Einführung in die Geschichte der Religionswissenschaft 3534263766, 9783534263769

Die Geschichte der Religionswissenschaft ist mittlerweile fester Bestandteil des theologischen und religionswissenschaft

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German Pages 160 Year 2014

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Griechische Religions- und Mythenkritik
2.1 Vorsokratiker und Sophisten
2.2 Herodot – „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung"
3. Frühe Universitäten
4. Frühchristliche Apologeten
5. Religionswissenschaft in nicht-europäischen Ländern und Kulturen
5.1 China
5.2 Islam
6. Religionswissenschaft im Mittelalter
6.1 Einführung
6.2 Die mittelalterliche Vorstellung von der Welt
6.3 Religionsgeschichtliches Wissen in mittelalterlichen Enzyklopädien
6.4 Religionsgeschichtliches Wissen in der Reiseliteratur
6.5 Das Bild Chinas in den Berichten von Missionaren und Kaufleuten
6.6 Roger Bacons Versuch einer historischen und systematischen Religionswissenschaft
7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800)
7.1 Einführung
7.2 Humanistisches Interesse an der antiken Religionswelt
7.3 Neue Weltkarten
7.4 „Theater" und Kosmographie
7.5 Die „dunklere Seite der Renaissance"
7.6 Reformation
7.7 Begegnung mit den Religionen Afrikas, Amerikas, Asiens in Reise- und Missionarsberichten des 16./17. Jahrhunderts: katholische „missionary-ethnographers"
7.8 Erforschung des Judentums seit dem 16. Jahrhundert
7.9 Gelehrsamkeit des Barock
7.10 Objektkultur
8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung
8.1 Einführung
8.2 Philosophien der Aufklärung
8.3 Giambattista Vico und seine Deutung des Mythos
8.4 „Propheten und Pioniere" der Vergleichenden Religionswissenschaft
8.5 „Der Picart" – Vorläufer visueller Religionsphänomenologie
8.6 Der „Göttinger Kreis"
8.7 Religionsgeschichtliches Wissen in Enzyklopädien
8.8 Religionsgeschichtliches Wissen in den Pressemedien des 17. und 18. Jahrhunderts
9. Religionswissenschaft in der Romantik
9.1 Einführung
9.2 Johann Gottfried Herder
9.3 David Friedrich Ernst Schleiermacher
9.4 Friedrich Max Müller.
9.5 Mythenforschung
10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert
10.1 Einführung
10.2 Religionswissenschaft in Großbritannien: Viktorianisches Zeitalter
10.3 Religionstheorien
10.3.1 Fetischismus
10.3.2 Totemismus
10.3.3 Klassische Evolutionstheorien
10.3.4 Degenerationstheorien
11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)
11.1 Einführung
11.2 Historismus und „Krise des Historismus"
11.3 Verändertes Wissenschaftsverständnis
11.4 Monismus, Pessimismus
11.5 Wilhelm Diltheys Einfluss auf die Religionswissenschaft
11.6 Religion/en und Spiritualität um 1900
11.7 Intellektuellengruppen
11.7.1 Warburg-Kreis
11.7.2 Verlag Eugen Diederichs in Jena
11.7.3 Brückenbauer und Grenzgänger
11.7.4 Hermann Graf Keyserling
11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik
11.8.1 Edmund Hardy
11.8.2 Die „Religionsgeschichtliche Schule" in der Evangelischen Theologie
11.8.3 Einblicke in die außerhalb des Faches betriebene Religionsforschung
11.8.4 Archiv für Religionswissenschaft
11.8.5 „Religionswissenschaft des Verstehens"
11.8.6 Mission und Religionswissenschaft
11.8.7 Religionssoziologie
11.8.8 Religionspsychologie
11.8.9 Eranos-Kreis
12. Religionswissenschaft in Deutschland seit Gründung der ersten Lehrstühle
12.1 Harnacks Rektoratsrede und die Folgen
12.2 Frühe Zentren der Religionswissenschaft in Deutschland
12.2.1 Berlin
12.2.2 Bonn
12.2.3 Münster
12.2.4 Leipzig
12.2.5 Würzburg
12.2.6 Marburg
12.2.7 Tübingen
12.2.8 Halle an der Saale
12.2.9 Riga
13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten
13.1 Anfänge der Religionswissenschaft in der Schweiz
13.2 Anfänge der Religionswissenschaft in den Niederlanden und die Religionsphänomenologie
13.2.1 Cornelis Petrus Tiele
13.2.2 Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye
13.2.3 William Brede Kristensen
13.2.4 Gerardus van der Leeuw
13.2.5 Claas Jouco Bleeker
13.2.6 Theodorus Petrus van Baaren
13.3 Anfänge der Religionswissenschaft in Frankreich
13.4 Anfänge der Religionswissenschaft in Italien
13.5 Anfänge der Religionswissenschaft in Belgien
13.6 Anfänge der Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich
13.7 Anfänge der Religionswissenschaft in Skandinavien
13.7.1 Finnland
13.7.2 Norwegen
13.7.3 Schweden
14. Religionswissenschaft im Nationalsozialismus
14.1 „Völkische Religionswissenschaft"
14.1.1 Jakob Friedrich Hauer und die „Deutsche Glaubensbewegung"
14.1.2 Religionsforschung im Umkreis von Himmlers „Ahnenerbe"
14.1.3 Alfred Rosenbergs „Hohe Schule der NSDAP"
14.2 Philologisch-historische Religionswissenschaft
14.3 „Religionswissenschaft des Verstehens" und andere Vertreter
14.3.1 Joachim Wach
14.3.2 Friedrich Heiler
14.3.3 Heinrich Frick
14.3.4 Ernst Benz
14.3.5 Gustav Mensching
14.3.6 Martin Buber
14.3.7 Wilhelm Koepp und Åke Joel Ohlmarks
14.3.8 Rudolf Friedrich Lehmann
14.3.9 Hilko Wiardo Schomerus
14.3.10 Christel Matthias Schröder
15.Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre
15.1 Abgrenzung des Zeitraums
15.2 Die 1950/60er Jahre: Wirtschaft – Kultur – Kirche
15.3 Wissenschaftsentwicklungen im Umfeld der Religionswissenschaft
15.4 Entwicklungen in der Religionswissenschaft
15.4.1 Friedrich Heiler: Religionswissenschaft als Theologie
15.4.2 Ernst Benz: Vorurteilsfreie Religionsbegegnung
15.4.3 Kurt Goldammer: Formenwelt des Religiösen
15.4.4 Gustav Mensching: Toleranzhermeneutik
15.4.5 Hans-Joachim Klimkeit: „Problemorientierte Religionsphänomenologie"
15.4.6 Karl Hoheisel: Hairesis
15.4.7 Hans-Joachim Schoeps: Zeitgeistforschung
15.4.8 Carsten Colpe: Überlegungen zur Theoriebildung
15.4.9 Helmuth von Glasenapp: „unparteiisch und objektiv"
15.4.10 Günter Lanczkowski: philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft
16. Religionswissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik
17. Religionswissenschaft im Spiegel der internationalen Tagungen (1950–1970)
18. Religionswissenschaft in der Schweiz
19. Religionswissenschaft in den USA
19.1 Die Anfänge im 19. Jahrhundert
19.2 Die „Chicago School of History of Religions"
19.2.1 Joachim Wach
19.2.2 Mircea Eliade
19.3 Clifford Geertz
20. Religionswissenschaft in Kanada
21. Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich
22. Religionswissenschaft in Japan
23. Ausblick
23.1 Globale Auswirkungen auf die Religionswissenschaft
23.2 Paradigmenwechsel
Bibliographie
Personenregister
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Einführung in die Geschichte der Religionswissenschaft
 3534263766, 9783534263769

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Udo Tworuschka

Einfhrung in die Geschichte der Religionswissenschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Bttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphre, et la mtorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulssig. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26376-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhltlich: eBook (PDF): 978-3-534-73895-3 eBook (epub): 978-3-534-73896-0

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Griechische Religions- und Mythenkritik . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorsokratiker und Sophisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Herodot – „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung“

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3. Frühe Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Frühchristliche Apologeten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Religionswissenschaft in nicht-europäischen Ländern und Kulturen 5.1 China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Religionswissenschaft im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die mittelalterliche Vorstellung von der Welt . . . . . . 6.3 Religionsgeschichtliches Wissen in mittelalterlichen Enzyklopädien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Religionsgeschichtliches Wissen in der Reiseliteratur . 6.5 Das Bild Chinas in den Berichten von Missionaren und Kaufleuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Roger Bacons Versuch einer historischen und systematischen Religionswissenschaft. . . . . . . . . . .

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800) . . . . . 7.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Humanistisches Interesse an der antiken Religionswelt . . . 7.3 Neue Weltkarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 „Theater“ und Kosmographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die „dunklere Seite der Renaissance“ . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Begegnung mit den Religionen Afrikas, Amerikas, Asiens in Reise- und Missionarsberichten des 16./17. Jahrhunderts: katholische „missionary-ethnographers“ . . . . . . . . . . . . 7.8 Erforschung des Judentums seit dem 16. Jahrhundert . . . . . 7.9 Gelehrsamkeit des Barock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.10 Objektkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung . . . . 8.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Philosophien der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . 8.3 Giambattista Vico und seine Deutung des Mythos 8.4 „Propheten und Pioniere“ der Vergleichenden Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

8.5 8.6 8.7 8.8

„Der Picart“ – Vorläufer visueller Religionsphänomenologie Der „Göttinger Kreis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religionsgeschichtliches Wissen in Enzyklopädien . . . . . Religionsgeschichtliches Wissen in den Pressemedien des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9. Religionswissenschaft in der Romantik . . . 9.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Johann Gottfried Herder . . . . . . . . 9.3 David Friedrich Ernst Schleiermacher 9.4 Friedrich Max Müller . . . . . . . . . . 9.5 Mythenforschung . . . . . . . . . . . .

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10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 10.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Religionswissenschaft in Großbritannien: Viktorianisches Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Religionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Fetischismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Totemismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Klassische Evolutionstheorien . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Degenerationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland) . . . . . 11.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Historismus und „Krise des Historismus“ . . . . . . . . . . . 11.3 Verändertes Wissenschaftsverständnis . . . . . . . . . . . . . 11.4 Monismus, Pessimismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Wilhelm Diltheys Einfluss auf die Religionswissenschaft . . 11.6 Religion/en und Spiritualität um 1900 . . . . . . . . . . . . . 11.7 Intellektuellengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7.1 Warburg-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.7.2 Verlag Eugen Diederichs in Jena . . . . . . . . . . . 11.7.3 Brückenbauer und Grenzgänger . . . . . . . . . . . 11.7.4 Hermann Graf Keyserling . . . . . . . . . . . . . . . 11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.1 Edmund Hardy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.2 Die „Religionsgeschichtliche Schule“ in der Evangelischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.3 Einblicke in die außerhalb des Faches betriebene Religionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.4 Archiv für Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . 11.8.5 „Religionswissenschaft des Verstehens“ . . . . . . . 11.8.6 Mission und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . 11.8.7 Religionssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.8 Religionspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.8.9 Eranos-Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12. Religionswissenschaft in Deutschland seit Gründung der ersten Lehrstühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

12.1 Harnacks Rektoratsrede und die Folgen . . . . . . . . . . . 12.2 Frühe Zentren der Religionswissenschaft in Deutschland 12.2.1 Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.4 Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.5 Würzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.6 Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.7 Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.8 Halle an der Saale . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.9 Riga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Anfänge der Religionswissenschaft in der Schweiz . . . . . 13.2 Anfänge der Religionswissenschaft in den Niederlanden und die Religionsphänomenologie . . . . . . . . . . . . . . 13.2.1 Cornelis Petrus Tiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.2 Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye. . . . . . . 13.2.3 William Brede Kristensen . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.4 Gerardus van der Leeuw. . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.5 Claas Jouco Bleeker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.6 Theodorus Petrus van Baaren . . . . . . . . . . . . . 13.3 Anfänge der Religionswissenschaft in Frankreich . . . . . . 13.4 Anfänge der Religionswissenschaft in Italien . . . . . . . . . 13.5 Anfänge der Religionswissenschaft in Belgien . . . . . . . . 13.6 Anfänge der Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7 Anfänge der Religionswissenschaft in Skandinavien . . . . 13.7.1 Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7.2 Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7.3 Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Religionswissenschaft im Nationalsozialismus . . . . . . . . . 14.1 „Völkische Religionswissenschaft“. . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Jakob Friedrich Hauer und die „Deutsche Glaubensbewegung“. . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Religionsforschung im Umkreis von Himmlers „Ahnenerbe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.3 Alfred Rosenbergs „Hohe Schule der NSDAP“ 14.2 Philologisch-historische Religionswissenschaft . . . . . 14.3 „Religionswissenschaft des Verstehens“ und andere Vertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Joachim Wach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Friedrich Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Heinrich Frick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.4 Ernst Benz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.5 Gustav Mensching . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.6 Martin Buber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.7 Wilhelm Koepp und Åke Joel Ohlmarks . . . .

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Inhalt

14.3.8 Rudolf Friedrich Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.9 Hilko Wiardo Schomerus . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.10 Christel Matthias Schröder . . . . . . . . . . . . . . 15. Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Abgrenzung des Zeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Die 1950/60er Jahre: Wirtschaft – Kultur – Kirche . . . . . . 15.3 Wissenschaftsentwicklungen im Umfeld der Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4 Entwicklungen in der Religionswissenschaft . . . . . . . . . 15.4.1 Friedrich Heiler: Religionswissenschaft als Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.2 Ernst Benz: Vorurteilsfreie Religionsbegegnung . . 15.4.3 Kurt Goldammer: Formenwelt des Religiösen . . . 15.4.4 Gustav Mensching: Toleranzhermeneutik . . . . . . 15.4.5 Hans-Joachim Klimkeit: „Problemorientierte Religionsphänomenologie“ . . . . . . . . . . . . . . 15.4.6 Karl Hoheisel: Hairesis . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.7 Hans-Joachim Schoeps: Zeitgeistforschung . . . . . 15.4.8 Carsten Colpe: Überlegungen zur Theoriebildung . 15.4.9 Helmuth von Glasenapp: „unparteiisch und objektiv“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.10 Günter Lanczkowski: philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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16. Religionswissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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17. Religionswissenschaft im Spiegel der internationalen Tagungen (1950–1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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18. Religionswissenschaft in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . .

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19. Religionswissenschaft in den USA . . . . . . . . . . . 19.1 Die Anfänge im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . 19.2 Die „Chicago School of History of Religions“ . 19.2.1 Joachim Wach . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2 Mircea Eliade. . . . . . . . . . . . . . . 19.3 Clifford Geertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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20. Religionswissenschaft in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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21. Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich . . . . . . . . . .

136

22. Religionswissenschaft in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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23. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.1 Globale Auswirkungen auf die Religionswissenschaft . . . . 23.2 Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Angesichts unseres in den letzten Jahrzehnten erheblich gewachsenen Wissens über den Gegenstand dieser Einführung kommt es einer Quadratur des Kreises gleich, eine Geschichte der Religionswissenschaft auf 160 Seiten abzuhandeln. Daher ist Zwang zur Kürze in jeder Hinsicht unerlässlich. Davon ist auch die Bibliographie betroffen. Zitate und bedeutende Thesen sind im Text belegt. Doch macht die Fülle der benutzten Literatur (ca. 500 Titel) deutlich, auf welche – nicht immer im Einzelnen genannte – Leistungen früherer und gegenwärtiger Generationen ich dankbar zurückgreife. Die bibliographischen Klammern im Text habe ich so gering wie gerade noch vertretbar gehalten, um den einführenden Charakter dieses Buches und seine Lesbarkeit zu wahren. Befleißig habe ich mich einer verständlichen Sprache, wie sie bei den ,Klassikern‘ des Faches noch üblich war. Diese Einführung behandelt den Zeitraum von der (griechischen) Antike bis in die 1970er Jahre. Die jüngste, vom „cultural turn“ geprägte, auch „entfaltete Postmoderne“ genannte Wissenschaftsgeschichte thematisiere ich nicht mehr. Paradigmenwechsel und Traditionsabbrüche kennzeichnen die vier Jahrzehnte bis zur Gegenwart. Seitdem die Religionswissenschaft um Anschlussfähigkeit zu benachbarten Wissenschaften ringt, denkt sie häufig nicht mehr in eigenen Kategorien, spricht nicht mehr ihre eigene Sprache, sondern reflektiert und redet kommunikations-, sprach-, sozial-, medien-, musik-, kunst-, wirtschafts-, humanwissenschaftlich usw. Darin deuten sich riskante Tendenzen zur Selbstauflösung des Faches an. Der von mir nicht behandelte Zeitraum ist u.a. durch die Verabschiedung ,klassischer‘ Religionsphänomenologie geprägt, der wohl einzigen eigenständigen Methode des Faches. Wer sich durch die religions-kulturwissenschaftliche, in sich uneinheitliche Großwetterlage nicht vom Kurs abbringen lässt und weiterhin die (kontextuelle) Religionsphänomenologie – ohne metaphysische Verstiegenheiten und ahistorische Generalisierungen –, als eine systematische Methode neben anderen Methoden favorisiert, weiß sich international durchaus in guter Gesellschaft. Die deutsche Entwicklung zeichnet sich methodologisch durch ab- und ausgrenzende, allein seligmachende, neo-orthodoxe Tendenzen aus. Das Sprache, Kunst, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft transzendierende ,Mehr‘ der Religion/en, das Interesse an lebendiger Religion als existentielle Größe drohen mehr und mehr verlorenzugehen. Angesichts eines um sich greifenden methodischen Naturalismus mit seinem reduzierten Erfahrungsbegriff plädiert Wolfgang Gantke zu Recht für die „Transzendenzoffenheit“ der Religionswissenschaft. Ich widme diese Einführung meiner Frau Monika, mit der ich seit Jahrzehnten auch wissenschaftlich erfolgreich zusammenlebe. Dieses Buch soll das letzte sein, das uns von einem gelingenden Leben jenseits des Schreibtisches abhält. Bad Münstereifel

8. September 2014

1. Einleitung

Gründe für die Entstehung der Religionswissenschaft

„Väter“ der Religionswissenschaft

Unterschiedliche Ansätze der Fachgeschichte

Das vorliegende Buch bietet eine kurze Darstellung der Geschichte der Religionswissenschaft von ihren (vorwissenschaftlichen) Anfängen bis etwa in die 1970er Jahre. Eric J. Sharpe nennt drei Elementarbedingungen für das Entstehen von Religionswissenschaft: 1. ein Motiv: zum Beispiel pure Neugierde, aber auch Unzufriedenheit mit den ererbten Religionstraditionen; 2. das Vorhandensein von Material über Lehren bzw. Praktiken von Religionen, die nicht zur Dominanzreligion gehören; 3. das Vorhandensein von Methoden, mit deren Hilfe das Material systematisiert werden kann. Als unabdingbare Voraussetzung gehört ein gewisses Maß an „detachment“ (Trennung, Abstand) von der dominanten Religion sowie „interest“ an fremden religiösen Vorstellungen und Praktiken. Hinzukommt eine kritische Haltung gegenüber den eigenen religiösen Vorstellungen (Sharpe 1975: 2). Nach Guy G. Stroumsa sind für das Entstehen einer neuen Wissenschaft die „Entdeckungen neuer Tatsachen“ und die „Herausbildung neuer Methoden“ erforderlich. Vor allem aber das Vorhandensein einer „neuer Sensitivität“, d.h. einer intellektuellen Neugier (Stroumsa 2010: 24). Solche Eigenschaften, die auch für andere Fächer reklamiert werden, werden als „soft skills“ bezeichnet. Oft orientiert sich Wissenschaftsgeschichte an Personen, die für unaufhaltsamen Fortschritt stehen, der in die jeweilige Gegenwart mündet. Eine besondere Rolle spielt die Suche nach den „Vätern“ der jeweiligen Wissenschaften. Diese Ahnen haben jedoch erst in der Rückschau ihre Rolle als „Vaterfiguren“ erhalten. Die Vätersuche geht tendentiell möglichst weit zurück, um dem Fach Ansehen zu verleihen. So wurden Aristoteles zum „Vater der Zoologie“ und Homer, Hesiod, Herodot, Thukydides zu „Vätern der Geschichtsschreibung“. Gibt es in der Religionswissenschaft eine jahrhundertelange Kontinuität von Forschungsinteressen? Häufig wird die Geschichte der Religionswissenschaft als problemorientierte Ideengeschichte dargestellt, welche die Art, Entstehung, Wandlungen und Auswirkungen religionswissenschaftlicher Denkweisen und Fragestellungen betrachtet. Würde die Disziplingeschichte dagegen als Geschichte individueller Wissenschaftler konzipiert, träte die biographische Seite stärker in den Mittelpunkt und damit das familiäre, soziale Umfeld des Wissenschaftlers, sein Bildungsweg, einflussreiche akademische Lehrer usw. Die seit den 1980er Jahren wiederentdeckte „Biographieforschung“ geht von einer kontextualisierten Biographie aus, betrachtet den Forscher vor dem Hintergrund seiner jeweiligen Lebenswelt und stellt ihn in engere und weitere soziale, wirtschaftliche, kulturelle Zusammenhänge. Damit wird der Einzelne zum „Konstrukteur seiner eigenen Biographie“ (Hans Erich Bödeker). Narrative Selbstzeugnisse lassen Lebensumbrüche und Diskontinuitäten hervortreten, so dass die Idee eines kontinuierlichen Lebensweges einer Person als konstruiert erscheint. Nachholbedarf besteht in der Religionswissenschaft bei der Autobiographieforschung. Systematische Auswertungen

1. Einleitung

einschlägiger Autobiographien könnten einen Beitrag zur Dekonstruktion biographischer bzw. posthumer Mythen liefern. Ideen- und problemgeschichtliche Untersuchungen sollten durch institutionsgeschichtliche Zugänge flankiert werden. Erst im letzten Drittel des 19. Jh. etablierte sich die Religionswissenschaft an europäischen Universitäten. Aufgabe institutionsgeschichtlicher Untersuchungen wäre die Erforschung von Organisation, Strukturen, Eingliederung des Faches in Fakultäten/Fachbereiche, Art der Studiengänge, Prüfungen, inhaltliches Lehr- und Forschungsprofil der Hochschullehrer, Benennung des Faches bzw. der Lehrstühle. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte könnten die Beziehungen zwischen Forschern und Forschungsinstitutionen beleuchten: Lehrveranstaltungen (Vorlesungsverzeichnisse), Fachverbände, Studierende des Faches (Geschlecht, Entwicklung der Studierendenzahlen), öffentliche Adressaten. Die Religionswissenschaft würde einen Beitrag zur „historischen Wissenschaftsforschung“ (Lepenies 1978) leisten, wenn sie ihre Geschichte vor dem Hintergrund der allgemeinen Auseinandersetzung des Menschen mit Natur und Gesellschaft (geschichtlich, sozial, kulturell, technisch, ökonomisch) thematisierte. Sir Karl Raimund Popper (1902–1994), prominentester Vertreter des Kritischen Rationalismus, hebt darauf in seiner 12.These ab: „Die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlichfeindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen“ (Popper 1962: 88). Während die traditionelle Wissenschaftsgeschichte die Entwicklung der Wissenschaft als einen evolutionären Prozess deutet, entlarvt die aus Frankreich stammende Epistemologie diesen als eine Konstruktion. Für Georges Canguilhelm (1904–1995) ist die Vorstellung einer stetigen Abfolge sich dauernd optimierender Theorien, die sich auf einen Urvater zurückführen lassen, eine Fiktion. Canguilhelm bemerkt nachdrücklich die Fruchtbarkeit von Irrtümern („dunkle Stellen des Denkens“). Daraus lässt sich folgern, dass eine Geschichte der Religionswissenschaft sich nicht auf den wissenschaftlichen Mainstream konzentrieren, vielmehr auch „Irrwege“ erkenntnistheoretisch ernst nehmen soll. Erst später erkennt man, dass ein so genannter Vorläufer seinen Zeitgenossen voraus war. Dieser Vorläufer ist „nur das Produkt einer bestimmten Wissenschaftsgeschichte (…) und nicht ein Agent des wissenschaftlichen Fortschritts“ (Canguilhelm 1979: 35f.). Nach Poppers Wissenschaftsbegriff beginnt Erkenntnis „nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen, sondern sie beginnt mit Problemen. Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen. Das heißt, dass sie mit der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen beginnt: Kein Problem ohne Wissen – kein Problem ohne Nichtwissen. Denn jedes Problem entsteht durch die Entdeckung, dass etwas in unserem vermeintlichen Wissen nicht in Ordnung ist; oder logisch betrachtet, in der Entdeckung eines inneren Widerspruches in unserem vermeintlichen Wissen, oder eines Widerspruches zwi-

Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Irrtümer

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1. Einleitung

schen unserem vermeintlichen Wissen und den Tatsachen eines anscheinenden Widerspruches zwischen unserem vermeintlichen Wissen und den vermeintlichen Tatsachen“ (These 4; Popper 1962: 87).

Die Religionswissenschaft – eine junge Wissenschaft?

Herkunft des Begriffes Religionswissenschaft

Internationale Bezeichnungen für Religionswissenschaft

Gern umgibt sich die Religionswissenschaft mit dem Charme, eine junge Wissenschaft innerhalb der universitas literarum zu sein. Es gibt aber viele andere Wissenschaften, die ähnlich jung oder noch jünger als die Religionswissenschaft sind: Als Geburtsstunde der modernen Betriebswirtschaftslehre in der Schweiz, Österreich und Deutschland wird das Jahr 1898 angesehen, in dem im deutschsprachigen Raum mehrere Lehrstühle etabliert wurden. Die Wurzeln der wissenschaftlichen Kybernetik gehen gar erst auf die 1940er Jahre zurück. Die Gesundheitsökonomie existiert in den USA erst seit ungefähr 50 Jahren bzw. geht in Deutschland auf das Jahr 1978 zurück. Die zweite Hälfte des 19. Jh. war die formative Epoche der Religionswissenschaft. Damals wurde/n Religion/en in mehreren europäischen Ländern (Schweiz, Niederlande, Belgien, Frankreich, Britannien, Deutschland) zum wissenschaftlichen, in institutionalisierter Weise untersuchten Gegenstand. Der Begriff „Religionswissenschaft“ ist lange vorher mit einer religionsphilosophischen/theologischen Bedeutung belegt (so bei Niethammer, 1795; Henke, 1806–1808. Bei Figl 2003: 21). Diese Form von Religionswissenschaft wollte das Christentum als höchste Religion erweisen. Der katholische Priester, Philosoph und Mathematiker Bernhard Bolzano (1781–1848) verstand unter Religionswissenschaft „die Wissenschaft von der vollkommensten Religion“ (Bolzano 1834, Bd. 1: 3), „die Wissenschaft von der katholisch-christlichen Religion“ (8). Der vor der Existenz eines gleich lautenden Faches bereits im 17. Jh. belegte Begriff „Religionsgeschichte“ (historia religionis) bezeichnete zunächst „Faktensammlungen zur jüdischen und christlichen Religion, ab etwa 1700 auch zu anderen Religionen (…). Im 18. Jh. wird das Fach Religionsgeschichte von der Kirchengeschichte abgegrenzt“ (Figl 2003: 20f.). 1870 verwendete Friedrich Max Müller (1823–1900) den Begriff „Science of Religion“ (Müller 1972), der in der englischsprachigen Welt jedoch keine nachhaltige Bedeutung erlangt hat. Die dort üblichen Begriffe weisen auf jeweils unterschiedliche Aspekte hin: History of Religions, Study of Religions, Comparative Study of Religions, (academic) Study of Religion, Comparative Religion (entweder als systematischer Zweig der Study of religions oder als eigenständige Disziplin). Der Begriff „Religious Studies“ hat ein diffuses Bedeutungsspektrum. Weitere Übersetzungen: „Science des Religions“ (französisch), Religiestudies (niederländisch), Religionsvidenskab (dänisch), religioznawstwo (polnisch). In asiatischen Sprachen heißt das Fach shukyogaku (japanisch), zongjiaoxue (chinesisch), chongkyaohak (koreanisch). Der japanische Begriff ist die früheste Übersetzung des modernen Begriffes Religion in eine ostasiatische Sprache. Dabei dürfte nicht nur europäische Einflussnahme eine Rolle gespielt haben, die gut protestantisch die innere, private Perspektive von Religion hervorhob, sondern es liegt auch „ein aktiver Prozess der „Aneignung“ vor (Krämer: 319ff.). Die japanische Neubildung wur-

Die Religionswissenschaft – eine junge Wissenschaft?

de von den Chinesen übernommen (zongjiao), wird aber in den jeweiligen Religionstraditionen unterschiedlich verstanden (Meyer 2013: 351ff.). Die Frage nach den Anfängen der Religionswissenschaft ist unterschiedlich beantwortet worden. Manche sehen in dem Deutsch-Engländer Friedrich Max Müller (1823–1900) den „Vater der Religionswissenschaft“ (Sharpe 1976: 35), andere in dem Niederländer Cornelis Petrus Tiele (1830–1902). Chantepie de la Saussaye (1848–1920) greift auf den indischen Kaiser Akbar (16. Jh.) oder den islamischen Philosophen Averroës/Ibn Rushd (12. Jh.) zurück, „weil sie für das relative Recht mehrerer Religionen einen offenen Sinn hatten“ (la Saussaye 1889: 3). Nach Guy G. Stroumsa haben die mittelalterlichen Religionskontakte zwischen Christen, Muslimen und Juden wesentlich zur „Entstehung unserer modernen Kategorien des Verständnisses von Religion“ beigetragen (Stroumsa 2010: 259). Er nennt drei Wurzeln der modernen Religionswissenschaft: die großen Entdeckungen, die Entstehung der modernen historisch-kritischen Philologie in Humanismus und Reformation sowie die Religionskriege (16. Jh.). Nicht wenige sehen die Anfänge des Faches in der Antike. Der französische Jesuit Henri Pinard de la Boullaye (1874–1958) beginnt seine Geschichte der Religionswissenschaft in der griechischen Antike. Morris Jastrow Jun. (1861–1921) hebt die religionswissenschaftlichen Leistungen Plutarchs hervor. Edvard Lehmann (1862–1930) betrachtet Herodot im 5. Jh. v. Chr. als ersten Religionshistoriker. Gustav Mensching, Walter Holsten, Eric J. Sharpe, Frank Whaling, Philippe Borgeaud u.a. finden die Wurzeln des Faches im griechisch-antiken Aufklärungsdenken. Der große alte Mann und Querdenker der amerikanischen Religionswissenschaft, Jonathan Zittell Smith (geb.1939), sieht die Religionswissenschaft als „Kind der Renaissance“ (Smith 2004: 364). Samuel Preus führt die Linie der nicht-theologischen, „naturalistischen“ Religionsanalyse bis in das 17. Jh. zurück, hebt dabei den niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677) hervor. Manche lassen die Geschichte des Faches mit der neuzeitlichen Aufklärung anfangen, etwa Gerardus van der Leeuw (Van der Leeuw 1970: 789) und Peter Harrison (Harrison 1990). Gustav Mensching beurteilte die Religionswissenschaft geradezu als „Kind“ der (antiken bzw. neuzeitlichen) Aufklärung (Mensching 1948: 8). Andere betrachten die romantische Kritik an der Aufklärung als Auslöser für religionswissenschaftliche Impulse (Kippenberg 1991: 28f.). Für Eric J. Sharpe gehen entscheidende Anstöße für die Religionswissenschaft vom Evolutionismus/Darwinismus/Spencerianismus des 19. Jhs. aus.

Unterschiedliche Anfänge der Religionswissenschaft

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2. Griechische Religions- und Mythenkritik 2.1 Vorsokratiker und Sophisten Religionssystematik

Aufklärung in Griechenland

Mythendeutungen

Die Anfänge einer gelehrten Beschäftigung mit Religion/en gehen auf die griechische und römische Antike zurück. In der Hesiod (um 700 v. Chr.) zugeschriebenen „Theogonie“ („Entstehung der Götter“) ordnete und erklärte Hesiod die Götterwelt, um zugleich eine moralische Weltordnung zu begründen. Seine Systematisierung des empirischen Materials macht ihn zu einem Vorläufer religionswissenschaftlicher Forschung. Auch bei den Vorsokratikern (ca. 600–380 v. Chr.) von Thales von Milet bis Demokrit von Abdera lassen sich religionsdenkerische Tendenzen beobachten. Die Vorsokratiker waren nicht nur „Philosophen“, sondern wirkten auch als Dichter, Politiker, Charismatiker und Denker. Dabei wandten sie sich an ein breiteres Publikum. Versteht man den Begriff Aufklärung nicht in einem epochenspezifischen Sinne (18. Jh.), so kann man auch von aufklärerischen Elementen in der griechischen Philosophie sprechen. Sie sind zu beobachten in Medizin, Naturwissenschaft, Geschichtsschreibung, Länder-, Völker- und Religionskunde. Die ionische Naturphilosophie und die Mythendeutung der Vorsokratiker enthalten aufklärerische Elemente. Gemeinsam waren den miteinander konkurrierenden Denkschulen ein rationalistischer Denkansatz und die Kritik an den überlieferten Mythen und der Religion. Die Geschichte der Mythendeutung begann mit den Sophisten. Xenophanes (576–480 v. Chr.) kritisierte die polytheistischen Götter auf dem Hintergrund seiner Lehre vom einzigen (kugelförmig vorgestellten) Gott. Xenophanes erkannte die Ähnlichkeit der Göttervorstellungen mit den anthropomorphen Vorstellungen der Gläubigen. Er nahm Vorstellungen der modernen Religionskritik (Ludwig Feuerbach: „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde“) vorweg, ohne jedoch deren atheistische Grundlage zu teilen. Wirtschaftlicher Aufschwung, Demokratisierung und hegemonialer Anspruch machten im 5./4. Jh. v. Chr. die athenische Polis zu einem Zentrum ökonomischen und kulturellen Austausches. Die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen zwang viele Intellektuelle dazu, über Natur, Gott, menschliche Ordnungen nachzudenken. Die Sophisten („Weise“) standen philosophiegeschichtlich zwischen den Vorsokratikern und den philosophischen Systemen von Platon und Aristoteles. Sie wirkten in die Öffentlichkeit hinein, galten als Vorreiter eines neuen kritischen Denkens. Sie übertrugen die Erkenntnisse der ionischen Naturphilosophen in die praktische Philosophie. Die Sophisten pflegten die Kunst des Streitgesprächs, hoben die Grenzen der Wahrnehmung und menschlichen Erkenntnis hervor. Sie betonten die menschliche Eigenverantwortung, schufen ein neues Bildungsideal und praktisch-pädagogische Reformen. „Die Entgöttlichung des athenischen Menschen ist die Folge politischer und weltanschaulicher Krisen. Aufklärung und Sophistik haben den Glauben an die Götter untergraben. Das Individu-

2.1 Vorsokratiker und Sophisten

um zieht sich auf sich selbst zurück und ergibt sich einer Verstandeskultur, die alles und jedes zu begreifen und zu unternehmen vermag“ (Koch 1960: 102). Prodikos von Keos (um 410 v. Chr.) verband die Frage nach der Existenz der Götter mit der nach dem Ursprung der Religion. Auch wenn er die Ursprungsfrage stellte, wollte er nicht den überkommenen Glauben an die olympischen Götter beseitigen. Prodikos ging von der Nützlichkeitserwägung aus: Die Menschen hätten die Götter als das verehrt, was für sie am nützlichsten war – Sonne, Mond, Gewässer, außerdem die großen Kulturbringer, die zuerst den Anbau von Wein, Getreide und anderen Nutzpflanzen gelehrt hatten. Euhemeros von Messene (um 340–ca. 260 v. Chr.) wurde durch seine „Heiligen Aufzeichnungen“ und einen nur fragmentarisch erhaltenen utopischen Reiseroman bekannt. Er berichtete von der Reise zu einer im indischen Ozean gelegenen Inselgruppe. Dort stieß er nicht nur auf eine utopische Gesellschaftsordnung, sondern erhielt Einblicke in die Entstehung der olympischen Religion. Euhemeros systematisierte zum ersten Mal eine altorientalische Mytheninterpretationsmethode. Er behauptete, dass die Götter als Wohltäter und Erfinder, Helden und Eroberer verdiente Menschen gewesen waren, die man nach ihrem Tod als Götter verehrte. Die Mythologie war für Euhemeros eine Ansammlung von Dichtungen. Viele Theorien über Religionen bis in die Neuzeit, bei denen die Verehrung der Ahnen und der Totenkult im Mittelpunkt stehen, haben euhemeristischen Charakter. Sporadisch über Göttliches und Götter sprach Demokrit (460–370 v. Chr.). Seine Ansicht, dass Angst und Schrecken vor Gewittern, Sonnenund Mondfinsternissen die Ursprünge von Religion und Göttern gewesen wären, korrelierte mit seiner Eidola-Theorie. Durch diese versuchte er, die Vorstellung von der Gottheit bei den Menschen der Urzeit zu erklären: Die Eidola („Bildchen“) fließen kontinuierlich von den sichtbaren Dingen ab, treffen auf die Sinnesorgane und erzeugen Wahrnehmung. Die empirischen Gegenstände führte Demokrit materialistisch auf die Verbindung zwischen den im leeren Raum befindlichen, unterschiedlich großen, schweren, gestalteten, unteilbaren Atomen zurück. Auch die Vorstellung von den Göttern deutete Demokrit auf dem Hintergrund der Eidola- und Atomlehre. Bilder übermenschlicher Wesen, Dämonen pflanzen sich durch die Luft fort und werden manchmal von den Menschen aufgenommen. Dass diese Götter („Dämonen“) der alten popularen Religiosität, die sich etwa durch Träume dem Menschen kundtun, unsterblich sind – dafür gibt es keine zweifelsfrei überlieferten Worte Demokrits. Von Kritias (460–403 v. Chr.) stammen wohl die 42 Zeilen aus dem Satyrspiel „Sisyphos“. Kritias schilderte die Urzeit, als die Menschen bar jeder Ordnung waren und rohe Gewalt herrschte. Dann gaben sie sich Gesetze, bestraften Verbrecher: „Wenn jemand ein Verbrechen beging, so wurde er nun gestraft. Als so die Gesetze hinderten, dass man offen Gewalttat verübte, und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder (auch nur) dächten. Er führte daher den Gottesglauben ein: Es gibt einen Gott, der ewig lebt, voll Kraft, der mit dem

Euhemeros und der Euhemerismus

Religionstheorien

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2. Griechische Religions- und Mythenkritik

Geiste sieht und hört und übermenschliche Einsicht hat; der hat eine göttliche Natur und achtet auf dies alles. Der hört alles, was unter den Menschen gesprochen wird und alles, was sie tun, kann er sehen. Und wenn du schweigend etwas Schlimmes sinnst, so bleibt es doch den Göttern nicht verborgen. Denn sie besitzen eine übermenschliche Erkenntnis“ (Kritias, VS 88 b25).

