien des 20. Jahrhunderts ebenso verworfen wie die Annahme einer feststellbaren volonté générale. Pluralisten registrieren und bejahen die Existenz verschiedener Meinungen und Interessen, das Mit-, Neben- und Gegeneinanderwirken unterschiedlicher Gruppen in einem Staat. Die Ziele der Bürger sollen und dürfen nicht auf ein einheitliches Normen- und Wertesystem verpflichtet werden, wenn es auch einer gewissen Übereinstimmung in Grundfragen bedarf. Vor allem kommt es auf die Kompromißbereitschaft der Individuen und Gruppen an. Für Ernst Fraenkel, einen der einflußreichsten deutschen Politologen, beruht der Pluralismus „auf der Hypothese, in einer differenzierten Gesellschaft könne im Bereich der Politik das Gemeinwohl lediglich a posteriori als das Ergebnis eines delikaten Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden" (Fraenkel, S. 200). Dabei wird vorausgesetzt, daß bei
unter der Voraussetzung, daß sie sich bis zur erneuten
Pluralismustheoretiker sehen neben dieser Funktion des Ausgleichs gesellschaftlicher Interessen im Pluralismus einen weiteren Vorteil durch den Zwang zum Kompromiß, der jede Machtposition stark relativiert. Sie verweisen weiter darauf, daß nicht zuletzt infolge der Mediatisierung von Macht das Gesellschaftssystem stabilisiert wird und für Erschütterungen weniger anfällig ist.
Repräsentation Dem Plebiszit identitärer Demokratievorstellungen setzen pluralistische Theorien das Prinzip der Repräsentation entgegen. Während nach dem klassischen Demokratiekonzept das Volk unmittelbar mit der Lösung politischer Probleme und der Durchführung der Entscheidungen befaßt ist, überträgt es nach pluralistischer Auffassung seine Souveränität auf das Parlament. Die
diesem Mit- und Gegeneinanderwirken die allgemein
auf Zeit bestellten Abgeordneten sind autorisiert, selb-
anerkannten Grundregeln sozialen Verhaltens von al-
ständig über die öffentlichen Belange zu entscheiden,
len am Prozeß Beteiligten beachtet werden. Die pluralistische Theorie nimmt also an, daß es be-
wobei erwartet wird, daß sie bei ihrer Tätigkeit das Gesamtinteresse des Volkes vertreten.
stimmte Gebiete des staatlichen und gesellschaftlichen
Historisch gesehen ist der Pluralismus eine Antwort auf
Lebens gibt, über deren Ordnung ein allgemeiner Kon-
die Mängel des klassischen Liberalismus im 19. Jahr-
sens existiert. Im Gegensatz zum Harmonie-Modell
hundert. Den obersten Leitgedanken hatte der Libera-
Rousseaus erachtet sie jedoch darüber hinaus die Exi-
lismus dem Bereich der Ökonomie entliehen: die freie
60
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Konkurrenz der Individuen. Die Theorie konzentrierte
mechanismus nicht funktionierte. Die Entwicklung
sich ganz auf den einzelnen als Träger wirtschaftlicher
führte jedoch zur Zusammenballung von wirtschaftli-
und politischer Entscheidungen. Der Staat durfte in ge-
cher und politischer Macht, so daß der Theorie des
sellschaftliche Prozesse nur eingreifen, wenn der Markt-
Liberalismus die Grundlagen entzogen wurden.
Einheit kontra Vielfalt — Tabellarischer Vergleich der beiden Demokratiemodelle Modell
Pluralistisches
monistisch
pluralistisch
Klassisches
Identität von Regierenden und Regierten Plebiszit Gemeinwohl a priori und objektiv feststellbar Einheit und Homogenität der Gesellschaft Ablehnung von Gruppenbildungen Orientierung auf ein Ziel eine Lösung für ein Problem Lösungen müssen vermittelt werden
Modell
Repräsentation Parlament als zwischengeschaltete Instanz Gemeinwohl als Interessenausgleich, a posteriori feststellbar Konkurrenz und Konflikte der Individuen und Gruppen Mit-, Neben- und Gegeneinanderwirken von Individuen und Gruppen Orientierung an Spielregeln viele mögliche Lösungen für ein Problem Lösungen müssen zuerst ermittelt und dann vermittelt werden
nicht-kontroverse, auf Gefühlen basierende Kommunikation
4.
Mängel „pluralistischer" Gesellschaften
In der politischen wie in der wissenschaftlichen Diskussion gilt es, zwischen zwei Pluralismusbegriffen — nämlich dem empirischen
und dem normativen
— zu
unterscheiden. •
In allen westlichen Demokratien ist der Pluralismus empirisch nachweisbar. In ihnen existieren zahlreiche politische und soziale Gruppen, die miteinander konkurrieren.
•
kontroverse, rationale Kommunikation
Alle heute existierenden westlichen Demokratien verstehen sich als pluralistisch. Dies bedeutet zum einen, daß in ihnen eine Vielzahl von heterogenen Verbänden, Parteien und sonstigen Gruppen existiert. Z u m anderen basieren verschiedene Verfassungen auf der oben dargestellten Pluralismustheorie. Wie der Wert einer Verfassung nicht in der Qualität ihres Anspruchs, sondern erst in der Verwirklichung ihrer Postulate zutage tritt, so muß auch die Realität des pluralistischen Gesellschaftssystems dem Anspruch der normativen Theorie gerecht werden. Z u fragen ist
Andererseits gebraucht man das Wort Pluralismus
insbesondere, ob ein pluralistisches Gesellschaftssystem
als Sammelbegriff für die zahlreichen normativen
tatsächlich seinen Bürgern individuelle Entscheidungs-
Pluralismustheorien.
möglichkeiten bietet, ob darin ein Interessenausgleich 61
Studieneinheit 2
stattfindet und ob das System offen ist, d.h. ob alle Individuen und Gruppen die gleichen Möglichkeiten besitzen, ihre Ideen — und damit sich selbst — zu verwirklichen. Ferner muß geklärt werden, ob ein pluralistisches System den Forderungen nach Demokratie, Transparenz und Partizipation sowie ausreichender Leistung für seine Bürger genügt. Mit diesen und anderen Fragen haben sich zahlreiche Kritiker des Pluralismus befaßt. Bei der „rechten" Kritik steht der funktionale Ablauf und die Effizienz staatlicher Macht im Vordergrund der Betrachtung; Maßstab der von „linken" Positionen vorgebrachten Einwände sind das Versprechen individueller Selbstverwirklichung aller Bürger und ihre aktive Teilnahme am politischen Prozeß.
4.1
Kritik von rechts
Die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Pluralismustheorien blieben nicht lange unbestritten. Viele konservative Kritiker meldeten ihre Bedenken an, allen voran Carl Schmitt. Seine zentrale These: Der Pluralismus untergräbt die staatliche Autorität, stellt die Ordnungsmacht des Staates in Frage und löst ihn damit letztlich auf. Die verschiedenen antagonistischen Gruppen orientieren sich — so lautet seine Kritik — nicht am Gesamtinteresse, sondern am Eigennutz. Indem sie den Staat vergesellschaften und für ihre eigenen Interessen ausnutzen, schwächen sie ihn in seiner Aufgabe, als letzte Instanz Entscheidungen für alle zu fällen. Anstelle der pluralistischen Demokratie fordern Schmitt und andere konservative Theoretiker einen Staat oberhalb des „Parteien- und Verbändegezänks", in dem Partikularinteressen hinter dem Gemeinwohl zurückstehen. Über dieses Gemeinwohl entscheidet der Staat autoritativ, wobei eine Interessenkongruenz zwischen Staat und Gesellschaft vorausgesetzt wird. Der Staatsbegriff dieser Kritiker verselbständigt sich und verliert seinen funktionalen Charakter. Nicht mehr der Staat dient dem Bürger, sondern dieser hat dem Staat Untertan zu sein. Der Bürger kann nicht mehr selbst über seine Bedürfnisse bestimmen. Hatte schon Carl Schmitt in der Weimarer Republik neben den Theorien das empirisch faßbare Phänomen
62
des pluralistischen Staates einer Kritik unterzogen, so beschränkte sich die konservative Kritik des Pluralismus nach 1945 ebenfalls nicht auf eine immanente Theoriediskussion; sie befaßte sich vielmehr auch mit der Realität der pluralistischen Gesellschaftsordnung. Wie schon bei Schmitt wird auch nach 1945 von konservativer Seite der Zerfall des Staates beklagt.
Kritik von rechts — am Beispiel Rüdiger Altmanns: „Das Bild des Staates hat sich im fließenden Medium zwischen Sozialtechnik, Verwaltungspragmatismus und einer Wertphilosophie, die sich selbst nur als Bedürfnis ernst nimmt, aufgelöst. Dieses verschwommene Bild entspricht den Tatsachen. Der Staat löst sich in seine Funktionen auf. Er wird zur Endsilbe alles dessen, was mit Macht zu tun hat. Man spricht von Rechts- und Justizstaat, Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat, von Parteien-, Verbände-, Steuer- und Verwaltungsstaat... Die unerschöpfliche Fülle dieser Verbindungen, Verbindlichkeiten und Verwicklungen, in denen der Staat endsilbenhaft erscheint, beweist wenig für die Kraft seiner Existenz. Aber dieser entkernte Staat überlagert mit seinem Apparat immer weitere Bereiche der Gesellschaft. Er gleicht einem kastrierten Kater, der an Umfang zunimmt — was ihm fehlt, ist die Potenz" (Altmann, S. 133 f.).
Kritisiert wird die Tendenz moderner pluralistischer Staaten, vor allem der Bundesrepublik, die Grenzen von Staat und Gesellschaft zunehmend zu vermengen, was nach Auffassung konservativer Denker beispielsweise durch die Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft bewirkt wird. Sie lehnen die Übertragung des in der Politik geltenden demokratischen Prinzips auf soziale Institutionen ab: „Wenn dem Begriff der Demokratie unverzichtbar Freiheit und Gleichheit zugeordnet sind, diese außerhalb des Bereichs der Liebe und der Freundschaft nur im politischen Raum erfüllbar sind, so stehen . . . seiner Übertragung auf vor- und nichtpolitische Bereiche unüberbrückbare Hemmnisse entgegen" (Hennis, S. 47).
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Die kritische Haltung gegenüber der Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft wird mit der These begründet, daß ein Mehr an Demokratie zwangsläufig zu einer Reduzierung der Freiheit des einzelnen führen müsse (vgl. Schelsky, S. 50).
4.2 Kritik von links Ebenso wie die konservative Kritik am Pluralismus mündet auch die Kritik von links in die im klassischen Modell Rousseaus konzipierte Interessenidentität von Staat und Gesellschaft. Unterschiedlich ist aber der Weg, auf dem die Vertreter der beiden Richtungen das gewünschte Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft schaffen wollen: Die rechte Position vertritt den Führungsanspruch des Staates, die linke will die Einheit von der Gesellschaft her verwirklichen. Die Argumente der Pluralismuskritik von linken Positionen, die vornehmlich seit 1965 vorgebracht wurden, lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen (vgl. Sontheimer, S. 127 f.): 1. Die Herrschaftsverhältnisse werden für linke Kritiker durch die pluralistische Theorie verschleiert, weil sie den wahren, nämlich antagonistischen Charakter der Gesellschaft — Trennung in herrschende und beherrschte Klasse, Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital - verdeckt. 2. Die einmal im System etablierten Gruppen stellen — nicht zuletzt infolge des Repräsentationsprinzips — ein relativ stabiles Machtsystem dar, das gesellschaftlichen Veränderungen Widerstand entgegensetzt. Ist die Macht einmal verteilt, so erweist es sich für neu auftretende Gruppen als schwierig — wenn nicht als unmöglich —, sich gegenüber den bereits etablierten Interessen durchzusetzen. Die durch organisierte Interessengruppen festgefügten dezentralisierten Strukturen eines politischen Systems verhindern weitreichende Veränderungen, weil sie eine demokratische Beteiligung der Basis nicht ermöglichen. Soziale Schichten und Gruppen, deren Interessenbefriedigung eine Verschiebung des Machtgefüges voraussetzt, sind also im zum Konservatismus neigenden pluralistischen Regierungssystem auf Dauer benachteiligt.
Neomarxistische Kritik — am Beispiel Johannes Agnolis: „Die Pluralität der Interessen — eine Wirklichkeit — und der damit zusammenhängende — ebenso wirkliche — Pluralismus auf der Distributionsebene wirkt politisch der Polarität entgegen, die nach wie vor an der Basis der Gesellschaft besteht. Die Verdoppelung gilt nicht nur im gesellschaftlichen Zusammenhang und auch nicht nur für die abhängige Klasse. Selbst Herrschaftsgruppen und -verbände sind davon betroffen. Ein Unternehmerverband ist heutzutage genötigt, zuweilen auf der einen Seite: auf der Distributionsebene, also gegenüber den Konsumenten gegen andere Unternehmerverbände anzutreten (Kohle gegen Erdöl). Dennoch bildet er auf der Produktionsebene mit allen anderen Unternehmerverbänden eine gemeinsame Front gegen die organisierte Arbeiterschaft. Der in den Vordergrund gerückte Pluralismus der Distributionssphäre aber macht die Monopolisierung der Herrschaft auf der Produktionsebene und die antagonistischen Spannungen der gesellschaftlichen Polarität weitgehend unsichtbar. Nicht nur das (selbst manipulativ erzeugte) Konsumentenverhalten verschafft ihm ein eindeutiges Übergewicht. Auch die staatliche Tätigkeit leistet eine beachtliche Hilfe, da in der parlamentarischgouvernamentalen Pragmatik einer befriedeten Gesellschaft allein die Interessenpluralität öffentlich vermittelt wird, während Polarität und Antagonismus von jeder Form staatlicher Veröffentlichung ferngehalten werden. Der so zwischen Konsumwerbung und Distributionspolitik eingekeilte einzelne kann die doppelte Wirklichkeit nur noch halb sehen: die .Republik des Marktes' und nicht die .Despotie der Fabrik' (Paschukanis); die Vielfalt organisierter Interessenvertretung, nicht die Trennung von Oligarchie und Masse; unzählige Gruppen von einzelnen, die ihren Anteil am Genuß produzierter Güter erhöhen wollen, nicht den Widerspruch zwischen Kollektivproduzenten und Produktionseigentümern" (Agnoli, S. 23 f.).
63
Studieneinheit 2
3. Die gesellschaftlichen Interessen der großen sozia-
einandersetzung um die Lösung bestimmter politischer
len Gruppen besitzen unterschiedliche Chancen, sich
Probleme aktiv mitzuwirken.
durchzusetzen; die behauptete Chancengleichheit erfüllen pluralistische Systeme ebensowenig wie eine „freie Konkurrenz". Oft hängt das Durchsetzungsvermögen von Gruppen nicht von der Gewichtigkeit ihrer Argumente ab, sondern lediglich von ihren finanziellen Möglichkeiten und von politischen Einflußkanälen. Als Beispiel wird in der Literatur häufig die freilich nicht unbestrittene — These angeführt, daß beispielsweise Unternehmer größere Durchschlagskraft besäßen als Arbeiter. Die strukturelle Ungleichgewichtigkeit der Interessen hebt die von der Theorie geforderte Konkurrenz auf, womit das Modell dem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht wird. Für die Praxis bedeutet dies, daß artikulierte Interessen nur dann die Chance haben, sich durchzusetzen, wenn sie die Unterstützung starker organisierter Interessengruppen finden. Für die Kritiker dieses Aspektes ist der Pluralismus also „eine Philosophie der Gleichheit und Gerechtigkeit, deren konkrete Anwendung die Ungleichheit dadurch unterstützt, daß sie das Vorhandensein bestimmter sozialer Gruppen ignoriert" (Wolff, S. 218).
5. Entgegen der Annahme des Pluralismus, alle Interessen seien organisierbar, gibt es große allgemeine Bedürfnisse, wie beispielsweise die Volksgesundheit, für die keine machtvollen Verbände eintreten. Da die Durchsetzbarkeit von Interessen nicht zuletzt von deren Organisierbarkeit abhängt und für weite Bereiche allgemeiner Interessen keine mächtigen Vertretungen existieren, ergibt sich ein Ungleichgewicht (siehe dazu die Studieneinheit 5). Diese These wird im übrigen auch von den konservativen Kritikern vertreten. 6. Die Gesamtmacht der Verbände sorgt in pluralistisch verfaßten politischen Systemen dafür, daß Allgemeininteressen wie etwa Probleme des Umweltschutzes gegenüber der Vielfalt und Stärke privater Anliegen oft zu kurz kommen. Entgegen den Implikationen der pluralistischen Theorie gleicht sich der Druck der Verbände nicht so aus, daß als Ergebnis der Auseinandersetzungen die für die Gesellschaft jeweils beste Lösung gefunden wird. Vielmehr erwachsen der Allgemeinheit aus dem Gegeneinanderwirken der mächtigen Gruppen oft Schäden, für deren Beseitigung sie selbst sorgen
4. In den Verbänden existieren nur bedingt Strukturen, die eine demokratische, von unten nach oben sich vollziehende Willensbildung ermöglichen und den Mitgliedern echte Partizipationschancen einräumen.
muß. 7. So viele Freiräume pluralistisch verfaßte Systeme zur Austragung von begrenzten Konflikten auch anbieten — es fehlt an der Möglichkeit, fundamentale Kon-
Diese Kritik wird von radikaldemokratischen und neo-
flikte auszutragen. Weil der Pluralismus ständig Kom-
marxistischen Positionen her noch durch die These ver-
promisse erfordert, vermögen sich die grundlegenden
stärkt, der Pluralismus negiere das fundamentale mensch
Alternativen nicht durchzusetzen. Daher sind pluralisti-
liehe Bedürfnis nach Selbstbestimmung. „Die Macht des
sche Staatsordnungen auch nicht so leicht zu erschüt-
Ganzen über das Individuum" (Marcuse, S. 225) werde
tern wie zentral istische Machtsysteme. Sie gehen auf
gefestigt, der Staat schaffe sich Strukturen, die die aktive Teilnahme der Bürger an Entscheidungen in Organisationen und im gesellschaftlichen Zusammenleben verhindern.
alle nicht ins Gesamtkonzept passenden Argumente immer nur ein wenig ein - in der Gewißheit, daß radikale Vorstellungen sowieso nicht in die Tat umgesetzt werden können.
Tatsächlich neigen Organisationen zur Bürokratisierung ihrer Strukturen, womit sie sich der Kontrolle durch die Basis entziehen. Nur in wenigen gesellschaftlichen Gruppen gibt es ausreichende Partizipationsmöglichkeiten. Die Verbände sind beispielsweise durch das Grundgesetz der Bundesrepublik im Gegensatz zu den Parteien nicht dazu angehalten, bestimmte demokratische Prinzipien zu beachten. Auf gesellschaftlicher Ebene wirkt sich das Fehlen von Partizipationsmöglichkeiten negativ aus: Der Bürger neigt zur Apathie und ist nicht mehr bereit, an der Aus-
64
4.3 Pluralismus — ohne Alternative? Bislang hat sich in den bestehenden westlichen Demokratien keine antipluralistische Demokratietheorie durchsetzen können, weder von rechts noch von links. Zur neuen linken Kritik stellt Kurt Sontheimer fest: ^
„Die kritischere Beurteilung des Pluralismus, die seit den letzten Jahren in der Bundesrepublik geübt wird, kann als Korrektiv für eine blinde Rechtfertigung des bestehenden pluralistischen
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Systems durchaus nützlich sein; sie kann auch
und Kultur direkt an der politischen Willensbildung be-
zu einem tieferen Einblick in die faktische
teiligen können. In aktuellen partizipatorischen Demo-
Machtstruktur der deutschen Gesellschaft bei-
kratievorstellungen werden hier insbesondere die zahl-
tragen und dadurch Ansätze zur Schaffung ei-
reichen Formen von Bürgerinitiative und Selbstorgani-
nes ausgewogenen pluralistischen Systems be-
sation, die Einflußnahme der Basis auf die Representan
günstigen — eine überzeugende politische Al-
ten der politischen Organisationen, die Beteiligung an
ternative zur Theorie des Pluralismus, die der
Planungsprozessen in den Kommunen sowie die Mitbe-
liberalen demokratischen Ordnung nicht den
stimmung in den Betrieben genannt.
Boden entzieht, hat die linke Kritik jedoch nicht aufstellen können. Die offensichtlichen
Soziale und politische Öffentlichkeit
Ungereimtheiten des pluralistischen Systems der Bundesrepublik haben sich noch nicht als
Voraussetzung hierfür ist, daß in der Gesellschaft ein
so schwerwiegend erwiesen, daß sie seine Ab-
öffentlicher, d.h. allen Mitgliedern zugänglicher Prozeß
schaffung provozieren könnten, wie es 1933
geistiger Auseinandersetzung möglich ist. In ihm müs-
geschah" (Sontheimer, S. 125 f.).
sen sich Meinungen frei bilden und verändern können; jeder sollte versuchen, den anderen zu verstehen, ihn mit Argumenten von bestimmten Ansichten und Wünschen zu überzeugen oder sich selbst überzeugen zu las-
5.
Demokratische Legitimation durch Öffentlichkeit
sen. Auf einer solchen Basis, die individuelle Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Problemlösung verbindet, kann sozialer Wandel von gemeinsamen Wertvorstellungen aus initiiert werden.
5.1
Die Gesellschaft und ihre Repräsentanten
Der kommunikative Raum, in dem diese Auseinandersetzung stattfindet, soll hier „soziale und politische
Demokratie verlangt der Idee nach, daß politische Herr-
Öffentlichkeit" (kurz: „Öffentlichkeit"), die in ihm
schaft vom Volk legitimiert wird. Wenn es in moder-
entstehenden Meinungen sollen „öffentliche Meinung"
nen Industriegesellschaften auch nicht möglich ist, ei-
oder „öffentliche Meinungen" genannt werden.
ne Identität zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen politischen Entscheidungsträgern und Entscheidungsbetroffenen zu erreichen, so wird jedoch den Bürgern demokratischer Gesellschaften das Recht garantiert, an der politischen Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken. Eine Einrichtung der Herrschaftslegitimation einerseits und der Teilnahme an der Wil-
„Ein Stück Öffentlichkeit konstituiert sich in jedem Gespräch, in dem sich Privatleute zu einem Publikum versammeln" (Habermas [ 5 ] , S. 220).
Die Öffentlichkeit des staatlichen Bereichs Damit die Bürger staatliches Handeln kontrollieren und
lensbildung andererseits sind die allgemeinen Wahlen,
beeinflussen können, müssen sie sich jederzeit direkt
bei denen Repräsentanten von den Wählern für eine
darüber informieren können. So sind einerseits die Ein-
bestimmte Zeit die Vollmacht erhalten, politische
richtungen, in denen staatliches Handeln vorbereitet
Entscheidungen zu treffen. Es wird von ihnen erwar-
wird bzw. sich vollzieht, öffentlich. Jeder Bürger kann
tet, daß sie sich an ihren Aussagen und Ankündigun-
z.B. Parlamentssitzungen oder Gerichtsverhandlungen
gen vor der Wahl orientieren; de facto haben die Bür-
beiwohnen. Auch sind staatliche Stellen dazu verpflich-
ger indes bei Wahlen nicht die Möglichkeit, ihre Mei-
tet, den Bürgern Auskünfte zu erteilen. Außerdem müs-
nung differenziert in den politischen Prozeß einlie-
sen die Entscheidungsträger den Bürger von sich aus
ßen zu lassen.
über ihre Politik informieren.
Die aktive Partizipation am politischen Geschehen, wie sie normativ gefordert wird, muß über die bloße Teil-
Veröffentlichung (Publizität)
nahme an Wahlen hinaus durch ein Spektrum weiterer
Eine soziale und politische Öffentlichkeit entsteht nur,
Möglichkeiten ergänzt und gewissermaßen vitalisiert
wenn die Themen und Meinungen, die Gegenstand der
werden. Die Bürger sollten sich in allen Bereichen ge-
Auseinandersetzung sein sollen, veröffentlicht (publi-
sellschaftlichen Lebens, in der Politik, in der Wirtschaft
ziert) werden, d.h. wenn sie allen Mitgliedern einer Ge-
65
Studieneinheit 2
sellschaft potentiell zugänglich gemacht werden. In ei-
befreien, indem er den eigenen Verstand gebrauchen
ner modernen Gesellschaft ist es nicht einfach, alle Bür-
und seinen individuellen und gesellschaftlichen Stand-
ger möglichst rasch und über große Entfernungen mit-
punkt bestimmen lernt.
einander zu verbinden. Diese Aufgabe soll das Kommunikationssystem leisten. An die Stelle der Thingstätte der Germanen oder des Marktplatzes der Antike, auf dem sich die freien Bürger einer Gemeinschaft oder eines Staates versammelten, sind die aktuell-universellen Medien (siehe dazu die Studieneinheit 6) getreten. Sie sollen ein Forum bilden, auf dem sich die Bürger ungehindert über alle öffentlich relevanten Ereignisse, Themen und Meinungen informieren und umgekehrt ihre eigenen Anliegen öffentlich machen können.
Das räsonierende Publikum der aufgeklärten „Menschen", die sich als gleiche behandeln, konstituiert sich zu dem der „Bürger", wenn es sich öffentlich über die allgemeinen Angelegenheiten verständigt, wenn es von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch macht. Herrschaft wird nicht länger in Form persönlicher Machtausübung oder gewaltsamer Selbstbehauptung ausgeübt, sondern sie wird dem Volk übertragen — ein Prinzip, das für Kant freilich nur verwirklicht werden kann, falls die Bürger bereit sind, „vernünftig" zu handeln und private Interessen weitgehend zurückzustellen, wenn es um öf-
5.2
Die Entstehung politischer Öffentlichkeit
Das Prinzip, daß Herrschaft vom Volk legitimiert werden muß, ist aus dem Gedankengut der Aufklärung und des Liberalismus erwachsen. Im 18. Jahrhundert konstituierte sich erstmals eine Sphäre der Öffentlichkeit, in
fentliche Belange geht. Nur so läßt sich auf allgemeiner Ebene ein notwendiger Konsens der Beteiligten erreichen. Die politischen, nämlich auf das Wohl aller bezogenen Handlungen stimmen mit Recht und Moral insoweit überein, als sie von allen als allgemein und vernünftig bestätigt werden.
der die Bürger sozusagen als Privatleute über allgemeine politische Angelegenheiten räsonierten, staatliche Maßnahmen kritisierten und eigene Bedürfnisse gegenüber dem Staat artikulierten. Eine wichtige Rolle spielten in
5.3
Der Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert
diesem Prozeß die Pressemedien. Sie bildeten den kommunikativen Raum, in dem sich die Bürger auch über
Das Ergebnis der Kämpfe zwischen Staatsgewalt und
größere Entfernungen hinweg verständigen konnten.
aufgeklärtem Bürgertum spiegelt sich in den ersten mo-
Das Bürgertum hatte sich zunächst in einem langwierigen Kampf von der Herrschaft der Feudalherren und dann von der Bevormundung eines autoritären Staates befreien können, indem es einen Lebensbereich nach
dernen Verfassungen des liberalen Rechtsstaates wider. Ihre Grundrechtskataloge garantieren den Bürgern private Autonomie und weitgehenden Schutz gegenüber staatlichen Eingriffen in die private Sphäre.
dem anderen der obrigkeitlichen Verfügungsgewalt ent-
Die Realisierung dieser Rechte geschah jedoch sehr un-
zog. Am Ende verstanden sich die zum Publikum ver-
terschiedlich. Wenn der liberale Staat auch Freiheit und
sammelten Privatleute selbst als einzig legitime Basis
Chancengleichheit aller Bürger zu schützen vorgab, so
von Gesetz und Herrschaft, ohne auch staatliche Ver-
bildete er dennoch faktisch „niemals eine Ordnung kon-
antwortung zu übernehmen. Der Staat wurde zum
kurrierender Bürger mit gleichen Chancen, sondern ei-
„Nachtwächter"; er mußte den Freiheitsraum der bür-
ne stabile, wenn nicht durch feudale Privilegien, so doch
gerlichen Gesellschaft — insbesondere den der wirt-
durch Besitz und Bildung gesicherte soziale Rangord-
schaftlichen Beziehungen — garantieren und über die
nung" (Habermas [ 4 ] , S. 20).
Einhaltung der Spielregeln wachen, ohne korrigierend oder gar planend eingreifen zu dürfen.
An der politischen Willensbildung, die staatliches Handeln beeinflussen und kontrollieren sollte, nahm nur
In Deutschland findet die aufklärerische Idee der bür-
die kleine Oberschicht des gebildeten Besitzbürgertums
gerlichen Öffentlichkeit erstmals bei dem Philosophen
teil, der es nicht schwerfiel, jeweils zu einem Konsens
Immanuel Kant (1724—1804) eine theoretisch ausge-
zu gelangen. Erst als Konflikte - besonders in der Ar-
reifte Gestalt. Kant begreift Öffentlichkeit als Prinzip
beitswelt zwischen den Besitzern der Produktionsmit-
der Rechtsordnung und Methode der Aufklärung zu-
tel und der Arbeiterklasse — nicht mehr „privat" gere-
gleich: Der Mensch darf sich nicht von anderen leiten
gelt werden konnten, sondern öffentlich aufbrachen,
lassen; vielmehr muß er sich aus seiner Unmündigkeit
wurde sichtbar, daß die Interessen des einstmals mit
66
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
revolutionären Ideen gegen die Feudalherrschaft kämp-
Wir wollen ihre Urteile über die Teilnahme der Indivi-
fenden Bürgertums nicht die der Arbeiter und damit
duen an der kommunikativen Auseinandersetzung in
auch nicht die des ganzen Volkes waren.
der Gesellschaft und über Wert und Ausprägung von
Der sich ausbreitende Kampf der divergierenden Inter-
„Öffentlichkeit" darstellen.
essen mußte in feste Bahnen gelenkt werden. Der Staat übernahm neben seinen Ordnungsfunktionen allmählich immer mehr soziale Aufgaben, bemühte sich — in eher patriarchalischer Weise — um einen Ausgleich für die ökonomisch schwächeren Gruppen und regelte den Wirtschaftskreislauf. Die bürgerliche Öffentlichkeit verlor ihre legitimatorische Kraft.
6.2 Die „pragmatische" Position Für den Menschen in der modernen Industriegesellschaft ist es äußerst schwierig, die steigende Komplexität von Weltanschauungen, Bedürfnissen und Problemen zu erfassen. Nach Niklas Luhmann, auf dessen Ausführungen sich die Darstellung der pragmatischen Position hauptsächlich stützt, ist dies nur durch Reduktion von Komplexität möglich.
6.
Politische Öffentlichkeit heute
Das Modell bürgerlicher Öffentlichkeit hat unser heutiges verfassungsrechtliches Denken geprägt und Eingang in das Grundgesetz gefunden. Die Verfassung ermöglicht prinzipiell die Teilnahme aller am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß. Doch stellt sich die Frage: Hat jedes Individuum in unserer Gesellschaft die Möglichkeit, am Prozeß der politischen Meinungsund Willensbildung teilzunehmen und auf die politischen Entscheidungen einzuwirken? Wie sieht politische Öffentlichkeit heute aus und welchen Einfluß hat sie? Hier sollen zunächst die Positionen betrachtet werden, die sich in der sozialwissenschaftlichen Demokratiediskussion besonders mit dem Gegenstand politischer Öffentlichkeit beschäftigen. Anschließend wird versucht, sie in einem weiteren theoretischen Zusammenhang zu erörtern.
6.1 Zur Neubelebung des Begriffs der Öffentlichkeit In der sozialwissenschaftlichen Diskussion über die Verwirklichung demokratischen Lebens in modernen Industriegesellschaften lassen sich vornehmlich drei theoretische Positionen unterscheiden: die „pragmatische", die „normativ-kritische", die „marxistische" Position.
„ E s geht um die Fähigkeit, viele Möglichkeiten sinngemäß zu berücksichtigen und doch rasch zu handeln: um Verhältnisse zwischen sachlicher und sozialer Vielfältigkeit und Zeitknappheit, die optimiert werden müssen; es geht auch um ein Abfangen des Zeitdrucks, der sich aus zunehmenden Interdependenzen ergibt. Diese Leistungssteigerung kann angesichts der unveränderbar geringen Aufmerksamkeitsspannetnenschlichen Erlebens nur durch Systembildungen erfolgen, die sicherstellen, daß Informationen in einem sinnvollen Zusammenhang erfolgen, der ihre Selektivität verstärkt" (Luhmann [3], S. 77). Frei diskutierende Privatleute sind nicht mehr in der Lage, die Herrschenden zu kontrollieren und ihre Entscheidungen zu beeinflussen. Ihnen fehlt es ebenso an Kenntnissen wie an Zeit, um ein komplexes Thema in all seinen Detailansichten erfassen und analysieren zu können. Das wäre jedoch die Voraussetzung, um als Legitimationsinstanz für politische und rechtliche Entscheidungen zu fungieren, wie es das klassische Konzept von bürgerlicher Öffentlichkeit vorsieht. „ I m wesentlichen wird die Erzeugung, Benutzung und Weiterführung von Themen der öffentlichen Meinung zur Sache von besonders dafür ausgerüsteten Politikern. Was als management by participation geplant war, wird zum participation by management, nämlich zur Teilnahme derer, die Informationen, Konstellationen, Verbindungen, Stimmzahlen und nicht zuletzt sich selbst auszuwerten verstehen" (Luhmann [1], S. 26).
67
Studieneinheit 2
Organisierte Öffentlichkeit
•
die Bedrohung oder Verletzung bestimmter überragender Werte wie Frieden, Unabhängigkeit der Ju-
So bildet die Öffentlichkeit heute — übrigens nicht nur
stiz und die moralischen Aspekte politischer Skan-
in der Argumentation der pragmatischen Position, sondern nach allgemeiner Ansicht — einen Bereich, „ i n dem
dale; •
sich die gesellschaftliche Willensbildung auf eine mehr oder weniger organisierte Weise, d.h. also staatsähnli-
•
che Weise, vollzieht. In ihm w i r k t also nicht mehr der
•
einzelne, der Privatmann, oder die Summe der einzelnen, sondern in ihm haben sich die Großgebilde der Wirtschaft, des Berufslebens, der Kultur, also die Interessenmächte angesiedelt. Auch die politischen Parteien wurzeln in diesem Bereich. Vor allem bietet er den Siedlungsboden für die Großbetriebe, Organisationen und Systeme der modernen Kommunikation. Sie sind es, die mit ihren Produktionen diesen modernen Öffentlichkeitsbereich erst konstituieren" (Ronneberger, S. 196 f.).
Krisen und Krisensymptome wie Hungersnot, Demission eines Ministers oder hohe Inflationsraten; den Status des Absenders einer Kommunikation; die Nennung guter Beziehungen oder ähnlich wichtiger Daten;
•
die Neuheit von Ereignissen;
•
Schmerzen oder zivilisatorische Schmerzsurrogate wie Geld oder Positionsverluste (vgl. Luhmann [ 1 ] , S. 16 f.).
Diese Aufmerksamkeitsmechanismen garantieren die Vielschichtigkeit der öffentlichen Meinung, sie verhindern die Zuwendung an nur eines dieser Themen und gleichen so die Einseitigkeit der Gesichtspunkte, die
Wenn auch die öffentliche Meinung, die sich im Ver-
zur Erregung von Aufmerksamkeit wichtig sind, wie-
lauf privater Diskussionen, in Versammlungen, in den
der aus.
Betrieben, in den sozialen und politischen Organisationen herausbildet, nach Luhmann weder die Herrschaftsansprüche der politischen Repräsentanten kontrolliert noch ihre Entscheidungen unmittelbar beeinflußt, so hat sie dennoch für den einzelnen Bürger eine Funktion. Er sieht in ihr das Ergebnis kommunikativer Auseinandersetzungen, bei denen die mannigfaltigen politischen und rechtlichen Möglichkeiten auf wenige, dafür in der Diskussion „stahlgehärtete" Meinun-
Es ist Aufgabe engagierter Wegbereiter eines Themas, Aufgabe von Intellektuellen, von politisch Interessierten oder auch von aktiven Politikern, Themen im politischen Prozeß zu fördern und besonders in den Organisationen des Publikums und über die Medien der Massenkommunikation bekanntzumachen, so daß sie schließlich von den Entscheidungsträgern nicht mehr ignoriert werden können.
gen reduziert werden. Öffentliche Meinung kann so-
Zu dem jeweiligen Thema können verschiedene, mehr
mit die wichtige Aufgabe übernehmen, die Aufmerk-
oder weniger öffentlichkeitsbezogene Meinungen ge-
samkeit auf bestimmte Themen zu lenken und die po-
äußert werden. Letzten Endes aber haben die durch
litische Kommunikation zu steuern.
Wahl legitimierten Entscheidungsträger das Recht, nein
In Themen stellen sich gesellschaftliche Probleme oder Gegenstände dar, wie zum Beispiel politische Ereignisse, Automobil oder Schlagermusik, über die man redet und gleiche oder auch verschiedene Meinungen
zu sagen und ihre Entscheidungen unabhängig von den im politischen Kommunikationsprozeß artikulierten Meinungen zu fällen, wenn sie der Überzeugung sind, im Interesse der Gesellschaft zu handeln.
haben kann (vgl. Luhmann [ 1 ] , S. 32). Soll ein Thema
So determiniert öffentliche Meinung zwar nicht mehr
zum Gegenstand der politischen Kommunikation wer-
Herrschaft, aber sie gewährleistet, daß die politischen
den, so muß es zunächst genügend Aufmerksamkeit er-
Entscheidungsträger laufend mit einer Vielzahl von An-
ringen. Es muß von vielen akzeptiert werden. Dann bil-
forderungen konfrontiert werden, daß ständig Themen
den sich dazu Meinungen. In der Durchsetzung bestimmter Themen bzw. darin, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und die der po-
hervorgebracht werden, die Aufmerksamkeit erregen und den Prozeß politischer Kommunikation strukturieren.
litisch Handelnden zu erregen, sieht Luhmann einen
Die Institutionen, die Entscheidungen fällen oder be-
der wichtigsten und kompliziertesten Prozesse im poli-
einflussen, müssen hinreichend ausdifferenziert sein,
tischen System. Er vermutet, daß eine Reihe von Fil-
so daß sie in der Lage sind, alle die artikulierten Mei-
tern die Verteilung von Aufmerksamkeit für Themen
nungen zu einem Thema in den Entscheidungsprozeß
steuert und nennt hier:
zu integrieren und sinnvoll, also begründbar, zu redu-
68
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
zieren. Demokratisches Handeln bedeutet also: „Er-
Auseinandersetzung zu machen. Auch der Prozeß der
haltung der Komplexität trotz laufender Entscheidungs-
Willensbildung innerhalb der Organisationen bleibt
arbeit, Erhaltung eines möglichst weiten Selektionsbe-
weitgehend verborgen.
reichs für immer wieder neue und andere Entscheidungen. Darin hat Demokratie ihre Rationalität und ihre Menschlichkeit: ihre Vernunft" (Luhmann [ 2 ] , S. 40).
Öffentlichmachen (publizieren) wird zur Meinungspflege, die Öffentlichkeit wird nur noch zur Akklamation „gebraucht". Ihre Legitimations- und Kontrollfunktionen kann sie nicht mehr wahrnehmen, eine Be-
6.3 Die „normativ-kritische" Position
teiligung der Bürger am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß verliert ihren Sinn. Da aber hier be-
Eines der Hauptanliegen von Vertretern der normativ-
stimmt werden muß, was in unserer Gesellschaft mög-
kritischen Position ist die Beseitigung von Mängeln des
lich ist, wie politische, soziale und wirtschaftliche Wirk-
spätkapitalistischen Gesellschaftssystems. Sie kritisie-
lichkeit gestaltet werden soll, wird dem Individuum die
ren vor allem die geringen Möglichkeiten des Menschen,
Chance genommen, sein Leben selbst zu bestimmen
über seine Angelegenheit demokratisch selbst zu bestim-
und gesellschaftliche Entscheidungen frei und vernünf-
men.
tig in Übereinstimmung mit anderen zu fällen. Eine
Jürgen Habermas, einer der bedeutendsten Repräsentan-
solche Gesellschaft ist zutiefst undemokratisch.
ten dieser Position, fürchtet, daß sich im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung über den Köpfen der Bürger ein festgefügtes politisches Machtsystem bildet, das von den Betroffenen nicht mehr durchschaut und schließlich auch nicht mehr beeinflußt werden kann. Seine Analyse der heutigen Öffentlichkeit stimmt mit den Vertretern der pragmatischen Position nahezu überein. Der Bereich der Öffentlichkeit hat sich dem Einfluß des einzelnen Bürgers entzogen. Die politische Diskussion wird vor dem Publikum der Privatleute geführt, das die Bedeutung dieser Diskussion für die eigene Existenz meist nur vermuten kann und nur wenige Möglichkeiten besitzt, selbst einzugreifen. Organisierte Interessen haben sich der Öffentlichkeit bemächtigt; sie beherrschen und prägen Kommunikation und Willensbildung. Im Gegensatz zu Luhmann aber hält Habermas diese Entwicklung weder für folgerichtig noch für notwendig, weil sie demokratiefeindlich sei. So beklagt er die „journalistische Aktivierung von Ämtern, Parteien und Organisationen", die er als symptomatisch für den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit empfindet (Habermas [ 1 ] , S. 214). Seiner Auffassung nach ist es die Absicht dieser Institutionen, private, besonders wirtschaftliche Interessen als öffentliche auszugeben. Zu diesem Zweck versuchen sie, die Zustimmung oder zumindest das Wohlwollen einer breiten Öffentlichkeit zu erlangen, um Druck auf die politischen Entscheidungsträger aus-
Öffentlichkeit der Kontroll i nstanz ^ ^
„Der Mensch, der als regulative Idee, als .konkrete Utopie' dem .kritischen Demokratiebegriff' vorschwebt, hat sein wesentliches Merkmal darin, daß er nicht länger Herrschaft unterworfen ist, die er nicht durchschaut, daß er nicht blind getrieben wird durch vermeintliche Zwänge, sondern daß er in freier Reflexion in der Lage ist, die Bedingungen seines Handelns selbst zu bestimmen. Das oberste Prinzip demokratischer Politik ist Selbstbestimmung" (Greven, S. 51).
Habermas weiß, daß eine absolute individuelle Selbstbestimmung letztlich utopisch, eine aktive Beteiligung aller Bürger an der politischen Willensbildung undenkbar ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Fiktion bürgerlicher Öffentlichkeit", die für ihn auch historisch schon immer eine Fiktion gewesen ist. Im Gegensatz zu Luhmann hält er jedoch an dem Modell fest, wonach bürgerliche Öffentlichkeit die Herrschaft kontrollieren und legitimieren soll. Sie konstituiert sich durch das Prinzip des freien Zugangs zur politischen Willensbildung und das schon von Kant vertretene Prinzip der von Vernunft bestimmten Diskussion. Habermas ist der Meinung, daß der mündige Bürger auch
üben zu können. Das Werben um Zustimmung geschieht
in einer pluralistischen Gesellschaft mit ihren widerstrei-
in einer Form, die das Prestige der eigenen Position stär-
tenden Interessen seine privaten Interessen zurückstellen
ken und deren allgemeine Anerkennung bewirken soll,
kann, um frei über allgemeine Angelegenheiten zu disku-
ohne das Anliegen selbst und die dahinterstehenden In-
tieren und einen weitgehenden Konsens mit anderen zu
teressen und Absichten zum Thema der öffentlichen
finden. 69
Studieneinheit 2
Die Bürger verhalten sich dann „weder wie Geschäfts-
jener Klasse, die über die Produktionsmittel, die öf-
leute oder Berufstätige, die ihre privaten Angelegenhei-
fentliche Gewalt — und schließlich auch die Öffentlich-
ten aushandeln, noch wie gehorsamspflichtige Rechts-
keit verfügt.
genossen, die den legalen Weisungen der staatlichen Bürokratie unterstehen" (Habermas [ 5 ] , S. 220). Viel-
Bürgerliche Öffentlichkeit ist nichts Einheitliches. Sie
mehr bilden sie eine Kommunikationsgemeinschaft
setzt sich aus einem Konglomerat von Teil öffentlich-
von Betroffenen, die ungezwungen, also unter der Ga-
keiten zusammen: der Öffentlichkeit der Medien, der
rantie, sich frei versammeln und vereinigen zu dürfen,
Verbände und Parteien, der Parlamente, der Bundes-
politisches Handeln kontrolliert und die dahinterste-
wehr, der Kirchen und Konzerne; diese lassen sich von
henden Ziele und Normen überprüft. Kommen sie zu
den jeweiligen spezifischen Produktionsinteressen len-
der Überzeugung, daß unter den gegebenen Umstän-
ken und versuchen, ihr als privat verstandenes Tun
den Normen und Handeln richtig sind, so tun sie das
durch „Öffentlichkeitsarbeit" zu legitimieren. Somit
in dem Bewußtsein, daß sie eine rationale Diskussion
wird die allgemeine bürgerliche Öffentlichkeit von ei-
geführt haben, die jederzeit erneut aufgenommen wer-
ner „Scheinöffentlichkeit" überlagert, die von meist
den Und zu anderen Ergebnissen führen kann (vgl. Ha-
kapitalistisch organisierten Interessen bestimmt ist.
bermas [ 2 ] , S. 144). Die so entstehenden öffentlichen Meinungen sind als ein Korrelat zur staatlichen Herrschaft zu sehen.
Obwohl Öffentlichkeit auch heute allgemein als der Raum verstanden wird, in dem alle gesellschaftlich relevanten Bereiche offengelegt und diskutiert werden, schließt bürgerliche Öffentlichkeit nach Meinung von
6.4 Die „marxistische" Position
Negt und Kluge die beiden wichtigsten Lebenszusammenhänge aus, in denen sich hauptsächlich übergreifende, für alle Klassen fundamentale gesellschaftliche
Oskar Negt und Alexander Kluge haben sich mit dem
Bedürfnisse bilden: den industriellen Apparat des Be-
hier behandelten Problemkreis aus marxistischer Sicht
triebes und die Sozialisation in der Familie. Wo diese
beschäftigt und ein Konzept proletarischer Öffentlich-
beiden Bereiche öffentlich werden müßten, da werden
keit als Gegenöffentlichkeit zur bürgerlichen vorgelegt.
sie als privat abgegrenzt, und ihr gesellschaftlicher Ver-
Ohne näher auf die Entwicklung ihrer Argumente ein-
wendungszusammenhang bleibt unklar.
zugehen, was einer längeren Einführung in die politische Ökonomie bedürfte, sollen einige wichtige Gedanken
Für den Bereich des Betriebes wird damit verhindert,
angesprochen werden.
daß die Arbeiter über ihre Erfahrungen am Arbeitsplatz
Den Ausgangspunkt markieren folgende Fragen nach dem Gebrauchswert von Öffentlichkeit:
hinaus die gesellschaftlich bedingten Produktionszusammenhänge und die eigene Rolle darin erkennen lernen. Für den Bereich der Erziehung bedeutet dies, daß in der privaten Familiensphäre emanzipatorische Ideen
•
Welche Interessen verfolgen herrschende Klassen mit der Öffentlichkeit?
nicht zum Tragen kommen, die ein anderes Gesellschafts-
•
Was können die Arbeiter mit der Öffentlichkeit anfangen?
Die Arbeiter müssen sich mangels eigener Formen von
bewußtsein fördern könnten.
Öffentlichkeit notwendigerweise an den bestehenden
Die traditionelle Idee der Öffentlichkeit als Synthese
Formen bürgerlicher Öffentlichkeit orientieren, in de-
aller gesellschaftlichen Bedürfnisse, in der sich die Er-
nen bürgerliche Verhaltensweisen und Normen domi-
fahrungen der Individuen widerspiegeln, ist nur eine
nieren. Somit wird verhindert, daß die Arbeiterklasse
Idee geblieben. Sie läßt sich in einer Klassengesellschaft,
sich ihrer eigenen Interessen und Erfahrungen bewußt
in der jeweils die herrschende Klasse bestimmt, welche
wird und diese selbständig zu organisieren versucht.
Erfahrungszusammenhänge Öffentlichkeit liefern soll, auch gar nicht verwirklichen.
Das Modell proletarischer Öffentlichkeit
Realität ist eine bürgerliche Öffentlichkeit, die zwar
Es wird der Gebrauchswert bürgerlicher Öffentlichkeit
alle Mitglieder der Gesellschaft als selbstverständliche
verschleiert, der darin liegt, die „Diktatur der Bourge-
Bezugspunkte betrachtet, die sich jedoch an den Inter-
oisie" durch einen legitimen Schein zu sichern, die pri-
essen und Erfahrungen der Bourgeoisie orientiert —
vate Produktionsweise zu schützen, bürgerliche Kultur,
70
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Sprache, Lebens- und Verkehrsformen zu stabilisie-
schauungen und Meinungen auseinandersetzen und
ren und den gesellschaftlichen Erfahrungshorizont zu
versuchen, möglichst viele Interessen in ihren Willens-
blockieren. Für den Arbeiter hat eine bürgerliche Öf-
bildungsprozessen zu berücksichtigen. Andererseits ist
fentlichkeit keinen Gebrauchswert. Negt und Kluge
sie darauf angewiesen, daß in angemessener Zeit effek-
fordern daher die Organisation proletarischer Erfah-
tive Entscheidungen gefällt werden, die sich notwen-
rung in einer GegenöffentUchkeit.
digerweise nur an wenigen Vorgaben orientieren kön-
„Im Unterschied zur bürgerlichen Klasse, in der sich die Interessen der ihr zugehörigen Individuen abwechselnd privat und öffentlich organisieren und durchsetzen, sind die Interessen der Arbeiter als nicht realisierte nur zu organisieren, wenn sie in einen Lebenszusammenhang, das heißt in eine ihnen spezifische Öffentlichkeit, eingehen. Erst wenn sie sich in einer proletarischen Öffentlichkeit organisieren, entfalten sie sich überhaupt als Interessen und sind nicht bloß Möglichkeiten" (Negt/Kluge, S. 106 f.).
nen. Eine individuelle Leistungssteigerung stößt schnell an die Grenzen des Menschenmöglichen, da die Fähigkeit zu bewußter Erlebnisverarbeitung aus vielen Gründen — zeitlichen, anthropologischen und anderen — nicht beliebig steigerungsfähig ist. Der einzelne kann nicht mehr über die Welt als Ganzes verfügen. Die zunehmende Spezialisierung und Differenzierung von Arbeit und Wissen ermöglicht durch die Bewältigung komplexer Probleme ständigen Fortschritt und Wandel. Auch im Bereich der Politik bilden sich zunehmend fachliche
Proletarische und bürgerliche Öffentlichkeit schließen sich aus und müssen sich bekämpfen. So muß die Ar-
Eliten heraus: Politik wird zur Sache von Berufspolitikern (vgl. Luhmann [2], S. 38).
beiterklasse bürgerliche Öffentlichkeit in ihren Elemen-
A n die Mitglieder der Gesellschaft, die keine berufli-
ten aufzulösen versuchen, sie zerstören oder assimilie-
che Position im politischen System innehaben, sondern
ren. Negt und Kluge sehen trotz heftiger Versuche der
als Bürger aktiv am politischen Meinungs- und Willens-
bürgerlichen Öffentlichkeit, proletarische abzuwehren
bildungsprozeß teilnehmen wollen, werden hohe An-
und unmöglich zu machen, einen zunehmenden Zer-
forderungen gestellt. Es reicht nicht, nur den Willen
fallsprozeß bürgerlicher Öffentlichkeit und eine allmäh-
zum Engagement mitzubringen; vielmehr müssen sie,
liche Entfaltung proletarischen Bewußtseins und prole-
um mit anderen über Politik diskutieren zu können,
tarischer Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft.
sachliche und kommunikative Kompetenzen entwik-
„Proletarische Öffentlichkeit bezeichnet. .. den jeweiligen Stand der Emanzipation der Arbeiterklasse; sie hat so viele Gesichter, wie es Reifegrade der proletarischen Entwicklung gibt" (Negt/ Kluge, S. 66).
keln. Es besteht indes eine große Diskrepanz zwischen der Vielfalt politischer Entscheidungen und den Möglichkeiten der Bürger, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Es fehlt an Zeit und Aufmerksamkeit, sich um politische Themen zu kümmern und alle Meinungen zu einem Thema nachzuvollziehen.
6.5 Bedingungen und Grenzen individueller Teilnahme In unserer Gesellschaft hat der einzelne Bürger nur wenig Möglichkeiten, sich als Mitglied der Öffentlichkeit aktiv und mit Aussicht auf Erfolg an der politischen Auseinandersetzung zu beteiligen. Kontrolle politischer Herrschaft ist heute individueller Aktivität entzogen.
^ ^
„Kein einzelner ist unter modernen Bedingungen in der Lage, sich auch nur einigermaßen zu informieren über die Fragen, die in einem Partizipationsmodell gleichberechtigt auf seiner politischen Tagesordnung stehen müßten: von der städtischen Verkehrsplanung bis zur Hochschul- und Forschungsplanung; von der Verwaltungsreform bis zur Reform des internationalen Währungssystems; vom antiautori-
Dies hängt damit zusammen, daß unsere Industriege-
tären Kindergarten bis zum gesamteuropäi-
sellschaft mit einer ständig steigenden Vielfalt von
schen Sicherheitssystem. Ohne daß man dafür
Weltanschauungen, Bedürfnissen und Problemen so-
auf irgendwelche Manipulations-Hypothesen
wie mit neuem Wissen und neuen Erkenntnissen kon-
zurückzugreifen brauchte, zwingt allein das be-
frontiert wird. Sie muß sich einerseits mit allen An-
grenzte Zeitbudget jeden einzelnen zu einer ri71
Studieneinheit 2
gorosen Selektivität in der A u f n a h m e politi-
der Öffentlichkeit behandelt werden. I m einzelnen
scher Informationen, u n d die Auswahl m u ß
geht es darum. A n t w o r t e n auf folgende Fragen zu ge-
notwendigerweise noch sehr viel restriktiver wer-
ben:
den, wenn es u m aktive Einflußnahme auf irgendeine der anstehenden Entscheidungen geht.
•
Jeder v o n uns, auch der Berufspolitiker, hat
lich gemacht werden?
darum keine andere Möglichkeit, als sich gegenüber der großen Mehrzahl politischer Entschei-
•
Welche Entwicklungen in unserer Gesellschaft sind
dungen apathisch zu verhalten u n d die Verant-
aufzuhalten u n d welche sind zu fördern, u m die ak-
wortung dafür anderen zu überlassen" (Scharpf,
tive kritische Mitsprache prinzipiell aller Bürger zu
S. 5 8 f.).
ermöglichen? •
7.
Wie kann der zentrale gesellschaftliche Willensbildungsprozeß allen Bürgern wieder verstärkt zugäng-
W o gibt es in gesellschaftlichen und politischen Teilbereichen Möglichkeiten unmittelbarer Partizipation?
Wiederherstellung und Erhaltung politischer Öffentlichkeit
E s wäre falsch, wollte man wegen der zuletzt vorgetragenen Argumente das Postulat der aktiven Teilnahme aller Bürger an der politischen Auseinandersetzung u n d ihre Kontroll- bzw. Legitimationsfunktionen in Frage stellen. Die folgenden Ausführungen bekennen sich denn auch zur Aufrechterhaltung u n d Wiederherstellung einer politischen Öffentlichkeit, die für alle zugänglich ist u n d in der jeder seine Mitspracherechte wahrnehmen kann.
7.1
Die Öffentlichkeit politischer Organisationen
Eine wichtige Voraussetzung für die Herstellung politischer Öffentlichkeit, in der die Bürger frei u n d kritisch räsonieren, ist nach Habermas, daß nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch die „staatsbezogen agierenden gesellschaftlichen M ä c h t e " wie Parteien, Verbände u n d Massenmedien, die den Bereich
Zwar brauchen moderne Industriegesellschaften reprä-
bürgerlicher Öffentlichkeit heute besetzt halten, öf-
sentative Formen; doch ist es das Ziel der Demokratie,
fentlicher Kontrolle unterliegen. Gerade in der Verwal-
daß mündige Bürger ihr Leben durch bewußte
tung und in den politischen Organisationen werden heu-
tion ihres Willens und durch wirksame Ausführung
Kontrolle
Delegaseiner
selbst bestimmen.
Selbstbestimmung kann in demokratischen Gesellschaf-
te die entscheidenden Grundlagen für die gesellschaftliche Entwicklung geschaffen. Die genannten Institutionen und Organisationen haben
ten nicht heißen, daß andere für Herrschaft bestimmt
häufig eine Eigenständigkeit entwickelt, die nicht mehr
werden u n d Delegation und Kontrolle sich in rein sy-
erkennen läßt, ob die von ihnen vertretenen Vorstellun-
stemfunktionaler A k k l a m a t i o n verwirklichen. G r u n d -
gen u n d Forderungen überhaupt noch der Überzeugung
legende menschliche Bedürfnisse müssen v o n allen ge-
u n d den Interessen der jeweils „Repräsentierten" ent-
meinsam erfaßt, analysiert u n d befriedigt werden.
sprechen. U m sich im Sinne demokratischer Willensbil-
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind so-
dung als Träger öffentlicher F u n k t i o n e n innerhalb der
mit auf eine funktionierende politische u n d soziale
politischen Ordnung legitimieren zu können, „müssen
Öffentlichkeit angewiesen, in der individuelle Bedürf-
sie zunächst in ihrem inneren Aufbau nach dem Prin-
nisse artikuliert und gemeinsam rational reflektiert
zip der Öffentlichkeit organisiert sein und eine inner-
werden können.
parteiliche bzw. verbandsinterne Demokratie institutionell ermöglichen — eine ungehinderte K o m m u n i k a -
Dies ist nicht nur für die Gestaltung des privaten Le-
tion u n d öffentliches Räsonnement gestatten" (Haber-
bensraumes von Belang. Es soll auch die Bereitschaft
mas [ 1 ] , S. 2 2 8 f.).
der Bürger fördern, sich mit ihrer Gesellschaft zu identifizieren u n d für ihre Werte u n d N o r m e n einzutreten.
Hierzu gehört auch, daß sich die Sprache organisations-
Nach dieser allgemeinen Positionsbestimmung sollen
daß sie Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen
konkrete Ansätze zur Wiederbelebung u n d Erhaltung
Strukturen, Herrschaftsansprüchen und Entscheidungs-
interner Öffentlichkeit aus ihrer Symbolhaftigkeit löst,
72
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Prozessen darzustellen erlaubt und daß Begriffe offen-
Einige Autoren bezweifeln, daß die von den politischen
gelegt werden, die zwar von allen gebraucht wurden,
Organisationen „gemachte" Öffentlichkeit überhaupt
deren wahre Bedeutung aber nie richtig klar war. Nur
zerstört und durch eine kritische Publizität ersetzt wer-
so können die Ziele und die Willensbildungsprozesse
den kann (vgl. etwa Hentig, S. 80). Als Argument hier-
von allen Mitgliedern eingesehen, kontrolliert und auch
für wird angeführt, daß sich kritische Publizität und
beeinflußt werden.
die in den politischen Organisationen manifestierten
Mitglieder kontrollieren ihre Organisationen
schaft, in der konkurrierende Interessen — auf wirt-
Herrschaftsansprüche widersprechen. In einer Gesell-
Dabei geht es nicht in erster Linie darum, daß sich alle Meinungen und persönlichen Anliegen durchsetzen können, sondern darum, daß sich alle Mitglieder informieren und artikulieren. Außerdem müssen sie kon-
schaftlichem wie auf politischem Gebiet — sich gegenüberstehen und um Einfluß kämpfen, wird normalerweise der im Vorteil sein, der seine Autorität auf Geheimhaltung gründen kann.
trollieren können, ob in der offiziell vertretenen und
Öffentlichkeit birgt den Zwang, die Absolutheit des
publizierten Meinung ihrer Organisation die Ergebnisse
eigenen Standpunktes und des Autoritätsanspruchs
des internen Meinungs- und Willensbildungsprozesses
der Repräsentanten aufzugeben. Ziele, Interessen und
berücksichtigt werden oder, wenn dies nicht der Fall
Forderungen müssen in ihrer gesamten Komplexität,
ist, warum sie unberücksichtigt bleiben.
m i t der sie sich auch innerhalb der Organisationen dar-
Nach Ansicht von Habermas sind es vornehmlich die Mitglieder der sich politisch betätigenden Organisationen, die die politische Öffentlichkeit bilden, da man
stellen, in die öffentliche Diskussion einbezogen und begründet werden. (Dieses Problem wird in der Studieneinheit 4 am Beispiel der innerparteilichen Demokratie noch einmal aufgegriffen.)
von ihnen eine überdurchschnittlich große Bereitschaft erwarten kann, auch an der allgemeinen gesellschaftlichen Auseinandersetzung teilzunehmen. Hier können sie gleichsam aus eigener Anschauung die offiziellen
7.2 Erziehung zur öffentlichen Neugier
Äußerungen ihrer Repräsentanten ergänzen und untereinander oder mit anderen Bürgern darüber diskutieren.
Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen kann nach Meinung Hartmut von Hentigs kein Publi-
Diese realistische Beschreibung ist ein gutes Stück von
kum entstehen, „dessen Ansichten als mehr oder weni-
der normativ-utopischen Öffentlichkeitsvorstellung
ger einheitl icher Gemeinwille laut werden könnte; es gibt
entfernt, die Habermas als „Kommunikationsgemein-
nur ständig erneut aufzudeckende Relationen zwischen
schaft der Betroffenen" bezeichnet hat. In einer so ge-
Regierung und V o l k " (Hentig, S. 78).
sehenen politischen Öffentlichkeit wird über den Weg einer internen kritischen Publizität eine kommunikative Kontrolle aller staatlichen Institutionen, Parteien, Verbände, Massenmedien und anderer staatsbezogen handelnder Organisationen möglich. Außerdem können Gegenpositionen gebildet werden, um dem Interesse aller gerecht zu werden. Gegenstand der Kontrolle sind zum Beispiel die Tätigkeit in der Organisation, ihr Druck auf den Staatsapparat, gegenseitige Pressionen, Abhängigkeitsverhältnisse und wirtschaftliche Verflechtungen (vgl. Habermas [ 1 ] , S. 229). Die sich in der Öffentlichkeit bildenden Positionen und Meinungen fließen über die Massenmedien und
Von Hentig möchte das kritische Engagement jedes einzelnen Bürgers verstärkt wissen, ihn zu mehr öffentlicher Wachsamkeit, zu mehr Kritik und Kontrolle anhalten und so der „gemachten" Öffentlichkeit der Organisationen sozusagen ein Konkurrenzmodell entgegenstellen. „Wenn sie [= die Machthaber] nicht Angst haben vor Revolution und vor einer noch unbestimmten Veränderung der Mentalität der nächsten Generation, ist ihnen nicht beizukommen in der totalen, von ihnen geregelten und verschleierten Interdependenz der modernen Industriegesellschaft" (Hentig, S. 80).
über die Mitglieder in die Spitzen der Organisationen
Die Angst vor öffentlicher
zurück und beeinflussen ihrerseits deren Ziele, womit
werden, wenn alle Bürger von Kind auf zur öffentli-
sich der Kommunikationskreis schließt.
chen Neugier erzogen werden. Sie sollen als Studenten
Erregung kann nur erreicht
73
Studieneinheit 2
mit Studenten, als Schüler mit Schülern, als Konsumen-
die Menschen als Mitglieder in Organisationen mitbe-
ten mit Konsumenten oder als Arbeiter mit Arbeitern
stimmen können. In der nächsten Umwelt werden dem
kommunizieren, offen und rational über alles reden, was
einzelnen Zwänge und Abhängigkeiten am ehesten be-
sie bewegt. Sie müssen erkennen lernen, wo sie manipu-
wußt, hier kann er seine Situation realistisch beurtei-
lierbar sind, und nicht-öffentliche Macht hinterfragen,
len.
damit diese ihre Interessen nicht gefährdet. Was bei von Hentig Zielvorstellung ist, das setzt Haber-
Dabei braucht es nicht um eine Politisierung im engeren Sinne zu gehen. Vielmehr soll eine qualitative Ver-
mas in seinem Modell kritischer Publizität schon voraus:
besserung individuellen Lebens und die Befreiung von
eine Gesellschaft von mündigen Bürgern, denen die de-
unnötiger — weil nicht erkannter — Fremdbestimmurig
mokratischen Wert- und Normvorstellungen bewußt
in unserer Gesellschaft erreicht werden.
sind und die demokratische Verhaltensweisen erlernt haben. In beiden Fällen sind die Bürger aber darauf ange-
In der aktuellen Diskussion um die individuelle Teil-
wiesen, daß sie von den Repräsentanten richtig und
nahme und Mitsprache am politischen Geschehen wird
vollständig informiert werden und Gelegenheit erhal-
vor allem dem Bereich der Gemeindepolitik, der Stadt-
ten, sich zu artikulieren.
oder Regionalpolitik immer größere Bedeutung beigemessen.
7.3
Die Vermittlung demokratischer Fähigkeiten durch Partizipation
In unserer Gesellschaft muß darauf hingewirkt werden, daß besonders die Chancen der Artikulation und Teilnahme an der politischen Auseinandersetzung für jene verbessert werden, die durch schlechte Ausgangsbedingungen in Elternhaus, Schule und am Arbeitsplatz zur politischen Aktivität weder motiviert noch fähig sind. A u c h ist die Skepsis vieler Bürger gegenüber einer aktiven Beteiligung am politischen Willensbildungsprozeß auszuräumen, die in manchen empirischen Untersu-
„Das Plädoyer für eine stärkere Betonung der direkten Demokratie in kleinen Einheiten auf kommunaler Ebene erscheint gegenüber den Anforderungen einer hochtechnisierten und gänzlich auf Leistung orientierten Gesellschaft leicht als romantischer Rückgriff auf die gute alte Zeit. Darum handelt es sich keineswegs. Es geht vielmehr darum, durch praktizierte Partizipation für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft politische Prozesse in einem ersten Schritt durchsichtiger, begreifbarer zu machen, um ihnen in einem zweiten Schritt zu ermöglichen, sich gegenüber ungerechtfertigter Herrschaftsausübung, gleich welcher Seite und in welchem Bereich auch immer, kritisch zu emanzipieren" (Greven, S. 54).
chungen festgestellt wurde; viele schätzen ihre Chance gering ein, Einfluß ausüben zu können. Es geht darum,
In der Kommunalpolitik, auf den „untersten" Ebenen
die „Kundenmentalität" zu überwinden, die die mei-
der Parteien und Verbände, in den Ortsvereinen und
sten Bürger an den Tag legen, die wirtschaftliche Pro-
Ortsgruppen, ergeben sich für den Bürger heute die ei-
sperität fordern und Leistungen der Gesellschaft entge-
gentlichen Chancen direkter Partizipation. Vieles spricht
gennehmen, sich selbst jedoch über die Teilnahme an
dafür, daß die „Demokratie im kleinen" in unserer Ge-
allgemeinen Wahlen hinaus nie engagieren.
sellschaft wieder an Bedeutung gewinnt.
Es gilt, demokratische Verhaltensweisen und politische Fähigkeiten auszubilden, „Zusammenarbeit zu erlernen, an Entscheidungsprozessen mitzuwirken, Meinungsverschiedenheiten auszutragen oder durch ge-
7.4
meinsame Suche nach akzeptablen Kompromissen zu
Das Verhältnis von aktiver und passiver Öffentlichkeit
überbrücken, auch Einfluß auszuüben und sich durchzusetzen" (Scharpf, S. 71).
Im Gegensatz zu Habermas geht Ralf Dahrendorf davon aus, daß in unserer Gesellschaft neben der von Or-
Nach Meinung Fritz Scharpfs und anderer Sozialwis-
ganisationen hergestellten Öffentlichkeit eine politi-
senschaftler kann dies nicht auf den engen politischen
sche Öffentlichkeit besteht, die als Publikum von Pri-
Bereich beschränkt bleiben. In einem System, in dem
vatleuten an der politischen Kommunikation teil-
sich Staat und Gesellschaft durchdringen, muß Demo-
nimmt und die Meinungs- und Willensbildung beein-
kratie auch am Arbeitsplatz gelernt werden, müssen
flußt.
74
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Sein Konzept politischer Öffentlichkeit baut auf der
sie ist durch laufende Zu- und Abgänge gekennzeich-
auch von Habermas unwidersprochenen Feststellung
net und nicht organisierbar. Meist bilden sich in ihr
auf, daß zwar normativ an einer Beteiligung aller Bür-
Gruppen, die sich mit bestimmten Themen und Proble-
ger als demokratischem Prinzip festgehalten wird, daß
men befassen, diese in die politische Kommunikation
aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Betei-
einschleusen und für sie um die Aufmerksamkeit der
ligung aller Bürger weder denk- noch wünschbar ist.
gesamten Gesellschaft kämpfen. Zwischen der aktiven
So sieht er in der politischen Öffentlichkeit nach dem Grad ihres Engagements sehr pragmatisch drei Gruppen: „ . . . die latente Öffentlichkeit
Öffentlichkeit und der übrigen Bevölkerung dürfen sich keine Barrieren bilden, die es den Bürgern unmöglich machen, jederzeit zu einem Mitglied der aktiven Öffentlichkeit zu werden. Dadurch würde eine neue
der Nichtteilneh-
menden, sei es auch, daß sie durch widerstreitende Einflüsse . . . an der Entscheidung gehindert werden; die passive Öffentlichkeit
derer, die als
Publikum und Wähler sporadisch im politischen Prozeß in Erscheinung treten, aber deren Initiative nicht über eine Frage in der Wahlversammlung, allenfalls eine nominelle Mitgliedschaft in Organisationen hinausreicht; die aktive
Öffent-
lichkeit der regelmäßig und m i t eigenen Vorstellungen am politischen Prozeß Teilnehmenden, die Organisationen angehören, Ämter übernehmen und in ihren Reden die Nichtteilnahme der anderen bedauern" (Dahrendorf [ 1 ] , S. 101 f.).
Elite entstehen, die sich der aktiven Öffentlichkeit bemächtigt und gegenüber der großen Mehrheit der latenten und passiven Öffentlichkeit zusätzliche Herrschaftsansprüche aufbaut. Ähnlich wie von Hentig plädiert Dahrendorf deswegen dafür, daß allen Bürgern in individuellen Lernprozessen die Möglichkeit geboten wird, freier und mündiger zu denken sowie eine größere geistige Flexibilität zur Bewältigung von Problemen auszubilden. Auch t r i t t er für eine partielle Aufhebung der bestehenden Arbeitsteilung ein, um den Blick des einzelnen für übergreifende Aspekte zu schulen, damit er Probleme im Zusammenhang erkennen und sich besser auf den ständigen Wandel in allen Bereichen seines Lebens vorbereiten
Was Dahrendorf unter aktiver Öffentlichkeit versteht,
kann. Auf diese Weise, so h o f f t Dahrendorf, wird sich
läßt sich personell kaum beschreiben; doch sind die
auch die Bereitschaft der Individuen vergrößern, aktiv
Inhaber bestimmter Positionen — wie Wissenschaftler,
am Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbil-
Publizisten und Journalisten, Lehrer und Anwälte, ak-
dung teilzunehmen oder zumindest die aktive Öffent-
tive Mitglieder von Verbänden und Parteien und sogar
lichkeit zu unterstützen.
Schüler und Studenten — hier bevorzugt. Sie zeichnen sich meist durch hohe sachliche und kommunikative Kompetenz aus.