2.2 Herodot – „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung“ Die griechische Einstellung zu fremden Völkern, Kulturen und Religionen mag weniger ethnozentrisch und klischeehaft gewesen sein als die anderer Kulturen (Nippel 1996). Die griechische Zivilisation wusste sich stark von anderen Hochkulturen, insbesondere der ägyptischen, beeinflusst. Alle nicht-griechisch Sprechenden hießen Barbaren, doch drückte dieser Begriff nicht zwangsläufig ein Überlegenheitsgefühl aus. Entdeckungsreisen und Kolonisierungsunternehmungen erweiterten das praktische Wissen um fremde Gegenden, Religionen und Kulturen. Die Werke der im 6./5. Jh. v. Chr. entstandenen ionischen Ethnographie sind in Fragmenten erhalten. Neben nüchternen empirischen Fakten transportierten sie fiktionale Inhalte, sahen in fremden Völkern fantastisch-monströse Kreaturen. Der griechisch-persische Konflikt (Achämenidenreich) führte zu vertieften Kenntnissen über verschiedene asiatische Kulturen. Cicero sah den Historiker, Geographen und Völkerkundler Herodot (485–429/420 v. Chr.) als „Vater der Geschichte“. Für Jean Réville (1854–1908) war Herodot „le père de l’histoire des religions“ (Réville 1909: 48). Auch Jakob Burckhardt sah in ihm den „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung“ (Burckhardt 1931/32: 411). Die Volkskunde reklamierte Herodot als „Vater“ und Tacitus als „Ahnherrn der wissenschaftlichen Volkskunde“ (Riehl bei Bagus: 13). Herodot gewann seine ethnographisch-religionskundlichen Informationen auf Reisen. In den ersten vier „Historien“ gliederte er sein Wissen über etwa 50 Kulturen in drei Teile: 1. In „Land“ informiert Herodot über die Natur des Landes, Flüsse, Klima, Tiere, Bäume usw.; 2. in „Volk – Geschichte und Bräuche“ thematisiert er Bevölkerungszahl, Geschichte, Sitten und Bräuche, Götter, Opfer, Kriegsbräuche, Orakelwesen, Eide, Begräbnispraktiken. Daran schließen sich Informationen über 3. Wunder und Mirakel an. Insbesondere stellt Herodot jene Völker dar, mit denen die Perser in Kontakt kamen: Ägypter, das Reiternomadenvolk der Skythen und Inder. Wenn Herodot religiöse und kulturelle Gewohnheiten beschreibt, legt er den Schwerpunkt auf Sexualmoral, Todesriten und Kulte. Er versteht sich als Augenzeuge, der die mitgeteilten Fakten selbst erlebt hat. Da er keine Fremdsprachen beherrschte, führte er seine Interviews mit Hilfe von Dolmetschern. Dass sich aus dieser Übersetzungsproblematik Verstehensschwierigkeiten ergaben, die zu Verständnisverschiebungen führten, war unvermeidlich. Um seine empirischen Eindrücke und Erfahrungen abzusichern, bedient sich Herodot zusätzlich der lokalen Traditionen. Er bemüht sich, die Wahrheit beziehungsweise Wahrscheinlichkeit seiner Informationen zu prüfen, sie also

2.2 Herodot – „Gründer einer objektiven Religionsbetrachtung“

ggf. zu bestreiten. „Um sich Gewissheit zu verschaffen, ob Herakles ein genuin griechischer oder ein ägyptischer Gott war, reiste Herodot erst von Ägypten zu einem Herakles-Heiligtum im phönikischen Tyros, dann von Phönikien zu einem Herakles-Tempel auf der nordägäischen Insel Thasos (II 43f.). Knapp 2.000 Kilometer Seereise für die Lösung eines ,religionswissenschaftlichen‘ Detailproblems!“ (Kamp 2010: 11). Herodots Wille zur Zuverlässigkeit und Korrektheit kann wohl nicht bestritten werden; denn er teilte real Erlebtes, Gesehenes und Gehörtes mit („Was ich bisher erzählt habe, beruht auf eigener Anschauung oder eigenem Urteil oder eigenen Erkundigungen“, Historien 2, 35–99, hier 99). Hauptsächlich arbeitete Herodot deskriptiv, doch stellte er auch Hypothesen über den Ursprung und die Beziehungen exotischer und barbarischer Religionen zu den griechischen Kulten und Mythologien auf. Fremde Phänomene verglich er mit heimisch-vertrauten. In Griechenland war schon früh die Auffassung verbreitet, fremde Völker, ihre Sitten und Religionen nicht zu verachten, sondern sie zu idealisieren. Die Barbaren erschienen als Repräsentanten eines ungetrübten, „reinen“ Urzustandes. Hiermit konnte sich die Vorstellung verbinden, dass die Menschheit von ihrer ursprünglichen Höhe der Tugend und Glückseligkeit stufenweise zu immer schlimmerem Elend und Frevel herabgesunken ist. An anderer Stelle wendet Herodot das schon vor ihm praktizierte hermeneutische Verfahren der „Interpretatio Graeca“ an. Die den Griechen unbekannten Götter wurden mit eigenen identifiziert. Auch wenn Herodots religionswissenschaftliche Urteile manchmal voreingenommen, sogar objektiv falsch sind, tritt er uns als Vertreter einer nach Objektivität strebenden vergleichenden Religionswissenschaft entgegen. Es ging ihm um die möglichst wertneutrale Beschreibung religiöser Inszenierungen (Zeremonien, Rituale). Dies geschah mit Interpretationsmustern aus der eigenen Kultur. Der Eroberungszug (334–324 v. Chr.) des makedonischen Königs Alexander des Großen („Alexanderzug“) brachte neue Kenntnisse und erweiterte das religionsgeschichtliche Weltbild. Die Inder werden als Idealvolk verklärt, deren Ideal der Bedürfnislosigkeit an das der Kyniker erinnerte. Zur Zeit der ersten beiden Seleukidenkönige entstand eine umfangreiche Reiseliteratur. Seleukos I. entsandte den Historiker, Geographen und Diplomaten Megasthenes 302 v. Chr. an den Königshof von Pataliputra (das heutige Patna im indischen Bundesstaat Bihar). Megasthenes‘ Bericht über Indien („Indiká“) ist nur noch in Fragmenten erhalten und gilt bis heute als wichtige historische Indienquelle. Megasthenes beschrieb die zeitgenössischen sozialen und politischen Verhältnisse, ausgewählte Tiere, die Geographie Indiens, unterschied 118 Bevölkerungsgruppen (damit meint er vielleicht die Jatis: „Geburtsgemeinschaften“), kennt vier Varnas („Stände“) und sieben Berufsgruppen. Im Kontext des Themas Eheverbindungen stellte sich ihm das Problem, in welche Gruppe die außerhalb des Ständesystems stehenden griechischen bárbaroi gehörten. Megasthenes deutete die indische Götterwelt von seinen griechischen Vorstellungen her. Im Kontext der indischen Weisheitslehren nannte er den in den Bergen verehrten Dionysos (Shiva) und den Flachlandgott Herakles (Krishna).

Interpretatio Graeca

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3. Frühe Universitäten Bereits 600 Jahre vor Gründung der ältesten europäischen Universitäten (Bologna: Ende 11. Jahrhundert; Paris, Oxford: Anfang 13. Jh.) entstand südwestlich von Bihar die international renommierte buddhistische Mönchsuniversität Nalanda. Die ca. 10.000 Studierenden kamen aus Indien, China, Tibet, Korea, Japan und anderen asiatischen Gegenden. Einige stammten aus der Türkei. Nalanda war die einzige nicht-chinesische Hochschule, auf der jeder chinesische Student die Geschichte des alten China studieren konnte. Zum Curriculum von Nalanda gehörte so gut wie alles bekannte Wissen der damaligen Welt – religiöses (buddhistisches und vedisches) und nicht-religiöses (Astronomie, Medizin, Philosophie, auch nicht-indische). Zu den Elitehochschulen Chinas zählten die Höchste kaiserliche Lehranstalt und die Kaiserliche Akademie. Die Lehranstalt entstand zur Zeit des Kaisers Wudi (Han-Dynastie). Zu Beginn des 2. Jh. vor Chr. entsprach die Studierendenzahl einer mittleren deutschen Universität (über 30.000). 276 wurde die Akademie gegründet, die ausschließlich für den Nachwuchs der Aristokratie und für die hohe Beamtenschaft offenstand. Mittelpunkt der Lehre war der Konfuzianismus, und die Dozenten waren Autoritäten für die „sechs Klassiker“. Auf den Lehrplänen der staatlichen zentralen Schulen standen Kampfkunst, Mathematik, Medizin, bildende Künste, Kalligraphie und Justizwesen. Neben Nalanda ragen noch zwei weitere Hochschulen heraus: Vikramshila und Odantapuri, deren zentrale Lehrinhalte sich auf den Buddhismus bezogen. Die im Südwesten Irans gelegene, auf zoroastrischem Fundament gegründete Akademie von Gundischapur (271 n. Chr.) war die bedeutendste intellektuelle Einrichtung im Sassanidenreich. Besonders Medizin, aber auch Philosophie, Musik und Religion gehörten zu den Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Gundischapur. Aramäische und nestorianische Christen, die im byzantinischen Reich verfolgt wurden, übersetzten griechische und aramäische Texte in das mittelpersische Pahlavi. Philosophische, medizinische, mathematische, astrologische und religiöse Texte, insbesondere aus dem indischen und chinesischen Raum, wurden übersetzt. Die im 3. vorchristlichen Jh. gegründete berühmteste Bibliothek der Antike in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria war Teil einer Forschungsstätte, des Museion (Musenheiligtum), und folgte dem Vorbild athenischer Philosophenschulen (Akademie, Lykeion). Die am Museion tätigen, vom König persönlich ernannten Gelehrten forschten in allen Wissensbereichen der antiken Welt, wobei neben Mathematik, Zoologie, Botanik, Physik, Astronomie und Medizin ein großes Gewicht auf die Philologie gelegt wurde.

4. Frühchristliche Apologeten Die frühen christlichen Theologen betrachteten das Verhältnis ihrer eigenen Religion zu den Umweltreligionen nicht als schroffen Gegensatz und reihten das Christentum in den Kreis der anderen Religionen ein. Zwar galt es als „absoluter Höhepunkt“, doch nicht als „Kontrapunkt“ (Stockmeier: 38) zu den anderen Religionen. Der „samenhaft ausgestreute Logos“ (logos spermatikos) fand sich nach der universalistischen Theologie der Apologeten („Verteidiger“ des Glaubens) auch bei vernünftigen „Heiden“, etwa Indern, Persern, Ägyptern und Griechen. Der „ganze Logos“ (pas logos) erschien ausschließlich in Christus. Clemens von Alexandrien (ca. 150–ca. 215), Leiter einer Athener Katechetenschule und Begründer der kirchlich-theologischen Wissenschaft, besaß eine gründliche klassisch-antike Bildung. In Pantaenus (gest. ca. 216) aus Alexandrien fand er seinen Lehrer, und beide wirkten als christliche „Philosophen“ in Alexandrien. Clemens teilte in seinem Werk mancherlei religionsgeschichtliche Informationen mit, zum Beispiel über die griechische Prophetin Sybille. Alexandria war im 2./3. Jh. die Drehscheibe der damaligen Welt zwischen Ost und West, und hier kursierte auch indisches Gedankengut. Nicht nur in der griechischen Philosophie, sondern auch in der indischen sind „Funken der Wahrheit“ vorhanden. Im ersten Buch seiner „Teppiche“ (Kapitel XV, 71. 4.5 und 6) erwähnt er bei den „Ägyptern die Priester, bei den Assyriern die Chaldäer, bei den Galliern die Druiden, bei den Baktrern die Samanäer, bei den Kelten die Freunde der Philosophie, bei den Persern die Magier (…), bei den ,Indern‘ die Gymnosophisten, eine andere Art barbarischer Philosophen (…). Zu den Indern gehören die Anhänger der Lehre des Buddha, den sie wegen seiner alles überragenden Heiligkeit wie einen Gott geehrt haben.“ Der größte westliche Kirchenvater, Augustinus (354–430), sah in den römischen Göttern entweder Menschen oder unreine Geister. Er unterschied zwischen „wahrer“ und „lügnerischer“ Gottesvorstellung. Seine Religionskritik bezog sich auf die Eigenschaften der anthropomorph vor- und dargestellten Götter, die er nicht als göttliche Wesen sah, da sie nicht dem wahren Wesen Gottes entsprachen.

Religiöser Universalismus der Kirchenväter

5. Religionswissenschaft in nicht-europäischen Ländern und Kulturen 5.1 China Der buddhistische Mönch Fa-Hsien (Fa-Hien, chin. Faˇxiaˇn, um 337–422 n. Chr.) reiste um 399 zusammen mit vier anderen Mönchen von China nach Nepal. Die Gruppe benötigte sechs Jahre, um die Geburtsstätte Buddhas in Kapilavastu („ein Ort weitläufiger Trostlosigkeit“) aufzusuchen, sich mit dem gelebten Buddhismus zu beschäftigen und die vollständige Ausgabe des Vinayapitaka („Korb der Ordensregeln“) nach China zu bringen. FaHsien studierte mehrere Jahre vor Ort Sprachen, sammelte Texte, bereiste berühmte Stätten. Auf seiner Rückkehr machte er zwei Jahre Halt auf Sri Lanka. 414 betrat Fa-Hsien wieder chinesischen Boden – im Gepäck Texte und Kunstgegenstände. Sein restliches Leben verbrachte er damit, die Schriften ins Chinesische zu übersetzen. Sein Reisetagebuch enthält Schilderungen des Buddhismus in Indien, auch Informationen über den damaligen Hinduismus. Der wohl beeindruckendste Reisebericht vor dem Marco Polos stammt von Hsüan-tsang (Xuanzang, 602–664). Als Dreizehnjähriger konvertierte der aus einer konfuzianischen Gelehrtenfamilie stammende Hsüan-tsang zum Buddhismus. Unzufrieden mit einem Buddhismus, wie er in seinem Heimatland widersprüchlich gelehrt und praktiziert wurde, machte er sich 622 für 16 Jahre auf die Suche nach dem „wahren“ Buddhismus. An der buddhistischen Mönchsuniversität Nalanda kritisierte Hsüan-tsang zwei hinduistische Lehrrichtungen (Samkhya und Vaisheshika) und den atheistischen Monismus der Jainas und debattierte in religiös-philosophischen Zirkeln. Angeblich widerlegte Hsüan-tsang 500 Brahmanen und heterodoxe Buddhisten.

5.2 Islam Seit den Zeiten des Korans, der neben „Schriftbesitzern“, insbesondere Juden und Christen, noch Sabier und Zoroastrier unterscheidet, beschäftigten sich islamische Theologen mit diesen und anderen Religionen. Weil sich die islamischen Reiche nach Süd- und Zentralasien, Nordafrika und Europa ausbreiteten, nahm die literarische Auseinandersetzung mit den politischen und religiösen Verhältnissen rasch zu. Theologisch dominierten apologetische und polemische Studien, die sich an „islamischen Häresien“ abarbeiteten, zugleich aber religionskundliches „Wissen“ vermittelten. Während des „Goldenen Zeitalters“ des Islam (8.–13. Jh.) wurde Bagdad nach Babylon zur Verkörperung von orientalischem Multikulturalismus und Wissenstransfer. Diese Metropole spielte eine wichtige Rolle für die Überlieferung hel-

5.2 Islam

lenistischen und östlichen Wissens in Naturwissenschaft, Mathematik, Philosophie, Geographie, Astronomie, Literatur und Religion/en. Weltrang hatte das „Haus der Weisheit“ in Bagdad. Hier arbeiteten 90 Gelehrte (darunter 37 Christen, acht Sabäer, neun Juden) an wissenschaftlichen Übersetzungen (Galen, Hippokrates, Platon, Aristoteles, Ptolemäus, Archimedes) hauptsächlich aus dem Griechischen ins Arabische. Ähnliche Einrichtungen wurden später in Córdoba und Sevilla nach dem Muster von Bagdad geschaffen. Der große Reisende Al-Mas’udi (um 890–956), der Pakistan, Indien, Ostafrika, evtl. Zanzibar, Kaspisches Meer, Kaukasus, Ägypten, Syrien und den Jemen bereiste, rezipierte die ihm zugänglichen Schriften über Naturwissenschaften, Erdkunde, Geschichte, kannte Aristoteles, Ptolemäus und Platon. Außerdem stand er in Verbindung mit den Gelehrten vieler religiöser Richtungen. In seinem „Buch der Goldwäschen und Edelsteinfundstätten“ (943–947) schilderte er die Geschichte der Welt seit der Schöpfung. Im zweiten Teil stellte er die Geschichte des Islam vom Ende des 6. Jh. bis 947 dar. Im ersten Teil informierte er auch über religiöse Gedanken der Inder, Chinesen, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Franken, Galicier und Langobarden. In die erste Reihe islamischer Religionswissenschaftler gehört der persisch-islamische Naturwissenschaftler al-Bı¯ru¯ nı¯ (973–1048). Seine Methode war empirisch ausgerichtet. „Einen gestörten Eindruck“ machten auf ihn diejenigen, „die nur Autoritäten folgen und ihre Prinzipien dem entnehmen, was ihnen gesagt wird, ohne dass damit eine Methode der Überprüfung einher geht“. Al-Bı¯ru¯nı¯ trat als Astronom hervor, war Geograph und Übersetzer, Mathematiker, Physiker – und Religionswissenschaftler. Er war eng mit dem Philosophen und Mediziner Ibn Sı¯na¯ (Avicenna) befreundet. Al-Bı¯ru¯nı¯ begleitete Sultan Mahmoud von Ghazna auf dessen Eroberungszügen in Nordwestindien (Afghanistan) und schrieb darüber ein ausführliches Werk. In seinen Tagebüchern hielt er seine Beobachtungen über die Lebensweise der Menschen, ihre Kulturen und Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, auch Christentum und Judentum), Tiere und Pflanzen, Kosmologie und Astronomie fest. In einer Zeit, als die islamische Theologie damit beschäftigt war, Christen aufgrund der „Fälschungshypothese“ eine Verzerrung des Evangeliums anzulasten und polemische Auseinandersetzungen die Superiorität des Islam beweisen sollten, befasste sich al-Bı¯ru¯nı¯ und der aus Sharistan in der persischen Provinz Chorazan stammende asharitische Theologe und Religionshistoriker asch-Schahrasta¯nı¯ (1086–1153) in seinem „Buch der Religionsparteien und Philosophenschulen“ u.a. mit Al-Hind (Indien) und dem Manichäismus. Auch asch-Schahrasta¯nı¯ gehört zu den Pionieren der Religionswissenschaft im Islam. Sein Werk war ein Versuch, andere Religionsgemeinschaften und Philosophien fair darzustellen. Al-Bı¯ru¯nı¯ legte eine differenzierte Darstellung der Religionen vor, etwa der hinduistischen Bhakti-Frömmigkeit. Seine Erkenntnisse gewann er aus Textstudien und eigener exakter Beobachtung. Wie wichtig für ihn das empirische Vorgehen vor Ort war, zeigte sich daran, dass er frühere, nicht auf seiner eigenen Anschauung beruhende Literatur nicht erwähnte. Al-Bı¯ru¯nı¯ schrieb über die Kastenordnung, Ethik, Kühe, Schöpfungsvorstellungen (Weltei), unterschiedliche Religionsformen (populare Religiosität/Religiosi-

Pioniere islamischer Religionswissenschaft

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5. Religionswissenschaft in nicht-europäischen Ländern und Kulturen

tät der Eliten). Dabei bezog er auch Position, indem er die Einstellung der gebildeten Hindus gegenüber der bilderfrohen Frömmigkeit popularer Religiosität, einschließlich der islamischen, favorisierte. Auch reflektierte er seine eigenen Vorurteile bei der Begegnung mit Hindus. Seiner eigenen religiösen Position als Muslim war er sich bewusst. Kam ihm in anderen Religionen etwas „merkwürdig“, schwer verständlich vor, nutzte er den systematischen Religionsvergleich als Verstehenshilfe. Al-Ghazalis (1095–1111) vierbändiges Werk „Ihya’ ulum al-din“ („Wiederbelebung der Religionswissenschaften“, wie sein Titel fälschlich übersetzt wird) war keine Religionswissenschaft in welchem Sinn auch immer, sondern ein Kompendium islamischer Theologie und Ethik („ulum ad-din“: „Wissen[schaften] der [islamischen] Religion“). Der Autor polemisierte gegen ismailitische Esoteriker und Philosophen im Allgemeinen. Der als „Religionswissenschaftler von Rang“ (Singer: 292) bezeichnete Theologe, Philosoph und Dichter Ibn Hazm (994–1064) aus Córdoba war ein guter Kenner nicht-islamischer Traditionen. Er verließ sich nicht auf Sekundärliteratur, sondern arbeitete empirisch. Auch wenn seine Qualitäten als Historiker nicht zu bestreiten sind, so war sein Hauptwerk nicht allein historisch ausgerichtet, sondern verfolgte theologische Zielsetzungen. Ibn Hazm bemühte sich nicht – wie etwa al-Bı¯ru¯nı¯ –, andere Religionen aus sich selbst heraus zu verstehen. Stattdessen setzte er fremde religiöse Inhalte in Beziehung zu Lehren der eigenen Religion und kritisierte sie auf dieser Grundlage. Ibn Khaldun verbrachte seine frühen Jahre in Tunis, Marokko und Granada. Ibn Khaldun bekleidete hohe politische Ämter, war zum Beispiel Premierminister des hafsidischen Sultans (Algerien). Berühmt gemacht hat ihn neben der Schrift Kitab al-Ibar (Buch der Beispiele) seine Al-Muqaddima („Die Prolegomena“), entstanden in den Jahren 1374 bis 1377. In Europa wurde es erst Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt. Mit seiner Muqaddima legt Ibn Khaldun ein empirisches Werk vor mit einer auf Tatsachen basierenden Analyse der islamischen Geschichte. Seine letzten Jahre verbrachte Ibn Khaldun in Ägypten: als Professor, als oberster malikitischer Qadi und Lehrer an verschiedenen Medresen. Ein zentraler Begriff seines Werkes ist Asabiyya („Stammeszugehörigkeitsgefühl, Blutsbande, Sippensolidarität, Gruppengefühl“). Es ist die wesentliche Voraussetzung für die Gründung und den Erhalt der weltlichen Macht (mulk) in jeder Epoche der Geschichte. Bei den immer dekadenter und korrupter werdenden Städtern wird Asabiyya schwächer. Nach mehreren Generationen ist die auf der Asabiyya gründende Macht der städtischen Dynastie derart geschrumpft, dass sie Opfer eines aggressiven Stammes vom Land mit starker Asabiyya wird, der nach Eroberung und teilweiser Zerstörung der Städte eine neue Dynastie stellt.

6. Religionswissenschaft im Mittelalter 6.1 Einführung In den Kultur- und Geisteswissenschaften hat sich der Begriff „Vormoderne“ eingebürgert, um eine extrem lange Epoche von immerhin 1000 Jahren zu begreifen: die Spanne zwischen dem Ende der griechischen Antike und der Aufklärung. Am Anfang stand die karolingische „Bildungsoffensive“ der „Correctio“ (Korrektur des Sprachgebrauchs), die mit der 789 durch Karl den Großen erlassenen „Admonitio generalis“ („allgemeine Ermahnung“) begann und zur „karolingische Renaissance“ führte. In der Zeit um 800 wurden die Fundamente für die weitere Geschichte Europas gelegt. Im frühen Mittelalter fand ein beeindruckender Wissenstransfer von der Antike her statt. Der Begriff Mittelalter bezeichnet „eine nachantike Kultur vorwiegend christlicher Prägung wie auch lateinischer Elitensprache“ (Borgolte 2001: 2), begrenzt auf das westliche und mittlere so genannte „Rumpfeuropa“. Über die Kirchenväter fand antikes Wissen – auch über „heidnische“ Götter und Religionen – Eingang in den karolingischen Bildungskanon. Bibliotheken speicherten das Wissen, wobei geistige Eliten eine Führungsrolle spielten. Als Ende der „Vormoderne“ gilt die „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) – Metapher abgeleitet von Bergsattel – zwischen 1770 und 1830. Den Aufklärern erschien das Mittelalter als „finster“, eng, antiaufklärerisch. Die Wissenschaften und Sitten waren „durch elende Fratzen entstellet“ (Kant), in der Scholastik sah Hegel die „gänzliche Verwirrung des Verstandes“. Die Romantik kehrte diese Stigmatisierung positiv um und stilisierte das Mittelalter zu einer vergangenen Zeit der Sehnsucht. Neuere Mittelalterforschungen (u.a. Kurt Flasch, Peter Blickle, Johannes Fried) haben den Klischeecharakter solcher Vorstellungen nachgewiesen. So gab es bereits in der hochmittelalterlichen Scholastik die ersten Aufklärer im christlichen Europa (Zeit der Staufer: „Europas erste Aufklärung“). Das 10. Jh. war „der Vernunft verfallen“ (Fried). Albertus Magnus (um 1200–1280) führte methodischen Zweifel, systematische Beobachtung und experimentelle Überprüfung in die Wissenschaft ein. Vor ihm hatte Petrus Abaelard (1079–1142) auf die Bedeutung des Zweifels hingewiesen, durch den man erst zur Wahrheit gelangte: „Credo ut intelligam“ („Ich glaube, damit ich verstehe“) und „fides quaerens intellectum“ („Der Glaube sucht die Vernunft“) waren Wahlsprüche des Anselm von Canterbury (1033–1109). Die Scholastik wollte die Übereinstimmung von kirchlicher Lehre und Vernunft nachweisen. Im13. Jh. bildete sich nach Kurt Flasch „das umfassendste Konzept von Rationalität vor Descartes“ heraus.

Vormoderne

„Sattelzeit“

Europas erste Aufklärung

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6. Religionswissenschaft im Mittelalter

6.2 Die mittelalterliche Vorstellung von der Welt

Ebstorfer Weltkarte

Sog. „Heiden“

Um einen Eindruck von der mittelalterlichen Vorstellung der Welt, ihren Kontinenten samt den darauf lebenden, zum Teil für„merkwürdig“ gehaltenen Einwohnern zu gewinnen, ist ein Blick auf die größte mittelalterliche Weltkarte hilfreich. Dass die Welt auf der „Ebstorfer Weltkarte“ (um 1235) als Scheibe dargestellt wird (Oblate?), ist bestritten worden. Der Romanist Reinhard Krüger wies darauf hin, dass schon griechische Philosophen (Parmenides, Platon im 5. bis 4. Jh. v. Chr.) das Modell „einer unendlichen und sphärischen Welt“ lehrten. Viele Gelehrte vertraten im Mittelalter die Auffassung von der Kugelgestalt der Erde (Krüger 2007: 33): „Der Niedergang der antiken Kosmologie und des antiken Globuskonzepts im Mittelalter hat nicht stattgefunden. Es gibt folglich auch keine Wiederentdeckung der antiken Kosmologie und der antiken geographischen Konzepte in der Renaissance.“ Auf der „Ebstorfer Weltkarte“ ist die Welt von Wasser umgeben. Der Osten (oben) zeigt einen freundlich dreinblickenden Christuskopf mit langen Haaren. Am Rande des nördlichen (links) und westlichen Teils erkennt man die ausgestreckten Hände Christi. Im Westen befinden sich seine leicht nach links und rechts weisenden Füße. Im Zentrum liegt Jerusalem, und man erkennt den aus dem Grab auferstehenden Christus mit dem Siegeszeichen in der rechten Hand, die linke nach oben gerichtet. Nach mittelalterlicher Vorstellung war der Erdkreis in die Kontinente Asien (doppelt so groß wie die beiden anderen zusammen), Afrika und Europa geteilt. Das empirische Wissen über die außereuropäischen Kontinente war damals gering, stammte aus antiken Quellen. Von Asien „wusste“ man, dass im fernsten Osten das Paradies mit den vier Paradiesströmen (Ganges, Euphrat, Nil, Tigris) lag. Jerusalem war „Nabel der Welt“. Hier, wo Christi Auferstehung stattgefunden hatte, erwartete man die Rückkehr des Messias. Fabelwesen, exotische Tiere, Tiermenschen bevölkerten die Peripherie des Erdkreises (Signori 2007: 12–21). Die Erforschung des christlich-mittelalterlichen Bildes von den „Heiden“ steht noch in den Anfängen (Zech 2012). Die Anhänger fremder Religionen wurden in den lateinischen Quellen emotionslos mit ihren ethnischen Bezeichnungen (Mauri, Arabes) bzw. daran angelehnt (Saraceni, Ismaelites, Agareni für Islam/Muslime) ohne religiöse Bezüge genannt. Gentiles und pagani waren übliche Begriffe für „heidnische“ Völker. Gentes („Völker“) konnte auch eine religiöse Bedeutung haben. Haeretici („Häretiker“) dagegen hatte einen deutlichen religiösen Inhalt, bezeichnete die von der religiösen Wahrheit, der christlichen Gemeinschaft Abgewichenen (Goetz 2012).

6.3 Religionsgeschichtliches Wissen in mittelalterlichen Enzyklopädien Enzyklopädien sind „Nachschlagewerke, die in Form von detaillierten Auskünften einen vollständigen Überblick über den zeitgenössischen Stand des Wissens einer, mehrerer oder aller Disziplinen zu geben suchen“ (Jürgen Mittelstraß, bei Conrad: 32). Die Verfasser der mittelalterlichen Enzyklopä-

6.5 Das Bild Chinas in den Berichten von Missionaren und Kaufleuten

dien wollten das gebündelte Wissen ihrer Zeit den Lesern zur Verfügung stellen. Handbücher, Universalgeschichten und Enzyklopädien entstanden: ausführliche, umfangreiche, thematisch breit aufgestellte Wissenssammlungen für praktische Zwecke. Einer der frühesten mittelalterlichen Enzyklopädisten war der spanische Mönch und Heilige Isidor von Sevilla (um 560–636). Er bot eine prägnante Zusammenfassung der geistigen Grundlagen Europas: antikes Erbe, Bibel, frühe Kirchengeschichte. Sein Wissen stammte aus bekannten antiken Quellen. Isidors Interesse an ethnologischen bzw. religiösen Inhalten ist nicht sehr ausgeprägt. In Buch 8 („Kirche und Sekten“) beschreibt er jedoch Kirche und Synagoge; Religion und Glauben; Häresie und Schisma; Christliche Häresien; Philosophen der Völker; Dichter; Sibylle; Magier; Heiden; Heidnische Götter. Isidors Werk mag als Beleg dafür dienen, wie gering das mittelalterliche Wissen über andere Völker und Religionen war. 600 Jahre später legte der franziskanische Scholastiker Bartholomäus Anglicus (um 1190–nach 1250) seine 19-bändige Enzyklopädie „De proprietate rerum“ („Die Ordnung der Dinge“) vor. In diesem Werk wie auch in anderen mittelalterlichen Enzyklopädien werden die „Realien“, die wirklich existierenden Dinge und Tatsachen, oft durch wundersame, legendäre, abergläubische Phantasien überwuchert.

6.4 Religionsgeschichtliches Wissen in der Reiseliteratur Im 13. Jh. begannen Händler, Botschafter und Missionare, Forscher und Abenteurer sowie Kreuzfahrer die geographischen und mentalen Grenzen zu erweitern. Zu den ältesten und beliebtesten Literatursorten gehörte die Reiseliteratur. Berichte über fremde Völker, Erdteile und Kulturen wurden von den Daheimgebliebenen mit großem Interesse verschlungen. Von ihren Zwecken her betrachtet lässt sich diese Reiseliteratur in sieben Gruppen einteilen: Pilgerführer (Rom, Santiago de Compostela, Jerusalem) schon seit dem 4. Jh.; Pilgerberichte; Kreuzzugsschilderungen (Itinerarium peregrinorum); Berichte von Botschaftern und Missionaren; Führer für Kaufleute; Berichte von Forschern und Abenteurern; imaginäre Reisen (Richard 1981).

6.5 Das Bild Chinas in den Berichten von Missionaren und Kaufleuten Zu Schreckgespenstern wurden im 13. Jh. die Mongolen und Tataren, die in Russland, Armenien, auf dem Balkan einfielen. Zeitgenössische Autoren entwarfen apokalyptische Zerrbilder dieser „unmenschlichen“ Eindringlinge. Der italienische Franziskaner Johannes de Plano Carpini (ca. 1182–1248/52) erwähnte in seinem Reisebericht über die Mongolen auch den Buddhismus. Für die Geschichte der Religionswissenschaft ist seine „Geschichte der Mongolen“ (1245–1247) relevant. Sie war der erste christliche Augenzeugenbericht über die (religiöse) Welt Ostasiens: Kiew, Reich

Typen von Reiseliteratur

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6. Religionswissenschaft im Mittelalter

Beispiel mongolischer Religionstheologie

der Goldenen Horde, Karakorum. Carpini thematisierte neben ethnographischen Themen die „Art und Weise ihres Glaubens“ und ihre „religiösen Gebräuche“. Der flandrische Franziskaner Wilhelm von Rubruk/Ruysbroek (zwischen 1215/1220–ca. 1270) befasste sich in seinem „Itinerarium Wilhelmi de Rubruc“ (1255) mit dem mongolischen Vielvölkerreich, überlieferte ein detailliertes, „objektives“, friedliches Bild dieses Volkes. Auch wenn er die religionspluralistische Situation im Mongolenreich (u.a. Vajrayana-Buddhisten, Nestorianer, Muslime, mongolischer Synkretismus) nicht schätzte und der christlichen Mission Bahn brechen wollte, schrieb er zwei differenzierte Kapitel über den Buddhismus. In der Geschichte des interreligiösen Dialoges nimmt sein religiöses Streitgespräch mit dem Großkhan einen hohen Rang ein. 500 Jahre vor Lessings Ringparabel formulierte er das Bekenntnis: „Wir Mongolen (…) glauben, dass es nur ein Gott ist, in dem wir leben und in dem wir sterben und auf ihn ist unser Herz gerichtet. (…) Aber wie Gott der Hand verschiedene Finger gegeben hat, so hat er auch den Menschen verschiedene Wege gegeben, selig zu werden“ (Kapitel 18). Großen Publikationserfolg hatte der Bericht des venezianischen Kaufmanns Marco Polo (1254–1324) über seine Reise nach China. Diese immer wieder als Erfindung abgetane Reise fand wohl wirklich statt (Schütte 2008; Vogel 2012; anders Bayard 2013). Marco Polo berichtete über die Buddhalegende, das hohe Ethos der buddhistischen Einsiedler. Er lernte die im Palast Kublai Khans tätigen tibetischen Lamas kennen. Diese „Zauberer“ wären „kraft ihrer Weisheit und Beschwörungsformeln“ in der Lage gewesen, in das Geschehen der Natur einzugreifen und Regen und Unwetter vom Hofe abzuwenden. Carpini, Rubruk oder Marco Polo kann man nicht als Religionswissenschaftler bezeichnen. Sie lieferten jedoch für ihre Zeit neues empirisches Wissen über fremde Religionen, das über die Kenntnisse der antiken Autoren hinausging. Informationen über den Buddhismus wurden zu Beginn der Neuzeit von römisch-katholischen Missionaren (Franz Xavier, 1506–1552) verbreitet, die im 16. und 17. Jh. nach Fernost vordrangen. Das Genre der Reisebeschreibungen informiert seine Leser über ferne und fremde Länder, deren Einwohner und (religiöse) Sitten und Bräuche. Dabei wird die fremde, alterative Wirklichkeit mit Begriffen der eigenen Kultur und Religion gedeutet. „In den Reisebüchern dient die Darstellung einer fremden Wirklichkeit der Festigung ethischer Normen des ,Eigenen‘, indem das ,Fremde‘ mit seinem Wertesystem als Gegensatz zum ,Eigenen‘ dargestellt und gleichzeitig aufgrund der Unterschiede dem ,Eigenen‘ gegenüber herabgesetzt wurde“ (Nushdina: 161).

6.6 Roger Bacons Versuch einer historischen und systematischen Religionswissenschaft Die Beschäftigung des Franziskaners Roger Bacon (ca. 1214–ca.1292) mit den Religionen wurde als „mittelalterlicher Versuch einer historischen und systematischen Religionswissenschaft“ bewertet (Heck 1957). Dieser engli-

6.6 Roger Bacons Versuch einer historischen und systematischen Religionswissenschaft

sche Universalist war eine zentrale Gestalt der hochmittelalterlichen Philosophie, mit der er unzufrieden war, mit deren spekulativem, autoritätsgebundenem Denken er haderte. Bacon sprach der Erfahrung ein besonderes Recht zu. Er kannte den Reisebericht Wilhelm von Rubruks, möglicherweise traf er seinen Ordensbruder 1255 in Paris. Obwohl Bacon niemals europäische Grenzen überschritt, lieferte er ein verblüffend differenziertes Bild des zeitgenössischen Religionsspektrums. Wertend unterschied er „reine Heiden“ (pagani puri), die weder Glaube noch Gesetz hatten, „Götzendiener“ (idololatrae, worunter er die Buddhisten verstand), Tartari (Mongolen), die einen Schöpfergott verehrten, schließlich die drei monotheistischen Schriftreligionen: Sarazenen (Muslime), Judaei und Christiani, die „secta fidelis et perfecta“. Hinzu kommt die „lex Antichristi“, die alle Religionen (leges) mit Ausnahme der christlichen zerstören wird. Bacon benutzte nur selten den Begriff Religion (Feil 1997: Bd. 1, 117–120), sprach stattdessen von secta (auch lex „Gesetz“ bzw. ritus). Auch der Religionsdialog hatte in Roger Bacon einen wichtigen frühen Vertreter.

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800) 7.1 Einführung Veränderung und Neubestimmung von Wissen

Privilegiertes und prekäres Wissen

„Erfindung“ des Buchdrucks

Zwischen 1500 und 1800 veränderte sich „der Status von Wissen qualitativ und quantitativ“, wobei „die Magie der Jahrhundertwende (…) um 1800/ 1801 auf das Verbreitungsgebiet des Christentums beschränkt (war)“ (Osterhammel 2008: 90). Wissen wurde inhaltlich neu bestimmt, „auf andere Weise hervorgebracht und anders verwaltet als Folge medialer, technologischer und institutioneller Innovationen, aufgrund soziostruktureller Veränderungen, durch den Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen sowie durch das Anwachsen von Alternativen und Konflikten in Religion und Politik, in den Künsten und Wissenschaften.“ („Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit“, Kiel.) Das Wissen unterschied sich auch hinsichtlich der Formen und medialen Präsentationen. Bevorrechtigte Texte des Zeitraums waren literarische, philosophische und religiöse Texte. Diese problematisierten bzw. disqualifizierten vorhandene Wissensbestände. Beachtung verdient nicht nur das privilegierte, von der „Wissenschaftsbourgeoisie“ erzeugte, sondern auch das „prekäre Wissen“ (Mulsow 2012). Darunter versteht man das vom Wissenspräkariat erzeugte, oft verschollene, verketzerte, unpublizierte, auch verschlüsselt weitergegebene Wissen zur Zeit der Frühaufklärung, als das Denken und Veröffentlichen von Gedanken ein Wagnis darstellte. Geprägt war der Zeitraum durch weltweite Entwicklungen, die den Horizont des Menschen, sein Welt- und Selbstverständnis veränderten. Seit den konfessionellen Konflikten der Reformationszeit kamen die Konfrontation bzw. Begegnung mit den lebenden Religionen Asiens, Afrikas, Amerikas sowie den antiken Religionen hinzu. Dies vertiefte das Bewusstsein von der eigenen kulturellen Identität. Die „Entdeckung“ ferner Welten führte aber zu keinem Bruch mit der rückwärtsgewandten Renaissance. Offenbar waren die alten europäischen Denkstrukturen flexibel genug, um den „cosmographic shock“ (Johnson 2009: 50) relativ nahtlos in das traditionelle Weltbild zu integrieren. Die Kolonialisierung Amerikas nahm ihren Lauf, die Kolonialmächte England, Spanien, Frankreich und die Niederlande weiteten ihre Herrschaftsbereiche aus, mehrten ihren wirtschaftlichen Reichtum. So gelangten nicht nur Güter (Kartoffeln, Kakao, Gewürze), sondern auch Menschen und Ideen in das alte Europa. Die „Erfindung“ des Buchdrucks durch Johann Gutenberg (um 1400–1468) revolutionierte das Informationswesen. Dadurch nahm das religiöse Wissen zu, das zum ersten Mal in der Geschichte massenhaft reproduziert und verbreitet werden konnte. Seit dem 15. Jh. hatte sich vor allem in den Städten die Lesefähigkeit der Menschen erheblich erweitert, und das In-

7.2 Humanistisches Interesse an der antiken Religionswelt

teresse an Lesbarem stieg sprunghaft. Viele sahen sich sogar nicht mehr in der Lage, der Informationsflut Herr zu werden. Daher entwickelte man neuartige Methoden des Umgangs mit Gedrucktem: universale Bibliographien, noch umfangreichere Enzyklopädien, Nachschlagewerke, Florilegien („Blütensammlungen“) mit erlesenen Zitaten, Kataloge aller erschienenen Druckerzeugnisse. Um Informationen effektiver abrufen zu können, erhielten Bücher detailliertere Gliederungen und Register. Das gesammelte Wissen wurde in Bibliotheken, Archiven und Kunstkammern gespeichert. Die frühe Neuzeit war nicht nur die Epoche der Druckmedien (Einblattdrucke, illustrierte Flugblätter, „Newe Zeitung“), auch durch Briefe und handschriftliche Zeitungen (u.a. „Fuggerzeitungen“ wurde religiöses Wissen übermittelt (Bauer 2011). Das Zeitalter der Printmedien begann nicht erst mit Gutenberg und der Bibel, sondern mit Bilddrucken, die zu einer regelrechten „Invasion der Bilder ins tägliche Leben der breiten Bevölkerung“ (Würgler 2009: 9) führten. Aufgrund der technologischen Fortschritte bei den bildreproduzierenden Verfahren wurde die massenmediale Kommunikation immer stärker durch Bilder bestimmt. Für die Geschichte der Religionswissenschaft seit dem 16. Jh. spielten die sich gegenüber den Texten emanzipierenden Bilderwelten eine besondere Rolle. Über die schriftlichen Ausführungen zu den Vorstellungen von den Religionen, ihren Glaubensinhalten, Göttern und Kulthandlungen hinaus gewährten reichhaltige und wirkmächtige Buchillustrationen einen Einblick in „fremde“ Welten.

Produkte der Massenkommunikation

Bilder

7.2 Humanistisches Interesse an der antiken Religionswelt Als „Aufstand der Mediävisten“ (Wallace K. Ferguson) werden die mit der Abgrenzung der aufeinander folgenden Epochen (Spät-)Mittelalter und Renaissance einhergehenden Probleme bezeichnet. Dahinter steht die Kritik am idealisierten Renaissancebild Jakob Burckhardts, der diese Epoche als monolithische, einzigartige, perfekte Zivilisation dargestellt hatte. Undifferenziert wurde die Renaissance dem „finsteren Zeitalter“ (Petrarca) des Mittelalters gegenübergestellt. Bereits im 12. Jh. hatte es jedoch eine Renaissance gegeben, wodurch die Epoche der Renaissance das Exklusivrecht verlor, die Moderne begründet zu haben. Mehrere kulturgeschichtliche Umwälzungen prägten die Renaissanceepoche: die „Entdeckung“ Amerikas, die Erfindung von Schießpulver und Kompassnadel, die Begründung des heliozentrischen Weltbilds (Nikolaus Kopernikus), Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks, die Reformation. Längst muss das Bild der fortschrittsfeindlichen katholischen Kirche im 16./17. Jh. korrigiert werden. Viele Vorkämpfer des wissenschaftlichen Fortschritts waren damals Geistliche (z.B. Kopernikus). Der Fall des gegen das ptolemäische Weltbild ankämpfenden Mathematikprofessors Galileo Galilei hing mit politischen Krisen, personalpolitischen Netzwerken im Vatikan zusammen. Er war kein Beweis für die generelle Wissenschaftsfeindlichkeit der katholischen Kirche. Hinzu kamen Entwicklungen der Handels- und Geldwirtschaft. Trotz vorhandener Kontinuitäten zum religiös-theologischen Weltbild des Mittelalters war der diesseitsorientierte Renaissancemensch

Kulturgeschichtliche Umwälzungen

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800)

Bildungsideal

Vertreter einer autonomen Natur, entschied und gestaltete nach eigenem Gutdünken. Renaissancehumanismus und Aufklärung waren durch den Fortschrittsgedanken verbunden. Man wollte nicht nur die Antike wiedergebären, vielmehr ihr überlegen sein. Wird der Epochenbegriff Renaissance auf die Bedeutung „Wiedergeburt der Antike“ eingeengt, werden Kontinuitäten zur Epoche der Aufklärung übersehen. Wichtige Anliegen der Humanisten waren Toleranz und Gewissensfreiheit. Im Mittelpunkt der Renaissance stand die an den historisch-kritisch erforschten antiken griechischen und römischen Quellen ausgerichtete Bildung (Literatur, Sprache). Sie ermöglichte es dem Menschen, seine wahre Bestimmung zu erkennen und zu vervollkommnen. Dies fand seinen Ausdruck in einer vollendeten Sprachform. Die Pathosformel „ad fontes“ („zu den Quellen“) brachte diese Orientierung auf den Punkt. Außerdem war der Humanismus durch ein besonderes historisches Bewusstsein geprägt: Man empfand sich als Repräsentant einer neuen, an die klassische Antike anknüpfenden Epoche, die das „finstere Mittelalter“ überwunden hatte. Während der Zeit des Humanismus gab es bereits Persönlichkeiten, die über den europäischen Tellerrand hinausblickten. Zu den Vorläufern des europäischen Akademiewesens zählte die Academia Platonica (1470–1521) in Florenz, die unter der Leitung des Platon- und Plotin-Übersetzers und -Kommentators Marsilio Ficino (1433–1499) an der Wiederbelebung des Platonismus und dessen Versöhnung mit dem Christentum („christlicher Platonismus“) arbeitete. An der Akademie unterrichteten aus Byzanz geflohene Gelehrte griechische Sprache, Philosophie und Literatur. Marsilio Ficinos Schüler Pico Della Mirandola (1463–1494) gehörte zu den ersten Gelehrten, die Kenntnisse der jüdischen Kabbala über die jüdischen Zirkel hinaus verbreiteten. Für die Entwicklung der Religionswissenschaft im 17. Jh. fiel die Auseinandersetzung mit dem (antiken) „Heidentum“, seinen Mythen und „Fabeln“ sowie seinem Verhältnis zur biblischen Religionstradition ins Gewicht. Der niederländische Humanist und (mild) reformierte Theologe Gerhard Johannes Vossius (1577–1649) griff in seinem Werk „De theologia gentili …“ (3 Bde. 1642) auf die Abhandlung von Alessandro Sardi (1520–1588) „De Moribus Ac Ritibus Gentium“ (1577) zurück. Vossius sammelte alle verfügbaren heidnischen Religionsphänomene in klassisch-antiken, jüdischen und christlichen Quellen. Er nutzte bereits die Informationen von Entdeckern, Missionaren und Kolonisten. Vossius führte alle heidnischen Gottheiten auf biblische Ursprünge zurück, unterschied zwischen der göttlichen Offenbarung und den nach dem Sündenfall entstandenen Religionstraditionen. Der Priesterbruder Johannes Boemus/Böhm (um 1485–um 1533/35), Verfasser des Werkes „Omnium gentium mores, leges et ritus“ („Sitten, Recht und Gebräuche/Riten aller Völker“, 1517/20), gilt als einer der ersten humanistischen Ethnographen bzw. Religionswissenschaftler. Sein Werk, das sich an Zuhausegebliebene und Nichtreisende richtete, behandelte die Völker Afrikas, Asiens und Europas. Böhms Werk unterscheidet sich von vielen seiner Vorläufer durch „new standards of style, plausibility and systematic coherence“ (Vogel 1995: 19). Böhme griff auf klassische (u.a. Herodot, Plinius, Sabellicus) sowie Renaissanceautoren zurück und erreichte „a new level of scholarly discourse and literary method“ (ebd.).

7.4 „Theater“ und Kosmographie

7.3 Neue Weltkarten Die christozentrische „Ebstorfer Weltkarte“ verortete Europa in der linken unteren Ecke. Antike und mittelalterliche Karten waren nicht auf Europa fokussiert. Oft stellten sie Palästina und die Heimat des Verfassers markant heraus. Antike und Mittelalter unterschieden die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika, die mit den Nachkommen Noahs Jafet, Sem und Ham in Verbindung gebracht wurden. Auf einem vierten (unbekannten) Kontinent lebten die Antipoden („Gegenfüßler“). Dies änderte sich in den Weltkarten von Gerhard Mercator (1569) und Abraham Ortelius (1570). Bei dem flämischen Katholiken Mercator deutet sich eine Distanzierung der Geographie von der Theologie an. Die Geographie wollte nicht mehr nur Gottes providentia, seine Lenkung der Welt, darstellen. Mit seinem „Theatrum Orbis Terrarum“ („Theater der Welt“) schuf Mercator den ersten, aus 53 Karten bestehenden Atlas. Der Kupferstich auf der Titelseite machte die eurozentrische Sichtweise, die Asien und Afrika als leere, unbewohnte Kontinente erscheinen ließ, sichtbar. Im Zentrum eines antiken Tempelportals ist der Buchtitel platziert. Vier weibliche Gestalten stehen für die bekannten vier Kontinente. Dabei nimmt das mit Reichsapfel und Zepter ausgestattete Europa die Spitzenposition ein. Links befindet sich eine Asiatin, rechts im Westen eine spärlich bekleidete Afrikanerin, unten lagert sich eine vollständig nackte Frau – Symbol für das „wilde“ Amerika. In ihrer linken Hand hält sie einen enthaupteten Männerkopf – wohl Opfer des in Reiseberichten kolportierten Kannibalismus. Ein fünfter, halbnackter weiblicher Torso verkörpert den noch unbekannten fünften Kontinent: Terra Australis Ignota/Incognita („Unbekanntes Land des Südens“) oder auch Magellanica, „Land Magellans“ (1480–1521).

Neue Aufgabe der Geographie

7.4 „Theater“ und Kosmographie Das „Theatrum vitae humanae“ (1565, ab 1586 mit dem genannten Titel) des Theodor Zwinger ist eine der umfangreichsten frühneuzeitlichen Wissenssammlungen eines einzelnen Autors. Zwischen 1500 und 1800 war die Theatrum-Metapher der beliebteste Titel für frühneuzeitlich-abendländische lateinisch- und volkssprachige Wissensliteratur (u.a. Medizin, Naturwissenschaften, Chemie, Kunstgeschichte, Geographie, schöne Künste). Im 16. Jh. erlebte die Kosmographie eine neue Blüte. Es gelang ihr, den alten ptolemäischen Erklärungsrahmen für die neuen „Entdeckungen“ zu öffnen. Man nahm die Neue Welt noch nicht als eigenen Kontinent wahr, sondern ordnete sie als Insel ein, was ihre Einfügung in das bestehende kosmographische System erleichterte. Die wohl erste deutsche Kosmographie („Weltbuch: spiegel und bildtnis des gantzen Erdtbodens …“, 1542) stammte von dem evangelischen Theologen Sebastian Franck. In seiner „Türkenchronik“ (1530) stellte er die nach seiner Einschätzung wichtigsten Konfessionen vor. Dieser universalistische Spiritualist und Mystiker war davon überzeugt, dass ein und derselbe Gott in allen – nur äußerlich verschiedenen – Religionen anwesend ist. Daher trat er für Toleranz und Religionsfreiheit ein.

Religionsfreiheit und Toleranz

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800)

„Natürlicher“ Zugang zu Religion/en

Fiktiver Religionsdialog

Eine frühe Darstellung des gesamten Wissens von der Welt (Kosmographie) schuf der Humanist und Hebraist Sebastian Münster (1489–1552). Seine „Cosmographia. Beschreibung aller Lender …“ (1544) stellte Flora und Fauna, Sitten und religiösen Gebräuche der Länder Europas (Buch 2 und 4), insbesondere Deutschlands (Buch 3), Asiens und der „neuen Welt“ (Buch 5) sowie Afrikas (Buch 6) vor. Der Abschnitt über die Türkei enthält Schilderungen Mohammeds und „der Türcken Gottesdienst“. Münster verarbeitete klassisch-antike Quellen, deren Wahrheitsgehalt er hoch einschätzte, und zeitgenössische empirische Informationen. Der französische katholische Jurist und Theologe Pierre Charron (1541–1603), Schüler und Zeitgenosse von Michel Montaigne (1533–1592), der Religion/en und Kirchen mit seinem religionskritischen Spott überzog, wählte einen „natürlichen“, religionswissenschaftlichen (historischen, soziologischen) Zugang zur Religion. Das katholische Christentum war für ihn die höchste Religion („Les trois veritéz“, 1593 anonym). In einem Kapitel über die „Wahre Frömmigkeit“ in Band 2 seiner Abhandlung „De la Sagesse“ („Über die Weisheit“) stellte Charron u.a. bedauernd die quantitative und qualitative historische und gegenwärtige Unterschiedlichkeit der Religionen fest. Gleichwohl erkannte er viele Gemeinsamkeiten (Prinzipien, Fundamentalia) nicht nur im Glauben (Glaube an einen Gott, Schöpfer und Regierer über alles Geschaffene, Gottes providentia, seine Liebe und Gnade gegenüber der Menschheit, Unsterblichkeit der Seele, Belohnung guter Taten, Strafen für Missverhalten), sondern auch in ihren Handlungen (Gebete, Opfer). Charrons Diskussion der Frage, ob die religiösen Opfer und damit die Religionen reines Menschenwerk oder göttlich inspiriert seien, verband ihn mit Denkern wie Niccolò Machiavelli (1469–1527), für den Religion ein natürliches Phänomen war, das dem Herrscher Vorteile brachte. Ein früher Vertreter der modernen Toleranzidee war der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1530–1596), dessen (nie gedrucktes, sondern durch Abschriften verbreitetes) Werk „Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis“ (1592/3) einen fiktiven freundschaftlichen Dialog zwischen sieben Religionsvertretern (Katholik, Lutheraner, Reformierter, Jude, Muslim, Vertreter der natürlichen Religion, Indifferentist) darstellt. Alle haben eine humanistische Gesinnung und pflegen Tischkonversation bei und nach dem Mahl. Da sie im Grunde vergleichende Religionswissenschaftler sind, zitieren sie kenntnisreich andere Traditionen. Sie diskutieren die Frage der Wahrheit nicht bis zur letzten Konsequenz, sondern lassen verschiedenen Positionen nebeneinander stehen.

7.5 Die „dunklere Seite der Renaissance“ Der jamaikanische Soziologe Stuart Hall (1932–2014), ein Begründer der Cultural Studies, brachte die Beziehungen zwischen europäischer Forschung und den „Anderen“ auf die Formel The West and the Rest. Dabei wies er auf den Zusammenhang von „Diskurs und Macht“ hin (Hall 1992). Auch Walter D. Mignolo (geb. 1941), prominenter Autor der lateinamerikanischen Dekolonialismus-Debatte, machte auf diese „dunklere Seite der Renaissance“ aufmerksam. Anhand von Renaissancetexten wies er die große

7.6 Reformation

Bedeutung von Schrift und Buch gegenüber den mündlich überlieferten Traditionen der erforschten Völker auf. Mignolo setzte sich mit den Implikationen der europäischen Sicht auseinander, dass nur Inhaber von Schriften eine Geschichte haben, beschrieb die europäische „Kolonisierung des Raumes“. Auch thematisierte er die Implikationen von Eroberung und Zerstörung durch die (europäische) Sprache. Seit Renaissance und Humanismus versteckt sich hinter Modernität die dunklere Seite der Kolonialität.

7.6 Reformation Die Reformation war vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung, die seit dem 13. Jh. die römisch-katholische Kirche kritisierte. Ihre religiösen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Auswirkungen erlangten weltgeschichtliche Bedeutung. Die neu entstandenen Konfessionskulturen etablierten sich in der Folge als staatlich gleichberechtigte Kirchen neben der römisch-katholischen. Gegenüber dem Lutherbild Hegels, der den Reformator zum Geburtshelfer der Moderne und nationalen Freiheitshelden stilisiert hatte, führte die Kontextualisierung des Reformators dazu, sein Bild und das der Reformation zu relativieren („Mythos Reformation“: Schilling 2012). Die Modernisierung des Papsttums sowie die Priestern und Laien gemeinsame Frömmigkeit der devotio moderna waren Voraussetzungen für das Wirken Luthers. Auch die „innerweltliche Askese“ sowie die protestantische Arbeitsethik waren keine originären Schöpfungen des Reformators. Die Reformation gab es nicht, stattdessen drei relativ autonome Reformationsbewegungen: Wittenberg, oberdeutsche Reformation Calvins, Zwinglis, Bucers; Dissenter-Kleingruppen. Der Ertrag der Reformation für die Geschichte der Religionswissenschaft ist eher gering. Zwar vertrat der Kirchenhistoriker Peter Meinhold (1907–1981) die These, dass die Reformatoren (Luther: Religionskritik und Typologie der Religionen; Melanchthon wegen seiner Begründung der Religion vom Gewissen her; Calvins „religionsphänomenologische Beobachtungen“, Meinhold 1973: 376) die Entwicklung der Religionswissenschaft „vorbereitet“ hätten. „Luther, Melanchthon und Calvin haben je in ihrer Weise ein bestimmtes Religionsverständnis entwickelt, von dem aus der Ausbau der Religionswissenschaft als einer eigenen theologischen Disziplin möglich geworden ist.“ (Kursivierung U.T.) Luthers konkrete Beschäftigung mit Judentum und Islam verfolgte kein religionswissenschaftliches Interesse, sondern nahm beide Religionen aus theologischer Perspektive wahr. Sein Bild von ihnen enthielt die üblichen Ressentiments und muss vom Kontext spätmittelalterlicher und zeitgenössischer Diskussionen gesehen werden. Luthers Bild vom Judentum, mit dem er sich von seiner ersten Vorlesung bis kurz vor seinem Tod beschäftigte, war durch seine Rezeption antijüdischer neutestamentlicher Passagen geprägt. Die Juden standen für ihn unter dem Zorn Gottes, waren „das Gegenbild dessen, was für Luther Christsein bedeutete“ (Brecht 2000: 6). Die Vorstellung eines frühen judenfreundlichen, erst später wüst-judenfeindlichen Luther mag widerlegt sein. Mit Papst, Teufel, Schwärmern und Türken opponierten die Juden für Luther gegen die Christenheit. Luther versorgte sich mit antijüdischen Klischees durch die Lektüre

Drei Reformationsbewegungen

Luthers Bild von Juden und „Türken“

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800)

des ehemaligen Juden Antonius Margaritha (um 1492–1542), der mit „Der gantze jüdische Glaube“ (1530) ein judenfeindliches Werk schuf. Wenn Luther den Islam thematisierte, sprach er von den Türken. Die Wortgruppe „Türkei, Türke, türkisch“ gehörte „zu den großen Komplexen. Luthers (…) Tischreden lassen erkennen, wie häufig und wie vielfältig das Thema aufgebracht wurde. (…) Luther ist also auf jeden Fall eine Fundgrube für die Wahrnehmung und Einschätzung der Türkei im mitteleuropäischen Horizont seiner Zeit. (…) Manche seiner Veröffentlichungen brachten es zu zehn und mehr Auflagen, was Luther bereits als einen der bedeutenderen Türkenkriegsautoren ausweist“ (Brecht 2000: 10). Luther teilte die sich in so genannten „Türckenbüchlein“ des 16./17. Jh. Ausdruck verschaffende Türkenangst vieler Zeitgenossen. Er wollte kein religionswissenschaftliches „Wissen“ über den Islam verbreiten. Im Gegenteil wurde das „Wissen“ um die türkische Religion sogar zur „Turkisierung“ des innerchristlichen Gegners instrumentalisiert (Kaufmann 2008: 42). Gegen den Islam als Häresie sollte man mit dem Schwert sowie mit Argumenten und Gebet vorgehen. Luthers Kenntnisse des Korans („ein kisten aller kätzerien“) beruhte auf übersetzten Zitaten. Er betrachtete den Koran einseitig als muslimisches Gesetzbuch. Nicht vor 1542 war Luther die lateinische Übersetzung des Robert of Ketton (1110?–1160?) zugänglich. Luthers Freund Theodor Bibliander (1509–1564) in Basel gab die deutsche Übersetzung des Korans mit einem den Islam widerlegenden Vorwort Luthers 1543 heraus. Das „Wissen“ über den Islam (bzw. Türken, Osmanen) wurde in Spätmittelalter und früher Neuzeit in der „Türkenliteratur“ tradiert (Flugschriften, Volksschauspiele, Türkenlieder, Türkenpredigten, Hof- und Reichstagsreden). Reisende Protestanten, oft im Gefolge diplomatischer Missionen, betteten in ihren Reiseberichten das Fremde in ihr konfessionelles Weltbild ein.

7.7 Begegnung mit den Religionen Afrikas, Amerikas, Asiens in Reise- und Missionarsberichten des 16./17. Jahrhunderts: katholische „missionaryethnographers“ Eine einflussreiche religionswissenschaftliche Informationsquelle waren die Berichte portugiesischer, spanischer, niederländischer, französischer, britischer und in geringerem Maße deutscher Seefahrer. Wirtschaftliche, missionarische und wissenschaftliche Motive während zweier Entdeckungszeitalter (1492–1540; 18. Jh.) führten dazu, im Rahmen der Informationen über fremde Völker sich zugleich mit deren Sitten und Gebräuchen sowie ihren Religionen zu beschäftigen. Zwischen den Jesuiten und Asien bestand eine besondere Beziehung. Die Portugiesen hatten den Papst 1538 gebeten, die Jesuiten nach Indien zu schicken, um dort eine kurz vorher bekehrte Kaste seelsorgerisch zu betreuen. Daraufhin wurde der Jesuitenorden vom Papst bestätigt, und der Mitgründer der Jesuiten, Franz Xavier (1506–1552), begann 1541 mit seiner zwölf Jahre dauernden asienweiten Missionstätigkeit. Katholische Missionstheologen und -ethnographen leisteten Wesentliches für das Entstehen der Vergleichenden Religionswissenschaft. Im Unterschied

7.7 Begegnung mit den Religionen Afrikas, Amerikas, Asiens

zu ihren protestantischen Kollegen, die zwischen ihrer eigenen Religion und den neu entdeckten Religionen durchweg nur einen Abgrund zu erkennen vermochten, setzten katholische Theologen auf religiöse Kontinuität. Drei Tendenzen prägten die Anthropologie fremder Kulturen im 16. Jh.: die legitimatorische, idealisierende und verstehende (Erdheim 1990). Die legitimatorische Tendenz bestand darin, die vorgefundenen Völker zu beherrschen bzw. auszulöschen. Ein Beispiel hierfür ist Fernández de Oviedo (1478–1557), der die von Natur aus „tierischen“ und seelenlosen Indianer für nicht fähig hielt, zum Christentum zu konvertieren (Vorwurf: mangelnde Empathie, sexuelle Ausschweifungen). Der idealisierenden Tendenz lag ein positives Bild der Indigenen zugrunde, die in mancherlei Hinsicht reiner als die Europäer seien. Diese Sichtweise vertrat der Dominikaner Bartolomé de las Casas (1499–1540), der die fremden Kulturen nicht an europäischen Werten maß. Idealisierende Tendenzen zeigen sich auch bei Michel de Montaigne (1533–1592), der zwar nie über Europa hinaus gelangte, aber das Motiv des „edlen Wilden“ popularisierte. Im „ersten Entdeckungszeitalter“ ragte der franziskanische Mönch und Missionar Fray Bernardino de Sahagffln (1499/1500–1590) als „missionaryethnographer“ (Laura Ammon) hervor. Als Repräsentant der verstehenden Richtung wollte er die Indigenen besser verstehen und ihre Sprachen lernen. Dabei trat das missionarische Element zurück. Über 60 Jahre lebte und forschte er in Mexiko. Nicht nur Ethnologen zählen ihn zu den Begründern ihres Faches, auch für die Religionswissenschaft gibt es gute Gründe, Sahagffln zu den Pionieren des Faches zu rechnen. Eine wichtige Wurzel des Faches liegt in der Reflexion auf die Begegnung christlicher Missionare mit der nichtchristlichen Welt. Im Vorwort seiner „Universalgeschichte der Dinge Neuspaniens“ artikuliert er sein Erkenntnisinteresse: die Vernichtung des nach der ersten Mission übrig gebliebenen „Götzendienstes“, zugleich die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses. Sahagffln stellte die aztekischen Götter und den Umgang mit ihnen dar (Buch 1), beschrieb die Riten, Feste und Opfer (Buch 2), den Ursprung der Götter (Buch 3), handelte von religiösen Spezialisten (Wahrsager, Astrologen, Zukunftsdeuter, Buch 4) und allgemein von divinatorischen Praktiken (Buch 5). Gebete an die Götter und die aztekische Ethik behandelt Buch 6. Sahagffln ist religionswissenschaftlich aus inhaltlichen und theoretischmethodischen Gründen relevant. Er gehört zu den Pionieren der vergleichenden religionsethnographischen Methode. Dies betrifft seine Informationsgewinnung und -auswertung, die angemessene Einstellung gegenüber den Informanten, die aus der Religionsphänomenologie bekannte Zurückstellung der eigenen Meinung (Epoché). Er wandte das heute so genannte Experteninterview an. Sein Wissen bezog er aus verschiedenen Quellen, wobei er auch Frauen als Kultur- und Religionsexperten hinzuzog. Sahagffln verglich die Daten miteinander, um die vertrauensvollste Information zu gewinnen. Weil er die Sprache der Azteken, das Nahuatl, beherrschte, minimierte er die Problematik von Übersetzungen. Sahagffln verwendete auch standardisierte Verfahren, zum Beispiel Fragebögen. Im ersten Buch über die Götter und ihr Wesen stellte er Fragen nach: Titeln, Attributen und charakteristischen Eigenschaften der einzelnen Götter, nach den besonderen Zeremonien, nach ihrem Aussehen.

Haupttendenzen der Anthropologie im 16. Jahrhundert

„Missionaryethnographers“

Anfänge empirischer Religionsphänomenologie

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800)

Protestantische Missionare

Die ersten differenzierten Informationen über Lateinamerika („West Indies“) lieferte der spanische Jesuitenpater José de Acosta (1539/40–1600) in seiner „Historia natural y moral de las Indias“ (1590). 16 Jahre lang hielt er sich im westlichen Teil Südamerikas auf, reiste durch Peru, Bolivien, Chile und Mexico. Als der wohl erste Europäer systematisierte er die Geographie der „Neuen Welt“. De Acosta interpretierte den fremden Glauben – auf der Folie der christlichen Deutung antiker heidnischer Religionen – als Einfluss satanischer Mächte. Dem religionsvergleichenden Ansatz stand er aufgeschlossen gegenüber und verglich Rituale der Inkas mit kirchlichen. Auch jüdische, islamische und antik-polytheistische Anschauungen lieferten komparatistische Möglichkeiten des Religionsverstehens. Schon vor De Acosta verwendeten Autoren systematisch den komparatistischen Ansatz (Vossius, Bochart, Kirchner, Huet). Die Reiseberichte der „missionary-ethnographers“ beeinflussten auch die Aufklärungsphilosophen: So wurde De Acostas Idee der Naturreligion von den englischen Philosophen Thomas Hobbes und John Locke rezipiert. In seinem Werk „Conformités des ceremonies modernes avec les anciennes“ (1667) legte der hugenottische Pfarrer Pierre Mussard (1627–1686) eine religionswissenschaftlich-vergleichende Abhandlung mit anti-katholischer Ausrichtung vor. Mussard verglich antike und moderne Kultbräuche und Einrichtungen (Papsttum, Fegfeuer, Kultbilder), um katholische Konzepte auf heidnische Ursprünge zurückzuführen. Die protestantische Missionsbewegung, die insbesondere auf bereits kolonisierte Gebiete ausgerichtet war, begann erst Anfang des 18. Jh. mit der Entsendung des lutherischen Missionars Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) nach Tranqebar (im heutigen südindischen Bundesstaat Tamil Nadu). Obwohl Ziegenbalg engen Kontakt zur indischen Bevölkerung suchte und die Hälfte seines Lebens in Indien verbrachte, hielt er die Inder stets für Heiden. Für die Missionare war der heidnische Glaube blanker Unsinn, dem durch Konversion ein rasches Ende bereitet werden müsse. Über 30 Jahre vorher veröffentlichte der für die „Vereenigde Oostindische Compagnie“ (VOC) tätige calvinistische Prediger Philippus Baldäus (1632–1671) seine „Wahrhaftige Ausführliche Beschreibung …“ (1672). Dort stellte er die hinduistische Religion sowie die „Zehn Inkarnationen Vishnus“ dar. Baldes Werk war für das Hinduismus- und Buddhismusbild der Europäer über längere Zeit maßgebend. Baldaeus war wohl der erste, der die Krishnageschichten und die großen Hinduepen (Ramayana, Mahabharata) einem weiten Leserkreis zugänglich machte. Der französische Missionar Abbé Jean Antoine Dubois (1766–1848) beschrieb in „Moeurs, Institutions et Cérémonies des Peuples de l’ Inde“ (2 Bde. 1825) anders als frühere Autoren die Kasten-, Religions- und Lebensverhältnisse in Südindien unter religiösen, ethnologischen und soziologischen Aspekten. Die Leser erhielten einen lebenskräftigen Einblick in Alltagsleben und Brauchtum der Hindus.

7.8 Erforschung des Judentums seit dem 16. Jahrhundert

7.8 Erforschung des Judentums seit dem 16. Jahrhundert Einen Aufschwung nahm im16. Jh. die Erforschung des Judentums. Viele Abhandlungen stammten von bekehrten Juden, die andere Juden zur Konversion überreden und der christlichen Welt die „Geheimnisse“ des Judentums eröffnen wollten. Diese „Ritenliteratur“ (Veltri 2009: 4) beschäftigte sich mit jüdischen Riten, Zeremonien, Festen und Feiertagen sowie dem gegenwärtigen Leben – auch mit Muslimen und anderen Völkern. Vom frühen 16. bis zum späten 18. Jh. blühte die religionswissenschaftliche „Ritenliteratur“, die nicht einfach die Jahrhunderte lange anti-jüdische Polemik fortführte, vielmehr eine „neue Phase“ (Deutsch 2012: 2) in der Beschreibung der Rituale, Sitten und Gebräuche der Juden einleitete. Insbesondere das deutsche Judentum wurde zum Gegenstand religionswissenschaftlichen Interesses. Das erste dieser tendenziell antijüdischen Ritenbücher stammte von Johannes Pfefferkorn (1469–1521): „Ich heyß ain büchlein der iuden peicht“ (1508), in dem er die Feste Rosh ha-Shanah und Jom Kippur darstellte. Das Studium der jüdischen Religion und ihrer Riten betrieben während Spätmittelalter, Renaissance und Reformation „christliche Hebraisten“. Um die Kabbala im Original zu lesen, studierten die Humanisten Pico della Mirandola (1463–1494) und Johannes Reuchlin (1455–1522) Hebräisch. Anfang des 16. Jh. wurden die ersten hebräischen Lehrstühle an europäischen Universitäten errichtet. Die Entwicklungen des hebräischen Buchdrucks und der Hebräischlehrstühle hängen zum Teil miteinander zusammen. Der zu seiner Zeit führende Hebraist Johannes Buxtorf Westphalus d.Ä. (1564–1629), einer der Begründer der Wissenschaft des Judentums, beschäftigte sich insbesondere mit der nachbiblisch-hebräischen Literatur. Seine „Synagoga Judaica“ (Juden-schül, 1603) war die erste Darstellung jüdischen Lebens in Deutschland, die nicht mehr antijüdische Stereotypen und Klischees verbreitete. Gleichwohl diente diese Abhandlung letztlich dem Zweck, das jüdische Leben umso besser kritisieren zu können. Weitere Darstellungen des Judentums lieferten der evangelische Theologe Georg Johann Christoph Bodenschatz (1717–1797) und der niederländische Hebraist und Theologe Johannes Leusden (1624–1699). Der englische Jurist, Politiker und christliche Hebraist John Selden (1584–1654) ging der Mode seiner Zeit nach und suchte die Ursprünge vieler religiös-kultureller Erscheinungen im antiken Judentum. Selden ist für die Geschichte der Religionswissenschaft vor allem aufgrund seiner Abhandlung über die phönizische und syrische Mythologie bedeutsam. Auch publizierte der produktive Autor über Kalender, Ehegesetze und Recht bei den Israeliten. In „Diis Syris Syntagmata“ (1617) beschrieb er die phönizische Mythologie, insbesondere den Schöpfungsmythos. Selden wandte die „historisch-philologische“ Methode an, um nachzuweisen, dass der Ursprung der Religionen im Osten liegt. Selden war einer der frühesten Religionswissenschaftler, die sich mit den jüdischen Karäern beschäftigten (De Anno Civili, 1619). Komparatistisch angelegt war die Abhandlung von M. de la Crequiniere „Conformite des Coutumes des Indiens Orienteaux …“ (1704), in dem er die

Ritenliteratur

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7. Religionswissenschaft in der frühen Neuzeit (1500–1800)

These vertrat, dass Inder und Juden einander im Blick auf Gottesverehrung, Kleidung, Einstellung zu Angehörigen anderer Gemeinschaften ähnlich sind. Ein Pionier der modernen Indologie war der Jesuit und Missionar, der erste deutsche Sanskrit-Gelehrte, Heinrich Roth (1620–1668), der 1664 „die sanskretanische Sprache erlernt, um mit den Brahminen disputiren zu können“ (zitiert bei August Wilhelm Schlegel: XI). Seine „Grammaticca linguae Sanscretanae Brachmanum Indiae Orientalis“ war die erste von einem Europäer verfasste Sanskrit-Grammatik.

7.9 Gelehrsamkeit des Barock Religion/en waren Thema von Versammlungen der Gelehrtengesellschaften zum Beispiel in Leipzig, Jena und anderen Universitäten. „Nicht erst eine tolerante und religionskritische Einstellung bahnte den Weg, der dann religionsgeschichtliche Untersuchungen ermöglichte, sondern bereits in der Gelehrsamkeit des Barock, die an der Alleingültigkeit des Christentums (zumeist noch in seiner jeweiligen strikten konfessionellen Form) festhielt, ließen sich erste Ansätze einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Religionen finden“ (Döring 2000: 35) Im 17./18. Jh. erschienen zahlreiche Darstellungen über die Religionen der Welt. Sie richteten sich oft an ein breites Publikum und erreichten dieses auch, wie die Publikationsgeschichte des „Picart“ exemplarisch zeigt (siehe später).

7.10 Objektkultur

Medienkonflikte

Bereits in antiken Buchrollen und Kodices kamen vereinzelt Illustrationen vor, und im Mittelalter gab es schon die Buchmalerei. Die eigentliche Geschichte der Buchillustration begann im 15./16. Jh. Wissenschaftliche Lehrwerke der Anatomie, Kräuterkunde, ethnologische und religionswissenschaftliche Publikationen verwandten wissenschaftliche Illustrationen zur optischen Veranschaulichung. Das Reformationszeitalter wurde nicht zuletzt auch durch einen Medienkonflikt geprägt: Während Protestanten im (geschriebenen/gesprochenen) Wort das alleinige Verkündigungsmedium sahen – und die Katholiken mit Idolatrievorwürfen überhäuften –, rechtfertigten jene den Einsatz von Medien in Gestalt von sinnlich konkreter, religiös erfahrbarer Materie. So wurden am Medium Bild interkonfessionelle Konflikte ausgetragen, die sich etwa in Bilderstürmerei als physische Gewalt gegen Medien entluden. Auch fremde Religionen inszenierte man durch Medien. So entstanden christlich-islamische und andere Medienkonflikte bei der Konfrontation mit dem türkischen/osmanischen Reich und der Begegnung mit der exotischen Welt in Übersee. Fürsten, wohlhabende Bürger, Universitäten, botanische Gärten, Rathäuser und Bibliotheken sammelten nicht-europäische „Objekte“ – im Unterschied zu den Dingen und Gebrauchsgütern, den „commodities“ haben sie

7.10 Objektkultur

nach Susan Pearce „kulturelle Bedeutung“ –, stellten sie aus und machten sie öffentlich zugängig. Das Studium der Antike, die Wendung zur Empirie mit der Entstehung der Naturwissenschaften sowie die Begegnung mit fremden Kulturen verstärkte das Interesse an der Objektkultur. Insbesondere die städtische Bevölkerung nahm die von den Überseereisen stammenden Objekte, etwa kultische Gegenstände, Exotica (Kuriositäten) und Götterfiguren, aufmerksam wahr. In „Kunst- und Wunderkammern“, deren Vorläufer die mittelalterlichen Schatzkammern waren, sammelte man Objekte aus Asien, Afrika und Amerika sowie Antiken und Messgeräte. Diese außereuropäischen Sammlungsobjekte dienten nicht nur als Informationsträger, sondern waren zugleich Projektionsflächen für das Fremde. Diese „projektive Ethnographie“ (Collet 2007: 332–348) war gewissermaßen ein „Selbstgespräch, das die Europäer mit dem auf die Exotika projizierten ,exotischen Anderen‘ führten“ (ebd. 348).