Die Stärke und Durchsetzungskraft einer aktiven Öffentlichkeit hängt von der Unterstützung durch die passive Öffentlichkeit ab. Diese muß bereit und in der Lage
Aktive Öffentlichkeit vertritt die Interessen der Allge-
sein, den Prozeß der politischen Kommunikation zu
meinheit gegenüber den Entscheidungsträgern. Sie ar-
verfolgen, sich zu informieren, an Wahlen, Abstimmun-
tikuliert insbesondere Probleme und Bedürfnisse, die
gen und kommunikativen Auseinandersetzungen teil-
entweder von einer breiten Öffentlichkeit noch nicht
zunehmen und sich in besonderen Fällen auch zu De-
erkannt worden sind, oder solche, die deshalb eine ge-
monstrationen, Kundgebungen und ähnlichen Formen
ringe Chance haben, zum Thema politischer Kommu-
der Willensäußerung mobilisieren zu lassen, um der
nikation zu werden, weil die Betroffenen — beispiels-
Stimme der aktiven Öffentlichkeit mehr Gewicht zu
weise Kinder, Alte, Rentner — kaum in der Lage sind,
verleihen.
sich zu artikulieren oder sich zu durchsetzungsfähigen Organisationen zusammenzuschließen. Um frei und unabhängig argumentieren zu können, müssen sich die Mitglieder der aktiven Öffentlichkeit von ihren eigenen privaten Interessen und, falls sie Mitglied in einer Partei, einem Verband oder einer staatlichen Institution sind, auch von denen ihrer Organisation lösen. Eine aktive Öffentlichkeit ist keine geschlossene Elite;
Als wichtiges Bindeglied zwischen der politischen Initiative der aktiven und den Reaktionen der passiven Öffentlichkeit fungieren die Massenmedien. „ A n wenigen Punkten ist die Aufgabe der Massenmedien so unentbehrlich für eine freie Gesellschaft wie an den Gelenken von aktiver und passiver Öffentlichkeit" (Dahrendorf [ 1 ] , S. 108).
75
Studieneinheit 2
Kommunikationskanäle zwischen Bürgern, Gesell-
Die Massenmedien ermöglichen, daß die aktive Öffentlichkeit über allgemeine Anliegen kritisch informieren
schaft und Staat darstellen, eine „organisierte Öf-
und ihre Initiativen publik machen kann — daß ande-
fentlichkeit", die von den Repräsentanten und den
rerseits die passive Öffentlichkeit die aktive unterstüt-
Medien dieser Organisationen gebildet und mit Hil-
zen, allgemeine Probleme als ihre eigenen begreifen ler-
fe der Massenmedien gesellschaftsweit hergestellt
nen und, wenn man so will, die aktive Öffentlichkeit
wird. Zum andern etabliert sich eine „allgemeine politische Öffentlichkeit" als „Publikum von Pri-
auch kontrollieren kann.
vatleuten", die die „organisierte Öffentlichkeit" erDas beschriebene Verhältnis zwischen aktiver und pas-
gänzt oder sie für die I nteressen der Allgemeinheit und
siver Öffentlichkeit basiert auf der Vorstellung einer
jener Gruppen zurückdrängen will, die sich nicht or-
demokratischen Verfassung, „deren Kraft im Wechsel-
ganisieren können. Sie ist in noch höherem Maße
spiel von Initiative oder Herrschaft und Kontrolle oder
auf die Hilfe der Massenmedien angewiesen.
Widerstand liegt. Das Wechselspiel mag innerhalb der aktiven Öffentlichkeit stattfinden; aber während die Initiative dort in der Regel auch ihre Quelle findet, lebt
•
Es ist anzustreben, daß die „organisierte Öffentlich-
der Widerstand von der Protestbereitschaft der passi-
keit", die viele Sozialwissenschaftler als Scheinöf-
ven Öffentlichkeit. Die Mehrheit der Bürger nimmt also
fentlichkeit bezeichnen, durch kritische Publizität
nur relativ, Grenzen markierend, am politischen Pro-
zu einer echten politischen Öffentlichkeit wird. Kri-
zeß teil, der aber auf diese Weise sowohl seine Markt-
tische Publizität bedeutet, daß die Organisationsmit-
rationalität als auch seine Dynamik behält" (Dahren-
glieder sich über den Meinungs- und Willensbildungs-
dorf [ 1 ] , S . 108 f.).
prozeß in ihren Organisationen informieren können und sich daran beteiligen. Als Informierte und Engagierte können sie mit den Mitgliedern anderer Organisationen und mit den übrigen Bürgern über ihre
7.5 Ein komplexes Konzept politischer Öffentlichkeit
Organisation und deren Ziele diskutieren, sie unter allgemeinen Gesichtspunkten vergleichen und beurteilen.
In diesem Abschnitt soll versucht werden, die Vorschläge zur Wiederherstellung und Erhaltung einer politischen Öffentlichkeit zu einem komplexen Konzept zusammenzufassen. •
Allen Mitgliedern der Gesellschaft muß in individuellen Lernprozessen demokratisches Bewußtsein und ein freies, mündiges Denken vermittelt werden. Au-
•
Alle Mitglieder von Organisationen und Privatleute, die sich aus eigener Initiative am Prozeß der allgemeinen politischen Auseinandersetzung beteiligen, bilden eine aktive Öffentlichkeit, wie Dahrendorf sie beschrieben hat.
ßerdem sind Möglichkeiten für sie zu schaffen, in
Die aktive Öffentlichkeit kann den Willensbildungs-
vielen Lebensbereichen, besonders in den Bildungs-
und Entscheidungsprozeß nur beeinflussen, wenn
institutionen, am Arbeitsplatz und in den „kleinen
sie von der passiven Öffentlichkeit unterstützt wird.
politischen Einheiten" wie Gemeinden oder Stadt-
Die passive Öffentlichkeit besteht aus der großen
bezirken, demokratische Verhaltensweisen einüben
Mehrheit der Bürger. Es gilt daher, nicht nur die Be-
zu können. Es muß die Bereitschaft breiter Schich-
deutung einer zahlenmäßig geringen aktiven Öffent-
ten geweckt werden, sich aktiv am öffentlichen Mei-
lichkeit für unsere Gesellschaft zu betonen, sondern
nungs- und Willensbildungsprozeß zu beteiligen oder
sich auch des Gewichts und der Aufgaben der passi-
sogar staatliche Entscheidungen mitzutragen. Jeder
ven Öffentlichkeit bewußt zu werden.
sollte zumindest bereit sein, den Prozeß der politischen Kommunikation zu verfolgen und staatliches
Passive Öffentlichkeit soll in erster Linie den Prozeß
Handeln zu kontrollieren.
der politischen Auseinandersetzung aufmerksam verfolgen und kontrollieren. Diese Form der kommuni-
•
In modernen Industriegesellschaften gibt es zwei
kativen Kontrolle gewinnt dadurch an Bedeutung,
Ebenen politischer Öffentlichkeit. Einmal erzeugen
daß sie jederzeit in aktives Handeln umgewandelt
Organisationen und Institutionen, die gleichsam
werden kann.
76
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
•
Politische Öffentlichkeit kann in modernen Gesellschaften nur durch Massenmedien hergestellt werden. Staat, Parteien, Verbände, ad-hoc-organisierte Interessen, aktive Öffentlichkeit und passive Öffentlichkeit sind darauf angewiesen, daß die Massenmedien politische Inhalte vermitteln.
Bürger sein bedeutet gleichzeitig, aktiver und kritischer „Rezipient" der Massenmedien zu sein. So ist es wichtig, daß die Gesellschaft ihre Mitglieder, wenn sie ihnen demokratisches Bewußtsein vermittelt, gleichzeitig zu mündigen Rezipienten ausbildet, die die Massenmedien kritisch zu nutzen wissen.
Besonders die Mitglieder der passiven Öffentlichkeit haben ohne mediale Vermittlung politischer Kommunikation kaum eine Chance, am Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung teilzunehmen, ihn kritisch zu kontrollieren. Für sie sind die Massenmedien Bindeglied und Zugang zur politischen Öffentlichkeit. Eine demokratische Gesellschaft muß sich des Wertes medialer Kommunikation voll bewußt sein. Sie muß dafür sorgen, daß ein Kommunikationssystem besteht, das frei und unabhängig von staatlichen und einseitigen privaten Interessen allen Bürgern den Zugang in gleicher Weise offenhält.
Aufgaben 1. a) Welche Möglichkeiten der Information und Artikulation im Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung nutzen Sie? o
regelmäßige Teilnahme an Wahlen
o
Mitgliedschaft in einer Interessenorganisation
o Mitgliedschaft in einer Partei o
Beteiligung an Demonstrationen
o
Beteiligung an politischen Versammlungen
o aktive Teilnahme an Bürgerinitiativen o
Briefe an Abgeordnete
o
Unterhaltung mit Freunden über Politik
o regelmäßiges Hören von Nachrichten und politischen Informationssendungen in Hörfunk und Fernsehen
77
Studieneinheit 2
b) Welche weiteren Möglichkeiten haben Sie? o o o
2.
Glauben Sie, daß Sie durch die Nutzung der von Ihnen oben genannten Möglichkeiten Einfluß auf den Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung haben? Begründen Sie Ihre A n t w o r t !
3.
Welches oberste Prinzip kennzeichnet einen demokratischen Staat? Legitimation der Herrschaft durch o
Parlament
o
Volk
o
Massenmedien
o
Parteien
o
Regierung
4. a) Wie nennen wir jenen Teil der Verfassung, der die Meinungs- und Willensbildung garantieren soll?
b) Welcher Artikel bildet den Kern? Artikel
c) Welche Rechte garantiert er im einzelnen? o o o
d) Welche Rechte garantieren die Artikel 8, 9 und 17? Artikel
8:
Artikel
9:
A r t i k e l 17:
78
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
5.
6.
Welches Demokratiemodell liegt unserer Verfassung zugrunde?
O r d n e n Sie in der folgenden Tabelle die Merkmale des klassischen Modells denen des pluralistischen entsprechend zu: o
Identität Regierende/Regierte
o
Lösungen müssen ermittelt werden
o
Parlament als Zwischeninstanz
o
nicht-kontroverse, auf Gefühlen basierende K o m m u n i k a t i o n
o
Gemeinwohl a posteriori feststellbar
o
Einheit u n d Homogenität der Gesellschaft
o
Mit-, Neben- und Gegeneinander von
o
Individuen u n d Gruppen
kontroverse, rationale K o m m u n i k a tion
o
Orientierung an Spielregeln
o
o
Gemeinwohl a priori feststellbar
o eine L ö s u n g für ein Problem
o
Konkurrenz, Konflikt
o
Repräsentation
o
pluralistisch
o
Plebiszit
o
viele mögliche Lösungen für ein
o
Miteinander, A b l e h n u n g v o n Gruppen-
Problem o
Orientierung auf ein Ziel
klassisches Modell
Lösungen müssen vermittelt werden
bildungen o
monistisch
pluralistisches Modell
79
Studieneinheit 2
7.
Nennen Sie eine der Grundthesen der im Text erwähnten rechten oder linken Kritik am Pluralismus und erläutern Sie Ihre Haltung dazu!
8.
Ein politischer Kommunikationsprozeß in einer pluralistischen Gesellschaft ist notwendig, weil o es viele verschiedene Meinungen und Interessen gibt; o
Konflikte geregelt werden müssen;
o ständig Lösungen gefunden werden müssen; o die Meinung eines jeden einzelnen in die Gesetzgebung einfließen muß; o jeder Bürger die Möglichkeit zur Teilhabe am Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung haben muß; o das Gemeinwohl in einem ständigen Prozeß der Konsens-Findung von vornherein festgelegt werden muß; °
die politischen Repräsentanten einer öffentlichen Kontrolle unterliegen müssen. (Mehrfachnennungen möglich.)
9.
Der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung vollzieht sich im „Raum" politischer Öffentlichkeit. Was heißt politische Öffentlichkeit in einem demokratischen Staat? o Alle politischen Prozesse und Entscheidungen sollen prinzipiell transparent sein. o Aktive Teilnahme aller volljährigen Bürger am politischen Geschehen. o Politische Öffentlichkeit bietet die gleiche Chance für jeden, am Prozeß der Meinungs· und Willensbildung teilzunehmen. o Alle Medien bringen die gleichen Meinungen. o Politische Öffentlichkeit gibt Gelegenheit, die Regierenden zu kritisieren und zu kontrollieren. (Mehrfachnennungen möglich.)
80
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
10.
Nennen Sie konkrete Beispiele für öffentliche Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik Deutschland, die die Entscheidungen der Regierenden neu problematisiert haben! o
— —
o O O o
11.
Welche Aufgabe hat öffentliche Meinung nach
Luhmanni
o Sie legitimiert politische Herrschaft. o Sie bereitet Themen für die politische Auseinandersetzung auf.
12.
Was kennzeichnet den Bereich der Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft nach Habermas? o
Die organisierten Interessengruppen haben sich des Bereichs der Öffentlichkeit bemächtigt.
o
Der Willensbildungsprozeß in den Organisationen bleibt der Öffentlichkeit verborgen.
o
Die journalistische Aktivierung von Ämtern, Parteien und Organisationen begegnet den Gefahren im Bereich politischer Öffentlichkeit.
o Die Diskussion wird vor dem Publikum geführt. o Öffentlichkeit muß heute nicht mehr „gemacht" werden, es gibt sie. (Mehrfachnennungen möglich.) 13.
Welche Voraussetzungen bzw. Zielvorstellungen müssen erfüllt sein, damit Öffentlichkeit und öffentliche Meinung weiterhin ihre Aufgabe übernehmen können? Beschreiben Sie in Stichworten die folgenden Konzepte, und ordnen Sie sie den im Text erwähnten Autoren zu! a) „Kritische Publizität und interne Öffentlichkeit"
81
Studieneinheit 2
b) „öffentliche Neugier"
c) „Aktive und passive Öffentlichkeit"
l\i
Literaturverzeichnis
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Altmann, Rüdiger: Späte Nachrichten vom Staat. In: Franz Nuscheler/Winfried Steffani (Hrsg.): Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen. München 1972, S. 1 3 3 - 1 3 9
Dahrendorf, Ralf (2): Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt. München 1975
82
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
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Luhmann, Niklas (1): Öffentliche Meinung. In: Niklas Luhmann: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Opladen 1971, S. 9 - 3 4 ; auch in: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 27-54 Luhmann, Niklas (2): Komplexität und Demokratie. In: Niklas Luhmann: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Opladen 1971, S. 3 5 - 4 5 Luhmann, Niklas (3): Soziologische Aufklärung. In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Soziologie sozialer Systeme. Band 1, 3. Aufl. Opladen 1972, S. 66-91 Marcuse, Herbert: Pluralismus im Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat. In: Franz Nuscheler/Winfried Steffani (Hrsg.): Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen. München 1972, S. 224-227 Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. 5. Aufl. Berlin 1972 Maunz, Theodor: Deutsches Staatsrecht. 17. Aufl. München 1969 Maunz, Theodor/Dürig, Günter/Herzog, Roman: Grundgesetz. Kommentar. Band 1, München 1970 Münch, Ingo von: Grundgesetz. Band 1, Frankfurt am Main 1974 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1972 Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. In: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz (Hrsg.): Publizistik. Frankfurt am Main 1971, S. 210-216 (= Das Fischer Lexikon 9) Richter, Rolf: Kommunikationsfreiheit = Verlegerfreiheit? Zur Kommunikationspolitik der Zeitungsverleger in der Bundesrepublik Deutschland 19451969. München 1973 Ronneberger, Franz: Die politischen Funktionen der Massenkommunikation. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 193-205. Scharpf, Fritz: Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung. Konstanz 1970 Schelsky, Helmut: Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? In: Helmut Schelsky: Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung. 3. Aufl. München 1973, S. 4 7 - 8 2 Sontheimer, Kurt: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. München 1971 Steffani, Winfried: Einleitung. In: Franz Nuscheier/ Winfried Steffani (Hrsg.): Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen. München 1972, S. 9—48 Windsheimer, Hans: Die Information als Interpretationsgrundlage für die subjektiven öffentlichen Rechte des Art. 5 Abs. 1 GG. Berlin 1968 Wolff, Robert Paul: Jenseits der Toleranz. In: Franz Nuscheler/Winfried Steffani (Hrsg.): Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen. München 1972, S. 215-223 83
Studieneinheit 2
Literaturhinweise zum weiteren Studium
Fraenkel, Ernst/Bracher,
Staat und Politik. Frankfurt am Main 1969
Karl-Dietrich (Hrsg.)
(= Das Fischer L e x i k o n 2); 414 Seiten (Knappe und durchweg fundierte Erläuterungen zu wichtigen Begriffen der Politik. A u c h als Nachschlagewerk geeignet.)
Gudrich, Hannelore/Fett, Stefan
Die pluralistische Gesellschaftstheorie. Grundpositionen und Kritik. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 1974 (= Urban Taschenbuch 863); 127 Seiten (Der Band erläutert die neopluralistische Theorie und faßt die Kritik an ihr auf knappem Raum zusammen.)
Habermas, Jürgen
Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 4. A u f l . Neuwied, Berlin: Luchterhand Verlag 1969 (= Politica 4); 310 Seiten (Bisher einzige umfassende und ressortübergreifende Analyse der bürgerlichen Öffentlichkeit. Trotz Kritik, vor allem seitens der Geschichtswissenschaft, ist das Buch von grundlegender Bedeutung. Es zeichnet sich besonders durch eine differenzierte Darstellung der Zusammenhänge zwischen Kommunikation und Gesellschaft sowie seinen Ideenreichtum aus.)
Habermas, Jürgen
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 2. A u f l . Frankfurt am Main 1973 (= edition suhrkamp 623); 196 Seiten. (Mit diesem Buch stellt Habermas seine neueren Gedanken zu einer normativ-kritischen Demokratietheorie vor. Neben der Systemtheorie und der marxistischen Theorie ist dies gegenwärtig wohl der bedeutendste Theorieansatz in der Soziologie.)
Hesse, Konrad
Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 4. A u f l . Karlsruhe: Verlag C.F. Müller 1970; X V I I / 3 1 6 Seiten. (Leicht verständliche Darstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik.)
84
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
Langenbucher, Wolfgang R. (Hrsg.)
Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974 (= Piper Sozialwissenschaft 22); 363 Seiten. (Langenbuchers Sammelband enthält wichtige Aufsätze zur Theorie und Praxis der politischen Kommunikation. Die für den vorliegenden Kurs grundlegende Einleitung gibt einen Überblick über die einzelnen Beiträge und ihre Bedeutung im Zusammenhang. Besonders wichtig sind die Studien von Luhmann und Dahrendorf zum Problem Öffentlichkeit und öffentliche Meinung.)
Nuscheier, Franz/Steffani, Winfried
Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen. München 1972 (= Piper Sozialwissenschaft 13);
(Hrsg.)
345 Seiten. (Der Reader bringt Beiträge zu den verschiedensten Ansätzen pluralistischer Theorien. Auch die Gegenpositionen kommen zu Wort.)
1. b) Weitere Möglichkeiten der Information und Artikulation sind: o Besuch von politischen Fortbildungsprogrammen o Gespräche mit Abgeordneten o
2.
Übernahme von Ämtern und Aufgaben innerhalb von Organisationen
Eine Begründung Ihrer Antwort könnte aussehen wie folgt: o Wenn Sie mit „ J a " geantwortet haben: Im eigenen Lebensbereich, z.B. im Gemeindeviertel kann ich u.a. durch die unter 1 a) und 1 b) genannten Möglichkeiten, d.h. durch Eigeninitiative, Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen.
85
Studieneinheit 2
o Wenn Sie mit „Nein" geantwortet haben: Ich informiere mich, nehme auch Möglichkeiten der Artikulation wahr, habe aber keinen Einfluß auf die politischen Entscheidungen, weil „die da oben" sowieso machen, was sie wollen. 3.
Legitimation der Herrschaft durch das Volk.
4. a) Kommunikative Grundordnung oder Kommunikationsordnung oder Kommunikations(grund) rechte. b) Artikel 5 c) Artikel 5 garantiert im einzelnen: o Meinungsfreiheit o Informationsfreiheit o Medienfreiheit d) Artikel 8: Versammlungsfreiheit Artikel 9: Vereinigungsfreiheit Artikel 17: Petitionsrecht 5.
Unserer Verfassung liegt das pluralistische Demokratiemodell zugrunde.
6.
Vergleichen Sie bitte Ihre Antwort mit der Tabelle auf Seite 61 !
7.
Die verschiedenen Positionen finden sich auf Seite 62—64.
8.
Ein politischer Kommunikationsprozeß in einer pluralistischen Gesellschaft ist notwendig, weil o es viele verschiedene Meinungen und Interessen gibt; o Konflikte geregelt werden müssen; o ständig Lösungen gefunden werden müssen; o jeder Bürger die Möglichkeit zur Teilhabe am Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung haben muß; o die politischen Repräsentanten einer öffentlichen Kontrolle unterliegen müssen.
9.
Politische Öffentlichkeit in einem demokratischen Staat heißt: o Alle politischen Prozesse und Entscheidungen sollen prinzipiell transparent sein. o Politische Öffentlichkeit bietet die gleiche Chance für jeden, am Prozeß der Meinungs- und Willensbildung teilzunehmen. o Politische Öffentlichkeit gibt Gelegenheit, die Regierenden zu kritisieren und zu kontrollieren.
86
Normative Konzeptionen von politischer Öffentlichkeit
10.
Beispiele öffentl icher Auseinandersetzungen sind : o Diskussion um den Bau von Atomkraftwerken o Diskussion um die Ostverträge °
Diskussion über die Lehrlingsausbildung
o Diskussion über das Mieterschutzgesetz o Diskussion um die Bildungspolitik o Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch 11.
Aufgabe der öffentlichen Meinung nach Luhmann ist die Aufbereitung von Themen für die politische Auseinandersetzung.
12.
Die Kennzeichen des Bereichs der Öffentlichkeit nach Habermas sind: o Die organisierten Interessengruppen haben sich des Bereichs der Öffentlichkeit bemächtigt.
o Der Willensbildungsprozeß in den Organisationen bleibt der Öffentlichkeit verborgen.
o Die Diskussion wird vor dem Publikum geführt. 13.
Wir wissen, daß diese Frage schwer zu beantworten ist. Beurteilen Sie, ob sich Ihre Antwort im wesentlichen mit unseren Ausführungen deckt! a) Habermas Habermas stellt ein normatives Modell vor. Staatliche Institutionen wie auch „staatsbe-
zogen agierende gesellschaftliche Mächte" wie Parteien, Verbände, Massenmedien müssen öffentlicher Kritik und Kontrolle unterworfen werden.
Kritische Publizität muß in diesen Organisationen ihren Ausgang nehmen, d.h. in den Organisationen muß eine ungehinderte Kommunikation und öffentliches Räsonnement gestattet sein; der Aufbau sollte demokratisch sein. Interne Öffentlichkeit ermöglicht eine allgemeine Öffentlichkeit, in der die Mitglieder
der Organisationen ihre Erfahrungen und ihr Wissen aus ihren Organisationen austauschen und die offiziellen Stellungnahmen ihrer Organisationen ergänzen können.
Die sich in der allgemeinen Öffentlichkeit bildenden Meinungen können über die Mitglieder wieder in die Organisationen zurückfließen und den Entscheidungsprozeß beeinflussen. b) Von Hentig Es ist notwendig, daß die Bürger von Kind auf zur „öffentlichen Neugier" erzogen werden und mit anderen ständig über ihre Anliegen kommunizieren. Es gilt, immer wieder die Relationen zwischen Regierung und Volk aufzudecken. Alle Bürger müssen sich engagieren, müssen Macht hinterfragen und die Machthaber kritisieren, ihnen „Angst vor der öffentlichen Erregung" machen.
87
c) Dahrendorf Dahrendorf geht davon aus, daß die Öffentlichkeit nicht aus einer Menge gleich motivierter und gleich engagierter Individuen besteht. Er unterscheidet zwischen der passiven Öffentlichkeit „derer, die als Publikum und Wähler sporadisch im politischen Prozeß in Erscheinung treten, aber deren Initiative nicht über eine Frage in der Wahlversammlung, allenfalls eine nominelle Mitgliedschaft in Organisationen hinausreicht", und der aktiven Öffentlichkeit „der regelmäßig und mit eigenen Vorstellungen am politischen Prozeß Teilnehmenden, die Organisationen angehören, Ämter übernehmen und in ihren Reden die Nichtteilnahme der anderen bedauern" (Dahrendorf [1], S. 101 f.). Eine aktive Öffentlichkeit muß für alle Bürger offen sein. Die Stärke und Durchsetzungskraft einer aktiven Öffentlichkeit hängt von der Unterstützung der passiven Öffentlichkeit ab. Die passive Öffentlichkeit muß bereit sein, sich hinreichend zu informieren, an Wahlen, Abstimmungen und kommunikativen Auseinandersetzungen teilzunehmen und sich in besonderen Fällen auch zu Demonstrationen, Kundgebungen und ähnlichen Formen der Willensäußerung mobilisieren zu lassen, um die Arbeit der aktiven Öffentlichkeit auf diese Weise wirkungsvoll zu unterstützen. Die Massenmedien fungieren als Bindeglied zwischen den beiden Öffentlichkeiten.
Studieneinheit 3 Das politische System als Kommunikationssystem Das Parlament im Prozeß der politischen Kommunikation
Nachdem die vorangegangene Studieneinheit die demokratischen Normen behandelt hat, wie sie in den Kontroversen um den Pluralismus- und Öffentlichkeitsbegriff diskutiert und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kodifiziert worden sind, sollen in den folgenden drei Einheiten die Institutionen des politischen Systems in ihrer Funktion als Kommunikationskanäle analysiert werden. I Vorinformation ] Wie ist Gesellschaft zu organisieren, um einerseits dem einzelnen Bürger einen weiten Spielraum individueller Selbstverwirklichung zu ermöglichen, andererseits eine effektive Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme zu garantieren? Mit dieser Frage sind beide Perspektiven angesprochen, von denen die politische Auseinandersetzung ihren Ausgang nimmt: die Sicht des Individuums und die Systemperspektive. Die vorliegende Studieneinheit legt den Schwerpunkt auf den zweiten Aspekt. Dabei wird die theoretische Diskussion, wie sie in den letzten Jahren namentlich von Politikwissenschaftlern geführt wurde, skizzenhaft,nachgezeichnet. A m Beispiel der kybernetischen Steuerungstheorie von Karl W. Deutsch werden die Möglichkeiten und Grenzen systemtheoretischer Betrachtungsweise darzulegen versucht. Die Bedeutung dieses Ansatzes liegt vor allem darin, daß er den Blick auf bisher meist übersehene kommunikative Prozesse in der Politik lenkt. Ausgehend von der Frage, wie die Bedürfnisse der Mitglieder einer Gesellschaft sich in Anforderungen an das politische System umwandeln lassen, wird der Kommunikationsfluß zwischen dem Bürger als Entscheidungsbetroffenem und der politischen Entscheidungsebene untersucht. Als konkretes Beispiel einer Institution des politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses ist im zweiten Teil der Studieneinheit das Parlament herausgegriffen. Wie andere klassische demokratische Institutionen hat auch das Parlament im Laufe der Geschichte seine Funktionen gewandelt. Dieser Wandel soll im einzelnen an den kommunikativen Mechanismen der parlamentarischen Auseinandersetzung und am Selbstverständnis des Deutschen Bundestages gezeigt werden. In den letzten Jahren sind mehrere Reformvorschläge entwickelt worden, die das Verhältnis von Parlament und Öffentlichkeit betreffen. A m Beispiel der Diskussion um den Paragraphen 218 (Schwangerschaftsabbruch) wird abschließend exemplarisch dargestellt, wie die politische Kommunikation im Raum der Öffentlichkeit sowie zwischen Öffentlichkeit und Parlament tatsächlich stattfindet. 89
„Die Redeschlacht" Wie funktioniert politische Kommunikation in der Praxis? A m — erfolglosen — Versuch des Bürgers Apfelmoser, mit „seinem" Abgeordneten in direkten Kontakt zu kommen, wird exemplarisch „Realität" gezeigt: Interessenunterschiede, Abhängigkeitsverhältnisse, Informationsüberfülle, Koordinationsprobleme, Transparenzforderungen und Verschleierungsversuche . . . Dr. Kleinheinz, der Abgeordnete: „Das ist mit euch von der Regierung ja, als ob man gegen Windmühlen läuft. Transparenz der Politik gegenüber der Öffentlichkeit - daß ich nicht lache!" Und der Herr Apfelmoser, was müßte der erst sagen?
Inhalt Teil I: 1.
Das politische System als Kommunikationssystem Was ist Politik? - Ansätze zur Analyse
92
2.
Politik als System
93
2.1
Das mechanische Modell
93
2.2
Das organische Modell
93
2.3
Das kybernetische Modell
93
3.
Information und Rückkopplung - Begriffe und Prinzipien der Kybernetik
94
4.
Politik und Kommunikation — Die kybernetische Systemtheorie von Karl W. Deutsch
95
4.1
Grundbegriffe und Definitionen
95
4.2
Strukturen und Prozesse
96
4.3
Bewertung und Kritik
97
Aufgabe
98
5.
Partizipation kontra Effizienz
5.1
Artikulationsebene
100 100
5.2
Vermittlungsebene
101
5.3
Entscheidungsebene
102
Aufgaben
103
Zusatzinformation: Integration und Konflikt - Grundprinzipien der Politik
105
1.
Politische Integrationsmodelle
105
2.
Politische Konfliktmodelle
106
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Teil II:
Das Parlament im Prozeß der politischen Kommunikation
1.
Parlamentarismus und repräsentative Demokratie
107
1.1
Parlamentarisches Regierungssystem
107
1.2
Repräsentationsprinzip
107
2.
Parlament und Öffentlichkeit
108
2.1
„Schwatzbude" oder „ F o r u m der Nation"?
108
2.2
Kontrolle erfordert Öffentlichkeit
109
2.3
Formen parlamentarischer Kommunikation im Deutschen Bundestag
109
3.
Kommunikative Kontrolle - Die Rolle der Opposition
112
3.1
Ohne Information keine Kontrolle
112
3.2
Opposition und Öffentlichkeit — Zwei Partner in der Kontrolle
113
4.
Das Parlament in der komplexen Demokratie
113
4.1
Strukturwandlungen
113
4.2
Thesen zum Parlamentarismus
114
5.
Kritik am parlamentarischen System
114
5.1
Kritik von „rechts"
115
5.2
Reform als Alternative — Die liberale Parlamentarismuskritik
115
5.3
„ L i n k e " Parlamentarismuskritik
116
6.
Die Debatte um den Abtreibungsparagraphen — Ein Beispiel zum Prozeß der politischen Kommunikation
117
Aufgaben
119
Literaturverzeichnis
121
Literaturhinweise zum weiteren Studium
122
Lösungen
124
91
Studieneinheit 3
Teil I Das politische System als Kommunikationssystem In den Sozialwissenschaften hat sich in den vergange-
1.
Was ist Politik? — Ansätze zur Analyse
nen Jahren immer stärker eine Betrachtungsweise durchgesetzt, die vom Begriff des Systems ausgeht. Die Systemtheoretiker wollen die Fülle der gesellschaftlichen Erscheinungen mit einem hohen Ab-
Was ist Politik? Auf diese Frage fallen uns verschiedene Antworten aus unserem eigenen Erfahrungsbereich ein: Man mag etwa an die Folgen politischer Entscheidungen für den einzelnen denken, an die Auswirkungen von Steuerreformen und Tarifabschlüssen, von Geschwindigkeitsbegrenzungen und Wehrpflichtgesetzen. Oder an jene Personen, die Abend für Abend in den Nachrichtensendungen von Hörfunk und Fernsehen zitiert und präsentiert werden, an die sogenannten Spitzenpolitiker, die Politik als Beruf betreiben. Oder an politische Institutionen, an Regierungen und Parlamente, wo die politischen Entscheidungen fallen, an Parteien und Verbände, die die Willensäußerungen ihrer Mitglieder bzw. ihrer Wähler weitergeben. Oder an die eigenen Möglichkeiten, selbst politisch aktiv zu werden . . .
straktionsgrad und Generalisierungsanspruch unter einer einheitlichen Perspektive erfassen. Dieser Ansatz stellt einen Versuch dar, den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, die sich seit der technisch-wissenschaftlichen Revolution im 19. Jahrhundert immer mehr spezialisiert hatten, ein — jedenfalls partiell — gemeinsames analytisches Konzept an die Hand zu geben, das sowohl Erklärung als auch Voraussage ermöglicht. Die moderne Systemtheorie will so der wachsenden Komplexität und Varietät des politischen und gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart gerecht werden. Wir können hier keinen Überblick über die allgemeinen Prämissen der Systemtheorie oder über ihre verschiedenen Ausprägungen geben, sondern wollen einen bestimmten Ansatz vorstellen, der sowohl die dynamisch-prozessualen als auch die statisch-institu-
Auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit
tionellen Elemente der Politik unter dem zentralen
Politik wird die Frage nach ihrem „Wesen" — je nach
Aspekt der Kommunikation
den eingebrachten Voraussetzungen und Zielvorstellungen - unterschiedlich beantwortet. Während einige Theoretiker den Begriff des Politischen unter dem Aspekt der Macht bestimmen, von den Trägern des politischen Prozesses und von den Mitteln der Beeinflussung her, gehen andere von den politischen Institutionen und Herrschaftsformationen
aus. In der
Fülle der Ansätze lassen sich zwei Grundrichtungen unterscheiden: Integrationsmodelle
und
Konflikt-
modelle. Während die Integrations- bzw. Ordnungsmodelle das gemeinsame Interesse aller Bürger, den Konsens, das Gemeinwohl betonen und häufig eher
betrachtet.
Den Anspruch eines komplexen theoretischen Ansatzes, der sowohl Machtstrukturen als auch kulturell geprägte Werthaltungen als auch Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit der politischen Kommunikationskanäle berücksichtigt, hat Bernhard Badura formuliert: „Was in einer Gesellschaft .möglich' und was ,nicht möglich' ist, folgt nicht nur aus der für sie typischen Verteilung von Macht, sondern auch aus den herrschenden Prioritäten und aus der Struktur und Effektivität etablierter Kommunikationsnetze" (Badura, S. 9).
statisch-institutionell orientiert sind, heben die Kon-
Gemäß der Forderung, die Strukturierungen von
fliktmodelle die Widersprüche und die Divergenz der
Macht, Kultur und Kommunikation in ihren Interde-
Interessen innerhalb der Gesellschaft hervor. (Zur
pendenzen zu begreifen, wird im folgenden versucht,
näheren Bestimmung dieser Grundpositionen siehe
jene Institutionen und Organisationen zu analysieren,
die Zusatzinformation auf Seite 105—106 dieser
die politische Artikulation und politische Information
Studieneinheit.)
ermöglichen. Doch vor der Anwendung system- und
92
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
kommunikationstheoretischer Kategorien auf die poli-
änderliche Natur des Menschen, und beide entwik-
tische Wirklichkeit pluralistisch-parlamentarischer
keln aufgrund dieser Prämisse — in je verschiedener
Demokratien ist es zunächst notwendig, das analyti-
Weise — „allgemeingültige" Regeln für die Politik,
sche Instrumentarium im Zusammenhang zu erläu-
ohne die historisch jeweils unterschiedliche ökonomi-
tern.
sche und soziale Situation zu berücksichtigen.
2.2 Das organische Modell 2.
Politik als System Das klassische Modell des Organismus, das sich mit
In verschiedenen Wissenschaftsgebieten hat der Sy-
der Entwicklung der Biologie im vergangenen Jahr-
stemansatz bereits eine lange Tradition; ja, im weite-
hundert immer stärker durchsetzte, betont demgegen-
sten Sinne verstanden — als systematischer Zugriff
über die Priorität des Ganzen vor den Teilen. Organi-
auf die Wirklichkeit - , charakterisiert er wissenschaft-
sche Systeme sind offen, d.h. es gibt Wechselwirkun-
liche Betätigung überhaupt. Schon in der Philosophie
gen zwischen dem System und seiner Umwelt; die
des Altertums wurde nach einem systematischen Er-
Elemente und Beziehungen organischer Systeme sind
klärungsmodell für Mensch und Kosmos gesucht. Die
— in begrenztem Maße — auch zum Wandel fähig. Die
theologischen Lehrgebäude des Mittelalters sind hier
Möglichkeit der Entwicklung wird allerdings stark
ebenso zu nennen wie die naturwissenschaftlichen
reduziert gesehen; mit dem Zustand einer mehr oder
Systembildungen der Neuzeit.
weniger vage vorgestellten „Reife" gilt sie als abgeschlossen.
Das menschliche Denken orientiert sich vorwiegend an Modellen, die von einem Gegenstand der unmittel-
Organizistische Interpretationsversuche der Politik
baren Erfahrung abgeleitet sind. Zwei Varianten haben
und der Gesellschaft waren besonders im vorigen und
in der Geschichte eine besondere Rolle gespielt: das
zu Beginn unseres Jahrhunderts verbreitet. Termino-
mechanische und das organische Systemmodell.
logisch lassen sich ihre Auswirkungen in verdünnter Form bis heute in Begriffen wie „politisches Leben", „politische Reife" usw. nachweisen.
2.1
Das mechanische Modell
Das klassische Modell des Mechanismus, das in der
2.3 Das kybernetische Modell
Entwicklung des Uhrwerks seit dem 13. Jahrhundert sein technisches Gegenstück fand, „beruhte auf der
Neue Anstöße für die politikwissenschaftliche Theorie-
Idee eines Ganzen, das mit der Summe seiner Teile
bildung erfolgten durch die Entwicklung der Nach-
vollkommen identisch ist, das auch im umgekehrten
richtentechnik, die sich zunehmend mit sich selbst
Sinne ablaufen kann und sich stets gleichartig verhält,
steuernden Vorgängen beschäftigte. Norbert Wiener,
unabhängig davon, wie oft man es in seine Teile zer-
der der neuen Wissenschaft von den Steuern ngsvor-
legt und wieder zusammensetzt, unabhängig auch von
gängen den Namen Kybernetik (abgeleitet von dem
der Reihenfolge, in der Zerlegung und Zusammenset-
griechischen Wort „kybernetes" = Steuermann) gege-
zung vor sich gehen" (Deutsch, S. 66). Ein mechani-
ben hat, weist selbst schon auf die Bedeutung dieses
sches System ist in sich geschlossen, statisch, sein Be-
Ansatzes auch für die Sozialwissenschaften hin:
wegungsablauf nach physikalischen Gesetzen determiniert. Der Gedanke an eine Abhängigkeit von Umwelteinflüssen, an Wachstum und Wandel wird nicht diskutiert.
^ ^
„Die Existenzberechtigung der Sozialwissenschaft liegt in ihrer Fähigkeit, soziale Gruppen nicht einfach als strukturlose Haufen, sondern als Organisationen zu verstehen. Kommunika-
In der politischen Dogmengeschichte haben solche
tion ist der Kitt, der Organisationen zusammen-
Vorstellungen z.B. auf die Gesellschaftstheorien von
hält. Kommunikation allein befähigt eine
Machiavelli und Hobbes eingewirkt: Beide berufen
Gruppe, zusammen zu denken, zusammen
sich auf anthropologische Konstanten, auf die unver-
zu sehen und zusammen zu handeln.
93
Studieneinheit 3
Was für die Einheit einer Gruppe von Men-
Ein anderes Beispiel für einen Regelungsprozeß liefert
schen gilt, das gilt ebenso für die Ganzheit des
der Thermostat, der eine bestimmte Raumtemperatur
individuellen Menschen. Die verschiedenen Ele-
aufrechterhalten soll:
mente, aus denen die Persönlichkeit sich jeweils zusammensetzt, stehen untereinander in ständiger Kommunikation und beeinflussen sich gegenseitig durch Steuerungsmechanismen, die ihrerseits wieder eine Art von Kommunikation darstellen" (zitiert nach Deutsch, S. 127). Die Kybernetik geht hier also davon aus, daß Organisationen durch Kommunikation
zusammengehalten
werden. Als erster hat der amerikanische Sozialwissenschaftler Karl W. Deutsch den kybernetischen Ansatz
„Der,Kapitän' sind wir selbst, indem wir den SOLL-Wert angeben, in diesem Falle also die gewünschte Temperatur einstellen. Der,Lotse' ist der Thermostat; er vergleicht den IST-Wert mit dem SOLL-Wert und gibt dem »Steuermann', in diesem Falle einem Schalter, die entsprechenden Anweisungen: Wärmezufuhr steigern oder Wärmezufuhr drosseln. Daß das Heizgerät selbst nichts anderes darstellt als eine Art von .Ruderern', ist selbstverständlich" (Cube [2], S. 25).
konsequent auf die Politik angewandt. Bevor wir uns
Während bei dem Beispiel aus der Seefahrt der Regel-
näher mit seiner Theorie befassen, ist es nötig, einige
vorgang noch von Menschen betrieben wurde, erfolgt
Grundbegriffe der Kybernetik, die bisher schon in
er beim Thermostaten bereits automatisch.
vielen Einzelwissenschaften von der Medizin bis zur Pädagogik Einzug gehalten haben, zusammenfassend
Verallgemeinert und in die Sprache der Kybernetik
zu erläutern.
übertragen, stellt sich das Prinzip des Regelkreises so dar:
3.
Information und Rückkopplung — Begriffe und Prinzipien der Kybernetik
Das Grundprinzip der Kybernetik, das Prinzip der Regelung bzw. Rückkopplung, läßt sich am klarsten an einem Beispiel erläutern. Wir folgen dabei Helmar Frank, der die Funktionsweise der Regelung mit einem Schiff verglichen hat, das auf einen bestimmten Hafen zusteuert. Vier Instanzen und Informationen sind bei diesem Vorgang wichtig: 1. der Kapitän, der das Ziel festsetzt (Soll-Wert); 2. der Lotse, der die gegenwärtige Position (Ist-Zustand) ermittelt, mit dem Soll-Wert, der in seinem Gedächtnis „gespeichert" ist, vergleicht und daraus Anweisungen für die Steuerleute ableitet; 3. der Steuermann, der die Befehle des Lotsen umsetzt; 4. das Antriebssystem (Ruderer bzw. Motor), das die physikalische Arbeit leistet und dessen Steuerung die angestrebte Veränderung der Situation bewirkt. Da der Kurs des Schiffes vom Wechsel der Windrichtung und der Wasserströmung beeinflußt wird, muß sich der beschriebene Vorgang ständig wiederholen. Der Lotse vergleicht also immer von neuem Ist- und Soll-Wert und gibt die daraus resultierenden Informationen über das Steuersystem an das Antriebssystem weiter.
94
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Kybernetische Systeme unterliegen also dem Prinzip
bleibt. Deutsch versteht Politik als Kooperation und
der Kreiskausalität, d.h. Ergebnisse wirken zurück auf
Konflikt von sich teilweise selbst regelnden Gruppen.
die Ausgangsursachen. Dieser Vorgang wird auch mit
Begriffe, die in traditionellen politikwissenschaftli-
dem Begriff Rückkopplung (Feedback) bezeichnet.
chen Konzepten eine wichtige Rolle spielen (wie etwa
Ein spezieller Fall ist die Regelung, bei der durch
der Macht-Begriff) werden kommunikationstheore-
kompensatorische Rückkopplung ein gleichbleibender
tisch uminterpretiert und zusammen mit anderen
Soll-Wert (Regelgröße) aufrechterhalten wird.
Termini — besonders aus dem Bereich der Psycholo-
Regelung ist angewiesen auf Information. Während umgangssprachlich unter Information im allgemeinen eine übermittelte Nachricht mit sachhaltiger Bedeu-
gie — in das kybernetische Modell integriert. Die folgende Zusammenstellung soll eine Übersicht über das Begriffsinstrumentarium von Deutsch ermöglichen.
tung verstanden wird, ist im Sprachgebrauch der Kybernetik damit nur das Meßbare oder Abzählbare an der Nachricht gemeint. Die Information macht so-
4.1 Grundbegriffe und Definitionen
zusagen das Kapital des kybernetischen Systems aus: „Sie berichtet über die Ereignisse, mit ihrer Hilfe werden die Reaktionen, die durch die zurückgeflossenen Informationen notwendig geworden sind, ausgelöst. Das kybernetische System j e b t ' also von der Anzahl und Dauer der Nachrichten; seine Eigenart ist durch die Zahl und Anordnung der Informationswege, die Schnelligkeit und Exaktheit des Informationsflus-
Kommunikation „Durch Kommunikation, das heißt durch die Fähigkeit, Nachrichten zu übermitteln und auf sie zu reagieren, entstehen Organisationen; diese Feststellung trifft anscheinend gleichermaßen auf die Organisation der lebenden Zellen im menschlichen Körper wie auf die
ses bestimmt" (Narr, S. 102).
Organisation der Einzelteile in einer elektronischen
Entscheidend für die Funktionstüchtigkeit eines kyber-
kender menschlicher Wesen in einer sozialen Gruppe
netischen Systems ist seine Lernfähigkeit, d.h. seine
zu" (S. 128).
Rechenmaschine wie auch auf die Organisation den-
Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten. Als Lernen wird eine Verhaltensänderung verstanden, die das System an neue Umweltsituationen anpaßt. Es ändert sich die Struktur des Systems. Oder aber das System bewirkt eine Veränderung der Umwelt.
Information „Information . . . ist, was von der Fernsprech- und Fernsehtechnik übertragen werden kann: nicht Ereignisse an sich, sondern ein Beziehungsmuster zwischen Ereignissen" (S. 136).
Rückkopplung 4.
Politik und Kommunikation — Die kybernetische Systemtheorie von Karl W. Deutsch
Rückkopplung bezeichnet „ein Kommunikationsnetzwerk, das auf eine Informationseingabe mit einer Tätigkeit reagiert, deren Ergebnis als Teil einer neuen Information auf das weitere Verhalten des Systems selbst
Aus der Perspektive der Kybernetik ist Kommunikation zentral für ein politisches System. Das hat besonders Karl W. Deutsch in seinem 1963 erschienenen Werk „The Nerves of Government" herausgestellt. (Die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Politische Kybernetik".) Die Gesellschaft wird hier als lernfähiges Regelungssystem gesehen, aus dem sich die Politik als spezielles Subsystem ausdifferenziert hat, das jedoch mit den übrigen gesellschaftlichen Subsystemen verbunden
zurückwirkt"
(S. 142).
Lernen „Eine innere Neuordnung, die zur Erreichung eines Zieles in der Außenwelt weiter beiträgt, können wir alsein .Lernen' bezeichnen. Eine innere Neuordnung jedoch, welche die zielstrebige Leistung des Netzes verringert, gehört in den Bereich der Pathologie des Lernens; ihr Endergebnis ist Selbstfrustration und Selbstzerstörung" (S. 147). 95
Studieneinheit 3
Speicherung „Zu den wichtigsten inneren Kommunikationsmustern, Kanälen und Präferenzen, die jede Organisation zusammenhalten, gehören die Regelkreise, deren Bahnen teilweise in Speicheranlagen verlaufen. Speicheranlagen sind alle Arten von Anlagen, die Daten über die Vergangenheit aufbewahren und zur Entnahme und Anwendung in neuen Kombinationen oder Handlungsweisen bereithalten" (S. 283). Macht „Als Macht verstehen w i r . . . das Ausmaß, in dem eine Person oder Organisation nachhaltig und erfolgreich ihrem Charakter oder Wesen gemäß handeln kann. Anders ausgedrückt: als Macht verstehen wir die Fähigkeit einer Person oder Organisation, ihrer Umwelt die Extrapolation oder Projektion ihrer inneren Struktur aufzuzwingen. In einfacheren Worten heißt das: Macht besteht darin, daß man nicht nachgeben muß, sondern die Umwelt oder eine andere Person zum Nachgeben zwingen kann. Macht in diesem engeren Sinn bedeutet Priorität der Leistung (output) gegenüber der Empfänglichkeit (intake), bedeutet die Möglichkeit, zu reden anstatt zuzuhören. Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen" (S. 171).
4.2 Strukturen und Prozesse Nachdem zunächst allgemeine kybernetische Grundbegriffe angeführt wurden, ist bei der zuletzt genannten Definition der Unterschied zu traditionellen politikwissenschaftlichen Ansätzen besonders deutlich: Macht wird nicht statisch gesehen, als Substanz, etwa als Bündel materieller, sozialer und psychischer Faktoren wie Bevölkerungsgröße, geographische Lage, Nationalcharakter, landwirtschaftliche Nutzfläche, Rohstoffvorkommen, Rüstungsstand und industrielle Kapazität; Macht wird vielmehr dynamisch betrachtet, als „Zahlungsmittel" in den Tauschbeziehungen zwischen dem politischen System und den anderen Teilen der Gesellschaft. Deutsch vergleicht etwa die Regierung eines Staates mit einer Bank: „Eine Bank verleiht häufig Kapitalsummen, deren Gesamtbetrag um ein Mehrfaches die bei ihr hinterlegten Einzahlungen übersteigt, und sie kann dies tun, weil sie sich darauf verläßt, daß nicht 96
alle ihre Kunden ihre gesamten Einlagen zu ein und derselben Zeit zurückfordern werden. In ganz ähnlicher Weise kann eine Regierung viele bindende Entscheidungen, Verordnungen und Gesetze erlassen, obwohl sie diese unmöglich durchsetzen könnte, wenn alle Leute plötzlich und zur gleichen Zeit sich widersetzten." Physische Gewalt, mit der sich Gehorsam erzwingen läßt, ist dabei „die primitivste Art von politischer .Zahlungsfähigkeit' " (Deutsch, S. 183, 185). In Anlehnung an den Soziologen Talcott Parsons sieht Deutsch alle politischen Prozesse als Tauschbeziehungen, d.h. letztlich wieder als Informations- und Kommunikationsbeziehungen. Die Masse der Bevölkerung tauscht ihre Unterstützung der Regierung gegen rechtlichen Schutz, gegen Bürger- und Niederlassungsrechte. Ein anderes Beispiel: Das politische System bezieht aus dem Wirtschaftssystem einerseits Steuergelder, andererseits Produktionsfaktoren wie etwa Fachkenntnisse. Es garantiert dem Wirtschaftssystem dafür den Schutz der Eigentumsverhältnisse, des Vertrags- und Kreditwesens usw. Deutsch hofft, daß dieses - bei ihm nur ansatzweise skizzierte — Modell der Tauschbeziehungen ausgebaut, schließlich auch quantifiziert und für Voraussagen fruchtbar gemacht werden kann. Aus der Sicht der Kybernetik bildet das politische System ein Kommunikationsnetz mit Rückkopplungsmechanismen, das wie alle selbststeuernden Netzwerke drei Grundelemente besitzt: Empfangsorgane, Wirkungsorgane und Regelkreise. Was im folgenden Zitat für eine Gesellschaft als Ganzes postuliert wird, gilt auch für das politische System: ^ ^ „Eine Gesellschaft, die sich selbst steuern soll, muß in voller Stärke fortlaufend einen dreifachen Informationsfluß empfangen: Informationen über die Außenwelt; Informationen aus der Vergangenheit, wobei der Bereich der Entnahme und Neuordnung von Erinnerungen sehr weit gespannt sein muß; Informationen über sich selbst und alle Einzelteile. Wenn einer dieser drei Ströme längere Zeit unterbrochen bleibt, etwa durch Unterdrückung oder Geheimhaltung, wird die Gesellschaft zu einem Automaten, einer wandelnden Leiche, sie verliert die Kontrolle über ihr eigenes Verhalten, und zwar nicht nur in einzelnen Teilen, sondern schließlich und gerade auch an ihrer Spitze" (Deutsch, S. 193).
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Als wichtigstes Kriterium für das Funktionieren
schiedlichen Erkenntnisbereiche ordnen sich der ge-
eines Systems gilt die Lernfähigkeit.
meinsamen Sicht unter.
Darunter werden
die Möglichkeiten interner Strukturänderungen verstanden, durch die das System auf von außen kommende Reize antworten kann. Die Lernfähigkeit einer Organisation ist davon abhängig, „wie viele neue Kombinationen aus menschlichen Kenntnissen, Arbeitskräften und materiellen Anlagen in ihrem Innern zur Verfügung stehen" (Deutsch, S. 235). Die Vielfalt solcher Kombinationsmöglichkeiten wächst mit der Anzahl und Spezialisierung der Anlagen zur Informationsverarbeitung und zur Informationsspeicherung. Der Grad der Lernfähigkeit eines Entscheidungssystems bestimmt also seine Leistungs- und seine Lebensfähigkeit. Jedes soziale System muß, um zu überleben, die Informationen aus der Umwelt adäquat, d.h. zu-
Im Abstraktionsgrad und im Generalisierungsanspruch liegt allerdings auch eine Gefahr: Nicht zuletzt durch hohe Abstraktion versuchen sich Theorien wie die dargestellte sowohl vor grundsätzlicher Kritik als auch vor empirisch begründeten Detaileinwänden abzusichern. Neben dieser Immunisierungsstrategie ist auch die Reduktion der Wirklichkeit auf eine begrenzte Zahl von Einzelfaktoren kritisch zu betrachten. Die Fülle der Erscheinungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird durch diese A r t der Systematisierung häufig auf ein Prokrustesbett gezwängt. Nicht ohne Grund bemängelt Wolf-Dieter Narr, daß bei Deutsch durch die Analyse von Informationsvor-
sammen mit den gespeicherten Informationen der Ver-
gängen die Strukturbetrachtung zurückgedrängt, daß
gangenheit und den Informationen über den gegen-
„alle relevanten Begriffe sozusagen in das Wasser der
wärtigen inneren Systemzustand, verarbeiten, um dann
Kommunikationstheorie getaucht und darin in je spe-
entweder die Umwelt den eigenen Bedürfnissen gemäß
zifischer Weise aufgelöst" würden (Narr, S. 104).
zu beeinflussen oder seine Ziele bzw. seine interne
Schließlich wird auch der Anspruch kritisiert, ein
Struktur entsprechend zu ändern. Andernfalls kommt
Modell für alle politischen Phänomene entworfen zu
es zu pathologischem
haben.
Lernen. Pathologisch ist etwa die
Kombination von Wille, verstanden als Wunsch, nicht zu lernen, und Macht, d.h. der Möglichkeit, nicht lernen zu müssen. „Wille und Macht können leicht in selbstzerstörerisches Lernen umschlagen, wenn sie zur Überbewertung der Vergangenheit gegenüber der Zukunft, der in einer begrenzten Umwelt erworbenen Erfahrungen gegenüber der Weite des umgreifenden Universums oder gegenwärtiger Erwartungen gegenüber allen möglichen Überraschungen, Entdeckungen und Veränderungen führen" (Deutsch, S. 329).
Der vielleicht gewichtigste Einwand richtet sich dagegen, daß das Überleben eines Systems zugleich als übergreifendes Ziel unterstellt wird: „System wird geradezu mit Selbsterhaltung identisch" (Narr, S. 176). Bei der Zielannahme des Überlebens liegt der Schwerpunkt auf der Betrachtung der Steuerungsprozesse. Systemanalyse läuft dann primär auf die Regierungsfunktionen zu, etwa die Untersuchung der optimalen Entscheidungsfindung im Gesamtsystem. Es besteht, kurz gesagt, die Gefahr, daß der Output überbewertet, der Input vernachlässigt wird. Diese Kritik führt in eine Diskussion, die sowohl auf
4.3 Bewertung und Kritik Die Bedeutung der hier nur grob skizzierten Theorie liegt darin, daß der Blick auf bisher meist übersehene kommunikative Prozesse in der Politik gelenkt wird.
praktisch-politischer als auch auf theoretisch-wissenschaftlicher Ebene in den letzten Jahren unter dem Stichwort „Partizipation" vehement geführt worden ist und die sich gegen den einseitig betonten Zielwert „Effizienzsteigerung" richtet.
Aus kybernetischer Perspektive wird der Begriff der Kommunikation ausgeweitet vom Austausch zwischen Menschen bzw. Lebewesen auf die Interaktionen innerhalb und zwischen sozialen Systemen und Subsystemen. Durch diesen abstrakten analytischen Ansatz werden Barrieren durchbrochen, die mit der zunehmenden Spezialisierung zwischen den einzelnen Wissenschaftszweigen errichtet worden sind; die unter97
Aufgabe Bevor Sie mit der Bearbeitung des schriftlichen Materials fortfahren, lösen Sie bitte die folgende Aufgabe. Darin wird in Form eines Zahlenrätsels nach einigen wichtigen Begriffen aus dem voranstehenden Text gefragt. Die Bedeutung der gesuchten Wörter ist in der linken Spalte kurz umschrieben. Tragen Sie die Begriffe in die Kästchen der rechten Spalte ein. Die den Zahlen entsprechenden Buchstaben übertragen Sie dann bitte in das anschließend abgedruckte Schema. Bei richtiger Lösung ergibt sich ein Zitat aus dem bereits durchgearbeiteten Text.
Gesucht sind Wörter mit folgender Bedeutung: 1. „Zahlungsmittel" in den Tauschbeziehungen zwischen dem politischen System und den anderen Teilen der Gesellschaft
14 2 10 11 13
2. Voraussetzung für die Stabilität politischer Systeme, Grundbegriff politischer Ordnungsmodelle
4 5 13 6 8 7 2 13 4 18 5
3. Widerstreit politischer Interessengruppen
2418 5 12 9 4 24 13
4. Bereich zwischen Artikulationsund Entscheidungsebene (eingehende Erläuterungen dazu auf Seite 101-102) 5. Wissenschaft von den Kommunikations- und Steuerungsvorgängen
22 6 7 14 4 13 13 9 16 5
3 6 25 6 5 6
24 2025 6 7 5 6 13 4 24
6. Wege der Nachrichtenübermittlung
24 18 14 14 16 5 4 24 2 13 4 18 5 3 24 2 5 23 9 6
7. Amerikanischer Sozialwissenschaftler
17 6 16 13 3 10 11
8. Neuerer sozialwissenschaftlicher Ansatz mit hohem Abstraktionsgrad
3 20 3 13 6 14 13 11 6 18 7 4 6
9. Leistung eines Steuerungssystems 18 16 13 21 16 13
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
10. Prinzip der Kreiskausalität 7 19 10 24 24 18 21 21 9 16 5
11. Wegbereiter der Wissenschaft
8
von den Kommunikations- und Steuerungsvorgängen
14
6 5 6
7
12. Chance zur Teilhabe am Prozeß der politischen Meinungsund Willensbildung
21 2 7 1 3 4 2 6 4 2 1 213 4 1 8 5 3 M15 8 9 41011246 413
13. Steuerungsmodell 7 6 8 6 9 24 7 6 4
14. Meßbarer Teil einer Nachricht,
3
Beziehungsmuster zwischen Ereignissen 4
15. Kriterium für die Funktions-
5 12 18 7 14 2 13 4 18 5
tüchtigkeit eines Steuerungssystems
9 6 7 5 12 2311 4 8 24 6 4 13
Wenn Sie die den Zahlen entsprechenden Buchstaben in die folgenden Kästchen eintragen, ergibt sich ein zentrales Zitat aus dem vorangehenden Text.
1 2
3
4
S
6
7
8
6
6
9
9
3
S
4
10 11 13 14 15 8
9
4
10 11 4
3
13 12 18 9
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12 19 7
S
13 6
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3
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6
13 20 21 4
17 6
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S
2
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S
16 5
4
13 23 13 6
13 2
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16 10 11 2
16 3
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17 2
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24 18 14 14 16 5
25 9
4
6
11 6
7
9
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10 11 16 5
10 11 13 5
4
9
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8
22 18 5
14 2
10 11 13
3
10 11 6
5
17 6
21 7
4
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16 S
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17 6
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12 12 6
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3
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18 7
24 13 4
6
22
13 26 6
Haben Sie das Zahlenrätsel gelöst, so kennen Sie die wichtigsten kybernetischen Grundbegriffe und Prinzipien, die Karl W. Deutsch auf die Analyse des politischen Systems anzuwenden versucht hat. Dieser Versuch blieb nicht unwidersprochen. Rufen Sie sich noch einmal die Kritik ins Gedächtnis, oder lesen Sie diese nach auf Seite 97.
99
Studieneinheit 3
5.
Partizipation kontra Effizienz
Wichtigkeit fallen, die zumindest teilweise auch für andere soziale Systeme — wie etwa Wirtschaft und Wissenschaft — verpflichtend sind. Gesamtgesell-
Wer bestimmt den Soll-Wert politischer Systeme?
schaftliche Problemlösungen werden im politischen
Und wie wird dieser ermittelt? Wie verläuft der Kom-
System vorbereitet, ihre Durchsetzung sichergestellt.
munikationsfluß in unserer Gesellschaft? Den theoretischen Modellen und Forschungskonstrukten sind bisher nur wenige Studien gefolgt, die auf diese Fragen konkrete und detaillierte Antworten geben. Auf den folgenden Seiten wollen wir versuchen, die wichtigsten Elemente des politischen Systems zu bestimmen und die kommunikativen Beziehungen zwischen ihnen dar-
Das Problem der Interessenartikulation ist in pluralistischen Demokratien, formal gesehen, durch eine Reihe von Strukturen gelöst, die zwischen Bürger und Entscheidungsinstanzen vermitteln. Als wichtigste Kommunikationskanäle existieren einerseits die politischen Parteien, die die Interessen ihrer Mitglieder bzw. ihrer
zulegen.
Wähler vertreten, andererseits die Verbände, in denen
Auf einer weniger abstrakten Ebene als in den zuletzt
organisiert sind. Daneben haben sich Ad-hoc-Wege der
vorgestellten politikwissenschaftlichen Theoriegebäuden bewegt sich die Auseinandersetzung mit Demokratie und Demokratisierung heute vorwiegend um die Zielwerte Partizipation auf der einen, Effizienz auf der anderen Seite. Während die einen eher den Input, die in den politischen Prozeß eingehenden Willensäußerungen, betonen, richten die anderen den Blick primär auf die Leistungskapazität politischer Systeme, auf den Output, der sich in verbindlichen Entscheidungen niederschlägt. In allen komplex organisierten Großgesellschaften ist eine weitgehende Trennung von Entscheidungsbeteiligten und Entscheidungsbetroffenen festzustellen (vgl. Badura, S. 40 f.). Die Frage nach der Kommunikation zwischen den Inhabern und den Nichtinhabern von Entscheidungspositionen ist zugleich eine Kernfrage nach der Verfaßtheit eines politischen Systems. *
Wie werden die Wünsche und Bedürfnisse der Mitglieder einer Gesellschaft in Anforderungen an das politische System umgewandelt?
*
Welche Kanäle der Interessenartikulation stehen zur Verfügung?
•
Wie kommen die politischen Entscheidungen zu-
besonders Berufs-, Funktions- und Statusgruppen politischen Artikulation, wie etwa die Bürgerinitiativen, herausgebildet. Die Kommunikation erfolgt sowohl personal und direkt als auch vermittelt durch Massenmedien. Neben dem Kommunikationsfluß zwischen der Artikulationsund der Entscheidungsebene spielen der Austausch auf gleicher Ebene innerhalb des politischen Systems und die Kommunikation mit der „Umwelt", mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, eine wichtige Rolle. Die Zeichnung auf der folgenden Seite versucht, die Kommunikationsstruktur in parlamentarischen Systemen schematisch darzustellen. Eine solche Funktionsbeschreibung bzw. Funktionszuweisung sagt indes noch wenig aus über die tatsächliche Leistungsfähigkeit der angeführten Institutionen. Diese ist besonders daran zu messen, inwieweit die Bedürfnisse der Bürger umgesetzt werden können in Anforderungen an das politische Entscheidungssystem im engeren Sinne. Mehrere Stufen sind bei diesem Transmissionsprozeß zu berücksichtigen: d ie Articulations-, die Vermittlungs- und die Entscheidungsebene.
5.1
Artikulationsebene
stande? •
Auf welchem Wege werden sie den davon Betrof-
In vielen empirischen Untersuchungen wurde nachge-
fenen übermittelt?
wiesen, daß Passivität und Apathie im politischen Be-
Für eine systemtheoretische Analyse wird zunächst die Frage nach den Grenzen des politischen Systems zum Problem. Den Bereich der Politik bestimmt man im allgemeinen durch die dort getroffenen Entscheidungen. Das politische System ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihm Entscheidungen von besonders großer gesellschaftlicher Reichweite und besonderer
100
reich weit verbreitet sind. Bei der Suche nach den Ursachen für die unterschiedliche Beteiligung am politischen Geschehen konnte ein enger Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und politischem Interesse nachgewiesen werden. Mit abnehmendem Status nehmen auch die Chancen zur aktiven Beeinflussung politischer Entscheidungen ab. Motivation, Fähigkeit und Möglichkeit zur Artikulation der eige-
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Artikulationsebene
Entscheidungsebene
Vermittlungsebene
Das politische System ais Kommunikationssystem nen Bedürfnisse hängen eng zusammen mit den individuellen und sozialen Voraussetzungen, wie etwa Macht, Prestige und Bildung. Die Anmeldung von Bedürfnissen hat am ehesten Aussicht auf Erfolg, wenn diese von einer möglichst großen Zahl von Personen geteilt werden. Unter vielfach divergierenden und in Konflikt stehenden Interessen haben individuelle Bedürfnisse kaum Aussicht, wahrgenommen zu werden. Mit der Anzahl der Interessenten erhöht sich die Chance, über die schon genannten Kanäle die Adressaten im politischen Entscheidungssystem zu erreichen.
kurrenz der Parteien untereinander gemildert wird. Wie die anderen politischen Vermittlungsinstitutionen haben auch die Parteien unter anderem folgende Funktionen zu erfüllen: •
Aggregation
•
Selektion
•
Integration
von Interessen und Bedürfnissen in der Gesellschaft
Aggregation Die vielfältigen, häufig konkurrierenden Forderungen aus der Gesellschaft an die politischen Entscheidungsgremien werden in den Parteien registriert und — zum Teil alternativ - zu konkreten Beschlußvorlagen auf-
5.2 Vermittlungsebene Bei der Umsetzung von Anforderungen an das politische System spielen die Parteien in parlamentarischen Demokratien die wichtigste Rolle. Sie präsentieren in den allgemeinen Wahlen die Kandidaten, die von der Bevölkerung per Stimmzettel legitimiert werden sollen. Auf diese Weise haben sie heute faktisch ein Monopol bei der Rekrutierung des politischen Führungspersonals — ein Monopol, das lediglich durch die Kon-
bereitet. Damit ist notwendig ein Auswahlprozeß verbunden. Selektion Die Parteiorganisationen wirken wie ein Filter, den nur ein kleiner Teil von Interessen und Bedürfnissen passiert. Entscheidend für die Beurteilung der Rationalität dieser Auswahlprozesse ist der Grad der parteiinternen Diskussion und Partizipation, kurz: der innerparteilichen Demokratie, wie sie etwa das Grundge-
101
Studieneinheit 3
setz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 21
Nicht zuletzt dieser Defizite wegen sind in den letzten
ausdrücklich verlangt. Diesem Aspekt wird in der fol-
Jahren Ad-hoc-Strukturen
genden Studieneinheit Aufmerksamkeit geschenkt.
ven entstanden. Der Kontrast zu und das Zusammen-
wie etwa die Bürgerinitiati-
spiel mit etablierten Kanälen politischer Kommunikation wird ebenfalls in der Studieneinheit 5 herauszu-
Integration
stellen versucht. Die politischen Parteien sind nicht nur für die Weiterleitung der Meinungen, Wünsche und Ziele ihrer Mit-
Auch die Massenmedien nehmen, indem in ihnen so-
glieder und Wähler, sondern auch — in umgekehrter
wohl Entscheidungsbeteiligte als auch Entscheidungs-
Kommunikationsrichtung — für die Information über
betroffene zu Wort kommen, Mittlerfunktionen wahr.
politische Entscheidungen, wie etwa Gesetze, Ver-
Inwieweit hier die Zugangschancen in unterschiedli-
träge und Verordnungen, zuständig. Indem sie die
chen Politikbereichen asymmetrisch verteilt sind, ist
Beschlüsse der Entscheidungsinstanzen erläutern
eine Frage, die empirisch beantwortet werden muß.
und dafür um Zustimmung (oder Ablehnung) wer-
(Siehe hierzu die Studieneinheiten 6—9.) Normativ
ben, erfüllen sie zugleich eine wichtige Integrations-
wird in den letzten Jahren zunehmend gefordert,
funktion.
daß Journalisten sich gerade jener Bürger annehmen
Innerhalb der gleichen Ebene kommunizieren die Parteien besonders mit den organisierten
Interessen-
gruppen. Zwischen Verbänden und Parteien bestehen teilweise enge Verknüpfungen, und zwar sowohl durch gemeinsame Wert- und Zielvorstellungen als auch durch personelle Überschneidungen in den Führungsgremien und unter den Mitgliedern. Anders als
sollen, die wegen mangelnder kommunikativer Kompetenz ihre Bedürfnisse selbst nicht oder nur unzureichend artikulieren können. Die „aktive Öffentlichk e i t " der Journalisten, Schriftsteller und — weiter gefaßt - der Intellektuellen erfüllt nach diesem Rollenverständnis eine kompensierende Funktion innerhalb des politischen Gesamtsystems.
die Parteien, die „ i n der Organisation unserer Gesellschaft als die maßgeblichen politischen Gruppen eine
Die klassische Vermittlungsinstitution zwischen dem
so dominierende Stellung (halten), daß es nur wenige
Bereich der politischen Meinungs- und Willensbildung
Themen von gesellschaftlicher Relevanz gibt, die
und dem Entscheidungssystem im engeren Sinne ist
nicht in den Gesichtskreis ihrer Observierung und
das Parlament. Welche Funktionen das Parlament
ihres Interesses fallen" (Sontheimer [2], S. 59), be-
innerhalb des politischen Kommunikationsprozesses
schränken sich die Verbände im allgemeinen auf die
erfüllt und wie sich seine Rolle historisch gewandelt
Vertretung spezieller Gruppeninteressen. Damit sind
hat, wird im zweiten Teil dieser Studieneinheit aus-
allerdings immer auch die konträren Interessen ande-
führlich dargestellt.
rer Gruppen direkt berührt (wie in der Studieneinheit 5 an einem konkreten Fallbeispiel gezeigt werden soll).
5.3
Entscheidungsebene
Um im gegenwärtigen Verbandssystem Gruppeninteressen erfolgreich durchsetzen zu können, bedarf es
Auch im Bereich politischer Entscheidungen ist bis-
zweier Voraussetzungen: Sie müssen erstens organi-
her der Kommunikationsfluß nur ansatzweise unter-
sierbar und zweitens konfliktfähig
sucht. Die Interaktionen zwischen Parlament und
sein (vgl. dazu Offe,
S. 167 ff.). Organisierbar sind vor allem spezielle
Regierung, zwischen Regierung und Verwaltung, Ver-
Interessen, die den Betroffenen selbst hinreichend
waltung, Parlament und Justiz sowie innerhalb aller
deutlich und wichtig sind, kaum jedoch allgemeine
dieser Institutionen beeinflussen ähnlich die politi-
Bedürfnisse wie etwa Gesundheit, Umweltschutz,
schen Beschlüsse wie die Kommunikation mit den
Verkehrssicherheit, Bildung usw. Die Konfliktfähig-
betroffenen Bürgern.
keit, d.h. die Chance zur Leistungsverweigerung, ist ungleich verteilt; kleine Funktionseliten haben gegen-
Eine Regierung, die die vitalen Bedürfnisse großer
über viel größeren Gruppen, die nicht unmittelbar im
Bevölkerungsteile unzureichend befriedigt, wird die
Produktionsprozeß stehen (z.B. Hausfrauen, Pensio-
Folgen spätestens bei der nächsten Wahl spüren. Sie
näre, Studenten), überproportional große Veto-
muß ständig über Beweggründe, Inhalte und Folgen
chancen.
ihrer Beschlüsse informieren — schon damit diese
102
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
auch realisiert werden. Ein Politiker in einem demo-
Jede Folgeleistung ist auf vorherige Information an-
kratischen System kann die öffentliche Meinung
gewiesen. Zur Übertragung dienen die gleichen Kanä-
nicht ohne Schaden über längere Zeit ignorieren.
le, die auch die Wünsche und Forderungen der Bürger an die politischen Entscheidungsinstanzen ver-
„Die Auffassung, daß der Erfolg einer be-
mitteln. Welche Bedeutung dieser Art der Informa-
stimmten Politik von dem Grad ihrer öffent-
tion zugemessen wird, zeigt sich unter anderem an
lichen Unterstützung abhängt oder zumindest
der wachsenden Zahl der Presseämter und Pressestel-
von dem Ausmaß, in dem es gelingt, die öf-
len, die sowohl auf der Entscheidungsebene — bei der
fentliche Opposition dagegen zu verringern,
Regierung und in der Verwaltung - als auch bei den
veranlaßt Entscheidungsträger zur Übernahme
Mediatisierungsinstitutionen — bei Parteien und Ver-
der Rolle eines Meinungsmachers, um dadurch
bänden — eingerichtet werden.
ihre späteren Entscheidungen zu erleichtern. Dabei kann es ihnen einfach darauf ankommen, ein .Meinungsklima' zu erzeugen, das für das von ihnen angestrebte Ziel günstig ist. Dies geschieht in der Hoffnung, dadurch die Problemperzeption anderer Entscheidungsträger, die entweder gegen das Projekt oppo-
In dieser Kommunikationsrichtung erfüllen die Mittlerorganisationen primär eine Integrationsfunktion, indem sie Beschlüsse, Gesetze, Verordnungen weitergeben und interpretieren. Neben den Massenmedien ist hier ein we it verzweigtes Netz von persönlichen Kontakten besonders wichtig.
nieren oder von seiner Güte noch nicht endgültig überzeugt sind, zu beeinflussen" (James N. Rosenau; zitiert nach Badura, S. 90).
Aufgaben 1. Der Kommunikationsfluß zwischen Entscheidungsträgern und Entscheidungsbetroffenen im politischen System verläuft über bestimmte Kanäle. Nennen Sie wenigstens drei davon, und tragen Sie sie in das nachfolgende Schema ein:
Vermittlungsebene
103
2. Der wichtigste Maßstab für die Leistungsfähigkeit der von Ihnen genannten Vermittlungsinstitutionen ist aus der Perspektive des Bürgers ihre Fähigkeit, seine Bedürfnisse in Anforderungen an das politische Entscheidungssystem umzusetzen. Untersuchungen haben gezeigt, daß ein enger Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und politischer Apathie besteht. Beschreiben Sie diesen Zusammenhang, und nennen Sie Ursachen dafür!
3. Nennen Sie und charakterisieren Sie kurz die drei wichtigsten Funktionen, die die politischen Parteien mit den anderen Vermittlungsinstitutionen gemeinsam haben.
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Zu Beginn dieser Studieneinheit wurden zwei Grundpositionen zur Analyse politischer Strukturen und Prozesse unterschieden. Wer sich näher darüber informieren möchte, dem sei die Lektüre der folgenden Abschnitte empfohlen.
ZUSATZINFORMATION: Integration und Konflikt — Grundprinzipien der Politik 1. Politische Integrationsmodelle Was bewirkt den Zusammenhalt politischer Systeme? In der Geschichte des politischen Denkens wurde seit Machiavelli und Hobbes — und wird zum Teil heute noch der Faktor Macht als wichtigstes Integrationsmittel angesehen. Viele Theoretiker konstatieren als Eigenart des Politischen, „daß es die jeder Gesellschaft notwendige und für die Gesellschaft einzigartige Bestimmung dessen sei, wie die die Gesellschaft betreffenden Werte bestimmt und verteilt werden. Die .Energie', mit der das geschieht, wird als .Macht' bezeichnet, die Institution, durch welche die Entscheidungen für die Gesellschaft getroffen werden, als jeweils verschieden konstituierte und legitimierte Herrschaft' " (Narr, S. 87; zum folgenden vgl. besonders Beyme, S. 161 ff.). Die zitierte Bestimmung von Wolf-Dieter Narr schließt sich eng an die Definition von Max Weber an, die in der wissenschaftlichen Literatur Schule gemacht hat. Weber definiert in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft" Macht als „jede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht" (Weber, S. 28). Beruhen kann sie auf Autorität, auf Beeinflussung, auf Manipulation, schließlich auf nackter Gewalt. Von der Macht unterscheidet Max Weber die Herrschaft; darunter versteht er die Chance, daß eine Person oder Personengruppe „für einen bestimmten Inhalt bei angebbaren Personen Gehorsam" findet (ebd.). Ausgehend von dieser Unterscheidung läßt sich einerseits eine eher prozessuale, an der Dynamik der Politik — häufig unter dem Aspekt des Machterwerbs — ausgerichtete Betrachtung, andererseits eine eher statisch-institutionell orientierte Sicht feststellen. Im letzten Fall steht die Herrschaftsinstanz im Zentrum. Ausgangs- und Endpunkt der politischen Theorie ist hier — etwa bei den konservativen Staatsrechtlern Carl Schmitt, Ernst Forsthoff und Werner Weber — ein substanzialisierter Sfaaisbegriff, der oft, wiederum nach dem Vorbild Max Webers, vom Monopol legitimen physischen Zwangs her definiert wird. In jüngerer Zeit sind die institutionellen Ansätze, die zum Teil eine normative Herrschaftsformenlehre enthalten, ergänzt worden durch ein Konzept, das d\e politische Kultur eines Landes in den Mittelpunkt stellt. Darunter wird das „System jener expliziten und impliziten Leitvorstellungen, die sich auf die politischen Handlungszusammenhänge beziehen", verstanden (Lehmbruch, S. 13). Das Hauptaugenmerk gilt der Entstehung und dem Zustand aller jener Verhaltensmuster, die den politischen Prozeß beeinflussen. Sowohl kognitive als auch emotionale und wertende Aspekte sind in diesem Konzept enthalten, das sich besonders beim internationalen Vergleich politischer Systeme bewährt hat. Die erwähnten Ansätze, die hier nur skizziert werden konnten, enthalten zwar durchaus dynamische Elemente, sind aber doch letztlich an der Integration, am Konsens, an der Stabilität politischer Systeme orientiert. Darin unterscheiden sie sich grundsätzlich von jenen Theorien der Politik, die im folgenden unter dem Begriff „Konfliktmodelle" subsumiert werden sollen.
105
2. Politische Konfliktmodelle V o n drei großen wissenschaftlichen und ideologischen Richtungen aus werden die in der Geschichte des politischen Denkens dominierenden Gemeinwohl- und Ordnungsmodelle in Frage gestellt: von sozialistischen Theoretikern, die die fundamentalen Gegensätze zwischen gesellschaftlichen Klassen als Bewegungsprinzip der Geschichte ansehen, von liberalen Wissenschaftlern, die den K o n f l i k t zwischen Gruppeninteressen als M o t o r der politischen Auseinandersetzung betrachten, und schließlich v o n konservativ-autoritären Denkern, die v o m Gegensatz zwischen den Eliten und den Massen ausgehen und darin ein Grundprinzip der gesellschaftlichen Entwicklung erblicken. Der Klassenbegriff, den bereits im 18. Jahrhundert die Physiokraten und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Saint-Simon im ökonomisch-sozialen Sinne verwendeten, wurde von Karl M a r x mit neuer Bedeutung gefüllt. Seine Bestimmung der gesellschaftlichen Klassen nach ihrer Stellung im Produktionsprozeß begnügte sich nicht mit einer deskriptiven Bestandsaufnahme des Status quo, sondern mit seiner Klassentheorie wollte er eine Methode zur Analyse epochaler gesellschaftlicher Wandlungsprozesse entwickeln. Die Klassen sind nach M a r x durch den historischen Entwicklungsstand der Produktivkräfte bestimmt. In der industriell-kapitalistischen Gesellschaft besteht nach dieser dichotomischen (zweigeteilten) Schichtungslehre ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen Produktionsmittelbesitzern und Arbeitern, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, herrschender u n d unterdrückter Klasse, Bourgeoisie und Proletariat. Die Klasse der Unterdrückten strebt nach einer Veränderung der sozialen Wirklichkeit — die Geschichte wird somit als Abfolge v o n Klassenkämpfen interpretiert. Erst mit dem Übergang v o m Sozialismus z u m K o m m u n i s m u s ist nach marxistischer Lehre der Klassenkampf beendet. Die politische Theorie läßt sich im eigenen Verständnis nicht v o n der gesellschaftlichen Praxis trennen, sie will Diagnose, Therapie u n d Prognose verbinden. Während die marxistischen und in ihrem Gefolge auch nicht-marxistische Klassentheorien meist auf einem zwei- oder dreigeteilten Schichtungsmodell basieren, gehen diegn/ppenpluralistischen Ansätze v o n einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppierungen mit verschiedenen Interessenschwerpunkten aus. „Regieren ist der Anpassungsprozeß mehrerer Interessengruppen in einer bestimmten unterscheidbaren G r u p p e oder in einem S y s t e m " , so definierte der amerikanische Gruppentheoretiker Arthur Fischer Bentley bereits 1 9 0 8 in seinem B u c h „The Process of G o v e r n m e n t " (zitiert nach Beyme, S. 231). Bentley bezog sich im wesentlichen auf organisierte Gruppen; von seinen Schülern wurden später auch unorganisierte Interessen einbezogen. Die genannten Theorien sind jedoch an Gesellschaften mit großer horizontaler u n d vertikaler Mobilität gebunden, bei starker sozialer Polarisierung versagen sie als analytisches Konzept. Die klassischen £//retheorien, wie sie etwa von Mosca und Pareto entwickelt wurden, gehen ebenfalls auf ein Zweiklassenmodell zurück. Im Gegensatz z u m M a r x i s m u s werden hier allerdings die u m den Machterwerb bzw. die Machterhaltung kämpfenden Eliten z u m eigentlichen M o t o r geschichtlicher Prozesse erklärt. Mitglieder der Elite sind dabei die Inhaber von Führungsrollen, die „nach sozial und politisch relevanten Merkmalen herausgehobene und Spitzenpositionen einnehmende Minderheit einer Gesellschaft" (Hartfiel, S. 146). Typologisch lassen sich Geburts-, Wert-, Funktions- und Machteliten unterscheiden, die historisch eine je verschiedene Stellung eingenommen haben. In der modernen Industriegesellschaft werden die alten Substanzeliten immer stärker durch Leistungseliten abgelöst.
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Teil II Das Parlament im Prozeß der politischen Kommunikation 1.
Parlamentarismus und repräsentative Demokratie
1.2
Repräsentationsprinzip
In pluralistischen Gesellschaften werden die meisten politischen Entscheidungen nicht plebiszitär, d.h. vom
Die institutionellen Zentren politischer Meinungsund Willensbildung lassen sich unter zwei Blickrichtungen betrachten: Z u m einen laufen Kommunikationsprozesse innerhalb ihrer Binnenstruktur ab; daneben gibt es Außenbeziehungen zwischen Artikulations-,
Volk direkt getroffen. Man autorisiert vielmehr Personen oder Instanzen für eine bestimmte Zeit zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Der Staatsbürger läßt sich repräsentieren. Er entscheidet nicht selbst, sondern beauftragt Repräsentanten, an seiner Stelle zu entscheiden.
Vermittlungs- und Entscheidungsebene. Bevor die Funktionen untersucht werden, die das Parlament innerhalb des Meinungs- und Willensbildungsprozesses erfüllt, wollen wir zunächst einige wichtige
Das Repräsentationsprinzip bezeichnet also eine Wechselbeziehung: Der Abgeordnete muß den Erwartungen des Wählers entsprechen; er hat deutlich zu machen, wen er repräsentiert. Der Wähler, der sich
Begriffe klären.
repräsentieren läßt, muß das politische Handeln des Abgeordneten überprüfen können. Daraus ergibt sich
1.1
Parlamentarisches Regierungssystem
Der Begriff Parlamentarismus
wird im weitesten Sinne
gebraucht für repräsentative Regierungssysteme, in denen ein aus freien Wahlen hervorgegangenes Parla-
die Konsequenz: Repräsentation erfordert
Öffentlich-
keit, damit Kontrolle möglich wird. Das Repräsentationsprinzip hat also eine kommunikative
Dimension.
Es macht Kommunikationsprozesse zwischen den Repräsentierenden und den Repräsentierten notwendig.
ment existiert. Diese allgemeine Kennzeichnung t r i f f t
Innerhalb dieser Kommunikationsbeziehung nimmt
für alle modernen Formen der Repräsentativverfassung
das Parlament nicht nur quasi als Rezipient an der
zu, für das präsidentielle Regierungssystem der USA
Meinungsbildung teil, sondern es kommuniziert aktiv.
ebenso wie für die parlamentarischen Regierungssyste-
„Denn es ist gerade seine Aufgabe, die Verbindung
me Großbritanniens oder der Bundesrepublik.
zwischen institutionalisierten und nichtinstitutionali-
Im engeren Sinne wird der Parlamentarismusbegriff gleichbedeutend mit parlamentarischem system
Regierungs-
verwendet. Solche Systeme haben bestimmte
Interaktionsformen im Verhältnis von Regierung und Parlament entwickelt: Zwischen Regierung und Regie-
sierten Formen und Vorformen politischer Meinungsund Willensbildung herzustellen sowie selbst Meinungen zu äußern und durch die Provokation von Anteilnahme, Zustimmung oder Kritik willensmobilisierend und integrierend zu wirken" (Oberreuter [ 2 ] , S. 7).
rungsparteien) besteht ein enges Wechselverhältnis. Ihnen steht die Oppositionspartei gegenüber, auf die faktisch die Oppositionsfunktion des Gesamtparlaments übergegangen ist. Ein weiteres Merkmal eines solchen Systems ist die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament.
107
Studieneinheit 3
2.
Parlament und Öffentlichkeit
Die Freiheit öffentlicher Diskussion wird als der wirksamste Schutz gegen politische Willkür angesehen — sie stellt kommunikative Kontrolle von Macht dar.
Parlament und Öffentlichkeit befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis, das durch ständige wechselseitige Information in Balance bleibt. Einerseits erwartet die Öffentlichkeit, daß das Parlament auf ihre For-
In dieses Konzept ist das freie politische Mandat des Abgeordneten eingepaßt, der nach dem Grundgesetz an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen verpflichtet ist.
derungen eingeht, andererseits braucht das Parlament Aufmerksamkeit und Achtung für seine Arbeit. Der Grad der Kommunikation zwischen Parlament und
Parlament und Parteiendemokratie
Öffentlichkeit bestimmt, inwieweit die gegenseitigen Forderungen erfüllt werden können. „Ohne Frage ist das entscheidende Merkmal des Parlaments in einer freiheitlichen repräsentativen Demokratie ein gut funktionierendes Verhältnis zur Öffentlichkeit. Aus ihm gewinnt es die Autorität für die Wahrnehmung seiner anderen Funktionen, und in ihm liegt die Voraussetzung der ständigen demokratischen Legitimierung eines parlamentarischen Systems. Denn es bestehen enge Zusammenhänge zwischen der politischen Potenz eines Volkes und der Transparenz seiner politischen Ordnung, aus der erst die Möglichkeit der Partizipation erwächst" (Oberreuter [1 ] , S. 3).
Die Entwicklung von der liberal-repräsentativen zur parteienstaatlichen
Demokratie veränderte vor allem
auch die Rolle des Abgeordneten, der nun nicht mehr „ f r e i " und ungebunden in die parlamentarische Diskussion gehen kann, sondern sich als Vertreter seiner Partei einem Programm verpflichtet fühlen muß. Die Parlamentarismuskritik hat den Funktionszuwachs der Parteien — orientiert an der Fiktion des klassischen Parlamentarismus — verurteilt. Daher wurden parlamentarische Erscheinungsformen des 19. Jahrhunderts häufig auf eine Weise idealisiert, die eine Einordnung der Parteien als notwendige Strukturen für den Meinungs- und Willensbildungsprozeß teilweise unmöglich machen. Im modernen Parteienstaat hat sich das Zusammen-
2.1 „Schwatzbude" oder „Forum der Nation"?
spiel von öffentlicher Meinung, Wählerschaft, Parlament und Regierung gewandelt. Der Staats- und Verfassungsrechtler Gerhard Leibholz beschreibt den
Die Diskussion über das parlamentarische System,
Strukturwandel des parlamentarischen Systems so:
die Kritik an seinen theoretischen Grundannahmen wie an seinen konkreten Strukturwandlungen in der
•
Zum Wesen des modernen demokratischen
modernen Massendemokratie ist so vielfältig und
Parteienstaates gehört die Mediatisierung des
breit gefächert, daß hier nur eine Auswahl von Pro-
Volkes durch die Parteien.
blemen aufgegriffen und behandelt werden kann.
•
Die Diskussion im Parlament verliert ihren schöpferischen Charakter und wird mehr und mehr zu
Die liberale Idee vom Diskussionsforum
einer Debatte, in der die von der Partei oder Fraktion festgelegten Reden zur Verlesung kom-
Der prominente englische Liberale John Stuart Mill
men, ohne daß diese den Anspruch erheben,
definierte das Parlament schon 1860 von seiner kom-
politisch Andersdenkende durch bessere Argu-
munikativen Bedeutung her als „redende Legislative".
mente überzeugen zu wollen.
Das Parlament ist seiner Auffassung nach der geeignete Ort, um durch Räsonnement, durch Reden, Dis-
•
„Dieser Sachverhalt erklärt, warum sich neuer-
kutieren und Vergleichen verschiedener Ansichten
dings das politische Schwergewicht mehr und mehr
Konsens bzw. Kompromisse in politischen Fragen zu
f o r t zu der Aktivbürgerschaft und den diese poli-
erreichen. Im Prozeß des öffentlichen Austausches von
tisch organisierenden Parteien verschiebt" (Leib-
Argumenten und Meinungen soll sich der staatliche
holz, S. 354). Die Parteien sind „geradezu das
Wille als Resultat ergeben.
Sprachrohr, dessen sich das mündig gewordene
108
Das politische System als Kommunikationssystem - Das Parlament
Volk bedient, um sich artikuliert äußern und poli-
Das Postulat Öffentlichkeit hat auch im Grundgesetz
tische Entscheidungen fällen zu können. Ohne die
seinen Niederschlag gefunden. In Artikel 42 ist gere-
Zwischenschaltung dieser Organisationen würde
gelt, daß der Deutsche Bundestag grundsätzlich öf-
das Volk heute einfach nicht in der Lage sein,
fentlich verhandelt und die Öffentlichkeit nur mit
einen politischen Einfluß auf das staatliche Ge-
einer Zweidrittel-Mehrheit ausgeschlossen werden
schehen auszuüben und so sich selber zu verwirk-
kann.
lichen" (Leibholz, S. 352). Auf die Rolle der Parteien können wir hier nicht näher eingehen; in der folgenden Studieneinheit werden wir ihre Bedeutung für die politische Kommunikation einer Gesellschaft ausführlich untersuchen.
2.3 Formen parlamentarischer Kommunikation im Deutschen Bundestag
2.2 Kontrolle erfordert Öffentlichkeit
Rede- oder Arbeitsparlament?
Die Forderung nach Öffentlichkeit im parlamentari-
unterschieden zwischen Rede- und Arbeitsparlamen-
schen Bereich hat in Deutschland im Vergleich zu
ten. Unter Redeparlament versteht man betont auf
England und Frankreich erst sehr spät Erfolg gehabt.
Öffentlichkeit bezogene Parlamente, die sich als
In der politikwissenschaftlichen Literatur wird häufig
Solche Postulate lauteten konkret: öffentliche Ver-
Forum der Nation verstehen, das alle Fragen von
handlungen der Landtage, vollständig gedruckte Pro-
nationaler Bedeutung öffentlich diskutiert und seine
tokolle, straffreie Parlamentsberichterstattung, Auf-
Aufmerksamkeit in erster Linie auf die großen Debat-
hebung geheimer Kabinettspolitik. Erst 1848 war die
ten richtet. Arbeitsparlamente
Öffentlichkeit landständischer Verhandlungen in allen
ihre Tätigkeit auf die nicht-öffentlich tagenden Aus-
deutschen Staaten durchgesetzt.
schüsse. Der Bundestag wird eher dem T y p Arbeits-
In England, dem klassischen Land des Parlamentarismus, ist das Verhältnis von Öffentlichkeit und Parla-
dagegen konzentrieren
parlament zugerechnet; er ist jedoch kein reines Arbeitsparlament, sondern ein Mischtyp.
ment am schärfsten durchdacht worden. Jeremy Bentham vertraute für die Kontrolle der Staatsgewalt
In den folgenden Kapiteln sollen nun Mechanismen
ausschließlich dem Tribunal der öffentlichen Meinung.
der parlamentarischen Auseinandersetzung und das
Durch die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlun-
kommunikative Selbstverständnis des Deutschen Bun-
gen war für ihn die Aufsicht von seiten der Staats-
destages behandelt werden. Redeparlamente verste-
bürger gesichert. Und von den fünf Funktionen, die
hen sich, wie wir gesehen haben, der liberalen Idee
der englische Theoretiker Bagehot dem Parlament zu-
nach als öffentliche Diskussionsforen und haben so-
spricht, beziehen sich allein drei auf die öffentliche
mit — verglichen mit arbeitsorientierten Parlamen-
Meinung: nämlich die Aufgaben, den Willen des Vol-
ten — mehr kommunikative Ausstrahlung. Die Par-
kes zu formulieren, das Volk zu belehren und die
lamentsrede des Politikers hat hier größeres Gewicht.
Öffentlichkeit zu informieren. Erst wenn der Kontakt zwischen den Wählern und Gewählten hergestellt ist, wenn die Kommunikation
Die öffentliche Rede im Parlament hat folgende Funktionen zu erfüllen:
zwischen beiden gewährleistet ist, gewinnen diese
•
Forderungen ihren Sinn. „Die Publizität der Parla-
•
Rechtfertigung der getroffenen Entscheidungen,
mentsverhandlungen sichert der öffentlichen Mei-
•
öffentlich wirksame Kritik und Kontrolle,
Begründung politischer Positionen,
nung ihren Einfluß, sichert den Zusammenhang zwi-
•
Information,
schen Abgeordneten und Wählern als Teilen ein und
•
Meinungsbekundung,
desselben Publikums" (Habermas, S. 96 f.).
•
in einem weiteren Sinne auch politische Bildung.
109
Studieneinheit 3
Die parlamentarische
Debatte dient zum einen als
Sinne werden parlamentarische Reden mit Absicht
Medium zur Darlegung, Klärung und gegebenenfalls
,zum Fenster hinaus' gehalten" (Sontheimer [ 1 ] ,
Korrektur der Parteistandpunkte zu bestimmten poli-
S. 114).
tischen Fragen; zum anderen zielt sie auf die Beeinflussung der Öffentlichkeit ab und gibt den Parteien
Das Verhältnis zur parlamentarischen Debatte ist
die Möglichkeit, sich konkurrierend an den Wähler
hierzulande zwiespältig. Im Kaiserreich war ihre Be-
zu wenden. „Debatten dienen also nicht allein der
deutung ziemlich gering, denn die Volksvertretung
parlamentsinternen Auseinandersetzung, Abklärung
hatte kaum Einfluß auf die geheime Kabinettspolitik
und Verständigung, sondern haben als Adressaten
der Regierung, die nicht vom Parlament abhängig war,
immer auch die politische Öffentlichkeit. In diesem
In der Weimarer Republik litten die Debatten unter
Das kommunikative Selbstverständnis des Deutschen Bundestages Die Bundestagspräsidentin Annemarie Renger erklärte hierzu in einem Interview: Frage: „Anstoß der Öffentlichkeit zu
Renger: „ V o n einem Desinteresse der Ab-
kritischen Fragen gibt häufig schein-
geordneten kann ganz gewiß keine Rede
bares Desinteresse der Abgeordneten
sein. In der Öffentlichkeit wird leider
an parlamentarischen Debatten. Frage
immer noch nicht genügend berücksich-
an Sie: ist der Eindruck berechtigt,
tigt, mit welch vielfältigen Aufgaben der
daß die Plenarversammlungen zu gering
Abgeordnete belastet ist und daß sich die
besetzt sind? "
parlamentarische Arbeit nur zu einem Teil im Plenarsaal abspielt. Über den Teil der Arbeit der Abgeordneten, wie er sich in den Ausschüssen, im Wahlkreis, bei Konferenzen usw. abspielt, wird natürlich wenig berichtet, wogegen die Öffentlichkeit durch das Fernsehen am Geschehen im Plenarsaal voll Anteil nehmen kann. Unabhängig davon bin aber auch ich der Meinung, daß bei wichtigen politischen Themen die Abgeordneten die Anwesenheit im Plenum anderen Verpflichtungen vorziehen sollten."
Frage: „Es gibt maßgebliche Meinungen,
Renger: „Es ist richtig, daß im Zuge der
daß die Form der Plenardebatte seit 1949
innerparteilichen Arbeitsteilung die Aus-
überholt sei: die Entscheidungen seien in
schüsse wichtige Vorentscheidungen tref-
die Ausschüsse verlagert. Wenn es so
fen. Anders könnte die Arbeit überhaupt
wäre — müßten dann nicht neue Formen
nicht bewältigt werden. Das verringert
der Gesetzesberatung gefunden werden
aber nicht die Bedeutung des Plenums,
und sollte die Kompetenz der Ausschüs-
dem die Aufgabe zufällt, die endgültigen
se dann nicht ausgeweitet werden? "
Entscheidungen zu treffen und deren Motive der Öffentlichkeit zu vermitteln."
(Der vollständige Text ist abgedruckt in der Broschüre: Deutscher Bundestag. 25 Jahre parlamentarische Demokratie. Herausgegeben vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages. Bonn 1974, S. 4 f.)
110
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
der Vielstimmigkeit der zersplitterten Parteigruppierungen. Das Wort von der „Schwatzbude der Nation"
Damit Zeit für die Ausschußarbeit bleibt, werden die Plenarsitzungen so kurz wie möglich gehalten. Die
stammt aus dieser Zeit. Im Nazideutschland war das
Debatte wird versachlicht und weitgehend unpolitisch
Parlament schließlich zum Akklamationsorgan degra-
geführt, der bürokratische Stil der Ausschußarbeit in den Plenarsaal übernommen. Trotzdem hat die Plenar-
diert. Bis heute hat sich zur Funktion der parlamentarischen Debatte keine einheitliche Auffassung herausgebildet. Das Verhältnis zu ihr wird bestimmt durch die verschiedenen Standpunkte zur Frage „Redeparlament oder Arbeitsparlament". Einerseits soll der Bundestag als nationales Forum die großen und wichtigen Probleme des Staates diskutieren, andererseits dient die Parlamentsrede nach Meinung vieler Abgeordneter nur noch zur formalen Abrundung der legislativen Arbeit, die in den nicht-öffentlichen Ausschüssen geleistet wurde und in den Debatten der Öffentlichkeit bekanntgegeben wird. Wie das Interview mit Annemarie Renger deutlich macht, steht der Bundestag im Spannungsverhältnis zwischen Arbeits- und Redeparlament. In einer Umfrage sprach sich auch die weit überwiegende Zahl der Abgeordneten für eine Mischform aus. Was die legislative Funktion angeht, war und ist der Bundestag ein fleißiges Parlament. Eine Arbeitsbilanz von 1949 bis 1980 in Zahlen:
•
1 810
•
7 676
Plenarversammlungen; Fraktions- und Fraktionsvorstandssitzungen;
• • • •
23 661 Ausschuß- und Unterausschußsitzungen; 5 218 Gesetzentwürfe lagen dem Parlament vor; 3 572 Gesetze wurden verabschiedet; 71 553 mündliche Fragen wurden an die Bundesregierung gestellt und von dieser beantwortet.
debatte im Selbstverständnis des Abgeordneten noch immer einen beachtlichen Stellenwert; das zeigt sich schon daran, daß eine Reihe von Reformbestrebungen an diesem Punkt ansetzt. „Auch hier tritt einmal mehr ein Zwiespalt im Verhalten der Abgeordneten auf, die im Bundestag (dem Anspruch nach, doch nicht in der Tat) die maßgebliche Instanz der politischen Willensbildung, Integration, Artikulation und Mobilisierung sehen. Wie bei der Kontrolle wäre auch hier eine ausgeglichenere Balance nötig. Sie müßte die Öffentlichkeit stärker an die Sachdiskussion heranführen statt sie mit einem bereits festgefügten Ergebnis zu konfrontieren und das Arbeitsgespräch vom Ort der politischen Auseinandersetzung, dem Plenarsaal, verbannen. So wie der Diskussionsstil heute ist, entzieht sich der Bundestag weitgehend seiner in die Öffentlichkeit gerichteten Wirkmöglichkeiten; er gewinnt sie, wenn er Politik diskutiert und sich nicht bei langatmigen Einzelerörterungen aufhält. Mit der Zahl der Plenarsitzungen hat dies nichts zu tun, es kommt allein auf den darin geübten Stil an" (Rausch/Oberreuter, S. 153).
Kommunikationsformen und Kontrollmechanismen Der Bundestag hat bestimmte Formen der Information und Artikulation entwickelt, um die Parlamentsarbeit kommunikativer und damit auch für die Öffentlichkeit attraktiver zu machen. Um die Debatten spontaner und lebendiger zu gestalten, wurde die Aktuelle Stunde (Kurzdebatte) eingeführt, in der politische Fragen von aktueller Bedeutung diskutiert werden. Redezeitbeschränkungen und das Gebot freien Sprechens sollten Lebendigkeit garan-
Die Bevorzugung gesetzgeberischer Arbeit hat zur Folge, daß die Diskussion vernachlässigt wird. Müßte man dem Bundestag ein Zeugnis ausstellen, er bekäme für den Umfang seiner Gesetzgebungsarbeit die Note 1, für das Fach „Diskussion" jedoch nur die Note 4.
tieren, die Aktualisierung der Diskussion den parlamentarischen Prozeß transparenter machen, um so den Abstand zwischen Parlament und Öffentlichkeit zu verringern. In der Praxis haben sich diese Hoffnungen jedoch nicht erfüllt. „Statt einer Stärkung der Position des Parlaments zeigt die Praxis der
111
Studieneinheit 3
Aktuellen Stunde eher den generellen Funktionsver-
in Kontakt bringt, ist das Hearing. Vor allem Inter-
lust des Bundestages, zu dem nicht zuletzt die man-
essenverbände haben hier die Möglichkeit, den Ge-
gelnde Wahrnehmung seiner Kontroll- und Öffent-
setzgebungsprozeß zu beeinflussen. Die Form des
lichkeitsfunktionen beigetragen hat" (Bleek, S. 26).
Hearings hat in den letzten Jahren eine wachsende
Aus der englischen parlamentarischen Praxis wurde die Fragestunde übernommen. Sie sollte einerseits die Kommunikation zwischen Regierung und Parlament verbessern, andererseits der Opposition effiziente Kontroll- und Profilierungsmöglichkeiten bieten — mit dem gemeinsamen Ziel von Regierung
Bedeutung gewonnen. Weiter nehmen die parlamentarischen Hilfsdienste und die wissenschaftlichen Planungsbeiräte kommunikative Aufgaben wahr, indem sie für das Parlament Informationen beschaffen.
und Opposition, die parlamentarische Auseinandersetzung öffentlichkeitswirksamer zu machen. Dies ist nur sehr eingeschränkt gelungen. Da aktuelle politische Themen in Pressekonferenzen und in den Medien diskutiert werden („Interview-Demokratie"), haben Fragestunden, die in jeder Sitzungswoche ohne-
3.
Kommunikative Kontrolle — Die Rolle der Opposition
3.1
Ohne Information keine Kontrolle
hin nur maximal 180 Minuten dauern, ihren Publizitätswert verloren, zumal politische Grundsatzfragen von lokalen und regionalen Verwaltungsproblemen und -problemchen verdrängt wurden. Inhaltlich bleibt der größte Teil der Fragen unkritisch und zielt mehr auf Information als auf Kritik und Kontrolle. Die Öffentlichkeitswirkung der Fragestunde ist entsprechend gering.
Kommunikation verlangt Information. Insofern ist das Informationsrecht des Parlaments konstituierend für den politischen Kommunikationsprozeß, ist es
Weitere Kommunikationsmöglichkeiten zwischen
Voraussetzung für die Teilnahme des Parlaments am
Regierung und Parlament bieten die beiden Formen
Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung.
parlamentarischer Anfragen. Die Große Anfrage ist neben Antrag und Gesetzentwurf ein Mittel, um eine Plenardebatte in Gang zu setzen. Hierbei handelt es sich eher um „gewichtige" politische Themen, während die Kleine Anfrage, die schriftlich beantwortet wird, aktuelle Detailprobleme zum Inhalt hat. Als Informationsmöglichkeit für den einzelnen Abgeordneten, der die Bundesregierung damit zur Auskunft zwingen kann, gewinnt die Kleine Anfrage im Bundestag zunehmend an Bedeutung. Die Anfragen werden auch dazu benutzt, E i nze linteressen zu artikulieren. Die bisher angeführten Formen parlamentarischer Interaktion betreffen weitgehend die interne Kommunikation zwischen Parlament bzw. Opposition und Regierung. Unter dem Öffentlichkeitspostulat können sie jedoch parlamentsexferne Kommunikationsprozesse in Gang setzen.
„Um das Informationsrecht im Einzelfall wirksam zur Geltung zu bringen, bedarf es im wesentlichen folgender Voraussetzungen: (1) in der Verfassung, in der Geschäftsordnung oder durch Konvention muß ein Minimum an Informationsrecht gewährleistet sein. (2) Dem Parlament müssen personelle und sachliche Mittel zur Verfügung stehen, Informationen vollständig zu sammeln, zuverlässig zu ordnen und zu verwerten. (3) Die Abgeordneten müssen den Willen haben, sich zu informieren, und die Fähigkeit besitzen, Informationen in politische Aktionen umzusetzen" (Hübner, S. 204). Auch das Parlament ist zunehmend mit dem Komplexitätsproblem konfrontiert. Zu seinen Hauptaufgaben gehört die systematische Sammlung, Aufbereitung und Umsetzung von Informationen in politische Entscheidungen. Stärker als jemals zuvor muß der einzelne Mandatsträger heute über Spezialkenntnisse verfügen, um die Fakten, mit denen er täglich über-
Ein Kommunikationsmechanismus, der das Parlament
schüttet wird, für seine politischen Initiativen verwer-
auf der einen Seite und verschiedene Gruppen der
ten zu können. Der Abgeordneten-fxperíe wird zur
Gesellschaft auf der anderen Seite institutionalisiert
zentralen Figur.
112
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
3.2 Opposition und Öffentlichkeit Zwei Partner in der Kontrolle
4.
Das Parlament in der komplexen Demokratie
Wurde die Kritik- und Kontrollfunktion früher noch dem Gesamtparlament zugesprochen, so wird diese
4.1 Strukturwandlungen
Aufgabe nun von der parlamentarischen Opposition wahrgenommen, da zwischen Regierung und Mehr-
In der bisherigen Darstellung des parlamentarischen
heitsfraktion ein enges Wechselverhältnis besteht.
Systems der Bundesrepublik sind Strukturwandlungen des Parlaments, Strukturdefekte und die grundsätz-
„ I m parlamentarischen System nimmt die parlamentarische Opposition im Auftrage der Wähler ein bedeutsames öffentliches Amt wahr. Sie hat für die Transparenz des politischen Prozesses Sórge zu tragen, das Regierungshandeln kritisch zu verfolgen und ins öffentliche Bewußtsein zu bringen, Alternativen aufzuzeigen und dem Wähler die Chance des Regierungswechsels offen zu halten. Gerade im notwendigerweise zunehmend technokratisch strukturierten modernen hochindustriellen Verfassungsstaat hat die Opposition generell die bedeutende Aufgabe, die Potenz kritischer Öffentlichkeit zu vermehren" (Steff an i [1 ], S. 320). Will die Opposition im Parlament die Grundlagen der politischen Arbeit und das aktuelle Geschehen kritischer Kontrolle unterziehen, so muß sie Kommunikationsprozesse in Gang setzen und eine möglichst breite Öffentlichkeit mobilisieren können, um Regie-
liche Kritik am Parlamentarismus weitgehend außer acht geblieben oder nur andeutungsweise behandelt worden. Darauf soll nun in der hier notwendigen Kürze eingegangen werden. ^ ^
Die Praxis der Demokratie ist in der modernen Industriegesellschaft zunehmend schwieriger geworden. „ I n dieses Spannungsverhältnis zwischen zunehmender Komplexität und wachsendem Demokratiebedarf sind die politischen Strukturen einbezogen . . . Das parlamentarische Regierungssystem u n t e r l i e g t . . . einer doppelten Herausforderung: Einmal hat es den Nachweis seiner Leistungsfähigkeit im Prozeß zunehmender Interventionsnotwendigkeiten des Staates gegenüber einer komplexen, sich permanent modernisierenden Industriegesellschaft zu erbringen. Zum zweiten wird es daraufhin befragt, ob und inwieweit es dafür verwertbar erscheint, der
rung und Parlamentsmehrheit zu offener Diskussion
demokratischen Selbstbestimmung im politi-
zu zwingen.
schen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß als Instrumentarium zu dienen und ob und
Die Oppositionspartei(en) und Journalisten in den
inwieweit es demokratische Legitimation
Massenmedien, denen im demokratischen Staat nicht
staatlichen Handelns zu vermitteln vermag.
selten ebenfalls Kritik- und Kontrollfunktionen zuge-
Im Zentrum der damit aufgeworfenen Dis-
sprochen werden, verbünden sich teilweise, um die
kussionen stehen insbesondere Tatbestand und
Regierungspolitik zu kritisieren. Die oppositionellen
Folgeerscheinungen von Bürokratisierung und
Medien unterstützen die parlamentarische Opposition,
Oligarchisierung. Als Kriterien fungieren u.a.
und die Opposition im Parlament unterstützt die
die Begriffe Effizienz, Transparenz und Parti-
oppositionellen Medien. „Opposition vermag Kon-
zipation" (Steffani [2], S. 19).
trolle (abgesehen von gewissen Minderheitsrechten wie bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen)
Die Strukturwandlungen des Parlaments hat Winfried
nur indirekt vermittels Mobilisierung von Öffentlich-
Steffani in 13 Thesen zu einer „modernen Parlamen-
keit auszuüben, falls und insoweit Regierung und Par-
tarismus-Theorie" zusammengefaßt. Diejenigen von
lamentsmehrheit den aktuellen Reaktionen der Öffent-
ihnen, die den Prozeß der politischen Kommunika-
lichkeit nachgehen bzw. antizipiertes Wählerverhalten
tion betreffen, geben wir im folgenden ausschnitt-
in Rechnung stellen" (Steffani [2], S. 36).
weise wieder.
113
Studieneinheit 3
4.2 Thesen zum Parlamentarismus Repräsentation Es gilt das demokratische Prinzip verantwortlicher Repräsentation. Der Abgeordnete ist grundsätzlich dem Wähler gegenüber rechenschaftspflichtig und schuldet ihm die Begründung seiner Entscheidungen und Stellungnahmen.
Regierung Mit der zunehmenden Verflechtung und Bindung der Regierung an das Parlament wächst der Regierung die Führungsrolle im parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß zu.
Kontrolle Die wachsende politische Integration von Regierung und Parlamentsmehrheit mindert die Kritik und Kontrolle der Mehrheitsfraktion an der Regierung.
Opposition Die Funktion öffentlich akzentuierter Kritik muß von der parlamentarischen Opposition wahrgenommen werden. Sie bildet im Auftrage ihrer Wähler den entscheidenden Kontrahenten der Regierungsmehrheit im offiziellen politischen Dialog.
Öffentlichkeit Effektive Opposition setzt ebenso kritische Öffentlichkeit voraus wie die realisierbare Chance der Regierungsübernahme durch Wählerentscheid.
Interessenverbände Im Kampf der hochorganisierten Verbände um den günstigsten Kompromiß, der oft genug zu einseitig begünstigenden Regelungen führt, haben die parlamentarischen Fraktionen die besondere Funktion, den nicht hinreichend organisierten und artikulierten Minderheits- und Allgemeininteressen wirksam Gehör zu verschaffen: Partei und Fraktion als Interessengruppen für das Allgemeine.
114
Wahlen Mitglieder von Parlament und Regierung bilden jene Personengruppe auf Bundesebene, die sich in periodischen Zeitabständen den Wählern in direkter bzw. durch das Parlament vermittelter Wahl stellen muß. Diese Tatsache sollte unter den Politikern eine „demokratische Solidarität" fördern.
Transparenz Im Gegensatz zur hierarchisch strukturierten Bürokratie, die dem Effizienzpostulat besonders verpflichtet ist, müssen die gewählten Mitglieder von Parlament und Regierung den Prinzipien der Partizipation und Transparenz im System Geltung verschaffen. Für die Transparenz aller wesentlichen Diskussions- und Entscheidungsabläufe zu sorgen, ist primäre Aufgabe des Parlaments.
Legitimation „Nur wenn das Parlament in ständiger Kommunikation mit den Wählern, Massenmedien und Verbänden steht, können Parlament und Regierung ihre wichtigste Systemfunktion erfüllen: demokratische Richtungsbestimmung und Kontrolle staatlichen Handelns zu sichern und damit zur demokratischen Legitimation staatlichen Handelns beizutragen" (nach Steffani [2], S. 35-38).
5.
Kritik am parlamentarischen System
Die Kritik am parlamentarischen System ist so alt wie der Parlamentarismus selbst und so vielschichtig, daß hier nur einzelne, in unserem Zusammenhang wichtige Aspekte dargestellt werden können. Eine „Krise des Parlamentarismus" wird von drei Grundrichtungen aus konstatiert: • von der konservativ-autoritären Richtung, die einen starken Staat als Garanten für die Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben fordert. Der Staat gilt hier als Hüter des Gemeinwohls, das über allen Einzelund Gruppeninteressen steht. Der Pluralismus soll durch den Etatismus abgelöst werden;
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
•
von der liberalen Parlamentarismuskritik, die davon
Zeiten stammenden Übung, Reden der verschiedenen Parteien voraus. Die engeren Komitees, in welchen der Beschluß tatsächlich zustandekommt, sind nicht einmal immer Ausschüsse des Parlamentes selbst, sondern Zusammenkünfte von Parteiführern, vertrauliche interfraktionelle Besprechungen, Besprechungen mit den Auftraggebern der Parteien, den Interessenverbänden usw."(Schmitt, S. 319).
ausgeht, daß sich die vorhandenen Strukturdefekte des parlamentarischen Systems durch Teilreformen beheben lassen („Parlamentsreform"); •
von der linken Parlamentarismuskritik, die das parlamentarische System als spätkapitalistische Herrschaftsform in Theorie und Praxis analysiert und den Parlamentarismus vorwiegend in ökonomischen und historischen Entwicklungszusammenhängen zu begreifen sucht.
In der Kritik von rechts wird das Parlament als entscheidungshemmende, nur zum Palaver taugende Institution gesehen, in der die beteiligten Parteien und Interessengruppen allein durch faule Kompro-
5.1 Kritik von „rechts"
misse zu Entscheidungen gelangen. Carl Schmitts
In seiner „Verfassungslehre", die in erster Auflage im
band estaat.
Position ist eine Absage an den Parteien- und Ver-
Jahre 1928 erschienen ist, charakterisiert Carl Schmitt das parlamentarische System im Zeitalter der Massenmedien so: „Die Diskussion entfällt. Das Parlament ist heute in den meisten Staaten . . . nicht mehr die Stätte gegenseitiger rationaler Überredung, wo die Möglichkeit besteht, daß ein Teil der Abgeordneten den andern durch Argumente überzeugt und der Beschluß der öffentlichen Vollversammlung das Ergebnis der Debatte ist. Vielmehr bilden feste Parteiorganisationen eine ständig anwesende Vertretung bestimmter Bruchteile der Wählermassen. Der Standpunkt des einzelnen Abgeordneten steht parteimäßig fest, der Fraktionszwang gehört zur Praxis des heutigen Parlamentarismus, einzelne Außenseiter haben keine Bedeutung. Die Fraktionen treten einander mit einer nach ihrer Mandatsziffer genau berechneten Stärke gegenüber; an ihrer interessen- oder klassenmäßigen Festlegung vermag eine öffentliche parlamentarische Diskussion nichts mehr zu ändern. Die Besprechungen in den Ausschüssen des Parlaments oder außerhalb des Parlaments in sog. interfraktionellen Zusammenkünften sind nicht Diskussion, sondern geschäftliche Berechnungen und Verhandlungen; die mündliche Erörterung dient hier dem Zweck einer gegenseitigen Berechnung der Macht- und Interessengruppierung. Das Privileg der Redefreiheit verliert dadurch seine Voraussetzungen. Die Öffentlichkeit entfällt. Die öffentliche Vollversammlung ist nicht mehr der Platz, in welcher auf Grund der öffentlichen Diskussion die Entscheidung zustandekommt. Das Parlament wird eine Art Behörde, die in geheimer Beratung beschließt und das Ergebnis der Beschlußfassung in einer öffentlichen Sitzung in der Form von Abstimmungen verkündet; der Abstimmung gehen, nach einer aus andern
5.2 Reform als Alternative — Die liberale Parlamentarismuskritik Die liberale Parlamentarismuskritik hat nicht die Überwindung des parlamentarischen Systems zum Ziel, sondern sie versteht sich als immanente Kritik, die Auswüchse, Mängel und Strukturdefekte abstellen bzw. verhindern will. Die Reformbestrebungen beziehen sich auf drei Ebenen: •
auf die Geschäftsordnung, die den Erfordernissen des parlamentarischen Betriebs angepaßt werden muß;
•
auf die Arbeitsorganisation (Arbeitsweise und Arbeitsstil);
•
auf personelle Reformen (Zusammensetzung des Parlaments, innerfraktionelle und innerparteiliche Demokratie).
Vor dem Hintergrund vieler einzelner Reformbestrebungen nennt Winfried Steffani als Zielvorstellungen einer Parlamentsreform: „Das Parlament könnte sich einerseits als .offizielles' Diskussionsforum zwischen parlamentarischer Opposition und Regierungsmehrheit verstehen. Hierzu wäre es erforderlich, daß die Opposition mit dem notwendigen Instrumentarium für hinreichende Information und Artikulation ausgestattet wird, z.B. durch Ausbau ihres wissenschaftlichen Hilfsdienstes und Fraktionsapparates sowie durch Einrichtung einer aus öffentlichen Mitteln finanzierten Presse- und Informationsstelle der Opposition — parlamentarische Opposition als öffentliches 115
Studieneinheit 3
Amt. Andererseits (und zugleich) hätte sich das Parlament zusammen mit der Regierung als richtungsbestimmende und kontrollfähige Entscheidungsinstanz gegenüber der Ministerialund Vollzugsverwaltung zu begreifen, wobei der parlamentarische Hilfsdienst und das Bundeskanzleramt ebenso eng zusammenarbeiten müßten wie insbesondere Parlamentsmehrheit und Regierung, um der einseitigen Abhängigkeit der Regierung von den Entscheidungsvorbereitungen der Ministerialbürokratie effizient entgegenwirken zu können. Nur sofern und insoweit dies möglich ist, kann heute noch ein Parlament in einem parlamentarischen System seine demokratische Legitimationsfunktion glaubhaft erfüllen. Zur Realisierung dieser Zielvorstellung bedürfte es jedoch eines Um· denkens der Handelnden wie einer Verstärkung kritischer, der Problematik bewußter Öffentlichkeit" (Steffani [2], S. 4 2 f.).
Zeit der Großen Koalition, auf, gesellschaftlich relevante Stätten der Diskussion zu sein, so hat die parlamentarische Form ihren demokratischen Inhalt verloren und damit auch ihre demokratische Legitimat i o n " (Lenk, S. 50).
Kritik von links am Beispiel Agnolis Die „legislative" Volksvertretung ist nach Johannes Agnoli in Wirklichkeit ein Exekutivorgan, das die Richtlinien der Politik nicht von unten nach oben, sondern umgekehrt von oben nach unten trägt. Damit hat sich das parlamentarische Prinzip ins Gegenteil verkehrt: Das Parlament ist nicht mehr Repräsentant des Volkes, sondern Repräsentant der Herrschenden gegen das Volk. Diese Kritik zielt vor allem auf die kapitalistische Wirtschafts-
5.3
..Linke" Parlamentarismuskritik
und Gesellschaftsform. Agnoli mißt den Parlamentarismus an der
Die linke Parlamentarismuskritik begreift Herrschaft
Norm der klassischen Demokratietheorie, die
nicht wie die empirisch-pragmatische Demokratie-
die Identität der Regierenden mit den Regier-
vorstellung als unaufhebbare gesellschaftliche Grund-
ten erreichen will. Das Parlament in der kapi-
gegebenheit; sie geht vielmehr von einem Gesellschafts-
talistischen Gesellschaft löst diesen Anspruch
bild aus, dem die Ideen der Selbstbestimmung und der
nicht ein. Nur dem Anschein nach repräsen-
Emanzipation zugrundeliegen. Die zentralen Fragen
tiert das Gesamtparlament ebenso wie die
sind:
jeweilige Opposition die abhängigen Klassen;
•
Inwieweit ermöglicht oder verhindert das politische System Mitentscheidung und rationale Willensbildung?
•
Parlament und Opposition dienen als Ventile und werden als Alibi zur Verschleierung des nach wie vor bestehenden Grundkonflikts zwischen Kapital und Arbeit mißbraucht.
Inwieweit befriedigt es — gemessen am Stand des technologischen Fortschritts — die Bedürfnisse der Individuen?
Das Parlament erfüllt heute kaum noch Kontrollfunktionen; vielmehr legitimiert es oligarchisch getroffene Entscheidungen nachträg-
Maßstab für die linke Parlamentarismuskritik zur Be-
lich als Gesetzgebungsinstanz. Der „umfunk-
urteilung der Demokratiequalität ist nicht allein die
tionierte" Parlamentarismus leistet also nach
bloße Existenz einer öffentlichen Diskussion, der
Ansicht Agnolis statt Kontrolle staatlicher
freien und allgemeinen Wahlen oder das Prinzip der
Herrschaft deren Legitimation. Die Kritik
Rechtsstaat!ichkeit. „Dies sind zwar notwendige Vor-
wendet sich gegen die Transformation des Par-
aussetzungen, nicht aber sind sie schon die Demokratie
laments zu einem Werkzeug der Exekutive.
selbst. Die historische Legitimation der parlamentarischen Demokratie wird in der von ihr versuchten institutionellen Sicherung der Diskussion von Alternativen als einer der Bedingungen zur Verwirklichung von Demokratie gesehen. Damit gilt sie als ein vorläufiges Resultat eines historisch weitergreifenden Demokratisierungsprozesses. Hören die parlamentarischen Institutionen, wie etwa der Bundestag zur 116
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
6.
Die Debatte um den Abtreibungsparagraphen — Ein Beispiel zum Prozeß der politischen Kommunikation
Die Diskussion um die Reform des Abtreibungsparagraphen 218, die auf breiter Basis geführt wurde, soll als Beispiel dienen, um den kommunikativen Prozeß in der Öffentlichkeit sowie zwischen Öffentlichkeit und Parlament an einem konkreten politischen Thema zu verdeutlichen. Die „Lebensgeschichte" des Themas ist so lang, daß sie hier nicht einmal in Umrissen nachgezeichnet werden kann; schließlich haben sich schon im Altertum so prominente Gelehrte wie Hippokrates (Nein zur Abtreibung) oder Piaton und Aristoteles (Ja zur Abtreibung) dazu geäußert. Die Diskussion um den Abtreibungsparagraphen des Strafgesetzbuches konnte den Aufmerksamkeitsfilter wohl aus mehreren Gründen leicht durchbrechen. Ein Grund mag sein, daß der Schutz ungeborenen Lebens bzw. der Schutz von Leben überhaupt zu jener „überragenden Priorität bestimmter Werte" gehört, „deren Bedrohung oder Verletzung gleichsam von selbst ein politisches Thema entstehen läßt" (Luhmann, S. 37). Zum anderen hat das Thema ja Tradition. Schließlich ist eine besonders große, wenn auch nur wenig organisierte Gruppe von der Thematik direkt betroffen — die Frauen. Es ließen sich bestimmt noch manche anderen Gründe dafür finden, warum der Schwangerschaftsabbruch als politisches Thema in der Öffentlichkeit leicht etabliert werden konnte, zumal es in Teil-Öffentlichkeiten — vor allem in Frauengruppen — schon vorher diskutiert worden war (siehe den Slogan: „Mein Bauch gehört mir"). Frauenzeitschriften, die politische Wochenpresse, Magazine wie „Der Spiegel", Illustrierte wie der „Stern", Fernseh- und Funkmagazine mit kritischem Anspruch hatten das Problem „§ 218", bevor es zu einem breit diskutierten Thema der Öffentlichkeit, der Parteien und des Parlaments wurde, bereits ausführlich behandelt. Es entstanden Bürgeraktionen in den Großstädten; auch in den lokalen Parteiorganisationen war das Thema umkämpft. Die verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft, Frauen, kirchliche Kreise, Ärzte nahmen zum Abtreibungsparagraphen Stellung und erzeugten mittels der Medien ein Meinungsklima,
dem sich auch die politischen Instanzen nicht mehr entziehen konnten. öffentliche Kampagnen einzelner Aktivbürger, die von der Presse aufgegriffen wurden, wie zum Beispiel die Selbstbezichtigungskampagne „Ich habe abgetrieben" oder die Veröffentlichung von Listen solcher Mediziner, die zur Abtreibung bereit waren, führten zu einem starken Meinungsdruck, so daß das Thema § 2 1 8 immer mehr ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Die Auffassung, daß es einer neuen gesetzlichen Regelung bedürfe, gewann auch in den Parteien viele Anhänger. „Gewinnt das Thema jedoch an Popularität, wird es Mode, dann übernimmt es die Funktion einer Struktur des Kommunikationsprozesses. Es wird zum Bestandteil der öffentlichen Meinung . . . , es erscheint in der Tagespresse in einer Berichterstattung, die voraussetzt, daß jeder die Vorgeschichte des Themas kennt. Es entzieht sich durch Selbstverständlichkeit der Disposition. Nicht mehr das Thema selbst, nur noch die Meinungen und Entscheidungen über das Thema stehen zur Verfügung" (Luhmann, S. 40). Die parlamentarische Vorlage von vier Gesetzentwürfen hatte im Prozeß der politischen Meinungsund Willensbildung eine Differenzierung der Meinungen zur Folge. Die Koalitionsfraktionen von SPD und FDP schlugen in einem gemeinsamen Entwurf die sogenannte Fristenlösung vor, die bis zum dritten Monat der Schwangerschaft bei Abtreibung Straffreiheit zusichern sollte. Neben dem Fristenmodell gab es das Indikationsmodell der CDU/CSU-Fraktion sowie zwei modifizierte Indikationsmodelle von kleineren Abgeordnetengruppen der SPD und der CDU/ CSU-Opposition. Nach der Vorlage aller vier Entwürfe im Parlament setzte ein komplexer Diskussionsprozeß ein. Die vier Anträge wurden an die Ausschüsse des Bundestages weiterverwiesen, um dort die Einzelprobleme zu beraten. Die parlamentsinterne Diskussion war in Gang gebracht. Sachverständigenkommissionen gaben ihre Gutachten ab, die Interessengruppen kamen zu Wort. Durch einfallsreiche Formen der Artikulation versuchten die verschiedenen Gruppen in der Öffentlichkeit
117
Studieneinheit 3
auf sich aufmerksam zu machen: Demonstrationen und Kundgebungen wurden organisiert, Unterschriftenaktionen gestartet, Aktionszentren gegründet, Plakate geklebt, Flugblätter verteilt, Aufklärungsaktionen unternommen. Pro- und Kontragruppen formierten sich. In Demonstrationen wurden Slogans vorgebracht wie „Wir sollen brüten und nisten für die Kapitalisten" oder „Auch die Kommunisten treiben ab: im Morden fröhlich vereint". Die Standesgremien der Ärzte und einzelne prominente Mediziner gaben Stellungnahmen ab. Die Medien widmeten dem Thema viel Raum. „Bild" fragte: „Sterben die Deutschen bald aus? " Die Abgeordneten konfrontierte man mit einem Film über die Entstehung menschlichen Lebens, produziert von einer Firma für Babynahrung. Engagierte Bürger schrieben Leserbriefe, Chefredakteure Kommentare. Das Thema Abtreibung wurde kontrovers und polemisch diskutiert. In der A R D führte ein Film, der einen Schwangerschaftsabbruch zeigen sollte, zum Streit. Er wurde abgesetzt. Viele Artikulationsmöglichkeiten wurden ausgenutzt. Den variationsreichen Kampf der katholischen Kirche gegen die Reform des Abtreibungsparagraphen dokumentiert folgendes Zitat: „ ,Mord bleibt Mord, ob ihn der nationalsozialistische oder der liberal-sozialistische Staat freigibt', hieß es auf Flugblättern, die von Katholiken zum SPD-Parteitag Mitte April vor der Stadthalle in Hannover verteilt wurden. 10 000 Demonstranten gegen eine Liberalisierung des Abtreibungs-Paragraphen hatten sich eingefunden . . . In fast allen Pfarreien wurden .Aktionszentren' gebildet, Unterschriften gesammelt, Plakate geklebt. Acht Millionen Flugblätter wurden am vorletzten Wochenende, vier Tage vor der ersten Lesung der Gesetzentwürfe im Bundestag an Haushaltungen und vor Kirchenportalen verteilt. Drinnen, von den Kanzeln herab, war am Sonntag zuvor ein Hirtenbrief der Bischöfe verlesen worden. Und eine Nonne aus dem Mittelfränkischen ließ zehnjährige Schulkinder einen Brief an den Nürnberger SPD-Abgeordneten Egon Lutz verfassen: ,Bitte, Herr Abgeordneter, sagen Sie es doch in Bonn, daß wir Kinder froh sind, daß wir nicht umgebracht worden sind. Gelt, Sie stimmen gegen die Abtreibung!' " (Der Spiegel, Nr. 21 vom 21. Mai 1973, S. 39). Im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, der bei den Beratungen federführend zuständig war, erreichte keiner der vier vorgelegten Gesetzentwürfe die erfor-
118
derliche Mehrheit. Deshalb konnte der Ausschuß — bisher einmalig in der Geschichte des Bundestages — dem Plenum kein Votum für einen der Entwürfe vorlegen. Die Fraktionen übten bei der Schlußabstimmung am 26. April 1974 keinen Fraktionszwang aus; jeder Abgeordnete war demnach in seiner Entscheidung frei. Das Ergebnis: 247 Abgeordnete stimmten der Fristenlösung zu, 233 votierten mit Nein, neun enthielten sich der Stimme. „Auch jetzt wird, wie zu allen Zeiten, die Entscheidung nichts anderes sein können als eine Obereinkunft der Gesellschaft", so Schloß „Der Spiegel" seine Titelgeschichte vom 21. Mai 1973. Die „Übereinkunft" hatte jedoch nach der Abstimmung im Bundestag noch keine Rechtskraft. Beim Bundesverfassungsgericht beantragten die von der C D U gestellten Landesregierungen ein Normenkontrollverfahren zur verfassungsrechtlichen Überprüfung des Gesetzes. A m 26. Februar 1975 verkündete das Gericht seine Entscheidung: Die völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen ist mit dem Grundrecht der Menschenwürde, dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit unvereinbar und deshalb verfassungswidrig. Damit war das Gesetz aufgehoben. Der Bundestag muß eine neue Regelung in dem vom Gericht als verfassungskonform angesehenen Rahmen beschließen — der Prozeß beginnt von vorn. Mit diesem Urteil begann auch die Diskussion um eine angemessene Regelung des Schwangerschaftsabbruchs erneut. Kundgebungen und Demonstrationen, Proklamationen und Flugblätter, Zeitungsreportagen und Rundfunkkommentare, Pressekonferenzen der Parteien und Interessengruppen . . . Die Auseinandersetzung ist auch nach der Novellierung des Gesetzes nicht zur Ruhe gekommen. A n der Diskussion der Abtreibung zeigt sich das Spannungsverhältnis einer jeden Gesellschaft: das Spannungsverhältnis zwischen Konflikt und Konsens, in dem auch das Parlament steht.
Das politische S y s t e m als K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m — Das Parlament
Δ
Aufgaben
1. Welche Aufgaben hat das Parlament im politischen Kommunikationsprozeß, und welche Rolle spielt dabei die „Öffentlichkeit"? a) Aufgabe des Parlaments:
b) Rolle der Öffentlichkeit:
2. Erläutern Sie den Unterschied zwischen einem Rede- und einem Arbeitsparlament in bezug auf a) Öffentlichkeit:
b) parlamentarische Arbeit:
c) politische Entscheidungen:
119
3. Die folgende These deutet Defizite in der Kommunikationsstruktur zwischen Parlament und Öffentlichkeit an: „Da also der Bundestag sich schlechthin als die Legislative betrachtet, nimmt es nicht wunder, daß er sich mit zunehmender Gesetzesflut immer stärker versachlichte und entpolitisierte, wenn nicht gar biirokratisierte . . . Der Bundestag führt sein Dasein in Isolierung: Die Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit scheitert heute schon vielfach daran, daß diese nicht versteht, daß komplizierte Vorgänge komplexe und differenzierte Antworten verlangen, jenes wiederum die Ansätze zu solchen Antworten gar nicht vorlegt. Es haben sich Trennungsgräben aufgetan . . . So, wie der Diskussionsstil heute ist, entzieht sich der Bundestag weitgehend seiner in die Öffentlichkeit gerichteten Wirkmöglichkeiten, er gewinnt sie, wenn er Politik diskutiert und sich nicht bei langatmigen Einzelerörterungen aufhält" (Rausch/Oberreuter, S. 151,153). Versuchen Sie Vorschläge zu machen, die die Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit verbessern!
4. Nennen Sie wenigstens vier Formen parlamentarischer Kommunikation im Deutschen Bundestag. a) b) c) d) e)
Das politische System als Kommunikationssystem - Das Parlament
5. Ordnen Sie die folgenden Thesen, Forderungen und Standpunkte der konservativ-autoritären, der liberalen und der linken Parlamentarismuskritik zu: Forderung nach einem starken Staat — Strukturdefekte durch Parlamentsreform zu beheben - Systemimmanente Kritik — Parlament als Exekutivorgan — Parlamentarische Opposition als öffentliches Amt — Scheinrepräsentation der abhängigen Klassen - Parlament als entscheidungshemmende Institution — Parlament in den Staatsapparat eingebaut — Entscheidungen als faule Kompromisse — Absage an den Parteien- und Verbändestaat Konservativ-autoritäre Position:
Liberale Position:
Linke Position:
m
Literaturverzeichnis
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121
Studieneinheit 3
Deutsch, Karl W.: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1970 Frank, Helmar: Was ist Kybernetik? In: Helmar Frank (Hrsg.): Kybernetik. Brücke zwischen den Wissenschaften. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1965, S. 1 1 - 2 2 Görlitz, Axel (Hrsg.): Handlexikon zur Politikwissenschaft. 2 Bände, Reinbek bei Hamburg 1973 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 4. Aufl. Neuwied, Berlin 1969 Hartfiel, Günter: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1972 Hübner, Peter: Informationsrecht des Parlaments. In: Hans-Helmut Röhring/Kurt Sontheimer: Handbuch des deutschen Parlamentarismus. München 1970, S. 2 0 3 - 2 0 5 Lehmbruch, Gerhard: Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich. Tübingen 1967 Leibholz, Gerhard: Repräsentativer Parlamentarismus und parteienstaatliche Demokratie. In: Kurt Kluxen (Hrsg.): Parlamentarismus. 2. Aufl. Köln, Berlin 1969, S. 3 4 9 - 3 6 0 Lenk, Kurt: Wie demokratisch ist der Parlamentarismus. Grundpositionen einer Kontroverse. Stuttgart 1972 Luhmann, Niklas: öffentliche Meinung. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 2 7 - 5 4 Narr, Wolf-Dieter: Theoriebegriffe und Systemtheorie. Stuttgart 1969 Naschold, Frieder: Systemsteuerung. Stuttgart 1969 Oberreuter, Heinrich (1): Die Kluft zwischen Parlament und Öffentlichkeit. Historische Vorbelastungen stellen den Brückenschlag in Frage. In: Das Parlament, Nr. 38 vom 18.9.1971, S. 3
Oberreuter, Heinrich (2): Die Öffentlichkeit des Bayerischen Landtages. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 21 vom 23.5.1970, S. 3 - 3 1 Offe, Claus: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme. In: Gisela Kress/Dieter Senghaas (Hrsg.): Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme. Frankfurt am Main 1969, S. 1 5 5 - 1 8 9 Rausch, Heinz/Oberreuter, Heinrich: Parlamentsreform in der Dunkelkammer? Zum Selbstverständnis der Bundestagsabgeordneten. In: Winfried Steffani (Hrsg.): Parlamentarismus ohne Transparenz. Opladen 1971, S. 1 4 1 - 1 6 4 Schmitt, Carl: Verfassungslehre. 3. Aufl. Berlin 1957 Sontheimer, Kurt (1): Debatte. In: Hans-Helmut Röhring/Kurt Sontheimer: Handbuch des deutschen Parlamentarismus. München 1970, S. 114 bis 116 Sontheimer, Kurt (2): Zum Problem der gesellschaftlichen Kontrolle des Rundfunks und seiner Organisation. In: Herrschaft und Kritik. Probleme der Rundfunkfreiheit. Frankfurtern Main 1974, S. 4 8 - 7 7 Steffani, Winfried (1): Opposition. In: Hans-Helmut Röhring/Kurt Sontheimer: Handbuch des deutschen Parlamentarismus. München 1970, S. 3 1 4 - 3 2 0 Steffani, Winfried (2): Parlamentarische Demokratie — Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation. In: Winfried Steffani (Hrsg.): Parlamentarismus ohne Transparenz. Opladen 1971, S. 1 7 - 4 7 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. 1. Halbband, 4. Aufl. Tübingen 1956
Literaturhinweise zum weiteren Studium
Badura, Bernhard
Bedürfnisstruktur und politisches System. Macht, Kultur und Kommunikation in „pluralistischen" Gesellschaften. Stuttgart: Verlag Kohlhammer 1972; 171 Seiten (Komplexe - und komplizierte — Darstellung der Interdependenzen von Macht, Kultur und Kommunikation unter dem Aspekt der Bedürfnisartikulation und Bedürfnisbefriedigung. Kritische Aufarbeitung vor allem der amerikanischen „community power"-, Partizipations- und Elitenforschung. Im dritten Kapitel, S. 1 2 1 - 1 3 4 , knappe Zusammenfassung der Leitideen.)
122
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Beyme, Klaus von
Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung. München 1972 (= Piper Sozialwissenschaft 12); 337 Seiten (Systematischer Überblick über wissenschaftstheoretische Grundlagen, methodische Prinzipien und Grundbegriffe politischer Theorien. Der Verfasser, der eine Fülle von Literatur der verschiedensten wissenschaftlichen und ideologischen Provenienz verarbeitet hat, versucht durch differenzierte Argumentation den unterschiedlichen Ansätzen gerecht zu werden, ohne den eigenen Standpunkt, einen kritischen Positivismus, zu verleugnen. Als Einführung für fortgeschrittene Anfänger zu empfehlen.)
Deutsch, Karl W.
Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau: Verlag Rombach 1970; 367 Seiten (Gut lesbare, klar gegliederte Darstellung sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Standardwerk kybernetischer Systemtheorie im Bereich der Politikwissenschaft. In der Einleitung zur amerikanischen Neuauflage von 1966, die auch in die deutsche Übersetzung aufgenommen ist, setzt sich der Verfasser mit seinen Kritikern auseinander.)
Ellwein, Thomas
Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1977; XVI/769 Seiten (Ausgewogene Gesamtdarstellung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Im Anhang ist eine Fülle von Quellenmaterial: Daten, gesetzliche Bestimmungen, Verträge usw. wiedergegeben.)
Kluxen, Kurt (Hrsg.)
Parlamentarismus. 2. Aufl. Köln, Berlin: Verlag Kiepenheuer & Witsch 1969 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek 18); VII/511 Seiten (Reader mit „klassischen" Beiträgen zur Theorie und zur Geschichte des Parlamentarismus; Aufsätze über das Parlament als Faktor politischer Entscheidung, über die Beziehungen von Regierung und Parlament, Parlament und Parteien sowie die Rolle der parlamentarischen Opposition.)
123
Loewenberg, Gerhard
Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen: Verlag Wunderlich 1969; 581 Seiten (Voluminöse und informationsreiche politikwissenschaftliche Analyse der Arbeit des Deutschen Bundestages bis zur Großen Koalition von 1966.)
Steffani, Winfried (Hrsg.)
Parlamentarismus ohne Transparenz. Opladen: Westdeutscher Verlag 1971 (= Kritik 3); 272 Seiten (Sammlung von kritischen Aufsätzen zur Funktion, zum Funktionsverlust und zum Funktionswandel des Parlamentarismus. Die meisten Beiträge fordern eine stärkere Beteiligung des Bürgers und größere Transparenz des politischen Prozesses.)
Lösungen
Zur Aufgabe auf Seite 9 8 - 9 9 : 1. Macht / 2. Integration / 3. Konflikt / 4. Vermittlungsebene / 5. Kybernetik / 6. Kommunikationskanäle / 7. Deutsch / 8. Systemtheorie / 9. Output / 10. Rückkopplung / 11. Wiener / 12. Partizipationsmöglichkeit / 13. Regelkreis / 14. Information / 15. Lernfähigkeit. Die richtige Lösung des Zahlenrätsels lautet: „Was in einer Gesellschaft möglich und was nicht möglich ist, folgt nicht nur aus der für sie typischen Verteilung von Macht, sondern auch aus den herrschenden Prioritäten und aus der Struktur und Effektivität etablierter Kommunikationsnetze." Es handelt sich um ein Zitat von Bernhard Badura.
Das politische System als Kommunikationssystem — Das Parlament
Zu den Aufgaben auf Seite 103—104:
Vermittlungsebene
2. Je geringer der Status, desto größer die Apathie. Mit steigendem sozialen Status wachsen die Motivation und die faktischen Möglichkeiten zur Artikulation der eigenen Bedürfnisse und Interessen. 3. a) Aggregation — meint Registrierung und Aufbereitung konkurrierender Forderungen aus der Gesellschaft. b) Selektion — meint die Auswahl dieser Forderungen. c) Integration — meint die Vereinheitlichung und den Zusammenschluß verschiedenartiger Meinungen und Interessen.
Zu den Aufgaben auf Seite 119-121 : 1. a) Verbindung institutioneller und nicht-institutioneller Formen der politischen Meinungs- und Willensbildung. b) Beide hängen voneinander ab: Das Parlament braucht Öffentlichkeit zur Legitimation seiner Arbeit; die Öffentlichkeit braucht das Parlament zur Durchsetzung seiner Forderungen. 2. Vergleichen Sie Ihre Antwort mit dem Text auf Seite 1 0 9 - 1 1 1 ! 125
3. Einige Vorschläge sind im letzten Teil dieser Studieneinheit genannt. Viele weitere Anregungen sind denkbar; zum Beispiel: a) Der Bürger sucht häufiger Kontakt zu „seinem" Abgeordneten; der Abgeordnete versteht sich entsprechend seiner Vermittlungsfunktion auch als Auskunfts- und Beratungsinstanz. b) Erweiterung und Verbesserung der Parlamentsberichterstattung in den Medien; vor allem der Prozeß der Meinungs- und Willensbildung — nicht nur die Ergebnisse und Entscheidungen — sollte stärker beachtet werden. c) Nicht nur Politikern und Journalisten, auch dem „Bürger" sollte in den Medien mehr Raum gegeben werden, sich zu Initiativen und Entscheidungen des Parlaments zu äußern. Statt „Journalisten fragen — Politiker antworten" also zum Beispiel „Bürger fragen — Politiker antworten". 4. a) Aktuelle Stunde b) Fragestunde c) Große Anfrage d) Kleine Anfrage e) Hearing 5. Zuordnung der Kritik am Parlamentarismus: konservativautoritär Forderung nach einem starken Staat
liberal
X
Strukturdefekte durch Parlaments-
X
reform zu beheben Systemimmanente Kritik
X X
Parlament als Exekutivorgan Parlamentarische Opposition als
X
öffentliches Amt Scheinrepräsentation der
X
abhängigen Klassen Parlament als entscheidungshemmende Institution
X
Parlament in den Staatsapparat
X
eingebaut Entscheidungen als faule Kompromisse Absage an den Parteien- und Verbändestaat
links
X X
Studieneinheit 4 Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle der politischen Kommunikation
Politische Öffentlichkeit wird heute — wie wir in der Studieneinheit 2 ausführlich geschildert haben — nicht mehr von Individuen, sondern nahezu ausschließlich von organisierten Interessen gebildet. Parlament, Parteien und Verbände sind die wichtigsten Kommunikationskanäle, durch die einerseits die Gesellschaft ihre Bedürfnisse an das politische System f
signalisiert und andererseits die Entscheidungsträger die Entscheidungsbetroffenen informie-
I Vorinformation |
ren.