Kunst- und Wunderkammern

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung 8.1 Einführung

Verhältnis Aufklärung – Religion

Das Zeitalter der Aufklärung (ca. 1680 bis nach 1800) war eine gesamteuropäische Erscheinung mit Schwerpunkten in England, Frankreich und Deutschland. Der Begriff wurde Anfang des 19. Jh. als Epochenbezeichnung gängig und hat drei Sinnebenen: „als Bezeichnung eines geschichtlichen Strukturmoments, eines geschichtsphilosophischen Postulats sowie einer geistesgeschichtlichen Epoche“ (Beutel 2009: 17). Zu den Ursachen der Aufklärung gehörten der „Zerfall der feudalen Gesellschaftsordnung und der Aufstieg des Bürgertums“, „eine Veränderung im religiösen Verhalten der Menschen“, „Zerfall des christlichen Weltbildes“, „Aufstieg des modernen (,wissenschaftlichen‘) Rationalismus“, „eine Veränderung im Wesen des Menschen“, schließlich „Selbstreflexion des modernen Menschen“. (Schneiders 1995: 12) Zur „Denkform“ (Ernst Cassirer) der Aufklärung gehörte das Streben nach Klarheit des Denkens und der Begriffe. Autoritäten sollten hinterfragt, erschüttert, unterwandert werden. Diese grundsätzliche Einstellung drückte sich in Gesellschafts-, Religions-, Literatur- und Erkenntniskritik aus, in der Haltung gegenüber traditionellen religiösen, gesellschaftlichen, politischen „Dogmen“ und Institutionen. Die historisch, psychologisch, erkenntniskritisch ausgerichtete Kritik wandte sich gegen Vorurteile, Aberglauben, Fanatismus, Schwärmerei, Teufelsglaube, Hexenprozesse, Klerikalismus. Das Aufklärungsdenken war nicht nur destruktiv, sondern machte sich auch stark für Toleranz, Selbstdenken, Meinungs- und Pressefreiheit, freie ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten. Emanzipation war eine aufklärerische Pathosformel; die Aufklärer richteten sich gegen „von oben“ verhängte Denkverbote. Im Sinne der Kant‘schen Definition ging man davon aus, dass der Mensch selbst Schuld an seiner Misere war. Auch der Fortschrittsglaube war untrennbar mit der Aufklärung verbunden. Neuere Forschungen zum Verhältnis von Aufklärung und Religion favorisieren im Unterschied zum „Konfliktmodell“ des Aufklärungsforschers Peter Gay (geb.1923) ein „Harmoniemodell“ (Nooijen 2009: 22): Aufklärung wird als Phänomen verstanden, das „mit und durch Theologie und Kirche entstand“ (ebd.). Für gewöhnlich gilt die Aufklärung als eine Epoche, in der sich der religiöse Einfluss im Leben der Menschen verringerte, zumindest aber sich die Geltung des Religiösen wandelte. Konzepte wie Säkularisierung, Dechristianisierung, Entkirchlichung oder Enttheologisierung sind Versuche, dieses Phänomen auf den Begriff zu bringen. Hatte sich die religiöse Prägung der Zeitgenossen regelrecht verflüchtigt? Unberücksicht bleibt bei einer solchen Einschätzung, dass die Religion auch weiterhin die Handlungsorientierung der Menschen beeinflusste. Zwischen Aufklärung und Religion bestanden Synergismen,

8.2 Philosophien der Aufklärung

und es war zwischen 1780 und 1820 gemeinsame Überzeugung, dass Gesellschaft und Staat ohne Religion nicht überlebensfähig wären. Der englische Dichter Alexander Pope (1688–1744) schrieb in seinem „Essay on Man“ (1733/34) den Leitspruch: „Know then thyself, presume not God to scan, The proper study of Mankind is Man.“ Dieser Grundsatz „leitete die Anthropologie an, welche von der Medizin über die Psychologie und Philosophie bis zur Erforschung der Sitten und Gebräuche und zu den Religions- und Ritualformen (Ethnologie) reichte. Hier liegen die Wurzeln der Kulturkomparatistik und – mit der Entdeckung des historischen Denkens durch G. Vico, J.M. Chladenius und J.G. Herder – auch der Kulturentstehungstheorien“ (Böhme 2000: 357). Der traditionelle Kollektivsingular „Kultur“ umfasste bei dem radikalen Frühaufklärer Samuel von Pufendorf (1632–1694) alle Tätigkeiten eines Volkes, einer Gesellschaft oder einer Nation. Kultur hatte eine ergologische (geschaffene Objekte), soziative (Handlungsformen, Werte/Normen) und temporal-historische, kontigente, Komponente. Später ergänzte Herder diese drei Bestandteile um die Geschichte. Die „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) von 1770–1830 markierte den Umbruch von der Frühen Neuzeit zur Moderne, war durch Makroprozesse (Revolutionen, Industrialisierung) geprägt und enthielt beschleunigende Momente. Sie leitete das Jahrhundert der Bürgerlichkeit, Urbanisierung, Nationalstaatlichkeit und der modernen Industriegesellschaften ein. Studien zur Popularisierung des aufklärerischen Gedankenguts im 18./19. Jh. ergaben, dass die Aufklärung nicht „vorwiegend Selbstaufklärung der Elite“ war, sondern über die kleine Schicht der Gebildeten hinaus auf den „gemeinen Mann“, u.a. die bäuerliche Bevölkerung, übergriff. Für diese praktische Aufklärung setzten sich u.a. die Kameralisten, Gutsbesitzer und gemeinnützige Gesellschaften, später Geistliche beider Konfessionen, Ärzte, Schriftsteller ein. Ihr Ziel war es, die Einstellungen der breiten Bevölkerung zu verändern, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln, die im täglichen Leben praktisch angewandt werden konnten. Die Lebensweise der Menschen sollte auf den Prinzipien vorurteilsfreier aufgeklärter Religion beruhen. „Das Zeitalter der Aufklärung ist ein schreibendes und lesendes, räsonnierendes, rezensierendes und ein kritisierendes gewesen“ (Vierhaus 1984: 109). In diesem Zusammenhang wurden auch religionskundliche Inhalte vermittelt. Es ist davon auszugehen, dass eine Untersuchung der inzwischen ca. 20.000 bibliographierten Titel von ungefähr 4000 Autoren nicht unwesentliche religionswissenschaftlich relevante Daten zu Tage fördert.

Wurzeln vergleichender Kulturwissenschaft

Popularisierung des aufklärerischen Gedankenguts

8.2 Philosophien der Aufklärung Der dem methodischen Grundsatz moderner Naturwissenschaft folgende Empirismus sah die Grundlage von Erkenntnis in der Erfahrung. Alles musste ohne dogmatische Voraussetzungen beobachtet werden, nur der experimentelle Beweis war gültig. Der Rationalismus dagegen lehrte, dass nur das Denken die Wirklichkeit erkennen kann. Zu den Empiristen zählten in England Francis Bacon (1561–1626), Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776).

Empirismus und Rationalismus

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung

„Natürliche Religion“ und Offenbarungsreligionen

Hume beschäftigte sich in „The Natural History of Religion“ (1757) mit dem Ursprung der Religion. Schon der Titel war Provokation; denn Hume wollte Religion/en nicht als göttliche Offenbarung, sondern religionswissenschaftlich, naturwissenschaftlich und analytisch betrachten. Glaube und Religion waren für ihn natürliche, rein anthropologische Phänomene. Nicht im Staunen über einen wohl geordneten Kosmos (Kant: „der bestirnte Himmel über mir“) sah Hume den Ursprung der Religion/en, sondern in „den unaufhörlichen Hoffnungen und Ängsten, die den menschlichen Geist bewegen“. Furcht und Angst vor unbekannten Mächten lösten Religion/ en aus. Die Menschen wollten diese Mächte begreifen und ihrem eigenen Willen unterwerfen. Religion war für Hume kein angeborenes Verhaltensmuster, kein primärer Instinkt, sondern ein Sekundärphänomen. Es war von Volk zu Volk verschieden und ging auf externe Gegebenheiten zurück. Aus dem Erleben und Personifizieren ambivalenter Mächte entstand der Polytheismus. Die nächste Stufe des Monotheismus rückte die alles bestimmende Macht soweit über die menschliche Lebenswelt hinaus, dass diese durch Veranschaulichung durch z.B. eine Statue wieder zu einer körperlich-beschränkten Gottheit wurde. Der eine mächtige Gott war auf Mittlergestalten angewiesen, um den Abstand zwischen sich und den Menschen zu verringern. Hume hielt den Polytheismus für menschlicher, toleranter, mutiger, weniger knechtend als den Monotheismus – aber nicht für vernünftiger. Doch genügte auch der Monotheismus nicht philosophischen Ansprüchen, weil er mancherlei Irrsinn (Streminger 2011: 385–393) enthielt. Die Ethnologen Edward Burnett Tylor und Robert Ranulph Marrett griffen Humes Gedanken im 19. Jh. auf. Bei den Philosophen des Rationalismus und der Frühaufklärung setzte die Rezeption der durch die Fernreisen bekannt gewordenen Religionsphänomene religionskritische Elemente frei. Man glaubte, im „abergläubischen“ Handeln der indigenen Völker und Religionen Parallelen und Übereinstimmungen mit christlichen Glaubenspraktiken zu erkennen. Für manche zeitgenössische Theologen verbargen sich hinter den grotesken Vorstellungen Einsichten, die auf einen göttlichen Ursprung hindeuteten. Dabei wandte man ein antikes Interpretationsmodell an. Aristoteles (384–322 v. Chr.) unterschied zwei Quellen der Religion: angeborene und erworbene Vorstellungen. Außerdem knüpfte man an die aus der altkirchlichen und scholastischen Theologie stammende Vorstellung der „religio naturalis“ aller Menschen an. Diese Vernunftreligion setzte sich aus einer überschaubaren Anzahl inhaltlicher Elemente zusammen, die für das Heil ausreichten. Naturreligion kontrastierte man mit der entbehrlich erscheinenden „Offenbarungsreligion“ (Judentum, Christentum, Islam). Aufklärung und Romantik ersetzten den Terminus Glauben durch den Singularbegriff Religion. Dabei griffen sie auf die Renaissance-Tradition zurück, die von Luther und dem Pietismus beiseite gedrängt worden war. So entstand eine neuartige Religionsphilosophie. Vor allem David Friedrich Schleiermacher ordnete den allgemeinen Religionsbegriff über den christlichen Glaubensbegriff. Der an Locke anknüpfende englische Deismus besaß einen Vorläufer in Lord Herbert von Cherbury (1582–1648), der in „De veritate“ (Paris 1624) und „De religione gentilium“ (London 1645, vollständig Amsterdam 1663) die allen Menschen gemeinsame natürliche Vernunftreligion dem kirchlichen Autoritätsglauben gegenüberstellte.

8.2 Philosophien der Aufklärung

Im Unterschied zur deutschen Aufklärung war die französische (Höhepunkt: 18. Jh.) durch einen radikaleren Bruch mit der Tradition geprägt. Zu ihren herausragenden Vertretern zählen Voltaire (1694–1778) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Der scharfsinnige Religionskritiker Voltaire griff das traditionelle Bibel-, Dogmen- und Kirchenverständnis und den Offenbarungsglauben an. Die Existenz Gottes (nicht des christlichen) stand für ihn als Ursprung der moralischen Ordnung fest: „Si Dieu n’existait pas, il faudrait l’inventer“ (XIII, 265). Voltaires Glaubensbekenntnis lautete: „Ich bete den einen schöpferischen, weisen, strafenden (vengeur) und belohnenden (rémunérateur) Gott an. Ich liebe ihn und diene ihm, so gut ich kann, in den Menschen, meinesgleichen“ (Lettre au docteur Pansophe: ebd. 850–857, hier 857). Die Trinitätsvorstellung hielt er für ein „manifestement absurd“. In seinem „Dictionnaire portatif“ griff Voltaire Christentum und Kirche frontal an. In seinem Monumentalwerk „Essay über den Geist und die Sitten der Nationen“ (Essai sur les moeurs et l’ésprit des nations“) von 1756 (endgültiger Titel erst 1769), legte Voltaire eine imposante Darstellung der Geschichte der Welt und ihrer Religionen dar, wobei er die Autorität der Kirche in Sachen Geschichte aushebelte. „Von der Religion des ersten Menschen“ angefangen, beschrieb er Sitten und Gebräuche vieler „alter“ Religionen, des Judentums und Christentums. In den Bänden II–IV thematisierte er China, Indien, Persien, Arabien, um dann differenziert bis in das europäische 17. Jahrhundert hinein bei einem „Ausblick ins Zeitalter Ludwig XIV.“ zu enden. Geschichte war für Voltaire keine Auswirkung von Gottes Vorsehung. Allmählich setzte sich der durch das vernünftige und moralische Handeln der Menschen bewirkte Fortschritt durch. Voltaires Geschichtsphilosophie war ein bedeutsamer Schritt in Richtung einer (innerweltlichen) Geschichtstheorie und einer religionswissenschaftlichen (Religions)geschichtsschreibung. Es ging Voltaire nicht darum, Fakten an Fakten zu reihen, vielmehr fragte er nach der Bedeutung des Geschehenen für das gegenwärtige Leben. Historiker sollen geschichtliche Ereignisse reflektieren und kritisieren, sie aber nicht verherrlichen. Mögen die vielförmigen Sitten und Gebräuche von Volk zu Volk differieren, so liegt ihnen doch ein ewig-universales, von der Natur des Menschen ununterscheidbares Grundprinzip zugrunde (Moral, Sittlichkeit). Alles Menschliche ist von Natur aus gleich und gründet „auf einer kleinen Anzahl unveränderlicher Grundsätze“. Die Natur zielt auf Einheit und Einfachheit ab, erst die „coutume“ (Brauch, Gepflogenheit, Sitte: Kultur) brachte die Mannigfaltigkeit menschlicher Handlungsweisen hervor: „Der Boden ist überall der gleiche, erst die Kultur produziert die verschiedenartigen Früchte.“ Für Voltaire lag der Ursprung der Zivilisation im Orient, und er zitierte reichlich aus den Heiligen Schriften der Völker. Zwar habe der „erste Mensch“ noch keine Vorstellungen von einem personalen Gott gehabt, doch steht deshalb nicht der Atheismus am Anfang der Religionsgeschichte. Voltaire sah die Wurzeln des Christentums in Indien, lobte Ethik und Gedankenwelt des Konfuzianismus. Das Christentum, die barbarischste Religion unter allen, war für ihn wenig mehr als eine „Verlängerung des Judentums“. Der zivilisations- und kulturkritische Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) überwand die aufklärerisch-rationalistische Haltung und rückte im Gegensatz zu den Allgemeingesetzen das Individuelle in den Vordergrund. Im

Religionskritik

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung

Weltakademie der Wissenschaften

„Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ (II, 7ff.) erörterte er das Thema der natürlichen Religion. Seinem Schüler empfahl er: „Richte deine Blicke auf alle Völker der Erde, durchlaufe die ganze Geschichte. Unter so vielen unmenschlichen und abgeschmackten Verehrungsweisen der Gottheit, unter der wundersamen Verschiedenheit in Sitten und Charakteren und Biederkeit, ganz dieselben Begriffe von gut und böse“ (II, 28). Der maßgebende Denker der deutschen Aufklärung, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), war für viele Wissenschaften ein Impulsgeber. Er inspirierte auch die Geschichts- und Religionswissenschaft. Der fromme Lutheraner Leibniz verehrte China und die Chinesen, auch wenn er nie in China war. Er hob die „feinen Sitten“ und das kultivierte Leben Chinas hervor, lange bevor sich im 19. Jh. die Sinologie (zunächst in Frankreich) etablierte. Leibniz trat für einen Austausch zwischen Europa und China ein und wollte damit einen Beitrag zu Toleranz, vernunftgemäßer praktischer Ethik und Politik leisten. Sein großes Chinawissen entnahm er Büchern, Gesprächen und einem regen Briefwechsel (1689–1714) mit Jesuiten, die seit dem ausgehenden 16. Jh. über China berichteten. Als erster Europäer setzte sich Leibniz mit dem Neokonfuzianismus auseinander. Er war davon überzeugt, dass die Chinesen den wahren Gott gekannt, ihn jedoch wieder vergessen hatten. Leibniz war von der Wahrheit der offenbarten christlichen Religion überzeugt und ordnete die chinesische Religion als deren Vorstufe ein. Leibniz‘ Spätwerk „Discours sur la Theologie Naturelle des Chinois“ (1715/16) bildete den End- und Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit China. Seine „Novissima Sinica“ schöpfte aus der Sekundärliteratur, doch zog er möglichst aktuelle Veröffentlichungen ergänzend heran. Er verteidigte die wissenschaftliche Tätigkeit der Jesuiten sowie ihre religiöse Akkommodation und Toleranz. Leibniz war von dem Gedanken der Aussöhnung der Konfessionen beseelt, hatte sogar die Vision einer Zusammenarbeit der Wissenschaftler aller großen Weltkulturen in einer gemeinsamen Welt-Akademie der Wissenschaften (so wie später Gustav Mensching und Ninian Smart). Christian Wolff (1679–1754) zählte zu den bedeutendsten deutschen Aufklärungsphilosophen zwischen Leibniz und Kant. In Jena studierte er Theologie, in Leipzig habilitierte er sich, lehrte und predigte privat an der dortigen Universität. 1720/21 war er Prorektor (= Rektor) der Universität, wie im Übrigen vier Jahre vorher der pietistische Theologe August Hermann Francke (1663–1727). Auf persönliches Betreiben Franckes beim Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. wurde Wolff 1821 gezwungen, Preußen zu verlassen. Sein Chinainteresse war nicht von Leibniz beeinflusst. Nachdem er die chinesischen Klassiker Kungzi und Mengzi in lateinischer Übersetzung kennengelernt hatte, hielt er an seiner Universität eine „Rede über die praktische Philosophie der Chinesen“ (in überarbeiteter Version von 1726: „Oratio de Sinarum philosophia practica“). Für Wolff war die auf Konfuzius fußende Geistestradition Beweis für eine hochstehende, von der christlichen nicht beeinflussten Ethik. Die chinesischen Denker hätten ihr Handeln nach dem von ihnen erkannten Naturgesetz ausgerichtet. Für Wolff waren die Chinesen das einzige Volk, das mithilfe der autonomen, einen persönlichen Gott nicht bedürfenden Vernunft zur praktischen Philosophie und natürlichen Moral gelangt sei (Hsia 2009: 165).

8.4 „Propheten und Pioniere“ der Vergleichenden Religionswissenschaft

8.3 Giambattista Vico und seine Deutung des Mythos Zu Lebzeiten war der neapolitanische Geschichts- und Rechtsphilosoph Giambattista Vico (1668–1744) ein wissenschaftlicher Außenseiter. Seine gegen Descartes (1596–1650) gerichteten Ansichten fanden kaum Anhänger. Erst 200 Jahre später wurde Vicos Bedeutung für die Philosophie, Geschichte, Ethnologie, Religionswissenschaft erkannt. Vico veröffentlichte 1725 das bahnbrechende Werk „Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (Scienza nuova)“, ein wichtiges Dokument der Kulturwissenschaft. Darin wandte sich Vico gegen die einseitig mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete cartesianische Philosophie. Erkenntnistheoretisch gilt Vico heute als früher Konstruktivist; denn er ging davon aus, dass der Mensch nur etwas verstehen kann, wenn er weiß, aus welchen Bestandteilen das Verstehensobjekt sich zusammensetzt. Machen bzw. Herstellen ist ein schöpferisch-konstruktiver Prozess, nicht aber „Repräsentation oder Abbildung einer vorgängig und unabhängig bestehenden Wirklichkeit“. Sowohl die von Menschen gemachte Geschichte und Kultur, als auch sein Wissen über diese beiden waren für Vico konstruierendes Machen. (Relative) Erkenntnis lässt sich über die gesamte von Menschen gemachte Welt gewinnen. Universale Erkenntnis dagegen gebührt Gott allein; für den Menschen sind Kultur und Geschichte die vornehmsten und einzig möglichen Erkenntnisobjekte. Gott schaffte die Natur, aber die Menschen, machten ihre Geschichte (Kleimann 2009: 13ff.). Für Vico war der Mythos kein allegorischer Text, der den Menschen naturphilosophische und metaphysische Erkenntnisse zugänglich machen wollte. Vico teilte die menschliche Geschichte in drei Phasen mit jeweils eigener Sprache und politischen Verhältnissen. In der Zeit der „stummen Sprache“ verständigten sich die Menschen durch Zeichen und ihren Körper (Nr. 57). Im Zeitalter der „heroischen Sprache“ kommunizierten die „ersten Völker des Heidentums“ mit Bildern („poetischen Charakteren“) und Metaphern. Die Menschen dieses Zeitalters fassten ihre Phantasien von Gott/Göttern/ Heroen in sprachliche Bilder. Die Mythen sind „wahre Erzählungen“; denn sie enthalten historische, auf die (griechische) Antike zurückweisende Begebenheiten. Mythen entstanden, weil die damaligen Menschen noch keine abstrakten Begriffe bilden konnten, sondern Bilder benötigten. „Je schwächer die Denkfähigkeit, desto kräftiger ist die Phantasie“ (Nr. 36). Vico legte das Fundament für das moderne Verständnis vom Mythos. Mythen sind keine zeitgebundenen, überholten symbolischen Sprachformen, sondern sie überleben in der Poesie, sind überzeitlich.

Scienza nuova

8.4 „Propheten und Pioniere“ der Vergleichenden Religionswissenschaft Eine von der Theologie emanzipierte Geographie begann mit dem reformierten Theologen und Philosophen Bartholomäus Keckermann (um 1572–1608/9). Hatten Vorläufer wie Münster und Mercator ihre Geographie vom ersten Schöpfungsbericht aus entfaltet, so schuf Keckermann eine fachgeographische Methodik, unterschied „geographia generalis“ und „geogra-

Anfänge der Religionsgeographie

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung

Große religionskundliche Überblickswerke

phia specialis“. Keckermann geriet in Vergessenheit, und der stark auf ihm fußende Bernhard Varenius (1622–1650) galt lange Zeit als Begründer der Religionsgeographie. Zum Teil durch Übernahme ganzer Passagen schöpfte Varenius aus dem Pionierwerk Keckermanns. Ein Jahr zuvor veröffentlichte Varenius seine „Descriptio Regni Japoniae“ („Beschreibung des Königreiches Japan“). Sein Werk „Varenii kurtzer Religionsbericht von mancherley völkern“ (1868) erschien im Anhang der „Pansebeia“ des Alexander Ross. Montesquieu und Voltaire gingen davon aus, dass die räumlichen Gegebenheiten im Ursprungsraum einer Religion diese entscheidend prägten (Determinismus). Die „physikotheologische“ Schule suchte in den geographischen Erscheinungsformen der gesamten Erde Beweise für die wohltätige göttliche Weisheit. Kant erörterte religionsgeographische Probleme im Kontext von „moralischer“ und „theologischer“ Geographie („Vorlesungen über Physische Geographie“ 1802, 430ff.). Im Unterschied zur deterministischen Lehre beschrieb er die jeweiligen Religionen im Kontext von Land, Volk und Kultur (Büttner 1986; 1989). „Ideen über religiöse Geographie“ (1795) legte der Lübecker Diakonus Gottlieb Heinrich Kasche (1769–1831) vor, der den Begriff Religionsgeographie eingeführt haben soll. Seine Ziele waren im Unterschied zu Stäudlin theologischer Natur; denn mit dem geographischen Material könne die Theologie Aussagen über Gottes Weltregierung treffen. Stäudlin hält dies für „bloß Raisonnement“ (Stäudlin 1804: 22). Die „Pansebeia or a View of all Religions in the World“ (1653) des Schotten Alexander Ross (etwa 1590/1–1654) erschien in Heidelberg 1660 unter dem Titel: „Der Welt unterschiedlicher Gottesdienst …“. Ross legte mit seiner Pansebeia das wohl erfolgreichste englischsprachige Buch des 17. Jh. zu den Religionen der Welt vor. Zu ihnen rechnet er die traditionellen vier Religionen: Christentum, Judentum, Heidentum und Islam, der als Mischung der anderen Religionstraditionen betrachtet wird. In 15 Abteilungen thematisiert das Buch, ungleich geographisch gewichtet, Asien (Abteilung 1–2; Afrika/ Amerika: Abteilung 3; das ganze übrige Buch behandelt dann Europa). Ross leitete nicht der Gedanke, die fremden Religionen verstehen zu wollen und fair darzustellen. Sein Werk enthält viele intolerante Äußerungen über Religionen, insbesondere gegen Islam und Judentum, wiederholt ungeprüft unsinnig-fantastische Erzählungen früherer Reiseschriftsteller. Ross konnte in vielen nichtchristlichen Religionen auch Positives erkennen. Der lutherische Theologe David Nerreter (1649–1726) ließ sich von Ross‘ „Pansebeia“ zu seiner religionshistorischen Trilogie inspirieren. Seine kommentierten Ausgaben erweiterten den Umfang des Werkes auf das Doppelte. Nerreters zum Teil komparatistische Arbeiten sind apologetischer Natur, und an der Spitzenstellung des Christentums zweifelte er nicht. Seine vier religionsgeschichtlichen Untersuchungen waren: „Wunderwürdige Judenund Heiden Tempel“ (1700), „Neu eröffnete Mahometanische Moschea“ (1703), eine Übersetzung des Korans nach der Vorlage von Ludovico Marracci, und „Schau-Platz Der Streitenden doch unüberwindlichen Christlichen Kyrchen“ (1707). Von dem englischen Kirchenmann und Reiseschriftsteller Samuel Purchas (1577–1626) stammte das vierbändige Werk: „Purchas his pilgrimes…“ (1614). Der erste Band enthält „a theologicall and geographical Historie of

8.5 „Der Picart“ – Vorläufer visueller Religionsphänomenologie

Asia, Africa and America with the Ilands adiacent“. Der kompilierende Purchas behandelt die „ancient Religions before the Flood, the Heathnish, Jewish, and Saracenicall in all Ages“ (Titelblatt). Das Titelbild verrät, welche Aspekte Purchas jeweils thematisieren möchte: „opinions, Idols, Oracles, Temples, Priests, fasts, Sacrifices, Rites Religious: their beginnings, proceedings, alterations, sects, orders, and successions“. Im zweiten Viertel des 18. Jh. entstanden drei einflussreiche religionswissenschaftliche Publikationen: das siebenbändige Tafelwerk von Bernard und Picart, Bernard de Montfaucons (1655–1741) monumentale Bildenzyklopädie zur Antike und Joseph-François Lafitaus kultur- und religionsvergleichendes Werk. Montfaucon wurde von Winckelmann und der späteren Archäologie vollkommen abgelehnt, während Picarts Bilder und seine Grundidee eines weltweiten Vergleichs zahlreich verbreitet und adaptiert wurden. Lafitaus Werk setzte aufgrund der religionswissenschaftlichen Beschreibungen der Riten und kulturellen Eigenheiten neue methodische Standards.

8.5 „Der Picart“ – Vorläufer visueller Religionsphänomenologie Dieses Großereignis frühaufklärerischer Verlagsgeschichte in sieben unhandlichen, kostspieligen Foliobänden „Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde“ (Amsterdam 1723–1737) war ein Bestund Longseller, wurde oft und positiv besprochen, neu aufgelegt, übersetzt und fand sich in den Bibliotheken betuchter Zeitgenossen. Sein Autor war der hugenottische Buchhändler und Verleger Jean Frederic Bernard (1680–1744), die Bebilderung schuf der auch aus Frankreich stammende Bernard Picart (1673–1733), der wohl bedeutendste Kupferstecher seiner Zeit. Die als „Picart“ bekannten Folianten – „the Book that changed Europe“ (Hunt 2010) – stellten die Rituale und Zeremonien der „heidnischen“ Religionen Amerikas, Asiens und Afrikas ebenso dar wie die der Juden, Katholiken, Protestanten und Muslime. Der „Picart“ porträtierte die Religionen so gerecht und unparteiisch wie möglich – ein bemerkenswerter Fortschritt gegenüber Ross. Die Enzyklopädie durchweht ein toleranter Geist, dem religiöser Eifer und Fanatismus abhold sind. Nicht mit der gleichen Sympathie wie Judentum und Christentum behandelt das Werk das Christentum, dessen klerikale Bevormundung es kritisiert. Mit seiner optischen Aufbereitung verfolgte das Werk ein religionswissenschaftlich-visuelles Konzept, das Picart in seiner postum erschienenen kunsttheoretischen Abhandlung „Discours sur les préjugez de certains curieux touchant la gravûre“ (1734) begründete. Der Kupferstich war für Picart eine eigenständige Kunstform, die der schriftlichen Darstellung ebenbürtig war. Illustrationen sollten kein schmückendes optisches Beiwerk sein, sondern den Informationsgehalt vergrößern. Picarts Indien-Bilder zeigen Gottheiten und ihre Verehrung, Asketen, religiöse Rituale, Feste und Prozessionen. Seine Illustrationen, die auf gedruckten Reiseberichten beruhten, prägten das europäische Indien-Bild. Der Kupferstich entwickelte sich im 17. und 18. Jh. zum favorisierten Illustrationsverfahren. Er eignete sich hervorragend zur Darstellung des Pompösen und Prächtigen, anderseits war sei-

Statt Eifer und Fanatismus: Toleranz

Anfänge visueller Religionsphänomenologie

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung

ne exakte und präzise Darstellungsweise für wissenschaftliche Zwecke, Anatomien, Pflanzen und Tiere und eben auch religionsgeschichtliche Motive vorteilhaft. Im 18. Jh. entwickelte sich der Kupferstich zur regelrechten Mode der Buchillustration (Janzin/Güntner 2006: 211, 258). Man kann in Picart einen Vorläufer visueller Religionsphänomenologie sehen. Die deutsche Ausgabe des Kupferstechers David Herrliberger (1697–1777), der in Amsterdam bei Picart gelernt hatte, kopierte die Vorlagen Picarts sorgfältig. Noch weitere Autoren hingen sich gewissermaßen an den Picart an. So basierte „A new universal history of the religious rites, ceremonies, and customs of the whole world“ (1780?) des anglikanischen Theologen William Hurd weitgehend auf dem berühmten Vorläuferwerk. Das Frontispiz des Buches ist eine Collage aus Personen, Gebäuden, Motiven verschiedener Religionen: Im Hintergrund sieht man Moscheen, Kirchen, eine ägyptische Pyramide, einen antiken Tempel. Im Zentrum erscheint Mose mit einer Gesetzestafel, neben ihm sitzt eine weibliche Person an einem Altar mit Kelch und Kreuz in der Hand sowie rechts Mohammed mit einem Schwert und einer geöffneten Buchrolle. Außerdem kann man mehrere Personen, zum Teil in Gruppen, bei rituellen Handlungen beobachten. Der weitgehend unbekannte Autor der „Histoire des religions“ (4 Bde. 1676), Jean Jovet, war ein katholischer Chorherr. Sein Werk behandelte u.a. die Religionen der Chinesen, Inder und Japaner. Die Ausgaben des 17. Jh. zeigen auf dem Frontispiz die Erleuchtung des katholischen Glaubens durch das Trinitätssymbol und unterhalb davon die verhüllte Personifizierung des Judentums, darunter die Götzendiener vor dem Goldenen Kalb sowie die „Mohammedaner“. Der Autor hält die Religionen der Menschheit größtenteils für Irrglaube.

8.6 Der „Göttinger Kreis“

Kritische Religionsgeschichte

Die Universität Göttingen war dem Geist der Aufklärung verpflichtet und entledigte sich der theologischen Zensur. Zu wichtigen Wegbereitern der Religionswissenschaft zählt der Philosoph Christoph Meiners (1747–1780), der durch Werke wie „Allgemeine kritische Geschichte der Religionen“ (2 Bde. 1806/7) und Darstellungen zur Religionsgeschichte Ägyptens, Irans und Griechenlands hervortrat. Meiners war „Lehrer für Weltweisheit“, nicht aber „Gottesgelehrter“, und man kann in seinen religionsgeschichtlichen Werken Anfänge einer empirischen Religionsgeschichte erblicken. Seine Religionsgeschichte hat einen kritischen Impetus, sie stellte die Religionen dar, „um ihre Wahrheit, oder Falschheit, ihre Heilsamkeit, oder Verderblichkeit zu prüfen (Meiners 1800: IIIf.). Meiners interessierte sich für Fragen nach Alter und Entstehungsursache, reflektierte über die Urreligion. Band 2 enthielt religionssystematische Längsschnitte über Opfer, individuellen/kollektiven Kult, Gebete, gute Werke, Divination, Trauerriten. Meiners lehrte eine wesensmäßige Andersartigkeit und Inferiorität nicht-europäischer Völker. Er ging, anders als zum Beispiel Hume, davon aus, dass es keine Völker ohne Religion gegeben habe und dass die „Erkenntniß und Verehrung höherer Wesen“ notwendigerweise den „allgemeinen Anlagen der Organisation

8.6 Der „Göttinger Kreis“

ungebildeter Menschen“ erwuchs (Meiners 1806: Bd. 1, 10–12). Meiners definierte unter Rückgriff auf de Brosses den Fetischismus als Frühform des Polytheismus: „Der Fetischismus ist daher unläugbar nicht nur der älteste, sondern auch der allgemeinste Götterdienst“ (Meiners 1800: Bd. 1, 142f.). Der 1790 nach Göttingen berufene evangelische Theologe Carl Friedrich Stäudlin (1761–1826) beschäftigte sich mit alttestamentlichen, religionsphilosophischen, kirchen-, dogmen- und religionsgeschichtlichen Fragen. Die von ihm herausgegebenen „Beiträge zur Philosophie und Geschichte der Religion und Sittenlehre“ (1797ff.) wurden durch das „Magazin für Religions-, Moral- und Kirchengeschichte“ (1802–04) abgelöst, in dem vermehrt religionshistorische Arbeiten erschienen. Stäudlin förderte die nicht-theologische Erforschung der Religionsgeschichte. Interesse an der Religionsgeographie demonstrierte er mit seiner Schrift „Kirchliche Geographie und Statistik“ (Stäudlin 1804). Ursprünglich beabsichtigte Stäudlin, „mit dieser Geographie des Christentums sogleich die Geographie der übrigen Religionen zu verbinden (…). Auch war der Gedanke sehr verführerisch, sogleich den bestehenden Religionszustand der Erde in einem Ganzen darzustellen.“ (Stäudlin 1804: Vorrede Bd. 1, IV). Stäudlin nahm jedoch von diesem Großprojekt Abstand; denn es mussten „erst noch mehrere geographische und statistische Nachrichten bekannt gemacht, gesammelt und kritisch gesichtet werden und dazu dient unter andern mein ,Magazin für Religions-, Moralund Kirchengeschichte‘“ (ebd. V). Der wohl wichtigste Religionshistoriker des Göttinger Kreises war Christian Wilhelm Flügge (1773–1827). Seine „Einleitung in das Studium und in die Literatur der Religions- und Kirchengeschichte, besonders der christlichen“ (1801) befreite die neue Disziplin von der sie hemmenden „leidige(n) Dogmatik“ (§ 1). Flügge reflektierte über Theorie und „Methode“ (§ 6) der Religionsgeschichte, die er als neues Fach bestimmte. Er diskutierte „Begriff und Zweck der Religionsgeschichte“ (§ 4) und das „Princip der Religionsgeschichte“ (§ 7), stellte „Erfordernisse zu einer allgemeinen Religionsgeschichte“ (§ 10) dar. Die Aufgabe der Religionsgeschichte sah er darin zu zeigen, „wie die verschiedenen Formen und Arten der Religion unter den Menschen entstanden, und welchen Einfluss jede derselben auf den Menschen und seine Denk- und Handlungsweise gehabt hat“ (ebd. 13). Die christliche Kirchengeschichte ist für Flügge „ein Theil der allgemeinen Religionsgeschichte“ (ebd. § 58, 176) und methodisch nicht anders als die allgemeine Religionsgeschichte zu behandeln. Der stärker philosophisch orientierte Immanuel Berger (1773–1803) trat mit theoretischen Beiträgen zu „Religion, Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und ihre Principien“ (1797), „Ideen zur Philosophie der Religionsgeschichte“ (1798) und einer vergleichenden Arbeiten zur Ethik von Koran und Christentum (1799) hervor. Ein Verdienst des Göttinger Kreises bestand u.a. darin, den schon vorher existierenden programmatischen Begriff „Religionswissenschaft“ (Immanuel Berger), der für theologische Religionsforschung benutzt wurde, zur Bezeichnung einer eigenen programmatischen, historisch-systematischen Disziplin zu machen (Andreas Grünschloß).

Religionsgeschichte ohne theologische Dogmatik

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8. Religionswissenschaft im Zeitalter der Aufklärung

8.7 Religionsgeschichtliches Wissen in Enzyklopädien Das 18. Jh. gilt nach Harald Weinrich als „das Jahrhundert der großen Enzyklopädien“ (bei Conrad: 25). Zwischen 1740 und dem letzten Drittel des 18. Jh. verschob sich das Lesepublikum: Nicht mehr der „gelehrte“, theologisch kenntnisreiche Leser steht im Vordergrund, sondern das aufstrebende bürgerliche Lesepublikum, das an theologischen Inhalten allenfalls mit interessiert ist (Conrad 2006: 31). Das mit seinen 248.000 Artikeln umfangreichste Werk seiner Art war das zur theologischen Frühaufklärung zählende „Universal-Lexicon“ (68 Bde. 1731–1754) des Buchhändlers und Verlegers Johann Heinrich Zedler (1706–1751). Das Werk unterschied Christen, Muslime, Juden und Heiden. Dass der „Zedler“ in aufklärerischer Manier die Vorrangstellung des Christentums relativierte und den Toleranzgedanken unterstrich, wird man kaum sagen können (Winnerling 2013: 151). So deuteten die Artikel über das antike Judentum bis 70 n. Chr. dieses nur als christliche Vorgeschichte, und das lebende Judentum fand geringes Interesse. Die bio-bibliographischen Artikel informierten durchweg sachlich. Andere Minderheitskulturen wie Karäer, „Wiedertäufer“, Pietisten und „Zigeuner“ werden durchgängig negativ und vorurteilsvoll dargestellt (Riemer 2013). Auch Artikel über die Kulturen des damals noch weithin unbekannten Afrika zeichneten sich durch Halbwissen und Vorurteile aus (Fendler/Greilich 2006). Verglichen mit diesem lexikalischen Großunternehmen war die erheblich schmalere französische „Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ (1751–1772) religionskritisch, anti-katholisch und anti-christlich ausgerichtet. Die von Denis Diderot und d’Alembert herausgegebene, von 142 Wissenschaftlern, Künstlern und Handwerkern verfasste Encyclopédie stellte Ratio, Wissenschaftsmethodik und Empirie über den Glauben. Diderot versteckte radikale Ansichten in angriffslustigen Verweisen. So enthielt der Artikel über Menschenfresserei etwa den Hinweis „siehe auch unter Eucharistie, Kommunion, Altar etc.“ Voltaire zählte zu den leidenschaftlichsten Gegnern der Kirche, deren moralische Autorität er nicht anerkannte. Diderot war in seinem Artikel Kirche vorsichtiger, und er beschäftigte sich mit dem Thema Aberglauben an einer anderen Stelle, in dem eher abseitigen Artikel über das Wurzelgewächs Agnus scythicus. Die Artikel über Islam und Mohammed enthielten jede Menge Falschaussagen, Klischees und Vorurteile. Über Buddha und den Buddhismus wusste die Enzyklopädie nur Vages zu berichten. Insgesamt ist der religionswissenschaftliche Ertrag der Enzyklopädie eher gering. Die dreibändige Erstausgabe der „Encylopaedia Britannica“ (1768–1771) war ein alphabetisches Nachschlagewerk der „Sciences and Arts“, das Gelehrten und einfachen Menschen nützlich sein wollte. Die anonym bleibenden Verfasser gehörten zu den führenden Vertretern der schottischen Aufklärung. Neben großen, vielbändigen Handbüchern entstanden in England verschiedene, rasch hintereinander erscheinende Lexika, zum Beispiel das 1704 in London anonym publizierte „Dictionarium Sacrum seu Religiosum. A Dictionary of All Religions Ancient and Modern“. Der klerikale Biograph und Schriftsteller Thomas Broughton (1704–1774) publizierte das „Histori-

8.8 Religionsgeschichtliches Wissen in den Pressemedien des 17. und 18. Jahrhunderts

cal Dictionary of all Religions from the creation of the world to this present time“ (2 Bde. 1742). Eine deutsche Übersetzung erschien als „Historisches Lexikon aller Religionen“ (1756). Von dem Franzosen Jean François de LaCroix (1753–1794) stammte das „Dictionnaire historique des cultes religieux …“ (3 Bde. 1770).