Parlament, Parteien und Verbände sind so in einem ständigen Kommunikationsprozeß
mit der Gesellschaft verbunden, wie in der Studieneinheit 3 gezeigt wurde. Das Grundgesetz überträgt den politischen Parteien eine Sonderstellung im politischen System und betont — anders als bei den Verbänden - ihre Rolle bei der Willensbildung des Volkes. Daraus erwachsen den Parteien auch besondere Aufgaben innerhalb der politischen Kommunikationsstruktur. Diese sollen in der vorliegenden Studieneinheit 4 beschrieben werden. Eine der wichtigsten Funktionen der Parteien besteht darin, daß sie Kandidaten für politische Wahlen aufstellen und den Wahlkampf organisieren. In einem demokratischen System sollen Wahlen die politische Herrschaft legitimieren. De facto sind sie heute periodisch wiederkehrende kommunikative Großveranstaltungen: Dem eigentlichen Wahlvorgang, der am Ende der Willensbildung steht, muß die Information aller Bürger, muß die Austragung des Meinungsstreits vorangehen. Nach der Stimmabgabe beginnen neue Kommunikations- und Willensbildungsprozesse. So gesehen sind Wahlen Kulminationspunkt und Neubeginn der politischen Kommunikation einer Gesellschaft. Auch die Binnenkommunikation in den Parteien und ihre Informations- bzw. Propagandatätigkeit gegenüber der Öffentlichkeit sind zu einem erheblichen Teil an den Wahlen orientiert und von ihnen geprägt. Unsere Darstellung behandelt sowohl die kommunikative Kontrolle der Parteien durch die Bürger als auch die in den letzten Jahren zunehmend diskutierten Aspekte der innerparteilichen Demokratie. Auf die Frage, wie die politische Willensbildung funktioniert oder funktionieren sollte, gibt die Politikwissenschaft bislang keine einhellige Antwort. Eine schlüssige Theorie fehlt. Wir haben versucht, einige wichtige Aspekte herauszuarbeiten und verschiedene Theorieansätze dabei zu berücksichtigen.
127
Studieneinheit 4
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l ^ e j P
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Lilo Wunzel (Jugenddelegierte): „Diese dürftigen Informationen darüber, was Bonn beschließt;
diese irrsinnige Entfernung zwischen Parteimitglied und Spitze, die ist ja einfach zum Kotzen!" Fritz Umbach (Bundestagskandidat): „Als Kandidat vertrete ich die Interessen meines Bezirks, nicht wahr..."
Hermann Gewindner (Parteifunktionär): „Irrtum, mein Lieber. Als Kandidat vertreten Sie die gemeinsam beschlossenen Richtlinien der Partei in Ihrem Bezirk, und das ist wohl ein bißchen was anderes, nicht wahr."
Der Film zeigt Kommunikationsprozesse innerhalb einer Partei und zwischen Partei und
Öffentlichkeit zur Zeit einer Wahl.
Inhalt 1.
Der Parteienstaat
130
1.1
Das Monopol der Parteien in der Repräsentativ-Demokratie
130
1.2
Die Aufgaben der Parteien in der Bundesrepublik
130
Aufgabe
131
1.3
Die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien
132
2.
Parteien und politische Kommunikation
133
2.2
Kommunikation zwischen Parteien und Gesellschaft
134
3.
Die Meinungs-und Willensbildung in den Parteien
134
3.1
Information der Mitglieder
134
2.1
Kommunikation zwischen Gesellschaft und Parteien
3.2
Willensbildung von unten nach oben
135
4.
Aspekte innerparteilicher Demokratie
137
5.
Wahlen und politische Kommunikation
138
5.2
Der Bedeutungsverlust von Wahlen
141
5.4
Orientierungsprobleme — Zur Bundestagswahl 1980 und ihren
3.3
5.1 5.3
Kommunikative Kontrolle der Parteien durch die Bürger
Normative Aspekte der Wahlen in einer demokratischen Gesellschaft
Parteien und Öffentlichkeit im Wahlkampf Konsequenzen (Aufsatz von Dieter Just)
136
138
143
146
Aufgaben
154
Literaturverzeichnis
158
Literaturhinweise zum weiteren Studium Lösungen
128
133
159
160
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
Wie denken Sie darüber?
Süddeutsche Zeitung, 19. April 1974-.
Bürgerscheu vor den Parteien VON P E T E R D I E H L - T H I E L E In der Bundesrepublik haben die Parteien — im Vergleich zu denen in anderen demokratischen Staaten Westeuropas — ihren Mitgliederbestand lange Zeit nur auf dürftige Zahlengrößen bringen können. Am ärgsten war das „Mißverhältnis", die Kluft zwischen den vielen Wählerstimmen und dem kleinen Stamm fester, beitragszahlender Parteifreunde stets bei der CDU. Sich offen zu einer Partei zu bekennen, ihr beizutreten — davor hatten die Bürger der Bundesrepublik eine besondere Scheu. Die Gründe für diese Zurückhaltung sind mehrschichtig: Gewiß wirkt bei vielen das Erlebnis der Hitler-Jahre und das Trauma der „Entnazifizerung" nach. Auch diejenigen, die später aus der DDR geflohen kamen, hatten kaum das Bedürfnis, sich einer politischen Partei fest anzuschließen. Jene vorsichtige Distanz, die der weitaus größte Teil der Bürger gegenüber den Parteien wahrte, hat sich freilich nie bei den geheimen Stimmabgaben zu Wahlentscheidungen gezeigt. Im Gegenteil, der mangelnden Bereitschaft, einer Partei beizutreten, stand stets eine im internationalen Vergleichsmaßstab erstaunlich hohe freiwillige Wahlbeteiligung gegenüber. Die Scheu vor einer Parteimitgliedschaft, die Abneigung, sich öffentlich als Sympathisant dieser oder jener politischen Richtung zu erkennen zu geben — ist dies ein Phänomen der Nachkriegszeit, das jetzt wie diese versinkt? Den Stimmungswechsel hat zuerst die SPD zu spüren bekommen. Seit 1969 strömten ihr vor allem jüngere Leute in so großer Zahl und mit so großem Drang zur Aktivität zu, daß es der Partei, je näher sie der Ausgabe des einmillionsten Mitgliederausweises kam, immer schwerer fiel, ihre Identität zu wahren. Auch die FDP konnte regen Zulauf verzeichnen; im vergangenen Jahr hatte sie von allen Parteien die proportional höchste Zuwachsrate. (Die Mitgliederzahl stieg um neun Prozent auf 64 000 an). Laute Bekenntnisse zu den Unionsparteien sind in der Öffentlichkeit vergleichsweise noch wenig zu hören. Aber die plötzlich aufgebrochene Bereitschaft zum parteipolitischen Engagement scheint gegenwärtig am stärksten der CDU/CSU zugute zu kommen. 7600 neue Mitglieder allein im vergangenen März. Wenn das so weitergeht, käme die Union per anno auf eine Zuwachsquote von 20 Prozent. CDU und CSU haben zusammen jetzt 600 000 eingeschriebene Parteifreunde. Im internationalen Vergleich nimmt sich diese Zahl freilich bescheiden aus: Italiens Democrazia Cristiana beispielsweise hat 1,8 Millionen, die Konservative Partei Englands gar 2,8 Millionen Mitglieder. So froh die Parteien in der Bundesrepublik
darüber sein können, daß sich das Verhältnis zu ihren Sympathisanten „normalisiert", daß die Scheu vor dem offenen politischen Bekenntnis abnimmt und der Mitgliederstand stärker wird, „normal" ist das Verhältnis noch nicht. Zwar sind es gut 95 Prozent aller Wähler, auf die sich SPD, CDU, CSU und FDP stützen können, und die Wahlbeteiligung war bei der letzten Bundestagswahl wieder sehr hoch- Dies gibt den Parlamentsparteien den Anschein ungewöhnlicher Verbundenheit mit den Bürgern. Gegenüber der Weimarer Republik und im Vergleich zu Italien und Frankreich zeigt die Bundesrepublik so weithin ein Bild außerordentlicher demokratischer Stabilität. Aber wie steht es tatsächlich mit der politischen Mitwirkung des Volkes bei der Willensbildung der Parteien? Nodi Immer sind in der Bundesrepublik nicht mehr als vier Prozent der Wahlberechtigten Mitglied in einer Partei. Und von diesen Mitgliedern ist in der Regel nur wieder jeder zehnte bereit, kontinuierlich in seiner Partei aktiv mitzuarbeiten. Insgesamt ist es also eine kleine Minderheit, der das Wählervolk den parteipolitischen Kurs und die Vorauswahl der Kandidaten überläßt. Die Mehrheit vertraut darauf, daß sie mit dem Stimmzettel immer wieder die erwünschten Korrekturen bewirken kann, wenn es zwischen der Partei und ihren bisherigen Sympathisanten zu einer Entfremdung kommt. Ein momentaner Dissens mit ehemals treuen Wählern ist zwar nicht von vornherein verwerflich. Genausowenig wie eine Regierung ist eine Partei .grundsätzlich gut beraten, wenn sie nur dem Volk aufs Maul schaut und nachplappert, was Demoskopen an Wählermeinungen ermitteln. Potentiell gefährlich wird es aber dann, wenn für unzufriedene, sich nicht repräsentiert fühlende Wählergruppen keine anderen Parteien zur Alternative stehen. Daß sich die Wähler in der Bundesrepublik häufiger als früher vom politischen Verhalten „ihrer" Partei befremdet fühlen, zeigt die immer stärker gewordene Stimmenfluktuation bei den Wahlen. Die Entfremdung einer Partei von den Interessenten größerer Wählerschichten weist jedoch immer auch auf die Unfähigkeit oder Willenlosigkeit dieser Schichten hin, ihre Interessen und Standpunkte gegen Widerstand zu verteidigen. Ein solches Manko, der Verlust ehemaliger Wähler, kann nicht immer nur mit obrigkeitsgläubiger Geste der Parteiführung zur Last gelegt werden. Bei allem Respekt vor jedermanns gutem Recht, sich der politischen Mitarbeit zu enthalten: Jeder Bürger ist auch mitverantwortlich für das, was ihm an den Parteien nicht gefällt.
129
Studieneinheit 4
1.
Der Parteienstaat
aber auch wegen ihrer faktischen Position an den Hebeln der Macht — über eine Schlüsselstellung im Meinungs- und Willensbildungsprozeß einer Gesell-
1.1
Das Monopol der Parteien in der Repräsentativ-Demokratie
Wenn in der Bevölkerung — wie im voranstehenden Artikel der „Süddeutschen Zeitung" beschrieben — auch noch so viele Reserven gegenüber den politischen Parteien bestehen, so ändert dies nichts daran, daß die Parteien im Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung eine nahezu monopolartige Stellung einnehmen. Zwar gibt es noch Gemeindeparlamente mit sogenannten „Unabhängigen", d.h. keiner Partei angehörenden Mandatsträgern, und es mag hier und da noch einen parteilosen Minister geben; aber dabei handelt es sich um Ausnahmen. Meist werden politische Funktionen von Menschen ausgeübt, die einer Partei angehören. In Landesparlamenten und Bundestag sitzen ausschließlich Parteimitglieder, und darüber hinaus sind viele gesellschaftliche Positionen mit Angehörigen von Parteien besetzt. Ganz gleich, ob es darum geht, bestimmte Themen aufzubereiten, über sie zu entscheiden oder Kandidaten für die Wahl zu einem politischen Amt vorzuschlagen: immer sind die Parteien zur Stelle; in der Politik geht nichts ohne sie. Dies ist im kleinen Rahmen so wie im großen; ob es schwerwiegende politische Probleme zu lösen gilt oder ob über untergeordnete Fragen entschieden werden muß. So ist es durchaus verständlich, wenn man moderne westliche Regierungssysteme als Parteienstaaten bezeichnet, ja, wenn die Mehrzahl der Politologen erklärt, trotz aller Mängel sei keine Alternative zum Parteienstaat in Sicht. Machen wir uns die Bedeutung der Parteien und ihre monopolartige Stellung im politischen Prozeß an einem Beispiel klar. Stellen Sie sich vor, Sie wollen mit Freunden in Ihrer Stadt ein Jugendzentrum errichten. Angenommen, Sie können das Zentrum nicht in eigener Regie und mit eigenen finanziellen Mitteln aufbauen: dann werden Sie sich an die Mitglieder des Stadtrates und an die örtlichen Parteien wenden. Wenn Sie es schaffen, daß Ihr Anliegen von einer oder mehreren Parteien akzeptiert wird, ist der erste Schritt für eine Mehrheit im Stadtrat schon getan. Sprechen sich die Parteien jedoch gegen ihren Plan aus, ist von der Stadt keinerlei Unterstützung zu erwarten. Die Parteien verfügen — nicht zuletzt dank ihrer Omnipräsenz im Bereich der politischen Kommunikation 130
schaft.
1.2
Die Aufgaben der Parteien in der Bundesrepublik
In der Studieneinheit 3 wurde die Rolle der Parteien in parlamentarischen Demokratien beschrieben. Dabei haben wir den Parteien unter systemtheoretischen Aspekten die Funktionen • Aggregation' von Interessen und Bedürfnissen • Selektion der Gesellschaft • Integration zugeordnet. Aus einer anderen Sicht hat sich der Gesetzgeber mit den Funktionen der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Die rechtlichen Grundlagen des Parteiengefüges und der inneren Ordnung der Parteien wurden sowohl im Grundgesetz wie im Parteiengesetz normiert. Artikel 21 des Grundgesetzes ^ ^
„(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben. (2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. (3) Das Nähere regeln Bundesgesetze."
Paragraph 1 des Parteiengesetzes ^ ^ „(1) Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
(2) Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere • auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmen, • die politische Bildung anregen und vertiefen, • die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, • zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, • sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, • auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozeß der staatlichen Willensbildung einführen und • für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen. (3) Die Parteien legen ihre Ziele in politischen Programmen nieder." Diese Normen bedürfen einer Ergänzung, weil sie nicht konkret auf die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik eingehen: In der parlamentarischen Demokratie
stehen sich Regierungspartei(en) und Oppositionsparteien) gegenüber. Während Grundgesetz und Parteiengesetz zunächst von der Frontstellung Parlament (bzw. alle dort vertretenen Parteien) kontra Regierung ausgehen, haben Parlamentsparteien heute de facto durchaus unterschiedliche Aufgaben. Als Regierungsparteien sind sie Bindeglied zwischen Volk und Regierung und besitzen somit eine legitimatorische Aufgabe. Sie unterstützen die von ihnen eingesetzte Regierung bei der Verwirklichung der gemeinsamen politischen Ziele und informieren ihre Parteifreunde, ihre Wähler, die Öffentlichkeit — alles mit dem Ziel, die Regierung zu unterstützen und für sie zu werben. Dagegen haben die Oppositionsparteien die Funktion, die Regierungsarbeit mit Kritik und Kontrolle zu begleiten. Es ist ihre Hauptaufgabe, die Macht der Herrschenden zu mäßigen. In der Regel können sich Kritik und Kontrolle immer nur auf kommunikativem Wege vollziehen: Da die Opposition bei Abstimmungen unterlegen ist, bleibt lediglich die Möglichkeit, die negativen Seiten der Regierungspolitik innerhalb und außerhalb des Parlaments anzuprangern, um die öffentliche Meinung zu mobilisieren und Druck auf die Regierung auszuüben. Die Oppositionsparteien müssen Alternativen zur Politik der Regierungsparteien entwickeln, um sich dem Wähler als potentielle Träger der Regierungsverantwortung zu empfehlen und auf einen politischen Machtwechsel hinzuarbeiten.
Aufgabe Welche verfassungspolitischen Konsequenzen ergeben sich aus Artikel 21 des Grundgesetzes und aus dem Parteiengesetz? θ Die Monopolstellung der politischen Parteien wird rechtlich fixiert. θ Durch ihre Konstitutionalisierung werden die Parteien in den Rang von Verfassungsorganen erhoben. O Die Parteien werden als freie politische Vereinigungen innerhalb der Gesellschaft bestätigt, θ Die Parteien erscheinen als extrakonstitutionelle Institutionen. θ Das politische System der Bundesrepublik Deutschland wird durch die Verfassung ausdrücklich als Parteienstaat deklariert. Überprüfen Sie die Richtigkeit Ihrer Antwort anhand der folgenden Textauszüge von Kurt Sontheimer! 131
Studieneinheit 4
1.3
Die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien
„Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den wenigen demokratischen Staaten, in denen Stellung, organisatorische Prinzipien und Aufgabe der politischen Parteien in der Verfassung und durch ein spezielles Parteiengesetz geregelt sind (Art. 21 des Grundgesetzes und Parteiengesetz vom 24. Juli 1967). Die besondere Heraushebung der politischen Parteien in der Verfassung hat zwei Ursachen: 1. Die Schöpfer der Verfassung wollten im Gegensatz zur Weimarer Republik die Möglichkeiten schaffen, politische Parteien zu verbieten, die ihre Aktivität darauf richten, die demokratische Ordnung zu unterminieren und schließlich zu beseitigen, wie das die Nationalsozialisten getan hatten. Sie glaubten, daß die Möglichkeit des Verbots politischer Parteien die Entwicklung eines demokratischen Parteiensystems gewährleisten würde. 2. Außerdem hielten sie es aufgrund der juristischformalistischen Denkweise der Deutschen für notwendig, die Parteien als Organe der politischen Willensbildung verfassungsrechtlich zu sanktionieren und damit auch zu legitimieren. Tatsächlich war in der Weimarer Republik unter Bürokraten und Rechtswissenschaftlern die absurde Auffassung verbreitet, die Parteien seien extrakonstitutionelle, also außerhalb der Staatsverfassung stehende Institutionen. Man sah einen Widerspruch darin, daß die Parteien das gesamte politische Leben durchdringen, aber in dem Grundsatzdokument über die Ordnung des politischen Lebens, nämlich der Verfassung, nicht vorkommen. Um dem typisch deutschen Dilemma zu entgehen, nur anerkennen zu können, was auch ausdrücklich rechtlich geregelt ist, hat man die Parteien, wie es in der Sprache der Juristen heißt, .konstitutionalisiert', womit das Problem einer überzeugten Anerkennung des Parteienstaates natürlich auch nicht gelöst ist." Die Parteienstaatstheorie „Die deutsche Verfassungsjurisprudenz hat von diesem neuen rechtlichen Faktum viel Aufhebens gemacht. Einige ihrer Vertreter, allen voran Gerhard Leibholz, basierten darauf eine Theorie des Parteienstaates, die besagte, daß die Parteien, die bislang freie Assoziationen der Gesellschaft gewesen wären, durch ihre Kon132
stitutionalisierung in den Rang von Verfassungsorganen (wie z.B. Bundesregierung und Bundestag) aufgestiegen seien. Diese theoretischen Überlegungen haben für die Verfassungsrechtsprechung über die politischen Parteien tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt, ansonsten drückt die Formel vom Parteienstaat nichts anderes aus als die empirisch nachweisbare Wahrheit, daß der moderne demokratische Staat durch die politischen Parteien regiert wird. Allerdings hat sich die Auffassung, die politischen Parteien hätten den Rang von Verfassungsorganen, nicht voll durchsetzen können. Die herrschende Meinung sieht in den politischen Parteien freie Vereinigungen der Gesellschaft mit politischen Zielsetzungen, die aufgrund ihrer eminenten Bedeutung für das Staatsleben besonderen Normierungen des Verfassungsrechts unterliegen (Parteienprivileg)." Willensbildung des Staates kontra Willensbildung des Volkes „Die theoretische Frage, ob die Parteien durch ihre verfassungsrechtliche Erwähnung zu staatlichen Institutionen geworden seien, hat bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Finanzierung der politischen Parteien durch den Staat eine wichtige Rolle gespielt. Die Parteien hatten sich aufgrund ihrer durch das Verfassungsrecht verbürgten Stellung das Recht zugesprochen, Steuergelder für die Finanzierung ihrer Arbeit in Anspruch zu nehmen, die entsprechend der Zahl der Mandate auf die verschiedenen im Bundestag vertretenen Parteien verteilt wurden. Diese Mittel wurden anfangs angeblich nur für die politische Bildungsarbeit der Parteien in Anspruch genommen, dienten aber in Wirklichkeit der zusätzlichen Finanzierung der allgemeinen Parteiarbeit. Hätte das Gericht sich die Auffassung voll zu eigen gemacht, die Parteien seien Teile der staatlichen Organisation, so hätte es die Finanzierung der Parteien durch den Staat gutheißen müssen, da der Staat und seine Organe zur Erledigung ihrer Aufgaben Steuern erheben können. Wissend, daß die politischen Parteien an staatlichen Zuschüssen sehr interessiert waren, machte das Gericht eine nur aus der Tradition des deutschen Verfassungsrechts verständliche Unterscheidung zwischen der Willensbildung des Volkes, die sich durch die Parteien im staatsfreien Raum der Gesellschaft vollziehe, und der Willensbildung des Staates, die durch seine verfassungsmäßigen Organe erfolge. Da die Parteien die politischen Organisationen sind, die die Kandidaten für die öffentlichen
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
Ämter rekrutieren und aufstellen, kann der Staatswille ohne die vorausgehende Aktivität der Parteien nicht gebildet werden. Die Wahlen zu den Staatsorganen erscheinen in dieser Theorie somit als jene Einrichtungen, durch die es möglich wird, den politischen Willen des Volkes in einen staatlichen Willen zu transformieren. Demgemäß war es nach der Auffassung des Verfassungsgerichts zulässig, den Parteien einen Teil ihrer Wahlkampfkosten zu erstatten. Praktisch wurde damit eine allerdings begrenzte [zur Zeit 3,50 DM pro Kopf] Finanzierung der Parteien durch den Staat legalisiert." Die innerparteiliche Willensbildung „In der Frage der inneren Ordnung der Parteien mußte das Gesetz ebenfalls einer Vorschrift des Grundgesetzes gerecht werden, über die eine ebenso lebhafte Diskussion entstanden war wie über die Frage der Bedeutung der Konstitutionalisierung der Parteien. Art. 21 GG schreibt vor, daß die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen müsse. Diese Bestimmung warf naturgemäß die Frage auf, unter welchen Bedingungen die Organisation einer Partei als demokratisch angesehen werden kann. Die Diskussion bewegte sich zwischen der weitverbreiteten These, daß eine Partei dann demokratisch organisiert sei, wenn ihre Willensbildung von unten nach oben verlaufe, und der konträren Auffassung, die innerparteiliche Demokratie sei bereits dann gewährleistet, wenn die Parteiführungen — genauso wie in der repräsentativen Demokratie als Ganzes — sich gegenüber den Parteimitgliedern verantworten, das heißt zur Wahl stellen müssen. Das Gesetz selbst konnte diese theoretische Debatte freilich nicht schlichten; es hat aber in einem gewissen Umfang Vorkehrungen getroffen, daß die Führungsgremien der Parteien sich durch innerparteiliche demokratische Wahlen legitimieren müssen und nur zu einem geringen Teil aus sogenannten Ex-officio-Mitgliedern bestehen dürfen. Außerdem hat man dafür Sorge getragen, daß den Parteischiedsgerichten, welche die Streitigkeiten zwischen der Partei und ihren Mitgliedern zu schlichten haben, keine Vorstandsmitglieder und Parteifunktionäre angehören dürfen, um eine größere richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten. Wenngleich das Parteiengesetz die Erwartungen derer, die aus ihm ein wirksames Instrument zur Sicherung demokratischer Verhältnisse in den Parteien machen
wollten, nicht voll erfüllt hat, stellt es doch ein Gesetzeswerk dar, das es den Parteien schwerer macht als früher, antidemokratische Verfahren und Praktiken zu entwickeln" (Sontheimer, S. 89 ff.).
2.
Parteien und politische Kommunikation
Parteien sind Vermittlungsinstanzen und Kommunikationskanäle: Sie übermitteln dem politischen Entscheidungssystem Informationen über Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Gesellschaft und geben Informationen des Staates an die Gesellschaft weiter bzw. kommentieren administrative Handlungen. Außerdem informieren sie die Öffentlichkeit über ihre kurz- und langfristigen Programme. Hier sollen die beiden Richtungen des Kommunikationsflusses zwischen Gesellschaft und Parteien betrachtet werden.
2.1
Kommunikation zwischen Gesellschaft und Parteien
Die in der Gesellschaft artikulierten Bedürfnisse, Interessen und Forderungen werden in der Regel nicht direkt bei staatlichen Stellen, sondern bei intermediären Instanzen wie Verbänden und Parteien vorgebracht. Die Parteien verarbeiten die von außen an sie herangetragenen Wünsche, indem sie die entsprechenden Fragen auf den verschiedenen Ebenen zur Diskussion stellen und eine einheitliche Meinung innerhalb ihrer Gremien herzustellen versuchen. Die Informationen aus der Gesellschaft erreichen die Parteien direkt über interpersonale Kommunikation wie auch über die Massenmedien. Interpersonal bedeutet in diesem Fall, daß ein Parteimitglied von einem Problem erfährt oder damit konfrontiert wird, sich seiner annimmt und es bei einer Versammlung zur Sprache bringt. Die Parteien registrieren auch die von den Massenmedien vermittelten Bedürfnisse der Gesellschaft. Ähnlich wie Regierung und Verwaltung verfügen sie über einen Stab von Mitarbeitern, die alle wichtigen Informationen von außen sammeln, ordnen und speichern und sie an die Parteiführung oder die Parteimitglieder weitergeben.
133
Studieneinheit 4
Wichtige Input-Lieferanten sind weiterhin die Verbän-
Weil die Parteien auf die Sympathien bei den Bürgern
de. Es finden Treffen zwischen Partei- und Verbands-
— und auf deren Wählerkreuzchen — hoffen, versuchen
sprechern statt, bei denen Meinungen und Erfahrungen
sie, die Wahlberechtigten in ihrem Sinn zu beeinflus-
ausgetauscht werden. Viele Verbandsrepräsentanten
sen. Nicht auf die optimale Information, sondern auf
können auf diesen Umweg verzichten. Als Parteimit-
die positive Reaktion der Öffentlichkeit kommt es ih-
glieder — nicht selten sind sie Mandatsträger und in
nen an.
der Partei einflußreich — sorgen sie dafür, daß die Partei ständig über ihre Wünsche und Forderungen informiert ist.
Die Parteien lassen sich Werbung und Propaganda viel kosten. Ihre Öffentlichkeitsabteilungen produzieren zahllose Verlautbarungen, Informationsschriften und
Informationen aus der Gesellschaft erhalten die Partei-
Stellungnahmen, um über Presse und Rundfunk die
en auch von ihren Anhängern und Mitgliedern in der
Meinungs- und Willensbildung der Gesellschaft in ihrem
Verwaltung, in Aufsichtsräten, in Rundfunkgremien
Sinn zu beeinflussen.
und sonstigen Ausschüssen. Nicht zuletzt deshalb begnügen sich die Parteien heute nicht mehr damit, Kandidaten für staatliche Ämter zu präsentieren, sondern versuchen, ihre Gewährsleute in wichtige berufliche Positionen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik einzuschleusen, um an den einflußreichen Stellen über möglichst viele Informanten und Sympathisanten zu verfügen. So dringen die Parteien in immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens vor.
2.2
Kommunikation zwischen Parteien und Gesellschaft
Eine der wichtigsten Funktionen der Parteien ist die Transmissionsriemenfunktion:
Die Parteien sollen die
Die zuständigen Referenten veranstalten Pressekonferenzen mit prominenten Politikern oder Fachleuten der eigenen Partei und stehen für die Kontaktaufnahme zwischen interessierten Journalisten und Parteirepräsentanten zur Verfügung. Sie bemühen sich um ein freundschaftliches Verhältnis zu den Redakteuren der Medien. So organisieren sie mitunter auch gesellige Veranstaltungen, bei denen im zwanglosen Gespräch ein Informationsaustausch möglich ist. Die Journalisten erhoffen sich davon Hintergrundinformationen, die über offizielle Kanäle nicht zu erhalten sind, während die Parteien für ihre Vorstellungen werben wollen und Gelegenheit suchen, die Reaktionen auf ihre Politik zu testen.
gesellschaftliche Interessenvielfalt zusammenfassen, sie artikulieren und in den Entscheidungsprozeß des politischen Systems einbringen. Das Volk hat nach diesen Vorstellungen also die Möglichkeit, sich an den Grundentscheidungen der Politik
3.
Die Meinungs- und Willensbildung in den Parteien
3.1
Information der Mitglieder
zu beteiligen, und zwar auf zweifache Weise: Einmal können die Bürger durch die Mitgliedschaft in einer Partei bei deren Willensbildung mitwirken; zum anderen stimmen sie als Wähler über die von den Parteien formulierten Ziele ab.
Die Parteien greifen politische Themen auf, strukturieren sie und bereiten sie zu Beschlußvorlagen auf. In der
Werbung und Propaganda Die Kommunikation zwischen den Parteien und der Gesellschaft wird von den Wahlen maßgeblich beeinflußt. Dabei geht es den Parteien darum, die Öffentlichkeit über die Inhalte ihrer Programme zu informieren und die von ihnen aufgestellten Kandidaten vorzustellen; denn die besten Absichten, Ziele und Program-
Regel geschieht das in einem Reduktionsprozeß: Man vereinfacht komplexe Probleme so, daß in einer „JaNein-Abstimmung" darüber entschieden werden kann. A m Ende des Willensbildungsprozesses kommt es zur Abstimmung, und danach wird die Vorlage als Meinung der Gesamtpartei an die politischen Entscheidungsinstanzen weitergeleitet.
me sind wertlos, solange der Wähler sie nicht kennt.
Dieser Willensbildungsprozeß soll, wie oben gezeigt wur-
Die Präsentation von Programmen und Kandidaten
de, nach demokratischen Grundsätzen ablaufen. Das
nach außen findet mit bestimmten Absichten statt:
bedeutet letztlich, daß er im Prinzip von unten nach
134
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
oben verlaufen sollte. Es gilt, die vorhandenen Meinungen zu integrieren und die Innovationsvorschläge aufzunehmen. Grundlage für die erfolgreiche Teilnahme des einzelnen am internen Willensbildungsprozeß ist eine ausreichende Information der Mitglieder, und diese wiederum setzt voraus, daß parteiinterne Vorgänge transparent gemacht werden und die Basis bei Entscheidungen mitreden kann. Um die parteiinterne Kommunikation zu organisieren und zu strukturieren, geben die Parteien Zeitungen und Informationsdienste für Mitglieder und für die Öffentlichkeit heraus. Auf Bundesebene existieren Wochenzeitungen wie der „Vorwärts" (SPD) oder der „Bayernkurier" (CSU), die beide auch am Kiosk erhältlich sind, Monatsschriften wie „Liberal" (FDP) und spezielle Schriften für die Theoriediskussion wie die „Neue Gesellschaft" (SPD) oder „Die Sonde" (CDU). Arbeitsgruppen innerhalb der Parteien und regionale Verbände verfügen meist ebenfalls über eigene Informationsdienste. Auf diese Weise versuchen die Parteien, eine interne Öffentlichkeit als Plattform für Diskussion und Meinungsbildung herzustellen. Im allgemeinen sind die Informationsdienste und ähnliches Material mehr oder weniger fest in der Hand der Führung der jeweiligen Parteigliederung. Der Vorstand bestimmt, was nach außen gelangt. Hinzu kommt, daß die Parteien zur Oligarchiebildung neigen, d.h. daß einige wenige Führer die Partei im Griff haben und dazu tendieren, wesentliche Entscheidungen ohne die Beteiligung der Parteibasis zu treffen. Kann interne Kommunikation in Parteien also nur stattfinden, wenn sie von der Parteihierarchie akzeptiert wird? Diese Frage rührt an das Selbstverständnis jeder einzelnen Partei. Die Möglichkeiten der Basis, mit Initiativen durchzudringen, sind durchaus unterschiedlich. Gleiches gilt für die Grenzen, innerhalb derer man als Mitglied Grundsatzfragen zur Disposition stellen kann.
3.2 Willensbildung von unten nach oben Vor allem die Jugendverbände der Parteien — also Jungsozialisten, Junge Union, Jungdemokraten usw. — verstehen es immer wieder, die Parteihierarchien mit abweichenden Auffassungen zu konfrontieren und sie zu zwingen, zu ihren Argumenten Stellung zu beziehen. Wenn die Aktivität der jungen Leute den „Mutterparteien" auch nicht immer recht ist, so mußten diese dennoch nicht selten erkennen, daß die Jugend mit ihren
Forderungen und Vorschlägen wichtige Themen in die Diskussion eingebracht hat — ganz unabhängig davon, ob der Jugendverband eine innerparteiliche Mehrheit für seine Anregungen fand. Neben den Jugendverbänden versuchen auch die einzelnen Arbeitsgemeinschaften oder Arbeitskreise, die innerparteiliche Diskussion um neue Themen, Auffassungen, Vorschläge und Informationen von außen zu bereichern. Die Bandbreite dieser Inputs zeigt ein Blick auf solche Gruppierungen: Es gibt Kreise für Selbständige, Arbeitnehmer, Frauen, Studenten, ältere Menschen und viele mehr. Sie alle können sich an den parteilichen Diskussionen beteiligen.
Präsidium Landesvorstand Parteiausschuß
AG Landesebene
Parteitag
Bezirksvorstand AG Bezirksebene
Bezirksparteitag
Kreisvorstand AG Kreisebene
Kreishaupt- oder Kreisvertreterversammlung
Ortsvorstand AG Ortsebene
Ortshauptversammlung
Arbeitsgemeinschaften Mitglieder
= Anträge
Mitglieder
1=
Wahlen
Wege parteilicher Mitbestimmung am Beispiel der CSU 135
Studieneinheit 4
Andererseits zeigt diese Aufzählung auch, daß in den gro-
Kommunikative Kontrolle
ßen Parteien der Bundesrepublik divergierende Inter-
und Partizipation
essen aufeinanderstoßen. Man spricht heute auch von Omnibus-, Allerwelts- oder Volksparteien — was nichts
Die Forderung nach kommunikativer Kontrolle bedeu-
anderes besagt, als daß Parteien heute nur mehrheits-
tet nicht, daß alle parteiinternen Konflikte in der Öf-
fähig sind, wenn sie für viele Interessen eintreten und
fentlichkeit ausgetragen werden. Allerdings kann man
viele Wähler ansprechen. Damit ist eine Reduktion der
davon ausgehen, daß es sowohl der Partei als auch der
möglichen Alternativen in Grundsatzfragen verbunden;
Öffentlichkeit nützt, wenn — mehr als dies jetzt ge-
das System als Ganzes wird nicht mehr in Frage gestellt.
schieht — auf eine Rückbindung an die Gesellschaft Wert gelegt wird. Falls sich die Parteien mehr zur Ge-
3.3
Kommunikative Kontrolle der Parteien
sellschaft hin öffnen würden, wäre die oft zu Recht vor-
durch die Bürger
gebrachte Kritik an der „Bürgerferne" der Parteien gegenstandslos.
Angesichts der enormen Bedeutung der Parteien im Bereich der politischen Kommunikation ist es wichtig, daß nicht nur die Parteimitglieder, sondern auch die Wähler die in den Parteien stattfindenden Prozesse einem kritischen Urteil unterziehen können, das über die Abgabe oder den Entzug der Stimme bei den Wahlen hinausgeht. Eine Rückbindung an die Öffentlichkeit darf nicht fehlen.
Auf jeden Fall ist zu fordern, daß die Parteien nach bestimmten Entscheidungen der Öffentlichkeit Rechenschaft darüber abgeben, unter welchen Umständen und nach welchen Gesichtspunkten man sich auf einzelne Aussagen festgelegt hat. Wer davon ausgeht, daß die Parteien heute faktisch über
Rückbindung an die Öffentlichkeit bedeutet, daß ein
ein Umsetzungsmonopol in der politischen Meinungs-
ständiger Prozeß kommunikativer Kontrolle zwischen
und Willensbildung verfügen, muß — wenn er an den
Partei und Gesellschaft stattfindet, natürlich vorausge-
Entscheidungen graduell mehr beteiligt sein will als bloß
setzt, daß die parteiinternen Vorgänge transparent ge-
durch sein Wählerkreuzchen — Mitglied einer Partei wer-
macht und zur Diskussion gestellt werden. Das Verhält-
den und dort aktiv mitarbeiten. Natürlich kann der ein-
nis der Parteien zur Öffentlichkeit darf sich also nicht
zelne auch als Parteimitglied die Welt nicht aus den
darauf beschränken, Beschlüsse bekanntzugeben; viel-
Angeln heben, und es ist beispielsweise mehr als frag-
mehr ist die Gesellschaft über deren Hintergründe auf-
lich, ob er etwa auf die verteidigungspolitische Kon-
zuklären, müssen Motivationen und Absichten dem
zeption wesentlichen Einfluß auszuüben vermag. Aber
Wähler mitgeteilt werden. Ebenso sollte der Öffentlich-
tendenziell und potentiell ist er an den Meinungs- und
keit gezeigt werden, wie die gesellschaftlichen Proble-
Willensbildungsprozessen stärker beteiligt als der Staats-
me in die Parteiprogramme eingehen.
bürger, der ausschließlich zur Wahl geht.
Tatsächlich geschieht dies heute nur selten. Unter dem
Neben der aktiven Teilnahme an den Prozessen in den
Eindruck, daß beim Wähler nur Geschlossenheit an-
Parteien eröffnet die kommunikative Kontrolle auch
kommt, versuchen die Parteien, auch nur den geringsten
gewisse Partizipationschancen. Indem man sich über die
Anschein der Existenz verschiedener Meinungen in den
Vorgänge innerhalb der Parteien informiert und mit
eigenen Reihen zu verdecken. Der Konkurrenzkampf
anderen darüber spricht, übt man — gewissermaßen als
der Parteien untereinander trägt noch weiter dazu bei,
Teil der Öffentlichkeit — insofern Kontrolle aus, als
viele interne Vorgänge vor dem Gegner — und damit
die Parteien die öffentliche Meinung beobachten und
vor der Öffentlichkeit — zu verbergen, um ihm keine
das Feedback aus der Bevölkerung Impulse für ihre Ar-
Angriffsflächen zu bieten.
beit liefert.
136
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
4.
Aspekte innerparteilicher Demokratie
In den letzten Jahren sind aus den Parteien heraus wiederholt Forderungen nach einer Verbesserung der innerparteilichen Demokratie erhoben worden. Helmuth Pütz, der die Willensbildung zur Bildungspolitik in der CDU untersucht hat, ist einer der Autoren, die Vorschläge hierzu formuliert haben. Er gelangte zu folgenden „Hypothesen zum innerparteilichen Willensbildungsprozeß": „Von funktionierender innerparteilicher Demokratie kann gesprochen werden, wenn die Mitglieder wirksam an politischen Grundentscheidungen teilnehmen und ihre Kontrollfunktionen wahrnehmen können, wenn um politische Ziele und Führungspositionen offene Auseinandersetzungen stattfinden und die Führungsorgane durch gestufte Wahlen von unten nach oben eingesetzt und abberufen werden. Die Chancen innerparteilicher Mitgliederpartizipation werden dann vergrößert, wenn • eine Partei eine pluralistische Struktur besitzt, • die Willensbildung sich in offener, konkurrierender Form vollzieht, • rege Kommunikationsströme in verschiedenen Richtungen und organisationsinterne Transparenz vorhanden und wirksam sind, • Verfahren direkter und plebiszitärer Willensbildung praktiziert werden, • innerparteiliche Dezentralisierung oligarchische Machtkumulation verhindert, • Konflikte in der Partei offen ausgetragen werden und • eine innerparteiliche Opposition tätig sein kann, • wenn die innerparteiliche Integration nicht durch bloße Koordination von Interessenblöcken verdrängt wird und • wenn die Einwirkungsfaktoren im Willensbildungsprozeß ausgewogen sind, im vielschichtigen Prozeß der Willensbildung also nicht ein Faktor oder mehrere dominieren.
• den Postulaten der äußeren Geschlossenheit der Partei und der Führungseffizienz Priorität eingeräumt wird, • die Mitglieder sich im Willensbildungsprozeß apathisch verhalten und • wenn die Führung die Mitgliederbeteiligung nicht herausfordert und anregt. Da diese Prämissen funktionierender innerpolitischer Willensbildung überwiegend in der Regel in der Parteienwirklichkeit nicht vorhanden sind, da vielmehr eine oligarchisch verfestigte Führungsgruppe den innerparteilichen Willensbildungsprozeß beherrscht, kann sich eine partizipatorische und demokratische Willensbildung der Mitglieder von unten nach oben nicht entwickeln. Da sich das Problem demokratischer Willensbildung in Parteien im Kern auf die Frage nach dem Ausmaß innerparteilicher Mitgliederpartizipation reduziert, diese aber unzureichend ist, kann auch nicht von funktionierender demokratischer Willensbildung in Parteien gesprochen werden. Die Hypothesen zur innerparteilichen Willensbildung gehen von einer unterentwickelten Mitgliederpartizipation aus. Innerparteiliche Willensbildung kann andererseits nicht ausschließlich von unten nach oben entsprechend dem radikaldemokratischen Modell erfolgen. Führungseinfluß und Mitgliederpartizipation sind aber im Ungleichgewicht. Repräsentative Führung mit der Befugnis zu kontrollierbarem Entscheidungshandeln und die plebiszitären Elemente der innerparteilichen Mitgliederpartizipation sind miteinander vereinbar. Beide gehören zum demokratischen Willensbildungsprozeß in Parteien und müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen" (Pütz, S. 36 f.).
Partizipatorische Willensbildung durch die Parteimitglieder wird beeinträchtigt oder verhindert, wenn • der pluralistische innerparteiliche Willensbildungsprozeß zugunsten mächtiger Einwirkungsfaktoren verzerrt ist.
137
Studieneinheit 4
5.
Wahlen und politische Kommunikation
5.1 Normative Aspekte der Wahlen in einer demokratischen Gesellschaft Parteien, Verbände und auch die Gesellschaft sind in ihrer Gesamtheit nicht aktionsfähig. Sie übertragen bestimmte Aufgaben an einzelne oder mehrere Personen, die sie als Repräsentanten vertreten. Es gibt unterschiedliche Bestellungsprinzipien, mit denen soziale Gruppen sich handlungsfähig erhalten: die Erbfolge, bei der in der Regel der älteste Sohn das Amt des Vaters übernimmt, die Kooptation, bei der die Amtsinhaber ihre Nachfolger aussuchen, die lange Zeit praktizierte Bestellung durch Losentscheid, die kein geringerer als Aristoteles für die beste demokratische Methode hielt.
Wahlen als Prinzip der Repräsentantenbestellung Demokratische Gesellschaftssysteme bevorzugen bei der Bestellung ihrer Repräsentanten und Organe das Prinzip der Wahl. Parteien und viele gesellschaftliche Gruppen haben sich ebenfalls für die Wahl als Mechanismus der internen Willensbildung entschieden. Wahlen gehören in einer demokratischen Gesellschaft zum Alltag. Wir sind aufgerufen zur Wahl von Klassensprechern, Studentenvertretern, Betriebsräten, Kirchenvorständen, Vereinsschriftführern, Abgeordneten und Gemeinderäten. Diese Delegierten haben meist wiederum den verschiedensten Wahlpflichten nachzukommen. So wählt ein Bundestagsabgeordneter seinen Fraktionsvorstand, den Wehrbeauftragten, den Bundeskanzler
Wahlen als Instrument der Legitimation und Partizipation Die wichtigste Möglichkeit eines Volkes, am Prozeß der Meinungs- und Willensbildung mitzuwirken, sind die regelmäßig stattfindenden Wahlen zu den Vertretungskörperschaften im Staat. In der politischen Kommunikation nehmen sie daher eine vorrangige Stellung ein. Schließlich sind si e das Instrument zur Legitimation von demokratischer Herrschaft und geben den Bürgern die Möglichkeit, aktiv auf das Geschehen in der Politik einzuwirken. „ I n der Wahl konstituiert sich die Volkssouveränität. Mit dem Wahlakt legitimiert der Bürger die politische Herrschaft. Mit seiner Wahlentscheidung bestimmt er die politische Grundrichtung der kommenden Legislaturperiode und trifft die Auslese zwischen den Bewerbern um die politischen Führungspositionen. Das sind die Fundamentalprinzipien der repräsentativen Demokratie. Die Wahl ist die institutionalisierte Chance politischer Partizipation im System der parlamentarischen Demokratie, die Einrichtung, die jedem Bürger ein gleiches Maß an Einflußnahme auf die politische Grundrichtung garantieren soll" (Wehling, S. 257). In der klassischen Theorie des Wählerverhaltens geht man von Idealvorstellungen aus: Man nimmt nämlich an, daß die Bürger vor der Stimmabgabe alle möglichen Alternativen durchdenken. Da der Bürger sich grundsätzlich, so wird hier vorausgesetzt, für Politik interessiert, weiß er über die wichtigsten Fragen Bescheid und kann sich aktiv an den anstehenden Entscheidungen beteiligen. Entsprechend diesem Idealbild müßte das für die politische Kommunikation bedeuten: Eine Gesellschaft wird
und weitere Funktionsträger.
vor der Entscheidung über alle anstehenden Fragen und
Der Mechanismus ist in allen Fällen gleich: Man vergibt
dungen informiert·, sie diskutiert darüber, und nach er-
an Personen oder Gruppen Mandate. Die Gewählten handeln im Auftrag der Wähler. Mandat heißt: das Anvertraute, der Auftrag, die Vollmacht. Der Wähler gibt dem Gewählten die Vollmacht zu politischem Handeln. Dies ist ein Akt der Willensäußerung: Der einzelne läßt sich repräsentieren, er äußert in einem festgelegten Verfahren seinen Willen, und aus den verschiedenen Einzelentscheidungen (Mehrheitsprinzip) resultiert die Gesamtentscheidung.
138
die möglichen alternativen Sach- und Personalentscheifolgter Meinungsbildung entscheiden die Bürger einzeln an der Wahlurne. Die Wahl ist nach dieser Vorstellung also gewissermaßen der Kulminationspunkt. Nach der Auszählung der Stimmen beginnt der Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung erneut. Es ist unschwer zu erkennen, welch großer Unterschied zwischen dieser Norm und der vorfindbaren Realität besteht. Das hat viele dazu veranlaßt, die klassische
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
Theorie des Wählerverhaltens als unbrauchbar abzulehnen. Wer an ihr festhält, muß deshalb aber nicht glauben, daß Wahlkämpfe heute sinnvoll inszeniert werden; er kann auch überzeugt sein, daß die Pervertierungen von den Bürgern durchaus durchschaut werden können und für die konkrete Praxis eine Orientierung an bestimmten — wenn auch schwer oder gar nicht erreichbaren — Zielen notwendig ist.
Die Funktion von Wahlen im demokratischen Staat Legitimation Mit dem Wahlakt legitimiert der Bürger als Wahlsouverän politische Herrschaft. Umgekehrt bietet sich in Wahlen für die Regierung und die Regierungsparteien, aber auch für die Opposition die Möglichkeit,
Die Ausgangsbedingungen von Wahlen
sich und ihre politische Herrschaft zu legitimieren.
In Artikel 38 des Grundgesetzes sind die Bedingungen
haben — nicht nur aber besonders am Wahltag. Die
genannt, unter denen die Bundestagswahlen zu erfolgen haben: ^ ^ „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt." Dies bedeutet, daß prinzipiell alle Staatsbürger das gleiche Wahlrecht und den gleichen Einfluß besitzen müssen, eine Zwischenschaltung etwa von Wahlmännern ausgeschlossen ist, auf die Stimmbürger kein Zwang ausgeübt wird und das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt. Teilnahmechancen und Ausgangsbedingungen müssen also für alle wahlberechtigten Bürger gleich sein. Die Willensbildung in einer Gesellschaft ist aber nur möglich, wenn die politischen Prozesse transparent sind und der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Ohne die Publizität des politischen Prozesses sind Wahlen sinnlos.
„Die Parteien müssen die Zustimmung der Bürger Wahl wird deshalb bisweilen als .Zahltag', gewissermaßen als späte Abrechnung mit verantwortlichen Politikern, gesehen" (Börner, S. 277).
Repräsentation In der Demokratie soll sich — normativ gesehen — durch die Wahl die politische Willensbildung in ihrer allgemeinsten Form vollziehen. Die Wahlbevölkerung artikuliert in den Kommunikationsprozessen, die der Abstimmung vorausgehen, Meinungen zu Kandidaten und Programmen. Wahlen repräsentieren so Meinungen und Interessen der Wahlbevölkerung. „Der Wählerentscheid ist uns Wählerauftrag" (Börner, S. 279).
Information In Zusammenhang mit der Legitimationsfunktion steht die Informationsfunktion. Wie dié Wahlen für den Bürger eine Artikulationsmöglichkeit darstellen, dienen sie den Parteien als Informationsmöglichkeit über politi-
„Wahlen und Abstimmungen können die ihnen zukommende Funktion nur erfüllen, wenn der Bürger in die Lage versetzt wird, sich ein Urteil über die zu entscheidenden Fragen zu bilden — mag die Antwort auf manche dieser Fragen auch nur noch dem Experten möglich sein —, und wenn er von der Amtsführung der politisch Führenden genügend weiß, um ihr seine Billigung zu geben oder sie verwerfen zu können. Öffentliche Meinung setzt Einsicht in die öffentlichen Zustände voraus . . . Nur wo Publizität herrscht, kann es auch Verantwortung der Regierenden und das Bewußtsein der Verantwortlichkeit bei den Regierten geben" (Hesse, S. 63).
sche Grundstimmungen in der Bevölkerung.
Konkurrenzkampf zur Führungsrekrutierung Der Integrationsprozeß des gesellschaftlichen Pluralismus und die Bildung eines politisch aktionsfähigen Gemeinwillens sind in der Demokratie durch das Prinzip der Konkurrenz gekennzeichnet. Wahlen provozieren einen Konkurrenzkampf um die politische Macht. Die Parteien führen diesen Kampf vor dem Hintergrund alternativer Sachprogramme, präsentiert durch konkurrierende Kandidaten. Diese zwei demokratietheoretischen Merkmale und zwei weitere, nämlich das Prinzip der Chancengleichheit und die Entscheidungsbegrenzung auf Zeit, kennzeichnen den Wahlprozeß in normativer Hinsicht.
139
Studieneinheit 4
Der Konkurrenzkampf um politische Macht soll im Er-
Parteien aufmerksam. Sobald es ihnen nötig erscheint,
gebnis dazu dienen, parlamentarische Mehrheiten zu
melden sie sich erneut zu Wort, um den Gang der Aus-
schaffen (Wahl der Regierung), um die Entscheidungs-
einandersetzung nach Möglichkeit in ihrem Sinn zu be-
fähigkeit des politischen Systems zu sichern. Die Wahl-
einflussen.
entscheidung zwischen alternativen Sachprogrammen und verschiedenen Kandidaten soll einerseits die politische Grundrichtung
der kommenden Legislaturperiode
bestimmen und andererseits eine Auslese zwischen den Bewerbern um Führungspositionen treffen. Aus den Wahlen geht im allgemei nen sowohl — über die Parlamentsmehrheit — eine entscheidungsfähige Regierung als auch — durch die Parlamentsminderheit - eine kontrollfähige Opposition hervor. Nur wenn der Bürger aus mehreren Alternativen auswählen kann, besitzen Wahlen legitimatorische Kraft. Es muß die Möglichkeit geben, der bisherigen Führung die Stimme zu entziehen und andere Einzelpersonen oder Gruppen mit der Leitung der politischen Geschäfte zu beauftragen. Hier liegt auch die Chance von Minderheiten in einer pluralistischen Gesellschaftsordnung; grundsätzlich können sie zur Mehrheit werden und die politische Führung übernehmen bzw. ihren Einfluß geltend machen.
Die Parteien sollen überdies die politische Bildung anregen und vertiefen. Vor dem Gang an die Urnen verstärken sie ihre Informationstätigkeit und bemühen sich intensiv um Kontakte zu den potentiellen Wählern. Die Aufgabe, den Bürger zur aktiven Teilnahme am politischen Leben aufzurufen sowie Bürger heranzubilden, die öffentliche Verantwortung zu übernehmen bereit sind, heißt für die Parteien vor Wahlen, möglichst viele für sich zu aktivieren — sei es nur für einen Wahlkampf oder aber als neue Mitglieder, die eventuell Parteifunktionen übernehmen. Die Aufstellung von Bewerbern für die Volksvertretungen in Bund, Ländern und Gemeinden ist die ureigenste Aufgabe der Parteien. Hier sind sie auch gegenüber den nicht parteigebundenen Bürgern privilegiert: Die Parteien allein bestimmen über die Kandidatenaufstellung. Schließlich wird von den Parteien erwartet, daß sie auf
Integration Eine weitere, eher allgemeine Funktion ist die gesellschaftliche Integration: Parteien setzen Meinungs- und Willensbildungsprozesse in Gang, integrieren dabei Einzelwillen und Gruppeninteressen und zentrieren sie auf das Allgemeinwohl hin. Insofern wird auch während der Wahlzeiten Komplexität reduziert, um politisch aktionsfähigen Gemeinwillen zu schaffen.
Das Verhältnis der Parteien zur Öffentlichkeit vor Wahlen Bevor wir auf den Bedeutungsverlust der Wahlen in der parteienstaatlichen Demokratie von heute eingehen, soll noch einmal der Funktionskatalog der Parteien aufgegriffen werden, um das Verhältnis der Parteien zur Öffentlichkeit näher zu bestimmen.
die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß nehmen. Dies geschieht, wenn durch Abstimmungen Mehrheitsverhältnisse geändert werden, aber auch durch Regierungsbildungen und durch Wahlprogramme, die entweder in den Koalitionsverhandlungen berücksichtigt werden oder aber eine Rolle bei der Interaktion zwischen Regierung und Regierungspartei spielen. Ihrer Aufgabe, politische Ziele in den Prozeß der staatlichen Willensbildung einzubringen, kommen die Parteien zumindest teilweise nach, wenn sie im Wahlkampf bestimmte Themen zur Diskussion stellen. Für eine ständige Verbindung zwischen Volk und Staatsorganen (Integrationsfunktion) sorgen sie, wenn sie engen Kontakt zum Bürger suchen, um zu hören, welche Probleme er hat. Schließlich kommt es für eine Partei darauf an, viele verschiedenartige Interessen zu vertreten, um
Als Aufgabe der Parteien war formuliert worden, sie
möglichst viele Stimmen auf ihr Wahlkonto buchen
sollten auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung
zu können.
Einfluß nehmen. Vor Volksabstimmungen versuchen die Parteien, in den vorausgehenden Kommunikations-
Festzuhalten ist also: In Wahlzeiten entwickeln
prozessen Themen zu etablieren, die in der Öffentlich-
Parteien ein besonders enges Verhältnis zur Öffent-
keit diskutiert werden. Diese Diskussion verfolgen die
lichkeit, um für sich zu werben.
140
die
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
5.2 Der Bedeutungsverlust von Wahlen Nachdem die Bedeutung von Wahlen in einer Demokratie in normativer Sicht skizziert wurde, wollen wir diese theoretischen Vorstellungen mit der politischen Praxis vergleichen. Wir tun dies anhand des im vorhergehenden Kapitels dargestellten Funktionenkatalogs, wonach Wahlen hauptsächlich fünf Aufgaben haben: • • • • •
Legitimation von Herrschaft Repräsentation des Volkes Information der Wähler Konkurrenzkampf um die Führung Integration des Volkes
Ein Blick auf die Wirklichkeit zeigt indes deutlich einen Funktionsverlust. Die Parteien messen der Integrationsfunktion zuviel Gewicht bei und vernachlässigen die Informations- und Repräsentationsfunktion, so daß sich die Frage stellt, ob Wahlen angesichts dieser Gewichtsverlagerung noch legitimatorische Kraft besitzen. Dies wird denn auch häufig verneint.
Kein Dialog mit dem Wähler In Wahlkämpfen kommt es nur selten zu einem Dialog zwischen Parteien und Wahlbürgern. Die passive Haltung der Bevölkerung wird durch die Tendenz, Wahlkampf wie Konsumwerbung zu betreiben, verstärkt. So angesprochen, fühlen die Wähler sich dann auch wie Käufer. Wenn Wahlkampf zur Materialschlacht ausartet, findet statt dialogischer Kommunikation nur noch EinWeg-Kommunikation statt. Unverkennbar ist auch die Tendenz, die Spezifikation der Wählerentscheidung immer mehr einzuengen. Zwar ist sicher richtig, daß die Parteien in Wahlkämpfen nicht auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Bürgers eingehen können, aber die Neigung der Politiker, den Wähler nur über die ganz große Linie der Politik bestimmen und die wichtigen Detailentscheidungen von Repräsentanten treffen zu lassen, mindert die Partizipationsmöglichkeit zunehmend und kennzeichnet ebenfalls den Bedeutungsverlust von Wahlen in der Bundesrepublik.
ten Stimmen gekoppelt ist. Damit werden die vom Wahlrecht sowieso schon privilegierten großen Parteien bevorzugt. Abgesehen von der Stabilisierungswirkung dieser Regelung besteht die Gefahr, daß die großen Parteien mit ihren erheblichen Mitteln die Kommunikationsstruktur monopolisieren, was eindeutig verfassungsfeindlich wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Tendenz erkannt und auch den nicht in den Parlamenten vertretenen Parteien Sendezeiten in Hörfunk und Fernsehen zuerkannt. Die Parteien verfolgen vor allem die Absicht, ihre Kandidaten an die Schalthebel der Macht zu hieven. Da es schwer ist, die Wähler von der Richtigkeit einer bestimmten Entscheidung zu überzeugen, haben die meisten Wahlkämpfer sich aufs Überreden verlegt. Es geht ihnen nicht mehr um eine rationale Diskussion mit der Bevölkerung, sondern nur noch um die einzelne Stimme. Um diese zu bekommen, scheuen die Parteien nicht vor Manipulation und falscher Information zurück. Ganz abgesehen davon, daß es heute nicht zuletzt im Gefolge der allgemein feststellbaren stärkeren Polarisierung zum guten Ton zu gehören scheint, politische Gegner als Feinde zu betrachten und zu diffamieren. Dabei braucht der Wähler als Grundlage für eine Wahlentscheidung Informationen, die ihm in den Kommunikationsprozessen vor dem Gang zur Urne vermittelt werden müßten. Es wäre Aufgabe der Kandidaten und ihrer Helfer, über die politischen Fragen und Probleme zu informieren, damit sich der Wähler ein Bild von den zur Auswahl stehenden Personen und Programmen machen kann. Natürlich müßte diese Art von Informationstätigkeit generell auch stattfinden, wenn keine Wahl vor der Tür steht.
Politik wird „verkauft" Beim Ringen um die Wählerkreuzchen wird dieser Auftrag von den Parteien durchweg nicht erfüllt. Sie stellen ihre Politik nicht zur Diskussion, sondern versuchen, sie „an den Mann zu bringen", sie zu „verkaufen". Der Wähler wird gewissermaßen als Konsument gesehen, dem man eine bestimmte Ware — koste es, was es wolle — aufschwätzen will.
Mangelnde Chancengleichheit Es widerspricht dem pluralistischen Prinzip, daß in der Bundesrepublik die Erstattung der Wahlkampfkosten durch den Staat an die Zahl der bei der Wahl erreich-
141
Studieneinheit 4
Bürger werden aktiv
fende Information durch seinen Bundestagsabgeordneten."
Daß es auch anders geht, haben Günter Grass und seine Freunde bewiesen. Sie wollten sich nicht
„Ich spreche aus der Sicht des Wählers. Denn die
mit der Konsumentenrolle des Wählers zufrieden-
Sozialdemokratische Wählerinitiative ist ein Ver-
geben, sondern aktiv am Wahlkampf teilnehmen
such, die SPD nicht sich selbst zu überlassen, sie
und für einen Dialog zwischen Parteien und
vielmehr von außen zu öffnen und — wenn Sie
Wählern sorgen. Dazu gründeten sie 1969 die
erlauben - zu lüften. In annähernd hundert
„Sozialdemokratische Wählerinitiative". Günter
Wahlkreisen haben sich Nichtmitglieder der SPD
Grass sagte über diesen Zusammenschluß von
gleichwohl als Sozialdemokraten verstanden, in-
SPD-Sympathisanten vor dem Parteitag der SPD
dem sie, über ihre Stimmabgabe hinaus, für
im Mai 1970 unter anderem folgendes:
die Partei ihrer Wahl offen zu arbeiten begannen.
„So schulbuchhaft die Weisheit schmeckt, der
tiven halten Kontakt mit den Bundestagsabge-
wahlberechtigte Bürger hat das politische Ge-
ordneten, die sie als Kandidaten unterstützt ha-
schick der Demokratie in der Hand, so skeptisch
ben. In einigen Bundesländern — Nordrhein-West-
werten die Wähler ihr Stimmrecht.
falen, Bayern - beginnen sich zusätzlich für die
Diese Entwicklung hält an. Viele Wählerinitia-
,Was nützt das schon.' — ,Die machen ja doch, was sie wollen.' — ,Das ist nur ein Scheinrecht.' Der Ursachen für dieses Mißtrauen sind viele: mangelnde demokratische Tradition, traumatische Nachwirkungen aus der Zeit der Weimarer Republik und die Mißachtung des Wählers während der Zeit zwischen den Wahlterminen. Lange Zeit blieb der Wähler trotz seiner Stimme
bevorstehenden Landtagswahlen Erstwählerinitiativen zu bilden. Das .Große Gespräch', wie es Willy Brandt vor Jahren angekündigt hatte, bedurfte vieler Anstöße; nun hat es begonnen. Deshalb hatte sich die Sozialdemokratische Wählerinitiative nicht allein auf die üblichen Abendveranstaltungen und die Werbung durch Anzeigen beschränkt. An etwa sechzig Veranstaltungstagen fanden Betriebsbesichtigungen und Diskussionen
stumm. Und neuerdings erst, im Wahlkampf zu
mit dem Betriebsrat statt. Am Arbeitsplatz wird
den Bundestagswahlen 1969, begann er mitzu-
deutlich, daß das wichtigste und gewichtigste Ge-
sprechen. Er begründete öffentlich, warum er
schehen in der Bundesrepublik, die Arbeit, ohne
welche Partei zu wählen vorhabe. Er forderte,
Öffentlichkeit geblieben ist. Denn der Arbeiter
über den Wahltermin hinaus, Mitsprache und lau-
hat nach achtstündiger Anspannung im Akkord
Keine Alternativen?
Wer heute die Programme der Parteien, die sich zur Wahl
In der neueren, meist von der politischen Situation der
ven angeboten. Und wenn die großen Parteien tatsäch-
Großen Koalition in den Jahren 1966 bis 1969 beein-
lich in einigen Fragen verwandte Vorstellungen besit-
flußten Literatur wird unter anderem beklagt, daß die
zen, so hängt das damit zusammen, daß bestimmte
stellen, unvoreingenommen betrachtet, wird nicht behaupten können, dem Wähler würden keine Alternati-
Volksparteien von heute im Gegensatz zu den Welt-
Probleme, die von den Parteimitgliedern nicht mehr
anschauungsparteien der Vergangenheit keine Alternati-
überblickt werden, von Seiten der Wissenschaft, der
ven anzubieten hätten. Jedenfalls seien die Unterschiede
Wirtschaft oder aus anderen Bereichen in die Partei-
ihrer Programme und Grundsatzaussagen unbedeutend.
programme eingeflossen sind.
142
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
plus Überstunden kaum Lust und Kraft, sich
tenversammlungen vor, zu denen die Öffentlich-
selbst Öffentlichkeit zu schaffen. Isoliert und
keit einzuladen ist.
stumm erträgt er die abstrakt bleibenden Einschätzungen seiner Lage; seine Sprache wird nirgendwo gesprochen." „Die Sozialdemokratische Wählerinitiative ver-
2. Die Partei sollte ihre publizistischen Mittel, die bisher allzu ausschließlich parteiinterner Information dienten, öffnen. Um ein Beispiel zu nennen: Die Wochenzeitung .Vorwärts' sollte
steht sich als ein veränderndes Moment inner-
zu einem publikumswirksamen und konkurrenz-
halb einer Vielzahl einander bedingender Verän-
fähigen Forum für die Partei und ihre Wähler
derungen. Die SPD sollte sich nicht scheuen, das
gemacht werden. Die SPD wird die Zeitungen
Wissen und die demokratische Unruhe ihrer Wäh-
haben, die sie verdient.
ler zu nützen. Es gilt, den Wähler in allen Parteigremien anzuhören und gegebenenfalls zur Mitarbeit aufzufordern. Denn die Beschlüsse der Partei sind nicht Selbstzweck, sondern Auftrag ihrer
3. Die SPD als Volkspartei soll die ihr Ansehen schädigenden Relikte einer Kaderpartei ausräumen. Dazu gehört die Reform und Liberalisierung
Wähler; sie sind es gewesen, die die SPD die
der Parteiordnungsverfahren.
Bundestagswahl gewinnen ließen."
4. Da sich die SPD ihren Wählern o f t nur ungenau
„ A m 28. Oktober sagte der Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung: ,Wir wollen mehr Demokratie wagen.' Die Sozialdemokratische Wählerinitiative nimmt den Bundeskanzler beim Wort und macht vier Vorschläge, die so bald wie möglich von der Partei diskutiert und beschlossen werden sollten. 1. Die Partei soll ihre Kandidaten veranlassen, sich vor der Wahl durch Delegierte auch den Wählern in öffentlichen Veranstaltungen zu stellen, damit Wähler und Partei rechtzeitig er-
und ihrem Selbstverständnis widerspruchsvoll darstellt, soll die Partei die Grundlage der Sozialdemokratie immer wieder überdenken und ihre langfristigen Reformaufgaben konkret formulieren. Diese deutliche Sprache schuldet die Partei ihren Wählern. Wir ersuchen die SPD, auf unsere Vorschläge mit Reformentwürfen zu antworten. Der Wähler und seine Stimme: der Wahlgang ist mehr als eine alle vier Jahre wiederkehrende Zeremonie" (Grass [1],S. 83ff.).
kennen können, welche politischen Qualitäten jeweils zur Wahl stehen. Wir schlagen Delegier-
5.3 Parteien und Öffentlichkeit im Wahlkampf
Aus der Vielfalt politischer Inhalte, die Partei- und Wahlprogramme enthalten, selegieren Parteiinstanzen bestimmte Themen, die die Kommunikation vor Wahlen beherrschen. Die Themenauswahl wird von den Parteien mit der Überzeugung oder zumindest Mutmaßung
In ihren Wahlprogrammen nehmen die Parteien zu poli-
getroffen, daß gerade dieses Thema „beim Wähler an-
tischen Themen Stellung. Darüber hinaus existieren in-
k o m m t " , d.h. ihn beeinflußt, überzeugt, eine bestimm-
nerhalb der Parteigliederungen gruppenspezifische Vor-
te Partei zu wählen. Wie solche Überredungsprozesse
stellungen, die jedoch in Zeiten näherrückender Wah-
im einzelnen aussehen, ob und wie sie wirken, ob Mei-
len der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Vor Wahlen
nungen, Einstellungen, Wahlverhalten davon verstärkt
wollen die Parteien so geschlossen wie möglich auftre-
oder verändert werden, all das wird Thema der Studien-
ten. Aus taktischen Gründen nimmt man auf Meinun-
einheiten 1 0 - 1 2 sein. In diesem Kapitel wollen wir nur
gen und Einstellungen in der Öffentlichkeit Rücksicht,
auf allgemeinerer Ebene über
die man in demoskopischen Untersuchungen vorher
sprechen, die die Parteien entwickeln, um
erforschen ließ.
keit
Kommunikationsstrategien Öffentlich-
herzustellen. 143
Studieneinheit 4
Die Herstellung von Öffentlichkeit Nach Habermas inszenieren die Parteien Öffentlichkeit. Folgerichtig heißt dann auch ein Wahlkampf-Handbuch der C D U „Regiebuch"; als Ideenkatalog bietet es den Wahlkämpfern allgemeine Vorschläge und Konzeptionen für eine möglichst erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit an. Über diese allgemeinen Richtlinien hinaus entwickeln Parteien Themen-Strategien, in denen genau festgelegt wird, welche Fragen die politische Kommunikation während des Wahlkampfes bestimmen sollen. „Der Kontakt mit der Öffentlichkeit, der Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit bestimmen also den Wahlkampf. Dringen Sie mit Ihrer Kampagne nicht auf die Zeitungsseiten vor, sieht man Sie in der Öffentlichkeit nicht. Vergessen Sie, auf die Meinungsbildner einzuwirken, dann sind Sie für die Öffentlichkeit nicht existent. Wahlkämpfer wissen oft nicht genug über die Hilfen und Methoden der Werbung, über Aktionen, über Pressearbeit!"
Gesucht: Eine ansprechende Farbe Günter Grass über das Orange der sozialdemokratischen Wählerinitiative „Ernsthaft, es ging um Orange. In B o n n saßen (glaube, im Mai) Marchand, Linde, Drautzburg und ich mit Wischnewski, Leo Bauer und anderen Wahlkampfspezialisten an unserem langen Tisch in der Adenauerallee. Kühle Hochrechner, niemals blinzelnde Zielgruppenvermesser, Trendbeschwörer und Zweckpessimisten beim Stoffwechsel: wir fraßen Statistiken und schieden Prognosen aus. Wir füllten Aschenbecher und lasen ihrem Überhang die entscheidende Stelle hinterm K o m m a ab. Wir spekulierten, ob Schiller und Brandt oder Brandt und Schiller oder nur Brandt oder nur Schiller mit oder gegen Leber und Schmidt an Wehner vorbei oder mit Wehner gemeinsam gegen oder mit Schiller in
Dieses Zitat aus einem Wahlkampf-Handbuch zeigt, daß
der (zentralen) Aufwertungsfrage zum Beschluß
Parteien das Manipulative an der Herstellung von Öf-
kommen k ö n n t e n . . . Außerdem lagen uns Far-
fentlichkeit in Kauf nehmen. Wahlkämpfer werden an-
ben als Muster vor. Da Blau kühl läßt, Rot als
gehalten, beim Aufstellen von Wahlkampfteams und
verjährt gilt. Gelb strittig ist, sprachen wir lange
Planungsstäben Journalisten sowie Werbe- und Marke-
und kenntnisreich über die getestete Werbekraft
ting-Fachleute hinzuzuziehen, um die Politik — sprich:
der Farbe Orange; denn sogleich nach den Som-
die politischen Themen der Wahlkommunikation —
merferien und mit Beginn des eigentlichen Wahl-
konsumgerecht „verkaufen" zu können.
kampfes soll die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Orange für sich werben. Emnid,
„Der politische Bereich, soweit die wahlberechtigte Bevölkerung daran überhaupt teilhat, wird tendenziell Teil des Konsumbereiches; politisches Geschehen, Nachrichten und Verhaltensweisen werden zur Ware. Die Massenmedien bringen sie als Unterhaltung, als Schlager, bringen sie .spielend' an den Mann. Sie erziehen den Wähler zum Zuschauer; versehen die Sache mit human interest und erzeugen Sentimentalität gegenüber Personen, Z y nismus gegenüber Institutionen. Die Stimmen werden handgreiflich .geworben'; Reklame für die Wahl unterscheidet sich, gleichviel für welche Partei, nicht von der Reklame für den Markt. Die manipulative Auswertung der motivanalytisch verfeinerten Umfrageforschung führt zu Resultaten, die sich mit modernen Werbetechniken sozialpsychologisch effektsicher umsetzen lassen: die Themen des Wahlkampfes werden exploriert und dann inszeniert, die Imago des Führers und die seiner Mannschaft sind vorkalkuliert, die Schlagworte vorgetestet, die Massenrituale vor Radio und Fernsehen nach Drehbuch einstudiert" (Habermas, S. 48).