8.8 Religionsgeschichtliches Wissen in den Pressemedien des 17. und 18. Jahrhunderts Die frühe Neuzeit war nicht nur die Epoche der Druckmedien (Einblattdrucke, illustrierte Flugblätter, ,Newe Zeitung‘). Auch durch Briefe und handschriftliche Zeitungen, deren Blütezeit nach 1750 deutlich abnahm (u.a. „Fuggerzeitungen“), wurden Nachrichten übermittelt, wozu auch die Verbreitung religiösen Wissens gehörte (Bauer). Waren viele Produkte ausschließlich textzentriert, so ist dennoch eine Zunahme an Visualität in frühneuzeitlichen Denk- und Wissenswelten zu beachten. Das Zeitalter der Printmedien beginnt nicht erst mit Gutenberg und der Bibel, sondern bereits mit Bilddrucken, die zu einer regelrechten „Invasion der Bilder ins tägliche Leben der breiten Bevölkerung“ (Würgler: 9) führten. Aufgrund der technologischen Fortschritte bei den bildreproduzierenden Verfahren wurde die massenmediale Kommunikation immer stärker durch Bilder bestimmt. Den frühen Holzschnitten folgten gedruckte Karten, zum Beispiel als Teil der Schedelschen Weltchronik. Für die Geschichte der Religionswissenschaft seit dem 16. Jahrhundert spielen die sich zunehmend gegenüber den Texten emanzipierenden Bilderwelten eine besondere Rolle. Über die schriftlichen Ausführungen zu den Vorstellungen von den Religionen, ihren Glaubensinhalten, Göttern und Kulthandlungen hinaus, gewähren insbesondere die zum Teil sehr reichhaltigen und wirkmächtigen Buchillustrationen einen Einblick in die ,fremden‘ Welten. Um ein Bild von der Präsentation religionswissenschaftlich relevanter Daten zu erhalten, sind medien- und kommunikationsgeschichtliche Untersuchungen, insbesondere Studien zur Zeitungsforschung, zur regionalen periodischen Presse (sog. „Moralische Wochenschriften“, populärwissenschaftliche Wochenblätter, Intelligenzblätter u.a.) heranzuziehen. In Zeitungen, mehr noch in Zeitschriften, die als neues Medium Ende des 17. Jahrhunderts auf den Markt kamen und im 18. Jahrhundert quantitativ geradezu explodierten (von ca. 70 Titeln um 1700 zu 3500 im Jahre 1790), ist die Vermittlung religionskundlichen Wissens ein zentrales Thema. So berichten Zeitungen über die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges mit seinen konfessionellen Konflikten und aus anderen Teilen der Welt. Erforscht und digitalisiert sind zum Beispiel Kalender des 17. Jahrhunderts. Zum Thema relevant sind etwa folgende: „Afrikanischer Sitten/Trachten/Götzendienst/Grausamkeiten und Landschafften Calender“ (1679); „Asiatischer Sitten/Trachten/Götzendienst/Grausamkeiten und Landschafften Calender“ (1677/79); „Christen- Jüden- und Türcken-Kalender (1667–1789). (http://zs.thulb.uni-jena.de/content/below/ index.xml) Im 18. Jahrhundert ist das Thema in zahllosen geographischen und theologischen Zeitschriften sehr häufig, auch in den Zeitungen wird es im politischen wie im gelehrten Teil behandelt (zum Ganzen: Böning/ Bauer).

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9. Religionswissenschaft in der Romantik 9.1 Einführung

Geschichtsphilosophie der Romantik

Als Romantik bezeichnet man in Deutschland die geistes- und kulturgeschichtliche Epoche vom Ende des 18. bis tief in das 19. Jh. Für die englische Kulturproduktion wird der Zeitraum von ca.1780 bis ca.1830 angegeben. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht gibt es gute Gründe, den Terminus Romantik nicht als Epochenbegriff, sondern als „Diskursformation“ zu betrachten, die für die moderne Kultur besondere Funktionen übernommen hat und bis in die Gegenwart wirksam ist (Reinfandt 2004). Die Romantik wirkte in Philosophie, (bildender) Kunst, Musik und Literatur. Sie stand im Zusammenhang einer allgemeinen „irrationalen Bewegung“, die mit der 20-jährigen Phase des „Sturm und Drang“ (ca. 1765–1785) anhob, sich erneut Mitte des 19. Jh. in der „Lebensphilosophie“ bemerkbar machte und seit der Wende vom 19./20. Jh. das Geistesleben beeinflusste. Die Romantiker schätzten die Imagination höher als die Ratio und wandten sich dem Erleben, der affektiven, enthusiastischen Seite des Individuums zu. Leidenschaft („Krebsschaden der Vernunft“, Kant) opponierte gegen Vernunft. Die Romantiker waren zuversichtlich, die als disharmonisch empfundene Gesellschaft und das individuelle Leben allein durch die romantische Erneuerung von Literatur und Kunst zu heilen. Die Sehnsucht nach dem „Goldenen Zeitalter“, der verlorenen Harmonie von Mensch und Welt, prägte die romantische Geschichtsphilosophie, die sich oft durch einen triadischen Verlauf auszeichnete: Auf die harmonische Frühzeit mit ihrer einheitlichen religiösen Weltordnung und dem wahren ideellen Adel folgte die geschichtliche Phase einer immer undurchschaubarer werdenden Welt. Unheilvolldisharmonisch empfunden wurden die Spaltungen durch Reformation und Aufklärung. Diese wirkten sich auf die entfremdete Gegenwart aus, die durch Säkularisierung, seelenlose Technisierung, Industrialisierung, Rationalisierung und Urbanisierung geprägt war. In Zukunft erwartete man wieder eine harmonische Einheit. Die Romantiker idealisierten das Mittelalter, machten es zur Projektionsfläche ihrer rückwärtsgewandten Sehnsüchte. Subjektivistisches Rückzugsverhalten (Symbole: Klause, Elfenbeinturm) waren jedoch nicht das einzige romantische Geschichtsmodell. Viele Romantiker blickten nämlich utopisch nach vorn – auf die ideale humane menschliche Gesellschaft. Die Sympathie vieler Romantiker zu (national-)geschichtlichen Themen förderte die Aufmerksamkeit für die Sprach- und Literaturgeschichte und hatte die Entstehung des historischen Romans zur Folge. Die Romantik besaß auch eine düster-geheimnisvolle, bedrohliche Seite („schwarze Romantik“), und viele Künstler hatten eine Vorliebe für das Abgründige und Böse (u.a. Caspar David Friedrich, Francisco de Goya).

9.2 Johann Gottfried Herder

9.2 Johann Gottfried Herder Johann Gottfried Herder (1744–1803) ordnete alte europäische Wissensbestände zu einem Konzept moderner Kulturwissenschaften. Er entwickelte neue Theorien bzw. dachte alte Theoriebestände in seiner Sprach- und Geschichtsphilosophie, Anthropologie, Literaturwissenschaft, Ethnologie bzw. Volkskunde weiter. Herder begründete ein neues Geschichtsverständnis und trug Gedanken zu einer kulturkritisch orientierten Geschichtsschreibung und Religionswissenschaft bei. Sein zwiespältiges Verhältnis zur Aufklärung belegen seine Frühschriften. Hier polemisiert er gegen die Aufklärung, behandelt ihre westeuropäischen Hauptvertreter von oben herab. Damit wird Herder jedoch nicht zum Gegenaufklärer; denn wahre Aufklärung war für ihn eine notwendige Aufgabe des Menschen. Im Anschluss an Lessing dehnte Herder den Entwicklungs- und Erziehungsgedanken auf die ganze Menschheitsgeschichte aus. In seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–91) vertrat er im Gegensatz zur ungeschichtlich-vulgären Aufklärungsphilosophie das Konzept der historischen Menschheitsentwicklung: von niederen Anfängen zum Ideal der harmonischen Betätigung aller menschlichen Anlagen (Humanität). Herder sah in der Menschheitsgeschichte eine Fortsetzung der Naturentwicklung – beides göttliche Offenbarungen. Im Unterschied zur lutherischen Orthodoxie, die Religion auf korrekte Lehre reduzierte, in Gegensatz auch zu kirchenkritischem Deismus und erfahrungsorientiertem Pietismus vertrat Herder eine weiter gefasste Sicht von Religion/en: Die ganze Menschheit besitzt Religion – für Herder höchster Ausdruck der Menschheit, auch wenn er durchaus Kritisches über manche Religionserscheinungen zu sagen hatte. Religion erfasst den Menschen in seiner Tiefe, betrifft ihn ganz. Herder hob zwar das emotionale Wesen von Glaube und Religion hervor und grenzte dies von Lehre und Ethik ab. Doch im Unterschied zu Pietisten und Schwärmern, die Religion auf individuellmystische Erfahrung reduzierten, waren für ihn alle menschlichen Kapazitäten betroffen. Religion entstand nicht durch Furcht und Unwissenheit, sondern aufgrund des Gefühls der Verehrung und der sich in der Natur ereignenden Wunder des großen unsichtbaren göttlichen Geistes („Dasein, Kraft, Grund und Quelle aller Existenz“). Herders Vorstellung von universaler Offenbarung reduzierte diese nicht auf die Bibel, vielmehr erblickte er sie in Geschichte und Natur der ganzen Menschheit. Religion war für Herder ein historisches Phänomen, dem er sich auf historische Weise näherte. Er kontextualisierte die historischen Ereignisse und untersuchte sie wissenschaftlich daraufhin, wie sie die betreffende Religion beeinflusst haben. Religionswissenschaftlich weiterführend war, dass Herders Fokus auf der historischen Individualität religiöser Phänomene lag, die er durchweg vorurteilslos betrachtete und nicht mit fremden Maßstäben maß. Dass das Christentum die höchste Religion war, daran ließ Herder keinen Zweifel (Bunge 1994).

Neues Geschichtsverständnis

Religion betrifft alle menschlichen Kapazitäten

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9. Religionswissenschaft in der Romantik

9.3 David Friedrich Ernst Schleiermacher

Religion wird nur durch sich selbst verstanden

Unterschiedliche Bewertung Schleiermachers

Religion ist weder Philosophie noch Ethik

Die Entwicklung des Wortes „Religion“ zum neuzeitlich-abstrakten Begriff (die Religion) vollzog sich in der Aufklärung und Romantik. Schleiermachers psychologisches Religionskonzept beeinflusste die Religionswissenschaft bis in das letzte Drittel des 21. Jh. zum Teil sehr stark. Dabei spielte insbesondere der Gedanke eine Rolle, „dass auch Religion nur durch sich selbst verstanden werden kann und dass Euch ihre besondere Bauart und ihr charakteristischer Unterschied nicht eher klar werden wird, bis Ihr selbst Irgend einer angehört“ (5. Rede, 190f.). In dieser Rezeptionslinie war das Interesse an der Mystik einflussreich, die an Schleiermachers teils durch mystische Metaphern geprägte Sprache in den „Reden“ ebenso anknüpfte wie allgemein an seine positive Einschätzung der Mystik (Mohn 2009: 249). Schleiermachers Denken wurde zum „erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, der (…) an die Schwelle der Entwicklung einer autonomen Religionswissenschaft führt“ (Neu 2010: 165). Die Betonung des inneren Erlebens und der Erfahrung wies Schleiermacher als Theologen der Romantik aus. Als er seine „Reden“ veröffentlichte, befand sich der deutsche Protestantismus in einer prekären Lage: Dem blühenden kulturellen Leben insbesondere in Berlin standen leere Kirchen gegenüber; eine Zeitung prognostizierte gar, dass das Christentum in 20 Jahren nicht mehr existieren würde. Schleiermacher machte gegen die Aufklärungstheologie der Deisten Front, betonte gegenüber der aufklärerischen Privatreligion den sozialen Charakter der Religion/en. Philosophen wie Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer würdigten Schleiermachers Entwürfe zur Hermeneutik. An seiner Persönlichkeit scheiden sich nach wie vor religionswissenschaftliche Geister. Während eine rationalistische Forschungsrichtung in ihm den Ausgangspunkt einer negativen Entwicklung sieht, betrachten ihn andere als „Höhe- und Wendepunkt in der religionswissenschaftlichen Forschung“ (Mensching 1948: 55) bzw. als „einen der Vorläufer der Religionswissenschaft“ (Krech 2002: 79f.) 1799 publizierte Schleiermacher anonym „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Darin trennte er Religion konsequent von Wissenschaft (Metaphysik) und Moral, wies ihr eine „eigene Provinz im Gemüte“ zu (Schleiermacher 1967). Zwar hätten Wissen, Moral und Religion dasselbe Objekt, doch betrachteten sie dieses unter verschiedenen Gesichtspunkten: „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern, und wenn nur sein Sinn nicht gewaltsam unterdrückt, wenn nur nicht jede Gemeinschaft zwischen ihm und dem Universum gesperrt und verrammelt wird – so müsste sie sich auch in jedem unfehlbar auf seine eigne Art entwickeln“ (3. Rede, 106). Für Schleiermacher war Religion ein autonomer Bereich von Seele und Kultur. Nicht die Gemeinschaft, auch nicht das rituell-kultische Handeln stehen im Mittelpunkt seiner Religionsauffassung. Schleiermacher definierte Religion als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ und „Anschauung und Gefühl (des Universums)“. Beide Begriffe gehören untrennbar zusammen, wobei Anschauung für das Staunen über die Unendlichkeit, für Ehrfurcht, Demut, Liebe und Zuwendung steht. In seiner „Glaubenslehre“ (1821/22) griff Schleiermacher eine aus der deutschen protestantischen Aufklärungstheologie stammende Formel für Fröm-

9.3 David Friedrich Ernst Schleiermacher

migkeit auf: „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Der Begriff Universum steht bei Schleiermacher für „die Gesamtheit des Seins und Geschehens: Welt, Natur, Menschheit, Geschichte“ (Otto, bei: Schleiermacher: 53 b). Die religiöse Erfahrung – Anschauung und Gefühl – ist keine subjektivistische Angelegenheit, es kommt nicht darauf an, dass der Mensch das Universum anschauen will, sondern: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird“ (ebd. 52). Das Universum „ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick“ (ebd. 53). Für Schleiermacher war „die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas Notwendiges und Unvermeidliches vorausgesetzt“ (5. Rede, 163). Die konkreten Religionen der Menschheit waren für ihn keine Verzerrungen, Verdunkelungen der vernunftgemäßen „religio naturalis“, sondern „das ganze und wahre Wesen der Religion lebt in jeder positiven Religion auf eigene Weise“. (Mensching 1948: 57) In „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt“ (1821/22; formal etwas verändert 2. Aufl. 1830/31) knüpfte der reife Schleiermacher an die zweite Rede an. Die Inhalte des Glaubens sind nicht Ursprung, sondern Folge der anschauungs- und gefühlsbedingten Glaubenserfahrung. Glaubenssätze interpretiert Schleiermacher als Ausdrücke des frommen Gefühls. In der Einleitung zur Glaubenslehre ging er davon aus, dass alle Religion dazu bestimmt ist, von den niederen religiösen Formen zu höheren, für ihn zum Christentum, überzugehen. Die anderen Religionen kommen deshalb für ihn nur in polemischer Abgrenzung vor. Das Judentum hielt er eigentlich schon für tot. Ein Interesse an konkreten Religionen – unabdingbare Voraussetzung für Religionswissenschaft – hatte Schleiermacher offensichtlich nicht. Er sprach von „rohen und ungebildeten Religionen entfernter Völker“, stellte „die verschiedenen Gestalten der systematischen Religion“ den „ausländischen und fremden“ gegenüber (5. Rede, 191). Auch schien Schleiermacher nicht daran gedacht zu haben, Religionswissenschaft als ein eigenes universitäres Fach bzw. als Teilgebiet des Theologiestudiums zu etablieren. In seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen“ (1810/30) spielen Fach und Gegenstand keine Rolle. Gegen Schleiermachers Religionsdeutung richtete sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der in seiner Philosophie der Geschichte vom Vernunftprinzip ausging. Die Menschheitsgeschichte („Produkt der ewigen Vernunft“) schreitet auf vernünftige Weise in Richtung der vollkommenen Freiheit des Menschen fort. Die gesamte historische Wirklichkeit („Totalität“) stellt sich als Prozess des Weltgeistes dar. Die Epochen der Geschichte sind für Hegel Stufen auf dem Weg zur Vervollkommnung der Freiheit. Werkzeuge des Weltgeistes sind große „welthistorische Individuen“ (Napoleon als „Weltgeist zu Pferde“), „Heroen“, in deren individuellem Interesse das Allgemeine aufleuchtet. Gustav Mensching erkannte Hegels religionswissenschaftliche Verdienste u.a. in seinem religionstypologischen Ansatz. Die Religionsgeschichte verläuft nach aufsteigendem Schema: 1. Die „Naturreligion“ bzw. „unmittelbare Religion“ trat in Gestalt einer „Religion als Zaube-

Stufen der religionsgeschichtlichen Entwicklung

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9. Religionswissenschaft in der Romantik

rei“ (z.B. bei Eskimos und afrikanischen Völkern) auf; sodann als „Religion des Insichseins“ (Buddhismus, „Lamaische Religion“); „Religion der Phantasie“ (Brahmanismus); „Religion der abstrakten Subjektivität“, „Religion des Rätsels“ (ägytischer Mysterienkult). 2. Die „Religion der geistigen Individualität“ entfaltete sich in dreifacher Gestalt: als „Religion der Schönheit“ (griechische Religion), „Religion der Erhabenheit“ (israelitische Religion), Religion der „Heiterkeit und Toleranz des Zwecks“. Auf diesen beiden Vorstufen baute 3. die „Religion der Zweckmäßigkeit“ (römische Religion) auf, die Übergangsstufe zur höchsten Form der absoluten Religion (Mensching 1971: 157–166).

9.4 Friedrich Max Müller

Mythologie als Sprachkrankheit

Als Gründungsvater der Religionswissenschaft wird oft Friedrich Max Müller (1823–1900) bezeichnet. Dieser aus Dessau stammende Sanskritist, der über fünf Jahrzehnte in Oxford wirkte, betrieb Religionswissenschaft stark von der Sprachwissenschaft her. Zu seinen Lebzeiten war Müller eine der berühmtesten Persönlichkeiten des Victorian Empire. Müllers größte wissenschaftsorganisatorische Leistung war die Herausgabe von „The Sacred Books of the East“ (SBE), einer 50-bändigen Übersetzungsreihe der großen heiligen Schriften (1879–1910). Von ihm selbst stammten drei Übersetzungsbände sowie drei Werke, an denen er mitgearbeitet hatte. Allein 31 Bände von SBE widmen sich indischen Texten. Die (Relativismus implizierende) Aufnahme des Alten und Neuen Testamentes in diese Reihe scheiterte am Widerstand der anglikanischen Kirche. Müller musste seinen Umgang mit Mythologie und Religion/en gegen den an den Universitäten dominierenden konservativen anglikanischen Geist behaupten. Vertreter einer „orthodoxen“ Lesart des Christentums, Anglikaner wie Katholiken, kritisierten seine Ansicht vom Wesen der Religion als pantheistisch und irreligiös. Gegen klerikale Kleingeisterei argumentierte Müller theologisch liberal: Gott offenbart sich auf vielfältige Weise in Geschichte und Natur, jede Religion besitzt Körner der Wahrheit. Am Anfang von Religion steht für Müller das Staunen des Menschen, seine sinnliche Erfahrung der vielfältigen Naturerscheinungen. Der frühe Mensch bewundert die ihm unerreichbaren, nicht kontrollierbaren Naturobjekte wie Sonne, Feuer, Wind, Donner. Er kann noch nicht abstrakt denken, bewegt sich also im Konkreten. Deshalb anthropomorphisiert er in seinen Mythen abstrakte Naturbegriffe. Der Frühzeitmensch bedient sich einer „mytho-poetischen“ Sprache. Die Mythen aus mytho-poetischem Zeitalter wurden fehlerhaft tradiert und entstellt: „Mythology is a disease of language“. („Lectures on the Science of Language“, 1861) Die Rekonstruktion ursprünglicher Bedeutungsinhalte kann nur philologisch erfolgen. Außerdem glaubte Müller, mit der Sonne (Aufgang, Untergang, Tag, Nacht, Morgenröte) ein Naturphänomen benennen zu können, das am Ursprung aller Mythen gestanden hätte. Alle Legenden, Märchen und Mythen waren für Müller „korrumpierte“ Solarmythen. Seit den 1880er Jahren trug ihm dies die Kritik von Anthropologen wie Herbert Spencer, Edward Burnett Tylor, Andrew Lang ein.

9.5 Mythenforschung

9.5 Mythenforschung In der Romantik nahm die Erforschung des Mythos einen Aufschwung. Während die aufgeklärte Religionskritik im Mythos „Priesterbetrug“ sah, ein Produkt urtümlich-wilder, unvernünftiger Phantasien, entwickelte sich in der Romantik ein vertieftes Mythenverständnis, das den Mythos als menschliches Urphänomen deutete. Der Begründer der wissenschaftlichen Altertumskunde, Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), weckte bzw. verstärkte die Sensibilität gegenüber der griechischen Antike. Die Vertreter der „Weimarer Klassik“ (Goethe, Wieland, Herder, Schiller um 1800) eigneten sich das antike Kunstideal an. Nachdem durch Ausgrabungen und verbesserte Reisemöglichkeiten die antiken Kulturen in das Blickfeld der oberen Schichten gerückt waren, spielte die Antikenrezeption im Klassizismus des 18./19. Jh. eine große Rolle. Es kam eine große Antikebegeisterung auf, nachdem die durch den Vesuvausbruch (79 nach Chr.) zerstörten Städte Pompeji und Herculaneum – nach früheren Ausgrabungen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. – wiederentdeckt worden waren. Zwei Interpretationsrichtungen beanspruchten in der Mythenforschung zu Beginn des 19. Jh. Deutungshoheit: Eine in der romantischen Tradition stehende Richtung vertrat die Ansicht Friedrich Schlegels (1772–1829) vom indischen Ursprung der griechischen Mythologie. Der andere Trend optierte für den rationalen Ansatz der deutschen Klassik, hob die Einmaligkeit und Klarheit des griechischen Mythos hervor und kritisierte die symbolische Verschleierung der Mythen. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. galt das „uralte“ Indien als Wiege von Kultur, Literatur und Sprache (Sanskrit). Diese Entdeckung führte zur Konstruktion der indoeuropäischen/-arischen Sprachfamilie. Im Zentrum deutscher Indienforschung stand nicht zweckfreier Erkenntnisgewinn, auch nicht die orientalistische Repräsentation Indiens, sondern „la question des origines“ (Rabault-Feuerhahn 2008: 388). Man ging der Ursprungsfrage in Sprachwissenschaft, Geschichte und Mythologie nach. Zwar besaß Europa schon seit ca. 200 Jahren Informationen über Indien, doch wandte sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jh. die Einstellung gegenüber dem Subkontinent erheblich (Chen Tzoref-Ashkenazi 2009). Mitte des 18. Jh. ließ sich die britische Ostindienkompanie in Indien nieder. Die Briten waren überrascht von der Mannigfaltigkeit dieser sehr alten Zivilisation. Ab 1746 erschienen die ersten englischen Übersetzungen altindischer Schriften. Für William Jones (1746–1794), der die „Asiatic Society of Bengal“ gründete, besaß die Kultur Altindiens in vielerlei Hinsicht den gleichen Rang wie die altgriechische. Den Gedanken der Reinkarnation hielt Jones sogar für vernünftiger als die „entsetzlichen Ansichten“ über die ewige Verdammnis im Christentum. Erste Sanskritübersetzungen erschienen (William Jones, Charles Wilkins, Henry Thomas Colebrook), und in Deutschland gehörten Wilhelm von Humboldt, die Brüder Schlegel, Friedrich Rückert und Franz Bopp zu den ersten Vertretern der Sanskrit-Studien. Die Romantiker griffen Jones‘ These von der Verwandtschaft des Sanskrits mit dem Germanischen begeistert auf. Die ersten deutschen Indologen und Ethnologen, die ihre Wurzeln im Geist der Romantik hatten, entwarfen ein

Vertieftes Mythenverständnis

Indienbegeisterung und -verklärung

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9. Religionswissenschaft in der Romantik

Indienbild, das sich durch einen Hang zur Natur, eine ästhetisierende Harmonielehre und die Vorstellung von der Oberhoheit der Philosophie auszeichnete. Beliebt war das Konstrukt des „paradiesischen Urzustandes“ der indischen Gesellschaft. Hinter dieser Sichtweise verbarg sich eine westlichgönnerhafte Betrachtung nicht-europäischer Völker und Kulturen. Die aus dieser Epoche stammende Indienbegeisterung und -verklärung dauerte bis in das 20. Jh. an. Seit der Romantik gehört ein positives, harmonisierendes Indienbild zum „kulturellen Gedächtnis“ der Deutschen. Friedrich Schlegel hielt Sanskrit für die vollendete Ursprache. In seiner kunst-, philosophie- und religionsgeschichtlichen Abhandlung „Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde“ (1808) handelt das erste Buch „Von der Sprache“, das zweite „Von der Philosophie“; das dritte Buch enthält „Historische Ideen“. Schlegels Bruder August Wilhelm (1767–1845) förderte die Erforschung des alten Indien und wurde erster Professor für Indologie (in Bonn). Trotz seines großen Indieninteresses verehrte er die griechische Antike lebenslang. Der Philosoph Baron Ferdinand Eckstein (1790–1861), der den Spitznamen „Baron Sanskrit“ erhielt, trat in Rom zum Katholizismus über. Seine Studien östlicher Sprachen und Texte führten ihn zu der Überzeugung, dass die reinste Form der Gottesoffenbarung im alten Indien zu finden sei. Für weitere Anhänger dieses romantischen Indienbildes sorgte das aus dem Englischen übersetzte Sanskritschauspiel des Kalidasa „Sakontala“ aus dem 4. Jh. Georg Forster übersetzte den Text „aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche“ und kommentierte ihn. Herder „besorgte“ die „zweite rechtmäßige Ausgabe“ (1803). Seine Besprechung der Sakuntala gehört zu den wichtigsten Dokumenten der deutschen Indienbegeisterung. „Indienlob und Europakritik gehören (…) bei den Romantikern zusammen. Das Indienlob ist zugleich eine Kritik an dem durch die Aufklärung geprägten Europa, eine Kritik an der Moderne schlechthin“ (Pecik 2003: 19). Bei dem Sprachforscher Johann Arnold Kanne (1773–1824) zeigte sich bereits eine spekulative Mythos-Auffassung. Er entdeckte Übereinstimmungen zwischen der griechisch-orphischen und indischen Schöpfungslehre. Solche Gemeinsamkeiten führte er auf indische Ursprünge bzw. auf eine Urreligion zurück. Auch Creuzer, der Umgang mit Vertretern der jüngeren romantischen Schule (Arnim, Brentano, Görres) pflegte, vertrat die indische „Theorie“. Aufgrund seines zweibändigen Mythenwerkes wurde Creuzer zum „Romantiker unter den Philologen“, zum „Symboliker“ (Dammann 1957: 414). Zwischen Romantik und Rationalismus bestanden auch Übergänge. Während die radikalen französischen Aufklärer Mythen abqualifizierten, entstand in Deutschland zur selben Zeit auch die Auffassungsweise, dass die Mythen Wahrheiten verbargen. Dieser Ansicht waren vor allem Christian Gottlob Heyne (1729–1812) und Johann Gottfried Herder, an die der Pionier der Mythenforschung Karl Otfried Müller (1797–840) anknüpfte. Für die neuzeitliche Mythendeutung lieferte der Göttinger Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne (1729–1812) den wohl bedeutendsten Beitrag. Der in seiner Mythendeutung von Vico und De Brosses‘ Fetischismustheorie beeinflusste Gelehrte wurde damit zu einem Begründer der modernen Mythenforschung. Heyne sah im Mythos ein Wesensmerkmal

9.5 Mythenforschung

menschlicher Erfahrung. Der rohe Frühzeitmensch sprach in Bildern, die nicht allegorisch, sondern symbolisch zu verstehen waren. Der Mythos war eine spezifische religiöse Sprachform („sermo symbolicus et mythicus“). Quelle der Religion/en war der „sensus religiosus“, der „dem ganzen menschlichen Geschlecht gemeinsam und der menschlichen Natur gleichsam eigentümlich und eingeboren“ war (zitiert bei Heidenreich: 447). Heyne entwickelte 14 Regeln zur Mythendeutung, wobei er den Mythos nicht aus der gegenwärtigen Perspektive betrachten wollte. Auch beschäftigte sich Heyne mit dem Verhältnis von Mythos und Ritus und vertrat die Ansicht, dass in den antiken Religionen das Ritual dem Mythos vorausging. Heynes Mythos-Auffassung wurde von der „mythischen Schule“ der evangelischen Theologen J.G. Eichhorn, J.Ph. Gabler, G.L. Bauer, de Wette auf das Alte Testament, insbesondere auf die Interpretation der Urgeschichte, später auch auf das Neue Testament (zum Beispiel Versuchungsgeschichte), übertragen. Der Archäologe, Philologe, Historiker, Geograph und Epigraphiker Karl Otfried Müller (1797–1840) lehnte in seinen „Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie“ (1825) die romantischen Thesen von der Mythologie als Weisheitslehren oder Priestererfindungen ab. Schöpfer der Mythen sind nicht einzelne Autoren, sondern das Volk, das den Mythos notwendigerweise und unbewusst hervorbrachte. Mythen entwickelten sich aus geschichtlichen Ereignissen bei ihren Völkern zu Stammessagen, verbreiteten sich dann durch Völkerwanderungen und Kolonisierungen. In seiner „Griechischen Götterlehre“ (Bd. 1) beschrieb der Altertumswissenschaftler Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868) „Bild, Symbol und Mythus“ (Welcker 1857: 56ff.). Der „erwachte Geist“ vermochte, „viele Vorstellungen“ nur bildlich zu fassen. „Die Bilder sind genommen entweder aus der Thierwelt und Gliedern auch des menschlichen Leibes oder aus dem menschlichen Leben. Wir nennen die einen Symbole, die andern Mythen und verstehen darunter in einem engeren, weder von den Alten gebrauchten, noch auch jetzt eingeführten Sinn ausschließend diejenigen symbolischen Figuren und mythischen Erzählungen vermittelst derer gewisse Vorstellungen oder Wahrheiten einem Zeitalter, das allein auf diese Art sie zu fassen im Stande war (…). Symbol und Mythus sind uns, indem wir Ursymbole und Urmythen von dem Symbolischen und Mythischen im weiteren Sinne unterscheiden möchten, gewisse Formen innerer Wahrnehmung, genialer Erkenntniß, Mittel und Werkzeuge zum sinnlich-geistigen Verständniß religiöser Dinge“ (ebd. 57f.). Welcker vertrat die Theorie des Urmonotheismus und unterstützte sie philologisch damit, dass er den Namen des Gottes Zeus auf dieselbe Wurzel wie das griechische Wort für Gott „theos“ zurückführte. In der Romantik lagen auch Wurzeln der Volkskunde. Weniger aus dem Geist der Aufklärung als aus romantischen Quellen (Herder) speiste sich das Interesse an den Hervorbringungen des „Volksgeistes“ (kulturelle Identität, die sich in Sprache, Literatur ausdrückt). Die „ethnopsychologische Ausrichtung“ auf Volk, Volkstum, Volksseele, Volksgeist beflügelte vor allem das Interesse an „geistigen“ Überlieferungen (Sage, Märchen, Lied, Glauben, Brauch). Für die Kultur des eigenen Volkes interessierten sich besonders die Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786–1859) Grimm. Der Jüngere schuf

Wurzeln der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie

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9. Religionswissenschaft in der Romantik

Verwendung empirischer Methoden

mehrere Quelleneditionen, u.a. die „Deutsche Mythologie“ (1835). Dort rekonstruierte er die germanische Mythologie über Märchen, Rechtsaltertümer und Volksbräuche: „Aller sage grund ist nun mythus, d.h. götterglaube, wie er von volk zu volk in unendlicher abstufung wurzelt: ein viel allgemeineres, unstäteres element als das historische (…) wo der mythus geschwächt ist und zerrinnen will, da wird ihm die geschichte zur stütze.“ (Grimm 1835: III). Der Ursprung von Mythos, Sage, Volkspoesie, Märchen ging für die Grimms auf eine (ideal gezeichnete) Frühzeit zurück. Grimm dachte, „dass unsere voreltern, bis in das heidenthum hinauf, keine wilde, rauhe, regellose, sondern eine feine, geschmeidige, wolgefüge sprache redeten, die sich schon in frühester zeit zur poesie hergegeben hatte; das sie nicht in verworrener, ungebändigter horde lebten, vielmehr eines althergebrachten sinnvollen rechts in freiem bunde, kräftig blühender sitte pflagen“ (ebd. IV). Die Gebrüder Grimm verwendeten schon früh empirische Methoden der Befragung und Sammlung von Volksüberlieferungen. Mehrfach wandten sie sich in Sammelaufrufen (Zirkularbriefen) an die ländliche Bevölkerung. Diese frühe empirische Tradition setzte Johann Wilhelm Emanuel Mannhardt (1831–1880) fort, der Grimms „Deutsche Mythologie“ ergänzte und gezielt Fragegebögen einsetzte. Er verschickte 25 bzw. 35 (manchmal suggestive) Fragen in 150.000 Exemplaren in ganz Deutschland und benachbarte Länder (Frankreich, Niederlande, Dänemark, Russland). In seiner „Bitte an alle Freunde des Volkslebens, über die alten agrarischen Gebräuche und Erntesitten Erkundigungen einzuziehen“ (Danzig 1865), die er an Pfarrer, Dorfschullehrer, Bürgermeister, Gutsbesitzer, Ärzte, Inspektoren, Bauern versandte, stellte er Fragen zu Bräuchen beim Ackerbau (Erntebräuche). Mannhardt publizierte die Ergebnisse in „Roggenwolf und Roggenhund“ (1866) und „Der Korndämon“ (1868). Sein zweibändiges Werk „Wald- und Feldkulte“ (1875–1877) ist die bis heute umfangreichste Sammlung der Bauernkultur. Mannhardt nahm die Existenz tierischer Korndämonen (Roggenwolf- und Roggenhund) an und war davon überzeugt, dass diese wie auch die alten Götternamen (Odin, Wotan) in eine weit entfernte germanische Frühwelt zurückwiesen, also „survivals“ altgermanischer Kultbräuche wären. Knapp hundert Jahre später widerlegte Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993) Mannhardts Versuch, aus den Erntebräuchen den Geist der germanischen Vorzeit erkennen zu können. Sie kontextualisierte die Mannhardtschen Belege und erkannte in dem Material keinen altgermanischen Geist, sondern „das ländliche Arbeitsleben auf den Erntefeldern des 19. Jh. in all seiner Realität“.

10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert 10.1 Einführung In seinem fulminanten Werk über das 19. Jh. arbeitet der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel „fünf Merkmale“ (Osterhammel 2008: 1286–1301) heraus, die diesen Zeitraum prägten: 1. Eine „asymmetrische Effizienzsteigerung“ auf drei Gebieten (Steigerung von Wachstumsprozessen; Militär; „zunehmende Kontrolle von Staatsapparaten über die Bevölkerung der eigenen Gesellschaft“, 1288) ließ die Welt in reiche und arme Regionen zerfallen; 2. wachsende Mobilität; 3. eine engere kommunikative Vernetzung der Welt, vor allem durch den Telegraphen („Referenzverdichtung“); 4. „Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie“ (Rechtsgleichheit); „Emanzipation“ aus Zwangsarbeit und konfessioneller Einheitlichkeit.

Fünf Merkmale des 19. Jahrhunderts

10.2 Religionswissenschaft in Großbritannien: Viktorianisches Zeitalter Den Zeitraum zwischen „Sattelzeit“ und „Fin de Siècle“ bezeichnet für Großbritannien der Epochenbegriff „Viktorianismus“. Das „viktorianische Zeitalter“ – benannt nach Queen Victoria (1819–1901), die den Thron erst 1837 bestieg – war die Ära zwischen 1832 (1. Reformgesetz) und 1870, deren spätviktorianische Phase bis zum Ende des Jahrhunderts dauerte. In diesem Zeitraum wuchs die Bevölkerung auf beinahe das Dreifache an, intensiv entwickelten sich Logistik (u.a. Eisenbahnen, Dampfschiffe) und Kommunikation (Telegrafie, Telefonie). Die Erweiterung der Märkte hatte eine wirtschaftliche Revolution zur Folge. Symbol des ökonomischen Booms war die „Great Exhibition“ (1851) im Londoner Hyde Park. Während einerseits die „middle class“ von der ökonomischen Prosperität profitierte, bildeten sich anderseits in industriellen Ballungsräumen Slums. Solche sozialen Probleme und Bemühungen aufzudecken und den Bedrückten aus ihrer Misere (Kinderarbeit, langer Arbeitszeiten, Armen- und Gesundheitsfürsorge, Mindestlöhne) zu befreien, war das Anliegen einer Reihe kritischer Zeitgenossen (u.a. Charles Dickens, Charles Kingsley, Elizabeth Gaskell). Das viktorianische Maschinenzeitalter wurde geistig u.a. durch das von Jeremy Bentham (1748–1832) begründete utilitaristische Denken geprägt. Tief eingewurzelt war bei vielen Viktorianern der Glaube an den (naturwissenschaftlichen) Fortschritt. Die Demokratisierung der Bildung führte eine verstärkte Kritik an der anglikanischen Staatskirche herbei. Die bis in die 1860er Jahre bestehende weitgehende Harmonie zwischen Wissenschaft und Glaube wurde immer stärker bedroht. Einflüsse aus Frankreich führten dazu, die Bedeutung Gottes im und für das Universum immer stärker einzuschränken, somit das politisch-religiöse Fundament der anglikanischen

Utilitarismus und Glaube an den naturwissenschaftlichen Fortschritt

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10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert

Glaubenskrise

Staatskirche zu unterminieren. Außerdem verbreiterten astronomische und geologische Entdeckungen insbesondere in der (radikalen) Arbeiterschaft die Basis für eine nicht-gläubige Weltanschauung. Im Zeitraum von 1790–1860 gingen sogar die Evangelikalen mit den geologischen Erkenntnissen konform. Die mittelviktoriansche Glaubenskrise erfasste zwar intellektuelle Kreise, nicht aber die Mehrheitsgesellschaft, die ihren traditionellen Glauben noch lange beibehielt. Dennoch konnte die Institution der anglikanischen Staatskirche künftig nicht mehr unangefochten über ihr Kirchenvolk herrschen und dessen Weltbild nach kirchlich-theologischen Vorgaben formen. Jeder war inzwischen in der Lage, die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Diskussionen in den zahlreich gewordenen Printmedien zu verfolgen. Massenhaft popularisierten die in immer höheren Auflagen erscheinenden Zeitungen und Wissenschaftsmagazine neue Erkenntnisse in Naturwissenschaft und Bibelforschung.