144
Inf as, Allensbach haben Tugenden ermittelt: ist heiter sinnlich, wirkt aktiv sportlich modern, zieht jung an, stößt alt nicht ab, leuchtet reif und gesund" (Grass [2], S. 110).
U m Öffentlichkeit herzustellen, benutzen Parteien die manipulativen Techniken der politischen Werbung. Werbeagenturen werden beauftragt, um Wahlkampfkonzeptionen zu entwickeln, die in einer Art Gesamtstrategie vom kleinsten Werbegeschenk, seien es Kugelschreiber, Karamellen oder Luftballons, bis zu den zentralen Wahlkampf-Slogans Werbefeldzüge entwickeln, die in ein Gesamtkonzept eingebettet sind. In der Inszenierung des Werberummels unterscheiden sich die Parteien kaum untereinander, allenfalls in den verschiedenen Farben, in der Wortwahl, vielleicht in der Papierqualität der Prospekte.
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
„Der Wahlkampf gehorcht seinen eigenen Gesetzen; diese sind von der politischen Werbung, der Meinungsumfrage und der kommerzialisierten Werbetechnik diktiert. Politische Konflikte werden nicht ausgetragen, sie werden vor dem Wähler nicht zur Diskussion gestellt. Dem Wähler wird die Chance genommen, sich mit konkreten politischen Programmen auseinanderzusetzen... Der Wahlkampf wird aus dem Bereich der Politik weitgehend ausgelagert und dem Konsumbereich eingegliedert" (Schmiederer, S. 18). Bei der Entwicklung der Kommunikationsstrategien müssen die Meinungen und Einstellungen der Stammwähler ebenso berücksichtigt werden wie jene der Wechselwähler und Sympathisanten einer Partei, um eine größtmögliche Bandbreite der Zustimmung zu erreichen. Aussagen, Forderungen, Behauptungen und Gefühle werden getroffen bzw. angesprochen, um beim Wähler Erfolg zu haben, wobei die Parteien darauf achten, daß solche Kommunikationskonzepte geschlossen entwickelt sind, da in der Wiederholung ein großer Lerneffekt liegt (Informationsdoppelung). Freilich können derartige Werbestrategien auch fehlschlagen. So heißt es denn auch in einem Handbuch für Wahlkämpfer: „Es ist schwer zu sagen, wieviel Wähler man durch einen guten Wahlkampf gewinnen kann. Aber sicher ist, daß man durch einen schlechten Wahlkampf sehr viele Wähler verlieren kann." Dieter Just hat den Bundestagswahlkamp 1980 analysiert. Nachfolgend drucken wir seine Untersuchung ab, um Themen und Methoden heutiger Wahlauseinandersetzungen am konkreten Beispiel zu zeigen.
Das Wahlkampf A B C = Aufmerksamkeit erregen, Anerkennung finden, Aktionen schaffen, Argumente liefern = Besuche machen (und der Presse darüber berichten) in Haushalten, Betrieben, Vereinen, Verbanden, Behörden und Redaktionen, - Berufsgruppen ansprechen, Bundesrat erwähnen = Checkliste für Wahlkampfprogramm aufstellen und verfolgen? Verantwortlichkeiten festlegen, Kosten- und Zeitplan erstellen = Demoskopisch tätig sein, Meinungen, Wünsche, Forderungen der Wähler erforschen (in Gesprächen, Diskussionen, Telefonaten, durch Aufstellen von F.D.P.-Briefkästen,Zeitunglesen: Kommentare, Leserbriefe etc.) = Essentials und Top-Themen für lokale Wahlaussage festlegen, klar und deutlich formulieren, publizieren, geschlossen vertreten und in Koalitionsverhandlungen einbringen (versprochen - gehalten, Garantieurkunde!) = Freiburger Thesen nachlesen und Wahlkampfaussage, Freunde gewinnen I = Good will schaffen, Gratulationen aussprechen, freundlich auftreten, positives Klima schaffen, hilfsbereit sein und optimistisch, Gags finden = Hauswurfsendungen organisieren, Hausfrauen ansprechen, Heime besuchen, Haus-zu-Haus-Service für Stimmabgabe organisieren = Ideen, Ideen entwickeln, originell sein (Wahlkampf per Fahrrod oder Rollschuhen), informieren, interpretieren in Wort und Bild = Jugend ansprechen, Journalisten als Meinungsbildner gewinnen =. Kontaktarbeit, Kritik begegnen, Konkurrenz beobachten und kommentieren, Kandidaten schulen, Kindergartenaktionen ersinnen, Kommunalpolitiker zu öffentlicher Diskussion herausfordern, konkrete Zahlen nennen = Loyalität zu Partei, Programm und Kandidaten, Lokalprobleme verfolgen und darauf (öffentlich) reagieren, Lautsprecherwagen einsetzen, Lokale für Veranstaltungen buchen - Meinungsbildner mobilisieren, die sich (öffentlich) für die F.D. P., deren Programm oder Kandidaten aussprechen, Mütter als Zielgruppe beachten, Mitgliederwerbung bis zum letzten Tag, Musteraktionen an andere Parteifreunde zur Anregung weitergeben = Nachrichten an Presse, Funk und Fernsehen fachgerecht aufbereiten (wann, wer, wo und wie), Neuigkeiten schaffen, Nachrichtenwert steigern (Namen sind Nachrichten), Nachtschichtbetriebe besuchen, Nachbarn ansprechen
A B C D
E
F G H 1 J K
L M
N
= Offenheit macht sich bezahlt, wahr und klar informieren = Podiumsdiskussionen inszenieren, Persönlichkeiten herausstellen, Programm deutlich machen, Pressekonferenzen einberufen, Pressemitteilungen herausgeben
P Q
= Qualität der Informationen wichtiger als Quantität
= Rednereinsatz festlegen, Reden vorbereiten, RPJ ansprechen — Stammtisch- und Skatrunden organisieren, Stammwähler nicht vergessen, Straßenstände vorbereiten, Schulaktionen überlegen, Schaukästen .aufmöbeln" Sympathien erwerben
S Τ
w X
— Telefonkontakte herstellen, Telefonservice einrichten = Ursachen von Mißverstöndnissen aufspüren und richtigstellen = Vorurteile abbauen, Veranstaltungen, Vorträge organisieren und besuchen, Volkshochschulen berücksichtigen = Wagenkolonnen organisieren, Waschzettel für Pressekonferenzen vorbereiten — x-beliebig viele Mitglieder werben
= da fällt uns noch die Bundeswehr ein = Zielgruppen bestimmen, Zusammenarbeit mit Interessengruppen prüfen, Ziele präzise, einfach und zugkräftig formulieren, Zeitungsarbeit in den Mittelpunkt der Bemühungen stellen
Z
Aus einer Wahlkampfbroschüre der FDP
145
Studieneinheit 4
5.4 Orientierungsprobleme — Zur Bundestagswahl 1980 und ihren Konsequenzen Von Dieter Just*
te und am 3. Oktober zu dem denkbar knappen Koalitionsvorsprung von 10 Mandaten führte, konnten Koalition und insbesondere die Sozialdemokraten die Bundestagswahl 1980 aus einer sehr guten Ausgangsposition angehen: Nachdem die Rentendiskussion von
I.
Vorbemerkung
Die Bundestagswahl 1980 ist - anders als die Wahlentscheidungen 1972 und 1976, bei denen die Fronten zwischen Koalition und Opposition für den Wähler klar erkennbar blieben — geprägt durch eine größer gewordene Unsicherheit der Wähler; diese hat über den 5. Oktober hinaus ihre Spuren hinterlassen. Die politischen Argumente der Parteien drangen 1980 schwächer durch oder wurden einfach von den durch die Heftigkeit der Auseinandersetzung abgestoßenen Wählern nicht mehr wahrgenommen. Ereignisablauf und politische Entwicklung im Wahlkampf selbst boten nur geringe Chancen, die Zielvorstellungen der Parteien an der Praxis zu messen. Die S P D konnte das Ansehen ihres Spitzenkandidaten nicht voll nutzen, weil sie durch den politischen Gegner mit Erfolg verdächtigt wurde, nach Alleinregierung — mit in den Augen vieler Bürger als gefährlich angesehenen Konsequenzen — zu streben; das Bild der Union hingegen wurde durch die Persönlichkeit ihres Spitzenkandidaten belastet. So orientierte sich ein Teil der flexiblen Wähler auf beiden Seiten schließlich an taktischen und atmosphärischen Gesichtspunkten, suchte Kontinuität und Stabilität, votierte für Schmidt und gegen Strauß, bestrafte Konfrontation und honorierte Zurückhaltung, indem er via F D P die Koalition zu stärken versuchte... .
1976, die zum Verzicht des Bundesarbeitsministers Arendt auf ein Ministeramt in der neuen Koalitionsregierung führte, und die in Kreuth ausgelöste Auseinandersetzung zwischen C S U und C D U die öffentliche Stimmung nachhaltig geprägt und die Terroranschläge auf Ponto, Buback und schließlich Hanns Martin Schleyer das Vertrauen in die Regierung 1977 deutlich erschüttert hatten, verbesserte die geglückte Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut" Ende November 1977 die Position von Bundeskanzler, Regierungskoalition und S P D erstmals merklich. Die Koalition, im Jahresdurchschnitt 1977 auf ein Wählerpotential von 47 % (gegenüber einem von 51 % der Opposition) gesunken, erreichte bis 1979 (Jahresdurchschnittswert) 50 %, während sich das Oppositionspotential von 51 % 1977 auf 47 % 1979 verringerte. Anders als in den vorhergehenden Legislaturperioden, in denen die SPD in den folgenden Landtagswahlen stets Einbußen hinnehmen mußte, gelang es den Sozialdemokraten in den Landtagswahlen 1978/79, bei neun von elf Wahlterminen Stimmengewinne zu erzielen, während die Bonner Oppositionsparteien bei zehn Landtagswahlen (Ausnahme: Abgeordnetenhaus-Wahlen in Berlin 1979) Wähler verloren. Hatten die Sozialdemokraten in den Landtagswahlen 1974—76 nur einen Stimmenanteil von 39,9 % (2,7 % unter ihrem Bundestagswahlergebnis 1976) erreichen können, so erzielten sie 1978-80 einen durchschnittlichen Wähleranteil von 41,5 %. Gleichzeitig verloren CDU/CSU in den Jahren 1978-80 gegenüber der vorhergehenden Landtagswahl-Serie (von 51,4 % auf 48,7 %) wie auch die F D P (von 6,9 % auf 5,9 %) deutlich. Die F D P verpaßte 1978 bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg und den niedersächsischen Landtagswahlen sowie im Mai 1980 in Nordrhein-Westfalen den Einzug in die
II.
Ausgangspositionen der Parteien
Landesparlamente.
Im Gegensatz zur vorgezogenen Bundestagswahl 1972, als die Sozialdemokraten noch im Frühjahr eine schwere Landtags-Niederlage in Baden-Württemberg zu verkraften hatten und ein Mißtrauensvotum im Deutschen Bundestag überstehen mußten, und im Gegensatz zu den Wahlen von 1976, als die weltwirtschaftliche Rezession sich zu Lasten der Regierungsparteien auswirk146
*
Zuerst veröffentlicht in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 18 vom 2. Mai 1981, S. 1 5 - 2 9 (gekürzte Fassung).
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
Stimmungsklima vor der Bundestagswahl '80
Unsicherheitsfaktoren 1980 Die bis in den Sommer 1980 insgesamt günstige Posi-
Gegenüber 1977 von der Bevölkerung deutlich positi-
tion der Sozialdemokraten und der Bonner Regierungs-
ver bewertet wurden auch die politischen Verhältnisse
koalition wurde — immer wieder unberechenbar — be-
in der Bundesrepublik und — bis Ende 1979 - die ge-
einträchtigt durch das Phänomen der „Grünen"; diese
samtwirtschaftliche Entwicklung. Die Bewertung der
erzielten als anfangs nur regional bedeutsames Sammel-
Bundesregierung und des Bundeskanzlers blieben seit
becken ökologisch engagierter, vorwiegend jüngerer
Beginn des Jahres 1978 bis zur Bundestagswahl 1980
Bürger und einer Gruppierung von Protestwählern in
auf hohem Niveau stabil, während der große Vorsprung
Kommunalwahlen und Landtagswahlen 1978/79 ernst
des Bundeskanzlers vor dem Spitzenkandidaten der
zu nehmende Erfolge und wurden bei der Europawahl
Opposition durch die Kandidatur von Franz Josef
1979 bundesweit präsent. Sie konnten auf Anhieb ei-
Strauß als Kanzlerkandidat der Union im Juni 1979
nen Stimmenanteil von 3,2 % erzielen, im gleichen Jahr
vorerst keine wesentliche Veränderung erfuhr; er ver-
in die Bremer Bürgerschaft und 1980 in den baden-
größerte sich erst zum Termin der nordrhein-westfäli-
württembergischen Landtag einziehen, verloren jedoch
schen Landtagswahl am 11. Mai 1980 und wurde in der
nach öffentlich breit diskutierten inneren Konflikten
Polarisierung des Bundestagswahlkampfes schließlich
in einer verstärkt außenpolitisch geprägten Wahlausein-
knapper (1).
andersetzung in Nordrhein-Westfalen deutlich wieder
Die außenpolitischen Konflikte 1979/80 — die IranKrise und insbesondere der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan — wirkten sich, anders als von der Opposition erwartet, nicht zu Lasten der die Entspannungspolitik repräsentierenden Bundesregierung aus, sondern stärkten lediglich die Bedeutung des Aufgabenbereiches „Friedenssicherung", bei dem die Koalition einen deutlichen Kompetenzvorsprung vor der Opposition vorzuweisen hatte. Trotz der anhaltenden öffentlichen Diskussion über die sowjetische Invasion, die Verpflichtungen den USA gegenüber und insbesondere den Olympia-Boykott zeigten verschiedene demoskopische .Umfragen (2), daß die bundesdeutsche Bevölkerung nach zehn Jahren Entspannungspolitik mit großer Stabilität zur politischen Linie der Bundesregierung stand. Das kam im Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen vom 11. Mai 1980, die der Bundeskanzler und Ministerpräsident Rau vor allem mit für eine regionale Wahl ungewöhnlichen friedenspolitischen Schwerpunktaussagen bestritten hatten, überzeugend zum Ausdruck: Die Sozialdemokraten gewannen 48,4 % (3,3 % mehr als 1975) und die absolute Mehrheit, die CDU erzielte 43,2 % (3,8 % weniger als 1975); die durch interne Querelen geschwächte FDP wurde zwischen den um die Macht ringenden großen Parteien buchstäblich zerrieben. Die wenigen Wochen später
an Terrain. Die Alternative, die sie insbesondere jüngeren Wählern anboten, bedeutete im Hinblick auf die Bundestagswahl 1980 für die Koalitionsparteien, aus deren potentieller Anhängerschaft sich die Grünen mehrheitlich rekrutierten, dennoch eine latente Gefahr, zumal sie vor allem die SPD, aber auch die FDP, zu einer Zwei-Fronten-Argumentation — gegenüber der CDU/CSU als Konkurrenten um die Regierungsmacht und gegenüber den „Grünen" als unberechenbarem Mitbewerber um wichtige Stimmenanteile — zwangen. Nur 2 % sozialliberale Stimmen an die „Grünen" hätten die Koalition im Jahr 1976 bereits ihre knappe Mehrheit kosten können. Wesentlicher Unsicherheitsfaktor vor Beginn des Wahlkampfes 1980 aber war vor allem, daß nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl demoskopischen Ergebnissen zufolge eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung einen großen Wahlsieg der Koalition vor der CDU/CSU erwartete (4), manche des Einzugs der Freien Demokraten in den Deutschen Bundestag aber nicht so sicher waren. Diese Erwartungshaltung implizierte für die Sozialdemokraten spätestens seit dem 11. Mai die Gefahr einer Demobilisierung durch Stimmenthaltung, Stützungsstimmen für die FDP und alternative Entscheidung für die „Grünen". Ein ungewollter Frühstart der Sozialdemokraten hatte deren bis dahin bereits guten
zuerst von Elisabeth Noelle-Neumann in die Welt gesetzte These von einer auch bundesweit möglichen absoluten Mehrheit der Sozialdemokraten erhielt einen Anschein von Glaubwürdigkeit (3).
1 ) Infas-Erhebungen 1980. 2) Allensbach/Infas Februar/März 1980. 3) „Bild"-Interview vom 22. Juli 1980. 4) Vgl. Stern, Nr. 39 vom 18.9.1980; Der Spiegel, Nr. 39 vom 22.9.1980.
147
Studieneinheit 4
Chancen derart verbessert, daß sie sich verschlechtern
den 28. und 29. August in der DDR geplantes Treffen
mußten. In ihrer Nachwahlanalyse hebt die SPD denn
mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker absagen zu
auch hervor:
müssen. Die Kombination von politischer Argumenta-
„Nordrhein-Westfalen hat zwei schwierige Konsequen-
tion und kongruentem politischen Handeln, die der
zen: Es begann eine Dabatte über die Möglichkeit, die
Regierungslinie ein so hohes Maß an Überzeugungs-
absolute Mehrheit auch im Oktober zu gewinnen. Alle
kraft verliehen hatte und auf dem Höhepunkt des
Bemühungen, sie zu stoppen, fruchteten kaum. Das
Wahlkampfes in den Medien breit diskutiert wurde,
Wahlziel, stärkste Partei zu werden, wurde von einem
verlor ihr Gewicht. Der Opposition fielen bekräftigen-
Großteil der öffentlichen Meinung und der eigenen Par-
de Argumente ihrer These vom Ende der Entspan-
tei als taktische Tiefstapelei empfunden oder bezeich-
nungspolitik nachgerade in den Schoß; diese wurden
net. Die Abstimmungspannen der letzten Parlaments-
aber durch propagandistische Überdehnungen, wie
wochen konnten diese öffentliche Stimmungslage
etwa durch Bemerkungen des Unions-Kanzlerkandida-
kaum beeinflussen, führten aber zusätzlich zu der Voll-
ten Strauß von „Schmidts Freund" Gierek, schlecht
mobilisierung der FDP, die den Schock, die Landtags-
genutzt. Nicht erhellen ließ sich nach der Bundestags-
präsenz in Düsseldorf nicht wieder erreicht zu haben,
wahl, ob insbesondere die Sozialdemokraten auch nach
voll für sich ausnutzte" (5).
der Einengung der außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung durch die Ereignisse in Polen das Thema „Friedens- und Entspannungspolitik"
III.
Die Wahlauseinandersetzung
angesichts einer mehrheitlich für die Fortsetzung dieser Politik engagierten Bevölkerung im Wahlkampf weiter
Der Ergebnisablauf sowie die von den Parteien gesetzten Themen und Argumente verwischten im Bundestagswahlkampf 1980 die klaren Entwicklungslinien der Vorwahlzeit so sehr, daß bei einem großen Teil der Bevölkerung — wie spätere Untersuchungen erweisen — das Gefühl der Desinformation und Orientierungslosig-
argumentativ hätten vertiefen und so die Thematik des Wahlkampfes hätten offensiv steuern sollen. Symptomatisch erscheint, daß in den Wahlkampf-Reden des Bundeskanzlers das Thema Friedenssicherung zuerst breit am Beginn und später — reduziert — am Ende der Reden stand.
keit zur Suche nach möglichst einfachen Lösungen, Kontinuität und Stabilität der politischen Strukturen
Chancen der Opposition
aufrechtzuerhalten, führte (6): Zweitstimmen-Splitting zugunsten der FDP schien, wie sich frühzeitig andeute-
Die bis zur Wahl fortgesetzte Diskussion über die anläß-
te und später zeigen sollte, für eine größere Zahl von
lich des öffentlichen Gelöbnisses von Bundeswehrre-
Wählern der einfachste Weg zu sein, um aus der Verun-
kruten am 6. Mai in Bremen ausgebrochenen Krawalle
sicherung herauszukommen.
— verstärkt durch die Konstituierung des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestages als Unter-
Die in Nordrhein-Westfalen erfolgreich erprobte außen-
suchungsausschuß und die parallel laufenden Untersu-
politische Trumpfkarte der Bundesregierung verlor
chungen in Bremen — bot der Opposition Chancen,
nach dem Moskau-Besuch von Bundeskanzler und Bun-
außen-, sicherheits- und innenpolitische Aspekte argu-
desaußenminister Ende Juni, bei dem noch einmal die
mentativ zu verknüpfen und die Sozialdemokraten der
Kongruenz politischer Ankündigung und politischen
mangelnden Verteidigungsbereitschaft, der Unzuver-
Handelns (SPD-Wahlprogramm: „ . . . in schwieriger
lässigkeit im Bündnis sowie der Volksfront-Bildung
Zeit muß man mehr miteinander sprechen und nicht
durch die sogenannte „Moskau-Fraktion" zu verdäch-
weniger") verdeutlicht werden konnte, rasch an Ge-
tigen. Angebliche Fahndungspannen in Hamburg, für
wicht. Die Streiks in Polen erzeugten ein derart bela-
die Innenminister Baum verantwortlich gemacht wur-
stetes Klima, daß zuerst der polnische Parteichef Gie-
de, und der Bombenanschlag eine Woche vor der Bun-
rek wenige Wochen vor seiner endgültigen Ablösung
destagswahl auf dem Münchner Oktoberfest hielten
am 18. August sein für den 19. und 20. August in Hamburg geplantes Treffen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt kurzfristig absagen mußte und sich Helmut Schmidt selbst am 22. August gezwungen sah, „wegen der Entwicklung der letzten Tage in Europa" sein für
148
5) Die Wende nach dem Sommerloch. In: Vorwärts, Nr. 10 vom 26.2.1981, S. 19. 6) Infratest-Studie Oktober/November 1978.
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer K o m m u n i k a t i o n
das Thema „innere Sicherheit" aktuell, während es im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich der Opposition gelang, unterstützt durch einen in den Medien lebhaft und kontrovers diskutierten Hirtenbrief der katholischen Bischöfe, das Thema „Staatsverschuldung" so plastisch herauszuarbeiten, daß es für breite Teile der Bevölkerung zum Synonym für die Gesamtbelastung der öffentlichen Haushalte eingangs der achtziger Jahre wurde. Insofern begünstigte die Kette der Ereignisse, die zwischen dem Frühsommer und dem Wahlsonntag im Herbst Bedeutung erlangten, die Opposition deutlich.
Kandidatenproblematik der U n i o n In der Kandidatenfrage blieb die CDU/CSU demgegenüber trotz aller seit dem Sommer des vorhergehenden Jahres erfolgten Bemühungen, das Image von Franz Josef Strauß aufzuhellen, eindeutig im Nachteil. Bei der Frage nach einer fiktiven Direktwahl zwischen Schmidt und Strauß entschieden sich Anfang 1980 rund 60 % der Wähler, also auch ein beachtlicher Anteil von Unionswählern, für den Kanzler und nur rund ein Viertel für den bayerischen Ministerpräsidenten. Damit war der Vorsprung Schmidts 1980 vor Strauß weit größer als 1976 vor dem damaligen Kanzlerkandidaten Kohl (50:30). Die Union - insbesondere die C D U und ihr Generalsekretär Geißler — versuchte, dieser Belastung schon in einem recht frühen Stadium des Wahlkampfes zu begegnen, indem sie in einer breit angelegten Kampagne — von Überreaktionen auf die kleinste Satire zum Thema Strauß angefangen bis hin zu einer Bonner Ausstellung aller „Verunglimpfungen" des Unionskandidaten — Sozialdemokraten und ihren gewollten und unerwünschten Wahlhelfern eine persönliche Diffamierungskampagne des Unionskandidaten unterstellte. Diese vor der Wahlkampfschiedsstelle fortgesetzte Aktion hatte das Ziel, dem Kanzlerkandidaten der Union vorbeugend gegen spätere Angriffe zu immunisieren. Franz Josef Strauß, insbesondere vom Bundeskanzler als intelligent, aber unberechenbar und deshalb gefährlich herausgestellt, nahm dieser Entlastungskampagne einiges von ihrer Durchschlagskraft, weil er seinerseits in seinen Wahlkampfauftritten polemisch auf Schmidt zielte („ . . . reif für die Nervenheilanstalt") und schließlich (in der ZDF-Sendung „Bürger fragen — Politiker antworten") sogar die „Spiegel"Affäre aufgriff, obwohl ihn die Initiative der Union eigentlich davor hatte bewahren sollen.
Die programmatischen Vorstellungen der Parteien waren hinter den in den Medien erörterten politischen Entwicklungen, den Schlagworten und der Diskussion um den Stil, mit dem sich die konkurrierenden großen Parteien bekämpften, kaum zu erkennen. A m schwersten tat sich noch die SPD, die auf ihrem Essener Wahlparteitag im Juni unter dem eher statischen Titel „Sicherheit für Deutschland" ein voluminöses Wahlprogramm verabschiedete und ihren Wahlaussagen tatsächlich unterlegte. C D U und C S U verabschiedeten — die C D U auf einem Bundesparteitag und die C S U lediglich durch ihren Parteiausschuß - im Mai unter den Titel „Für Frieden und Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland und der Welt" ein Wahlprogramm, in dem die Negativ-Positionen die programmatischen Vorstellungen bei weitem überwogen, der politische Gegner eine größere Rolle spielte als die eigenen Zielvorstellungen. Die FDP beschloß im Juli 1980 in Freiburg unter dem Titel „Unser Land soll auch morgen liberal sein" zwar ein Wahlprogramm, argumentierte mit den Slogans „Diesmal geht's ums Ganze . . . Für die Regierung Schmidt/Genscher, gegen Alleinherrschaft einer Partei, gegen Strauß" und „Faustregel '80: Zweitstimme F D P " im Wahlkampf aber weitgehend taktisch.
Die heiße Phase des Wahlkampfs Während die SPD in ihrem Wahlkampf die positive Alternative („Das will die SPD - Das will die SPD auf keinen Fall") in Anzeigen, auf Plakaten und in dem bundesweit erstmalig eingesetzten Boulevard-Blatt „Zeitung am Sonntag" in den Vordergrund stellte und den Unionskandidaten eher am Rande angriff (Anzeigentext: „Helmut Schmidt statt Strauß: Den Frieden wählen"), stützten sich C D U und stärker noch C S U in allen Wahlkampfmedien auf eine Negativ-Argumentation. So heißt es in Anzeigen der C S U unter dem Motto „Den Sozialismus verhindern" u.a.: „Über 10 Jahre Linksregierung Schmidt/Genscher in Bonn haben die Bundesrepublik in eine fatale Situation gebracht... Über 10 Jahre Linksregierung Schmidt/Genscher haben dem Sozialismus den Weg bereitet, die Moskau-Fraktion im Bundestag ermöglicht." Und bei der C D U heißt es dementsprechend: „Mit beiden Stimmen den Sozialismus stoppen." Mit der innen- und außenpolitischen Verknüpfung tief verwurzelter Ängste der deutschen Bevölkerung vermochte es die Union in semantisch ausgeklügelten Verdächtigungen (Beispiele: Volksfront und Moskau-Fraktion, Planung einer Währungsreform), das Konfrontationsklima extrem zu verschärfen. 149
Studieneinheit 4
Die 1980 erstmals eingerichtete „Gemeinsame Schieds-
IV.
Das Wahlergebnis
stelle der im Bundestag vertretenen Parteien", zuerst von der Union und dann auch von der vorher zögern-
Die Wählerentscheidung vom 5. Oktober brachte den
den S P D mit scheinbaren und echten Vorwürfen über
erwarteten Wahlsieg der Koalition — allerdings mit
Verstöße gegen das Wahlkampfabkommen geradezu
höheren Zweitstimmengewinnen für die F D P als erwar-
überschüttet, bewirkte letztlich nur, daß mit der Be-
tet: Die S P D erreichte mit 42,9 % ihr zweitbestes Stim-
richterstattung über die ihr vorliegenden Verstöße und
menergebnis seit 1949, gewann gegenüber der Bundes-
Entscheidungen die Konfrontationen und Entgleisun-
tagswahl 1976 aber nur 0,3 % an Stimmen hinzu; die
gen im Bundestagswahlkampf 1980 in den Medien ver-
F D P verzeichnete mit 10,6 % Stimmenanteil ihr dritt-
stärkt dargestellt wurden. Die S P D resümierte in ihrer
bestes Ergebnis seit 1949 und gegenüber 1976 ein
Wahlanalyse bitter: „Die Schiedskommission ließ sich
Stimmenplus von 2,7 %; die CDU/CSU erreichte
durch Geißler und Stoiber zu einem Instrument der
44,5 % — ihr schlechtestes Ergebnis seit 1953 — und
politischen Öffentlichkeitsarbeit der CDU/CSU um-
verlor gegenüber 1976 einen Stimmenanteil von 4,1 %
funktionieren (vom Rentenbetrüger zum Rentenbe-
( C D U 3,8, C S U - sehr viel stabiler - nur 0,3 %).
trug). Die Neigung für ausgewogene Schiedssprüche ließ bei allem Bemühen unseres Vertreters um Klarheit und Verhältnismäßigkeit den Eindruck aufkommen: die
Der Zweitstimmenanteil der Grünen lag mit 1,5 % unter der Hälfte ihres Europawahlergebnisses von 1979.
S P D ist nicht besser als die CDU/CSU, und gestattete der FDP, die Position des feinen Mannes zu übernehmen."
V.
Motive der Wählerentscheidung
Insbesondere die audio-visuellen Medien bemühten sich — intensiver als je zuvor —, den Bundestagswahlkampf
Das für die SPD unangenehme und für die F D P überra-
(Parteien, Wahlkämpfe und Argumente) in Hearings,
schend günstige Wahlergebnis verschafft der Frage, was
Diskussionen der Spitzenkandidaten und Sonderbeiträ-
einen beträchtlichen Teil der Wähler denn dazu ge-
gen umfassend darzustellen. Allein im September wur-
bracht hat, die Anfang des Jahres umstrittenen Freien
den den Wahlbürgern mehr als zwanzig, sich oft über
Demokraten derart zu begünstigen und die Sozialde-
mehrere Stunden erstreckende Sendungen zur Bundes-
mokraten eher zu vernachlässigen, größere Bedeutung
tagswahl angeboten. Diese zwar gut gemeinte, aber für
als bei den vorhergehenden Bundestagswahlen, bei de-
den weniger politisch interessierten Normalbürger doch
nen die Entscheidung leichter interpretierbar war. Die
stark belastende intensive Integration in den Wahl-
von den konkurrierenden Parteien gegebenen Antwor-
kampf dürfte weniger Argumente vermittelt als viel-
ten verdecken das Konglomerat unterschiedlicher Ver-
mehr dazu beigetragen haben, daß der Bundestagswahl-
unsicherungen einer relativ großen Zahl von Wählern,
kampf 1980 — wie spätere Umfragen auswiesen — als
das zu ihrer Entscheidung führte.
übertriebene und unangemessene Auseinandersetzung bewertet wurde. Die von der CDU/CSU in die Wahlauseinandersetzung eingebrachte Polemik trübte bis in die letzte Fernsehdiskussion hinein, in der am 2. Oktober 1980 Schmidt, Genscher, Kohl und Strauß gemeinsam vor den Bildschirm traten, das Bild ihres Hauptgegners; dieser sah sich gezwungen, die psychologisch geschickt angelegten Unterstellungen zurückzuweisen und sich damit selbst auf die gleiche Argumentationsebene zu begeben. Deutlich wurde schon einige Wochen vor dem Wahltermin, daß die F D P — vom Generalangriff der Union auf den „Sozialismus" unberührt und entspre-
So heißt es in der von Egon Bahr vorgelegten WahlAnalyse der SPD: „Die schärfere Gangart, von der Opposition durch persönliche Diffamierung des Kanzlers und von Strauß mit seinem Einstieg in die .Spiegel-Affäre' forciert, zeigte auf unserer Seite die Verknüpfung von Frieden und Strauß. Sie wurde bis zum letzten Tag gegen erhebliche Widerstände, vor allem im Presse- und Verlegerbereich, durchgehalten. Die damit verbundene Polarisierung, auch im Stil, nützte der FDP, zumal die politische Profilierung ihr gegenüber kaum erfolgte"(7).
chend maßvoll — aus der Konfrontation der beiden Großen ihren Nutzen würde ziehen können.
150
7) Vorwärts, Nr. 10 vom 26.2.1981, S. 19.
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
In der Wahl-Analyse der FDP heißt es: „Zugute kam
Aufschlußreich ist, daß als Schwerpunkt der FDP —
auch unter den Wählern beider Koalitionsparteien, die
tralen politischen Themen des Bundestagswahlkampfes
lehnte, einer Kanzlerschaft Strauß reserviert bis ableh-
gesehen wurde.
Westfalen — den Erhalt eines Drei-Parteien-Systems mit
Auswirkungen auf die Wahlentscheidung haben in den
der FDP diesmal, daß eine klare Mehrheit der Wähler, absolute Mehrheit einer Partei, auch die der SPD, ab-
nend gegenüberstand und — besonders in Nordrhein-
der FDP als dritter Kraft wünschte"(8).
Die CDU begründete ihre Verluste damit, daß „die CDU/CSU 1980 das Meinungsklima in einem bislang nicht gekannten Maße gegen sich" hatte (9). Auch von anderer Seite wird das Meinungsklima „stra-
noch vor der Außenpolitik — das nicht unter den zen-
1980 eingeordnete Thema „Koalition mit der SPD" an-
Augen der Bevölkerung nur wenige politische Ereignisse gehabt:
— Der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe, von 63 % der Bevölkerung als wirksam und mehrheitlich als positiv für die CDU/CSU angesehen.
paziert". So schreiben Feist/Liepelt in einer Nachwahl-
— Demonstrationen und Ausschreitungen in Bremen
der CDU/CSU unter Ausnutzung der Schiedsstelle, von
licher Mehrheit der CDU/CSU gutgeschrieben.
analyse: „Trotz ihrer aussichtslosen Position gelang es
der Polarisierung zwischen Schmidt und Strauß zeit-
weise abzulenken und ein Meinungsklima zu erzeugen,
das sich auf die Mobilisierung konservativer Grundwerte stützte. Von der Konfrontation zwischen CDU/
CSU und SPD profitierte die Zweitstimmenkampagne
der FDP"(10).
Das Meinungsklima zu Lasten der beiden großen Geg-
ner heranzuziehen, ist gar nicht so abwegig. Zumindest
und Hamburg, von 56 % genannt und mit sehr deut-
— Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, von
53 % genannt und als positiv für die SPD/FDP-Koalition verbucht.
— Die Moskau-Reise von Helmut Schmidt und Hans-
Dietrich Genscher, von ebenfalls 53 % genannt und
der Koalition gutgeschrieben.
Die Absage des Treffens Schmidt/Honecker (stärker
haben sich, wie demoskopische Untersuchungen nach
als Belastung der SPD angesehen), der Bombenanschlag
und CDU/CSU andererseits, für sie günstige Themen
Opposition eingeordnet), die Absage des Treffens
der Wahl ausweisen, Bemühungen von SPD einerseits
und Argumente durchzubringen, quasi gegeneinander
aufgehoben.
auf dem Oktoberfest in München (eher zu Lasten der Schmidt/Gierek (zu Lasten der Koalition) und die
Streiks in Polen (bei etwa gleicher Verteilung ihrer
Wirkung) hatten in den Augen einer großen Mehrheit
der Wähler auf die Wahlentscheidung keine Auswirkun-
Die politischen Themen des Wahlkampfes Demoskopische Erhebungen nach der Wahl (11) ergaben, daß nur drei politische Themen in den Augen der Wähler im Bundestagswahlkampf 1980 Bedeutung hatten:
gen.
Anders als 1972, wo Themen und Ereignisse — Frie-
denspolitik und Grundlagenvertrag mit der DDR — sehr
deutlich die SPD begünstigten und für sie neue Wähler-
schichten mobilisiert hatten, reichten 1980 die Themen und Ereignisse, denen für die Wahlentscheidung Ge-
— Die Friedenspolitik, von 20 % der Bevölkerung genannt und mehrheitlich als Thema der SPD ange-
sehen.
— Die Staatsverschuldung, von 26 % genannt und von noch mehr Wählern als Thema der CDU/CSU angesehen. — Die Rentenfrage, von 21 % der Bevölkerung genannt und der SPD und CDU/CSU in gleich hohem Maße zugeordnet.
8) Analyse der Bundestagswahl 1980. FDP-Parteivorstand, November 1980, S. 3. 9) Bundestagswahl 1980: Ergebnisse der Nachwahlanalyse. CDU-Bundesgeschäftsstelle, Bonn, 23.2.1981, S. 2. 10) Ursula Feist/Klaus Liepelt; Stärkung und Gefährdung der sozialliberalen Koalition. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 5. Oktober 1980. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1/1981, S. 57. 11) Infratest-Untersuchung Oktober/November 1980. Sofern im folgenden demoskopische Daten angeführt werden, beziehen sie sich auf diese Erhebung.
151
Studieneinheit 4
wicht beigemessen wurde, bei etwa gleicher Wirkung über die jeweils eigenen Parteienpotentiale kaum hinaus.
völkerung den fairsten, den sachlichsten, den glaubwürdigsten und — mit geringerem Vorsprung vor den übrigen Parteien - den informativsten Wahlkampf geführt.
Bewertung des Wahlkampfes der Parteien
Haupteinflußfaktoren der Wahlentscheidung
Während die Medien Fernsehen — deutlich an der Spitze —, Hörfunk und Presse zur Unterrichtung über Parteien und ihre Politiker etwa in gleich hohem Maße genutzt wurden wie in den vorhergehenden Bundestagswahlen, ist 1980 im Vergleich mit früheren Wahlen die Bedeutung des politischen Gesprächs mit Kollegen, Freunden und Verwandten merklich zurückgegangen. Gleichzeitig ist es den Parteien 1980 in viel geringerem Maße als früher gelungen, über die eigenen Wahlkampfmedien — Wahlsendungen in Fernsehen und Radio, Anzeigen, Plakate und Informationsmaterial — Informationen und Argumente an die Wähler zu vermitteln. So erklärten 1972 zwei Drittel der Wähler, sie hätten aus den Fernsehsendungen „Parteien zur Wahl" wichtige Informationen entnommen; 1980 sind es nur noch 43 %, die über dieses Medium Informationen für ihre Wahlentscheidung gezogen haben. Ob diese geringe Beachtung der Wahlkampf-Aussagen der politischen Parteien nun als gesunkenes politisches Interesse oder zunehmende Abneigung gegenüber der Wahlwerbung interpretiert wird — der Anteil der Informationen, die von den Parteien direkt an die Wähler vermittelt werden konnten, ist 1980 geringer geworden. Bei einem Vergleich der Wahlkampfaktivitäten von CDU/CSU und SPD kommt die Union deutlich besser weg: 40 % der Wähler sahen sie als aktivste Partei, nur 15 % die SPD, die noch 1972 mit deutlichem Vorsprung vor der Union als aktiver angesehen wurde. Auch bei einem Vergleich des Wahlkampfstils aller drei im Bundestag vertretenen Parteien wird die Union mit deutlichem Vorsprung als die kämpferischste Partei angesehen. Dieser Eindruck wird aber voll dadurch kompensiert, daß sie in allen anderen wichtigen Positionen eines Polaritätenprofils ihres Wahlkampfstils — fair, sachlich, glaubwürdig, ansprechend und informativ — von der Bevölkerung insgesamt und noch sehr viel deutlicher von den FDP-Wählern schlechter als die SPD bewertet werde. Die FDP erhielt — mit großem Abstand und auch von den Wählern der anderen Parteien — positive Noten: Sie hat in den Augen der Be-
152
Als für sie wichtigste Faktoren der Wahlentscheidung (12) nannten nach der Wahl: Die Wähler der SPD — mit Abstand Helmut Schmidt (Skalenwert 3.8) — die bisherige Regierungspolitik (3.1) — die Außenpolitik und die außenpolitischen Ziele der Partei (2.8). Die CDU/CSU-Wähler — die Vorstellungen und Ziele der Union zur inneren Sicherheit und Verbrechensbekämpfung (3.3) — die Wirtschaftspolitik der Union (3.1) — die Familienpolitik der Union (2.7) — weit vor dem Kanzler-Kandidaten Strauß (nur 1.7) die Spitzenpolitiker (Mannschaft) der Union (2.7). Die Wähler der FDP — die Außenpolitik bzw. die außenpolitischen Ziele der FDP (2.9) — die Spitzenpolitiker der FDP (2.7) — die wirtschaftspolitischen Ziele und die Wirtschaftspolitik der Partei (2.5) — aber auch — in weit höherem Maße als die Wähler von SPD und Union — die Art und Weise, wie die Partei ihren Wahlkampf führte (2.5). Für die Wähler der Grünen hatten das Programm der Partei (2.7) und die Bereitschaft, gesellschaftspolitische Reformen in der Bundesrepublik durchzuführen (2.4), gravierende Bedeutung. Zusätzliche Aufschlüsse über die Momente, die den Zustrom zur FDP bewirkten, geben die Meinungen der FDP-Wähler zum Wahlergebnis: In höherem Maße als die Wähler der beiden anderen Parteien (mit jeweils über 90 %) stimmen sie den Statements zu:
12) Gemessen anhand eines Skalen-Thermometers von +5 (den Wahlentscheid sehr beeinflussend) bis —5 (hat den Wahlentscheid überhaupt nicht beeinflußt).
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer Kommunikation
— Die FDP hat deswegen so viele Stimmen erhalten, weil die Wähler gegen die Alleinherrschaft einer Partei sind. — Die FDP hat wegen ihres sachlichen Wahlkampfes ein so gutes Ergebnis erreicht. Aufschlußreich erscheint auch, daß das Statement „ I m
Wahlkampf sind die politischen Gegensätze zwischen
Regierung und Opposition maßlos übertrieben darge-
stil honorieren) als durch politische Zielvorstellungen beeinflußt zu sein. Eine Hypothek für die kommende Zeit: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung dürfte, verunsichert durch den Bundestagswahlkampf 1980, die politische Auseinandersetzung verstärkt als negativ empfinden und diejenigen Gruppierungen begünstigen, die ihre Probleme scheinbar konfliktfrei bewältigen.
stellt worden" bei Gesamtbevölkerung und insbeson-
dere FDP-Wählern an der Spitze der nachträglich abge-
gebenen Meinungen zum Wahlergebnis rangiert. Das belegt, daß eine konfliktreiche und polemische Wahlaus-
einandersetzung mehrheitlich ungern gesehen wird und einen Teil der Wähler motivierte, sich zwischen den
Fronten, aber ohne Gefährdung der bisherigen Mehr-
heitsverhältnisse, einen Ausweg zu suchen. Daß das Moment, die Alleinherrschaft einer Partei zu verhindern,
für alle Wähler — insbesondere aber die der FDP — so große Bedeutung gehabt hat, deutet auf eine Über-
schätzung des Negativ-Faktors Strauß zu Lasten der CDU/CSU und zugunsten der SPD hin.
Insgesamt scheint 1980 auch aufgrund der Tatsache,
daß zahlreiche politische Themen und Argumente der konkurrierenden Parteien nicht intensiv genug ver-
mittelt werden konnten, die Wählerentscheidung stärker durch reale und atmosphärische Faktoren (Koali-
tion sichern, Alleinherrschaft verhindern, Wahlkampf-
Wahlwerbung: Legen die Parteien wirklich alle Karten auf den Tisch?
153
Aufgaben
1. Auf welchen Wegen erfahren die Parteien von den in der Gesellschaft artikulierten Bedürfnissen, Interessen und Forderungen (Input-Lieferanten)? O
—
o o o o
2. Was versteht man unter der Transmissionsriemenfunktion einer politischen Partei? O Die Aufgabe, die politische Bildung der Staatsbürger zu fördern, o Die Selektion politischer Wünsche und Forderungen der Gesellschaft. O Die Einflußnahme der Parteispitze auf die Parteimitglieder. O Zusammenfassung und Artikulation der gesellschaftlichen Interessen und ihre Weitergabe an das politische System. O Die kommunikativen Aktivitäten einer Partei.
3. Wann vergrößern sich die Chancen einer innerparteilichen Mitgliederpartizipation (nach Pütz)? Nennen Sie mindestens fünf Bedingungen! o o o o o o O o o
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer K o m m u n i k a t i o n
4. Aristoteles hat den Losentscheid als die beste demokratische Methode zur Bestellung von Repräsentanten bezeichnet. Was spricht - unter den heutigen Bedingungen — gegen diese Position?
5. Welche Funktion haben Wahlen? O O o O O —
6. Beschreiben Sie in Stichworten, welche dieser Funktionen in der heutigen politischen Praxis über- bzw. unterbewertet werden!
155
Studieneinheit 4
7. Haben Sie sich schon einmal innerhalb eines Wahlkampfes als Mitglied bzw. Helfer einer Partei oder im Rahmen einer Wählerinitiative engagiert? Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
156
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer K o m m u n i k a t i o n
8. Der Bundestagswahlkampf 1980 war durch eine starke Polarisierung gekennzeichnet. Skizzieren Sie Themen und Techniken der Auseinandersetzung!
157
Studieneinheit 4
Literaturverzeichnis
Börner, Holger: Die Parteien zum Wahlkampf. In: Dieter Just/Lothar Romain (Hrsg.): Auf der Suche nach dem mündigen Wähler. Die Wahlentscheidung 1972 und ihre Konsequenzen. Bonn 1974, S. 277—279
Kaltefleiter, Werner: Wandlungen des deutschen Parteiensystems 1949-1974. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 14 vom 5.4.1975, S. 3 - 1 0
Dittberner, Jiirgen/Ebbighausen, Rolf (Hrsg.): Parteiensystem in der Legitimationskrise. Studien und Materialien zur Soziologie der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1973
Lenk, Kurt/Neumann, Franz (Hrsg.): Theorie und Soziologie der politischen Parteien. 2 Bände, Neuausgabe Darmstadt, Neuwied 1974
Flechtheim, Ossip K. (Hrsg.): Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 1973 Grass, Günter (1): Der Wähler und seine Stimme. In: Günter Grass: Der Bürger und seine Stimme. Reden, Aufsätze, Kommentare. Darmstadt, Neuwied 1974, S. 8 3 - 8 8 Grass, Günter (2): Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Reinbek bei Hamburg 1974 Habermas, Jürgen: Über den Begriff der politischen Beteiligung. In: Jürgen Habermas/Ludwig von Friedeburg/Christoph (Dehler/Friedrich Weltz: Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. 3. Aufl. Neuwied, Berlin 1969, S. 1 3 - 5 5 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. Karlsruhe 1970
Pütz, Helmuth: Innerparteiliche Willensbildung. Empirische Untersuchung zum bildungspolitischen Willensbildungsprozeß in der CDU. Mainz 1974 Radunski, Peter: Wahlkampfstrategien '80 in den U S A und der Bundesrepublik. Personafisierung — Angriffswahlkampf - Dramatisierung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom 2.5.1981, S. 3 1 - 4 6 . Raschke, Joachim: Mehrheitswahlrecht — Mittel zur Demokratisierung oder Formierung der Gesellschaft? In: Martin G reiffenhagen (Hrsg.): Demokratisierung in Staat und Gesellschaft. München 1973, S. 2 5 1 - 2 7 4 Schmiederer, Ursula: Wahlen in der Bundesrepublik. A m Beispiel der Bundestagswahl 1969. Frankfurt am Main 1970 See, Hans: Volkspartei im Klassenstaat oder Das Dilemma der innerparteilichen Demokratie. Reinbek bei Hamburg 1972
Hättich, Manfred: Parteien als Kommunikationskanäle. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 1 2 3 - 1 3 1
Sontheimer, Kurt: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. München 1974
Jäger, Wolfgang (Hrsg.): Partei und System. Eine kritische Einführung in die Parteienforschung. Stuttgart 1973
Vogel, Bernhard/Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer Olaf: Wahlen in Deutschland. Theorie - Geschichte Dokumente 1848-1970. Berlin 1971
Just, Dieter: Orientierungsprobleme. Zur Bundestagswahl 1980 und ihren Konsequenzen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 18 vom 2.5.1981, S. 1 5 - 2 9 . Kaack, Heino: Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems. Opladen 1971
158
Wehling, Rosemarie: Wahlen im Politikunterricht. In: Dieter Just/Lothar Romain (Hrsg.): Auf der Suche nach dem mündigen Wähler. Die Wahlentscheidung 1972 und ihre Konsequenzen. Bonn 1974, S. 2 5 7 274 Zeuner, Bodo: Innerparteiliche Demokratie. Neuauflage Berlin 1970
Parteien und Wahlen als Institutionen und Kanäle politischer K o m m u n i k a t i o n
Literaturhinweise zum weiteren Studium
Flechtheim, Ossi ρ Κ. (Hrsg.)
Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 1973; 597 Seiten (Reader über Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik. Wertvoll sind sowohl die analytischen als auch die dokumentarischen Beiträge.)
Just, Dieter/ Romain, Lothar (Hrsg.)
Auf der Suche nach dem mündigen Wähler. Die Wahlentscheidung 1972 und ihre Konsequenzen. Bonn 1974 (=Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 101); 352 Seiten
Just, Dieter/ Röhrig, Peter (Hrsg.)
Entscheidung ohne Klarheit. Anmerkungen und Materialien zur Bundestagswahl 1976. Bonn 1978 (=Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 127); 347 Seiten (Die beiden leichtverständlich geschriebenen Bände sind kostenlos über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich.)
Kaack, Heino
Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems. Opladen: Westdeutscher Verlag 1971; 750 Seiten (Ausführliche Analyse und Materialsammlung.)
Lenk, Kurt/ Neumann, Franz (Hrsg.)
Theorie und Soziologie der politischen Parteien. 2 Bände, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand Verlag 1974 (^Soziologische Texte 88,89); 252 bzw. 390 Seiten (Zwei grundlegende Reader zum weiterführenden Studium der Parteien.)
Vogel, Bernhard/ Nohlen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf
Wahlen in Deutschland. Theorie — Geschichte — Dokumente 1848-1970. Berlin, New York: Verlag de Gruyter 1971; XIII/465 Seiten (Standardwerk zum Problem der Wahlen; auch zum Nachschlagen geeignet.)
Zeuner, Bodo
Innerparteiliche Demokratie. Berlin: Colloquium Verlag 1970 (= Zur Politik und Zeitgeschichte 33/34); 159 Seiten (Wichtige Untersuchung zum Problem der innerparteilichen Demokratie.)
159
Lösungen Zur Aufgabe auf Seite 131 : Herrschende Lehrmeinung ist: Die Parteien werden als freie politische Vereinigungen innerhalb der Gesellschaft bestätigt (vgl. Seite 132).
Zu den Aufgaben auf Seite 154—157: 1. o ° ° ° °
Parteimitglieder Massenmedien Verwaltung Verbände Rundfunkgremien
2. Zusammenfassung und Artikulation der gesellschaftlichen Interessen und ihre Weitergabe an das politische System. 3. Sie finden die Antwort auf Seite 137 im Zitat von Pütz. 4. Während sich bei Aristoteles die Bestellung der politischen Funktionsträger innerhalb einer homogenen gesellschaftlichen Elite als Auswahl unter „Gleichen", die zudem auf ein a priori festgelegtes Gemeinwohl eingeschworen waren, darstellte, muß in pluralistischen Systemen die Divergenz der Bedürfnisse und Interessen berücksichtigt werden. Im gegenwärtig existierenden Konkurrenzsystem ist die Wahl der rationellste Austragungsmodus. 5. o O O O O
Legitimation von Herrschaft Repräsentation des Volkes Information der Wähler Konkurrenzkampf um die Führung Integration des Volkes
6. Vergleichen Sie Ihre Antwort mit Kapitel 5.2 (Seite 141). 8. Vergleichen Sie dazu den Aufsatz von Dieter Just (Seite 146—153).
Studieneinheit 5 Wege der Interessenartikulation
Die Studieneinheit 5 zeigt im Anschluß an die vorhergehenden Einheiten Wege und Chancen der Interessenartikulation von Verbänden und ad-hoc-organisierten Gruppen auf. Politische Willensbildungs- und Artikulationsprozesse werden nach einer theoretischen Einleitung an zwei Beispielen dargestellt. Wir gehen aus von der These, daß das System organisierter Interessen, also das System der Verbände in der Bundesrepublik, eine Ausgewogenheit der Interessenartikulation und -durchsetzung nicht gewährleistet; das heißt, Interessen großer Gruppen der Bevölkerung, wie z.B. der Alten, Kranken, Kinder, Hausfrauen usw., sind — wenn sie nicht von Parteien oder anderen Interessengruppen stellvertretend aufgegriffen und artikuliert werden — im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß unterrepräsentiert. Aus diesem Grunde, und weil die etablierten Strukturen der Interessenartikulation den Bürger von der grundgesetzlich garantierten Teilhabe an der Entscheidungsfindung weitgehend ausschließen bzw. weil planerische Entscheidungen in der Verwaltungsbürokratie oft jahrelang verzögert werden, haben sich neue, spontane Wege der Interessenartikulation herausgebildet: Bürgerinitiativen. Die beiden Fallstudien in unserer Lehreinheit sollen die Einfluß- und Erfolgschancen von Verbänden und Bürgerinitiativen exemplarisch darstellen und, indem sie sich vom Ansatz her ergänzen, ein möglichst umfassendes Bild der Interessenartikulation im politischen System der Bundesrepublik vermitteln.
„Bei Bauern zu Besuch" Vater Kröger (Bauer): „Der Bauernverband vertritt die Interessen der deutschen Landwirte. Jürgen (sein Sohn, ebenfalls Mitglied des Bauernverbandes): „Und hetzt die verbitterten Kleinbauern auf und schickt die mit schwarzen Fahnen nach Bonn oder Brüssel, statt sie über die Auswirkungen der Strukturkrise zu informieren!" Dieter (Mitglied einer Bürgerinitiative): „Hier in der Bürgerinitiative kannst du Demokratie erleben! Und was noch viel wichtiger ist: die kämpfen nicht für irgendwelche egoistischen Einzelinteressen wie euer Verband, die kämpfen für das Gemeinwohl, füra//e!" Bei der Durchsetzung von Gruppeninteressen sind immer die Interessen anderer Gruppen direkt berührt. Auf welche Weise artikulieren sich die Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen im gegenwärtigen politischen System? Der Film zeigt in Spielszenen, wie sich Interessen einerseits im Verbandssystem, andererseits in Bürgerinitiativen formieren können. 161
Studieneinheit 5
Inhalt
1.
Die Organisation und Artikulation von Interessen im politischen System
1.1
Strukturen der organisierten Interessenartikulation in der
. 162
Bundesrepublik
163
1.2
Bürgerinitiativen als Weg der Interessenartikulation
165
1.3
„Aktive Öffentlichkeit"
167
2.
Beispiel 1 : Der Deutsche Bauernverband und seine Einflußnahme auf die
2.1
Die agrarpolitische Situation
2.2
Innerverbandliche Willensbildung im Deutschen Bauernverband
168
2.3
Die Interessenartikulation des Deutschen Bauernverbandes
173
3.
Beispiel 2: Die Auseinandersetzung um das Bayerische Rundfunkgesetz
3.1
Die rundfunkpolitische Entwicklung in Bayern bis zum
3.2
Der Protest gegen das Rundfunkgesetz bis zum erfolgreichen
Entscheidung über den europäischen Getreidepreis
167 167
und die Privatfunk-Pläne der CSU
178
Rundfunkgesetz von 1972
178
Volksbegehren
179
3.3
Die weitere Entwicklung in der Rundfunkfrage
184
3.4
Das Zusammenwirken der verschiedenen Organisationen und Gruppen
185
Aufgaben
1.
185
Literaturverzeichnis
188
Literaturhinweise zum weiteren Studium
189
Lösungen
190
Die Organisation und Artikulation von Interessen im politischen System
Der politische Meinungs- und Willensbildungsprozeß in der Bundesrepublik wird — neben den Parteien — von den verschiedenen Interessengruppen maßgeb-
Zuerst wird das kommunikative Verhalten eines einzelnen Verbandes in einer bestimmten politischen Entscheidung vorgeführt. Dabei sollen sowohl die Kommunikations- und Willensbildungsprozesse innerhalb des Verbandes als auch dessen Einflußnahme auf die politischen Entscheidungsträger beschrieben werden.
lich mitbestimmt. Um einen wirksamen Einflußauf
Als Beispiel bot sich der Deutsche
staatliche Entscheidungen ausüben zu können, ist
(DBV) aus mehreren Gründen besonders an. Einmal
Bauernverband
Organisation die wichtigste Voraussetzung. Ein ein-
ist die Existenz gerade dieses Verbandes allgemein
zelner Bürger kann mit der Artikulation seiner Wün-
bekannt — seine Aktivitäten sind immer wieder poli-
sche und Bedürfnisse — auf sich allein gestellt — nichts
tisches Tagesgespräch. Die gesamtgesellschaftlichen
erreichen; erst der Zusammenschluß vieler mit glei-
Auswirkungen seines Einflusses sind für jeden spürbar,
chen beruflichen, politischen, kulturellen oder sonsti-
man denke nur an die Lebensmittelpreise.
gen Interessen gibt seiner Stimme Gewicht.
Zum anderen verfügt der Deutsche Bauernverband
Wir haben zwei Beispiele ausgesucht, die Fälle von
über ein sehr starkes Organisationsgefüge und hohe
Interessenartikulation unter völlig verschiedenen
Mitgliederzahlen. Er ist zudem ein typischer, ein
Gesichtspunkten zeigen.
„klassischer" Verband insofern, als er spezielle Eigen-
162
Wege der Interessenartikulation
interessen vertritt und nicht, wie etwa die Gewerk-
Der genannte Artikel garantiert sowohl ein individuel-
schaften, auch allgemeine politische Interessen in
les als auch ein kollektives Freiheitsrecht. Seine Funk-
seine Politik einbezieht, was einen Verband in die
tion ist die Persönlichkeitsverwirklichung in Gruppen-
Nähe von Parteien rückt.
form. Jeder Bürger kann eine Vereinigung gründen,
Hinzu kommt der Mangel an empirischen Detailunter-
jeder kann einer bestehenden Vereinigung beitreten.
suchungen über einzelne Verbände. Zum DBV gibt es
Als „Kommunikationsgrundrecht" trägt Artikel 9 zur
eine Fallstudie, die unseren Zwecken entgegenkommt,
Sicherung eines freien, demokratischen Meinungs- und
nämlich eine Untersuchung über die Einflußnahme
Willensbildungsprozesses bei. Denn Zusammenschluß
des Deutschen Bauernverbandes auf die Entschei-
zu Vereinigungen ist ein unentbehrliches Mittel, um
dung über den europäischen Getreidepreis, die im
politische Meinungen zu bilden und zu verbreiten.
Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den 60er Jahren notwendig wurde.
Gewährleistet das bestehende Verbandssystem die Artikulation aller Interessen? Bevor diese Frage be-
Wenn man diesen ersten Blickwinkel als einen „Längs-
antwortet wird, sollen die Verbände in der Bundes-
schnitt" durch einen Verband und seine Interessen-
republik beschrieben werden.
vertretung bezeichnen will, so kann das zweite Beispiel zur Veranschaulichung ein „Querschnitt" genannt werden. An einer strittigen politischen Entscheidung und deren Folgen soll gezeigt werden, welche unterschiedlichen Möglichkeiten der politischen Artikulation neben den institutionalisierten Strukturen gegeben sind und wie solche Artikulationsprozesse entstehen, ad hoc organisiert werden und verlaufen. Nach der Änderung des Bayerischen Rundfunkgesetzes durch die CSU im Jahre 1972 kam eine Lawine des Protestes ins Rollen. Nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch viele Verbände, spontan gebildete Gruppen und einzelne Bürger artikulierten ihre Ablehnung im Parlament, in den Medien, durch
Verbände in der Bundesrepublik In der Bundesrepublik gibt es ca. 200 000 Vereinigungen im Sinne des Artikels 9 des Grundgesetzes. Sie lassen sich grob in folgende Typen einteilen, wobei die Übergänge häufig fließend sind: „1. Vereinigungen innerhalb des Wirtschaftsund Arbeitssystems. Zu ihnen gehören vor allem die Produzentenvereinigungen (Wirtschaftsverbände, Innungen, Kammern, deren Zusammenschlüsse usw.); die weithin fehlenden, jedenfalls aber machtlosen Konsumentenvereinigungen; die Vereinigungen der Arbeitspartner im weiteren Sinne und die Berufsvereinigungen einschließlich der Berufsgenossenschaften.
Demonstrationen und Kundgebungen, durch die Gründung einer Bürgerinitiative und schließlich die Durchführung eines Referendums, an dem sich eine über alle Erwartungen hinausgehende Zahl von Bürgern beteiligte. Der Verlauf des Rundfunkstreits
soll im einzel-
nen beschrieben werden, um so die vielfältigen Kommunikationswege und Artikulationschancen „von unten nach oben" deutlich zu machen.
1.1 Strukturen der organisierten Interessenartikulation in der Bundesrepublik Im politischen System der Bundesrepublik sind die Verbände die wichtigsten Organe der Interessenartikulation neben den Parteien. Wie die Studieneinheit 2 schon aufgezeigt hat, ist Artikel 9 des Grundgesetzes die Existenzgrundlage der Interessenverbände im Verfassungsrecht.
2. Vereinigungen im sozialen Bereich, gleichgültig, ob es sich dabei um Verbände handelt, die soziale Interessen ihrer Mitglieder vertreten, oder um solche, welche unbestimmten oder bestimmten Personen helfen oder deren Selbsthilfe unterstützen wollen. 3. Vereinigungen im Freizeitbereich, welche der gemeinsamen Pflege von Sport, Musik, Hobbys, Geselligkeit usw. und ggf. auch der Wahrnehmung sich damit verbindender Interessen dienen. 4. Vereinigungen im Bereich von Kultur, Politik und Religion, deren gemeinsames Merkmal sich aus der Wertorientierung ergibt — und damit vielfach in die Behauptung einmündet, man spreche für eine Gruppe, die viel größer als die im eigenen Verband organisierte sei; zu den kulturellen Vereinigungen gehören auch solche wissenschaftlichen, die nicht zu den Berufsvereinigungen zählen" (Ellwein, S. 471 f.).
163
Studieneinheit 5
Der dritte Punkt, „Vereinigungen im Freizeitbereich", ist in unserem Zusammenhang kaum von Bedeutung, da die darunter fallenden Vereine in der Regel keinen Anteil am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß haben. Wichtig sind hier hauptsächlich die großen Interessenverbände mit hoher formaler Organisation und vielen Mitgliedern, von denen die meisten zum Wirtschafts- und Arbeitsbereich und jeweils einige zum sozialen oder zum politischen und kulturellen Bereich gehören. Daß sich der höchste Organisationsgrad im Wirtschaftsund Arbeitsbereich findet, hat seine Ursache in der Bedeutung des Berufes für den einzelnen wie für die Beruf sgruppen und in der Interessenkonfrontation im Erwerbsleben. Arbeitnehmer und Arbeitgeber stehen sich in ihren Verbänden als Tarifpartner gegenüber, d.h. sie handeln miteinander die Lohn- und Tarifpolitik aus. Sie stellen die wohl stärksten und einflußreichsten Interessengruppen dar und beschränken sich nicht auf eine ökonomische Interessenvertretung, sondern sind auch zunehmend gesellschaftspolitisch aktiv. Alle Vereinigungen im Wirtschafts- und Arbeitsbereich befassen sich neben ihrer Hauptaufgabe, der Interessenvertretung „nach außen", auch mit speziellen berufsständischen Problemen wie Aus- und Fortbildung, gegenseitigem Erfahrungsaustausch und beruflicher Information. In der Regel ist die Mitgliedschaft frei; bei manchen Berufsverbänden gibt es jedoch auch eine Art automatischer Mitgliedschaft beim Eintritt in den Beruf (Handwerker, Ärzte, Rechtsanwälte usw.).
Funktionen der Verbände Der amerikanische Ausdruck für Interessenverbände, pressure-groups, deutet vom Wort her schon auf die zentrale Aufgabe der Verbände im politischen System hin: Druck ausüben, Einfluß nehmen auf die Entscheidungen der staatlichen Repräsentanten. Da „pressure" jedoch einen negativen Beiklang hat, sich auf bestimmte Methoden politischer Einflußnahme bezieht, wird der neutrale Ausdruck Interessengruppe (oder -verband) meist vorgezogen. Die Beziehungen zwischen einflußnehmenden Interessengruppen und den staatlichen Organen spielen sich auf vielen Ebenen ab: Das direkte Gespräch zwischen einem Verbandsmitglied und einem Politiker 164
gehört ebenso dazu wie die systematische Bereitstellung von Informationen für Ministerien, parlamentarische Beratungen oder Kongresse und der Versuch, die Öffentlichkeit für die eigenen Interessen zu gewinnen. Die Verbände als Repräsentanten eines bestimmten Teils der Bevölkerung bringen ihre Forderungen in den politischen Entscheidungsprozeß ein. Dabei leisten sie neben der Artikulation der Interessen zwei weitere für den Staat wichtige Aufgaben: Interessenaggregation und -Selektion. Die staatlichen Organe wären überfordert, wenn die Fülle der Forderungen aus der Gesellschaft ungebündelt und ungefiltert auf sie einstürmen würde. Die Verbände sammeln, d.h. aggregieren diese Einzelinteressen, fassen sie zusammen und reduzieren so das Übermaß an Informationen auf eine kleinere und gewichtigere Anzahl. „Dadurch, daß Interessenverbände zu einem gegebenen Zeitpunkt nur wenige Forderungen ihrer Mitglieder an die staatlichen Organe weiterleiten, werden diese für eine sorgfältige Auswertung der schon so reduzierten Information und für eine überlegte Entscheidungsfindung frei" (Steinberg, S. 134). Die nicht weitergegebenen Informationen werden gespeichert und können zu einem anderen Zeitpunkt gegebenenfalls abgerufen werden. Indem sie einen ständigen Kommunikationsfluß der Wünsche und Bedürfnisse ermöglichen, schaffen die Interessenverbände eine engere Verbindung zwischen Staat und Bürgern. Es bleibt jedoch die Frage, ob die Ausgewogenheit der Interessenrepräsentation durch die Verbände gewährleistet ist. Schon ein flüchtiger Blick auf die Auswirkungen der Einflußnahme verschiedener Interessengruppen im demokratischen Staat zeigt, daß die Erfolgschancen ungleich verteilt sind.
Defizite der organisierten Interessenartikulation Die Pluralismustheorie sieht in den miteinander konkurrierenden organisierten Interessen die Gewähr eines Ausgleichs und somit des Funktionierens des Gesamtsystems. Empirisch repräsentieren die im bestehenden Verbandssystem sich artikulierenden Interessen aber keinesfalls alle in der Gesellschaft vorhandenen Bedürfnisse. Claus Offe unterscheidet theoretisch zwei Voraussetzungen für die Artikulation und Durchsetzung von Interessen im politischen System:
Wege der Interessenartikulation
Organisationsfähigkeit
und Konfliktfähigkeit.
Gesell-
Dieser Strukturdefekt des Systems organisierter
schaftliche Bedürfnisse, die eine oder beide Prämissen
Interessenartikulation wurde nicht nur von den
nicht erfüllen, sind — so seine These — nur schwer
Theoretikern der Demokratie aufgedeckt, sondern
artikulierbar und haben kaum Einflußchancen.
drang auch stärker in das Bewußtsein einzelner Bürger. Es muß nach neuen Wegen der politischen Be-
Organisationsfähigkeit Organisationsfähig sind nur solche Interessen und Bedürfnisse, die in ausreichendem Umfang „motivationale und materielle Ressourcen mobilisieren" (Offe [1 ] , S. 167), d.h. Bereitschaft und materielle Unterstützung erreichen können, also vor allem spezielle Interessen, die den Betroffenen hinreichend deutlich und wichtig sind. A m leichtesten organisierbar sind deshalb die primären Lebensbedürfnisse großer und relativ homogener Statusgruppen wie der Bauern,
teiligung und Einf lußnahme gerade der Gruppen gesucht werden, deren Interessen bislang kaum vertreten werden konnten. Vorbedingung dazu ist, daß dem einzelnen neben der Chance, an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken, erst einmal die Gelegenheit gegeben wird, Zusammenarbeit zu erlernen, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, Kompromisse zu schließen, d.h. auch im kommunikativen Bereich demokratische Verhaltensweisen und politische Fähigkeiten auszubilden (vgl. Scharpf, S. 71).
Arbeiter, Unternehmer usw. Dagegen sind schwerer oder überhaupt nicht in Verbänden organisierbar alle allgemeinen Bedürfnisse, wie etwa Wohnung, Gesundheit, Bildung usw., die keiner klar abzugrenzenden
1.2 Bürgerinitiativen als Weg der Interessenartikulation
Gruppe, sondern eigentlich jedem Individuum zuzuordnen sind.
Seit Mitte der 60er Jahre gewinnen Bürgerinitiativen immer mehr an Bedeutung. Im Unterschied zu den
Konfliktfähigkeit
institutionalisierten Strukturen der Interessenartikulation, den Verbänden, sind Bürgerinitiativen keine
Konfliktfähigkeit, die zweite Bedingung für die
Gründung auf Dauer, sondern Ad-hoc-Organisationen,
Organisation und Durchsetzung von Interessen,
die sich an aktuellen Anlässen entzünden und sich
„beruht auf der Fähigkeit einer Organisation bzw.
wieder auflösen, wenn sie ihr spezielles Ziel erreicht
der ihr entsprechenden Funktionsgruppe, kollektiv
oder endgültig verfehlt haben. Adressat ist in der Regel
die Leistung zu verweigern bzw. eine systemrelevante
die Exekutive, seltener die Legislative, deren bereits
Leistungsverweigerung glaubhaft anzudrohen"
getroffene Entscheidungen rückgängig gemacht oder
(Offe [1 ], S. 169).
deren noch nicht gefällte Beschlüsse angeregt, beeinflußt oder beschleunigt werden sollen.
Die Chancen zur Leistungsverweigerung sind jedoch ungleich, asymmetrisch, verteilt. Manche Gruppen
Initiatoren sind meist aktive Bürger, die häufig schon
haben überproportionierte Sanktions- und Einfluß-
in anderen Organisationen, in Parteien oder Verbän-
möglichkeiten, wie z.B. die Fluglotsen 1973 in ihrem
den, mitarbeiten. Sie suchen sich einen Kreis „Betrof-
monatelangen Streik bewiesen, andere — viel größere —
fener", die unmittelbar an der Durchsetzung des Zie-
Gruppen, wie Hausfrauen, Schüler, Studenten, Ar-
les interessiert und deshalb zur Beteiligung an der
beitslose, Pensionäre usw., haben kaum eine Chance
Bürgerinitiative bereit sind.
zur Leistungsverweigerung und sind damit nicht konfliktfähig. Zwar gibt es Interessenorganisationen dieser Gruppen, sie besitzen jedoch nur geringe Durchsetzungskraft und höchstens punktuelle Ein-
Drei Arten von Zielsetzungen lassen sich grob unterscheiden: *
flußmöglichkeiten. Wenn also bestimmte Gruppen ihre Bedürfnisse im
Selbsthilfe: Z.B. gründen und organisieren Mütter gemeinsam einen Kindergarten, da in den vorhandenen Kindergärten kein Platz mehr ist.
*
Eingriff in gefällte oder anstehende politische Ent-
politischen System nicht ausreichend zur Sprache
scheidungen: Dies ist die häufigste Form; z.B. soll
bringen, geschweige denn deren Befriedigung errei-
ein Bebauungsplan geändert, die Errichtung eines
chen können, dann stimmt die pluralistische Idee der
Flughafens oder einer Fabrik verhindert werden.
Interessenartikulation durch die bestehenden Institutionen mit der Realität nicht überein.
*
Wahlvereine: Erstrebt sind Stimmengewinne für politische Parteien - durch „Wählerinitiativen", 165
Studieneinheit 5
die hauptsächlich finanzielle Wahlunterstützung
irrationale Fortschrittsangst: sehr vielen, vielleicht
leisten bzw. eigene namentlich unterzeichnete
den meisten Bürgerinitiativen läßt sich etwas davon
Anzeigen veröffentlichen (nach Dienei, S. 33).
nachsagen" (Haffner, S. 16).
Angesichts der beiden ersten Gruppen wird klar, wo
Offe wendet gegen Bürgerinitiativen ein, daß sie
das hauptsächliche Betätigungsfeld der Bürgerinitia-
hauptsächlich vom Mittelstand getragen werden,
tiven liegt: auf regionaler und kommunaler Ebene.
also vornehmlich von besitzenden und intellektuel-
Wenn man einmal von den Aktionen zur Reform des
len Schichten, die spezifische Eigeninteressen verfol-
§ 2 1 8 und von bundesweiten Umweltschutzinitiativen
gen. Außerdem kritisiert er die Mittel der Einfluß-
absieht, so fallen fast alle Bürgerinitiativen in den
nahme wie Go-in, Besetzung, Sabotage und Boykott,
lokalen Bereich. Dieser Umstand charakterisiert denn
die — laut und kurzsichtig — von wirklichen Mißstän-
auch die Kommunikationswege und Erfolgschancen:
den ablenken und deren Beseitigung verhindern.
Der Schwerpunkt der Kommunikation liegt auf direk-
Bürgerinitiativen seien willkommene Partner der Ver-
ten Aktionen, auf Demonstrationen, Kundgebungen,
waltung, indem sie mögliche Konflikte frühzeitig
Unterschriftenaktionen und Anzeigen. Man will eine
signalisierten und die politische Planung nur vorfor-
breitere Öffentlichkeit und viele Sympathisanten für
mulierten. Tiefergreifende Veränderungen würden
seine Ziele gewinnen; dazu dienen Flugblätter und
dadurch unmöglich gemacht.
Wandzeitungen als Informationsmittel. Der Erfolg einer Bürgerinitiative hängt jedoch hauptsächlich davon ab, ob die Presse, bestehende Organisationen und die Parteien für die Ziele eingenommen werden können.
Kommunikatives Versagen wird ausgeglichen Diesen Einwänden ist angesichts der gegebenen Strukturvoraussetzungen der politischen Kommunikation
Kritik an Bürgerinitiativen Bürgerinitiativen sind grundsätzlich positiv zu bewerten, da sie die Beteiligung der Bürger an politischen Prozessen ermöglichen und verstärken und da es zur Zeit kaum andere spontane Wege gibt, die Schwerfälligkeit des staatlichen Planungsapparates zu bekämpfen, politische Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und auf planerische Mißstände aufmerksam zu machen. Trotzdem gibt es eine Reihe von Einwänden. Konservative Kritiker befürchten, daß Bürgerinitiativen die Handlungsfähigkeit der Verwaltung lähmen könnten. Die „linke" Kritik wirft den Bürgerinitiativen vor, daß sie systemstabilisierend seien. Die meisten von ihnen zielten nicht auf Veränderung, sondern richteten sich gerade dagegen — seien es Veränderungen der Umwelt, der Wohn- und Lebensgewohnheiten, der Ansprüche. Man will und braucht zwar Flugplätze,
entgegenzuhalten, daß Bürgerinitiativen zumindest ein Indiz für das Versagen der vorhandenen „offiziellen" Artikulations- und Informationsmöglichkeiten darstellen. Noch weit im Vorraum politischer Entscheidungen, z.B. kommunalpolitischer Planungsentscheidungen, entstanden so „spontane" Kommunikationskanäle, die den Bürgern die Möglichkeit zu einer kommunikativen Beteiligung am politischen Prozeß geben, für die sonst keine Institutionen vorhanden sind. Hier ist vor allem etwas möglich, was auf den höheren Ebenen immer schwierig sein wird: die Verbindung von Erfahrung und Kommunikation, eine Meinungsund Willensbildung, die unmittelbar von der eigenen Betroffenheit ausgeht. Damit wurden die Bürgerinitiativen gleichsam zum kommunikationspolitischen Pendant zu der in den letzten Jahren festzustellenden Wiederentdeckung der kommunalpolitischen Ebene.
Atomkraftwerke, aber „nicht hier, nicht bei uns".
Vor allem in den Urbanen Ballungsgebieten werden —
Auf noch größeren Widerstand stoßen die Ansied-
auch und erst recht in der Zukunft — die Krisen und
lung von Gastarbeitern, der Bau von Heimen und An-
ungelösten Probleme der Industriegesellschaft für die
stalten für geistig und körperlich Behinderte.
Lebensverhältnisse der Bürger konkret anschaulich.
Sebastian Haffner argwöhnt daher: „Gruppenegois-
Und damit wird auch die Artikulation des politischen
mus, Lokalpatriotismus, Heimatsentimentalität,
Willens auf dieser Ebene ermöglicht.
166
Wege der Interessenartikulation
1.3 „Aktive Öffentl ichkeit"
Einflußnahme des DBV auf die Entscheidung über den europäischen Getreidepreis. Tübingen 1970).
Neben Bürgerinitiativen wirken im Prozeß der Ad-hocArtikulation auch einzelne politisch aktive Personen mit, für die Dahrendorf den Begriff „aktive Öffent-
2.1 Die agrarpolitische Situation
lichkeit" geprägt hat (Dahrendorf, S. 97 f f . ; vgl. Studieneinheit 2). In diesem Artikulationssystem kom-
Für das Wirken der agrarischen Interessenvertretung
men die Teilnehmer überwiegend nicht aus dem Kreis
ist die historische Entwicklung der Landwirtschaft
der unmittelbar Betroffenen, sondern sie machen sich
von entscheidender Bedeutung. Der Übergang vom
zum Anwalt der Bedürfnisse und Interessen anderer in
Agrar- zum Industriestaat, der in Deutschland in der
der Öffentlichkeit. Strukturell läßt sich diese Gruppe
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand, bildet
kaum umschreiben, wenn auch bestimmte Berufe und
den Hintergrund für das Aufkommen landwirtschaft-
Tätigkeiten besonders häufig zu finden sind, „insbe-
licher Interessengruppen. Die Arbeitslöhne in der
sondere etwa Wissenschaftler, Publizisten und Journa-
Industrie überflügelten sehr bald die Löhne in den
listen, Lehrer und Anwälte, aktive Mitglieder in Be-
ländlichen Betrieben, und so folgte eine Abwanderung
rufsverbänden, Interessenorganisationen und Parteien,
der in der Landwirtschaft Beschäftigten und o f t der
heute o f t auch Studenten und Schüler" (Scharpf,
Betriebsinhaber selbst. Der Ruf nach Staatsinterven-
S. 87 f.).
tion und Subventionen wurde laut, die Bauern fanden sich zu gemeinsamen Aktivitäten in Verbänden zusam-
Bei den folgenden Beispielen, die die hier im Ansatz
men.
beschriebenen Artikulationswege im politischen System näher beleuchten sollen, muß darauf geach-
Die zunehmende Industrialisierung und die daraus
tet werden, daß Prozesse der Interessenartikulation
folgende Bedeutungsminderung der Landwirtschaft
Kommunikationsprozesse sind, die im allgemeinen
hätte ein Umdenken der Bauern erforderlich gemacht.
neben der massenmedialen Kommunikation verlau-
Statt dessen wurde das Bauerntum als erstes und be-
fen und für die politische Meinungs- und Willensbil-
deutendstes Gewerbe „zur Wohlfahrt aller" ideologi-
dung von entscheidender Bedeutung sind.
siert und rückte schließlich im „ I I I . Reich", unter der Blut-und-Boden-ldeologie der Nationalsozialisten, als „Reichsnährstand" ins Zentrum des politischen Gedankengutes. Die Agrarpolitik des NS-Regimes bilde-
2.
Beispiel 1 : Der Deutsche Bauernverband und seine Einflußnahme auf die Entscheidung über den europäischen Getreidepreis
te den Höhepunkt des Agrarprotektionismus. Nach dem Krieg entwickelte sich in der Bundesrepublik schnell ein starkes industrielles Wirtschaftswachstum; der prozentuale Beitrag der Landwirtschaft zum
A m Beispiel des Deutschen Bauernverbandes und
Sozialprodukt sank daher sehr bald erheblich, von
seines Verhaltens in einer wichtigen agrarpolitischen
1950 bis 1963 von 10,4 Prozent auf 5,2 Prozent.
Entscheidung soll nun gezeigt werden, wie Kommuni-
Während 1882 noch 40 Prozent aller Erwerbstätigen
kation durch Interessenverbände verläuft, wie ein Verband seine Funktionen nach innen und außen wahrnimmt.
in der Landwirtschaft beschäftigt waren, verblieben im Jahre 1961 nur noch 14 Prozent, 1971 sogar nur noch 8,4 Prozent in diesem Erwerbszweig.
Als empirische Grundlage der Darstellung dient eine
Trotz der Gründung einer gemeinsamen Interessen-
Studie von Paul Ackermann aus dem Jahr 1970. Sie
vertretung und der Durchsetzung staatlicher Agrar-
wird durch einige neuere Daten ergänzt. Alle Angaben,
förderung konnte der Einkommensrückgang der Land-
deren Herkunft nicht jeweils speziell kenntlich gemacht
wirtschaft nicht beseitigt werden. Das notwendige
ist, stammen jedoch aus der genannten Untersuchung,
Umdenken und die Anpassung an die neuen Gegeben-
deren Manuskript im Herbst 1967 abgeschlossen
heiten blieben aus. Die Denk- und Verhaltensweisen
wurde (Paul Ackermann: Der Deutsche Bauernverband
der Bauernschaft, die durch den Agrarprotektionis-
im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik. Die
mus geprägt waren, verhinderten ein Umdenken.
167
Studieneinheit 5
Soweit die historische Entwicklung; nun die aktuelle agrarpolitische Situation, die die Aktivitäten des Bauernverbandes auslöste. Die Getreidepreisfrage und die EWG Der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der am 1. Januar 1958 in Kraft trat, sieht die wirtschaftliche Integration der Partnerstaaten vor. Das bedeutet eine schrittweise Aufhebung der Handelsbeschränkungen, gemeinsame Zoll- und Preispolitik. Die unterschiedliche Preis- und Produktionspolitik in den sechs Einzelstaaten wird nun zum Hauptproblem der Integration, und erst jahrelange Verhandlungen führen zu den erhofften Preisangleichungen auf verschiedenen Sektoren. Innerhalb des Agrarpreisgefüges nehmen die Getreidepreise eine gewisse Schlüsselstellung ein. Sie haben — neben den Erlösen durch den Getreideverkauf — auch einen unmittelbaren Einfluß auf die Preise der meisten anderen Agrarprodukte: Die Preise von etwa drei Vierteln aller landwirtschaftlichen Produkte hängen vom Getreidepreis ab. Eine Angleichung auf dem Getreidepreissektor aber bedeutet für die Bundesrepublik als „Hochpreisland" eine — sogar beträchtliche — Senkung der Getreidepreise.
und der Ausbildungsgrad überwiegend gering ist, kennzeichnet sich die sozialpsychologische Situation der Bauern durch Unsicherheit, Unzufriedenheit und Statusfurcht. Diese Bedingungen bewirken eine starke Gruppenidentifikation und einseitiges Interesse an den Problemen des eigenen Berufsstandes. So ist es nicht verwunderlich, daß die landwirtschaftliche Interessenvertretung, der Deutsche Bauernverband, einen so hohen Organisationsgrad erreicht hat wie sonst keine Interessengruppe der Nachkriegszeit. Nach Angaben des DBV waren Anfang der 60er Jahre 90 Prozent aller hauptberuflichen Landwirte Mitglied des Verbandes und seiner Unterorganisationen. Der hohe Grad der politischen Aktivierung zeigt sich auch an der erklärten Bereitschaft der Bauern, Versammlungen zu besuchen und an Kundgebungen und Demonstrationen ihrer Berufsgruppe teilzunehmen. 94 Prozent nehmen nach eigenen Angaben an Veranstaltungen des Verbandes teil, davon 59 Prozent regelmäßig, 24 Prozent manchmal und 11 Prozent selten (vgl. Ackermann, S. 29).
2.2 Innerverbandliche Willensbildung im Deutschen Bauernverband
Der „Mansholt-Plan" aus dem Jahre 1963 sah eine Senkung der deutschen Getreidepreise um 11 bis 15 Prozent vor, was einen jährlichen Einkommensverlust der deutschen Landwirtschaft von mindestens 560 Millionen DM zur Folge gehabt hätte, der durch Ausgleichszahlungen bis zum Jahr 1970 aufgewogen werden sollte. Dieser Plan führte zu einer intensiven Aktivierung der deutschen Bauern und ihres Berufsverbandes.
Hat die starke berufspolitische Partizipation der Landwirte nun auch eine aktive Mitarbeit im Verband und die Mitwirkung an den Entscheidungen des Verbandes zur Folge? Um diese Frage zu beantworten, müssen zunächst die formale Organisation und die möglichen Kommunikationswege näher beleuchtet werden, bevor der Willensbildungsprozeß in der Getreidepreisfrage dargestellt wird.
Die Interessenvertretung der Bauern
Die Bedeutung der formalen Organisation
Wir haben gesehen, wie die Landwirtschaft durch die zunehmende Industrialisierung immer mehr an Bedeutung verloren hat. Sie sieht sich in einen Nebenbereich abgedrängt, als Minorität unterbewertet. Solche Gruppen sind „stets in Gefahr, in wirtschaftliche und politische Resignation oder in Mißtrauen gegen andere Bevölkerungsgruppen zu verfallen" (Ackermann, S. 24).
Der Deutsche Bauernverband besitzt innerhalb des landwirtschaftlichen Organisationswesens eine Monopolstellung. Das Fehlen eines Konkurrenzverbandes verhindert jeglichen Wettbewerb und stärkt die Machtstellung des DBV. Mit den Landwirtschaftskammern, berufsständischen Vereinigungen als Körperschaften öffentlichen Rechts, und dem Deutschen Raiffeisenverband, der Spitzenorganisation des ländlichen Genossenschaftswesens mit ca. 4 Millionen Mitgliedern, arbeitet der DBV eng zusammen. Häufig besteht sogar auf Länder- oder Kreisebene Personalunion der Führungskräfte.
Die Landwirte müssen feststellen, daß ihr Berufsstand nicht mehr wie früher als Träger besonderer Werte angesehen wird. Da außerdem die Einkommenssituation hinter der vergleichbarer Berufsgruppen zurückliegt 168
Wege der Interessenartikulation
Der DB V selbst gliedert sich in viele Unterorganisa-
tionen, er ist vierstufig in Orts-, Kreis-, Landes- und Bundesebene aufgebaut.
Das entspricht einem Mangel an verbandsinter-
ner Demokratie, den Ellwein den meisten Verbänden nachsagt. Und auch um die Legitima-
tion der Verbandsführung ist es oft schlecht Organisationsschema des Deutschen
Bauernverbandes
bestellt. Dabei sprechen die Verbandsspitzen immer im Namen der Mitglieder. Diesen
bleibt dann nur die Wahl, zu akzeptieren oder
aus dem Verband auszutreten. Da Verbände
formell meist einen hohen Stand der Demokra
tisierung haben, die Realität aber ganz anders aussieht, spricht Ellwein von ,,sehr einge-
schränkten Vorstellungen von innerverbandli-
cher Demokratie" und kommt zu dem lakonischen Schluß: „ . . . was an innerverbandlicher Demokratie übrigbleibt, beschränkt sich auf
Anregung, Kritik und Kontrolle und zuletzt
auf die Abwahl — vorausgesetzt, man verfügt über einen Nachfolger" (Ellwein, S. 482).
Wenn die Mitglieder des DBV den Präsidenten des
Dachverbandes auch nicht selbst wählen können, so besteht für sie über die Wahl der Landespräsidenten
doch ein gewisses Maß an Kontrolle.
Allerdings sind zum Zeitpunkt der Untersuchung die meisten Präsidenten schon seit der Gründung der
agrarischen Interessengruppen im Amt. Ihre Wiederwahl erfolgt häufig durch Akklamation, ihr DurchDie Mitgliederversammlung ist, formal betrachtet,
schnittsalter liegt über 60 Jahren, und meist sind es
in der Regel nur einmal im Jahr zusammen; deshalb
(Man vergleiche die Präsidenten von heute: Deutscher
und Initiative gegenüber der Verbandsführung zu.
scher Bauernverband: Baron von Feury usw.)
das höchste Gremium des Verbandes. Sie tritt jedoch kommen ihr nur geringe Möglichkeiten der Kontrolle
Faktisch ist das Präsidium das wichtigste Organ; in
Bauern mit höherem Status, die gewählt werden.
Bauernverband: Freiherr von Heeremann; Bayeri-
Diese Tendenz zur Oligarchiebildung wird erleichtert
ihm fallen die eigentlichen Entscheidungen über den
und gefördert durch die überwiegend konservative
und den Vizepräsidenten die Präsidenten der Landes-
geprägte Ämterkumulierung der Verbandsführung
Verbandskurs. Ihm gehören neben dem Präsidenten
verbände an, außerdem der Vorsitzende des Bundes der Landjugend. Welche Bedeutung das Präsidium
gegenüber der Mitgliederversammlung hat, läßt sich unter anderem auch daran ablesen, daß die Spitzen
des Verbandes, der Präsident und die drei Vizepräsi-
Einstellung der Bauern einerseits und durch eine aus-
andererseits. Die ehrenamtlichen Funktionäre sind
gewöhnlich auch noch in den Genossenschaften und Kammern sowie in Parteien führend tätig, wie Bei-
spiele später belegen werden.
denten, •
für die Dauer von drei Jahren
•
vom Präsidium
•
aus dessen Mitte
gewählt werden. Eine reale Beteiligungschance des einfachen Verbandsmitgliedes ist nur in wenigen Fällen gegeben.
169
Studieneinheit 5
Koordinierung durch Kommunikation
1962 in einer Gesamtauflage von 650000 Exemplaren. Ca. 80 Prozent aller Betriebsinhaber hatten die Wochen-
Je größer ein Verband ist, um so schwerer läßt sich
blätter abonniert, in ihrem Haushalt wurden sie jeweils
die Kommunikation unter den Mitgliedern bzw. zwi-
von mehreren Personen gelesen, so daß eine Gesamt-
schen Verbandsführung und Mitgliedern aufrechter-
zahl von 2,4 Millionen Lesern ermittelt werden konnte.
halten. Die seltenen Mitgliederversammlungen und
Die Blätter bringen eine Mischung von fachlicher oder
gelegentlichen Kundgebungen sind für die Unterrich-
politischer Information und allgemeiner Unterhaltung.
tung nicht ausreichend. So kommt der Verbandspresse besonders große Bedeutung zu. Gerade die
1973 lagen die erhobenen Daten unter den Angaben
Landwirte sind weitgehend auf die Information
von 1962. Die 15 landwirtschaftlichen Wochenblätter
durch ihren Verband angewiesen, da ihnen für andere
hatten eine Gesamtauflage von 512 354 Exemplaren.
Unterrichtungsmöglichkeiten die Zeit, die Gelegen-
Sie erreichten rund 70 Prozent aller erwachsenen
heit oder der notwendige Bildungsstand fehlt. Die
Personen aus bäuerlichen Vollerwerbsbetrieben; von
allgemeinen Massenmedien fallen zur Information
ihnen sind nach eigenen Angaben 80 Prozent regel-
und Meinungsbildung über berufsständische Probleme
mäßige Leser. „Der Charakter einer Fach- und Fami-
weitgehend aus, während sie für andere Verbände,
lienzeitschrift kommt in der Leserschaftsstruktur zum
wie z.B. für Gewerkschaften, Arbeitgeber, Beamte,
Ausdruck, die im Vergleich zur reinen Fachzeitschrift
neben der Verbandspresse eine entscheidende Rolle
hohe Anteile weiblicher Leser und Leser jüngeren
spielen können.
Alters ausweist" (Leseranalyse 1973 der Arbeitsge-
Die wichtigsten Informationsmedien für die Bauern
Das Zentralorgan des DBV, die „Deutsche Bauern-
meinschaft organisationsgebundene Landpresse). sind neben speziellen Fachzeitschriften 15 landwirt-
Korrespondenz" (DBK), kann als agrarpolitisches
schaftliche Wochenblätter, von denen zwölf ganz oder
Basisorgan aller Verbandszeitschriften bezeichnet
teilweise den regionalen Bauernverbänden gehören.
werden. Sie erscheint seit Januar 1973 als Monats-
Diese zwölf erschienen nach Angaben der „Arbeits-
schrift in Magazinform mit einer Auflage von 10000
gemeinschaft organisationsgebundene Landpresse"
Stück.
Verbandsführung
AA 5
6
Mitglieder
1) 2) 3) 4) 5) 6)
Deutsche Bauern-Korrespondenz Fachzeitschriften Landwirtschaftliche Wochenblätter Rundbriefe Direkte persönliche Kontakte Mitgliederversammlung Kommunikationswege
170
im Deutschen
Kommunikationsmedien
Bauernverband
Wege der Interessenartikulation
Ein kurzer Exkurs soll den Zusammenhang
benen, Mängeln in der Informationsweitergabe
von Kommunikation und Organisation theore-
und Formalismus auftreten.
tisch erläutern. Frieder Naschold hat die These aufgestellt, daß Kommunikation in Organisationen •
von der A r t des Kommunikationsflusses,
•
vom Inhalt der Kommunikation und
•
von der Zwecksetzung der Organisation
abhängig ist (Naschold, S. 1 0 9 - 1 1 2 ) .
Inhalt und Zwecksetzung Kommunikation ist nur dann sinnvoll, wenn ihr Inhalt bei Sender und Empfänger gleich verstanden wird. Auslassungen und Verzerrungen entstellen den Sinngehalt. Um diesem vorzubeugen, setzen Organisationen häufig zwei wichtige Gegenmittel ein: Redundanz und
Kommunikationsfluß
Rückkopplung. Redundanz ist die wiederholte
Struktur und Ausmaß einer Organisation sind
Information oder Nutzung verschiedener Kom-
fast ausschließlich von Kommunikations-
munikationskanäle. Rückkopplung
techniken bestimmt. Die A r t des Kommunika-
hier, daß der Empfänger die eingehende In-
tionsflusses kann autoritativ
formation beim Sender bestätigt und sich in
sein, d.h. von der
Spitze der Hierarchie zu untergeordneten Positionen verlaufen. Ein informativer
Kom-
bedeutet
seinem Verständnis der Information vergewissert. Diese Mittel können jedoch nur be-
munikationsfluß dagegen verläuft in der Regel
grenzt angewendet werden, da man sonst die
in der Organisationshierarchie von unten nach
Kommunikationskanäle überlastet.
oben. Es gibt spezielle Kommunikationsnetze, „die nicht vom Routineverhalten der Organisation bewältigt werden können" (Naschold, S. 110) und informelle bzw. wechselseitige Kontakte mit sich bringen. Darüber hinaus spielen Freundschafts- und
Statusbeziehungen
Entscheidenden Anteil an der Gestaltung des Kommunikationssystems hat außerdem die Zwecksetzung einer Organisation. Es gibt kein Kommunikationsnetz, das optimal für alle Organisationsziele und -aufgaben ist.
eine wesentliche Rolle. Meist bestehen diese
Insgesamt also besteht eine enge Beziehung
Kommunikationsarten in einer Organisation
zwischen der Kommunikations- und der Ent-
nebeneinander; bei Überwiegen des autorita-
scheidungsstruktur einer Organisation — wie
tiven Kommunikationsflusses können Pro-
auch die innerverbandliche Willensbildung
bleme in Gestalt von Illoyalität der Unterge-
des DBV in der Getreidepreisfrage zeigt.
Innerverbandliche Willensbildung in der Getreidepreisfrage
nicht") und ihr Vertrauen in die Verbandsführung unterstützen diese Einseitigkeit (vgl. Ackermann, S. 27).
Das innerverbandliche Kommunikationssystem des DBV gestaltet sich, wie wir gesehen haben, sehr gradlinig und einfach. Da die Verbandsführung über die entscheidenden Kommunikationsmittel verfügt, die Partizipation der Mitglieder sich auf Wahlen und Versammlungsteilnahme beschränkt, verläuft also die
^ ^
Bei anderen Verbänden sieht die Lage o f t ähnlich aus, so daß Klaus von Beyme verallgemeinernd folgert: „ I n der Regel nutzen die Führer eines Verbandes ein Monopol über die Kommunikationsmittel der Gruppe zu ihren Gunsten aus" (Beyme, S. 188).
Kommunikation überwiegend einseitig von oben nach
Die agrarpolitische Informationstätigkeit des DBV
unten. Die Tendenz der Bauern zur politischen Apa-
stützt diese These. Der Verband knüpfte an die
thie (1963 Umfrage: „Interessieren Sie sich für Poli-
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
tik? " Antworten der befragten Bauern: 17 Prozent
von vornherein negative Erwartungen. So hieß es im
„ j a " , 32 Prozent „überhaupt nicht"; zum Vergleich
Glückwunsch des DBV zum Neujahr 1958, dem
Beamte: 41 Prozent „ j a " , 10 Prozent „überhaupt
ersten EWG-Jahr: 171
Studieneinheit 5
„Die deutsche Landwirtschaft wird hart bedrängt. Es sind in der inneren Politik Kräfte am Werk, die verhindern wollen, daß dem Landwirtschaftsgesetz Genüge getan wird, und die Entwicklung zum Gemeinsamen Markt schließt weiter große Gefahren in sich, die nicht unterschätzt werden dürfen. Man malt Bilder der Zukunft, denen zufolge weitere ein bis eineinhalb Millionen Menschen (Γ) aus der Landwirtschaft abwandern müssen. Das würde bedeuten, daß die Bundesrepublik teils in eine monotone Getreidesteppe und teils in eine Parklandschaft verwandelt würde. Mehr denn je ist der Deutsche Bauernverband berufen, die Interessen des Berufsstandes wahrzunehmen" (DBΚ 23/24, 1958, S. 273; nach Ackermann, S. 37). Die EWG mußte den Landwirten nicht als Chance, sondern als Existenzbedrohung erscheinen. Entsprechend verlief die Willensbildung in der Getreidepreisfrage. Die Verbandsinformationen dienten nur einem Ziel: „sie sollen dem Leser die einzige vom DBV tolerierte Ansicht einhämmern: ,Die deutschen Getreidepreise dürfen auf keinen Fall gesenkt werden' " (Ackermann, S. 38). Das interne Interessenclearing verlief insofern unproblematisch, als in den Gremien des Verbandes, besonders im Präsidium, kein Funktionär für eine
setzen, wie es der zahmste Hund tut, wenn er zu lange geprügelt wird" (Präsident Rehwinkel in DBK 11, 1963, S. 124) wurden neben der erhofften Solidarisierung auch Reaktionen hervorgerufen wie z.B., daß Teile der Mitglieder radikal wurden und — gegen die eigene Verbandsführung — zeitweise mit Demonstrationen und Aktionen protestierten. Spontan gegründete „Notgemeinschaften" übten massiven Druck auf die Verbandsspitze aus, die diesem mit einer außerordentlichen Mitgliederversammlung im Juni 1963 und mit einer Urabstimmung über zu ergreifende Kampfmaßnahmen zu begegnen suchte. „So wurde der DBV Gefangener seiner eigenen Propaganda und versuchte, die Position durch immer neue Übersteigerungen zu halten" (Ackermann, S. 43, Anm. 116).
Homogenität im DBV Nur ein Verband, der geschlossen auftritt, kann sich Erfolge seiner Pressure-Tätigkeit erhoffen. Deshalb ist es interessant, den Zusammenhalt des DBV näher zu überprüfen, der sich ergibt aus dem Verhältnis der Faktoren, die zu internen Konflikten führen, zu den Faktoren, die Gruppenhomogenität begründen. Faktoren möglicher Konflikte
sind:
Senkung des deutschen Preisniveaus eintrat. So war
1. Die Abspaltung von Sondergruppen. Dies war in
die Koordinierung und Aggregierung der Interessen
den „Notgemeinschaften" der Fall. Die Gefahr wurde
im DBV nicht besonders schwierig. Da zudem eine Getreidepreissenkung Strukturveränderungen in der Landwirtschaft mit sich bringen, d.h. den Abwanderungsprozeß verstärken würde, konnte der DBV auch seine Mitglieder mit Stellungnahmen wie der folgenden schnell für seine Meinung gewinnen: „Betrachtet man diese Zahlen, fragt man sich, wo die sechshunderttausend bis neunhunderttausend Vollarbeitskräfte eigentlich abgezogen werden können. Wer das fordert, fordert unzweifelhaft die Vernichtung hunderttausender Familienbetriebe" (DBK 19, 1962, S. 226; nach Ackermann, S. 41).
überwunden; die zeitweise Abspaltung trug jedoch zum harten Kurs des DBV wesentlich mit bei. 2. Parteipolitische Präferenzen im Präsidium. Da die Mehrheit der Verbandsführer der CDU nahesteht, FDP-Anhänger sich nur bis zur mittleren Funktionärsebene finden und SPD-Wähler im DBV keine Führungsämter innehaben, ist dieser Faktor kein Problem. Letztlich fühlen sich gerade die Bauern ihrem Berufsstand mehr verbunden als der Partei. 3. Generationsprobleme. Die Jungbauern, die im „Bund der Landjugend", einem Anhängsel des DBV, organisiert sind, zeigten Ansätze zu einem neuen agrar-
Was der DBV mit seiner Agitation erreichen wollte,
pol¡tischen Denken, sie wollten sachkundiger und
war gewiß ein einheitliches Auftreten des Verbandes,
realistischer argumentieren als ihre mehr ideologisch
um stärkeren Druck auf die Entscheidungsträger aus-
orientierten Väter. Aber ihr Einfluß blieb gering, was
zuüben. Was er damit und mit dem Hinweis auf die
auf die hierarchische, oligarchische Struktur des Ver-
„wachsende Unruhe und Verbitterung" in der Bauern-
bandes zurückzuführen ist.
schaft dann tatsächlich bewirkte, entzog sich seinem lenkenden Eingreifen. Durch Sätze wie: „Wollen wir nicht doch endlich die Zähne zeigen und uns zur Wehr
172
Wege der Interessenartikulation
Integrierende Faktoren sind: 1. Die soziale Homogenität der Bauernschaft. Rund 85 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebsleiter haben einen Bauern zum Vater. Neben diesem hohen Grad an Selbstrekrutierung spielen die starken Binnenkontakte eine entscheidende Rolle. Bauern haben hauptsächlich Kontakt mit Mitgliedern der eigenen
Ein Verband ist dann einflußreich,
wenn er für seine
Ziele Zugang zu den Amtsträgern und Zugang zur Öffentlichkeit
findet. Je mehr Sympathisanten er für
seine Interessen außerhalb des Mitgliederreservoirs gewinnt, um so größer sind seine Chancen, mit Erfolg auf die politischen Entscheidungen einzuwirken. Dabei kommt ihm zugute, daß er dem Staat in vielen
Berufsgruppe, ihre Ehefrauen stammen vorwiegend
Fällen Hilfestellung anbieten, sozusagen als Gegenlei-
aus dem gleichen Milieu.
stung für seine Forderungen Unterstützung gewähren
2. Konformität der bäuerlichen Leitbilder und ihre ideologische Überhöhung durch den Verband.
kann. Durch die Aggregation und Selektion von Interessen leisten die Verbände einen erheblichen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der staatlichen Organe. Denn
3. Kontrolle des Verbandes über die Mitglieder. Durch
deren Entscheidungsfindung wird erleichtert, wenn
seine Monopolstellung hat der Verband eine starke
die Fülle von Forderungen aus der Gesellschaft ge-
Position gegenüber den Mitgliedern. So kann er es sich
sammelt und zu einer kleineren Anzahl von politischen
leisten, die Binnendiskussion zugunsten der Geschlos-
Alternativen aufbereitet wird. Außerdem speichern
senheit nach außen zu vernachlässigen. Das Festhalten
die Interessenverbände spezielle Informationen, die
am Getreidepreis wurde innerhalb des Verbandes regel-
auf Abruf zur Verfügung gestellt werden. Die Arbeit
recht tabuisiert; wer dagegen war, hatte einen schweren
der Verbände ist für den Staat ein Beitrag zur Erleich-
Stand.
terung und Beschleunigung politischer Entscheidungen. (Vgl. den Kasten auf der folgenden Seite.)
4. Die Außenseiterstellung der Bauernschaft und ihrer Vertretung in der Industriegesellschaft. Wir haben gesehen, daß die Bauern im modernen Industriestaat zu einer Minderheit geworden sind, die sich existentiell
Die Adressaten der DBV-Einflußnahme
bedroht fühlt und deshalb ein starkes Zusammenge-
Wenn man sich die Adressatenfelder der Interessen-
hörigkeitsgefühl entwickelt. Dieses Außenseitergefühl
artikulation des Bauernverbandes anschaut, fällt ein
ist eine wichtige Determinante für den internen Koor-
Tatbestand besonders ins Auge, der sich eigentlich
dinierungsprozeß.
ausgesprochen negativ auf den Erfolg der Einfluß-
Insgesamt gesehen verläuft die innerverbandliche Willensbildung im DBV zwar exemplarisch für viele Ver-
nahme hätte auswirken müssen: Der DBV hatte in der Getreidepreisfrage die öffentliche Meinung gegen sich.
bände, jedoch treten durch eine erhöhte Kohäsion und
Das lag zum einen an dem alten Gegensatz von Stadt
eine auffallende Tendenz zur Oligarchie aufgrund der
und Land, der sich durch die Inflation und steigende
sozialpsychologischen Situation der Bauern manche
Nahrungsmittelpreise noch verstärkt hatte. Der DBV
Prozesse hier verstärkt auf.
selbst versäumte es, die Öffentlichkeit ausreichend über seine Schwierigkeiten und Ziele zu informieren
2.3 Die Interessenartikulation des Deutschen Bauernverbandes
und seine Politik zu begründen. Die politischen Forderungen des Verbandes wurden hauptsächlich von seinen eigenen Publikationsorganen verbreitet, die
Nachdem die innere Willensbildung im DBV relativ
fast nur von den Landwirten selbst gelesen werden.
problemlos im Sinne der Führung verlief, konzen-
Die übrige Bevölkerung wird in der Regel nur durch
trierte der Verband alle Kräfte und allen Einsatz auf
die allgemeine Presse und den Rundfunk über Agrar-
die Artikulation der Interessen nach außen, d.h. er
fragen unterrichtet. Die Berichterstattung der Massen-
versuchte Einfluß zu nehmen auf die Entscheidung
medien war nun nicht dazu angetan, Sympathien für
der staatlichen Repräsentanten. Bevor wir uns wieder
die Belange der Landwirtschaft zu wecken. Alle füh-
näher mit unserem Beispiel befassen, sollen die Mög-
renden Zeitungen sprachen sich — im Interesse der
lichkeiten und Methoden sowie die Adressaten des
EWG-Integration - für die Senkung der deutschen
Verbandseinflusses generell erörtert werden.
Getreidepreise und eine Ausgleichszahlung aus.
173
Studieneinheit 5
Wer sind die möglichen Adressaten des
laments verstärkt. Er bezieht sich auf alle Re-
Verbandseinflusses?
gierungsentscheidungen und — bevorzugt —
Klaus von Beyme nennt
folgende Zielgruppen, die allerdings unterschied-
auch auf die personelle Besetzung bestimmter
liche Bedeutung haben: Parlament, Regierung
Positionen.
und Bürokratie (Exekutive), Justiz, Parteien, öffentliche Meinung und internationale Organisationen.
Ähnlich gestaltet sich die Einflußnahme auf die Parteien. Durch Kandidatenunterstützung und -lancierung, Finanzhilfe und Drohung mit dem Stimmpaket haben Verbände gerade für die Parteien eine enorme Bedeutung.
Parlament
Der Einfluß auf di e Justiz als einer neutralen
Regierung Exekutive Bürokratie J Parteien Justiz
Institution erscheint besonders gefährlich; er ist daher rechtlich weitgehend beschränkt. Dennoch erreichen Interessengruppen gelegentlich auf indirekten Wegen, z.B. durch wissenschaftliche Artikel, Einwirkung auf richterliche Entscheidungen; und auch auf
öffentliche Meinung
dem Personalsektor, bei der Richterbestellung,
Internationale Organisationen
geltend.
machen sie hinter den Kulissen ihren Einfluß
„Die meisten Versuche einer VerbandseinflußAdressaten des Verbandseinilusses
nahme sind — unabhängig davon, welches der bevorzugte Adressat des Einflusses ist — vom Appell des Verbandes an die öffentliche
Mei-
nung begleitet" (Beyme, S. 151). Teils über die eigenen Presseorgane, teils über unabhänDer Einfluß auf das Parlament kann in allen
gige Medien versuchen die organisierten
gesetzgeberischen Stadien stattfinden. Um in-
Interessengruppen die Öffentlichkeit für ihre
formelle Einflußnahme einzuschränken bzw.
Zwecke und Ziele zu gewinnen. Denn je mehr
transparent zu machen, versucht der Staat,
Bürger sie überzeugen können, um so größer
durch die Institutionalisierung der Anhörung
sind ihre Chancen, die staatlichen Repräsen-
und den Ausbau von Hearings die Einflüsse zu
tanten unter Druck zu setzen und so die Durch-
kontrollieren. Lobbyisten, d.h. ständige Ver-
setzung ihrer Interessen zu fördern.
treter der Interessengruppen, die unmittelbar auf die Adressaten einwirken, müssen sich in Bonn registrieren lassen. Ihre Kommunikation mit den Abgeordneten verläuft entweder direkt-persönlich oder indirekt über Mittelsmänner. Viele Abgeordnete wenden sich von sich aus an die Lobbyisten, um spezielle Informationen zu erhalten.
Mit der steigenden Bedeutung
internationaler
Organisationen werden auch diese immer mehr zu Adressaten des Verbandseinflusses. Auch hier bildet man zur Kanalisierung des Einflusses häufig Ausschüsse und Beiräte, die regelmäßig angehört werden. So versucht man, den dysfunktionalen Methoden der Einflußnahme, wie etwa Korruption, Drohung, Nötigung usw.,
Der Einfluß auf die Exekutive, d.h. die Regie-
Grenzen zu setzen und die Offenlegung und
rung und Ministerialbürokratie, hat sich mit
funktionale Vertretung der Interessen zu er-
dem zunehmenden Bedeutungsverlust des Par-
möglichen und zu bestärken.
174
Wege der Interessenartikulation
Eine gemeinsame Flugblattaktion der Landesver-
Diese „Grenznutzenposition" zwischen C D U und FDP
bände konnte dem nichts entgegensetzen, zumal der
wurde zu einem enormen Druckmittel für den D B V ,
schroffe und aggressive T o n der Verbandsforderungen
denn beide Parteien kamen aus Angst um den Verlust
und die gegenteiligen Aussagen führender Agrarwissen-
von Wählerstimmen den Interessen des Verbandes
schaftler die Öffentlichkeit schon sehr gegen den
immer mehr entgegen. Da zudem die Entscheidung
Bauernverband aufgebracht hatten. So mußte der
um den Getreidepreis in die Zeit kurz vor der Bundes-
D B V in zum Teil mitverschuldeter Isolation gegen die
tagswahl 1965 fiel, bei der die C D U ernsthaft um
öffentliche Meinung ankämpfen, und daher wurden
ihre Mehrheit bangte, wurde diese Partei geradezu zum
Erfolge bei den übrigen Adressaten um so dringlicher.
Sachwalter des D B V in der Getreidepreisfrage.
Andere wirtschaftliche Interessengruppen, wie die
Das Parlament
Gewerkschaften, der Bundesverband der Deutschen Industrie, der Deutsche Industrie- und Handelstag
Im Parlament sieht die Interessenverteilung entspre-
usw., stellten sich gegen den D B V ; die Verbraucher-
chend aus. Bei der Analyse der Zusammensetzung des
organisationen, die allerdings viel zu schwach sind,
Vierten Deutschen Bundestages fällt der hohe Anteil
um eine wirkliche Gegenmacht darzustellen, sprachen
der „bäuerlichen" - d.h. im weitesten Sinne der Land-
sich ebenfalls für eine Preissenkung aus.
wirtschaft zugehörigen — Abgeordneten auf ( 6 4 von insgesamt 521 Abgeordneten). Nach dem Amtlichen
Dominierender Faktor: das Verhältnis zu den Parteien
Handbuch des Deutschen Bundestages für die Wahlperiode von 1961 bis 1965 ergibt sich folgendes Bild:
So wurden die Parteien zum wichtigsten Adressaten der Verbandsforderungen. Über sie konnte der Verband Einfluß auf Parlament und Regierung zu nehmen versuchen; die Parteien wiederum waren daran interessiert, über die Verbände bestimmte Teile der Bevölkerung zu aktivieren, um dadurch einen möglichst geschlossenen Wählerblock zu bekommen. Das Stimmengewicht der ländlichen Wähler stellte das wichtigste Druckmittel des D B V dar. Die katholische Landbevölkerung im Süden und Südwesten der Bundesrepublik wählte traditionsgemäß eine christliche Partei. Die protestantischen Landwirte im Norden neigten in den 60er Jahren zum Teil auch zur FDP; ein Wechsel der Parteipräferenz fand jedoch nur innerhalb des bürgerlichen Lagers statt. Der SPD waren trotz der Anpassung ihres Agrarprogramms an das der beiden anderen Parteien noch keine nennenswerten Erfolge
Bäuerliche Abgeordnete
bei der bäuerlichen Wählerschaft gelungen. Der D B V unterstützte diese Gruppenwahlnorm durch mehrere Maßnahmen. Er nahm — bei Entgegenkommen der Parteien — auf die Kandidatenaufstellung Einfluß, wodurch sich besonders in ländlichen Gebieten häufig
Fraktionsstärke Bäuerliche Abgeordnete
CDU/CSU
SPD
FDP
203
67
251
5
12
47
eine personelle Identität von Partei- und Verbandsführung herausbildete. Die Kandidaten aus den Reihen des D B V wurden sowohl publizistisch als auch finan-
„Bäuerliche" Abgeordnete im Vierten Deutschen Bundestag
ziell unterstützt. Vor allgemeinen Wahlen war es üblich, daß der Verband nicht nur zu einer hohen Wahlbeteiligung, sondern auch offen zur Wahl der beiden bürgerlichen Parteien aufrief.
175
Studieneinheit 5
Die Landwirte der SPD kommen aus der Gewerkschaft
Der Bauernverband stand der Kanzlerschaft Erhards
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, die meisten
zunächst ablehnend gegenüber, da dieser als Wirt-
übrigen „bäuerlichen" Abgeordneten stehen dem DBV
schaftsminister eine Getreidepreissenkung befürwor-
nahe. So erübrigt sich für den DBV eine Lobby im
tet hatte. Nun wirkte der Verband auf seine Abgeord-
eigentlichen Sinn.
neten ein, Erhard nur zu wählen, wenn er vorher den
Die „Grüne F r o n t " im Bundestag beweist ihre Stärke auch in folgenden Daten: Von den 27 Mitgliedern des „Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten" stehen 16 der Landwirtschaft nahe. Fünf Präsidenten von Landesbauernverbänden sind Mitglieder
Verbandsforderungen zugestimmt habe. Dieser massive Druck und mehrere direkte Gespräche des DBVPräsidenten Rehwinkel mit Erhard stimmten den neuen Kanzler um; er zeigte sich bereit, für die Wünsche der Bauern einzutreten.
der CDU-Fraktion. Der Vizepräsident des DBV ist
Um Mitsprache bei der personellen Besetzung des
Vorsitzender des Ernährungsausschusses. Außerdem
Ernährungsministeriums
haben die CDU- und die FDP-Fraktionen noch spe-
seit Jahren mit Erfolg. Nach Heinrich Lübke wurde
zielle Arbeitsgemeinschaften gegründet, die sich mit
1959 Werner Schwarz Ernährungsminister; er war
Problemen der Landwirtschaft befassen.
vorher Mitglied des DBV-Präsidiums gewesen und trat
So verläuft die Getreidepreisdiskussion im Bundestag unter ständiger starker Einflußnahme des Bauernverbandes, und sowohl CDU- als auch FDP-Fraktion unterstützen die Forderungen des D B V , während die SPD-Fraktion nie von ihrem Eintreten für eine Getreidepreissenkung im Interesse der europäischen Einigung abgeht. In den Ausschüssen zeigt sich folgendes Bild: Der Ernährungsausschuß lehnt den Mansholt-Plan ab; der Wirtschaftsausschuß dagegen befürwortet eine Getreidepreisangleichung. Im Plenum gibt es erregte Diskussionen und schließlich die Zusage der CDU-FDP-Koalitionsregierung an die Landwirtschaft, gegen die Senkung des deutschen Getreidepreisniveaus zu kämpfen. Der Bundesrat, der weniger dem Druck der „Grünen
bemühte der DBV sich schon
während seiner Amtszeit als härtester Verteidiger des deutschen Getreidepreisniveaus auf. Sein Staatssekretär Theodor Sonnemann, ein ausgesprochener Agrarier, trat wegen der EWG-Politik von seinem A m t zurück und wurde danach Generalsekretär des Deutschen Raiffeisen-Verbandes. Das Bundesernährungsministerium konnte der DBV also beruhigt als seine „Hausmacht" im Kabinett und in den Gremien der EWG ansehen. Trotz eines Gutachtens verschiedener Staatssekretäre aus dem Jahre 1964, das sich für eine Preisangleichung aussprach, erreichte der DBV bei der Regierung sein Ziel. „ D e m D B V war es gelungen, die Bundesregierung innenpolitisch in die Defensive zu drängen, obwohl die Wissenschaft und die Ministerialbürokratie andere Lösungen vorgeschlagen hatten" (Ackermann, S. 82 f.).
F r o n t " ausgesetzt ist, akzeptiert den Mansholt-Plan dagegen zumindest als Gesprächsgrundlage.
Die Regierung
Methoden des DBV-Einflusses Fassen wir die verschiedenen Methoden, deren sich der D B V zu seiner Einflußnahme bediente, noch ein-
Die letzte Entscheidung in der Getreidepreisfrage lag
mal zusammen: Von der Ideologisierung der Verbands-
bei der Regierung. Durch direkte Einwirkung auf die
ziele über eine großangelegte Offensivtaktik bis zur
Exekutive und indirekt über die „Grüne F r o n t " im
Drohung mit Kampfmaßnahmen spannt sich der
Bundestag versuchte der D B V die Willensbildung und
Bogen der angewandten Mittel. Rehwinkel selbst
Entscheidung des Kabinetts zu beeinflussen.
zählt einen ganzen Katalog von Druckmitteln auf:
Der Kampf um den Getreidepreis fiel in die Zeit des ersten Kanzlerwechsels in der Bundesrepublik. Der ausscheidende Kanzler Adenauer hatte den direkten Kontakt zu den Verbänden stets gefördert und war insbesondere immer auf gute Beziehungen zu den agrarischen Interessenvertretern bedacht. So hatte sein Nachfolger eine schwere Position.
176
„Wir werden uns mit allen legalen Mitteln, die in einer freien Demokratie erlaubt sind, zur Wehr setzen, und wenn es nach mir geht, vom Stimmzettel bis zur Massendemonstration, von der bewußten Kaufeinschränkung bis zur totalen Kaufenthaltung, je nachdem es die Umstände erfordern" (DBΚ 2, 1963, S. 22; nach Ackermann, S. 60).
Wege der Interessenartikulation
Wahlunterstützung bzw. die Drohung mit dem Ent-
handlungspartner anerkannt, denn es war wichtig,
zug des Stimmpakets und direkte informelle Kon-
unter allen Umständen und so schnell wie möglich
takte mit den staatlichen Repräsentanten sind für
die Zustimmung der bäuerlichen Interessenvertretung
den DBV die wirkungsvollsten Mittel der Ein-
zu erhalten.
flußnahme, die er in steter Wiederholung und mit Erfolg einsetzte. Ackermann spricht in diesem Zusammenhang von der „aggressiven Druckpolitik" des DBV. Diese Bezeichnung t r i f f t die Einflußstrategie und den politischen Stil des Verbandes recht genau.
Erfolg — Mißerfolg — Ergebnis Der Erfolg des Verbandseinflusses zeigte sich in der
Die Ergebnisse in Brüssel und Bonn sahen schließlich so aus: Die deutschen Getreidepreise wurden im Zuge der europäischen Angleichung erheblich gesenkt, dafür erhielten die deutschen Landwirte neben den EWG-Ausgleichszahlungen noch Investitionshilfen der Bundesregierung von 380 Millionen DM allein für das Jahr 1965. „Der DBV hatte wohl die Senkung des deutschen Getreidepreises nicht verhindern können, er erreichte jedoch ein Maximum an Ausgleichszah-
nun folgenden Verzögerungstaktik der Bundesregie-
lungen, die er zudem noch gesetzlich verbrieft be-
rung. Die wahlpolitische Abhängigkeit vom DBV
kam" (Ackermann, S. 95).
bewog die Regierung, die Verhandlungen in der EWG und eine Entscheidung in der Sache immer wieder hinauszuschieben. Das führte zu einer entscheidenden Wende im Oktober 1964. Der französische Präsident, General de Gaulle, ließ
Wir haben gesehen, daß der DBV in der Getreidepreisfrage keine eigentliche Gegenmacht hatte. Eine Senkung der Getreidepreise entsprach den Wünschen und Bedürfnissen der Verbraucher, da sich eine solche Entscheidung positiv auf die Brotpreise auswirken mußte.
durch seinen Informationsminister einen Beschluß
Gegenüber dem mitgliederstarken und straff organi-
verkünden, der das Ende der Geduld Frankreichs an-
sierten Bauernverband konnte sich diese weitaus
zeigte. Die Franzosen kündigten ihren Austritt aus
größere Zahl von Betroffenen jedoch nicht Gehör ver-
dem Gemeinsamen Markt für den Fall an, daß nicht
schaffen, da Allgemeininteressen — wie schon er-
bis zum 15. Dezember des Jahres der Agrarmarkt so
wähnt — kaum organisierbar und deshalb nur schwer
organisiert sein sollte, wie dies vereinbart worden war.
durchsetzbar sind. Hier zeigt sich ein gravierendes
Das hieß: Preisangleichung, Senkung des deutschen
Defizit im System der organisierten Interessenartiku-
Preisniveaus.
lation.
Die EWG-Kommission nahm das französische Ultima-
Auch die Presse, die die Art und Weise der Interessen-
tum sehr ernst, sie versuchte sogleich, die Bundesre-
durchsetzung des Bauernverbandes scharf verurteilte,
gierung im Interesse der Gemeinschaft von ihrer starren
hatte mit ihrer Kritik keinen Erfolg bei den staatlichen
Haltung abzubringen. Die politische Zwangslage war
Repräsentanten, da sich die eigentlichen Kommunika-
offensichtlich. Das erkannten auch der DBV und sein
tions- und Pressure-Vorgänge hinter den Kulissen, im
Vorsitzender Rehwinkel, die den Kurs ihrer Politik
Direktkontakt zwischen Verbandsfunktionären und
sofort änderten:
Entscheidungsträgern, abspielten.
„Senkt man unsere Getreidepreise . . . , dann haben wir nicht nur einen Anspruch auf einen gerechten Preisausgleich, sondern ein Recht auf die gleiche soziale Sicherung . . . und vieles andere wie in Frankreich" (Rehwinkel, in: DB Κ 22, 1964, S. 266; nach Ackermann, S. 86). In den folgenden Konferenzen zwischen dem DBV und der Regierung ging es vor allem darum, eine Zustimmung zur Getreidepreissenkung durch Maximalforderungen von Ausgleichszahlungen möglichst teuer zu verkaufen. Der DBV wurde — als wäre das völlig selbstverständlich — als gleichwertiger Ver-
177
Studieneinheit 5
3.
Beispiel 2: Die Auseinandersetzung um das Bayerische Rundfunkgesetz und die Privatfunk-Pläne der C S U
Prinzip aufgestellten Vertretern gesellschaftlicher Gruppen bestand. Intendant wurde Christian Wallenreiter, der 1960 gegen einen Kandidaten der C S U gewählt worden war. Nachdem auf Drängen der C S U bereits 1971 der dama-
Der folgende Teil behandelt eine im Gegensatz zu den
lige Rundfunkratvorsitzende und Staatssekretär Rein-
institutionalisierten Strukturen ad-hoc-organisierte
hold V ö t h ( C S U ) zum Nachfolger des im Herbst 1972
Interessenartikulation und zeigt deren Kommunika-
ausscheidenden Intendanten Wallenreiter gewählt wor-
tionswege, Erfolgschancen und Grenzen exemplarisch
den war — durch den früheren Zeitpunkt der Wahl
auf. Das von uns ausgewählte Beispiel ist besonders
brachte man die Unzufriedenheit der Partei mit Wallen-
anschaulich, da in der bayerischen Rundfunkfrage das
reiter zum Ausdruck —, legte die CSU-Fraktion am
ganze Spektrum möglicher Methoden des Bürgerpro-
21. Januar 1972 einen Novellierungsentwurf zum Rund-
testes zur Anwendung kommt. Der Einsatz so vieler
funkgesetz vor. Im wesentlichen bestanden die Ände-
Personen und Gruppen läßt zwar das Beispiel untypisch
rungen in einer Erhöhung der Mitgliederzahl des Rund-
für das Gros der Bürgerinitiativen erscheinen, ist je-
funkrats und der Ausweitung seiner Kompetenzen: Die
doch zur Veranschaulichung der vielfältigen Möglich-
Zahl der Abgeordneten sollte beträchtlich erhöht wer-
keiten der Interessenartikulation besonders günstig.
den, fünf weitere gesellschaftliche Gruppen sollten einen Sitz im Rundfunkrat erhalten, die Hauptabteilungsleiter nur mit Zustimmung des Rundfunkrats und
3.1
Die rundfunkpolitische Entwicklung in Bayern bis zum Rundfunkgesetz von 1972
lediglich auf fünf Jahre bestimmt werden. Die C S U drängte auf eilige parlamentarische Behandlung ihres Entwurfs, u m die zum 1. März fällige Neubesetzung des Rundfunkrats bereits nach den Regelungen des
Nach der Landtagswahl im November 1970, bei der
neuen Gesetzes durchführen zu können.
die C S U ihren Stimmenanteil gegenüber der Wahl von 1966 ausbauen konnte und wieder die absolute Mehr-
Die Oppositionsparteien S P D und F D P , der Rundfunk-
heit der Sitze im Landtag erhielt, kritisierten immer
rat, die Journalistenverbände, die Kirchen, der Bayeri-
mehr Vertreter der C S U öffentlich Hörfunk und Fern-
sche Senat und viele Gruppen und Einzelpersonen mel-
sehen in Bayern. Dabei wurden sowohl personelle Ver-
deten sich in der Öffentlichkeit zu Wort und gaben
änderungen beim Bayerischen Rundfunk als auch die
ihre Bedenken zu erkennen. Die Opposition zog mehr-
Zulassung von privat betriebenem R u n d f u n k in Bayern
mals unter Protest aus den Ausschußsitzungen aus,
gefordert.
was allerdings die Regierungspartei nicht daran hinderte, das Gesetz zu behandeln und zu verabschieden.
Als die Regierungspartei sich mit ihren personellen
Die Opposition war es auch, die ein Hearing zur Novel-
Vorstellungen beim Intendanten nicht durchzusetzen
lierung veranstaltete, was die C S U abgelehnt hatte.
vermochte, verfolgte eine wachsende Zahl von Parteiangehörigen eine Novellierung des Rundfunkgesetzes.
Nach einer ebenso turbulenten wie dramatischen Nacht-
Damit sollte die Macht des Intendanten beschnitten
sitzung des Landtags wurde das Gesetz am 1. März
werden; einige bislang bei ihm liegenden Kompetenzen
1972 gegen 1 Uhr angenommen, ohne daß die C S U
wollte man auf den Rundfunkrat übertragen. Nach
ihren Entwurf hätte modifizieren müssen. Der Einfluß
der Novellierung sollte dann der private Rundfunk-
der C S U auf den Bayerischen Rundfunk war damit er-
betrieb in Bayern gesetzlich ermöglicht werden.
heblich gewachsen. Nun wandte sich die Partei ihren Privatfunk-Plänen zu.
Damals galt für den Bayerischen Rundfunk das Rundfunkgesetz aus dem Jahre 1959. Darin war festgelegt, daß der Rundfunkrat — das Kontrollgremium — aus 13 Vertretern der höchsten Staatsorgane Regierung, Landtag und Senat sowie 28 nach dem ständischen
178
Wege der Interessenartikulation
W
W
DIE REDAKTION HAT KEINE ÍMElNUNa.&ONDCBNl EINEN 5-3AURE& VERTRAG J
ΒΟΒβΕΠΚΟΜΙΤΕΕ · PARTEIFPIEIER RUNDPUNK · E VBCIRGEPKOMITEE- PARTEIPREIÈR PUIMOFUNK-EV
Zeichnung aus der Münchner Tageszeitung ,,tz" vom 14. Februar 1972
3.2
Der Protest gegen das Rundfunkgesetz bis zum erfolgreichen Volksbegehren
Schon vor der Verabschiedung des CSU-Rundfunkgesetzes erhob sich eine Welle des Protestes der oppositionellen Parteien und einer großen Zahl von Organisationen und Gruppen der Bevölkerung. Nicht nur der Inhalt des Gesetzes, auch die große Eile, mit der die C S U ihren Entwurf aufgrund ihrer absoluten Mehr-
Wer meldet sich zu Wort? Es ist eindrucksvoll, wie viele Stimmen des Protestes sich gegen das Rundfunkgesetz erhoben. Neben den Oppositionsparteien S P D und F D P und ihren Jugendorganisationen wurde eine Vielzahl von Verbänden aktiv, daneben viele einzelne Prominente und schließlich, im Verlauf eines Referendums, ein großer Teil der bayerischen Bürger.
heit im Parlament durchbringen konnte, erregte heftig-
Die unmittelbar Betroffenen des Rundfunkgesetzes
sten Widerstand. Die Presse berichtete täglich ausführ-
waren die Journalisten des Bayerischen Rundfunks.
lich über die Auseinandersetzung und förderte damit
Nicht verwunderlich ist deshalb der große Einsatz der
eine Politisierung der Öffentlichkeit, wie sie in ande-
journalistischen Organisationen und Zusammenschlüsse
ren legislativen Kontroversen selten erreicht wird.
wie des Deutschen Journalistenverbandes und seiner 179
Studieneinheit 5
bayerischen Landesorganisation, der Deutschen Jour-
chen, sogar von Sportlern und Schauspielern, hatte
nalisten-Union, der Rundfunk-Fernseh-Film-Union
propagandistische Wirkung.
(RFFU), der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG), des Redakteursausschusses des Bayerischen Rundfunks und einzelner Journalisten. Auch der Verband der „Rundfunk- und Fernsehteilnehmer in Bayern" wandte sich gegen das neue Gesetz.
Das Referendum Hinter den Kulissen fanden persönliche Gespräche und gemeinsame Sitzungen von Parteienvertretern und
Nicht „ u n m i t t e l b a r " Betroffene wie die übrigen Ge-
interessierten einzelnen aus Wissenschaft und Politik
werkschaften, der Schriftsteller-Verband, sogar der
statt, die zur Gründung einer Bürgerinitiative führten.
Bayerische Städteverband und die „Aktionsgemein-
Das Ziel dieser Initiative, die von vielen Gruppen
schaft unabhängiger Deutscher" erhoben ihre Stimme
publizistisch und finanziell unterstützt und mitgetra-
gegen das Rundfunkgesetz und solidarisierten sich mit
gen wurde, war die Durchführung eines Volksbegeh-
den Protesten. Junge Leute engagierten sich besonders
rens zur Einfügung eines Artikels in die Bayerische
in der Rundfunkfrage. Der Bayerische Jugendring, der
Verfassung, der privates Fernsehen verhindern und die
Bund der Deutschen Katholischen Jugend, die „Fal-
Zusammensetzung des Rundfunkrats neu regeln sollte.
ken" und andere veröffentlichten Protesterklärungen. Selbst die Junge Union kritisierte die Übereile ihrer
Ein Referendum
Partei und wandte sich ausdrücklich gegen den privaten
eine unmittelbare Mitwirkung des Volkes an der
Funk. Auch die bayerischen Bischöfe warnten vor den Gefahren des Mißbrauchs von Hörfunk und Fernsehen und forderten den Gesetzgeber auf, die öffentlich-rechtliche Struktur des Rundfunks unangetastet zu lassen. Wissenschaftler und viele Prominente unterstützten den Protest auf vielfältige Weise.
ist eine Verfassungseinrichtung, die
Gesetzgebung oder an sonstigen staatlichen Entscheidungen ermöglicht. Das Referendum besteht aus zwei Teilen, dem Volksbegehren und, wenn dieses die erforderliche Stimmenzahl von 10 Prozent der Wahlpflichtigen erreicht hat, dem Volksentscheid.
A n den
Ausgang des Volksentscheides sind die staatlichen Instanzen gebunden. Die Phase zwischen der Verabschiedung des CSU-
Methoden der Einflußnahme Im demokratischen Staat gibt es viele Möglichkeiten der Interessenartikulation. Alle nur möglichen Wege wurden bei der Bekämpfung des Rundfunkgesetzes beschritten. Entscheidend für den Erfolg des Protestes war jedoch, daß es gelang, nicht nur alle verfassungsmäßig zulässigen Methoden der Einflußnahme anzu-
Rundfunkgesetzes und dem erfolgreichen Volksbegehren, die Zeit also zwischen dem 1. März und dem 10. Juli 1972, soll nun näher beschrieben werden. Exemplarisch ist hier zu sehen, welche verschiedenen Wege der Ad-hoc-Interessenartikulation es gibt, welche Erfolgschancen sie haben können und welche Bedingungen für einen Erfolg ausschlaggebend sind.
wenden, sondern sie auch zu koordinieren, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Spontane Reaktionen auf das Gesetz waren Demon-
Der Verlauf der Protestaktionen gegen das Bayerische Rundfunkgesetz
strationen, Kundgebungen, Aktionen einzelner und Erklärungen gesellschaftlicher Gruppen, die in den
Schon vor der Verabschiedung des Rundfunkgesetzes
Medien veröffentlicht wurden. „Archaische" Kom-
hatte eine „ A k t i o n Rundfunkgesetz", die sich spontan
munikationsformen, wie Flugblätter und Wandtafeln, spielten eine wichtige Rolle zur Information. Die Presse berichtete mit Bildern und Artikeln von diesen Aktionen; sie veröffentlichte Karikaturen, Glossen und kritische Kommentare zum Rundfunkgesetz.
aus Journalisten, Schriftstellern und Angehörigen verwandter Berufe gebildet hatte, die Landtagsabgeordneten der CSU aufgefordert, die Gesetzesänderung noch einmal zu überprüfen. Zur gleichen Zeit fand eine Demonstration der Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks in München statt, an der zwischen 4000
Der Rücktritt bzw. die Rücktrittsdrohung bekannter
und 5000 Sympathisanten teilnahmen. Flugschriften
Persönlichkeiten im Bayerischen Rundfunk sowie der
und Lautsprecherdurchsagen informierten die Bevöl-
persönliche Einsatz von Prominenten aus allen Berei-
kerung über den Anlaß der Demonstration.
180
Wege der Interessenartikulation
Zu dieser Zeit schon erwog man in SPD- und FDP-
sungswelle innerhalb des Bayerischen Rundfunks. Der
Kreisen die Einleitung eines Volksbegehrens, falls das
Dirigent Rafael Kubelik kündigt seinen Anstellungs-
CSU-Gesetz Gültigkeit erlangen sollte. Nach dem
vertrag beim Bayerischen Rundfunk und schreibt an
Inkrafttreten des Gesetzes zum 1. März 1972 kommt
den noch amtierenden Intendanten Wallenreiter einen
eine Lawine ins Rollen. Vertreter der Oppositionspar-
Protestbrief, der der Presse übergeben wird.
teien artikulieren ihre Ablehnung in den Medien. Die Journalisten und ihre Organisationen kritisieren und attackieren das Gesetz; man befürchtet eine Entlas-
Hörfunkdirektor Walter von Cube kündigt sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem A m t an mit der Begründung, die C S U mache den Versuch, durch eine Art legaler Machtergreifung im Rundfunkrat den Funk parteipolitisch zu monopolisieren.
Bayern, zwei Wintermärdien Von Wolfram Siebeck
Die Zeitungen drucken zahlreiche Stellungnahmen von Organisationen und einzelnen Bürgern gegen das Gesetz; ihre eigenen Kommentare setzen sich — Ausnahme: der „Bayernkurier" — fast alle sehr kritisch mit der CSUEntscheidung auseinander. Sämtliche journalistischen Formen werden eingesetzt, eine Fülle von Karikaturen zeichnet die „Machtergreifung" der C S U im Rundfunk nach, und Satiren wie „Bayern, zwei Wintermärchen" von Wolfram Siebeck
s w a r einmal im schönen Bayernland eine ι Partei, die hatte eine Macht, die hieß die absolute Mehrheit. Diese war über die Maßen schön, und weil sie so schön und so absolut war, wurde sie zur Regierung gekrönt. D a saß sie nun und regierte, so o f t ihr danach zumute w a r ; und alles, was sie anordnete, geriet ihr zum N u t z e n ;
E
Der Himmel w a r blau und auf ihrer Seite; das waren auch die Würdenträger des Landes, in dem die Kuckucksuhren anders gingen als anderswo. Wenn der große Zeiger auf der Zwölf stand, sprang F r a n z Josef Strauß z u m Türdien heraus und rief: „In-put, Out-put, In-put, O u t p u t " — so oft, bis jeder wußte, w a s die Stunde geschlagen hatte.
(siehe den Faksimile-Abdruck) glossieren die politischen Vorgänge. Eine Einzelaktion wie die eines Grafikers, der sein Fernsehgerät vor dem Bayerischen Landtag verbrennt, sei nur am Rande erwähnt. Inzwischen werden die Pläne zu einem Volksbegehren zwischen den Vertretern der verschiedenen Organisationen diskutiert. In einer Zusammenkunft am 11. März, an der Spitzenvertreter der Parteien und Funktionäre der Journalistenverbände, der Gewerkschaften, der R F F U , der Industrie- und Handelskammer und des Bayerischen Verlegerverbandes teilnehmen, konkretisieren sich diese Pläne. Dabei vertreten Angehö-
Eines T a g e s aber geschah es, daß die Partei v o r den Fernsehapparat trat und f r a g t e : „Wer ist die Schönste hier im ganzen L a n d ? " N u n wollte es der Zufall, daß G e r h a r d Löwenthal gerade keine Sendung hatte, sondern Lassie. Dieser aber antwortete: „ W a u , w a u ! "
rige des Bayerischen Rundfunks die Ansicht, der
D a geriet die Partei in großen Zorn, und sie befahl ihrer absoluten Mehrheit, ein neues Gesetz zu machen, daß der A p p a r a t zu jeder Stunde die immer gleiche A n t w o r t geben w ü r d e : „ D i e C S U ist die Schönste im ganzen L a n d . "
Blitzumfrage die Haltung der Bevölkerung zu einem
S o geschah es audi. U n d zu jeder vollen Stunde sprang F r a n z Josef Strauß auf den Bildschirm und rief: „Sieg H e i l , Sieg Heil, Sieg H e i l " — so o f t , bis jeder wußte, w a s die Stunde geschlagen hatte.
Rundfunk könne ein Volksbegehren aufgrund seiner parteipolitischen Neutralität nicht unterstützen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund läßt durch eine eventuellen Rundfunk-Volksbegehren ermitteln. Danach sind 39 Prozent für und 29 Prozent gegen ein Volksbegehren, das die Zahl der Parteienvertreter im Rundfunk auf ein Drittel beschränken und Vorsorge gegen privates Fernsehen treffen würde. Diese repräsentative Umfrage bestärkt die Befürworter des Volksbegehrens und unterdrückt die parteipolitische Furcht, daß ein Mißerfolg auch den Wahlerfolg
Glosse aus „Die Zeit" vom 3. März 1972
der Oppositionsparteien gefährden könnte.
181
Studieneinheit 5
Die Gründung des Bürgerkomitees Am 15. März konstituiert sich das „Landes-Bürgerkomitee Rundfunkfreiheit" in Anwesenheit zahlreicher Prominenter aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zum vorläufigen und später auch endgültigen Vorstand wird der Münchener Politologieprofessor Paul Noack gewählt, seine vorübergehenden Vertreter sind der Journalist Ernst Müller-Meinin-
Der Antrag wird dem Innenministerium zugeleitet. In der Folgezeit schließen sich viele Organisationen und bekannte Persönlichkeiten den Zielen des Bürgerkomitees an. Am 12. April wird ein endgültiger Vorstand gewählt, neue Vertreter Noacks sind der Landesvorsitzende des DGB, Willy Rothe, und Hermann Kumpfmüller, ehemaliger Vorsitzender des Bayerischen Jugendringes.
gen sowie der evangelische Pfarrer und Fernsehpubli-
Am 27. April läßt das Bayerische Innenministerium
zist Adolf Sommerauer. Ziel des Referendums ist die
trotz verfassungsmäßiger Bedenken den Antrag auf das
Einfügung eines Artikels 111a in die Bayerische Ver-
Volksbegehren zu. Es wird für die Zeit vom 27. Juni
fassung mit folgendem Wortlaut:
bis 10. Juli festgelegt. Zehn Prozent der Bevölkerung
^
„(1) Hörfunk und Fernsehen werden ausschließlich von öffentlich-rechtlichen Anstalten betrieben. Die Anstalten werden von einem Rundfunkrat kontrolliert, der aus einem Vertreter der Staatsregierung, drei Vertretern des
müssen sich dafür aussprechen; das bedeutet: 725000 Stimmen müssen gewonnen werden. Die zweimonatige Pause zwischen der Zulassung und dem Beginn des Volksbegehrens muß also intensiv zur Aufklärung und Stimmenwerbung genutzt werden.