10.3 Religionstheorien Die Religionstheorien des 19. Jh. stammten nicht von Religionswissenschaftlern, sondern von Ethnologen und (Sozial-)Anthropologen. Weil sie Bedeutung auch in der Religionswissenschaft erlangten, sollen sie wenigstens kurz dargestellt werden. 10.3.1 Fetischismus Auf den französischen Juristen und Schriftsteller Charles de Brosses (1709–1777) geht der Terminus Fetischismus zurück. In seinem Werk „Du culte des dieux fétiches“ (1760) verglich er die zeitgenössischen Religionen Zentralafrikas mit altägyptischen Kulten. Fetisch leitete er vom portugiesischen fetisso ab, löste sich aber von der portugiesischen und lateinischen Etymologie (factitius = künstlich, falsch hergestellt). Neben dem Sternenkult war für de Brosses der Fetischismus die älteste Religionsform: der „Kult irdischer und materieller Gegenstände“, auch von Tieren, die selber keine Götter waren, jedoch „mit einer göttlichen Kraft ausgestattet“ seien (Amulette, Talismane). Der Fetischismus war für ihn Element „einer allgemeinen Religion, die auf der ganzen Erde weit verbreitet ist“, eine zeit- und ortlose Grundschicht der Religion. Der zeitgenössische afrikanische Fetischismus spiegelte die Religionsanschauungen des alten Europa wider. (Böhme 2000) 10.3.2 Totemismus Von dem schottischen Rechtsanwalt und Ethnologen John Ferguson McLennan (1827–1881) stammt der Begriff Totemismus. In seinem zweibändigen Werk „The Worship of Animals and Plants“ (1869, 1870) versuchte er nachzuweisen, dass die frühe Menschheit durch ein totemistisches Stadium gegangen war (Totemismus: sozial-religiöses Konzept einer permanenten Beziehung der Menschen zu einem Tier, Objekt). McLennans TotemismusKonzeption hing mit dem Fetischismus zusammen, hatte jedoch soziale

10.3 Religionstheorien

Funktionen. So war das Totem mit der Ethnie verbunden, wurde matrilinear weitergegeben und regulierte Ehen nach dem Prinzip der Exogamie. 10.3.3 Klassische Evolutionstheorien Bereits 15 Jahre vor Darwin vertrat der schottische Schriftsteller und Verleger Robert Chambers (1802–1871) in seinem anonym erschienenen Buch „Vestiges of the Natural History of Creation“ (1844) den Gedanken einer Evolution, die Astronomie, Geologie und Biologie umfasste. Seine naturwissenschaftliche Fundierung erhielt der Fortschrittsglaube vor allem durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882). In seinem Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ (1859) wies er nach, dass die Entstehung der Arten das Ergebnis eines sich über riesige Zeiträume erstreckenden Entwicklungsvorgangs war. Diese Erkenntnis beeinflusste das geistige Klima des ausgehenden viktorianischen Zeitalters auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Namhafte Vertreter der entstehenden britischen Sozialanthropologie konstruierten eine gestufte Religionsentwicklung von rohen Anfängen über Polytheismus zum Monotheismus. Darwins Vorstellung einer kausalen Evolution der Arten wurde im Rahmen des biologistisch-deterministischen Sozialdarwinismus auf menschliche Gesellschaften übertragen, deren Entwicklung als Ergebnis einer natürlichen Selektion beim „Kampf ums Dasein“ eine bedeutende Rolle spielte (siehe u.a. Benjamin Kidd: Social Evolution, 1894; „Darwin’s bulldog“: T. H. Huxley).

Britische Sozialanthropologie

10.3.3.1 Herbert Spencer Der Evolutionsgedanke wurde zum Grundprinzip eines der beeindruckendsten Intellektuellen des viktorianischen Zeitalters: Herbert Spencer (1820–1903). Dieser bekennende Agnostiker versuchte, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Analyse sozialer, insbesondere auch religiöser Prozesse anzuwenden. Noch vor Darwin erarbeitete er eine Evolutionstheorie, die über den naturwissenschaftlichen Rahmen hinaus gesellschaftliche Prozesse einbezog. Für Spencer war die Evolution ein grundlegendes Prinzip alles Lebendigen („survival of the fittest“). Alles in der Welt entwickelte sich ohne göttliche Lenkung: aus „Einfachem“ entstand „Komplexeres“, „Höheres“. Als einer der Gründerväter der Soziologie verglich Spencer die Gesellschaft mit einem lebendigen Organismus. Jedes Individuum versuchte zu überleben, indem es sich der Umwelt anpasste und dadurch den gesamten Organismus voranbrachte. Evolution ereignet sich im unorganischen (Weltall, Erde), organischen (Biologie) und superorganischen Bereich (soziale Entwicklung, Moral). Drei Grundsysteme („system of organs“) prägen die Gesellschaft (Ernährungs-, Regulierungs- und Verteilungsorgane) sowie sechs „institutions“, die diese drei Organsysteme differenzieren: familiäre, zeremonielle, politische, kirchliche, industrielle und professionelle. Alle Institutionen unterliegen dem gleichen „Entwicklungsgesetz“. Die aus der „Furcht vor den Toten“ und den Geistern entstandenen religiösen (ecclesiastical) Institutionen übten ursprünglich die stärkste Kontrolle aus, überhöhten die weltliche Herrschaft mit der übernatürlichen

Drei Grundsysteme, sechs Institutionen

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10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert

Sanktion der Götter. Spencer konstruierte folgende Stufenfolge der Religion: Animismus, Polytheismus, Monotheismus. Im ersten Band seiner „The Principles of Sociology“ (3 Bde. 1874) stellte er heraus, dass die früheste Konzeption übernatürlicher Wesen „is the conception of a ghost“ (Spencer: 286). Seit den 1870er Jahren wurden Herbert Spencers Gedanken zunehmend auch in Deutschland diskutiert. 10.3.3.2 Edward Burnett Tylor Holistische Kulturdefinition

Animismustheorie

Edward Burnett Tylor (1832–1917), Begründer der cultural anthropology und Hauptvertreter des religiösen Evolutionismus, vertrat in seinem Werk „Primitive Culture“ (Tylor 1871) eine holistische Definition von Kultur: „a complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, custom, and any other capabilities and habits acquired by a man as member of society“ (ebd. 1). In erster Linie interessierte sich Tylor für die Entwicklung von Religion, die er als „the belief in spiritual beings“ definierte. In „Primitive Culture“ entwickelte er die Theorie des Animismus (von lat. anima = Seele), der seiner Ansicht nach ursprünglichsten Entwicklungsform der Religion. Animismus tritt auf bei „tribes very low in the scale of humanity“ (ebd. 385). Vollständig entfaltet, schließt Animismus den Glauben an „controlling deities and subordinate spirits“ ein. „In souls, and in a future state, these doctrines practically resulting in some kind of active worship“ (ebd. 386). Die Menschen der niedrigsten Kulturstufen glaubten, dass die „ghost-soul“ den Menschen belebt („animating“), während sie sich in seinem Körper befindet. Sie erscheint in Träumen und Visionen außerhalb des Körpers, begibt sich auf Wanderungen, begegnet Toten. Der „Primitive“ übertrug die Vorstellung der Beseeltheit auf Tiere, Pflanzen oder Gegenstände. Tylor erstellte folgendes Stufenmodell der Religionsentwicklung: Animismus (Verehrung der belebten Natur); Manismus (Ahnenkult); Totemismus (Glaube an die übernatürliche Kraft eines Totem und seine Verehrung); Fetischismus (Verehrung von „Götzen“); Polytheismus (Vielgötterei); Monotheismus (Eingottglaube). Tylor implantierte das Konzept der survivals („Überlebsel“) in die Kulturund Sozialanthropologie. Survivals waren einst sinnvolle und funktionale kulturelle Merkmale, Denkweisen und Praktiken, die sich durch ihre Beharrungstendenz über ihre Zeit hinaus auf höheren kulturellen Entwicklungsstufen überlebt haben. Der Forschung bieten „survivals“ einen Einblick in die Anfänge und die Entwicklungsgeschichte von Religion und Kultur. In Deutschland griff der Psychologe Wilhelm Wundt Tylors evolutionistische Gedanken auf. 10.3.3.3 James George Frazer Der Sozialanthropologe James George Frazer (1854–1941) war zwar Schreibtischgelehrter, doch nutzte er auch Material, das er Fragebögen an Missionaren und Feldforschern verdankte. Frazer gliederte die Menschheitsgeschichte in drei Stadien: Magie, Religion und Wissenschaft. Religion definierte er als „a propitiation or conciliation of powers superior to man which are believed to direct and control the course of nature and of human life“ (The Golden Bough [The Magic Art, 3rd. ed., I, 222]). Diese Auffassung lehn-

10.3 Religionstheorien

te sich an Auguste Comtes soziale Evolutionstheorie an. Frazer wertete alle ihm weltweit erreichbaren literarischen Quellen aus, um seine These zu begründen: Der Glaube an transzendente Phänomene ist überholt, die Welt ist immanent erklärbar; durch „Entmythologisierung“ mythologischer und anthropologischer Verhaltensformen lassen sich die magischen und religiösen Praktiken auf den gleichen Ursprung zurückführen. Vertreter des Funktionalismus und Strukturalismus, die nach der Einheit hinter der Vielfalt kultureller Erscheinungen suchten, verhielten sich kritisch zu Frazers Theorien. Der polnisch-britische Anthropologe und Frazer-Schüler Bronislaw Malinowski (1884–1942), Begründer des Funktionalismus in der Anthropologie, war inspiriert durch Frazers Schriften. Der Strukturalist Claude Levi-Strauss (1908–2009) kritisierte dagegen scharf Frazers Lehnstuhl-Anthropologie. 10.3.3.4 Robert Ranulph Marett Die Position des englischen Sozialanthropologen und „arm-chair anthropologist“ Robert Ranulph Marett (1866–1943) unterschied sich von den Ansichten Tylors und Frazers. Anstelle des Animismus stellte Marrett den impersonalen Präanimismus (von ihm gelegentlich Animatismus genannt) an den Anfang der Religionsgeschichte. Das Erlebnis einer impersonalen Macht, welches Erstaunen, Ehrfurcht und Bewunderung von Tieren, Steinen, Bäumen usw. auslöst, gab es nach Marett schon vor dem Animismus (daher auch Präanimismus). Dahinter standen die Ideen von mana und orenda usw., geheimnisvolle Kräfte, die in pazifischen und amerikanischen Ethnien bedeutsam waren. In seinem Aufsatz „The Conception of Mana“ beschrieb Marett mana „as a general category to designate the positive aspect of the supernatural, or sacred“ (Marett 1909: 99). Mana steht Tabu als „the negative aspect“ (ebd.) gegenüber. In seinem Beitrag „Pre-Animistic Religion“ wandte sich Marett gegen Tylors Überbewertung der intellektuellen Seite der Religion. Dagegen hob er die affektive und pragmatisch-rituelle Dimension der frühzeitlichen Religion hervor; denn der „Primitive“ war für ihn kein „primitive philosopher“ (ebd. 34). „My own view is that savage religion is something not so much thought of as danced out“, schreibt er im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung „The threshold of Religion“ (xxxi). Mit seiner Unterscheidung von fear (Furcht) und dem „basic feeling of awe“ (Marett 1909: 15) beeinflusste er Rudolf Otto.

Präanimismus/ Animatismus

Dominanz des Affektiven und Pragmatischen bei Frühzeitreligion/en

10.3.4 Degenerationstheorien Die Degenerationstheorien gehen davon aus, dass die Religionsgeschichte kein allmählicher Aufstieg aus rohen Anfängen zum (christlichen) Monotheismus war, sondern – umgekehrt – ein Weg bergab, an dessen Anfängen der Monotheismus gestanden haben soll. Die Theorie des „Urmonotheismus“ konnte auf das erste Buch der Bibel verweisen, wo der eine Gott im Anfang Welt, Tiere und Menschen schuf. Im Polytheismus erblickte man die Folge des Sündenfalls, der in dem Abfall von dem einen Gott bestand. Der aus einer wohlhabenden Bordeauxer Familie stammende französische Jesuitenpater Joseph François Lafitau (1681–1746) gehörte zu den Pio-

Theorie des Urmonotheismus

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10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert

nieren kultur- bzw. religionsvergleichender Forschung. 1712–1717 ging dieser Missionar nach Sault-Saint-Louis (Kahnawake) in Kanada, lebte auf einer Missionsstation am Südufer des St.Lawrence-Stroms nahe Montreal. Dort erforschte er die Kultur der Irokesen, insbesondere ihre Religion. Die Ergebnisse publizierte er in dem vierbändigen Werk, „Moeurs des Sauvages Amériquains, Comparées aux Moeurs des Premiers Temps“ (1724). Mit großer Empathie führte Lafitau in eine europäischen Lesern unbekannte Indianerwelt ein. Systematisch verglich er die Irokesen mit den Völkern des Altertums. Große Beachtung schenkte er dem komplexen Verwandtschaftsgefüge der Irokesen, interessierte sich für die Bedeutung der Frauen in ihrer Gesellschaft, beschäftigte sich mit dem Ursprung der amerikanischen Völker, ihren Religionen, ihrer Staatsform, Kriegskunst, ihrem Handel und Gewerbe, Jagd und Fischfang, Krankheit, Heilkunst und Totenverehrung. Diese Erkenntnisse verglich er systematisch mit dem, was über die früheren Völker des Mittelmeerraums und des Orients bekannt war. Lafitaus Grundannahme, dass die Menschen eine Religion benötigen, ging von der These aus, dass es kein noch so „barbarisches“ Volk ohne Religion und geheiligte Bräuche gibt. Es ging ihm als Monogenist darum zu beweisen, dass alle Völker der Welt aus einem gemeinsamen Ursprung stammten, den das erste Buch Mose beschreibt (sog. drei „M“: Monogenese, Monogamie, Monotheismus). Lafitau wollte nachweisen, dass alle Religionen der Welt von der ursprünglichen natürlichen Menschheitsreligion abstammten. Im Zentrum stand die Vorstellung des „Þtre supérieur“, des höchsten Wesens. Der bei den Indianern Nordamerikas beschriebene oberste Geist Manitu war für Lafitau ein Begriff für den alleinigen Hochgott, dessen Erkenntnis durch die Vielgötterei und Vielgeisterei der Wilden nur verdunkelt war. Für Lafitau existierte nur ein Ursprung der Menschen, die jedoch nach der Vertreibung aus dem Paradies unterschiedlich tief ,gefallen‘ waren. Die ursprüngliche Religion war Adam und seinen Nachfahren von Gott offenbart worden. Nach der Zerstörung des Turmes von Babel und der anschließenden Sprachenverwirrung wurde diese einfache, ursprüngliche Naturreligion der Menschen korrumpiert. Die Verschiedenheit der Kulturen und Religionen erklärte Lafitau mit seinem diffusionistischen Ansatz: Nachdem die Menschen sich bis an das Ende der Erde ausgebreitet hätten, waren sie so degeniert, dass sie ihre einstige Religion und den einen wahren Gott vergessen hatten. „Die genaue Analyse der Moeurs des Sauvages amertquains zeigt indes, dass das von ihm in Ansätzen entwickelte Programm einer empirischen Religionswissenschaft, dass seine Entdeckung der universalen Verbreitung bestimmter sozialer Institutionen und dass seine Kritik an den herrschenden Auffassungen über die ,Wilden‘ nicht mehr waren als die eher marginalen Produkte des apologetischen Interesses, das er mit seinen Forschungen verband und zu dem er sich auch in aller Offenheit bekannte. (…) Lafitau wurde von seinen Zeitgenossen als der verstanden, der er auch tatsächlich war: ein Theologe, der mit Hilfe der Wilden den christlichen Glauben gegen die Angriffe zu verteidigen suchte, die mittels des Wilden gegen ihn vorgebracht worden waren.“ (Kohl 1983). In Auseinandersetzung mit den tonangebenden Theoretikern seiner Zeit (Max Müller, Tylor, Spencer, Jevons) entwickelte der Schotte Andrew Lang

10.3 Religionstheorien

(1844–1912), von dem wichtige Beiträge zur klassischen Philologie (HomerÜbersetzungen), Psychologie, Geschichte Schottlands und insbesondere zur Ethnologie und Volkskunde (Sammlungen von Volkserzählungen und Märchen), stammten, seine präanimistische High-God-Theorie, die dem herrschenden Paradigma entgegengesetzt war. Der ursprüngliche treue Tylor-Schüler gehörte im Bereich der Mythologie zu den herausragenden Forschern des 19. Jh. Seine beiden Werke „Custom and Myth“ (1883) und „Modern Mythology“ (1898) setzten sich kritisch mit der Position Friedrich Max Müllers auseinander. Wichtig war Langs Artikel „Mythology“ in der 9. Auflage der Encyclopaedia Britannica (1884), der gründlich mit den Naturmythologen abrechnete. Auf der Grundlage von Quellen australischer und andamanischer „Low Races“ entwickelte Lang in seiner Abhandlung „The Making of Religion“ (1898) die These, dass der Ursprung der Religion nicht im (Tylorschen) Animismus läge, sondern im Glauben an unsterbliche, himmlische, schöpferische und moralische High Gods (Hochgötter) – „moral, all-seeing directors of things and of men“ (Lang: Kapitel XI) – bzw. an den „All Father“. Lang fand bei Australiern und Andamanesen weder Ahnenverehrung noch Naturkulte – dafür aber Supreme Beings, „Makers and Fathers and Lords of an indeterminate nature“ (ebd.), die sich nach Lang nicht aus Geistern entwickelt haben. Ganz gelegentlich verwendete Lang für den High-God-Glauben den Terminus Monotheismus. Lang hielt das bekannte Belegmaterial für zu schwach, um daraus eine Ursprungstheorie der Religion abzuleiten. Bekanntester Vertreter der Urmonotheismus-Theorie, der jedoch den Begriff „Urmonotheismus“ nicht selbst verwendete, war der katholische Priester und Steyler Missionar Pater Wilhelm Schmidt (1868–1954). Seit 1895 wirkte dieser Linguist an der Ordenshochschule St. Gabriel in Mödling (bei Wien), später an der Universität Wien, zuletzt in Freiburg. 1906 gründete Schmidt die Zeitschrift „Anthropos“ und 1931 das zunächst von SchmidtSchülern (u.a. Wilhelm Koppers) geleitete Anthropos-Institut (seit 1962 in Sankt Augustin bei Bonn). Schmidt hatte Lang gelesen und wollte mit seiner „Kulturkreislehre“ in seinem „Ursprung der Gottesidee“ (12 Bände,1926–1955) mit Hilfe ethnologischer Daten die Wahrheit der biblischen Schöpfungsgeschichte beweisen. Die in der Ethnologie der ersten Hälfte des 20. Jh. entwickelte Kulturkreislehre wollte die Evolutionstheorie durch eine kulturhistorische Sicht ersetzen. Unter einem Kulturkreis versteht man eine räumlich-geschichtliche Größe, in der ein spezifischer Komplex von (religiösen, sozialen, materiellen) Kulturelementen anzutreffen ist. Die von Schmidt begründete „Wiener Schule“ der Kulturkreislehre, die bis in die 1940er Jahre im deutschsprachigen Raum tonangebend war, unterschied sieben Kulturkreise. Schmidt identifizierte Totemismus, Mutterrecht, Hirtennomadentum mit kulturellen Stadien, die sich aus einer gemeinsamen „Urkultur“ von Jägern und Sammlern entwickelt hätten, die noch bis in die Gegenwart erhalten geblieben sei. Im ursprünglichen Menschheitszustand herrschte der Monotheismus der Urreligion, der am reinsten im Kulturkreis der Hirtenvölker bewahrt worden sei. Im Zentrum dieses Urmonotheismus befand sich ein unsichtbares, allwissendes und allmächtiges, personales, also denkendes, fühlendes, handelndes gütiges höheres Wesen. Es wurde kultisch verehrt, galt als Garant der

Hochgott-Theorie

Anthropos-Institut

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10. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert

Sittlichkeit. Die Menschen beteten diesen Gott an, opferten ihm jedoch nicht – mit Ausnahme des Opfers aus der ersten Beute bzw. Ernte (Primitialopfer). Auch der US-amerikanische Ethnologe Lewis H. Morgan (1818–1881) vertrat die These einer aufsteigenden menschlichen Kulturentwicklung (Wildheit, Barbarei, Zivilisation). Schmidt kannte offenbar das Werk Lafitaus nicht, auch wenn sein theologisches Interesse dem seines Vorläufers nicht unähnlich war. Alle Völker der Welt stimmen überein in der allgemeinen Idee eines Ersten Wesens, Schöpfer und Erhalter der Natur – so formulierte der Abbé Jean Terrasson in seinem fantastischen Roman, dessen Titel in der deutschen Übersetzung von Matthias Claudius „Die Geschichte des egyptischen Königs Sethos“ (1777/78) lautet und der als Schlüsselwerk des Freimaurertums im 18. Jahrhundert gilt. Aus diesem Werk schöpften übrigens Mozart und Schikaneder für ihre „Zauberflöte“. Auch Voltaire schloss nicht aus, dass die Menschen zuerst einen Gott und später mehrere verehrten. Der Polytheismus wurde als Dekadenzprodukt der „menschlichen Schwäche“ bewertet. Eine theologische „Uroffenbarungslehre“ entstand im Frankreich des 18./19. Jahrhunderts als entschiedene Reaktion gegen den Rationalismus und Materialismus der Aufklärung: die katholisch-theologische Strömung des „französischen Traditionalismus“. Nach ihm ist die menschliche Vernunft nicht in der Lage, Wahrheiten sicher zu erkennen; denn diese haben ihren Ursprung in einer von Gott geschenkten „Uroffenbarung“, die ununterbrochen an alle menschlichen Geschlechter vermittelt wird und in einem Glaubensakt akzeptiert werden muss. Der Mensch braucht diese „Uroffenbarung“, um die übernatürliche, aber auch die natürliche Ordnung zu erkennen. Auch die Hinwendung der Romantik nach Indien führte bei einigen Intellektuellen zur Annahme eines „Urmonotheismus’“. Der Herder-Schüler Friedrich Majer propagierte diesen Gedanken bereits im Jenaer Kreis einer jungen Generation von Dichtern, Philosophen, Literaturkritikern, Verlegern und Naturwissenschaftlern. Diese fanden sich zwischen 1785 und 1803 in der kleinen Saale-Stadt zusammen und machten Jena zum fortschrittlichsten Geisteszentrum in Deutschland. Unter den Mythenforschern des 18./19. Jh. vertraten die Urmonotheistheorie insbesondere Friedrich Gottlob Welcker, Friedrich Creuzer, Schelling, in gewisser Weise auch Jacob Grimm.

11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland) 11.1 Einführung Eine seit Mitte des Jahrhunderts beinahe ans Naive grenzende „Wissenschaftsgläubigkeit“ sowie die Theorien des Evolutionismus, Liberalismus, Historismus, Materialismus und Rationalismus zählten zu den „Dogmen“ des 19. Jh. Das „wissenschaftsgläubige“ 19. Jh. galt nach Werner von Siemens als „naturwissenschaftliches Zeitalter“, das die Menschheit „auf eine höhere Stufe des Daseins erheben muss!“ Wissenschaftler genossen hohe Reputation, weil sie als „besondere“ Menschen „objektive“ Erkenntnisse erzielten. Die begeistert gefeierten Erfolge der Naturwissenschaftler („Evangelium der naturwissenschaftlichen Methode“, so 1878 der Mediziner Karl Albert Hueter), deren Arbeiten im Rahmen der philosophischen Erkenntnistheorie zunehmend wichtig wurden, erschienen als Garanten des Fortschritts. Die eindrucksvollen Leistungen der Technik (Verkehrstechnik, chemische Industrie, Medizin) sowie die massiven gesellschaftlich-ökonomischen Umbrüche durch die Industrialisierung gehörten zu weiteren wichtigen Kennzeichen dieses Zeitraums. Allgemeine Wissenschaftsgläubigkeit herrschte auch in der Justiz. Der wirtschaftlich-soziale Wandel paarte sich im Zeitalter der Revolutionen mit einem selbstbewusst(er) agierenden Bürgertum.

Naive Wissenschaftsgläubigkeit

11.2 Historismus und „Krise des Historismus“ Der Historismus ist einerseits eine ideengeschichtliche Epoche im 19. Jh., anderseits bezeichnet man damit eine philosophische Grundposition des 19. Jh. und frühen 20. Jh., welche die gegenwärtige Wirklichkeit von ihrer Vergangenheit her als einen Verlauf permanenter Veränderungen und Entwicklungen deutete. Ernst Troeltsch (1865–1923) verstand unter Historismus „die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des 19. Jh. geworden ist. Wir sehen hier alles im Fluss des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges“ (Troeltsch 1922: 573). Vor allem in Deutschland wurde der Historismus Grundlage für die theoretische Begründung der historischen Wissenschaften, vor allem der Geschichtswissenschaft zwischen 1820 und 1890. Das Quellenstudium, die exakte historisch-kritische Methode wurden zu unverzichtbaren Grundlagen der „historischen Schule“, die sich als empirische Disziplin verstand und strikte Unparteilichkeit forderte. Programmatisch erteilte ihr Leopold von Ranke (1795–1886) die Aufgabe, „objektiv“ zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke 1971: VII). Der Historismus

Interesse der Historiker am Einzelfall

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

Werte- und Normenrelativismus

Absolutheitsanspruch des Christentums?

Geschichte im Dienst des Lebens

lehnte die Annahme von Gesetzmäßigkeiten sowie den Gedanken eines geschichtlichen Fortschritts ab. Das historische Geschehen wurde als einmalig, nicht wiederholbar betrachtet. Aus der Romantik (Herder) übernahmen Historisten die Kategorie der Individualität. Geschichte galt als Wirkungsbereich geschichtsmächtiger Individuen. Aufgabe der Geschichtswissenschaft war es, ihre Handlungen innerhalb eines Sinnzusammenhangs zu interpretieren. Individualität war mit Selbständigkeit gepaart, d.h. es war weitgehend von der Umwelt unabhängig. Jede historische Erscheinung sollte einzeln und aus sich selbst heraus betrachtet werden. Der ausschließlich am Einzelfall interessierte Historiker schenkte metaphysischen Theorien oder sozialwissenschaftlichen Gesetzen geringe Beachtung. Jedes historische Einzelereignis sollte aus seiner jeweiligen Gegenwart heraus verstanden werden. Ranke strebte danach, sein subjektives „Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen lassen“ (Ranke 1971, Bd. 15: 103). Während die evolutionistischen Religionstheorien einen Aufstieg in der Geschichte von Kultur/en und Religion/en postulierten, sah die historistische Sicht jede Epoche „unmittelbar zu Gott und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst“ (ebd. 60). Die konservative Grundeinstellung des Historismus entsprach dem Denken sehr vieler deutscher Bildungsbürger. Troeltsch beschwor die „Krisis des Historismus“ (Troeltsch 1922). Diese Geschichtsbetrachtung führte nämlich zu einem Werte- und Normenrelativismus, der keine absolut gültigen Werte kennt, sondern alles als Resultat geschichtlichen Werdens betrachtete. Wo gibt es jetzt noch „einen Halt im Leben, wenn alle seine (des Christentums) Inhalte historisch bedingt sind und also historisch vergänglich sind?“ Für Troeltsch gab es nur eine „subjektive (relative) Absolutheit“, aber keine „objektive (absolute) Absolutheit“. Den in seiner Absolutheitsschrift vertretenen Gedanken, dass das Christentum „nicht bloß als der Höhepunkt, sondern auch als der Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwickelungsrichtungen der Religion“ gilt, relativierte Troeltsch in seinem postum erschienenen Vortrag „Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen“ (Troeltsch 1923). Friedrich Nietzsches Kritik am Historismus wurde durch das „zweite Stück“ seiner „Unzeitgemäße(n) Betrachtungen“ („Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, 1874) ausgelöst. Der Historismus war für ihn eine bloß antiquarische Geschichtsauffassung, die nicht zum Werten befähige und einem völligen Relativismus verfalle. Dem Denken in Geschichte stellt Nietzsche ein Denken „im Dienste des Lebens“ (Nietzsche 1997: 229) entgegen.

11.3 Verändertes Wissenschaftsverständnis Seit dem 19. Jh. beschleunigte sich die Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaften. Neben die sich verselbstständigenden Naturwissenschaften traten die Sozial- und Kulturwissenschaften mit eigenen Theorieund Methodensets. Die Wissenschaft sollte Zwecke erfüllen, technisch anwendbar sein, den Reichtum der Gesellschaft mehren, finstere Wahnvorstel-

11.4 Monismus, Pessimismus

lungen ein für allemal hinwegfegen (Osterhammel 2008: 1105). Herbert Schnädelbach weist auf ein verändertes Wissenschaftsverständnis hin. In der auf den Idealismus folgenden Phase ereignete sich ein „Funktions- und Strukturwandel von Wissenschaft“, durch den sich folgende Merkmale herausbildeten: Professionalisierung (Wissenschaft als Beruf), Verwissenschaftlichung der Lebenswelt, rationalistisches Vernunftverständnis, Dynamisierung, Empirisierung, d.h. als Grundlage dient die Erfahrung, schließlich Temporalisierung (Schnädelbach 1983: 88), womit auf den prozessualen Charakter von Wissenschaft hingewiesen wird. Im historischen Prozess änderten sich sowohl Kriterien und Strukturen als auch gesellschaftliche Funktionen von Wissenschaft. Auch die Fächersystematik geht auf das 19. Jh. zurück.

Funktions- und Strukturwandel von Wissenschaft

11.4 Monismus, Pessimismus Unter dem Begriff „Monismus“ wurden verschiedene naturwissenschaftlichnaturalistische Ansätze zu umfassender Welterklärung anboten. Sie bestritten die Ansprüche der Schulphilosophie und Religion/en, die Welt erschöpfend zu erklären und vertraten eine auf Wissenschaft beruhende einheitliche „Weltanschauung“. Dieser Begriff wurde im 19. Jh. zum polemischen Schlagwort gegen Religion. Der Monismus wurde zu einem wesentlichen Kulturfaktor um 1900. Monisten wiesen jeden Dualismus (Geist-Körper, Mensch-Natur, Gott-Welt) zurück, setzten sich in Konfrontation zu den Kirchen für Sozial- und Bildungsreformen ein. Eine wichtige Rolle in der philosophisch-kulturkritischen Diskussion zwischen 1870 und 1890 spielte der Pessimismus (beliebte Metapher: „Niedergang“; Gutsche 2014). Neben einer literarischen Version etablierten sich ein metaphysischer und ein Kulturpessimismus (Pauen 1997). Dieser fand im Begriff der Décadence seinen Ausdruck, was (nachklassische) Kraftabnahme, Verfall, Melancholie, Resignation, aber auch „Zuwachs an seelischen und künstlerischen Werten“ (Bourget bei Pauen 1997: 145) bedeuten konnte. In der Kunst verkörperte das Fin de Siècle die kulturelle Dekadenz einer zu Ende gehenden Epoche. An der Epochenschwelle um ca. 1890 artikulierte sich das Unbehagen an der gegenwärtigen Kultur immer deutlicher. An die Stelle des Positivismus trat „ein neuer Idealismus auf allen Gebieten (…), der in den führenden Kreisen des geistigen Lebens den Positivismus und Naturalismus (…) zurückdrängt“ und diesem Mitte der 1920er Jahre „die Herrschaft über das geistige Leben (…) wohl bereits entwunden“ hat (Vierkandt 1926: 66). Man hat die wilhelminische Kulturkrise als „Modernisierungskrise“ (Merlio 2010: 26) gedeutet. „In der wilhelminischen Ära stehen nebeneinander der Antimodernismus und die Hinwendung zur Moderne, kaiserliche Kunstpolitik und Wissenschaftskritik, Weltläufigkeit und bornierter Nationalismus, volkstümelige Sehnsucht in die Vergangenheit und Avantgarde, Frauenemanzipation und Sehnsucht nach ,Natur‘, ästhetisches Raffinement und Sehnsucht nach dem ,Echten‘, nihilistischer Relativismus und Suche nach dem ,Wahren‘, Irreligiosität und Suche nach ,letzten Wahrheiten‘, Spießbürgerlichkeit und Libertinage, Autoritätsfixierung und Anarchismus.“ (Berg/Herrmann: bei Skiera 2010: 52).

Décadence

Neuer Idealismus

Modernisierungskrise

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72

11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

11.5 Wilhelm Diltheys Einfluss auf die Religionswissenschaft

„Verstehen“ und „Erklären“

Lebensbegriff

Intuition

Wilhelm Dilthey (1833–1911), einer der Hauptvertreter der gemäßigten Lebensphilosophie, legte den historisch-systematischen Grund der Geisteswissenschaften. Als ihr Hauptmerkmal galt der Dreiklang von „Erleben, Ausdruck und Verstehen“. Die Kultur- und Geisteswissenschaften richteten sich auf das Verstehen der historischen Individualitäten durch Anschauung und Bedeutung (idiographische Methode). Demgegenüber ging es den Naturwissenschaften um das Erklären der Welt durch Suchen nach Gesetzmäßigkeiten (nomothetische Methode). Dabei sollte das Subjekt soweit wie möglich aus dem Erkenntnisvorgang ausgeschlossen werden. Diltheys „verstehende Psychologie“ setzte voraus, dass die Wissenschaft keinen Zugang zum inneren seelischen Erleben hat, ihr jedoch die Erlebnisausdrücke in Kunst und Dichtung zugänglich seien. „Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet; der einzelne lebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit, und nur in einer solchen versteht er.“ (Dilthey, Gesammelte Schriften, VII. Band, 4, 1965, 146). Inneres „Erleben“, das auf Totalität abzielende „Leben“ sowie „Verstehen“ des Lebens („Leben versteht Leben“) wurden zu wesentlichen Merkmalen der sich auf Dilthey berufenden Geisteswissenschaften, insbesondere der „Religionswissenschaft des Verstehens“. Die Lebensphilosophie sah das Leben als Werden, Bewegung, Lebendigkeit im Gegensatz zu dem erstarrten, unbeweglichen Sein. Leben als schöpferische Potenz entfaltet sich und findet im Geschaffenen seinen „Ausdruck“, seine Form – auch wenn sie noch darüber hinausgeht. Begreifen lässt sich das Leben in seiner Lebendigkeit nur, wenn man sich die in der unbewussten Tiefe des Lebens befindende Intuition (Ausdruck von Henri Bergson) zunutze macht. Innerhalb fundierungstheoretischer Konzeptionen von Erkenntnis bezeichnet Intuition den Akt der Erfassung von etwas unmittelbar und differenziert Gegebenem. Während diskursives Erfassen nacheinander die Inhalte durchläuft, wird bei der intuitiven Erkenntnis „ein einzelner Sachverhalt als Ganzer und auf einmal eingesehen“ (Blume 2003). Diese Intuition befindet sich „hinter“ dem analysierenden Verstand im unbewussten Seelenleben. Anstelle von Intuition und Gefühl spricht Dilthey von Erleben des eigenen Lebens („Innewerden“) und des fremden Lebens der umgebenden Welt. Das Erleben setzt das rationale Denken nicht außer Kraft. Um 1900 galt manchen die akademische Universitätsphilosophie als erstarrt, undynamisch, rational – kurz: lebensfremd. Gegen das akademische Systemdenken brachten Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche bzw. Psychoanalytiker wie Freud das „kritische Potential des Irrationalen wirkungsvoll in Anschlag“. „Die Kraft und Bewegung, die z.B. die Lebensphilosophie (Bergson, Klages, Dilthey) aus diesem kritischen Potential gewannen, brach auch fruchtbaren begrifflichen und methodischen Neuansätzen in der wissenschaftlichen Philosophie die Bahn (z.B. Phänomenologie, Existenzphilosophie, Anthropologie), ohne jedoch die Kluft zwischen Leben

11.6 Religion/en und Spiritualität um 1900

und System überbrücken zu können oder zu wollen. Daran zeigt sich jedoch auch die Ambivalenz des Irrationalen: Als Gegensatz zu einer rigide, lebensfern, und abstrakt aufgefassten Rationalität erscheint die Besinnung auf die Unbegreiflichkeit des Lebens einerseits authentisch und realistisch und wirkt als Quell schöpferischer Impulse, andererseits droht auch die Gefahr gefährlichen Schwärmens und ideologischen Wunschdenkens mit teilweise katastrophalen Folgen.“ (Kai Gregor). Die in der heutigen Religionswissenschaft in Misskredit geratene Intuition ist von verschiedenen Wissenschaften längst rehabilitiert worden: Als „unbewusste Intelligenz“ und gefühltes Wissen zeichnet sie sich durch drei Elemente aus: Sie gelangt sehr schnell ins Bewusstsein; wir wissen nicht, warum dieses Gefühl plötzlich da ist, und Intuition lenkt viele Entscheidungen in unserem Leben (Gigerenzer 2008). Zur Problemlösung ist sowohl rational-statistisches als auch intuitiv-heuristisches Denken notwendig. In den 1920er Jahren gab es keine führende Philosophenschule mehr. Der Erste Weltkrieg hatte die Gesellschaft so tiefgreifend erschüttert, dass man weder dem Idealismus noch dem naturwissenschaftlichen Paradigma folgen wollte. Ernster genommen wurde der Mensch in seinem alltäglichen Dasein, und in Gestalt der Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaft entwickelte sich an den Universitäten das neue, vor dem Ersten Weltkrieg von Max Weber (1864–1920) und Georg Simmel (1858–1918) begründete Fach Soziologie zu einer Leitdisziplin. Außerdem entstand neben einer marxistisch inspirierten Philosophie eine rechtsintellektuelle Gesellschafts- und Kulturkritik, vertreten u.a. durch Oswald Spenglers (1880–1936) pessimistische Geschichtssicht (in seinem Werk „Untergang des Abendlandes“) sowie durch Ernst Jünger (1895–1998). Neben der (linken wie rechten) Kulturkritik entstand eine Kulturphilosophie (Ernst Cassirer). Angesichts der Erschütterung durch den Weltkrieg suchten manche Philosophen Halt in der Religion: Max Scheler (1874–1928) und Edith Stein (1891–1942) konvertierten vom Judentum zum Katholizismus. Der katholische Außenseiter Scheler trat für die Erneuerung deutscher Kultur ein, die er von der Nationalkultur des Kaiserreichs und von der westlichen Kultur des Kapitalismus abgrenzte. Dabei sprach der gegen Militarismus, Imperialismus und Preußentum eingestellte Scheler einem entpolitisierten Katholizismus die kulturelle Führungsrolle zu. Die jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929) und Martin Buber (1878–1965) waren herausragende Vertreter jüdischer Philosophie und Religionswissenschaft. Neben anderen bereiteten sie der am Individuum ansetzenden Existenzphilosophie (Karl Jaspers, Martin Heidegger) den Weg.