Senats, nach Maßgabe des Absatzes 2 aus Ver-
Nun werden auch in anderen Städten Bayerns Bürger-
tretern des Landtages sowie aus Vertretern der
komitees gegründet, die sich propagandistisch für das
bedeutsamen weltanschaulichen und gesell-
Volksbegehren einsetzen. Nicht nur Partei- und Ver-
schaftlichen Gruppen besteht. Der Anteil der
bandsfunktionäre werden aktiv, auch eine große Zahl
Vertreter der Staatsregierung, des Senats und
organisatorisch ungebundener Bürger, besonders Ärzte,
des Landtages darf ein Drittel nicht überstei-
Rechtsanwälte, Lehrer usw., die damit den Kreis einer
gen. (2) Der Landtag entsendet für je 20 angefangene Mitglieder seiner Fraktion einen Vertreter aus deren Mitte. Die weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen wählen oder berufen ihre Vertreter selbst." Der Artikel 111a soll die Freiheit und Unabhängigkeit des Hörfunks und Fernsehens von kommerziellen und parteipolitischen Einflüssen gesetzlich gewähr-
„aktiven Öffentlichkeit" verstärken, unterstützen die örtlichen Initiativen. Viel Prominenz wirbt mit ihrem Namen und Autogrammen um die Beteiligung aller Bürger. Das Wachhalten des Interesses, des Problembewußtseins ist die vordringliche Aufgabe, denn auch die Gegenseite ruht nicht mit ihrer Propaganda.
Die Verfechter des Rundfunkgesetzes wehren sich
leisten, somit den Einfluß des Staates begrenzen und
Zwar ist man sich innerhalb der CSU in der Rundfunk-
private Sendeanstalten unmöglich machen.
politik nicht immer einig — nicht nur die Junge Union,
Voraussetzung für die Zulassung des Antrags auf ein Volksbegehren beim Innenministerium ist die Vorlage von mindestens 25000 Unterschriften. Sie sollen bis
auch einzelne Abgeordnete sprechen sich gegen die Privatfunk-Pläne aus - , aber insgesamt t r i t t die Partei nach außen hin relativ geschlossen auf.
zum 20. März, also innerhalb weniger Tage, in den
Mit den Initiatoren des Volksbegehrens geht man nicht
bayerischen Städten gesammelt werden. Die Zuver-
gerade glimpflich um. Wenn zunächst das CSU-Präsidium
sicht der Bürgerinitiative zeigt sich als begründet.
auch nur von „bewußte(r) Verfälschung der Motive der
Schon am 19. März gibt morgens der Geschäftsführer
CSU-Initiative und ihrer Konsequenzen durch SPD, Ge-
des Bürgerkomitees, Helmut Pfundstein, bekannt, daß
werkschaften, bestimmte Interessenverbände und hohe
mehr als die erforderlichen Unterschriften vorlägen.
Funktionäre des Bayerischen Rundfunks" (Nürnberger
Innerhalb von zwei Tagen haben sich etwa 50000
Nachrichten, 29.2.1972) spricht, so steigert sich mit
bayerische Wahlberechtigte in die ausliegenden Listen
zunehmendem Erfolg der Bürgerinitiative auch die
eingetragen, davon 20000 allein in München.
Polemik der Parteiführung:
182
Wege der Interessenartikulation
„ A n ihrem Geschrei sollt ihr sie erkennen. Diese Worte zwingen sich einem auf, wenn man das geifernde Geschrei und die an Gehässigkeit nicht mehr zu überbietenden Angriffe derer hört, denen die Änderung des Rundfunkgesetzes offensichtlich unliebsamer ist als seinerzeit Adam und Eva die Vertreibung aus dem Paradies. Wer so laut schreit, hat unrecht" (Franz Josef Strauß in einer Ansprache.im Bayerischen Rundfunk am 15. März 1972, dem Tag der Konstituierung des Bürgerkomitees Rundfunkfreiheit).
¿lllillllllllllllllMllllllllllllllllllllimiHlllllllllllltllg
I Herr Hirnbeiß \ ällllllllllllimillHIIIimiMllllllllllllllllinilMllllli;
Nicht nur an Worten, auch an Gegenaktionen und Behinderungen des Volksbegehrens lassen es Teile der CSU nicht fehlen. Schon bei der Unterschriftenaktion beginnt es; die Münchner „Abendzeitung" berichtet am 18. März 1972: „Den Gegnern des neuen Rundfunkgesetzes wird ihr Kampf für das Volksbegehren nicht leicht gemacht: Landtagspräsident Hanauer ließ eine Unterschriftensammlung im Landtag abbrechen, und ein besonders engagierter Freund des CSU-Gesetzes
Z e i c h n u n g : F r . Bilek
zerriß auf einem Empfang sogar eine ausgefüllte Unter-
„Heit' unterschreib' i no schnell beim Volksbegehren, bevor der Strauß Nachrichtensprecher werd!"
schriftenliste." Wenige Tage vor dem Volksbegehren treten wieder Behinderungen auf. Eintragungslisten verschwinden oder werden von CSU-geführten Landratsämtern spät und höchst unwillig ausgelegt, Wegweiser und bürokrati-
Zeichnung
aus der Abendzeitung"
vom 8. Juli
1972
sche Hilfen sucht man vielerorts vergebens, so daß dem Bürgerkomitee und der engagierten Presse die Information der Bevölkerung allein überlassen bleibt.
Höchsteinsatz der Initiatoren
Die Rolle der Massenmedien in der rundfunkpolitischen Frage
Heftig warnt der Geschäftsführer des Landeskomitees,
Das vorliegende Beispiel ist insofern für den Prozeß
Helmut Pfundstein, die Behörden vor einem „ B o y k o t t
der Ad-hoc-Interessenartikulation untypisch, als die
auf kaltem Wege" (Abendzeitung, 23.7.1972); durch
Journalisten die „Betroffenen" sind, ihr Engagement
Broschüren in Millionenauflage und den persönlichen
und Interesse also nicht erst geweckt werden muß.
Einsatz vieler Partei- und Verbandsfunktionäre sowie
Andere Bürgerinitiativen haben es o f t schwer, das
bekannter Mitglieder des Komitees wird die Bevölke-
Interesse der Massenmedien auf sich zu lenken und
rung auf die Ziele des Volksbegehrens hingewiesen
brauchen dazu entweder spektakuläre Aktionen oder
und zur Unterzeichnung aufgefordert.
prominente Mitglieder.
Die erste Woche des Volksbegehrens verläuft nicht zu-
Fast alle bayerischen und auch die außerbayerischen
friedenstellend für die Initiatoren, und man fürchtet
Zeitungen befaßten sich stetig und umfangreich mit
schon für den Ausgang. Die zweite Woche jedoch
der CSU-Rundfunkpolitik und ihren Folgen. Selbst
bringt die Wende, und das Ergebnis ist selbst für
als CSU-freundlich bekannte Blätter setzten sich
Optimisten überraschend: Mit 1006679 Unterschriften
kritisch mit dem Gesetz und den Privatfunk-Plänen
— beträchtlich mehr als den erforderlichen 725 000 -
auseinander. Das Bürgerkomitee Rundfunkfreiheit
schließen sich rund 13,9 Prozent der bayerischen Wahl-
erhielt also große Unterstützung durch die Presse,
berechtigten dem Protest der Oppositionsparteien und
insbesondere auch bei formalen Informationen über
vieler gesellschaftlicher Gruppen gegen Parteien- und
das Wo und Wie des Eintragens — Aufgaben, die eigent-
Privatfunk an.
lich in die Pflicht der Staatsregierung gefallen wären.
Studieneinheit 5
Komplizierter ist die Lage beim Bayerischen Rundfunk. Obwohl Intendant Wallenreiter das CSU-Gesetz ablehnte und bekämpfte, stoppte er aufgrund der Neutralitätsverpflichtung einer öffentlich-rechtlichen Anstalt zunächst eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Rundfunkgesetz. Nur Nachrichten und kleine Beiträge wurden gesendet. Später lockerte er diese Beschränkung wegen der massiven Kritik von Seiten der Gegner der CSU-Rundfunkpolitik, die meinten, eine ausgewogene Berichterstattung, die beide Seiten zu Wort kommen lasse, sei besser und auftragsgerechter als gar keine. Insgesamt wurden folgende Sendungen zum Rundfunkgesetz und zum Volksbegehren ausgestrahlt: Regionalfernsehen (I. Programm, 18-20 Uhr): 34 Beiträge; Studienprogramm (III. Programm): 20 Beiträge, davon 18 in der „Chronik", einer im „Abendstudio" und eine Einzelsendung zum Thema. Bis auf die beiden letzten Sendungen waren alle Beiträge 5 bis maximal 20 Minuten lang. Im Hörfunk wurden in der gesamten Zeit 38 Magazinbeiträge und Kommentare gesendet. Die anfängliche „Funkstille" wich also allmählich einer regen Auseinandersetzung.
3.3 Die weitere Entwicklung in der Rundfunkfrage Nachdem die Bayerische Staatsregierung im September verfassungspolitische und rechtliche Bedenken angemeldet hatte, die vor allem den dauernden Ausschluß privaten Rundfunks betrafen, legte der Bayerische Senat im Monat darauf einen Kompromißvorschlag vor. Ab 25. Oktober befaßten sich Landtag und Ausschüsse mit dem Volksbegehren. Die Meinungen prallten aufeinander. Schließlich beschloß das Landtagsplenum mit den Stimmen der CSU, die Rechtsgültigkeit des Volksbegehrens zu bestreiten. Nun konnte nur noch der Verfassungsgerichtshof über den Fortgang des Volksbegehrens entscheiden.
184
Am 18. Dezember 1972 schaltete sich der CSU-Vorsitzende Strauß in den Streit ein und erklärte, Hörfunk und Fernsehen sollten grundsätzlich in öffentlich-rechtlicher Verantwortung betrieben werden. Die Privatfunk-Pläne hatte Strauß offenbar aufgegeben. Damit deutete sich die Möglichkeit eines Kompromisses an. Nach der Jahreswende kündigten SPD und Landesbürgerkomitee Gespräche über einen möglichen Kompromiß an. Am 11. und 22. Januar trafen sich CSU-Vorsitzender Strauß, Ministerpräsident Goppel, CSU-Fraktionsvorsitzender Seidl, SPD-Landesvorsitzender Vogel und SPD-Fraktionschef Gabert, Fraktionssprecher Letz von der FDP, Professor Noack, DGB-Vorsitzender Rothe und Geschäftsführer Pfundstein für das Landesbürgerkomitee zu zwei vertraulichen Gesprächen, in deren Verlauf man zu einer Einigung kam. Das Ergebnis der Verhandlungen: In dem Artikel 111a sollte in der Bayerischen Verfassung festgelegt werden, daß „Rundfunk nur in öffentlicher Verantwortung und in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft betrieben wird". Ferner wollte man den Anteil der Staatsvertreter im Rundfunkrat auf ein Drittel begrenzen. In allen wesentlichen Punkten wurde also dem Volksbegehren entsprochen.
Der Volksentscheid Beim Volksentscheid am 1. Juli wurde diese Regelung mit über einer Million Stimmen akzeptiert. Zwei Wochen später änderte der Landtag das Rundfunkgesetz entsprechend dem vereinbarten Kompromiß. Die Initiative von Oppositionsparteien, Gewerkschaften, anderen Gruppen und Einzelpersonen erreichte zwar nicht, daß der Zugriff des Rundfunkrats auf die Ebene der Hauptabteilungsleiter zurückgenommen wurde. Es gelang ihr jedoch immerhin, den Staatseinfluß im Rundfunkrat auf ein Drittel der Mitglieder zu begrenzen und die Einrichtung von privatem Rundfunk in Bayern auf absehbare Zeit abzublocken.
Wege der Interessenartikulation
3.4 Das Zusammenwirken der verschiedenen Organisationen und Gruppen
Die Parteien und der Rundfunk Einen besonderen Stellenwert bekommt das Beispiel
durch die Rolle der Parteien im und gegenüber dem Der Erfolg des Protestes gegen das CSU-Rundfunk-
gesetz hat seine Ursache im Zusammenwirken der
verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in dieser
Frage. Sonst unterschiedliche politische Ziele verfol-
gende Organisationen und Einzelpersonen trafen sich in der energischen Ablehnung des Gesetzes und der
Privatfunk-Pläne der CSU; sie regten sich gegenseitig
zur Unterstützung des gemeinsam gestarteten Volksbegehrens an.
Rundfunksystem der Bundesrepublik Deutschland.
Darauf wird im einzelnen in der Studieneinheit 7
eingegangen.
Da die Parteien in den Länderparlamenten die Rund-
funkgesetze bestimmen bzw. machen, werden sie
immer bestrebt sein, auch Rundfunkpolitik als einen
Teil ihrer Machtpolitik zu betreiben. Es wäre naiv zu glauben, daß eine Partei, die über die nötigen politi-
schen Möglichkeiten und die politische Macht verfügt,
Auf diese Weise war es leicht, alle möglichen Kommunikationskanäle auszunützen; und so gelang es, eine
nicht auch hier ihre eigenen Vorstellungen so ein-
bringen würde, wie das System und die Verfassung es
zulassen. So kommt es, wann immer das Verhältnis
sonst „passive" oder doch nur „latente Öffentlichkeit"
der Parteien zum Rundfunk zur Debatte steht, zu
bereit sind, sich in politischen Einzelfragen außerhalb
den, im Parlament unter Umständen Rundfunkgesetze
(Dahrendorf, S. 97 ff.), d.h. Bürger, die gelegentlich
von Wahlen persönlich zu engagieren, für das konkrete Ziel einzunehmen und zur Beteiligung an bestimmten
Aktionen und schließlich an Volksbegehren und Volksentscheid zu gewinnen.
einem Dilemma: Die Parteien müßten veranlaßt werzu ihren Ungunsten zu ändern.
Kann man von einer um Macht nicht zuletzt auch mit
dem Kommunikationsmittel Rundfunk kämpfenden Gruppe erwarten, daß sie durch gezielte politische
Die ständige Berichterstattung der Presse sorgte für das Wachhalten des Interesses über den langen Zeitraum von eineinhalb Jahren zwischen der turbulenten Verabschiedung des Gesetzes und seiner Ergänzung durch die Einfügung des Artikels 111a in die Bayerische Verfassung im Sommer 1973.
Maßnahmen an dem Ast sägt, auf dem sie selbst sitzt?
So hat die Idee politischer Willensbildung von der Basis
her für die Kommunikationspolitik einen auch über das Beispiel des bayerischen Rundfunkstreits hinauswei-
senden grundsätzlichen demokratiereformerischen Aspekt.
Aufgaben 1. Nennen Sie Beispiele aus der Politik der Bundesrepublik Deutschland, in denen Verbände
einen maßgeblichen Einfluß auf die Entscheidungsfindung der staatlichen Organe ausgeübt haben!
185
2. Vereinigungen sind notwendig, O um Interessen zu artikulieren und durchzusetzen, Q um Widerstand gegen die staatliche Gewalt zu organisieren, O um die Pläne und Entscheidungen der staatlichen Organe zu kontrollieren und sie interpretierend den Betroffenen zu vermitteln, O um die Monopolstellung der politischen Parteien zu brechen. 3. Welcher Verbandstyp besitzt den höchsten Organisationsgrad? Womit hängt das zusammen?
4. Nennen Sie mindestens sechs mögliche Adressaten des Verbandseinflusses, und geben Sie typische oder bevorzugte Methoden der Einflußnahme an! Adressaten
Methoden
5. Auf welchem Wege versucht der Staat, die informelle Einflußnahme von Verbänden zu kontrollieren und transparent zu machen?
6. Wie kann ein einfaches Verbandsmitglied seine Interessen innerhalb der Organisation durchsetzen?
7. Die Verbände als Repräsentanten eines bestimmten Teiles der Bevölkerung bringen ihre Forderungen in den politischen Entscheidungsprozeß ein. Sie leisten dabei die Aufgaben der 1.
Wege der Interessenartikulation
Erläutern Sie diese drei Begriffe!
8. Nach der Theorie des Interessenpluralismus gewährleistet der Wettbewerb verschiedener Interessen die Ausgewogenheit der Einflußmöglichkeiten und -erfolge. Halten Sie eine Ausgewogenheit der Interessenrepräsentation in der Bundesrepublik für gegeben? Begründen Sie Ihre Ansicht!
9. Nennen Sie die Voraussetzungen für eine wirksame Artikulation und Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse! a) b) Erläutern Sie an Beispielen die Bedeutung dieser Begriffe!
10. Welches sind die wichtigsten Unterschiede zwischen Verbänden und Bürgerinitiativen? Verbände
Bürgerinitiativen
187
Studieneinheit 5
11. Welche drei Arten von Zielsetzungen lassen sich bei Bürgerinitiativen unterscheiden? Nennen Sie dazu jeweils ein Beispiel aus ihrem Erfahrungsbereich und kennzeichnen Sie stichwortartig die bevorzugte Methode der Einflußnahme!
Zielsetzung
Beispiel
Methode
1 ? 3
12. Welche Einwände werden gegen Bürgerinitiativen vorgebracht? Nehmen Sie Stellung dazu!
13. Die Studieneinheiten 3 bis 5 haben die Institutionen des politischen Systems als Kommunikationskanäle dargestellt. Welche waren es? Und welche gemeinsamen Funktionen haben sie für den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß?
m
Literaturverzeichnis
Ackermann, Paul: Der Deutsche Bauernverband im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik. Die Einflußnahme des D B V auf die Entscheidung über den europäischen Getreidepreis. Tübingen 1970 Beyme, Klaus von: Interessengruppen in der Demokratie. München 1969 Bilstein, Helmut/Troitzsch, Klaus G.: Bürgerinitiativen. Chancen und Grenzen politischer Einflußnahme. In: Materialien zur politischen Bildung. Sonderdruck aus: Gegenwartskunde, Heft 4 / 1 9 7 2 . Opladen 1974 Dahrendorf, Ralf: Aktive und passive Öffentlichkeit. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 9 7 - 1 0 9 Dienel, Peter C.: Das Demokratiepotential der Bürgerinitiativen. In: Materialien zur politischen Bildung, Heft 1 / 1 9 7 4 , S. 3 2 - 4 0
188
Ellwein, Thomas: Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß. In: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die Zweite Republik. 2 5 Jahre Bundesrepublik Deutschland — eine Bilanz. Stuttgart 1974, S. 4 7 0 - 4 9 3 Haffner, Sebastian: Bürgerinitiativen: Sinn und Unsinn. In: Bürger initiativ. Stuttgart 1974, S. 7 - 1 6 Naschold, Frieder: Systemsteuerung. 2. Aufl. Stuttgart 1971 Oeser, Kurt: Progressive und reaktionäre Bürgerinitiativen. In: Bürger initiativ. Stuttgart 1974, S. 1 7 - 4 8 Offe, Claus (1): Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme. In: Gisela Kress/Dieter Senghaas (Hrsg.): Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme. Frankfurt am Main 1969, S. 1 5 5 - 1 8 9
Wege der Interessenartikulation
Offe, Claus (2): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Frankfurt am Main 1972 Scharpf, Fritz: Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung. Konstanz 1970
Steinberg, Rudolf: Interessenverbände als Kommunikationskanäle. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 132-146
Schneider, Herbert: Die Interessenverbände. 4. Aufl. München 1975
Literaturhinweise zum weiteren Studium
Beyme, Klaus von
Interessengruppen in der Demokratie. München: Piper Verlag 1969; 230 Seiten (Materialreiche und systematische Darstellung von Verbänden, viele Beispiele; nicht nur deutsche, sondern auch ausländische Literatur und Beispiele bearbeitet, umfangreiche Literaturliste [307 Titel!], Namens- und Stichwortregister; Text leicht zu lesen; sehr empfehlenswert.)
Ellwein, Thomas
Die großen Interessenverbände und ihr Einfluß. In: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland - eine Bilanz. Stuttgart: Seewald Verlag 1974, S. 470-492. - Auch abgedruckt in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 48/1973, S. 2 2 - 3 8 (Informative Darstellung der Verbände in der Bundesrepublik; Kritik am übermäßigen Einfluß der großen Verbände, an dem Mangel an innerverbandlicher Demokratie usw.)
Oeser, Kurt
Progressive und reaktionäre Bürgerinitiativen. In: Bürger initiativ. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1974, S. 1 7 - 4 8 (Kritische Auseinandersetzung mit Bürgerinitiativen, ihrer Aufgabe, ihren Chancen und Gefahren; dazu Beispiele. Auch die anderen Beiträge des Buches bieten eine Menge empirischen Materials über Bürgerinitiativen.)
Offe, Claus
Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Frankfurt 1972 (= edition suhrkamp 549); 190 Seiten (Besonders der Abschnitt „Bürgerinitiativen und Reproduktion der Arbeitskraft im Spätkapitalismus", S. 153 f., ist im Rahmen der Studieneinheit 5 aufschlußreich. Kritik an Bürgerinitiativen; sehr abstrakte Darstellung, bei Oeser [s.o.] besprochen und auszugsweise zitiert.) 189
Steinberg, Rudolf
Interessenverbände als Kommunikationskanäle. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974 {= Piper Sozialwissenschaft 22), S. 1 3 2 - 1 4 6 (Behandlung der Verbände unter kommunikativen Gesichtspunkten; kritische Darstellung der Funktion der Verbände und ihrer Interessenwahrnehmung.)
Lösungen
1. Paritätische Mitbestimmung, Krankenversicherungsreform, Bildungsreform (Hochschulrahmengesetz), Umweltschutzgesetze, § 218. 2. Vereinigungen sind notwendig, O um Interessen zu artikulieren und durchzusetzen, 0 um die Pläne und Entscheidungen der staatlichen Organe zu kontrollieren und sie interpretierend den Betroffenen zu vermitteln. 3. Verbände im Wirtschafts- und Arbeitsbereich. Bedeutung des Berufes, Interessenkonfrontation im Erwerbsbereich. 4. Parlament, Regierung, Bürokratie, Justiz, Parteien, öffentliche Meinung, internationale Organisationen. Wahlunterstützung, Kandidatenlancierung, Finanzhilfe, Drohung mit dem Entzug des Stimmpakets, informelle Kontakte. 5. Durch Institutionalisierung der Anhörung und Ausbau von Hearings, Registrierung von Lobbyisten. 6. Ein einfaches Verbandsmitglied hat die Möglichkeit, sich an Präsidiumswahlen zu beteiligen oder sich als Kandidat zur Verfügung zu stellen, durch Zugang zu speziellen Sachinformationen zum Experten zu werden, die innerverbandliche Diskussion durch Referate, Sachbeiträge und Initiativen anzuregen und zu beeinflussen, andere Verbandsmitglieder von seiner Meinung zu überzeugen. 7. Interessenartikulation Interessenaggregation 1 nteressenselektion Die Verbände bringen ihre Forderungen in den politischen Entscheidungsprozeß ein (Artikulation). Sie sammeln Einzelinteressen, fassen sie zusammen und reduzieren so den Überschuß an Informationen (Aggregation); zu einer gegebenen Zeit werden die gespeicherten Informationen an die staatlichen Organe weitergeleitet (Selektion). Damit wirken die Verbände einer Überforderung der staatlichen Organe entgegen.
Wege der Interessenartikulation
8. Die Auswirkungen der Einflußnahme verschiedener Interessengruppen im demokratischen Staat zeigen, daß die Erfolgschancen der einzelnen Interessen und Bedürfnisse
ungleich verteilt sind. Manche Gruppen haben überproportionale Einflußmöglichkeiten,
wie z.B. die Fluglotsen, die den gesamten Luftverkehr lahmlegen können, andere - viel größere — Gruppen, wie Hausfrauen und Pensionäre, haben geringe Durchsetzungschancen für ihre Interessen. 9. a) Organisationsfähigkeit 6) Konfliktfähigkeit
Primäre Lebensbedürfnisse homogener Statusgruppen sind am ehesten organisierbar,
während allgemeine Bedürfnisse, wie z.B. Wohnung, Gesundheit und Bildung, nur in
geringem Maße organisationsfähig sind.
Konfliktfähig ist eine Organisation, welche die Leistung verweigern bzw. eine Leistungsverweigerung glaubhaft androhen kann. Zu den konfliktfähigen Gruppen gehören beispielsweise Fluglotsen, Eisenbahner, Metallarbeiter usw., nicht konfliktfähig in diesem Sinne sind dagegen Hausfrauen, Arbeitslose, Alte und Kranke. 10.
Verbände
Bürgerinitiativen
institutionalisiert
nicht institutionalisiert
Gründung auf Dauer
ac-hoc-organisiert
ständige Interessenvertretung
aktueller Anlaß
bevorzugter Adressat: Legislative
bevorzugter Adressat: Exekutive
Zielsetzung
Beispiel
Methode
Selbsthilfe
Kindergartengründung
Direkte Aktionen
Eingriff in gefällte oder
Widerstand gegen den
Demonstrationen, Kundge-
anstehende politische
Bau eines Kernreaktors
Entscheidungen Stimmengewinn für
bungen, Unterschriften-
aktionen Wählerinitiative
politische Parteien
Anzeigen, Flugblätter, Unterschriftenaktionen
12. Bürgerinitiativen wirken lähmend auf die Verwaltung. Sie sind systemstabilisierend, häufig gegen Veränderungen gerichtet. Sie werden von Gruppenegoismus, Lokalpatriotismus getragen. Sie sind überwiegend mittelständisch orientiert und vom Mittelstand getragen.
Sie benutzen dysfunktionale Mittel der Einflußnahme wie Go-in, Besetzung, Boykott. Sie lenken von wirklichen Mißständen zugunsten vordergründiger Interessen ab und
greifen der staatlichen Planungsapparatur nur vor.
13. Parlament, Parteien, Verbände, Bürgerinitiativen, Aktive Öffentlichkeit Funktionen:
Interessenartikulation I nteressenaggregation Interessenselektion Integration
191
Studieneinheit 6 Politisches System und Massenkommunikations system
Die Intention dieser Studieneinheit ist, die Rolle der Kommunikationsmedien — insbesondere der Massenmedien — bei der Herstellung von Öffentlichkeit für den Prozeß der politischen Kommunikation herauszuarbeiten. Die Studieneinheit 2 hat die obersten Normen dargelegt, die die Kommunikationsverfassung [ Vorinformation ]
Bundesrepublik definieren. Innerhalb dieses Rahmens ist auch das Grundrecht der Pressefreiheit und der anderen Medienfreiheiten zu interpretieren. Die Studieneinheiten 3, 4 und 5 haben gezeigt, daß sich die gesellschaftlichen Gruppierungen in ständiger Kommunikation befinden. Sie bedienen sich dabei der unterschiedlichsten Kommunikationsmedien, die als Sprachrohre ihrer Interessen in der Öffentlichkeit fungieren. Neben diesen Kommunikationsmedien gibt es aber noch die sogenannten aktuellen, universellen Massenmedien, wie z.B. Tagespresse, Hörfunk und Fernsehen. Sie dienen zum einen der Herstellung einer größeren politischen Öffentlichkeit, zum anderen der Integration der verschiedenen sich kommunikativ-politisch betätigenden Kräfte. Nur diese technischen K o m m u nikationsmöglichkeiten — die aktuell-universellen Massenmedien — garantieren in einer modernen Großgesellschaft die Kommunikation aller Individuen und Gruppen untereinander. Der Schwerpunkt dieser Studieneinheit liegt auf dem Versuch, die Funktion der Herstellung von Öffentlichkeit klarzulegen und als die eigentliche Aufgabe der Massenmedien herauszuarbeiten. Es ist aber nicht nur eine Frage demokratischer Normen, ob und wie die Massenmedien ihre gesellschaftspolitischen Aufgaben erfüllen können. Es ist zudem eine Frage der institutionellen Vorkehrungen, welche die Organisationsform der Massenmedien bestimmen. Deshalb ist es wichtig, zu Beginn der Studieneinheiten, die sich ausschließlich mit Problemen der Massenkommunikation beschäftigen, auf die Organisation der einzelnen Massenmedien in der Bundesrepublik einzugehen. Die Presse ist privatwirtschaftlich organisiert, der Rundfunk öffentlich-rechtlich. A u s der unterschiedlichen Institutionalisierung ergeben sich unterschiedliche Probleme in bezug auf die Informations- und Meinungsfreiheit. Ziel des zweiten Teils dieser Studieneinheit ist es deshalb, wenigstens in einem groben Überblick die Organisation und Struktur der deutschen Presse zu klären und am Beispiel der Pressekonzentration auf dem Tageszeitungssektor die spezielle Problematik eines privatwirtschaftlich organisierten Massenmediums darzustellen. In der Studieneinheit 7 werden dann weitere Probleme der Massenmedien exemplarisch am öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem aufgezeigt.
193
„Die Nachrichtendichter" „Die beste Nachricht über ein Ereignis ist das Ereignis selbst; die beste technisch unverzerrte Wiedergabe kann den Eindruck des Augenzeugen nicht ersetzen" (Zitataus dem Moderationstext). Es gibt viele Filme, die die Entstehung von Nachrichtensendungen in einer Fernsehredaktion nachvollziehen. Wissen Sie eigentlich, ob sich das, was Ihnen in den Nachrichten auf dem Bildschirm präsentiert wird, tatsächlich ereignet hat oder ob es sich um „erdichtete Fakten" handelt? In unserem Film werden Nachrichten „gemacht" und auf einem Monitor präsentiert. Beurteilen Sie selbst, wie nah Dichtung und Wahrheit beieinanderliegen.
Inhalt
1.
Analyse einer Zeitungsmeldung (Fallbeispiel)
195
1.1
Der Zeitungstext
195
1.2
Primäre Quellen des Textes
196
1.3
Ereignisse
197
1.4
Wer k o m m t zu Wort?
197
1.5
Die Leistung der Redaktion
198
1.6
Zusammenfassung
199
2.
Die politischen Funktionen der Massenmedien
201
2.1
Das Herstellen von Öffentlichkeit
201
2.2
Das Objektivitätspostulat im Vermittlungsprozeß
203
2.3
Die institutionellen Vorkehrungen für die Freiheit der Presse und des Rundfunks in der Bundesrepublik
204
2.4
Pressefreiheit: Die Freiheit der Gesellschaft zur Kommunikation
204
2.5
Mediale Kommunikationsfreiheit — Zugangsrecht für jeden Bürger
206
3.
Die Presse in der Bundesrepublik
206
3.1
Die unverstandene Pressekonzentration (Aufsatz von Hans Wagner)
211
Aufgaben
218
Literaturverzeichnis
221
Literaturhinweise zum weiteren Studium
222
Lösungen
223
Politisches System und Massenkommunikationssystem
1.
Analyse einer Zeitungsmeldung (Fallbeispiel)
•
Wer kommuniziert hier? Wer sind die K o m m u n i k a tionspartner?
•
Welche Rolle spielt — in diesem Fall — die betreffen-
A m Beispiel einer Zeitungsmeldung wollen wir zunächst
de Tageszeitung bzw. ihre Redaktion innerhalb des
versuchen, den zentralen Begriff der hergestellten Öf-
Kommunikationsprozesses?
fentlichkeit induktiv herzuleiten. Das Beispiel soll das Verständnis für den theoretischen Hintergrund erleichtern, der im Anschluß dargestellt wird.
1.1 Der Zeitungstext
A l s Fallbeispiel dient uns eine alltägliche Zeitungsnachricht, deren konkreter Inhalt in diesem Zusammenhang
Der im folgenden analysierte Text stand am 28. Novem-
keine Rolle spielt. Für uns sind lediglich folgende
ber 1974 in der „Süddeutschen Z e i t u n g " (SZ). Er war
Aspekte wichtig:
Teil des „Hauptaufmachers":
Maihofer : Der Rechtsstaat wehrt sich mit Erfolg gegen seine Feinde Der Bundesinnenminister und Justizminister Vogel äußern sich befriedigt über das Ergebnis der Fahndung nach Terroristen / Kabinett verabschiedet Änderungen des Strafrechts und der Strafprozeßordnung Die Fortsetzung des Artikels auf Seite 2 enthielt unter anderem die folgende Passage:
Kontroverse in der Union um Zwangsernährung geht weiter Am Rande der Diskussion um den Kampf gegen politischen Extremismus werden Kontroversen innerhalb der Unionsparteien sichtbar. Der Sprecher für Strafrechtsfragen der CSULandesgruppe in Bonn, Carl-Dieter Spranger, forderte in einem Artikel der Parteizeitung Bayemkurier CDU und CSU auf, beim Bundesverfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die DKP zu stellen. Es sei ein Gebot politischer Vernunft, den Mut dazu aufzubringen, schrieb der Ansbacher Bundestagsabgeordnete. „Wenn SPD/FDP nicht handeln wollen oder können, dann sollten es CDU und CSU tun." Mit diesen Äußerungen stellt sich Spranger in Gegensatz zu weiten Teilen der CDU und auch zum Oppositionsführer Karl Carstens. Der Fraktionsvorsitzende hatte in der Extremisten-Debatte des Bundestages am 15. November erklärt: „Wir treten dafür ein, daß auch die Mitglieder der Kommunistischen Partei DKP in unserem Lande das Recht haben, ihre Meinung frei zu äußern." In seiner von der Mehrheit der anwesenden Unions-Parlamentarier mit starkem Beifall bedachten Rede hatte Carstens weiter die Meinung vertreten, es sei Teil unserer Freiheit und unseres Systems, „daß auch der Gegner, solange das Verfassungsgericht nicht eingeschritten ist, das
Recht zur freien Meinungsäußerung erhält und behält". Zuvor hatte sich Spranger an der unionsinternen Diskussion über die von Carstens aufgeworfene Frage beteiligt, ob eine Zwangsernährung von Untersuchungshäftlingen unter bestimmten Umständen unbedingt fortgesetzt werden müsse. In dieser Sache nähert sich Spranger der Meinung seines Fraktionsvorsitzenden, gerät aber in Widerspruch zum nordrhein-westfälischen CDU-Vorsitzenden Heinrich Köppler. Während Spranger die Meinung, der Staat müsse mit allen Mitteln den Selbstmord durch Hungerstreik verhindern, für „rechtlich nicht zwingend" hält, bezeichnet Köppler solche Überlegungen als „nicht verfolgenswert". Auch der Hauptgeschäftsführer der CDU-Sozialausschüsse, Norbert Blüm, hatte sich gegen den Vorschlag Carstens' gewandt. Das Leben dürfe nicht zur Disposition gestellt werden. Wenn dieses „Tabu" aufgehoben werde, dann frage er sich, wie man die Diskussion um die Abtreibung oder Euthanasie „durchstehen" wolle. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Hans de With schrieb im SPD-Pressedienst, seiner Meinung nach müsse darüber Einigkeit bestehen, „daß in Haft befindlichen Menschen . . . bei ernster Lebensgefahr unter gebührender Abwägung der Mittel zur Ver-
195
Studieneinheit 6
meidung des Todes auch unter Zwang Ernährung zugeführt werden muß". Wer sich dieser Forderung entziehe, müsse sich dem Vorwurf aussetzen, daß er bisher als selbstverständlich angewandte Rechtssätze aus vordergründigen Motiven in Frage stelle. Durch verstärkten Widerstand gegen die Zwangsernährung hat sich bei einigen Hamburger Häftlingen, die zur Baader-Meinhof-Gruppe gerechnet werden, der Gesundheitszustand verschlechtert. Wie die Justizbehörde mitteilte, haben einige der elf Hungerstreikenden ihre tägliche Kalorienmenge durch Herausreißen der Magensonde verringert. In zwei Fällen seien gegen die künstliche Ernährung aktiver Widerstand geleistet worden, der jedoch durch Zwangsmaßnahmen gebrochen worden sei. Als Verfasser des Textes zeichnete die „Bonner Redaktion" der S Z . Mit diesem Text — als einem unter vielen anderen - informierte hier eine Zeitung ihre Leser:
Dieser auf den ersten Blick triviale Sachverhalt soll nun genauer analysiert werden.
1.2 Primäre Quellen des Textes Worauf stützte sich die „Bonner Redaktion" der S Z bei der Abfassung dieses Textes? Welches waren die eigentlichen Quellen? Text
Quellen
. . . in einem Artikel der Parteizeitung Bayernkurier . ..
1. Ein Artikel der Parteizeitung „Bayernkurier'
. . . hatte in der Extremisten-Debatte des Bundestages am 15. November erklärt: . . . In seiner von der Mehrheit der anwesenden UnionsParlamentarier mit starkem Beifall bedachten Rede...
2. Eine Rede im Rahmen der „Extremisten"Debatte des Bundestages
196
. . . bezeichnet Köppler solche Überlegungen als „nicht verfolgenswert". Auch der Hauptgeschäftsführer der CDU-Sozialau sschiisse, Norbert Blüm, hatte sich gegen den Vorschlag Carstens' gewandt.
3. Äußerungen von Politikern ohne Angabe von Ort, Zeit und Anlaß
. . . schrieb im SPDPressedienst, seiner Meinung nach müsse . . .
4. Pressedienst einer Partei
Wie die Justizbehörde mitteilte,...
5. „Mitteilung" einer Behörde
Der Zeitungstext besteht also zum Teil aus Äußerungen von Politikern ohne nähere Quellenangaben, zum Teil aus Texten, Zitaten, die anderen Kommunikationsmedien, z.B. dem „Bayernkurier", entnommen sind, in denen bestimmte Personen — hier: überwiegend Politiker der CDU/CSU - ihre Meinungen, Vorstellungen usw. äußern. Damit erreichen die Aussagen, die auch in anderen Kommunikationsmedien wiedergegeben sind - hier: „Bayernkurier" - , einen Teil der Leser auch ohne Umweg über die Tageszeitung: die Abonnenten der S Z , die gleichzeitig CSU-Mitglieder sind, also Bezieher des Bayernkuriers".
Politisches System und Massenkommunikationssystem
1.3
Ereignisse
1.4 Wer kommt zu Wort?
Von welchen Ereignissen berichtet der SZ-Text?
Der Text besteht aus Diskussionsbeiträgen, Meinungen, Redezitaten, Äußerungen usw. Wer kommt dabei zu Wort?
Text
Ereignisse
Am Rande der Diskussion
Text
1. Die allgemeine Diskus-
Der Sprecher
Kommunikatoren
für
Straf-
um den Kampf gegen poli-
sion innerhalb der Ge-
rechtsfragen
tischen Extremismus.. .
sellschaft der Bundes-
Landesgruppe
republik Deutschland
Carl-Dieter Spranger,.. .
der CSUin
Bonn,
über ein aktuelles
1. Ein Parteisprecher einer bestimmten Gruppe, der für das betreffende Thema „zuständig" ist
politisches Problem . . . werden Kontroversen
2. Die interne Diskus-
innerhalb der Unionspartei-
sion innerhalb einer
en sichtbar.
großen Partei zum
. . . an der unionsinternen
gleichen Thema und
Diskussion über die von
die dabei auftretenden
Carstens aufgeworfene
Kontroversen
. . . zum
Oppositionsführer
Karl Carstens. Der Fraktionsvorsitzende h a t t e . . .
. . . hatte in der Extredes Bun-
destages am 15. Novem-
3. Eine Rede im Rahmen
im Bundestag in der den Partei
westfälischen misten-Debatte
zende und Führer der Opposition stehen-
. . . gerät aber in Widerspruch zum nordrhein-
Frage . . .
2. Der Fraktionsvorsit-
CDU- Vor-
3. Der Vorsitzende eines Landesverbandes dieser Partei
sitzenden Heinrich Köppler.
einer Bundestagsdebatte
ber erklärt: . . .
Auch der Hauptge-
In seiner... mit starkem Bei-
schäftsführer
fall bedachten Rede ...
Sozialausschüsse,
4. Der Geschäftsführer
der CDU-
eines Ausschusses der Partei
Norbert Blüm,. . . Der Zeitungstext nimmt also Bezug auf eine allgemeine gesellschaftliche Diskussion und auf verschiedene kommunikative Ereignisse, die damit im Zusammenhang stehen. Die Bonner Redaktion der SZ konnte davon nur Kenntnis haben, wenn ihr entweder entsprechende Quellen, d.h. andere Kommunikationsmedien der oben beschriebenen Art, zur Verfügung standen oder aber wenn es für die beschriebenen Sachverhalte und Ereignisse Augen- und Ohrenzeugen gab (vielleicht die Mitglieder der Redaktion selbst).
Kommunikative Ereignisse
>
CSUMitglieder
Zeitung Kommunikationsmedien
Leser
Der
Parlamentarische
Staatssekretär
im
Bundes-
5. Der parlamentarische Staatssekretär des zu-
justizministerium,
ständigen Justiz-
Hans de With schrieb . . .
ministeriums
Wie d ie
Justizbehörde
6. Eine Justizbehörde
mitteilte,... 7. (Indirekt) Teile der Partei, deren Sprecher, Funktionäre, Geschäftsführer usw. sich geäußert haben und dabei Bezug nahmen auf die interne Diskussion, sich im Gegensatz zu dieser befanden oder auch „Beifall", d.h. Zustimmung, bekamen:
197
Studieneinheit 6
... innerhalb der Unionsparteien ... Der Sprecher für Strafrechtsfragen der CSULandesgruppe in Bonn . .. ... in Gegensatz zu weiten Teilen der CDU... ... von der Mehrheit der anwesenden UnionsParlamentarier ...
• die Unionsparteien • CSU-Landesgruppe und CSU-Mitglieder • Teile der CDU • Unions-Parlamentarier
Alle diese Äußerungen, die zunächst z.B. zwischen einzelnen Parteimitgliedern und Parteigruppen ausgetauscht werden, sind - so legt der erste Satz des Textes nahe — auf eine „Diskussion" bezogen, von der allerdings nur das Thema — „Kampf gegen politischen Extremismus" — angegeben wird. Daß die „Teilnehmer" dieser Diskussion dem Leser bekannt sind, wird von der Redaktion offensichtlich vorausgesetzt. Verallgemeinert gefragt: Wer kommuniziert hier miteinander? Doch offensichtlich einzelne und Teilgruppen der (organisierten) Gesellschaft untereinander und/ oder mit anderen einzelnen und Teilgruppen der gleichen Gesellschaft, wobei die einen typischerweise aktiv kommunizieren (sie äußern sich), während die anderen, an die diese Äußerungen gerichtet sind, eher passiv bleiben oder nur innerhalb einer kleineren Öffentlichkeit aktiv werden.
1.5
Die Leistung der Redaktion
Worin bestand nun bei diesem Beispiel die Leistung der „Süddeutschen Zeitung"? • Erstens: Beobachtung und Sammlung von (kommunikativen) Ereignissen und Äußerungen.
• Zweitens: Transformation dieser „Mitteilungen" in eine vermittelbare, d.h. medien- (in diesem Falle: zeitungs-) adäquate Aussage, vor allem durch Selektion und Zusammenfassung. • Drittens: „Vermittlung" an die Leser durch Aufnahme in die am 28.11.1974 erschienene Ausgabe der SZ. Diese Meldung besteht also aus • Mitteilungen von Augen- und Ohrenzeugen über (kommunikative) Ereignisse und • Mitteilungen aktiv kommunizierender Teile der Gesellschaft (in diesem Falle Sprecher, Funktionäre etc. von Parteien), die zum Zwecke der • (Weiter-) Vermittlung durch das Medium Tageszeitung selegiert und transformiert wurden. „Mitteilungen" sind an jemanden gerichtet; „Vermittlung" setzt voraus, daß zwischen zwei oder mehreren Personen oder Gruppen vermittelt wird. Ohne die Zeitung hätten diese parteiinternen Mitteilungen nur einen jeweils kleinen Kreis oder — in einem Falle— nur die Leser der CSU-Parteizeitung erreicht. So aber wird für diese Äußerungen eine größere Öffentlichkeit hergestellt, allerdings nur für einen — wahrscheinlich sehr kleinen — Ausschnitt der ursprünglichen Aussagen. Wel che Aussagen, das haben die zuständigen Mitarbeiter der „Bonner Redaktion" entschieden; aber so sehr sie auch die ursprünglichen Äußerungen verkürzt, vielleicht verändert haben (und dies schon aus Platzgründen tun mußten): es bleiben doch die Mitteilungen derer, die sie außerhalb der Zeitung gemacht haben. Es sind nicht die Redakteure, die hierzu Wort kommen, sondern Politiker, deren Aussagen von den Redakteuren bearbeitet und von der Zeitung weitervermittelt werden.
CSUMitglieder Aktiv Kommunizierende (z.B. Parteien, Interessengruppen, Politiker usw.)
198
Zeitung Kommunikative Ereignisse
Kommunikationsmedien
Leser
Politisches System und Massenkommunikationssystem
1.6 Zusammenfassung Die Analyse des Fallbeispiels, die an jeder beliebigen Zeitungs- oder Fernsehnachricht nachvollzogen werden kann, brachte wichtige Elemente eines Modells, an dem sich die politische Funktion der Massenmedien demonstrieren läßt. Dazu müssen noch einige ergänzende Beobachtungen gemacht werden: • Die einzelnen Mitglieder und die Gruppen einer Gesellschaft können sich durch ihre Kommunikationsmedien untereinander verständigen oder diese auch als „Sprachrohre" nach außen verwenden. Wollen sie sich einer größeren Öffentlichkeit mitteilen, sind sie auf Massenmedien angewiesen. Tageszeitungen, Hörfunk und Fernsehen erreichen die Öffentlichkeit täglich, d.h. sie sind aktuell. Sie enthalten nicht nur Mitteilungen einer Partei, einer Gruppe oder eines Verbandes, sondern potentiell Mitteilungen aller Parteien, Gruppen und Verbände, d.h. sie sind universell. Welche Aussagen von diesen aktuell-universellen Medien weiterverbreitet werden, entscheidet aber letztlich nicht mehr der, der ursprünglich für andere bestimmte Mitteilungen gemacht hat, sondern die Redaktion der Zeitung oder des Rundfunks. Will er die dadurch in der Regel bedingte Veränderung, Verkürzung usw. seiner Mitteilung verhindern, so kann er dies durch eine - bezahlte - Anzeige erreichen. Im kommerziellen Bereich, z.B. in der Wirtschaftswerbung, ist dies eine Selbstverständlichkeit. Ebenso für den Privatmann, der sein gebrauchtes Auto verkaufen oder der Mitwelt die Geburt seines Kindes bekanntgeben möchte. In Ausnahmefällen machen davon aber auch die Regierungen, Parteien und Politiker Gebrauch, um „unverzerrt" und
ohne redaktionelle Eingriffe die eigenen Aussagen und Absichten mitteilen zu können. Diese Möglichkeit ist jedoch durch die hohen Kosten stark eingeschränkt. • Nicht immer stehen — wie ganz offensichtlich in dem analysierten Nachrichtenbeispiel — die Aussagen, die die Redaktion verarbeitet, schon zur Verfügung, weil etwa Politiker sich in einer Rede oder gezielt für die Presse aus eigener Initiative geäußert haben. In vielen für das politische Geschehen durchaus typischen Fällen müssen diese Aussagen erst beschafft werden, müssen z.B. Politiker erst dahin gebracht werden, sich mitzuteilen. Eine charakteristische journalistische Darstellungsform für diese aktive Aussagenbeschaffung ist das Interview. • Anders als in dem analysierten Beispiel werden die Aussagen, die sich schließlich in der Zeitung finden, häufig über eine ganze Kette von Medien weitervermittelt, z.B. über das weltumspannende Netz der Νach rieh tenagen turen. • Das Beispiel läßt kaum erkennen, daß die Journalisten selbst kraft ihres Berufes zu den Gruppen der Gesellschaft gehören, die sich vergleichsweise leicht äußern können, indem sie für ihre eigenen Mitteilungen Öffentlichkeit herstellen. Dafür sind die Meinungsseiten der Zeitungen und die Kommentarsendungen der Rundfunkprogramme eingerichtet worden. • Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die in dem Beispiel vorkommenden politisch-kommunikativen Ereignisse Teil eines universellen Weltgeschehens sind.
Gesellschaft in Kommunikation
Kommunizierende (Individuen, Repräsentanten der pluralistisch organisierten Gesellschaft)
Gruppensprachrohre
Anzeigen
Kommunikative Ereignisse
Kommunikationsmedien
Nachrichtenagenturen__
Massenmedien
>
Gesellschaft in Kommunikation
eigene journalistisch« Mitteilung mediengerechte Selektion und Transformation
Aussagenbeschaffung durch die Agentur oder das Medium
199
Studieneinheit 6
Das analysierte Nachrichtenbeispiel zeigt exemplarisch die wichtigste Aufgabe, die den Massenmedien in einer Demokratie zufällt: Sie müssen die Kommunikation der Gesellschaft in all ihren Ausprägungen vermitteln. Warum eine pluralistische Gesellschaft derart universelle Vermittlungsinstanzen benötigt, soll im folgenden Teil untersucht werden. Dabei geht es vor allem um eine demokratischen Normen entsprechende Funktionsbeschreibung der aktuell-universellen Medien. Die Tatsache, daß die Wirklichkeit diesen Normen nicht immer entspricht, muß in diesem Zusammenhang zunächst
Zur Definition von Kommunikationsrollen
vernachlässigt werden, da erst einmal der theoretische Zusammenhang zwischen dem demokratischen Anspruch einer pluralistischen Gesellschaft, wie der Bundesrepublik, und ihrem Massenkommunikationssystem erläutert werden muß. Zu klären ist also, welche politischen Funktionen die Massenmedien im Prozeß der Meinungs- und Willensbildung erfüllen und auf welche Weise das Funktionieren eines demokratischen Massenkommunikationssystems gewährleistet werden kann. Dazu haben wir auf den folgenden Seiten fünf Thesen aufgestellt.
tator, Publizist, Kritiker oder engagierter Anwalt spezifischer gesellschaftlicher Interessen — diese Funktionen kennzeichnen den Journa listen als Kommunikator.
Kommunikatoren Im Bereich der Massenkommunikation verstehen wir unter Kommunikatoren diejenigen Personen oder Gruppen, die in den Medien mit ihrer Aussage selbst zu Wort kommen oder deren Meinungen durch die Medien vermittelt werden.
Mediatoren Unter Mediatoren verstehen wir die in den Medien Tätigen — vor allem die Journalisten —, die primär das, was Kommunikatoren mitteilen, selegieren, mediengerecht umsetzen und an die Rezipienten weitervermitteln.
Kommunikatoren können sein: Politiker, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, gesellschaftliche oder politische Gruppen bzw. Parteien, aber auch jeder Bürger, jeder Teilnehmer am Kommunikationsprozeß.
Rezipienten Als Rezipienten werden alle Adressaten von Massenkommunikation bezeichnet.
Auch Journalisten treten als Kommunikatoren in den Massenmedien auf, und zwar dann, wenn sie nicht primär die Meinung anderer Kommunikatoren vermitteln, sondern wenn sie ihre eigene subjektive Meinung darlegen, wenn ihre eigene Aussage im Vordergrund steht. Kommen-
Rezipient kann demnach jedermann sein: der Politiker, der Bürger, gesellschaftliche oder politische Gruppierungen, jeder Teilnehmer am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß.
Politiker
Politiker
Parteien
Parteien Journalisten
o Verbände Gesellschaftliche Gruppen
Regierung
200
Vermittler
Verbände
Mediatoren
Gesellschaftliche Gruppen
Regierung
Politisches System und Massenkommunikationssystem
2.
Die politischen Funktionen der Massenmedien
2.1 Das Herstellen von Öffentlichkeit ^ ^ These: Neben den Kommunikationsmedien — vom Flugblatt bis zur Parteizeitung —, die einzelnen oder auch gesellschaftlichen Gruppen sowohl zur Binnenkommunikation als auch als Sprachrohre nach außen dienen, braucht eine demokratische Gesellschaft jene Kommunikationsorgane, die im allgemeinen als aktuelluniverselle Massenmedien bezeichnet werden. „Ich kenne sowenig wie Sie die Verpflichtungen etwa des Reichskanzlers, es ist Sache des Rundfunks, sie mir klarzumachen, aber zu diesen Verpflichtungen des obersten Beamten gehört es, regelmäßig durch den Rundfunk die Nation von seiner Tätigkeit und der Berechtigung seiner Tätigkeit zu unterrichten. Die Aufgabe des Rundfunks allerdings erschöpft sich nicht damit, diese Berichte weiterzugeben. Er hat überdies hinaus die Einforderung von Berichten zu organisieren, das heißt die Berichte der Regierenden in Antworten auf die Fragen der Regierten zu verwandeln. Der Rundfunk muß den Austausch ermöglichen. Er allein kann die großen Gespräche der Branchen und Konsumenten über die Normung der Gebrauchsgegenstände veranstalten, die Debatten über Erhöhungen der Brotpreise, die Dispute der Kommunen" (Brecht, S. 130). „Der Rundfunk muß den Austausch ermöglichen. " Dieser Kernsatz aus einem Aufsatz Brechts von 1932 deutet zwar treffend die kommunikative Aufgabe des Rundfunks, er sagt aber nichts über das Charakteristikum, das den Rundfunk als ein aktuell-universelles Medium kennzeichnet; denn den Austausch von Meinungen ermöglichen auch andere Kommunikationsmedien. Um unser Fallbeispiel aufzugreifen: Auch der „Bayernkurier", das Parteiorgan der CSU, ist ein wesentliches Kommunikationsinstrument für den Meinungsaustausch der CSU-Mitglieder untereinander, das gleichzeitig die politische Teilöffentlichkeit CSU in der Gesellschaft repräsentiert. Welche Personen oder Gruppen kommunizieren nun in den Massenmedien? Brecht nennt den „Reichskanzler" und die „Nation", er führt die „Regierenden" und die „Regierten", die „Kommunen" und die „Konsumenten" an. Ein breites Spektrum, das sich beliebig erweitern
ließe, in das auch die CSU als eine parteipolitische Gruppierung in der Gesellschaft einzuordnen ist. Mit anderen Worten: Im Gegensatz zu anderen Kommunikationsmedien sind die Massenmedien universeller, was die von ihnen vermittelten Inhalte und Meinungen betrifft. Es ist die spezifische Aufgabe der Massenmedien, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu vermitteln, sie zu Wort kommen zu lassen und die verschiedenen Teilöffentlichkeiten in den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß mit einzubeziehen. Der „gesellschaftliche Austausch ist notwendig, weil Kommunikation jeder Entscheidung und jedem Handeln notwendig vorausgeht. Unter den Bedingungen der modernen Großgesellschaft und ihrer komplexen Struktur aber ist dieses notwendige Gespräch nicht mehr durch das Sozialmedium Sprache zu verwirklichen, sondern kann nur durch Massenmedien sichtbar und vernehmbar dargestellt und in Gang gehalten werden" (Wagner [1],S. 22). Die politische Funktion der Massenmedien besteht also darin, daß sie den Raum gesamtgesellschaftlicher Öffentlichkeit herstellen, in welchem die pluralistischen Teilöffentlichkeiten miteinander kommunizieren können. Erst wenn die einzelnen Gruppen in den Massenmedien vertreten sind, erreichen sie eine breite Öffentlichkeit, erhält umgekehrt die Öffentlichkeit einen Überblick über die in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen. Das demokratische Postulat nach Transparenz der politischen Prozesse ist nur dann erreichbar, wenn die Massenmedien tendenziell die gesellschaftliche Kommunikation in ihrer ganzen Bandbreite vermitteln. Die Verfassung der Bundesrepublik garantiert jedem Bürger die Möglichkeit zur Mitwirkung am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß, die Chance zu politischer Partizipation. Das setzt Information voraus. Die vollständige, objektive und verständliche Information der Gesellschaft gehört deshalb zu den politischen Funktionen der Massenmedien. Denn es ist einerseits verständlich, daß ohne Kenntnis der politischen Probleme und Alternativen der einzelne Staatsbürger nicht einmal seine „Nur-Wähler-Rolle" verantwortungsbewußt wahrnehmen kann, wie es andererseits einleuchtet, daß die Gewählten, wollen sie minimalen demokratischen Ansprüchen genügen, über die in der Gesellschaft vorherrschenden Meinungen unterrichtet sein 201
Studieneinheit 6
müssen, um sie in den politischen Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Mit der Informationsfunktion der Massenmedien ist aber untrennbar ihre Artikulationsfunktion verbunden; denn erst wenn möglichst alle relevanten Meinungen zu den politischen Problemen artikuliert werden, können sie in die politische Kommunikation einfließen; erst dann kann von einer optimalen Information der Gesellschaft gesprochen werden; erst dann ist demokratische Willensbildung möglich. Demokratische Willensbildung soll im Idealfall aus der permanenten Diskussion möglichst aller Mitglieder der Gesellschaft entstehen, die wiederum als Legitimationsgrundlage politischer Entscheidungen angesehen wird. Insofern ist es notwendig, daß sich die Massenmedien primär als ein Podium begreifen, auf dem gesellschaftliche Konflikte öffentlich und damit durchschaubar gemacht werden. Die Leistungen der aktuell-universellen Medien für eine demokratische Gesellschaft sind deshalb in erster Linie an ihrer Vermittlerrolle zu messen, an der möglichst vollständigen Wiedergabe des ganzen Spektrums gesellschaftlicher Kommunikation.
Ein als demokratisches Forum verstandenes Massenkommunikationssystem muß für alle in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen zugänglich sein. Voraussetzung für diese Offenheit des Kommunikationssystems ist seine Unabhängigkeit. Anders als in totalitären Systemen, wo die Massenmedien als Sprachrohr der Regierenden fungieren, sollen offene Kommunikationssysteme weder einer einseitigen Interessenbeeinflussung von staatlicher noch von gesellschaftlicher Seite unterliegen. Nur wenn diese Unabhängigkeit gewährleistet ist, wenn sich politische Öffentlichkeit in all ihren Ausprägungen in den Massenmedien manifestieren kann, kann ein demokratischer Staat mit seinen pluralistischen Machtansprüchen funktionieren. Die aktuell-universellen Massenmedien haben eine Integrationsfunktion für die Gesellschaft, indem sie gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit herstellen. Der Anspruch auf Aktualität und Universalität des Inhalts bringt aber häufig eine stark verkürzte Darstellung über die Diskussion in der Gesellschaft mit sich. Hatte die Studieneinheit 5 gezeigt, wie vielfältig innerverbandliche Willensbildung verläuft, so drängt sich leicht der Eindruck auf, daß in den Massenmedien nur die Spitze des Eisberges gesellschaftlicher Kommunikation sichtbar wird. Da die Massenmedien aktuell sein sollen, sind sie oft
Diese Tatsache hat der Soziologe Carl Brinkmann bereits 1930 in seinem Aufsatz „Presse und öffentliche Meinung" dargestellt: „ J e intensiver und sachverständiger die verschiedensten inneren und äußeren Welten für ein immer verwöhnteres und begehrlicheres Publikum eingefangen und durchdrungen werden sollen, desto weniger ist es ,der Journalist' in abstracto, der dieser Aufgabe gewachsen ist, desto mehr muß die Zeitung, wie schon früher die Zeitschrift, zur bloßen Durchgangs-, Sammel- und Ordnungsstelle für Tausende von .Beiträgen' werden, die im Regelfalle nicht mehr unverlangt, sondern im Gegenteil mit äußerster Wendigkeit und oft Gewaltsamkeit aus allen schreibenden und redenden Lebenskreisen der Gesellschaft herangezogen werden. Die alte klassische Form des Interviews . . . macht mehr und mehr dem eigenbestimmten Auftreten des gewonnenen Politikers, Gelehrten, Künstlers Platz" (Brinkmann, S. 379).
darauf beschränkt, ein Thema nur anzureißen, das Problem in die öffentliche Diskussion zu stellen. Ähnlich verhält es sich mit dem Anspruch, möglichst allen relevanten Meinungen Gehör zu verschaffen. Schon die Fülle des vorhandenen Materials bedingt, daß die ursprünglichen Aussagen zumeist auf ihren Kerngehalt reduziert in den Medien erscheinen. Das Bild, das die Massenmedien von der gesellschaftlichen Kommunikation vermitteln, entspricht deshalb häufig — zumindest was den Nachrichtenteil betrifft — einer Zusammenschau der Ereignisse quasi aus der Vogelperspektive. Eine Kurznachricht in der Tageszeitung oder im Fernsehen rückt zwar ein bestimmtes Problem in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit, dennoch ist es notwendig, daß sich die einzelnen Gruppen ein innerverbandliches Forum schaffen, das ihre gruppenspezifischen Interessen ausführlicher darstellt. Parteizeitungen, Verbandszeitschriften, wissenschaftliche Publikationen u.ä. nehmen im System der Massenkommunikation eine Ergänzungsfunktion zu den Massenmedien wahr. Ihre Kommunikationsrolle liegt sowohl in der Bereitstellung vertiefender Informationen über die anstehenden Probleme als auch in der Anregung neuer Diskussionen.
202
Politisches System und Massenkommunikationssystem
Für den Ablauf demokratischer Kommunikationspro-
sind, daß sie mit den ursprünglichen Aussagen nur we-
zesse ist es wichtig, daß das Massenkommunikationssy-
nig gemein haben. Allerdings ist schon aus technischen
stem so angelegt ist, daß die unterschiedlichen kommu
Gründen der Anspruch auf Vollständigkeit der Vermitt-
nikativen Bedürfnisse der Gesellschaft berücksichtigt
lung, im Sinne der vollständigen Wiedergabe einer Aus-
werden können. Das ist aber nur möglich, wenn die
sage, nur selten aufrechtzuerhalten.
Medien die ihnen zukommende Rolle erkennen und wahrnehmen.
Trotz der realen Einschränkungen, denen die Massenmedien bei der Vermittlung gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse unterliegen, gehört das Postulat nach Objektivität zu den wichtigsten demokratischen Kom-
2.2
Das Objektivitätspostulat im Vermittlungsprozeß
^ ^ T h e s e : Es muß sichergestellt werden, daß die Mitteilungen von einzelnen oder Gruppen in der Gesellschaft, die von den Massenmedien vermittelt werden, auch so vermittelt werden, wie sie ursprünglich gemacht wurden.
munikationsnormen; die Öffentlichkeit, die durch die Massenmedien hergestellt wird, muß unverzerrt und unparteilich, also möglichst objektiv die gesellschaftlichen Positionen widerspiegeln. Denn journalistische Objektivität erscheint als „demokratische Informationsgarantie, die den Rezipienten die Wissensgrundlagen für möglichst selbständige, Persönlichkeits- und wirklichkeitsgerechte Verhaltensentscheidungen sichert, weil diese wiederum die Voraussetzung für eine... optimale Teil-
Der Soziologe Helmut Schelsky hat in seinen „Gedan-
nahme und Teilhabe am politischen Prozeß bilden"
ken zur Rolle der Publizistik in der modernen Gesell-
(Saxer, S. 216).
schaft" den Prozeß der Nachrichtenvermittlung durch die Massenmedien folgendermaßen beschrieben: „Hier sind die Publizisten zum großen Teil gar nicht mehr Nachrichtenproduzenten, sondern nur noch Zwischenhändler, Grossisten und Detaillisten der Übermittlung. Die eigentliche Rohstoff Produktion der Nachrichten, das Umsetzen von Tatbeständen in Nachrichten, einst die klassische Leistung des Reporters, ist längst für sich spezialisiert worden und eigenständig betrieblich organisiert. Der Publizist kommt heute, abgesehen von wenigen wichtigen Sachgebieten, an die eigentlichen Tatsachen oder das bedeutsame Geschehen selbst gar nicht mehr unmittelbar heran, sondern er muß sich auf organisierte Informationsquellen verlassen, die ihm Informationen über die Tatsachen als Grundprodukt liefern. Solche organisierten Informationsquellen sind z.B. alle Pressestellen in Ministerien, bei den Kirchen, bei den Gewerkschaften, Betrieben, Universitäten u s w . . . . Die Publizistik vermittelt den modernen Menschen ,Leben aus zweiter Hand'; tatsächlich ist festzustellen, daß sie selbst in der modernen Arbeitsteilung der Informationsindustrie zum größten Teil aus ,zweiter Hand' lebt und selbst nur noch Informationsvermittlung ist" (Schelsky, S. 318 f.).
Der Anspruch auf Objektivität läßt sich sicher nicht auf alle Gebiete journalistischen Handelns übertragen, man denke nur an die Public-Relations- bzw. Öffentlichkeitsarbeit großer Verbände oder Parteien. Für die Massenmedien muß sie jedoch als oberstes Selektionskriterium gelten, um sicherzustellen, daß die politischen Alternativen, die verschiedenen gesellschaftlichen Bedürfnisse adäquat vermittelt werden. Für die aktuell-universellen Massenmedien kommt diese Forderung sehr deutlich in den Rundfunkgesetzen zum Ausdruck: Neutralität, Ausgewogenheit und Objektivität der Berichterstattung, so lauten die Programmrichtlinien für Hörfunk und Fernsehen. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich eine eindeutige Vorstellung über die journalistische Berufsrolle: Der Journalist hat Entscheidungsunterlagen bereitzustellen, und zwar möglichst unverzerrt und vollständig. Entscheidungen herbeiführen, das ist die Sache von Politikern. Der Journalist hat also in den Massenmedien zunächst die Aufgabe, die Kommunikation der Gesellschaft objektiv zu vermitteln, damit der Bürger, der Wähler, die politischen Alternativen kennt.
Die vielfältigen Abhängigkeiten, die sich aus einer arbeitsteiligen Nachrichtenvermittlung ergeben, bergen natürlich die Gefahr in sich, daß die Nachrichten, die in den Massenmedien erscheinen, oft derart verkürzt und verzerrt, zu Rudimenten zusammengeschrumpft 203
Studieneinheit 6
2.3
Die institutionellen Vorkehrungen für die Freiheit der Presse und des Rundfunks in der Bundesrepublik
nicht behandelt werden (siehe dazu den letzten Teil dieser Studieneinheit). Im Bereich der Zeitschriften, wo 1975 über 10 000 Titel im „Leitfaden für Presse und Werbung" verzeichnet waren, steht diese Vielfalt
^ ^ These: Es muß sichergestellt werden, daß von den Massenmedien alle „relevanten" Meinungen aus der Gesellschaft vermittelt werden.
der Presseerzeugnisse für ein innovatives Potential pluralistischer Kommunikationsprozesse. Bei der Organisation des Rundfunks in der Bundesre-
Das Postulat nach Mitteilung möglichst aller relevan-
publik ist die Forderung nach kommunikativer Vielfalt
ten Informationen durch die Massenmedien ist impli-
an das Medium selbst gestellt worden, nicht zuletzt
zit in der Forderung nach Objektivität der Vermittlung
deshalb, weil es nur begrenzte technische Möglichkei-
enthalten. Es ist aber ebenso eine Frage der institutio-
ten gibt, konkurrierende Programme auszustrahlen.
nellen Vorkehrungen, die getroffen werden, damit die
Die öffentlich-rechtliche Organisation des Rundfunks
Massenmedien die ihnen zukommenden Aufgaben im
und ihre verschiedenen Kontrollgremien sollen verhin-
demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß
dern, daß die Hörfunk- und Fernsehprogramme einsei-
erfüllen können.
tiger Interessenbeeinflussung ausgeliefert sind. In die-
Als wichtigste Voraussetzung sind zunächst einmal die verfassungsrechtlichen Garantien anzusehen, die die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Freiheit der
sem Modell ist der Gedanke der aktuell-universellen Vermittlung gesellschaftlicher Kommunikation verankert.
Berichterstattung durch andere Kommunikations- und Massenmedien schützen und die vor allem die Freiheit von jeglicher Zensur und den freien Zugang zu informativen Quellen garantieren. Insbesondere das Verbot jeglicher Zensurmaßnahmen im Grundgesetz soll gewährleisten, daß das Herrschaftssystem und das Kommunikationssystem der Bundesrepublik unabhängig voneinander existieren, daß das Kommunikationssystem offen ist für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation. Diese Verfassungsnormen finden ihren Ausdruck in den unterschiedlichen Organisationsmodellen der Massenmedien in der Bundesrepublik. A n die Tradition der liberalen Presse anknüpfend, wurde das Pressewesen nach 1945 privatwirtschaftlich organisiert; das heißt: der kommunikative Wettbewerb ist durch das Prinzip des wirtschaftlichen Wettbewerbs institutionalisiert. Die wichtigste Garantie dieses Modells stellt die Presse-
2.4
Pressefreiheit: Die Freiheit der Gesellschaft zur Kommunikation
^ ^ These: Es muß verhindert werden, daß die Redakteure (oder die Verleger, die Intendanten, die Programmdirektoren) nur noch ihre eigenen Mitteilungen weitervermitteln oder nur jenen Meinungen eine Veröffentlichungschance geben, die mit ihren eigenen Ansichten übereinstimmen. Hinter beiden Organisationsmodellen — dem des wirtschaftlichen Wettbewerbs und dem öffentlich-rechtlichen Modell — steht derselbe Gedanke, nämlich die Kommunikation der Gesellschaft zu gewährleisten, die Meinungs- und Informationsfreiheit des demokratischen Souveräns, des Bürgers, zu verwirklichen.
freiheit dar, nämlich die Freiheit eines jeden, sich der
Mit dem öffentlich-rechtlichen System wird sich die
Druckerpresse oder anderer Möglichkeiten der Verviel-
folgende Studieneinheit näher beschäftigen. In bezug
fältigung zu bedienen, um auf diese Weise öffentlich
auf die privatwirtschaftlich organisierte Presse ist aber
seine Meinung zu artikulieren. Gleichzeitig steckt in
zu fragen, ob die als „Jedermannsrecht" verbürgte
diesem Modell des wirtschaftlichen Wettbewerbs der
Pressefreiheit in der Realität tatsächlich jedem einzel-
Kontrollgedanke durch den Markt. Mit anderen Wor-
nen und den verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft
ten: Die Rückkopplungsmechanismen des Marktes bin-
gleiche Teilhabechancen am politischen Meinungs- und
den den Verleger bzw. die Redaktion an die Kommu-
Willensbildungsprozeß einräumt.
nikationsbedürfnisse der Leser. Inwieweit dieses Modell im Bereich der aktuell-universellen Tagespresse funktioniert, soll an dieser Stelle
204
Politisches System und Massenkommunikationssystem
Der Kommunikationswissenschaftler Rolf Rich-
ter faßt dieses Problem folgendermaßen zusammen:
„Angesichts der geringen Reichweite und folg-
lich mangelhaften Wirkungschance einer nichtmedialen Meinungsäußerung einerseits, ange-
sichts der — im Hinblick auf die damit verbun-
denen erheblichen Kosten und die faktische ma-
terielle Ungleichheit der Individuen — fehlenden
Zugangschance zum öffentlichen Meinungsmarkt andererseits läuft ein lediglich als Freiheit der Zeitungsgründung und des Zeitungsvertriebs
verstandenes Grundrecht für die weit überwiegende Mehrheit des Volkes leer. Da aber die
Selbstverwirklichung im gesellschaftlichen Zeit-
gespräch als Ausfluß der Verfassungsprinzipien der Menschenwürde und der Gleichheit ein je-
dermann
zustehendes Recht ist, muß Pressefrei-
tion ein. 1980 hielten 42 Prozent der Zeitungsleser
den Lokalteil für unentbehrlich, 1 bzw. 3 Prozent die Lokal-/RegionalInformationen von Fernsehen bzw.
Hörfunk (vgl. Kiefer, S. 278 f.).
Auch der zweite Grund bezieht sich direkt auf das In-
formationsverhalten der Bürger: Es gibt wohl kaum einen „Normalbürger", der sich jeden Tag entsprechend
viele Zeitungen der unterschiedlichsten Richtungen am Kiosk kauft, um sich daraus über alternative Meinun-
gen und Vorstellungen in der Gesellschaft zu informie-
ren. „Dieses Idyll eines Staates von begüterten und gebildeten Pensionären [hat] mit der Wirklichkeit in ei-
nem durchrationalisierten Industriestaat nichts zu tun" (Glotz/Langenbucher, S. 167).
Leitet Richter seinen Anspruch an die aktuell-universel-
len Medien aus den verfassungsrechtlichen Grundsät-
zen der Pressefreiheit ab, so bedeutet das gleichzeitig
heit im Sinne einer Teilhabegarantie als media-
für die in den Medien Tätigen, daß ihnen in bezug auf
eines jeden Bürgers zum öffentlichen Meinungs-
wachsen darf. Pressefreiheit meint nicht Freiheit für ei-
die zeitliche bzw. räumliche Beschränkung des
Sie dient zuallererst der Sicherung der gesellschaftli-
le Kommunikationsfreiheit die gleiche Chance
markt sichern. Das impliziert — im Hinblick auf medialen Darstellungsraums — nicht das subjek-
die Meinungsfreiheit aus ihrer Position kein Privileg ernige hundert Verleger und einige tausend Journalisten.
chen Kommunikationsprozesse.
tive öffentliche und einklagbare Recht, mit je-
dem Artikel oder Leserbrief in jedem gewünschten Programm der Medien zu erscheinen, wohl aber den Anspruch, mit der eigenen, meist
„Kein Zweifel, daß Verleger und Journalist wie
jeder andere Staatsbürger das Recht haben, in
gruppenspezifischen, .wenigstens minimalen
diesem Disput mitzusprechen und die eigene
zeugung' auf dem Forum des sozialen Zeitge-
eigene, prononcierte Meinungen das Gespräch
gesellschaftlichen Normen genügenden Über-
sprächs repräsentiert zu sein" (Richter, S. 89).
Meinung all den anderen hinzuzufügen, durch
in Gang zu bringen und anzuregen. Aber nicht
dies — die Formulierung des eigenen Standpunktes — ist seine .öffentliche Aufgabe', um deret-
Die Forderung nach inhaltlicher Vielfalt ist insbesondere an die aktuell-universelle Tagespresse zu richten. Hierfür sprechen vor allem zwei Gründe:
willen Freiheiten verbürgt werden. Soweit der
Journalist als Vertreter eigener Interessen auf-
tritt, seine persönliche Meinung verkündet, darf er kein Jota mehr an Rechten besitzen wie je-
Zum einen ist die Tageszeitung — wie empirische Da-
der andere Staatsbürger auch. Zuerst und in ih-
nisse besonders wichtig: 1965 behaupteten noch 60
und Verleger ehrliche Makler, Spezialisten zur
ten zeigen — bei der Information über politische Ereig-
rer eigentlichen Berufsrolle haben Journalisten
Prozent der Bundesbürger, sie „erfahren viel oder sehr
Betreuung des geistigen Austauschs der Gesell-
tung, 48 Prozent durch das Fernsehen und 39 Prozent
erst Vertreter ihres eigenen Standpunktes, zu-
ses Verhalten in der Zwischenzeit zugunsten des
erst gleichberechtigte Mitsprecher im demokra-
viel über das politische Geschehen" durch die Tageszei-
schaft zu sein; eben Gesprächsanwälte und dann
durch das Radio (Geißler, S. 10). Auch wenn sich die-
erst Gesprächsleiter und Moderatoren und dann
Fernsehens verschoben hat, so nimmt die Tageszei-
tischen Meinungsbildungsprozeß" (Glotz/Lan-
tung besonders als Informationsquelle für Lokal- und
genbucher, S. 29).
Regionalnachrichten eine eindeutige Spitzenposi-
205
Studieneinheit 6
Die Berufsrolle des Journalisten bringt nicht an sich
in einer demokratischen Gesellschaft gerecht werden,
schon eine privilegierte Stellung im demokratischen
so stellt ihnen diese kommunikative Ungleichheit eine
Meinungs- und Willensbildungsprozeß mit sich. Dies
quasi kompensatorische Aufgabe.
ist besonders für die den Journalisten häufig zugeschriebene Kritik- und Kontrollfunktion von Bedeutung. Zwar hat der Journalist durch seine Tätigkeit in den Massenmedien eher die Möglichkeit, öffentlich Kritik zu üben, er t u t dies jedoch in der Rolle eines Teilnehmers an der politischen Kommunikation und nicht aufgrund einer beruflichen Sonderstellung. Denn demokratische Kritik und Kontrolle sind in erster Linie die Aufgabe der Gesellschaft selbst. Die Medien und die in ihnen Tätigen sind auch hier Vermittler politischer Kommunikation. Sie stellen den Raum der Öffentlichkeit her, in dem sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte kommunikativ selbst kontrollieren. Die Vermittlung der Medien trägt also maßgeblich zur Selbstkontrolle des pluralistischen Gesamtsystems bei.
2.5
Die Massenmedien müssen die gesellschaftlichen Interessen aufgreifen und möglicherweise zuerst artikulieren, wenn einzelne oder Gruppen dieser Gesellschaft nicht selbst dazu in der Lage sind. Denn objektive, vollständige Vermittlung gesellschaftlicher Kommunikation bedeutet nicht nur, daß die vorhandenen Meinungspositionen inhaltlich adäquat, d.h. möglichst unverzerrt wiedergegeben werden. Die Erfüllung des Objektivitätspostulats bedeutet ebenso, daß die als mediale Kommunikationsfreiheit begriffene Pressefreiheit tatsächlich im Sinne eines Zugangsrechts für jeden Bürger, jede gesellschaftliche Gruppierung verstanden wird, und zwar weit über das hinausgehend, was heute bereits im Rahmen presserechtlichen Berichtigungs- und Gegendarstellungsanspruches dem einzelnen gewährt wird.
Mediale Kommunikationsfreiheit — Zugangsrecht für jeden Bürger 3.
^ ^
Die Presse in der Bundesrepublik
These: Es muß sichergestellt werden, daß in den Massenmedien auch einzelne oder Gruppen zu Wort kommen, die sich nicht selbst aktiv zu Wort melden wollen oder können.
Die bisherige Beschreibung der politischen Funktionen
Demokratische Kommunikationssysteme müssen die Informations- und Meinungsfreiheit der Gesellschaft gewährleisten. Im politischen Kommunikationsprozeß kommt dabei den Massenmedien Presse, Hörfunk und
von Massenmedien erfolgte unter dem Aspekt demo-
Fernsehen die Aufgabe zu, ein e allgemeine Öffentlich-
kratischer Kommunikationsnormen. Bezugspunkt die-
keit herzustellen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft
ser Normen ist der „mündige Bürger", der „demokrati-
die Teilnahme an der politischen Meinungs- und Willens-
sche Souverän", wie ihn die Verfassung der Bundesre-
bildung ermöglichen und sichern soll. Mit dieser Funk-
publik darstellt. Es ist allerdings eine Fiktion, daß die
tion nehmen die Massenmedien eine „öffentliche Auf-
politische und gesellschaftliche Realität aus faktisch
gabe" wahr.
gleichberechtigten Individuen oder Gruppen besteht. Nicht zuletzt bezüglich der Macht organisierter Interessen — und damit der gegebenen Ungleichheit im plu-
Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Presse in der Bundesrepublik.
ralistischen System — muß die Erwartung hinsichtlich
Zeitungen und Zeitschriften sind privatwirtschaftlich
eines gegenseitigen, sich kontrollierenden Interessenaus-
organisiert. Das bedeutet einerseits, daß sich die wirt-
gleichs der Gesellschaft relativiert werden.
schaftliche Zielsetzung eines Verlagsunternehmens
Diese Ungleichheit t r i f f t auch auf die Repräsentation politischer Gruppen in den Massenmedien zu. Politische und gesellschaftliche Institutionen wie Regierung, Opposition, Gewerkschaften, Verbände u.ä. haben es wesentlich leichter, in den Medien zu Wort zu kommen, als nicht-organisierte Interessen. Dies ist in erster Linie
nicht von der eines anderen Wirtschaftsbetriebes unterscheidet: Auch ein Verlag will Gewinne erzielen, muß also rentabel arbeiten. Andererseits ergibt sich ein erheblicher Unterschied gegenüber anderen Unternehmen aus dem zu verkaufenden Produkt: ^ ^
„Zeitungen und Zeitschriften sind Produkte gei-
bedingt durch ihre Institutionalisierung im politischen
stiger Leistungen (Redaktion). Sie entstehen in
System. Wollen aber die Massenmedien und die in ih-
einem wirtschaftlichen Organismus (Verlag), wo-
nen tätigen Journalisten ihren politischen Funktionen
bei ihrem Absatz (Vertrieb) ein aufwendiger tech-
206
Politisches System und Massenkommunikationssystem
der Anzeigenkreis weitgehend von der Reich-
Zeitungsstatistik 1982*
weite des Presseorgans abhängig ist. Umgekehrt ermöglicht ein großes Anzeigenaufkommen eine restriktive Bezugspreispolitik oder ein stär-
Gesamtauflage der Zeitungen (einschl. der Wochen- und Sonntagszeitungen):
26,9 Millionen
Tageszeitungen insgesamt (Zeitungen mit häufiger als einmaligem Erscheinen pro Woche):
21,2 Millionen
davon lokale und regionale Abonnementszeitu ngen : überregionale Zeitungen: Straßenverkauf szeitungen : Sonntagszeitungen: Wochenzeitungen :
13,3 0,9 6,9 3,8 1,8
Zahl der Tageszeitungen: davon lokale und regionale Abonnementszeitungen : überregionale Zeitungen: Straßenverkaufszeitungen: Zeitungsausgaben insgesamt: Publizistische Einheiten: Zahl der Sonntagszeitungen: Zahl der Wochenzeitungen:
keres redaktionelles Angebot, was wiederum die Gewinnung zusätzlicher Leser erleichtert und begünstigt" (Schütz [ 2 ] , S. 670).
Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen
392
Die privatwirtschaftliche Struktur der Presse und ihre öffentliche Aufgabe Aus der Tatsache, daß Zeitungs- und Zeitschriftenverlage ihre Produkte auf dem Leser- und auf dem Anzeigenmarkt zugleich verkaufen, ergibt sich eine in der Diskussion u m die Pressefreiheit häufig aufgeworfene
381 4 7 1 258 124 3 46
Frage: Kann eine Presse, die privater Verfügungsgew a l t unterstellt ist, ihre öffentliche Aufgabe in einem demokratischen Kommunikationssystem überhaupt erfüllen? Viele K r i t i k e r glauben nachweisen zu können, daß insbesondere die deutsche Tagespresse in der Erfüllung
Leserdichte: Auf je 1 000 Einwohner kommen in der Bundesrepublik einschließlich Berlin 419 Zeitungsexemplare, davon 339 Tageszeitungsexemplare.
Gerade in der Abhängigkeit von den Anzeigen — rund
•Die Zeitung, Nr. 1/1983, S. 6 (nach IVW, 111/1982)
zwei D r i t t e l der Erlöse stammen aus dem Anzeigenvo-
ihrer publizistischen Aufgaben durch wirtschaftliche Zwänge beeinträchtigt w i r d .
lumen, und nur ein D r i t t e l w i r d durch Verkauf erzielt — sehen manche K r i t i k e r eine gravierende Gefahr für die K o m m u n i k a t i o n s f r e i h e i t : nischer Herstellungsprozeß (Satz und Druck) vorausgeht. Unabhängig von der Höhe der Auflage fällt bei Presseorganen ein erheblicher A u f w a n d für die redaktionelle und technische Vorbereitung an. Da der A n t e i l dieser Kosten hoch ist, hat die Höhe des Absatzes (ausgedrückt durch die verkaufte Auflage) entscheidenden Einfluß auf das wirtschaftliche Ergebnis. Die Bedingungen, unter denen publizistischer Wettbewerb gleicher oder ähnlicher Leistungen stattfindet, sind daher — bei unterschiedlicher Auflagenhöhe — von ungleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen in der P r o d u k t i o n bestimmt. Zeitungen und Zeitschriften werden zudem auf zwei verschiedenen Märkten getrennt angeboten und
„Speziell die Anzeigenabhängigkeit und damit verbunden die ständige potentielle Gefährdung der ökonomischen Basis durch die Verquickung m i t den Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft, deren konstituierendes Merkmal jene spezifische F o r m der P r o d u k t i o n bildet, die auf dem Gegensatz von abhängiger Lohnarbeit und Verfügungsgewalt über Kapital beruht, hat offenbar Auswirkungen nicht nur darin, daß es den Werbetreibenden gelingt, m i t u n t e r gezielt Einfluß auf die redaktionelle Gestaltung einzelner Publikationsorgane zu nehmen, sondern viel schwerwiegender dahingehend, daß publizistische Anpassung an die Ideologie des bestehenden Sozial-Gefüges sich verfestigt" (Schmidt, S. 14).
abgesetzt: auf dem M a r k t der Leser als publi-
Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gegen eine pri-
zistische Erzeugnisse und auf dem Anzeigen-
vatwirtschaftliche Pressestruktur steht seit Jahren ein
m a r k t als Werbeträger. Beide Märkte hängen
Thema im Vordergrund der wissenschaftlichen und po-
aber gegenseitig voneinander ab: Eine große
litischen Diskussion über Pressefragen: die fortschrei-
Zahl von Lesern oder ein spezifischer Leserkreis
tende wirtschaftliche und publizistische
ist Voraussetzung für hohe Anzeigenerlöse, da
vor allem im Bereich der Tageszeitungen.
Konzentration,
207
Studieneinheit 6
Die Entwicklung von Vertriebs- und Anzeigenerlösen sowie Gewinnen bei Abonnementszeitungen je Monatsstück Vertriebserlöse Jahr 1954 1960 1965 1970 1973 1976
DM
%
3,48 4,08 5,06 5.88 7,64 10,09
53 40,3 33,2 29,8 29,6 33,4
Anzeigenerlöse
%
DM 3,06 5,96 10,07 13,73 17,93 19,91
sonstige Erlöse
46,6 58,9 65,9 69,5 69,5 66,0
DM
%
0,03 0,08 0,13 0,14 0,22 0,18
0,4 0,8 0,9 0,7 0,9 0,6
insgesamt Erlöse
Zeitungsgewinne
DM
DM
6,57 10,12 15,26 19,75 25,79 30,18
0,41 1,24 2,07 1,65 2,35 4,29
1) U m Erlöse, Gewinne und Kosten von Zeitungen mit verschieden hoher Auflage vergleichen zu können, werden die Zahlen auf ein durchschnittliches Monatsexemplar (Monatsstück) errechnet. (Bericht der Bundesregierung 1978, S. 34)
Konzentrationsentwicklungen
Ein-Zeitungs-Kreise
in der Bundesrepublik
im Jahre
1976*
Die Entwicklung der deutschen Tagespresse nach 1945 läßt sich anhand einiger Daten (nach Schütz [1]) folgendermaßen zusammenfassen:
•
Die Zahl der Zeitungsverlage ist zwischen 1954 und 1983 um 38 Prozent zurückgegangen: von 624 auf 385. Die verkaufte Auflage stieg im
-CT
gleichen Zeitraum von 13,4 Millionen Stück auf 21,2 Millionen. Die steigenden Auflagen der deut-
Berlin
schen Tagespresse werden also von immer weniger Verlagen produziert. Ländergrenzen
•
Die Zahl der „Publizistischen Einheiten" — darun-
Gebiete mit nur einer örtlichen Zeitung 1976
ter versteht man alle Zeitungen, die mit dem gleichen „Zeitungsmantel" erscheinen, d.h. den aktuell-politischen Teil, zumeist die ersten Seiten, im wesentlichen selbst redigieren — ist um 4 5 Prozent zurückgegangen: 1954 existierten noch 225, im Frühjahr 1983 nur noch 125 selbständige Zeitungen. Im Vergleich dazu war die deutsche Zeitungslandschaft 1949 nach Aufhebung des alliierten Lizenzzwanges — trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten — vielfältiger als heute: Die Anzahl im Herbst 1949 betrug 137 Zeitungen. •
1954 gaben die 624 Verlage 1500 örtliche bzw. regionale Ausgaben heraus; 1983 stammten von den vorhandenen 385 Zeitungsverlagen noch 1255 Ausgaben.
208
* Bericht der Bundesregierung 1978, S. 17
Politisches System und Massenkommunikationssystem
•
Ende 1954 wurde in 85 kreisfreien Städten und Landkreisen nur eine Zeitung mit aktueller lokaler
Lokale Zeitungsmonopole
Berichterstattung angeboten. Die Zahl dieser „EinZeitungs-Kreise" ohne lokale Konkurrenzsituation
Von der Kommunikationswissenschaft liegen bisher
ist 1983 auf 154 angestiegen, d.h. auf rund 47 Pro-
nur sehr widersprüchliche Ergebnisse darüber vor, ob
zent aller Kreise. In solchen Gebieten lebte 1954
die publizistischen Leistungen im lokalen Bereich von
nur jeder zwölfte Bewohner der Bundesrepublik,
Zeitungen, die in ihrem Gebiet eine Alleinstellung ha-
1983 aber schon mehr als jeder Dritte. 21,7 Millio-
ben, schlechter sind als die von Zeitungen, die sich in
nen Bundesbürger sind also - ohne Wahlmöglich-
einer Wettbewerbssituation befinden. Gegen die Ver-
keit bei der Lokalberichterstattung - auf eine be-
mutung, daß örtliche Zeitungsmonopole eine Beein-
stimmte örtliche Zeitung angewiesen.
trächtigung der Meinungsvielfalt und damit der publizistischen Leistung mit sich bringen, sprechen die Er-
Konzentrationsprozesse sind in erster Linie auf ökono-
gebnisse von Elisabeth Noelle-Neumann. In ihrer Stu-
mische Ursachen zurückzuführen. Die Grenzen zwi-
die „Folgen lokaler Zeitungsmonopole" konnte „eine
schen Kooperations- und Konzentrationserscheinun-
Einschränkung publizistischer Leistung von Tageszei-
gen lassen sich häufig nur schwer bestimmen. Denn un-
tungen nach Erringen einer lokalen Monopolstellung. .
ternehmerische Konzentration bedeutet nicht unbe-
nicht festgestellt werden". Darüber hinaus haben sich
dingt auch publizistische Konzentration — man denke
auch keine „Anhaltspunkte eines Mißbrauchs der Mo-
an die „Mehr-Zeitungs-Verlage". Umgekehrt stellt die
nopolstellung" ergeben (Noelle-Neumann, S. 23 ff.).
rechtliche Selbständigkeit einzelner Verlage keine Garantie ihrer publizistischen Unabhängigkeit dar. Auf dem Pressemarkt sind verschiedene Arten von Kooperations· und Konzentrationsvorgängen zu beobachten. Viele Verleger versuchen, z.B. durch die Zusammen legung von Redaktionen, durch die Übernahme des Zeitungsmantels von einer größeren Zeitung oder durch weitgehende Kooperationsmaßnahmen auf dem Anzeigensektor die steigenden Betriebskosten zu senken und die Erlöse auf dem Anzeigenmarkt zu verbessern. Allerdings fühlen sich manche auch gezwungen, ihre Zeitung einzustellen oder zu verkaufen, da sie nicht mehr rentabel arbeitet.
Diese Ergebnisse stehen allerdings im Gegensatz zu mehreren anderen Untersuchungen, in denen nachgewiesen werden konnte, daß Zeitungen dort ihre publizistischen Leistungen — zeitweilig eklatant — reduzierten, wo sie keinem Konkurrenzdruck auf lokaler Ebene ausgesetzt waren (vgl. Aufermann [2] ). Allgemein ist jedoch festzustellen, daß die lokale Berichterstattung sowohl von Zeitungen mit Monopolstellung als auch in Wettbewerbsgebieten häufig vernachlässigt wird. Diese Tatsache muß deshalb betont werden, da auf diesem Sektor die Komplementarität von Fernseh- und Hörfunkprogrammen fehlt, die Bür-
Von dieser Entwicklung waren bisher in der Hauptsa-
ger auf die lokale Berichterstattung der Tageszeitung
che Zeitungen mit einer Auflage unter 40 000 Exem-
also besonders angewiesen sind.
plaren betroffen — kleine Zeitungen also, deren publizistische Leistungen im Vergleich zu größeren oft ungenügend waren. So gesehen, mag in der Konzentration auf wirtschaftlich rentable Einheiten auch ein Vorteil
Akkumulierung von Marktanteilen
für den Leser liegen: ihm steht ein besseres publizistisches Angebot zur Verfügung. Aufgrund mangelnder empirischer Ergebnisse lassen sich besorgniserregende Auswirkungen der Konzentrationsprozesse auf die Pressefreiheit bisher nur vermuten. Walter J. Schütz, der die Entwicklung der deutschen Presse über Jahre hinweg kritisch beobachtet hat, prognostiziert Gefahren vor allem •
bei Zunahme der örtlichen Zeitungsmonopole und
•
bei der zunehmenden Akkumulierung von Marktanteilen auf wenige Verlage.
Auch die zweite Vermutung, daß die Akkumulierung von Marktanteilen auf dem Pressemarkt durch wachsen de Auflagenkonzentration auf wenige Verlage eine den gesellschaftlichen Interessen zuwiderlaufende, schwer kontrollierbare publizistische Macht darstellt, die möglicherweise auch politischem Mißbrauch ausgesetzt ist, läßt sich bisher nicht eindeutig belegen.
209
Studieneinheit 6
Die A n h ä u f u n g publizistischer Macht in den Händen weniger Verleger findet in der Bundesrepublik auf verschiedene Weise statt, wie hier an zwei Beispielen (Stand 1975) aufgezeigt werden soll: •
D u r c h Zusammenschlüsse v o n Zeitungen u n d Zeitschriften zu Zeitungs- oder Zeitschriftengruppen. Beispiel:
Hannoversche Allgemeine Zeitung, Herausgeber: Verlagsgesellschaft Madsack & Co.
Verlagsgesellschaft Madsack & C o . Hannoversche Allgemeine Zeitung Auflage
beteiligt"
_
182 000 liefert Mantel an
Deutsche Drucku n d Verlagsgesellschaft m b H
12 Zeitungen RheinischWestfälische Verlagsgesell.schaft m b H •
~~-Peiner Allgemeine Zeitung (20 300) - G ö t t i n g e r Tageblatt S (53 400) a» - N e u e Hannoversche Presse Ί (ca. 6 0 000) < - S t u t t g a r t e r Zeitungsverlag G m b H (Stuttgarter Zeitung - 185 000; Stuttgarter Nachrichten - 155 000)
" - H a m b u r g e r Morgenpost (313 400) -Westfälische Rundschau g (256 000) ® - N e u e Hannoversche Presse Ü (ca. 6 0 000) < - F r a n k e n p o s t (80 500) - N e u e Presse (28 800) - N o r d b a y e r i s c h e r Kurier - (38 700) c (O - N e u e Ruhr-Zeitung (281 000) '55 c _OJ
D u r c h das Entstehen von Multi-Media-Konzernen, Unternehmen also, die verschiedene Medien herausgeben und in denen Betriebe verschiedener Produktionsstufen zusammengefaßt sind. Beispiel:
Bertelsmann Verlags A G , Gütersloh (Holding mit 122 Firmen)
Seit 1975 70 Prozent der Besitzanteile an Grüner und Jahr A G & Co. K G . 19 361 Mitarbeiter (davon 5 4 8 8 bei Gruner u n d Jahr); Konzernumsatz 1973/74 1855 M i o . D M (davon 6 9 2 M i o . D M v o n Gruner und Jahr). Die Bertelsmann A G - ohne Gruner und Jahr - teilt sich in vier Unternehmensbereiche: 1. Buch- und
Schallplattengemeinschaften
Umsatz 1973/74: 577 M i o . D M 2. Verlage (Fachzeitschriftenverlage, Buchverlage, Part Works) Umsatz 1973/74: 111 M i o . D M 3. Technik
(Papierfabrik, Schallplattenherstellung, Druckereien, grafische Betriebe,
Adressen-Informationsdienst) Umsatz 1973/74: 241 M i o . D M 4. Musik,
Film,
Fernsehen
(Schallplatten, Musikkassetten, Film, Werbefilm)
Umsatz 1973/74: 2 3 4 M i o . D M Gruner und Jahr 210
Stern, Brigitte, Capital, Eltern, Schöner Wohnen, Essen und Trinken, G o n g
Politisches System und Massenkommunikationssystem
Kritiker befürchten besonders eine Gefährdung der Pressefreiheit durch weitere Konzentrationsvorgänge im Bereich der Tagespresse. Sie nehmen an, daß eine immer größere publizistische und wirtschaftliche Macht in den Händen weniger Verleger dazu führt, daß • die journalistische Unabhängigkeit gegenüber dem Verleger beeinträchtigt wird, da die Chancen, zu einer anderen Zeitung zu gehen, in einen anderen Verlag überzuwechseln, sinken; • besonders engagierte und kritische Meinungen kein Forum mehr finden; • der Rezipient weniger Wahlmöglichkeiten hat und dadurch seine Informationsfreiheit eingeschränkt wird; • sich das publizistische Angebot vor allem in lokalen Gebieten mit nur einer Zeitung bedeutend verschlechtert; • die Verbindungen zwischen Industrie und Großverlagen enger werden und sich im Inhalt der Medien niederschlagen. *
Vorschläge zur Erhaltung der Pressefreiheit Vorschläge für kommunikationspolitische Maßnahmen sind von verschiedenen Seiten vorgelegt worden. Hierbei sind drei grundsätzlich verschiedene Standpunkte zu erkennen: •
Konzepte, die auf eine Veränderung der sozio-ökonomischen Struktur der Presse gerichtet sind, die sich also gegen eine privatwirtschaftlich organisierte Presse richten. Unter anderem wird dabei vorgeschlagen, Einrichtungen zu gründen, die die Erlöse aller Zeitungen aus dem Anzeigengeschäft gleichmäßig auf alle Zeitungen verteilen, bzw. die Presse, ähnlich wie den Rundfunk, einer öffentlich-rechtlichen Kontrolle zu unterstellen (vgl. hierzu Aufermann, Holzer, Schmidt).
• Kommunikationspolitische Forderungen, die unter grundsätzlicher Beibehaltung der heutigen Struktur auf eine finanzielle Unterstützung der Presse durch den Staat abzielen. Mit Subventionsmaßnahmen soll erreicht werden, daß eine möglichst große Vielfalt an Tageszeitungen erhalten bleibt.
• Konzeptionen, die die Pressekonzentration aus der Sicht des einzelnen Lesers beurteilen und die zwischen wirtschaftlicher und publizistischer Konzentration unterscheiden. Sie verfolgen die Absicht, nicht die Vielfalt der Zeitungen, sondern die Vielfalt der Inhalte in den Zeitungen gesetzlich absichern zu lassen. Der zuletzt genannte Ansatz, der bisher nicht näher erläutert wurde, ist in dem nun folgenden Aufsatz von Hans Wagner dargestellt.
3.1
Die unverstandene Pressekonzentration V o n Hans Wagner*
Alle reden von der Bedrohung der Meinungsfreiheit. Zwei Tatsachen sind es vor allem, die in den 60er Jahren dieser Diskussion Auftrieb gegeben haben. Die eine war der vergebliche Versuch der deutschen Zeitungsverleger, Lizenzen zur Einrichtung eines Privatfernsehens, genauer eines Verlegerfernsehens, zu erhalten. Die Konkurrenz der öffentlich-rechtlichen Hörfunkund Fernsehmonopole, so argumentierten die Verleger, führe zu ruinösen Wettbewerbsverzerrungen auf dem Kommunikations-, insbesondere aber auf dem Werbemarkt. Zahlreiche kleine und mittlere Tageszeitungen seien vom Tod bedroht oder schon eingegangen. Mithin sei durch den Monopolrivalen nicht nur die Existenz einzelner privatwirtschaftlicher Unternehmen gefährdet, sondern die Vielfalt der Zeitungen. Nur die Vielfalt der Zeitungen aber garantiere die Artikulation aller Meinungen, den freien Meinungsaustausch innerhalb einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft (1). Was hier zunächst noch als Folge einer Wettbewerbsverzerrung präsentiert wurde, prägte als zweiter Tatbestand die Auseinandersetzung um die Bedrohung der Meinungsfreiheit in den letzten Jahren weit nachhaltiger: die Pressekonzentration. Seitdem die Studenten mit der Parole „Enteignet Springer" zu den Druckund Verlagshäusern des größten deutschen Pressekonzerns zogen, seitdem Schlagwörter wie „Manipulation" und „Bewußtseinsindustrie" aus der Terminologie „kri*
Gekürzte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes aus: Stimmen der Zeit, Band 186, Heft 7, Juli 1970, S. 1 - 1 7 .
1 ) Vgl. Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (Hrsg.) : Pressefreiheit und Fernsehmonopol. Bad Godesberg 1964.
211
Studieneinheit 6
tischer" Theoretiker in die Umgangssprache emportauchten, vermeint jeder genau zu wissen, was seine Meinungsfreiheit beeinträchtigt, behindert oder gefährdet: die Pressezaren und ihre Imperien nämlich, die Lokalmonopole, die Hörfunk- und Fernsehmonopole, kurzum die kapitalistische Struktur der Massenmedien. In der Tat artikulierte hier eine gesellschaftskritische Avantgarde das Unbehagen vieler Gruppen am Informationsgebaren der Massenmedien. Und sie lieferte mit dem Angriff auf die Pressekonzentration gleichzeitig eine plausible Sündenbocktheorie. So handelte denn die Regierung angesichts der kommunikationskranken Gesellschaft wie die Mutter eines kranken Kindes bei den Papuas. Sie bat die nächstliegenden Medizinmänner um Beschwörung, Zauber und Rezepte. Das Ergebnis ist offenkundig. Die Medizinmänner stehen noch immer um das Lager der kommunikationskranken Gesellschaft. Sie wissen immer noch nicht, ob man das Konzentrationsgeschwür durch Teilamputation (Marktanteilsbegrenzung etwa) direkt bekämpfen soll oder ob man es neutralisieren könnte durch Stärkung scheinbar bedrohter Nachbarzellen mit Vitaminspritzen (Subventionen für bedrohte Unternehmen z.B.) oder durch Frischzellenbehandlung (Sicherung der inneren Pressefreiheit durch Redaktionsstatute). Was aber das schlimmste Übel ist: Über all das wird beraten, obwohl man sich noch nicht einmal darüber schlüssig ist, ob das Konzentrationsgeschwür überhaupt auf den Nerv der Meinungsfreiheit drückt und die partielle Kommunikationslähmung unserer Gesellschaft wirklich verursacht. Pressekonzentration und die Misere der K o m munikation Der Vorgang der Pressekonzentration läßt sich mit ein paar nüchternen Zahlen darstellen. Die Anzahl der Vollredaktionen ist seit 1954 stetig zurückgegangen. Nach den Pressestatistiken von Walter J. Schütz lösten sich über ein Drittel dieser „Publizistischen Einheiten" (2) zwischen 1954 und 1969 auf, ihre Zahl sank von 225 auf 148 (Stand 1983: 125*). Auch die Anzahl der Zeitungsausgaben (3) ist rückläufig, wenn auch nicht in dem Maße wie bei den Vollredaktionen. Während die 225 publizistischen Einheiten des Jahres 1954 1500 Ausgaben produzierten, stammten von den 183 Einheiten im Jahre 1964 noch 1495 Ausgaben (1983: 1255 Ausgaben). Das heißt: Immer weniger Verlage und Vollredaktionen produzieren immer mehr Ausgaben, die sich nur durch die lokalen Wechselseiten un212
terscheiden. Außerdem hat sich im Zug dieser Entwicklung auch die Zahl der „Ein-Zeitungs-Gebiete", also der Lokalmonopole, ständig vermehrt, und zwar von 85 im Jahre 1954 bis auf 129 im Jahr 1966 (1983: 154). Vom sogenannten „Zeitungssterben" sind in der Hauptsache Zeitungen mit einer Auflage unter 40 000 betroffen. Obwohl in der jüngeren Entwicklung, seit 1973, auch größere Zeitungen ihr Erscheinen eingestellt haben, so läßt sich doch im Anschluß an die Untersuchungsergebnisse von Elisabeth Noelle-Neumann feststellen, daß die vor allem betroffenen Auflagenklassen hinsichtlich ihrer Informationsaufgabe nicht leistungsfähig genug sind. Das trifft vor allem für die Abhängigkeit dieser Blätter von meist nur einer einzigen Informationsquelle (Nachrichtenagentur) zu (4). Die umfassende Vermittlung von Informationen und Meinungen in der Tageszeitung hat im Zeitalter der globalen Kommunikation so große technische und wirtschaftliche Voraussetzungen, daß schon allein von daher eine weitere Konzentrationsbewegung nicht aufzuhalten ist. Diese Konzentrationsentwicklung muß viel eher als ein Gesundschrumpfungsprozeß betrachtet werden, ohne den in Zukunft ein optimaler kommunikativer Vermittlungsdienst durch die Tagespresse nicht möglich ist. A priori jedenfalls bedroht dieser Prozeß die Meinungsfreiheit nicht. Wollte man diesen Prozeß aber durch die Subventionierung kleiner und kleinster Unternehmen der Tagespresse aufhalten, so würde dadurch die Verwirklichung der Meinungsfreiheit wohl kaum gefördert. Dieser Feststellung steht nun allerdings die These von der Vielfalt der Zeitungen als der Voraussetzung für die Artikulation der vielen Meinungen entgegen, wie sie nicht nur von den Verlegern, sondern in seltener Einmütigkeit von allen Parteien des Bundestages, von
*
Neueste Zahlen nach Walter J. Schütz. Deutsche Tagespresse 1983. In: Media Perspektiven, Heft 3/1983, S. 1 8 1 - 2 0 3 .
2)
Vgl. Seite 208 dieser Studieneinheit.
3)
Die Zeitungsausgabe ist die kleinste statistische Zähleinheit; als Ausgabe gilt jede Zeitung, „die sich durch inhaltliche Abweichungen (in der Regel im Lokalteil), zum Teil auch nur durch den Titel, von anderen Zeitungen unterscheidet" (Fischer-Lexikon Publizistik, S. 158).
4)
Elisabeth Noelle-Neumann: Pressekonzentration und Meinungsbildung. In: Pressefreiheit. Entwurf eines Gesetzes zum Schutz freier Meinungsbildung und Dokumentation des Arbeitskreises Pressefreiheit. Berlin, Neuwied 1970; im folgenden zitiert als: Pressefreiheit.
Politisches System und Massenkommunikationssystem
der Michel-Kommission (5), der Günther-Kommission
Sieht man die Verwirklichung der Meinungsfreiheit 1-
(6) und ebenso von den Mitgliedern des Professoren-
lerdings in diesem „selbstregulierten" liberal istischen
Arbeitskreises „Pressefreiheit"!?) vertreten wird. Die-
Marktplatz aller Medien, so träfe in der Tat zu, was die
se Vielfaltthese ist ein so zentraler Argumentations-
Vertreter der Vielfaltsthese behaupten: Jede Einschrän-
punkt, daß sie näher beleuchtet werden muß. Ihre Wur-
kung der Vielfalt der Blätter wäre eine Beeinträchtigung
zeln hat sie in dem epochalen Kampf um die Durchset-
der Meinungsfreiheit. Jede Zusammenballung vieler
zung der Menschenrechte, im Kampf um die Meinungs-
Blätter in einer Hand wäre eine Gefährdung der Mei-
und Pressefreiheit gegen die monopolen absolutistisch-
nungsfreiheit. — Indessen darf nicht übersehen werden,
autoritären Publikationsansprüche. V o n daher trägt al-
daß diese „Selbstregulierung" nach dem liberalistischen
lerdings diese Vielfaltthese auch bereits das Stigma ei-
Modell nie funktioniert hat und daß eintrat, was Wil-
ner individualistisch-liberalistischen Verfälschung eben
bur Schramm so beschreibt: „Wie in den alten autori-
dieser Meinungsfreiheit, die es zu erkämpfen galt.
tären Tagen fiel die Presse in die Hände einer mächtigen Clique. Natürlich waren diese neuen Beherrscher
Nach der liberalistischen Theorie der Presse (8) ist die-
der Presse in den meisten Fällen nicht die politischen
se nicht mehr ein Instrument der Regierung, sondern
Herrscher. Es ist eine Tatsache, daß sie die Presse ri-
eine Einrichtung zur Artikulation der verschiedenen
goros vor der Regierung schützten. Aber es ist auch ei-
Meinungen, auf deren Basis das Volk die Regierung
ne Tatsache, daß die auf so wenige beschränkte Kon-
kontrollieren und selbst zu einer politischen Meinungs-
trolle durch die Presse eine neue, unausgeglichene
bildung gelangen kann. Deshalb muß die Presse von je-
Macht in den Händen der Eigentümer und Verwalter
der Kontrolle durch die Regierung frei sein. Jedermann
der Medien schuf"(9).
muß die Möglichkeit haben, durch die Presse frei seine Meinung zu äußern, der Zugang zum freien Marktplatz
Damit aber gelangen wir zum Grund des gegenwärti-
der Gedanken muß jedem offenstehen, den Minoritä-
gen kommunikationspolitischen Dilemmas und zugleich
ten ebenso wie den Majoritäten, den Schwachen ebenso
zur Wurzel unserer Kommunikationsmisere. Unsere
wie den Starken. Entscheidend ist, daß nach dieser libe-
Kommunikationspolitiker sind nämlich blind für zwei
ralistischen Auffassung die Meinungsfreiheit ein natür-
Erkenntnisse, die Carl Theodor Welcker schon 1830
liches, dem Individuum angeborenes Recht ist, das von
in seiner Schrift über „Die vollkommene und ganze
niemandem eingeschränkt werden darf, das an keine
Preßfreiheit" so formulierte: „Der Gebrauch der Pres-
Pflicht gegenüber der Gesellschaft gebunden ist.
se hat jene älteren Organe der Mitteilung durch seine größere Wirksamkeit und Leichtigkeit vielfach außer
Für jede Meinung ein Organ? Unter diesen Auspizien konkretisierte sich der freie Zu-
5)
Bericht der Kommission zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk/Fernsehen und Film (Michel-Bericht). Bundestags-Drucksache V/2120. Bonn 1967. Die Untersuchungen der Michel-Kommission führen u.a. zu dem Schluß, „daß der von den Zeitungsverlegern geäußerte Vorwurf einer Wettbewerbsverzerrung zu Unrecht erhoben wird" (Fischer-Lexikon Publizistik, S. 79).
6)
Bericht der Kommission zur Untersuchung der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz von Presseunternehmen und der Folgen der Konzentration für die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik (Günther-Kommission). Bundestags-Drucksache V/3122. Bonn 1968. Die Ergebnisse, die im Günther-Bericht vorgelegt wurden, „bestehen im wesentlichen in einer Reihe von praktischen Vorschlägen zur Minderung oder Abwendung der Folgen der Pressekonzentration" (Fischer-Lexikon Publizistik, S. 80).
gang zur Presse so, daß diejenigen, welche die Mittel und die Macht dazu hatten, Zeitungen gründeten und diese Zeitungen als Sprachrohre ihrer individuellen Meinungsfreiheit sahen. So entstand eine Presselandscbaft, in der jede Meinung und jede Meinungsgruppe durch ein eigenes Organ vertreten war. Der Marktplatz der Meinungen war nur zu begreifen als die Gesamtheit aller vorhandenen Organe, als die Vielfalt der Zeitungen insgesamt. Die Zeitungen wurden nicht zum sozialen Kommunikationsmittel, sondern zum individuellen. Das Ergebnis war eine Vielzahl von Medieneinheiten, die sich mit je verschiedenem politischen Standpunkt dem Leser anboten. Meinungsgruppen, die kein eigenes Organ besaßen, waren nicht in der Lage, sich öffentlich zu artikulieren. Denn es wurde immer schwerer — insbesondere für die schwächeren Gruppen —,
7) Dieser Arbeitskreis konstituierte sich im Frühjahr 1968 ohne Auftrag aus der Initiative von Professoren und Instituten der Universitäten Mainz, Gießen und Tübingen. Seine Überlegungen und Vorschläge unterbreitete der Arbeitskreis in der bereits genannten Dokumentation.
ins Veröffentlichungsgeschäft einzusteigen und die
8) Siehe dazu Wilbur Schramm u.a.: Four Theories of the Press. Urbana 1956.
hierfür notwendigen Mittel aufzubringen.
9) Schramm, S. 4 f.
213
Studieneinheit 6
Gebrauch gesetzt, und ist an ihre Stelle getreten. Er trat an die Stelle nicht bloß des früher ausgedehnteren Gebrauchs von Handschriften und Inschriften aller Art, sondern besonders auch an die Stelle jener täglichen, unmittelbaren demokratischen Versammlungen und mündlichen Besprechungen und Belehrungen aller Bürger, der in ihnen stattfindenden Bildung der öffentlichen Meinung und nationaler Sittengerichte, der in ihnen vorgenommenen Verhandlung und Entscheidung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten. Unsere heutigen freien Staaten sind ungleich größer, als die früheren kleinen Stadt- und Gemeinde- und Gaustaaten. Es sind zugleich die Güter der Freiheit und des Bürgerrechts auf alle Bewohner ausgedehnt. So könnten sich denn jetzt ohne Preßfreiheit die einzelnen Staatsglieder nicht einigermaßen gegenseitig vernehmen und fortdauernd austauschen und verständigen." Die erste Erkenntnis: Die „Konzentration" der Kommunikationsmittel ist ein Prozeß, der die gesamte Kommunikationsgeschichte der Menschheit durchzieht. Je größer die Gesellschaftsquantitäten, je spezialisierter die Funktionen innerhalb der Gesellschaft, je differenzierter die entsprechenden Handlungs- und Meinungspositionen sowie die Informationsansprüche werden, um so kompliziertere und daher auch kostspieligere Kommunikationsmittel werden erfunden, eingerichtet und gebraucht. Das bedingt aber, daß die Gruppe derer, die solche Mittel als Funktionäre des Kommunikationsprozesses in der Hand haben und für ihr Funktionieren verantwortlich sind, naturgemäß immer kleiner wird. Dieser Vorgang ist auch innerhalb der Presseentwicklung selbst nachzuweisen. Man sollte nun annehmen, daß die kommunikationspolitischen Kontroll- und Regelungsmechanismen entsprechend der Konzentrationsbewegung der Kommunikationsmittel weitergebildet worden wären. Dazu sind aber, abgesehen von moralischen Deklamationen in der freien Welt und von temporären diktatorischen Modellen in den letzten 200 Jahren, nicht viele Anstrengungen unternommen worden. Unsere Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß wir zwar gegenüber den liberalistischen Selbstregulierungshoffnungen Unbehagen empfinden, aber, anstatt die Regelungsmechanismen anzupassen, auf den irrsinnigen Gedanken verfallen, Konzentrationsbremsen zu konstruieren. Man kann diese monokausal istischen Betrachtungsweisen überall nachweisen: Die in der Konzentration zusammengeballte Wirtschaftsmacht ist unmittelbar und alleinursächlich schuld an der Bedrohung der Meinungsfreiheit. 214
Die zweite Erkenntnis: Die Massenkommunikationsmittel haben die Funktion, daß sich die Glieder der Gesellschaft fortdauernd vernehmen, austauschen und verständigen können. Damit dies geschieht, damit auf diese Weise Meinungsfreiheit sich verwirkliche, ist die Pressefreiheit notwendig. Die Presse ist also nicht ein Ding, ein Wert an sich, sondern hat nur Wert für die Menschen in der Gesellschaft. Die von Welcker so trefflich formulierte Funktion des Sich-Vernehmens ist aber nur dann gewährleistet, wenn jedermann in der Gesellschaft jeden anderen jederzeit vernehmen kann. Dies darf aber nicht nur ein schönes Postulat, sondern muß praktikabel sein. Unter dem liberalistischen Anspruch der vollständigen Darstellung des Meinungsmarktes in einer Vielzahl von Blättern ist das aber nicht praktikabel. Im Extremfall nämlich würde das bedeuten, daß einer, der die in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen vernehmen will oder muß - und in einer demokratischen Gesellschaft muß das schlechterdings jedermann! - , zehn, zwanzig oder noch mehr Blätter kaufen und lesen müßte.
Pressefreiheit nur für wenige Und das eben ist die Kommunikationsmisere, mit der wir leben: Statt vollständiger und umfassender Information über sämtliche Handlungs- und Meinungspositionen unserer Gesellschaft vermittelt jedes unserer Massenkommunikationsmittel für sich genommen auf der Basis des liberalistischen Konzepts nur mehr oder weniger partiell. Jedes Blatt, jeder Verleger, jeder Journalist nimmt für sich das individualistische Recht der freien Meinungsäußerung in Anspruch. Er entscheidet, was gut und richtig, was veröffentlichungswürdig sei. Denn der Zugang zu den Massenkommunikationsmitteln wird als individualistisches Recht mißverstanden. Damit haben die einen mehr, die anderen weniger Recht auf freie Meinungsäußerung. Innerhalb eines solchen Konzepts muß selbstverständlich jede Konzentrationsbewegung die Ungleichheit des Rechts auf Meinungsäußerung verstärken. Es wird richtig, was Paul Sethe sagte: „Die Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten"; nur sollte man hinzufügen: . . . und die Freiheit von ein paar tausend Publizisten.
Isolation des einzelnen Die Folgen für die Kommunikation der Gesellschaft sind verheerend. Sie sind am besten mit einer Podiumsdiskussion zu vergleichen, die jeder Gesprächsleitung und -regelung entbehrt. Jeder Sprecher der am Podium
Politisches System und Massenkommunikationssystem
vertretenen Meinungspositionen — das sind Publizisten!
gesetzgeberische Aufgabe besteht darin, im Bereich der
— versucht, die anderen zu übertönen, jeder sucht sei-
Presse willkürliche Zugangsbeschränkungen zum ,free
ne Auffassung als die allein vernünftige herauszustellen,
market place of ideas' zu verhindern oder zu vermin-
den Kontrahenten am Reden zu hindern oder zu stö-
dern. Dadurch wird die Effizienz des Verfahrens frei-
ren. Minderheiten, die zunächst am Podium nicht zu-
er Meinungsbildung erhöht"(11). Nicht nötig zu sagen,
gelassen waren, stürmen ans Mikrophon. Ein Chaos von
daß dieser Zugang durch Wettbewerbsbereinigungen,
Ansprachen und Monologen ist die Folge, nicht aber
durch Unterstützung lokaler Konkurrenzblätter, also
Vernehmbarkeit der Stimmen, nicht Transparenz der
durch wirtschaftspolitische Maßnahmen erreicht wer-
verschiedenen Positionen, nicht Austausch und Ver-
den soll und daher verstanden wird als Zugang neuer
ständigung.
Organe und nicht kommunikationspolitisch als Zugang
Aufgrund dieser publizistischen Information „durch interessengebundene und -gesteuerte Beeinflussung ohne die Möglichkeit, durch öffentlich vernehmbare Erwiderung in der Gesellschaft sich selbst zur Geltung zu bringen, wird der einzelne, weil mit seinen Zeitgenossen nicht in Kommunikation, sich selbst überlassen, isoliert. Publizistische Information zerreißt die Gesellschaft in vor sich hin monologisierende einzelne und Gruppen, die durch kein Gespräch zueinanderfinden... Eben die monopolistische Publizistik ist es, die
vorhandener Meinungen zu den Presseforen. — Schließlich wird in der Dokumentation des Autorenkollektivs „Pressekonzentration" der Kommunikationsvorgang überhaupt nur noch als ökonomischer Prozeß, als Handel mit der Ware Nachricht gesehen. So kommen die Autoren zu vulgär-marxistischen Auffassungen dieser und ähnlicher Art: „Die unternehmerische Struktur des Presseunternehmens dürfte entscheidend zur Auflösung der politischen Öffentlichkeit beigetragen haben"!^).
heute Staat und Gesellschaft, die die Demokratie aus-
Wichtiger aber als solche Aussagen sind die Vorschläge,
höhlt und funktionsunfähig zu machen droht"(10).
die damit verknüpft sind. Die Günther-Kommission
Mit anderen Worten: Die Kommunikationsmisere re-
empfiehlt neben Maßnahmen zur Förderung der Wett-
sultiert nicht aus der Konzentration, sondern aus ei-
bewerbsfähigkeit insbesondere die seither viel disku-
ner liberalistischen Auffassung der Pressefreiheit. Sie
tierte Marktanteilsbegrenzung. Ausgehend von dem
wird allerdings in dieser Situation durch jede Konzen-
Prinzip, daß die Pressefreiheit Vorrang vor der unter-
trationsbewegung verstärkt. Solange aber die Kommu-
nehmerischen Freiheit habe (von Meinungsfreiheit ist
nikationspolitik in völliger Blindheit gegenüber diesem
hier nicht die Rede!), soll eine Begrenzung der Markt-
Tatbestand an den Konzentrationserscheinungen her-
anteile eines einzelnen Unternehmens erfolgen, wenn
umdoktert, anstatt der Kommunikationsmisere zu Leib
diese mit 20 Prozent Anteil an den Tageszeitungs- und/
zu rücken und effektive, der Konzentration angepaßte
oder Sonntagszeitungsauflagen oder mit 20 Prozent An-
Korrektive zu suchen, wird diese Kommunikationsmi-
teil an den Publikumszeitschriften die Meinungsfreiheit
sere nicht zu beheben sein, sondern muß sich im Ge-
gefährdet oder mit Anteilen von 40 Prozent und dar-
genteil potenzieren.
über die Meinungsfreiheit beeinträchtigt. Eine Begründung dafür, warum bei diesen Marktanteilen die Mei-
Der wirtschaftliche Monokausalismus Der wirtschaftliche Monokausalismus bei der Betrachtung des Konzentrationsproblems läßt sich in vielen Variationen feststellen. Schon die Verleger machten in den 60er Jahren geltend, die Bedrohung der Meinungsfreiheit sei eine Folge wirtschaftlicher Wettbewerbsverzerrung zwischen den Medien und könne durch Eingriffe in diese Wettbewerbssituation behoben werden. Die Michel-Kommission ging von ähnlichen Vorstellungen aus. Der Professoren-Arbeitskreis
nungsfreiheit bedroht ist, ist die Kommission bis heute schuldig geblieben. Bei diesen Vorschlägen wird völlig übersehen, daß ein Eingriff in wirtschaftliche Unternehmen, die der Kommunikation dienen, immer Auswirkungen auf deren Kommunikationsfunktion hat und daß der Wirtschaftskörper eines Kommunikationsunternehmens ein sehr empfindliches Kommunikationsregulativ darstellen kann. 10)
Heinz Starkulla: Publizistik und K o m m u n i k a t i o n . In: Festschrift für Hanns Braun. Bremen 1963, S. 161, 163.
Dokumentation Folgerungen, Hoffnungen und Forde-
11)
Pressefreiheit, S . 120.
rungen aus, die eindeutig in diesem wirtschaftlichen
12)
Pressekonzentration. Eine kritische Materialsichtung und -systematisierung, hrsg. von einem Autorenkollektiv. München, Berlin 1970, S. 314.
„Pressefreiheit" spricht an zahlreichen Stellen seiner
Monokausalismus begründet sind. Zum Beispiel: „Die
215
Studieneinheit 6
Die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Massenmedien ihrer Kommunikationsfunktion nachkommen, sind ohne Zweifel ein Faktor, der das durch dieses Unternehmen vermittelte Kommunikationsgeschehen beeinflußt. Aber es ist nicht der einzige Faktor. Andererseits wirkt die Beachtung der übrigen Faktoren, etwa die Berücksichtigung der tatsächlich vorhandenen Kommunikationsinteressen in einem bestimmten Verbreitungsgebiet, wieder zurück auf das wirtschaftliche Unternehmen. Wenn es vorhandene Kommunikationsinteressen optimal darstellt, floriert auch das Unternehmen; geschieht das nicht, führt das zum Ruin des Unternehmens. Nach der Vorstellung der genannten Kommissionen wäre es also denkbar, daß eine Lokalzeitung, die in optimaler Weise die verschiedenen vorhandenen Meinungen artikuliert und damit erreicht, daß sich die Glieder der Gesellschaft vernehmen und sich austauschen im Forum der Zeitung, eine Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit darstellt. Deshalb nämlich, weil ihr Marktanteil bzw. ihre Leserdichte nicht zuletzt aufgrund der in ihr verwirklichten Meinungsfreiheit weit über das Limit der „Kommunikationssachverständigen" hinausgeht. So würde also eine Zeitung gerade, weil sie Meinungsfreiheit verwirklicht, bestraft. Und folgt man den Gutachten, so könnte man es durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen obendrein ermöglichen, die Meinungsfreiheit der Bürger von Amts wegen zu bedrohen, zu gefährden und zu beeinträchtigen.
Der publizistische Monokausalismus Während die Vorschläge der Marktanteilsbegrenzung zur Zeit wenig Aussichten auf politische Verwirklichung haben, kommt den Lösungen, die auf der Basis des publizistischen Monokausalismus erarbeitet wurden, eine größere Chance zu. Sie sind deshalb auch gefährlicher. Aus der Vielfaltsthese ergibt sich konsequent, daß jede einzelne Zeitung andere Meinungen artikuliert, und zwar sowohl direkt in Kommentar, Kritik und Glosse wie auch indirekt durch eine diesen Meinungspositionen entsprechende Selektion des Nachrichten- und Informationsmaterials. Dies hat aber nur dann einen Sinn, wenn man annimmt, daß man die Meinung der Gesellschaft und ihrer Glieder durch Vorsagen einer Meinung bilden kann, daß es eine monokausale Beziehung gibt zwischen der publizistischen Aussage und der Meinungsbildung. Würde man nämlich die Gesellschaft nicht als knetbare Masse betrachten, sondern als den im Gespräch befindlichen demokratischen Souverän, der seine Meinung durch fortdauerndes Vernehmen und Austauschen aller Meinungen bildet, so müßte — wie ausgeführt — die Vielfaltsthese schon deshalb fallen, weil eine in 150 Zeitungen angebotene Meinungsvielfalt für den einzelnen Bürger nicht praktikabel ist. Unter dem Anspruch des publizistischen Monokausalismus aber hat sich ein illusionäres und elitäres Selbst-
Mit diesem Beispiel soll lediglich aufgewiesen werden, welche unzumutbaren Vorschläge derzeit politisch hoch im Kurs stehen. Damit soll aber nicht gesagt werden, daß die wirtschaftliche Stärke eines Kommunikationsunternehmens in jedem Fall und für sich allein ein absolut sicheres Kommunikationsregulativ sein muß.
bild der Publizistik und des Publizisten entwickelt. Darin erscheint die Publizistik als eine Macht über Staat und Gesellschaft, unabhängig von beiden, wie es schon die Verlegerdenkschrift im Jahre 1964 formulierte. V o n dieser hohen Warte schreibt sie sich selbst eine Erziehungsfunktion an der Gesellschaft zu. Es ist nicht verwunderlich, daß damit Hand in Hand eine tiefe Verachtung des unwissenden Volkes einhergeht, die im
Wäre dies so, so könnte man alles beim alten lassen. Es
übrigen, und keineswegs paradoxerweise, noch die ex-
ist aber sehr wohl auch die Möglichkeit zu sehen, daß
tremsten Linken mit den Liberalen verbindet.
ein cleverer Verleger sich bei der Berücksichtigung der
„Die Pressefreiheit dient... der Verwirklichung der gleichen Meinungsfreiheit aller Bürger. Nur diese Funktion kann daher Maßstab für die Organisation der Presse sein und nicht die Meinungsfreiheit einzelner Journalisten oder einzelner Verleger.. . Die Presse hat nicht die öffentliche Aufgabe zu belehren, zu kritisieren, zu bilden, zu unterrichten oder das Gemeinwohl zu artikulieren, wohl aber die .gesellschaftliche Funktion', der Meinung aller eine Chance zu geben" (Gert Roellecke) (13).
Interessen der Kommunikationspartner an den kleinsten gemeinsamen Nenner hält, so daß also die Stärke des wirtschaftlichen Unternehmens, weit davon entfernt, Regulativ im Sinne der Meinungsfreiheit zu sein, zu einem Pegel der Nivellierung und damit zugleich der Gefährdung der Meinungsfreiheit wird. Das heißt also: Ebensowenig wie allein von wirtschaftlichen Eingriffen eine Sicherung der Meinungsfreiheit erwartet werden kann, kann die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens allein als Kommunikationsregulativ in Frage kommen.
216
13)
Pressefreiheit, S. 42.
Politisches System und Massenkommunikationssystem
Ob der publizistische Anspruch von 200 Verlegern aus-
Das Ziel jedes kommunikationspolitischen Eingriffs
geht oder von 2000 Publizisten, ist für die bedrohte
muß es sein, statt der Vielfalt der Blätter die Vielfalt
Meinungsfreiheit aller unerheblich.
der Meinungen in den Blättern zu sichern oder zu er-
Grundsätze und Möglichkeiten einer Kommunikationspolitik
ger mittels Pressefreiheit auch gleiche Meinungsfrei-
halten. Dies ist nämlich der einzige Weg, um jedem Bürheit zu sichern.
Aus den hier vorgetragenen Gedanken ergeben sich ei-
Dabei kann es in der Praxis der Massenkommunikation
ne Reihe von Grundsätzen und Möglichkeiten für kom-
nicht um eine ideale Verwirklichung der Meinungsfrei-
munikationspolitische Maßnahmen.
heit gehen, insofern als jeder einzelne mit seiner Mei-
Kommunikationspolitische Eingriffe in irgendeinen Bereich des Kommunikationsprozesses, insbesondere wirtschaftliche Eingriffe in das Kommunikationsunternehmen, dürfen und können nur dann vorgenommen werden, wenn dabei die Interdependenz aller am Kommunikationsvorgang beteiligten Faktoren berücksichtigt wird, das heißt, wenn die Auswirkungen solcher Eingriffe auf die Kommunikationsfunktionen untersucht und bekannt sind. Es gibt andererseits aber Eingriffe in den mit dem Kommunikationsprozeß verbundenen Wirtschaftsvorgang, die geboten erscheinen. Zum Beispiel die durch Gesetz zu erzwingende Freiheit der Vertriebswege. Die Abhängigkeit der Pressevertriebswege von der wirtschaftlichen Macht großer Verlage darf nicht dazu führen, daß aus diesen Vertriebswegen bestimmte Objekte ausgeschlossen werden, weil sie nicht so rentabel sind wie andere oder weil sie eine dem großen Konkurrenten nicht genehme Richtung haben. Aus dem ersten Grundsatz folgt, daß kommunikationspolitische Maßnahmen überhaupt nur sinnvoll sind, wenn die Kommunikationsfunktionen der einzelnen Kommunikationsmittel hinreichend bekannt sind und wenn sich diese Kommunikationsfunktionen auf die gesamte gesellschaftliche Kommunikation erstrecken. Konkret heißt das: Tageszeitungen haben zum Beispiel andere Funktionen als Sonntagszeitungen oder Publikumszeitschriften. Aus den unterschiedlichen Kommunikationsrollen ergibt sich, daß gleiche kommunikationspolitische Maßnahmen nur auf Kommunikationsmittel mit identischen Funktionen angewendet werden können. Gegen diesen Satz verstoßen z.B. alle bisherigen Vor-
nung präsentiert werden müßte, vielmehr ausschließlich um eine optimale Verwirklichung solcher Chancengleichheit deshalb, weil es nicht so viele Meinungen wie Köpfe gibt und jedes einzelnen Meinungsfreiheit schon dann verwirklicht ist, wenn die Meinung seiner formellen und informellen Bezugsgruppen zum Ausdruck kommt.
Forum — nicht Rednerpult Es geht auch keineswegs darum, das Recht der Meinungsfreiheit des Publizisten zu beschneiden. Denn auch er ist Sprecher formeller und informeller Meinungsgruppen. Daß die Publizisten ihre Stimme erheben, ist geradezu kommunikationsnotwendig. Aber das Forum vollständiger Information ist etwas anderes als das Rednerpult des kommentierenden und kritisierenden Publizisten. Es hat seinen Platz im Forum. Alle kommunikationspolitischen Eingriffe haben daher die Rolle, die journalistische Vermittlung zu stärken und gesellschaftliche Kontroll- und Korrekturmöglichkeiten zur Sicherung der journalistischen Vermittlung zu reformieren oder neu zu etablieren. Denn „gesellschaftliche Kommunikation ist eine Lebensfunktion der souveränen, freiheitlichen Gesellschaft. Ihre Darstellung im Kommunikationsmedium repräsentiert den demokratischen Souverän im Gespräch und verleiht damit dem Medium Rang und Würde der .öffentlichen', das heißt gesamt-gesellschaftlichen Institution und dem um Darstellung ihrer öffentlichen Kommunikation bemühten .Journalisten', der sich als ehrlicher Makler (und nicht als einsinniger und eigensinniger Präzeptor, Inquisitor und Prokurator) der Gesellschaft erweist, die Position des .öffentlichen' Funktionärs"! 14).
schläge der Markt- und Auflagenbegrenzungen, da dort willkürliche Auflagen- und Marktanteile von Tageszeitungen, Sonntagszeitungen oder Publikumszeitschriften addiert werden.
14)
Starkulla, S . 162.
217
Aufgaben 1. In welchem Artikel der Kommunikationsgrundordnung ist die allgemeine Medienfreiheit garantiert? Nennen Sie den Artikel und zählen Sie die die Medienfreiheit konstituierenden Rechte auf! Artikel: a) b) c) d) e) 2. Untersuchen Sie den Aufmacher einer Tageszeitung im Hinblick auf folgende Fragen: a) Wer ist der Verfasser des Artikels? b) Über welche Ereignisse wird im einzelnen berichtet? c) Auf welche Quellen stützt sich der Artikel? d) Welche Personen oder Institutionen kommen in dem Text zu Wort? Verfasser: Ereignisse:
Quellen:
Personen, Institutionen:
Politisches System und Massenkommunikationssystem
3. Worin besteht die Leistung der Redaktion eines Pressemediums? a)
b)
c)
4. Welche politischen Funktionen erfüllen a) die Massenmedien, b) die
Kommunikationsmedien?
a) Massenmedien:
b) Kommunikationsmedien:
5. Welche Aufgaben haben Ihrer Meinung nach Journalisten in einem demokratisch verstandenen Kommunikationsprozeß in erster Linie zu erfüllen? a) „ D u r c h eigene, prononcierte Meinungen das Gespräch in Gang zu bringen und anzuregen , b) ihre privilegierte Stellung im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß zu behaupten, c) „die gleiche Chance eines jeden Bürgers zum öffentlichen Meinungsmarkt" zu sichern, d) „auf dem F o r u m des sozialen Zeitgesprächs repräsentiert zu sein", e) ihre demokratische Kritik- und Kontrollfunktion gewissenhaft wahrzunehmen, f) „Spezialisten zur Betreuung des geistigen Austausches der Gesellschaft zu sein", g) „gleichberechtigte Mitsprecher im demokratischen Meinungsbildungsprozeß" zu sein.
219
6. Welche der in Frage 5 genannten Aufgaben würden Sie der Rolle des Journalisten als Kommunikator bzw. als Mediator zuordnen? Tragen Sie die Buchstaben ein! Kommunikator: — f — Mediator:
I
t
#
—(— I
I
t
—f— I
—
(
I
7. Was beinhaltet das „Objektivitätspostulat" in bezug auf den Vermittlungsprozeß? a)
b)
8. Wie sind in der Bundesrepublik Deutschland die Massenmedien organisiert? Nennen Sie die Organisationsformen und deren wichtigste Charakteristika! a) Presse: Organisationsform: Charakteristikum:
b) Rundfunk: Organisationsform : Charakteristikum:
9. Nennen Sie mindestens drei Formen wirtschaftlicher und publizistischer Kooperationsmaßnahmen, die Konzentrationserscheinungen zur Folge haben! a) b) c)
Politisches System und Massenkommunikationssystem
10. Nennen Sie in Stichworten die gegensätzlichen Positionen in der Diskussion um die Auswirkungen der Konzentrationserscheinungen im Pressewesen!
Β
IB I 1
Literaturverzeichnis
Aufermann, Jörg/Heilmann, Peter/Hüppauf, Hubertus/ Müller, C. Wolfgang/Neveling, Ulrich/Wersig, Gernot (Hrsg.): Pressekonzentration. Eine kritische MaterialSichtung und -systematisierung. München, Berlin 1970 Aufermann, Jörg (2) : Schrumpft sich die Presse gesund? In: Der Journalist, Heft 7/Juli 1974, S. 2 0 - 2 2 Brecht, Bertolt: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Gesammelte Werke. Band 18, Frankfurt am Main 1972, S. 127-134 Brinkmann, Carl: Presse und öffentliche Meinung. In: Dieter Prokop (Hrsg.): Massenkommunikationsforschung. 1: Produktion. Frankfurt am Main 1972, S. 3 7 2 - 3 9 0 Diederichs, Helmut H. (1): Konzentration in den Massenmedien. Systematischer Überblick zur Situation in der BRD. München 1973
Diederichs, Helmut H. (2): Medienkonzentration in der BRD. Konzept und empirischer Überblick. In: Dieter Prokop (Hrsg.): Massenkommunikationsforschung. 1: Produktion. Frankfurt am Main 1972, S. 7 3 - 9 5 Geißler, Rainer: Massenmedien, Basiskommunikation und Demokratie. Ansätze zu einer normativ-empirischen Theorie. Tübingen 1973 Glotz, Peter/Langenbucher, Wolfgang R.: Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. 3. Aufl. Köln, Berlin 1970 Holzer, Horst: Gescheiterte Aufklärung? Politik, Ökonomie und Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland. München 1971
221
Studieneinheit 6
Infratest: Massenkommunikation 1964—1970. Eine vergleichende Analyse des Verhaltens und der Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Fernsehen, Hörfunk und Tageszeitung als Träger politischer Informationen. München 1971 Kiefer, Marie-Luise: Massenkommunikation 1964 bis 1980. Trendanalyse zur Mediennutzung und Medienbewertung. In: Media Perspektiven, Heft 4/ 1981, S. 2 6 1 - 2 8 6 Noelle-Neumann, Elisabeth: Folgen lokaler Zeitungsmonopole. In: Der Journalist, Heft 6/Juni 1974, S. 2 2 - 2 6 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bericht der Bundesregierung über die Lage von Presse und Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland (1974). Drucksache 7/2104 des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, vom 15. Mai 1974. Bonn 1974; Ausgabe 1978: Drucksache 8/2264 des Deutschen Bundestages, 8. Wahlperiode, vom 9. November 1978. Bonn 1978 Richter, Rolf: Kommunikationsfreiheit = Verlegerfreiheit? Zur Kommunikationspolitik der Zeitungsverleger in der Bundesrepublik Deutschland 1 9 4 5 1969. München 1973 Ronneberger, Franz: Die politischen Funktionen der Massenkommunikation. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 1 9 3 - 2 0 5
Schütz, Walter J. (1): Deutsche Tagespresse 1983. In: Media Perspektiven, Heft 3/1983, S. 1 8 1 203. Schütz, Walter J. (2): Pressekonzentration. In: Helmut Arndt (Hrsg.): Die Konzentration der Wirtschaft On Economic Concentration. Band 2, 2. Aufl. Berlin 1971, S. 6 6 7 - 6 8 7 Schmidt, Hendrik: Kommunikationspolitische Alternativen? Zur Diskussion um eine Reform des Pressewesens in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1972 Stamm: Leitfaden für Presse und Werbung. 28. Aufl. Essen 1975 Starkulla, Heinz (1): Die Zeitschriften. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Die öffentliche Meinung. Bonn 1971, S. 6 0 - 8 7 Starkulla, Heinz (2): Presse, Fernsehen und Demokratie. Der „Wettbewerb" der Medien als kommunikationspolitisches Problem. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.) : Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 2 4 7 - 2 5 6 Wagner, Hans (1): Forumsauftrag und Forumswirklichkeit. Untersuchung der katholischen Wochenzeitung Publik. München 1972 Wagner, Hans (2): Die unverstandene Pressekonzentration. In: Stimmen der Zeit. Band 186, Heft 7/Juli 1970, S. 1 - 1 7
Saxer, Ulrich: Die Objektivität publizistischer Information. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974, S. 2 0 6 - 2 3 5
Wagner, Hans (3): Die Partner in der Massenkommunikation. Zeitungswissenschaftliche Theorie der Massenkommunikation. 3 Bände, Habilitationsschrift. München 1974 (masch. vervielf.)
Schelsky, Helmut: Gedanken zur Rolle der Publizistik in der modernen Gesellschaft. In: Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze. Düsseldorf, Köln 1965, S. 3 1 0 - 3 2 7
Wildenmann, Rudolf/Kaltefleiter, Werner: Die Funktionen der Massenmedien. Frankfurt, Bonn 1965
Literaturhinweise zum weiteren Studium
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Konzentration in den Massenmedien. Systematischer Überblick zur Situation in der B R D . München 1973 (= Reihe Hanser 120); 247 Seiten (Umfassende Sammlung statistischen Materials über die Druckmedien in der Bundesrepublik.)
Glotz, Peter/Langenbucher, Wolfgang R. Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. 3. Aufl. Köln, Berlin: Verlag Kiepenheuer & Witsch 1970; 204 Seiten (Leicht lesbare Studie, die — ausgehend von der Vermittlerfunktion demokratischer Massenmedien — anhand vieler Beispiele aus der Praxis Funktionen und Aufgaben der Presse und der in ihr tätigen Journalisten beschreibt.) 222
Politisches System und Massenkommunikationssystem
Ronneberger, Franz
Die politischen Funktionen der Massenkommunikation. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974 (= Piper Sozialwissenschaft 22), S. 193-205 (Differenzierte Darstellung der politischen und sozialen Funktionen der Massenmedien in einer Demokratie.)
Saxer, Ulrich
Die Objektivität publizistischer Information. In: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Zur Theorie der politischen Kommunikation. München 1974 (= Piper Sozialwissenschaft 22), S. 2 0 6 - 2 3 5 (Die Bedeutung des Objektivitätspostulats für demokratische Kommunikationsprozesse wird unter Einbeziehung der unterschiedlichen kommunikationswissenschaftlichen Argumente dargestellt.)
Schmidt, Hendrik
Kommunikationspolitische Alternativen? Zur Diskussion um eine Reform des Pressewesens in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Verlag Volker Spiess 1972; 80 Seiten (Übersichtliche Zusammenfassung der wichtigsten Beiträge zur Problematik der privatwirtschaftlich organisierten Presse in der Bundesrepublik unter Berücksichtigung neuer kommunikationspolitischer Alternativen und Lösungsvorschläge.)
Lösungen
1.
Artikel 5 a) Pressefreiheit b) Meinungsfreiheit c) Informationsfreiheit d) Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film e) Freiheit von Zensur 223
Studieneinheit 6
3.
a) Beobachtung und Sammlung von (kommunikativen) Ereignissen und Äußerungen von Personen. b) Transformation dieser „Mitteilungen" in eine vermittelbare, d.h. medienadäquate Aussage, vor allem durch Selektion und Zusammenfassung. c) „Vermittlung" an die Leser durch Aufnahme in die Tageszeitung.
4.
a) Massenmedien:
Herstellen von allgemeiner Öffentlichkeit durch Information der Bürger und Artikulation möglichst aller relevanten Meinungen. Die Massenmedien erfüllen damit eine Integrationsaufgabe zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.
b) Kommunika-
Herstellen von interner Öffentlichkeit in den Verbänden etc. sowie
tionsmedien:
in ihrer Sprachrohrfunktion Ergänzung der Massenmedien durch vertiefende Information und Anregung neuer Diskussionen.
5.
Richtig sind: c) „die gleiche Chance eines jeden Bürgers zum öffentlichen Meinungsmarkt" zu sichern und f) „Spezialisten zur Betreuung des geistigen Austausches der Gesellschaft zu sein".
6.
7.
Kommunikator:
a),b),d),e)
Mediator:
c),f),g)
a) Inhaltliche Vielfalt, d.h. Wiedergabe möglichst aller relevanten Meinungen, um zu verhindern, daß nur einige wenige zu Wort kommen. b) Forderung nach unverzerrter Wiedergabe der ursprünglichen Meinungen.
8.
a) Presse: Organisationsform:
privatwirtschaftlich
Charakteristikum:
Modell des wirtschaftlichen Wettbewerbs, d.h. Vielfalt der Presseerzeugnisse
b)
Rundfunk: Organisationsform: Charakteristikum:
öffentlich-rechtlich Inhaltliche Vielfalt zur Verhinderung einseitiger Interessenbeeinflussung
9.
a) Übernahme von Zeitungsmänteln b) Zusammenschluß von Zeitungsketten c) Kooperation im Vertriebs- und Anzeigenwesen
10. 224
Vergleichen Sie die Seiten 209 und 211 !