Ambivalenz des Irrationalen

Leitdisziplin Soziologie

11.6 Religion/en und Spiritualität um 1900 Zwar gab es um 1900 in Deutschland noch keine institutionalisierte Religionswissenschaft, doch waren Religion/en, Konfession/en und ihr Verhältnis zur Moderne in der breiteren Öffentlichkeit und im akademischen Bereich gefragte Diskussionsgegenstände. Die religiöse Situation jener Zeit wurde als „Umbruch“ (Thomas Nipperdey) beschrieben, und Religion war „ein

Religiöse Umbruchsituation

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

Vagierende Religiosität

Jugendbewegung

Refombewegungen

zentrales Stück der individuellen wie der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (Nipperdey 1988: 5f.). Die an den Universitäten Fuß fassende Religionswissenschaft entstand in einem religiös-weltanschaulich vielfältigen Milieu: Neben der katholischen und protestantischen Kirchenreligion, die von fortschreitender Entkirchlichung (Arbeiter, Bildungsbürger) erfasst wurde, standen die Juden. Wie einflussreich die Kirchen noch waren, verdeutlicht ein Blick auf die Schule: der niedere Bildungssektor und die Mädchenbildung. Wichtig war der konfessionelle Religionsunterricht, die Kirchen waren durch staatlich beauftragte Geistliche an der Schulaufsicht beteiligt. Um 1900 bis zum Ersten Weltkrieg stellte sich der Protestantismus als die bürgerliche Nationalreligion des preußischen Staates dar. Neben den Kirchenmitgliedern standen die „schweigsam aus der Kirche Ausgewanderten, die praktische Unchristlichkeit (…), die – informellen – ,Ersatzreligionen‘ der Praxis. Schließlich die Randzone einer neuen außerkirchlichen ,vagierenden‘ Religiosität“ (124), die sich weder einem konservativen noch liberalen Lager zuordnen ließ. Die Vertreter der vagierenden Religiosität konnten mit den kirchlichen Lehren (Dogmen) nichts anfangen. „Die vagierende Religiosität war eine Antwort auf Krisengefühle der Zeit, auf die Verunsicherung durch Modernisierungsverluste, auf die Zweifel an den etablierten Sicherheiten, auf die Gefährdung der Personalität und der Kultur der Autonomie durch die ,ehernen Gehäuse‘ der modernen Zivilisation“ (151). Eine erhebliche Wirkung übten Religion/en und Religiosität auf die „Jugendbewegung“ zu Anfang des 20. Jh. aus. So enthielten Liedkultur und Laienspiel (quasi-)religiöse Motive. Auch die völkische Weltanschauung der „schweigsam aus der Kirche Ausgewanderten“ speiste sich aus religiösen Antriebskräften. So schufen die Vertreter der völkischen Religiosität „arteigene“, rassespezifische Religionen. Die völkische Mehrheit fühlte sich zu einem arisierten, antisemitisch begründeten Deutschchristentum hingezogen. Eine Minderheit versuchte sich an einer gedanklichen und lebenspraktischen Renaissance der altgermanischen Religion/en. Seit 1900 existierten einige, zum Teil bis in die Gegenwart bestehende neopagane Religionsentwürfe. Zum Spektrum der Reformbewegungen zwischen 1880 und 1930 gehörten „lebensreformerische Bewegungen“ (Naturheilbewegung, Ernährungsreform, Vegetarismus usw.), Neubildungen religiös-spiritueller Gemeinschaften (Freireligiöse, Freidenker, Theosophie und Antroposophie, Waldorfpädagogik), auch Erneuerungen im Judentum, Katholizismus und Protestantismus (Kerbs/Reulecke 1998). Eine Art früher Hippie-Kultur etablierte sich im schweizerischen Ascona am „Kraftort“ Monte Veritá. Dort entstand ein Zentrum spiritueller Bewegungen: Lebensreform, Pazifismus, Anarchismus, Theosophie und Anthroposophie, Psychoanalyse, Ausdruckstanz, östliche Weisheiten. Trotz aller Verschiedenartigkeit einte sie die Kritik an der europäischen, auf Krieg gestimmten „Normalzivilisation“, der sie den Pazifismus entgegen setzten. Sie engagierten sich für die Rückkehr zur „reinen“ Natur, priesen die Flucht aus der anonym-lasterhaften Großstadt, suchten die Tiefenverbindung mit der „Seele“ des Kraftortes. Seit den 1880er Jahren war der Spiritismus in Deutschland präsent. Das offizielle Organ des Deutschen Spiritisten-Vereins verband bereits in seinem

11.7 Intellektuellengruppen

Titel allerlei Erscheinungsformen: „Zeitschrift für Spiritismus, Somnambulismus, Magnetismus, Spiritualismus und verwandte Gebiete“ (seit 1897). Als Wegbereiter heutigen New-Age-Denkens können die Theosophen betrachtet werden. Auffallend war die „Durchlässigkeit der Milieus“ (Auwärter 2006: 166) zwischen liberal-theologischen Kreisen und theosophischen „Salons“. Diese wurden von so illustren Persönlichkeiten wie Adolf Harnack, Leo Baeck, Helmuth von Glasenapp, Carl Gustav Jung, Albert Einstein, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann aufgesucht. Auch Rudolf Otto hatte – noch nicht näher untersuchte – Kontakte zu Theosophen. Bedeutsam für die damalige Religionskultur war die „öffentliche Inszenierung der Religionsdiskurse“ in europäischen Ländern und den USA. Religionswissenschaftlich relevant waren die Weltkongresse (Chicago, 1893), die Kongresse religionsgeschichtlicher/-wissenschaftlicher Vereinigungen, Religionsgespräche und Kongresse der Religionsgemeinschaften. Die seit dem Beginn des 19. Jh. beginnende Verherrlichung nationaler Führer, Heroen, Märyterer fand um 1900 im Bismarckkult der „nationalen Opposition“ im Dunstkreis des Alldeutschen Verbandes seinen Ausdruck (Kershaw 2000).

11.7 Intellektuellengruppen Um 1900 organisierten sich in der bürgerlichen Kultur (Künstler, Wissenschaftler, „Neureligiöse“) vielerlei „Intellektuellengruppen“ (Faber/Holste 2000): (esoterische) Zirkel, Gruppen, Schulen, Bünde (u.a. „Monistenbund“), Kreise (u.a. „George-Kreis“, „Eranos-Kreis“, „Kairos-Kreis“, „ForteKreis“, „Patmos-Kreis“), Orden (in der Nachfolge der im 17./18. Jh. gegründeten Geheimgesellschaften), Klöster (z.B. Nietzsches „Kloster für freiere Geister“), Runden („Kosmische Runde“ der Münchner Bohème), Bewegungen („Erotische Bewegung“, „Heidnische Bewegung“), Bruderschaften (u.a. der Münchner „Blaue Reiter“;), Clubs („Club dada“ in Berlin). Die folgenden Intellektuellengruppen und Einzelpersönlichkeiten bilden u.a. den Kontext für die sich institutionalisierende Religionswissenschaft. 11.7.1 Warburg-Kreis In den 1920er Jahren nahm ein interdisziplinärer Kreis von Altertumsforschern, Philosophen, Kunsthistorikern, Orientalisten (wenigen Religionswissenschaftlern) um den jüdischen Bild- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866–1929) Gestalt an. Zu diesem Kreis gehörte der Synkretismusund Gnosisforscher Richard Reitzenstein (1861–1931). Dieser zog die hellenistischen Mysterienreligionen für die neutestamentliche Exegese heran und wies auf die Bedeutung der mandäischen Traditionen zum Verstehen des Johannesevangeliums hin (u.a. „Das iranische Erlösungsmysterium. Religionsgeschichtliche Untersuchungen“, Bonn 1921). Zu den Religionshistorikern zählten der Altphilologe Eduard Norden (1868–1941: u.a. „Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee“, 1924) und der Orientalist Hellmut Ritter (1892–1971: u.a. „Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin Attar“, Leiden 1955).

Milieudurchlässigkeit

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

11.7.2 Verlag Eugen Diederichs in Jena Der Jenaer Verlag von Eugen Diederichs (1867–1930) bot eine Heimstätte für Vertreter der „vagierenden Religiosität“ und wurde zum Experimentierfeld für neue Ideen und Formen auf dem Gebiet nicht-konfessioneller, nichtchristlicher, aber „lebendiger Religion“. Diese sollte lebensdeutend, über Religionen und Kulturen hinweg, auf die „Ganzheit des Lebens“ zielend, undogmatisch und frei sein. Diederichs richtete sich gegen den Protestantismus, die Universitätstheologie, die Institution Kirche. 11.7.3 Brückenbauer und Grenzgänger Einzelne Intellektuelle übernahmen die Funktion geistiger Brückenbauer – unter ihnen ausgewiesene Fachwissenschaftler, die als Grenzgänger „zwischen den Welten“ des Abendlands und Asiens auftraten. Der evangelische Theologe und Sinologe Richard Wilhelm (1873–1930) legte durch seine kunstvollen, nicht von allen Fachkollegen geschätzten, bis heute aber wirkungsmächtigen Übertragungen und Kommentierungen klassischer chinesischer Texte (u.a. I Ging) – verlegt bei Eugen Diederichs –, die Grundlagen zu einem interreligiösen Verstehen zwischen China und dem Westen. Der berühmteste zeitgenössische Dichter Indiens, Rabindranath Tagore (1861–1941), bereiste ab 1921 mehrere Male Deutschland, wo er noch weitgehend unbekannt war. Begeistert empfingen den charismatischen Inder die nach der „rettenden indischen Weisheit“ (Keyserling 1919) suchenden Deutschen. 11.7.4 Hermann Graf Keyserling Der Deutschbalte Hermann Graf Keyserling (1880–1946), Weisheitslehrer, in gewisser Weise „Religionsstifter“, wurde durch sein religionsphilosophisch und -wissenschaftlich interessantes umfangreiches Werk „Das Reisetagebuch eines Philosophen“ (1919) bekannt (Motto: „Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum“). Der Graf gelangte über Suez-Kanal, Rotes Meer, Aden in den indischen Ozean, um dann zentrale Städte Ceylons zu bereisen. Von dort aus ging es nach Indien, China und Japan – schließlich in die „neue Welt“: Amerika. Keyserlings Reisebuch enthält viele religionskundliche Informationen, die er von seiner auf Synthese zielenden Religionsphilosophie her deutet. Jährlich veranstaltete er in seiner Darmstädter „Schule der Weisen“ Zusammenkünfte, bei denen Weisheitsthemen nicht nur theoretisch, sondern praktisch behandelt wurden. An den damals auch von der Presse viel beachteten Veranstaltungen nahmen bedeutende Zeitgenossen teil: C.G. Jung, Max Scheler, Leo Baeck und Ernst Troeltsch. Thomas Mann stand in brieflicher Verbindung mit dem Grafen. Der Sinologe Erwin Rousselle (1890–1949), Wilhelms Nachfolger am Frankfurter China-Institut, lehrte über Askese, Mystik und Psychologie, Meditation und Yoga.

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik 11.8.1 Edmund Hardy Edmund Hardy (1852–1904) war „der erste deutschsprachige Professor, der das Fach vergleichende Religionswissenschaft an einer Philosophischen Fakultät vertrat“ (Vollmer 2014). Bereits in den 1880er Jahren las dieser katholische Theologe an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg eine „Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft“, thematisierte frühe Phasen indischer und buddhistischer Religionsgeschichte. Im katholischen Traditionsverlag Aschendorff (Münster) begründete er die Schriftenreihe „Darstellungen aus dem Gebiete der nichtchristlichen Religionsgeschichte“, in der neben eigenen Arbeiten bedeutende Untersuchungen publiziert wurden. Hardys Lehrgebiet lautete: „Philosophisch-historische Disziplinen der propädeutischen Theologie, insbesondere der Religionsphilosophie und der Geschichte der Religionen“. Aus Anlass seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor hielt Hardy die Antrittsrede „Die allgemeine vergleichende Religionswissenschaft im akademischen Studium unserer Zeit“ (Hardy 1887). Die Religionswissenschaft musste sich nach Hardy verselbstständigen und empirische Wissenschaft werden. „Alles, was nicht Erfahrungstatsache ist, und als solche nicht entweder überliefert oder aus überlieferten Tatsachen erschlossen ist, existiert nicht für uns“ (3). Sie soll nicht der Apologetik oder Polemik dienen, sondern sich „um das in die Erscheinung tretende geschichtliche Verhältnis der Religionen, demzufolge eine jede derselben eine relative Berechtigung hat“, kümmern. 1894 wurde Hardy ordentlicher Professor für „Vergleichende Religionswissenschaft und altindische Literatur“ in der neu gegründeten Schweizer Universität Fribourg. Seine bleibende Bedeutung für das Fach liegt in seinem konsequenten Eintreten für die empirische Religionsforschung, die historisch-komparatistische Religionsanalyse, die enge Verbindung philologischer und religionswissenschaftlicher Methoden. Sein programmatischer später Artikel „Was ist Religionswissenschaft?“ (Hardy 1898) nahm Erkenntnisse späterer Autoren (Joachim Wach) vorweg. Bei der Institutionalisierung des Faches blieb Deutschland gegenüber den Niederlanden, der Schweiz und den USA um fast vier Jahrzehnte zurück. Der Beginn der institutionalisierten Religionswissenschaft in Deutschland war das Jahr 1910. In diesem Jahr wurden in Berlin und Bonn religionswissenschaftliche Lehrstühle errichtet.

Religionswissenschaft als selbständige empirische Disziplin

11.8.2 Die „Religionsgeschichtliche Schule“ in der Evangelischen Theologie Seit den 1860er Jahren entstand im deutschen Protestantismus die „liberale Theologie“. Diese rezipierte aus Aufklärung, Idealismus und Spätrationalismus des 17./18. Jh. einige „Motivgruppen“: „Einheitlichkeit der Weltgeschichte (im Unterschied zur Heilsgeschichte); die Zuordnung von Glaube und Vernunft angesichts der Einheit der Wirklichkeit; die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion sowie von äußerer Kirchlichkeit und innerer Religiosität; die Historisierung der ,heiligen‘ Schriften und die damit

Merkmale liberaler protestantischer Theologie

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

Das „Wesen der Religion“

Radikal historischer Ansatz

verbundene Unterscheidung des ,Wesens‘ der Religion von der Positivität der christlich-kirchlichen Überlieferung; den Antidogmatismus und den Anspruch auf individuell-religiöse Glaubenserfahrung; den Theismus als Ausdruck des providentiellen und teleologischen Weltzusammenhangs; die christologische Reduktion auf Jesus als den Lehrer des Reiches Gottes, der Moral und Religiosität; die Kirche als religiös-sittliche Gemeinschaft von Individuen im Gegensatz zur verfassten, rechtlichen Institution; die Religiosität als anthropologische Struktur“ (Jacobs 1991: 47). Als religionswissenschaftlich bedeutungsvoll erwies sich die altliberale Unterscheidung zwischen positiver (konkreter) Religion und dem „Wesen der Religion“: eine Relation „wie zwischen ,Schale‘ und ,Kern‘“ (Harnack 1906: 313). Durch historisch-kritische Untersuchungen biblischer Texte wollte man zum geistigen „Wesen der Religion“ gelangen. Dabei spielten Schleiermachers Gedanke einer vorrationalen, moralisch nicht verzweckten „religiösen Anlage“ und die Hinwendung zum Historismus eine Rolle. Für den Neuliberalismus fiel auch das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften ins Gewicht und führte bis zum Ersten Weltkrieg zu theologischen Differenzierungen. Die holistischen Konstruktionen der welterklärenden Naturwissenschaften als Grundlage diverser Weltanschauungen sowie die Lebensphilosophie sind religionswissenschaftlich bedeutungsvoll, weil sie die bibelhistorischen Studien in größere religionsgeschichtliche Zusammenhänge stellten. (Bibel-Babel-Streit, 1891) Die Göttinger „Religionsgeschichtliche Schule“ vertrat neuliberales Denken. Ernst Troeltsch, der Systematiker unter den Religionsgeschichtlern (Graf 1982), bezeichnete den Kreis als „kleine Göttinger Fakultät“. Hervorgegangen war diese aus der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft eines Kreises junger Theologen, die sich zwischen 1888 und 1893 in Göttingen habilitierten (Lüdemann): Wilhelm Bousset, Albert Eichhorn, Hermann Gunkel, Ernst Troeltsch, Johannes Weiß, William Wrede. Diese Religionsgeschichtler verband ein radikal historischer Ansatz bei der Erforschung der Quellen des Christentums. Sie arbeiteten komparatistisch, entdeckten analoge/homologe Phänomene in anderen Religionen. Das Christentum erschien als Synkretismus. Die Forscher fügten die urchristliche Literatur in das allgemeine antike religiöse Leben ein. Entscheidenden Einfluss auf die Entstehung des Christentums sahen sie in „Spätjudentum“, Hellenismus sowie babylonischen und persischen Religionen. Die Abfolge der religionsgeschichtlichen Stufen – „primitive Religion“, Buchreligion, Christentum – erfolgte unter Aufnahme darwinscher Gedanken. Als besonders virulent erwies sich die Frage nach der Absolutheit des Christentums. Ihren Höhepunkt erreichte diese Thematik in der Debatte um Troeltschs Abhandlung „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ (1902). Großen Erfolg hatte Bertholets „Religionsgeschichtliches Lesebuch“, das in seiner ersten Auflage 1908 erschien und am Beispiel ausgewählter Heiliger Schriften der Völker die Absicht verfolgte, „fremde(n) Religionsurkunden in geeigneter Auswahl und in zuverlässiger Übersetzung weiteren Kreisen zugänglich (zu) mache(n)“. Erhebliche Breitenwirkung erreichte die religionsgeschichtliche Schule durch die „Religionsgeschichtliche(n) Volksbücher“ und die von Heinrich

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Weinel (1874–1936) herausgegebenen „Lebensfragen“. Die „Volksbücher“ erschienen in sechs Reihen, von denen die dritte „Allgemeine Religionsgeschichte. Religionsvergleichung“ (Klappentext der Volksbücher) behandelte. Die von dem Neutestamentler Erich Fascher und Gustav Mensching herausgegebene Reihe „Aus der Welt der Religion“ (1924ff.) erhielt später einen biblischen und religionswissenschaftlichen Schwerpunkt. Die RGG (1. Aufl. 1909–1914) bot eine Zusammenfassung der Forschungen in der liberalen protestantischen Theologie bis zum 19. Jahrhundert und hatte auch eine Perspektive über den traditionellen Fächerkanon hinaus. Sie präsentierte das kulturprotestantische Bildungswissen um 1900. Die Autoren wurden auf die Methode der religionsgeschichtlichen Schule verpflichtet und sollten dabei das Gegenwartschristentum im Auge behalten. Gegenüber ihrer Vorgängerversion bestach die 2. Auflage der RGG (1927–1931) durch die qualitativ und quantitativ verbesserte Darstellung der nichtchristlichen Religionen. Die religionsphänomenologische Methode gewann an Bedeutung, wie man an Söderbloms Artikeln über „Macht“ und „Mana“ erkennen kann. 11.8.3 Einblicke in die außerhalb des Faches betriebene Religionsforschung Die Religionsforschung um 1900 verteilte sich auf mehrere Wissenschaften, die ihre jeweils eigenen Zugangsweisen zum Phänomen Religion besaßen, das sie nicht – wie die Religionswissenschaft – um seiner selbst willen, sondern nur als Aspekte und Teilbereiche thematisierten. 11.8.3.1 Klassische Altertumswissenschaft Ihre Vertreter vertieften das Wissen um die griechische Religion. Erwin Rohde (1845–1898) förderte die Kenntnisse der antiken Literatur- (Der griechische Roman und seine Vorläufer, 1876) und Religionsgeschichte („Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen“, 1890–1894). Der um 1900 in seinem Fach führende Altphilologe Hermann Usener (1834–1905), der die Bonner Universität („Bonner Philologenschule/Usenerschule“) zu einem Zentrum zeitgenössischer klassischer Philologie machte, wurde durch seine „Götternamen“ (1896) bekannt, auch durch Wortschöpfungen wie „Augenblicksgott“. Ein Spezialist für römische Religionsgeschichte war Georg Wissowa (1859–1931), von dem u.a. das Werk „Religion und Kultus der Römer“ (1902) stammte. Wissowa gab „Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft“ (sog. „Pauly-Wissowa“) heraus. Für die große Fülle religionswissenschaftlich relevanter Leistungen innerhalb der orientalistischen Fächer (Indologie, Islamwissenschaft, Altorientalistik, Semitistik, Assyriologie, Iranistik, Ägyptologie) sei auf die jeweiligen Fachgeschichten verwiesen. 11.8.3.2 Volkskunde Zwischen (Alt-)Germanistik, Klassischer Philologie, altphilologisch ausgerichteter Religionswissenschaft und Volkskunde bestanden fachliche Verbin-

Breitenwirkung der Religionsgeschichtlichen Schule

„Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG)

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

Verbindung von Religionswissenschaft und Volkskunde

dungen. Der skandinavische Mediävist Karl Helm (1871–1960) lieferte Beiträge zur germanischen Religionsgeschichte, und der Altphilologe Richard Wünsch (1869–1915), von dem u.a. „Antike Fluchtafeln“ (1907) stammte, hob die Nähe von Griechen- und Germanentum hervor. Dem Usener-Schüler Albrecht Dieterich (1866–1908) war daran gelegen zu erforschen, „was das Volk weiß“. Das neue Fach war für ihn eine „Wissenschaft von der Weisheit und den Überlieferungen des Volkes“ (bei Bagus 2005: 183). Dieterich plädierte nachdrücklich für „philologisch-geschichtliche Forschung (…), verstanden als die wissenschaftliche Erforschung der Gesamtkultur eines Volkes“ (Dieterich: 75). Er forderte weder die „Einrichtung religionsgeschichtlicher Professuren auf deutschen Universitäten und erst recht nicht die Umwandlung der theologischen in religionsgeschichtliche Fakultäten“ (76). „Es gibt keine Wissenschaft des Göttlichen. Es gibt wissenschaftlich keine göttliche Offenbarung, sondern nur Entwicklung menschlichen Denkens von göttlicher Offenbarung“ (76). Die seit den 1870er Jahren intensivierte interdisziplinäre Verbindung von Religionswissenschaft und Volkskunde war aus altphilologischer Sicht ein „modischer Trend“, den der Usener-Antipode Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) vehement bekämpfte. Die Bonner Philologenschule schätzte den religionsgeschichtlichen Vergleich auch mit der Volksreligion (Ritus, „Aberglauben“, modernes Brauchtum), und die hehre Religion der Griechen wurde mit deutscher popularer Religiosität und anderen Religionen auf eine Ebene gestellt. Richard Wünsch setzte antiken Geisterglauben und den vom bildungsfernen Mann des Volkes praktizierten „modernen Geisterglauben“ parallel. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bewährte sich auch an der von Dieterich und Wünsch 1903 gegründeten Schriftenreihe „Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten“. Um Interdisziplinarität bemühten sich die beiden Dieterich-Schüler Friedrich Pfister (1883–1967), der u.a. über „Reliquienkult im Altertum“ (1909–1912) gearbeitet hatte und den Artikel „Religion“ im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ verfasste, und Otto Weinreich (1886–1972), der als klassischer Philologe neben Epigraphik und Paläografie auf dem Gebiet der antiken Religionsgeschichte forschte („Antike Heilungswunder“, 1909). Ein Außenseiter innerhalb der Ethnologie blieb Arnold van Gennep (1873–1954), dessen Werk über die Übergangsriten „Les rites de passage“ (1909) mit ihren drei Phasen (1. Trennungsriten; 2. Übgergangs- bzw. Schwellenriten; 3. Angliederungsriten) sich als sehr einflussreich u.a. für die Erforschung der Pilgerreisen und Riten (Victor W. Turner) erwies. 11.8.4 Archiv für Religionswissenschaft 1898 erschien das erste Heft der rein religionswissenschaftlichen deutschen Zeitschrift „Archiv für Religionswissenschaft“ (ARW), das von dem Bremer Religionswissenschaftler, Ethnologen und Gymnasiallehrer Thomas Achelis (1850–1909) herausgegeben wurde. Von Anfang an trug der Titel der Zeitschrift den Zusatz „vereint mit den Beiträgen zur Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm“. Das ARW erfüllte die von ihr angestrebte Funktion, internationales Zentralorgan des noch nicht institutionalisierten

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Faches zu sein, kaum: einmal aufgrund seiner zunehmenden Beschränkung auf die griechisch-römisch-christliche Antike sowie wegen der Konzentration auf Rasseforschung während des Dritten Reiches. Zu den bekannten (Mit-)Herausgebern gehörten Altphilologen wie u.a. Albrecht Dieterich, Richard Wünsch, Otto Weinreich, Eduard Norden, Ludwig Deubner, Richard Reitzenstein, Exegeten wie Wilhelm Bousset und Hermann Gunkel sowie Indologen und Sanskritologen wie Hermann Oldenberg und Alfred Hillebrandt. In seiner Einführung drückt Achelis „das Bedürfnis einer Einigung für die sich sonst nach allen Seiten hin zersplitternden Studien auf den inbetracht kommenden Gebieten“ (1) aus. Der Herausgeber unterstreicht den „Anschluss an die Sprachwissenschaft“ (Achelis: 1), „Völkerkunde und Folklore“ (2), hebt die Bedeutung von „unabweisbare(n) Analogien und Uebereinstimmungen bei völlig stammfremden Völkerschaften“ (ebd.) hervor. „Was uns aber hier besonders am Herzen liegt und wovon wir die wirksamste Förderung unseres Unternehmens erwarten, ist das einträchtige Zusammengehen der sprachwissenschaftlichen und ethnologischen Forschung und zwar auf dem gemeinsamen Grunde einer psychologischen (Orig. gesperrt) Analyse“ (ebd.). Achelis unterstreicht den „empirisch-kritischen“ Charakter der Religionswissenschaft (3), die nicht „eine chronologisch zusammenhängende Religionsgeschichte“ (7) im Auge hat.

Religionsgeschichtliche Engführungen

11.8.5 „Religionswissenschaft des Verstehens“ Mit der theoretisch-methodisch anspruchsvollen „Religionswissenschaft des Verstehens“ begann sich in der Weimarer Zeit ein neues religionswissenschaftliches Paradigma als Alternative zur bisherigen philologisch-historischen „Normalforschung“ (Thomas Kuhn) zu etablieren. Diese neue religionswissenschaftliche Richtung strebte nach Mehrheit in der Scientific Community und blieb bis Ende der 1960er Jahre nicht nur in Westeuropa, sondern auch in den USA tonangebend. Diese hermeneutische Religionswissenschaft zeichnete sich durch ein reflektiertes Theorie- und Methodenbewusstsein aus. Sie knüpfte an geisteswissenschaftliche Traditionen des 19. und frühen 20. Jh. an, wobei Romantik und Lebensphilosophie eine besondere Bedeutung zukamen. Von Schleiermacher zieht sich theologisch-religionswissenschaftlich eine Linie zu Rudolf Otto (1869–1937), dem „Schleiermacher redivivus“, Nathan Söderblom (1866–1931) u.a. und philosophisch zu Wilhelm Dilthey. Schleiermacher war wohl der erste, der Hermeneutik nicht nur als Textinterpretationsmethode verstand, sondern dieses Verfahren für den Bereich des Verstehens erschloss. Aus der Sicht heutigen religionswissenschaftlichen Mainstreams (1970ff.) werden folgende Eigenschaften zu den Hauptmerkmalen der „Religionswissenschaft des Verstehens“ gezählt und kritisiert: Irrationalität; religiöses Erlebnis als Gegenstand von Forschung und Erkenntnisprinzip; Religion als Organismus; Interesse am psychischen und historischen Ursprung der Religion; Vorliebe für das Präfix Ur-; „intuitives Nacherleben, kongenialisches Nachvollziehen, Schauen der wahren Intention, Mitfühlen, Einfühlen, Nachbilden“; „Genialität des Religionswissenschaftlers“; Religionswissenschaftler als „Propheten ihrer eigenen Religiosität“ (Flasche 1982: 269–271).

Reflektiertes Theorieund Methodenbewusstsein

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland) Rudolf Otto: kein Prophet des Irrationalen

Systematischer Vergleich als Erkenntnismittel

Als Kronzeuge für „Irrationalität“ gilt Rudolf Otto. Dieser hatte jedoch im Vorwort zur englischen Übersetzung von „Das Heilige“ („The Idea of the Holy“, 1923) unmissverständlich darauf hingewiesen, dass als Erstes die rationalen Merkmale der Religion/en untersucht werden müssten („I do not thereby want to promote in any way the tendency of our time towards an extravagant and fantastic ,irrationalism‘ (…) The ,irrational‘ is to-day a favourite theme of all who are too lazy to think or too ready to evade the arduous duty of clarifying their ideas and grounding their convictions on the basis of coherent thought“, VII). Für Otto war das religiöse Gefühl „nicht aus den sittlichen Elementen heraus erklärbar. Aber die sittliche Seite einer Religion als institutioneller und gemeinschaftlicher Aspekt spielte in seiner Wahrnehmung des Gegenstandes Religion eine große Rolle“ (Choi 2013, 166). Irrationalität im Sinne Ottos und der sich auf ihn Berufenden muss klar von der zeitgenössischen irrationalen Schwärmerei, gar Verzückung abgegrenzt werden. Für Otto und Friedrich Heiler besaß der Lebensbegriff nicht annährend die Bedeutung wie für Gustav Mensching. Die hermeneutischen Religionswissenschaftler rezipierten Diltheys Verstehenslehre verschieden. Die Vertreter der „modernen Religionsforschung“ (Mensching 1938: 19) dachten nicht daran, ihre Arbeit von den Erkenntnissen der historisch-philologischen „Normalwissenschaft“ abzukoppeln und sich stattdessen in irrationale Wesensschau zu versenken. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Religionshistoriker waren für sie selbstverständlich unverzichtbar, jedoch wurden sie als nicht hinreichend betrachtet. Im Zuge des neuen theoretisch-methodischen Paradigmas entwickelte sich die Religionswissenschaft mit ihrem historischen und systematischen Zweig (Joachim Wach). Den Vertretern der „Religionswissenschaft des Verstehens“ verdankt die Forschung den systematischen Religionsvergleich als wichtiges Erkenntnismittel. Selbstverständlich ist das komparatistische Erkenntnisinstrument viel älter, doch wurde seine konsequente Anwendung zu einem Unterscheidungsmerkmal der „neuen“ Vergleichenden Religionswissenschaft. Vor allem die vergleichenden Arbeiten Menschings und seine Kompendien (Mensching 1938, 1940) sind hier hervorzuheben. Die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. in der Philosophie entstandene Phänomenologie (Edmund Husserl) und die religionsphänomenologischen Arbeiten Geradus van der Leeuws (1890–1950) führten bei den „modernen“ Religionswissenschaftlern dazu, die neue Methodik als „einen sehr wesentlichen Teil der vergleichenden Religionswissenschaft“ (Mensching 1938) zu bewerten. 11.8.5.1 Rudolf Otto (1869–1937)

Der politische Rudolf Otto

An der (evangelischen) Theologischen Fakultät in Marburg geht die Religionswissenschaft auf den Systematischen Theologen Rudolf Otto zurück. Der im niedersächsischen Peine geborene Otto studierte evangelische Theologie, promovierte über „Geist und Wort nach Luther“ (1898). Er lehrte in Göttingen (1897), Breslau (1914) und Marburg (seit 1917). Krankheitshalber wurde er 1929 emeritiert. Otto war ein politischer Mensch und von Beginn an (1896–1903) Mitglied im „Nationalsozialen Verein“, der liberal-sozialreformerische Gedanken

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

mit einem großen Interesse an einer starken deutschen Außenpolitik verband. 1907 trat er als Kandidat für die Nationalliberalen bei der Wahl für das Preußische Abgeordnetenhaus auf. Von 1913 bis zum Ende des Krieges war Otto nationalliberaler Abgeordneter für Göttingen, 1918/19 Mitglied der linksliberalen „Deutschen Demokratischen Partei“. Seit etwa 1903 engagierte sich Otto bei den „Freunde(n) der Christliche(n) Welt“, der wichtigsten kulturprotestantischen Zeitschrift, maßgeblich geprägt von Martin Rade (1857–1940). Otto setzte sich mit biologischen, evolutionistischen Theorien und mit der Religionsphilosophie des Kant-Nachfolgers Jakob Friedrich Fries (1773–1843) auseinander. Ottos Hauptwerk „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ (1917) stand in der Mitte seines Schaffens. Für Otto liegt das Wesen der Religion nicht in dogmatischen Aussagen über Gott, Christus, Heiliger Geist, Kirche usw., auch lässt sie sich nicht auf Ethik reduzieren. Im Zentrum steht die Erfahrung des Heiligen oder Numinosen. Beschreiben lässt sich das Heilige nur auf dem Umweg über die seelischen Reaktionen im Menschen. Ottos große Bedeutung für die Religionswissenschaft verbindet sich auch mit seinen Übersetzungen (Otto 1917, 1918, 1935) sowie seinen religionsgeschichtlichen Untersuchungen (Otto 1932a, 1932b, 1934). In „West-Östliche Mystik“ (1926) und „Die Gnadenreligionen Indiens und das Christentum“ (1930) arbeitete er die jeweils charakteristische „Achse“ heraus, um welche die betreffenden Religionen schwingen. Ottos religionsgeschichtliche Erkenntnisse waren auch seinen Weltreisen und Begegnungen mit Menschen anderer Religionen geschuldet. Sein Japan-Aufenthalt setzte den Anfang der europäischen Studien des Zen-Buddhismus. Verschiedene Kultgegenstände und Reiseandenken bildeten den Kern der Religionsgeschichtlichen Sammlung in Marburg. Für den späten Otto spielten sozialethische Themen eine wichtige Rolle (Otto 1981). Wenn man Ottos Religionsauffassung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Irrationalen verhandelt, blendet man die immense Bedeutung des Politischen und Ethischen beinah vollständig aus. Dass Otto die (partielle) Irrationalität des Gegenstandes hervorhebt, sollte nicht mit einer irrationalen Einstellung des Forschers verwechselt werden. Außerdem ist darauf hinzuweisen, „dass Ottos eigene politische Aktivitäten, insbesondere seine Bemühungen um die Gründung des humanitarisch und kosmopolitisch orientierten ,Religiösen Menschheitsbundes‘ (1921) seiner umstandslosen Einordnung in die Geschichte des deutschen Präfaschismus entgegenstehen“ (Kohl 1988: 251). Otto war kein von numinosen Schauern „ergriffener“ Prophet des Irrationalen – solche gab es in der Zeit um 1900 auf weitaus geringerem Niveau genug – vielmehr war er ein (sozial-)ethisch denkender Religionsforscher. Dieser „Real-Pazifist“ (Choi 2013: 184), der die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers hervorhob, ist einer der Väter der „Praktischen Religionswissenschaft“. 11.8.5.2 Friedrich Heiler (1892–1967) Der als Sohn einer römisch-katholischen Lehrerfamilie in München geborene Friedrich Heiler, der schon früh intensiv am kirchlichen Leben teilnahm, studierte katholische Theologie, Philosophie, Psychologie, Religionsge-

Große Bedeutung des Politischen und Ethischen: „Religiöser Menschheitsbund“

Rudolf Otto: Früher Vertreter einer „Praktischen Religionswissenschaft“

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

Heiler als priesterlicher Mensch, Ökumeniker und Religionsforscher

schichte und orientalische Sprachen. 1917 promovierte er mit einer Arbeit über „Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung“. An der Universität München wurde er 1919 Privatdozent für Religionswissenschaft. Seine religionsgeschichtliche Habilitationsschrift behandelte „Die buddhistische Versenkung“ (1918). Verschiedene geistige Traditionen wirkten auf diesen ganz und gar kirchlich-frommen Gelehrten ein: katholische Reformtheologie, theologischer Modernismus, liberale religionsgeschichtliche Theologie. Kirchenmänner wie der reformierte Franzose Wilfred Monod (1867–1943) und der schwedische Lutheraner Nathan Söderblom beeinflussten ihn sehr. Ähnlich wie Söderblom beeindruckte Heiler alles „Hochkirchliche“. Ein ausschlaggebendes Element seiner geistig-geistlichen Persönlichkeit war die „Mystik“, und der späte Heiler mag selbst mystische Erfahrungen gehabt haben. Heiler war ein „Grenzgänger“ zwischen Konfessionen und Religionen. Der 1919 zum Luthertum Konvertierte vertrat das Ideal einer „evangelischen Katholizität“: ein Universalismus, der traditionelle Konfessionsgrenzen ignorierte. Heiler war nicht nur Motor der innerchristlichen Ökumene, vielmehr strebte er eine „Ökumene der großen Religionen“ an. Seit Beginn seiner Marburger Tätigkeit engagierte sich dieser „priesterliche Mensch“ (Kurt Goldammer) bei den von Studierenden eingerichteten Andachten und Gottesdiensten in der Michaelskapelle. Nicht zur großen Freude seiner Kollegen aus der Theologischen Fakultät zelebrierte Heiler evangelisch-katholische Eucharistiefeiern, auch in seiner eigenen Hauskapelle. Auf Anregung Söderbloms und Vorschlag Rudolf Ottos erhielt Heiler als 28jähriger die speziell für ihn geschaffene Professur für Religionsgeschichte in der evangelischen Theologischen Fakultät der Universität Marburg (1920). 11.8.5.3 Gustav Mensching (1901–1978)

Interesse am religiösen Leben selbst. Sezieren und Präparieren toter Wissensstücke genügt nicht.

Ein Religionswissenschaftler völlig anderen Zuschnitts als Heiler war der Otto-Schüler Gustav Mensching. Zwar musste auch er als Theologe beginnen, doch wuchs er immer stärker in die Rolle des Religionswissenschaftlers hinein und grenzte beide Disziplinen zunehmend voneinander ab. Mensching studierte Philosophie und evangelische Theologie in Göttingen (1920/ 21). Dann wechselte er nach Marburg, um Religionswissenschaft zu studieren, was nur im Rahmen der Theologie möglich war. Mit seiner Schrift „Das Heilige Schweigen“ (1923/24; veröffentlicht 1926) erwarb Mensching den Titel Lic. theol. 1927 habilitierte er sich an der Technischen Hochschule Braunschweig, im selben Jahr folgte er dem Ruf an die Staatsuniversität von Riga/Lettland. Als „Reichsdeutscher“ wurde er dort apl. Professor und verwaltete den Lehrstuhl für Allgemeine Religionsgeschichte. Seine Antrittsvorlesung behandelte „Das Christentum im Kreise der Weltreligionen“ (3. 10. 1927). Schon hier ging es um sein Lebensthema „Toleranz“. In seiner Dissertation definierte Mensching, der weitaus methodenbewusster als Heiler war, Religionswissenschaft als „methodische und erkenntnismäßige Aneignung religiöser Tatbestände“. Er hielt das Analysieren, Sezieren und Präparieren „toter Wissensstücke“ zwar für wissenschaftlich notwendige, doch für nicht hinreichende wissenschaftliche Operationen. Die historisch-philologische Forschung beachtete nach Mensching zu wenig

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

den „irrationalen Charakters des Forschungsobjektes Religion“ (Mensching 1926). Damit blieb eine wesentliche Dimension des Religiösen („das religiöse Leben selbst“) unbeachtet. Auf die Analyse folgt die „lebenweckende Synthese“ im Leser/Hörer. Obwohl Mensching die „intuitive Erfassung“ (Mensching 1926: 12) unterstrich, war es charakteristisch für den protestantisch nüchternen, systematisch denkenden Mensching, dass im Fokus seiner Dissertation nicht die „Verlebendigung“, sondern die „wissenschaftliche Analyse“ (11) stand. 11.8.6 Mission und Religionswissenschaft Bedeutsam für die entstehende Religionswissenschaft war die Leistung der christlichen Missionare und der Missionswissenschaft. Unter den Stichworten „Wissens- bzw. Wissenschaftstransfer“ wurden in den letzten Jahren vielfältige, im europäischen Langzeitgedächtnis gespeicherte Klischees aufgedeckt, die das Verhältnis von (Forschungs)reisenden, Entdeckern, Missionaren, Botanikern, Zoologen, Kartographen, Anthropologen, Schriftstellern, Malern, Siedlern, Verwaltungsbeamten, Lehrern, Ärzten, Polizei und Militär, Filmemachern auf der einen Seite und dem von ihnen transportierten „Wissen“ auf der anderen Seite thematisierten. Stand zunächst der Wissensexport im Mittelpunkt, so verschob sich das Interesse auf das indigene Wissen bzw. auf die Beziehungen zwischen indigenen und europäischen Wissenschaftssystemen. Das kolonialistische Weltbild war von Klischees und Stereotypen geprägt. Es stellte Okzident und Orient, Europa und die nichtwestliche Welt nach folgendem Muster einander gegenüber: entwickelt – unterentwickelt, zivilisiert – primitiv, Kolonisatoren – Kolonisierte, rational – irrational, liberal – despotisch. Für den kolonialistischen Wissenstransfer sind insbesondere die Missionare in den Blick zu nehmen. Ihr durch Macht- und politische Strukturen geprägtes Verhältnis und ihre Repräsentation bzw. Konstruktion afrikanischer, indischer usw. Religionen (Nehring: 29–53) publizierten die Missionare in Missionszeitschriften. In Afrika waren Missionare die ersten europäischen Verfasser von Darstellungen ostafrikanischen Lebens und ostafrikanischer Religiosität. Ihre Informationen finden sich in Stationsberichten, Briefen, Tagebüchern, Monats-, Quartals- und Jahresmissionsberichten, Vorträgen (in Europa), Memoiren, Traktaten, wissenschaftlichen Aufsätzen, Monographien (Altena; Hartung: 13; Habermas). Auch wenn die Sicht der Missionare christlich-apologetisch (zum Beispiel lutherisch) und patriarchalisch geprägt war und sie die afrikanischen, indischen usw. Religionen als unterlegen betrachteten, so sind die Missionsberichte eine zwar nicht unumstrittene, gleichwohl aber wichtige Quelle für Religionsgeschichte und Religionswissenschaft. Indem die Missionare europäische bzw. deutsche „armchair-Religionswissenschaftler“ mit religionskundlichen Informationen versorgten, hatten die protestantischen Missionare einen nicht unbedeutenden Anteil an der Entstehung der Religionswissenschaft in Deutschland. „Wurde also die sich formierende Religionswissenschaft von der Mission mitbestimmt, so wurden Mission wie Religionswissenschaft ihrerseits geprägt durch die Kategorien und Grundannahmen, die in Sprachwissenschaft und Philologie wie auch in vielen anderen Disziplinen der Zeit weit verbreitet waren. Die Form der

Kolonialistischer Wissenstransfer

Bedeutung protestantischer Missionare für die Entstehung der Religionswissenschaft

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

Förderung religionswissenschaftlicher Arbeit

Wissensgenerierung in Mission und Religionswissenschaft war also keine zeitgenössische Besonderheit“ (Habermas). Einige Missionsleute publizierten in religionswissenschaftlichen Zeitschriften, ab 1886 dann in der „Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft“. Mit Verspätung lässt sich der Vorgang der Verwissenschaftlichung von Mission im katholischen Raum beobachten. Auch von der katholischen Mission ging eine „Rückwirkung (…) für die Etablierung neuer Wissenschaftsdisziplinen wie der Religionswissenschaft und der Ethnologie“ aus (Süss: 359). Stellvertretend für die Gattung der Missionsberichte seien die „Halleschen Berichte“ im 18. Jh. genannt. Die im Laufe einer Geschichte von knapp 150 Jahren von 60 Missionaren nach Halle geschickten Briefe thematisierten die wichtigsten kulturellen Bereiche, insbesondere auch Religion. Die „Berichte“ sind eine wichtige Quelle insbesondere auch für die an Südindien im 18. Jahrhundert interessierte Religionswissenschaft (Bergunder/Das). 1886 gründete der zwei Jahre vorher entstandene Allgemeine EvangelischProtestantische Missionsverein mit seinem Zentralbüro in Berlin die „Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft“. Der Zweck des von kirchlich liberalen Kreisen Deutschlands unterstützten Missionsvereins bestand darin, „christliche Religion und Kultur unter den nichtchristlichen Völkern auszubreiten in Anknüpfung an die bei diesen schon vorhandenen Wahrheitselemente“. Unter den Mitteln zur Lösung seiner Aufgabe nennt er „die Förderung des Studiums der nichtchristlichen Religionen; die Anbahnung einer regeren Diskussion der religiösen Ideen zwischen der Christenheit und der nichtchristlichen Welt, insbesondere den heidnischen Kulturvölkern; die Förderung allgemeiner Kulturbestrebungen in der außerchristlichen Welt und Pflege des christlichen Sinnes in den in derselben lebenden Glaubensgenossen“ (Deutsches Kolonial-Lexikon, 1920, Band I, 35). Auf katholischer Seite gab der Begründer der katholischen Missionswissenschaft, Joseph Schmidlin (1876–1944), die „Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft“ 1911 heraus (27 Bände bis 1937). Sechs Bände erschienen unter dem Titel „Missionswissenschaft und Religionswissenschaft“ von 1938–1941 und 1947–1948/49. Zwischen 1942 und 1946 war die Zeitschrift eingestellt worden. Die Zeitschrift ist Organ des Internationalen Instituts für missionswissenschaftliche Forschungen (IIMF). 11.8.7 Religionssoziologie Der auf den französischen Mathematiker und Religionskritiker Auguste Comte (1798–1857) zurückgehende materialistische Positivismus war ein radikaler Versuch, die Philosophie dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal anzupassen. In seinem „Système de politique positive“ (1825) formulierte dieser Mitbegründer der Soziologie das Dreistadiengesetz: Danach entwickelte sich die Menschheit geistig in den drei aufsteigenden Stadien: Theologie (fiktives Stadium) mit den drei Phasen Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus; Metaphysik (abstraktes Stadium); Wissenschaft (positives oder reales Stadium). Kindheit und Jugend von David-Émile Durkheim (1858–1908) waren von

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

einer jüdisch-orthodoxen Erziehung geprägt. Dennoch brach Durkheim mit der Religion und wurde Agnostiker. In seinem religionssoziologischen Hauptwerk „Les formes élémentaires de la vie religieuse“ (1912) vertrat er eine evolutionäre Sicht der Religion. „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören“ (Durkheim 1981: 75). Soziale Erscheinungen waren für Durkheim Wirklichkeiten eigener Art. Das Reale, Ewige, worum es auch in der Religion geht, war für Durkheim die Gesellschaft. Von den Individuen war sie abgrundtief getrennt, übte aber Zwang auf sie aus. Die „faits sociaux“ (soziale Tatsachen) hängen nicht vom Belieben des Einzelnen ab, sondern werden von Gruppen getragen. Sie gehören zu dem, was Durkheim später Institution nannte. Der individuelle Bereich war für Durkheim das Profane, der gesellschaftliche dagegen das Heilige. Das Heilige, Ewige, Absolute, das über dem Einzelnen steht, wird durch die Sozialisation vermittelt. Im Rückgriff auf Riten und Ideen früher (australischer, indianischer, chinesischer) Völker wollte Durkheim die ursprünglichen Formen menschlichen Miteinanders erkennen. Zu seinen wichtigsten Schülern gehörte sein Neffe, der Philosoph, Soziologe, Indologe und Ethnologe Marcel Mauss (1872–1950). Obwohl dieser nie Feldforschungen betrieb, gilt er als Begründer der französischen Ethnologie. Er führte funktionalistische und strukturalistische Betrachtungsweisen ein und überwand die evolutionistische Sicht. Das große Thema von Max Weber (1864–1920) waren die individuellen, sinnhaften sozialen Handlungen. Religionen spielen dabei eine wichtige Rolle; denn sie beeinflussen aufgrund ihrer Weltbilder die Menschen. Durch die Einwirkungen religiöser, außeralltäglicher, irrationaler Kräfte entsteht als Teilaspekt des sozialen Handelns „religiös motiviertes soziales Handeln“. Dabei geben die Religionen vor, welches Handeln wünschenswert und verboten ist. Das Heilige, das Charisma ist für Weber kein Gegenstand der Wissenschaft, mit dem „Wesen der Religion“ beschäftigte er sich nicht. Von der Religion gehen ein Rationalisierungsprozess und ein Zug zur Veralltäglichung aus. Auf den Gedanken, nach den Wurzeln des kapitalistischen Geistes in der Religion zu suchen (Weber 1904/05) – im Puritanismus und diesen beeinflussend das Judentum – kam vor Weber (1904/5) bereits der Soziologe und Volkswirt Werner Sombart (1863–1941). 11.8.8 Religionspsychologie Bereits im 18. Jh. artikulierten sich Stimmen für eine empirische Psychologie. In Deutschland wurde die Entwicklung der Psychologie entscheidend durch Wilhelm Wundt (1832–1920) beeinflusst. Er sah ihre Aufgabe darin, „die Tatsachen des Bewusstseins, ihre Verbindungen und Beziehungen zu untersuchen, um schließlich Gesetze aufzufinden, von denen diese Beziehungen beherrscht werden“ (Wundt 1911, 191). In seinem Werk „Elemente der Völkerpsychologie“ (1912) unterschied Wundt vier psychologische Perioden in der Menschheitsgeschichte: Zauber- und Dämonenglaube des „primitiven“ Menschen – totemistisches Zeitalter (zwei verschiedene See-

Religiös motiviertes soziales Handeln

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

„God is real since he produces real effects“

Gelebte Religion

lenvorstellungen) – „Zeitalter der Helden und Götter“, in dem der Mensch seine diesseitigen Verhältnisse in die Welt der Götter projiziert – „Entwicklung zur Humanität“. Wundts Schüler, der streitbare Protestant Theodore Flournoy (1854–1920), gründete 1892 an der Universität Genf ein psychologisches Experimentallabor. Er betrachtete Religionspsychologie weder als religiöse, noch als antireligiöse Wissenschaft. Sein erstes methodologisches Prinzip war der „Ausschluss der Transzendenz“: Die Existenz oder Nichtexistenz spiritueller Wesen war nicht Gegenstand des Faches, das die religiösen Erfahrungen der Menschen untersucht. Flournoys zweites Prinzip war die „biologische Interpretation“ religiöser Phänomene. Mit seinem Freund William James (1842–1910) verband ihn die Überzeugung: „God is real since he produces real effects“ (James 1997: 389). Die empirische Religionspsychologie entstand Ende des 19. Jh. hauptsächlich in den USA. Als einer ihrer Pioniere gilt Edwin Diller Starbuck (1866–1947), der seine auf 137 Fragebogenergebnissen fußende Qualifikationsarbeit bei William James schrieb („A Study of Conversion“, 1897). William James war Autor eines der bedeutendsten frühen Werke der Religionspsychologie. Im Rahmen der Gifford-Lectures hielt er 1901/1902 zwei Vorlesungszyklen in Edinburgh mit jeweils zehn Vorlesungen unter dem nachträglich gewählten Titel „The Varieties of Religious Experience“. James vertrat die These einer grundlegenden Einheitlichkeit religiöser Erfahrung bei gleichzeitiger Pluralität der Ausdrucksformen. Sein Schwerpunkt lag auf der gelebten Religion. Er zog die religiösen Erfahrungen in „documents humains“, in persönlichen Bekenntnissen moderner und älterer Schriftsteller heran. In James‘ Tradition steht der klassische Versuch des Psychoanalytikers Erik H. Erikson (1902–1994), dessen psychoanalytische und historische Studie „Der junge Mann Luther“ (amerik. Original 1958) sich auch auf James bezieht. James gehörte zu den frühesten Erforschern des religiösen Pluralismus in modernen Gesellschaften. Stieg nach Ansicht der evolutionistischen Religionsforschung des 19. Jh. die Geschichte der Religion/en von niedersten Anfängen hinauf zum Monotheismus, so wies James, wenngleich eher beiläufig, auf den längst überwunden geglaubten zeitgenössischen Polytheismus hin. James Henry Leuba (1867–1946) hielt Religion grundsätzlich für eine dem Individuum und der Gesellschaft nützliche Sache. Im Unterschied zu James behandelte er göttliche Mächte und Religion ausschließlich als psychologische Phänomene. Spezifische religiöse Gefühle gab es für ihn nicht. Eine Emotion, Absicht oder Handlung wird dadurch als religiös qualifiziert, dass sich das betreffende Individuum in einem Verhältnis zur göttlichen Macht betrachtet. Das Weltbild des Wiener Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856–1939) war bipolar geprägt. Neben dem Geistigen ist „das ursprünglich Animalische unserer Natur“ (Freud 1945: 59) zu berücksichtigen. Zur Selbst- und Arterhaltung orientiert sich das Triebwesen Mensch an der Befriedigung seiner Bedürfnisse („Lustprinzip“). Das dem entgegen stehende „Realitätsprinzip“ führt den Menschen dazu, seine Leidenschaften in das Unbewusste zu „verdrängen“ oder zu „sublimieren“, worin Freud die Grundlage der menschlichen Kulturentwicklung sah. Die Leidenschaften (Es-Prinzip) steu-

11.8 Religionswissenschaft im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik

ern den Triebverzicht, möglichst ohne Verdrängungen zu produzieren. Das „Über-Ich“ präsentiert die im Gewissen internalisierten kulturellen Ideale. Religion samt ihren Ge- und Verboten war für Freud positiv, wenn sie im Dienste einer „höheren Geistigkeit“ stand. Negativ war sie, wenn sie diese Entwicklung einschränkte, Gebote und Verbote übertrieb, Denkverbote erteilte und illusionäre Wunschfantasien förderte. Freuds Hauptargument gegen die Religion war nicht, dass diese Verbote gegen das Ausleben der Bedürfnisse aufstellte, sondern dass sie dies übertrieb und auf berechtigten Widerstand mit Denkverboten antwortete. Wer sich Denkverboten unterwarf, konnte keinesfalls „das psychologische Ideal, den Primat der Intelligenz“ erreichen. Insbesondere die „Übungen des religiösen Zeremoniells“ deutete Freud in „Zwangshandlungen und Religionsübungen“ (Freud 1907) als verhängnisvolle kollektive „Zwangsneurose“, als verzerrte Art von „Privatreligion“. Freud griff diesen Grundgedanken in „Totem und Tabu“ (Freud 1912) auf, wobei er sich auf die Beiträge von Robertson Smith, Frazer und Marrett bezog (Heine 2009: 150ff.). Freuds letztes Werk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (Freud 1939) bewertete die israelitische Religion positiv, weil sie durch ihre harten Gebote den Triebverzicht förderte. Der unsichtbare, „entmaterialisierte“ Gott ließ das Geistige über das Sinnliche triumphieren. Freuds Wirkung auf die Kultur- und Religionswissenschaft besteht u.a. darin, auf die unbewusste Dimension der Tradition als einer kollektiven Übertragung hingewiesen zu haben. Diese Dimension ist „nicht in der individuellen Psyche, sondern im kulturellen Gedächtnis zu lokalisieren (…). In den je individuellen psychischen Strukturen prägen sich kulturell vermittelte Übertragungen aus. Das kulturelle Gedächtnis wird also nicht, wie Freud annimmt, phylogenetisch vererbt, sondern ontogenetisch erworben: nicht durch bewusstes Lernen, sondern über Spracherwerb, Kommunikation und komplexe interaktive Prozesse, die weit über das bewusst Erlebte und Verarbeitete hinausgehen.“ (Assmann 2006) Der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875–1961), der sich von der Freudschen Lehre abwandte, begründete eine eigene tiefenpsychologische Richtung. Neben das „persönliche Unbewußte“ stellte er das überindividuelle, ererbte, kollektive Unbewußte, das in den Träumen und Mythen der Menschen gefunden werden kann. Mit seiner Lehre von den anthropologisch konstanten, unabhängig von Kulturen, Zeiten und Religionen existierenden „Archetypen“ hat er auch einige Religionswissenschaftler und Theologen beeinflusst. Archetypen sind unanschaulich und äußern sich stets in Bildern und Motiven: Große Mutter, Göttliches Kind, Heldenkampf. Die Archetypen gründen sich auf religiöse Mythologien, Traumbilder. Institutionelle Fortschritte machte die Religionspsychologie in den Niederlanden, wo sie sich seit den späten 1950er Jahren entweder als Teil der Pastoraltheologie bzw. vor allem in theologischen Fakultäten entwickelte. Auch in Belgien (Leuven) konnte sich Religionspsychologie institutionalisieren. Vor allem aber in Schweden spielte sie seit den 1970er Jahren zunehmend eine wichtige Rolle. Hjalmar Sundén (1908–1993) war erster Lehrstuhlinhaber für Religionspsychologie in Skandinavien. Seine Rollentheorie (Sundén 1966) gehört zu den wesentlichen Beiträgen moderner Religionspsychologie.

Zwangshandlungen und Religionsübungen

Archetypenlehre

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11. Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert (Deutschland)

11.8.9 Eranos-Kreis

Teils säkular, teils theosophisch

Verhängnisvolle Beziehungen

Der auf das Jahr 1933 zurückgehende Eranos-Kreis (Eranos: ein festliches Mahl, zu dem jeder Teilnehmende etwas beiträgt), begründet von Olga Fröbe-Kapteyn (1881–1962), vereinte neben Jung, den die Eranosgründerin zum ersten Mal in Keyserlings Darmstädter Weisheitsschule begegnete, viele C.G. Jungs Ansatz gegenüber Offene, aber auch Nicht-Jung-Schüler. Illustre Persönlichkeiten sind zu registrieren: Leo Baeck, Martin Buber, Henri Corbin, Kardinal Jean Daniélou, Mircea Eliade, Jakob Wilhelm Hauer, Friedrich Heiler, Karl Kerényi, Louis Massignon, Rudolf Otto, Adolf Portmann, Hugo Rahner, Gershom Scholem, Daisetz T. Suzuki, Guiseppe Tucci. Spiritus rector war Carl Gustav Jung mit seiner Archetypenlehre. Neben ihm war auch die Theosophin Alice Bailey einflussreich. Frauen wurden von Olga Fröbe-Kapteyn, der „ehrwürdigen Mutter“ (Rudolf Otto), nur als Zuhörerinnen, nicht aber als Vortragende akzeptiert. Über eine Eranos-Tagung schrieb der Altphilologe Walter Otto: „Die Konferenz von Ascona soll glänzend gewesen sein. Heiler hat dort Exerzitien gehalten und seine Messe durchgeführt, ob im Bischofornate, weiß ich nicht, hoffe es aber. Rousselle hat als Ministrant dabei assistiert.“ Olga Fröbe nannte Heiler verehrungsvoll „Professor Krishna“. Eliade charakterisierte die Atmosphäre als „teils säkular, teils theosophisch“. Esoterik und (Religions-)Wissenschaft gingen eine Melange ein, wurden zum Teil nicht mehr unterscheidbar. Es herrschte die Überzeugung von der transzendenten Einheit aller Religionen. Nicht nur gingen in diesem von der Philosophia perennis, der „ewigen Weisheit“, getragenen Eranos-Kreis Wissenschaft und Ergriffenheit (so Gershom Scholem) eine Symbiose ein; es kam auch zu verhängnisvollen Beziehungen zwischen einigen Eranos-„Größen“ und diktatorischen Systemen (Eliade: „Eiserne Garde“; Suzuki: geistige Beihilfe zum japanischen Militarismus; Tucci: Kollaboration mit dem Faschismus und Glorifizierung des zen-buddhistischen Heldentodes; Hauer: Mitbegründer der „Deutschen Christen“ und regsamer Nationalsozialist). Im Eranos-Kreis spielte auch der geistig unabhängige Indologie-Außenseiter und Mythenforscher Heinrich Robert Zimmer (1890–1943) eine wichtige Rolle. Er hielt 1933 den ersten Eranos-Eröffnungsvortrag („Zur Bedeutung des indischen Tantra-Yoga“). Zimmer wollte den Sinn der fremden Texte herausfinden und praktizierte einen persönlichen und psychologischen Forschungsansatz. Wegen „nichtarischer Versippung“ wurde ihm 1938 die Lehrerlaubnis entzogen. Der gut vernetzte Zimmer, zu dessen Kontakten Hermann Hesse, Thomas Mann, Emil Nolde, Carl Jacob Burckhardt, C.G. Jung zählten, ging zuerst ins englische, dann ins US-amerikanische Exil, wo er Gastvorträge hielt. Bedeutsam für die internationale Wirkung Zimmers war 1941 die Begegnung mit dem von C.G. Jung beeinflussten, religionswissenschaftlich umstrittenen Mythologen Joseph Campbell (1904–1987), der sich selbst als „maverick scholar“ (Einzelgänger, Querdenker) bezeichnete. Campbell brachte zahlreiche Werke Zimmers in den USA auf Englisch heraus.

12. Religionswissenschaft in Deutschland seit Gründung der ersten Lehrstühle 12.1 Harnacks Rektoratsrede und die Folgen 1905 gab es an den Universitäten des Deutschen Kaiserreichs mehr als 50 Lehrstühle für orientalistische Disziplinen, aber keinen für (Vergleichende) Religionswissenschaft. Auch das Interesse der Theologischen Fakultäten an Religionswissenschaft war gering, und man hielt die neue Disziplin eher für gefährlich. Hinzu kam der Einfluss des Berliner Kirchenhistorikers Adolf Harnack (1851–1930), der sich in seiner Rektoratsrede „Die Aufgabe der theologischen Facultäten und die allgemeine Religionsgeschichte“ (Harnack 1901) für eine Theologie ohne Religionswissenschaft stark machte. Harnacks Antrittsvorlesung als neuer Rektor wirkte sich für die nach Autonomie strebende Religionswissenschaft nachhaltig negativ aus. Harnack ergänzte später, dass sich seine Rede gegen diejenigen gerichtet hätte, „welche die theologischen Fakultäten bereits aufgelöst haben (Holland), so wie gegen die, welche die zentrale Stellung der christlichen Religion verwischen oder den wissenschaftlichen Charakter der Theologie bemängeln, wenn diese nur das Christentum und nicht auch die anderen Religionen zu ihrem Objekt macht“. Harnack stellte die Kernfrage: „Haben bei der Stiftung unserer Hochschule die maßgebenden Männer recht daran getan, die theologische Fakultät wesentlich auf die Erforschung und Darstellung der christlichen Religion zu beschränken, oder soll sie sich zu einer Fakultät für allgemeine Religionsgeschichte erweitern?“ (ebd. 164). Das Studium der Religionen, so Harnack, darf nicht von der Geschichte des jeweiligen Volkes, seiner Sprache, Literatur, sozialen und politischen Zustände losgelöst werden. Eine theologische Fakultät kann unmöglich alle dazu notwendigen Disziplinen anbieten, die mit entsprechenden Disziplinen innerhalb der philosophischen Fakultät konkurrieren würden. Zweitens müsse sich eine theologische Fakultät mit der Religion befassen, „deren Eigenthum die Bibel ist, deren Geschichte einen erkennbaren, nirgendwo unterbrochenen Zeitraum von nahezu drei Jahrtausenden umfasst und die noch heute als l e b e n d i g e Religion studirt werden kann“ (11). Für Harnack war das Christentum nicht eine Religion neben anderen: „Wer diese Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle“ (ebd.). Daher sollten theologische Fakultäten keine religionswissenschaftlichen Lehrstühle errichten; denn sie sind nicht für die Erforschung der Religionen weltweit verantwortlich. „Wir wünschen, dass die Theologischen Facultäten Facultäten für die Erforschung der c h r i s t l i c h e n Religion bleiben, weil das Christentum in seiner reinen Gestalt nicht eine Religion neben anderen ist, sondern d i e Religion“ (16). Ein knappes Jahrzehnt später revidierte Harnack seine ursprüngliche Position. „Gut, so ergänze man die theologischen Fakultäten durch einige religionsgeschichtliche Lehr-

„Wer diese Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle.“

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12. Religionswissenschaft in Deutschland seit Gründung der ersten Lehrstühle

stühle, nur lasse man die zentrale Bedeutung der christlichen Religion dabei bestehen“ (Harnack 1996: 869).

12.2 Frühe Zentren der Religionswissenschaft in Deutschland 12.2.1 Berlin 1910 wurde an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Berliner Universität vorübergehend ein Lehrstuhl für „Allgemeine Religionsgeschichte und Religionsphilosophie“ etabliert. Die Fakultät wollte Troeltsch berufen, doch war diese Personalie nicht durchsetzbar, weil das Kultusministerium Rücksicht auf die konservative Kirchenpolitik in Preußen nahm. Stattdessen erhielt ein „echter“ Religionshistoriker die Stelle: der Däne Johannes Edvard Lehmann (1862–1930). Bevor dieser Iranist und Religionsphänomenologe berufen wurde, war er der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Religionsgeschichte (religionshistoriske lærestol) in Kopenhagen (seit 1900). In Berlin blieb er drei Jahre, wechselte dann an die Universität in Lund/Dänemark. Der Berliner Lehrstuhl wurde in die Philosophische Fakultät transferiert, was der Neutestamentler Gustav Adolf Deißmann (1866–1937) als „Tatsache einer Säkularisation“ heftig kritisierte. Dieser Lehrstuhl für „Kultur-, Geschichts-, Gesellschafts- und Religionsphilosophie und christliche Religionsgeschichte“ – ein Unikum in der deutschen Universitätsgeschichte – wurde mit Ernst Troeltsch besetzt, der ihn bis zu seinem Tode 1923 innehatte. In Kombination mit Missionswissenschaft wurde 1927 Johannes Witte (1877–1945), Nachfolger des Missionswissenschaftlers Julius Richter (1862–1940), ordentlicher Professor für „Allgemeine Religionsgeschichte und christliche Mission“. Der anfänglich theologisch liberale Witte wandte sich Ende der 1920er Jahre der Dialektischen Theologie zu, wurde überraschend NSDAP-Mitglied und zeitweilig Deutscher Christ. Von Jakob Wilhelm Hauer wurde er als einstiger Freimaurer denunziert, so dass er aus der NSDAP ausgeschlossen wurde. In seinem Spätwerk „Offenbarung nur in der Bibel“ (1936) rechnete Witte mit der neuheidnischen nationalsozialistischen Weltanschauung ab. Er forschte über die Religionen Japans und Chinas und ihre Begegnung mit dem Christentum. 12.2.2 Bonn 1910 erhielt der Bonner evangelische Theologe Carl Clemen (1865–1940) eine außerordentliche Professur in einer Philosophischen Fakultät mit dem Lehrauftrag für „Religionsgeschichte, systematische Religionsphilosophie und Geschichte des ältesten Christentums“. Seine Berufung verstand Clemen als Beginn des Faches in Bonn, stellte sie auf dieselbe Stufe wie die Gründung des Berliner und des Leipziger Lehrstuhls. 1920 wurde er ordentlicher Professor für Religionsgeschichte und Direktor des neu gegründeten Religionswissenschaftlichen Seminars (Emeritierung 1. 4. 1933). Dieses bestand seit 1913 nur aus einem Bücherregal mit religionsgeschichtlichen Werken im Akademischen Kunstmuseum. Clemen begründete eine lateini-

12.2 Frühe Zentren der Religionswissenschaft in Deutschland

sche und griechische Quellensammlung verschiedener Religionen („Fontes historiae religionis ex auctoribus graecis et latinis collecti“). Er selbst veröffentlichte Texte zur persischen (1920) und germanischen (1928) Religion sowie zu ,primitiven‘, präindogermanischen und indogermanischen Religionen (1936). Sein Lehrstuhl hatte einen „kw“-Vermerk („künftig wegfallend“) und konnte erst zum 1. 4. 1936 mit dem aus Lettland in das Deutsche Reich zurückgekehrten Gustav Mensching wiederbesetzt werden. 1920 berief auch die Katholisch-Theologische Fakultät in Bonn den dort habilitierten Priester Friedrich Andres (1882–1947) zum außerordentlichen „Professor für allgemeine Religionswissenschaft unter Einschluss der vergleichenden Religionsgeschichte und Religionspsychologie“. Dieser theologische Religionswissenschaftler arbeitete über religionsethnologische und religionspsychologische Themen, das Verhältnis von Christentum zu den nichtchristlichen Religionen und über vorchristliche Religionen im Rheinland (zur katholischen Religionswissenschaft Vollmer 2009). 12.2.3 Münster Ebenfalls 1910 wurde in der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster auf Antrag des Missionswissenschaftlers Joseph Schmidlin (1876–1944), der seine entschiedene Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus mit dem Leben bezahlte, ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte gegründet. Auf diesen wurde der Kirchenhistoriker und Christliche Archäologe Franz Joseph Dölger (1879–1940) berufen. 1918 wurde sein Lehrstuhl in „Alte Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Allgemeine Religionsgeschichte“ umbenannt. Dölgers Lehrveranstaltungen berücksichtigten die antiken Mysterienreligionen ebenso wie die „Naturreligionen Afrikas“. Nach Abschluss seiner theologisch-philosophischen Dissertation erhielt Johann Peter Steffes (1883–1955) in Münster seine Venia legendi für „Apologetik, Religionspsychologie, Religionsphilosophie und deren Geschichte“. In Frankfurt am Main nahm er ab 1921 Lehraufträge für katholische Weltanschauung wahr, bis er 1923 den Lehrstuhl für „Religionsgeschichte“ an der Universität Nijmegen erhielt. 1927 ging er nach Münster zurück. 12.2.4 Leipzig 1912 wurde an der (evangelischen) Theologischen Fakultät in Leipzig der Lehrstuhl für „Allgemeine Religionsgeschichte“ gegründet und mit dem schwedischen lutherischen Theologen Nathan Söderblom (1866–1931) besetzt. Vom Sommersemester 1913 bis Sommersemester 1914 hielt er gerade einmal acht Lehrveranstaltungen über „Heiligkeit“, „Außerbiblische Offenbarungslehren“ (zweimal), „Vergleichende Eschatologie“ und „Gottesgemeinschaft“. Bevor er nach Leipzig ging, hatte Söderblom zwei Lehrstühle ausgeschlagen: die Nachfolge von Cornelis Petrus Tiele in Leiden und den neu eingerichteten Lehrstuhl für Religionsgeschichte in Berlin. Bereits als Student hatte sich Söderblom einen Namen als einer der Führer in der christlichen Studentenbewegung, dem studentischen Missionsverein, gemacht. 1893

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12. Religionswissenschaft in Deutschland seit Gründung der ersten Lehrstühle

Entdeckung des „Heiligen“

Der frühe Joachim Wach

wurde er „zum Priester geweiht“ (ab 1914 Erzbischof). In zwei religiösen Erlebnissen (1892, 1893) widerfuhr Söderblom eine direkte Begegnung mit Jesus Christus und der Heiligkeit Gottes. In seiner freien Zeit als Gesandtschaftspfarrer in Paris studierte Söderblom Orientalistik und Religionswissenschaft an der „école pratique des Hautes Etudes“ sowie evangelische Theologie an der Sorbonne. Sein theologisches Diplom erwarb Söderblom 1898 mit einer Arbeit zur altiranischen Religionsgeschichte („Die Fravashi. Studien über die Spuren einer alten Vorstellung über das Fortleben der Toten im Mazdaismus“). 1901 wurde er an der Sorbonne mit der Arbeit „Das künftige Leben nach den Lehren des Mazdaismus“ promoviert. Söderblom wurde zum Motor der ökumenischen christlichen Friedensbewegung (Friedensnobelpreis 1930). „Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte“, eine ursprünglich auf zwei Jahre (1931/32) geplante Vorlesungsreihe im Rahmen der Gifford Lectures – veröffentlicht als „The Living God“ (1933) – gilt als Söderbloms „religionsgeschichtliches Vermächtnis“. Trotz gegenteiliger Behauptungen war er dem Evolutionismus seiner Zeit verhaftet und ging daher von einer gestuften Struktur der allgemeinen Religionsgeschichte aus. Diese verlief von den „Primitiven“ über die Hochreligion/en zum Monotheismus des Christentums. Damit befand er sich auf der religionswissenschaftlichen Traditionslinie seiner Zeit und auf der Höhe des damaligen Forschungsstandes. Die „Entdeckung“ des Heiligen lag damals wohl in der Luft. Nicht nur Émile Durkheim (1858–1917), sondern auch Nathan Söderblom und Rudolf Otto (1869–1937) erkannten seine Bedeutung für die Religionsforschung. Schon vor Otto hatte Söderblom in der „Heiligkeit“ das Wesen der Religion gesehen: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen ,heilig‘ und ,profan‘“(Söderblom 1913: 76). Trotz bedeutender religionsgeschichtlicher Untersuchungen liegen Söderbloms Verdienste mehr im Bereich der Theologie als der Religionswissenschaft. Söderblom ließ zu einer Zeit, als die Dialektische Theologie vorherrschend wurde, das Band zwischen der allgemeinen Religionsgeschichte und dem Christentum und damit auch das Gespräch zwischen Religionswissenschaft und Theologie nicht abreißen, obwohl es die evangelische Theologie einseitig aufgekündigt hatte. 1915 übernahm der Theologe und Klassische Philologe Hans Haas (1868–1934) den verwaisten Lehrstuhl für Religionsgeschichte. Der aus einem hochgebildeten, der Kunst aufgeschlossenen Elternhaus in Chemnitz (Sachsen) stammende Joachim Wach (1889–1955) begann sein Studium 1917 in Leipzig. 1919 hörte er Religionswissenschaft bei dem gerade habilitierten Friedrich Heiler in München. In Berlin belegte er Lehrveranstaltungen bei Ernst Troeltsch, dem Orientalisten Eduard Sachau und Adolf Harnack. Mit seiner Dissertation „Der Erlösungsgedanke und seine Deutung“ (Titel der gedruckten Arbeit) wurde er im April 1922 in Leipzig promoviert. 1924 habilitierte er sich mit „Prolegomena zur Grundlegung der Religionswissenschaft“ in Religionswissenschaft an der Philosophischen Fakultät in Leipzig. Seine Probevorlesung (3. 7. 1924) thematisierte „Meister und Jünger“. Der jugendbewegte Wach engagierte sich bei der „Freideut-

12.2 Frühe Zentren der Religionswissenschaft in Deutschland

schen Jugend“ und der „Freischar“. Seit 1924 trat er als Leiter eines Diskussionszirkels im Rahmen des dem Sozialismus zugewandten Leipziger Leuchtenburgkreises auf. Zwischen dem Soziologen und Philosophen Hans Freyer (1887–1969), Paul Tillich (1886–1965) und Wach bestand ein reger geistiger Austausch. 1929 wurde Wach außerordentlicher Professor für Religionswissenschaft. Sein Kernanliegen war das „Verstehen“ – sowohl der eigenen, religiösen Herkunft als auch des „Fremden“ („Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jh., 3 Bde. 1926–30). Mit dem zweiten Band („Die theologische Hermeneutik von Schleiermacher bis Hofmann“) promovierte er 1930 in Heidelberg zum Dr. theol. In seiner Habilitationsschrift („Religionswissenschaft“, 1924) begründete er die Religionswissenschaft als eine gegenüber Theologie und Philosophie selbstständige empirische Geisteswissenschaft mit den beiden Teilgebieten Religionsgeschichte – vor deren eingleisiger Ausrichtung er warnte – und Religionssystematik.

Religionswissenschaft als selbständige empirische Geisteswissenschaft

12.2.5 Würzburg 1916 wurde in der (katholischen) Theologischen Fakultät der Universität Würzburg der Lehrstuhl für „Apologetik und vergleichende Religionswissenschaft“ mit Georg Wunderle besetzt. Neben theologischen Themen beschäftigte sich Wunderle mit Fragen der Religionsphilosophie („Grundzüge der Religionsphilosophie“, 1924) und -psychologie („Das religiöse Erleben“, 1922). Seit 1936 war dieser Pionier ostkirchlicher Studien Leiter des bis 1939 bestehenden „Arbeitskreis(es) Ostkirche“, der wenig später das Misstrauen der Nationalsozialisten erregte. 12.2.6 Marburg Die Institutionalisierung des religionsgeschichtlichen Lehrstuhls (1922) geht auf Rudolf Otto zurück. „Erster Inhaber war mit Friedrich Heiler ein Vertreter der so genannten Verstehenden Religionswissenschaft, die vor dem Hintergrund der Idee eines universellen Wesens von Religion auch einen tiefgehenden Dialog der Religionen anstrebte.“ (Homepage Marburg) Ab 1927 war der Otto-Schüler Heinrich Frick (1893–1952) Professor für „Systematische Theologie und Religionswissenschaft“ und Direktor der von Otto begründeten Religionskundlichen Sammlung. Der missionswissenschaftlich engagierte Frick publizierte 1928 das von Schleiermacher und Otto beeinflusste Bändchen „Vergleichende Religionswissenschaft“, das wichtige Einsichten zur Phänomenologie und Typologie der Religion/en enthält. Frick führte wohl als erster den Habitus-Begriff in der Religionswissenschaft ein. 12.2.7 Tübingen Die religionswissenschaftliche Forschung in Tübingen geht in das 19. Jh. zurück (Heinrich Ewald, Rudolf Roth, Richard Garbe). 1922 wurde eine religionsgeschichtliche Abteilung am Orientalistischen Seminar gegründet.

Habitus-Begriff bei Frick

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12. Religionswissenschaft in Deutschland seit Gründung der ersten Lehrstühle

Theologische Motive hatten auf diese Gründung keinen Einfluss. Die Philosophische Fakultät trat für eine konfessionell unabhängige Religionsgeschichte ein. 12.2.8 Halle an der Saale 1918 erhielt Rudolf Franz Merkel (1881–1955), ein aus Bayern stammender protestantischer Theologe, der Philosophie, Orientalistik und Theologie studiert hatte, einen Lehrauftrag für Allgemeine Religionsgeschichte. Ab 1922 lehrte er diese Disziplin – Friedrich Heiler folgend – an der Universität München, wo er bis zu seinem Tod blieb. Ein bedeutender Hallenser Missionsund Religionsgeschichtler war der Indienspezialist Hilko Wiardo Schomerus (1879–1945), der 1926 den Ruf auf ein persönliches Ordinariat für Missionswissenschaften und Religionsgeschichte erhielt. 12.2.9 Riga

Gustav Mensching und die liberale Grundstimmung der Rigaer Fakultät

Ein Jahr nach der Gründung der lettischen Universität Riga – damals „Hochschule Lettlands“ – entstand 1920 eine eng mit der lutherischen Kirche verbundene, liberal aufgestellte Theologische Fakultät. Aufgrund der Forderung der gerade entstandenen unabhängigen Republik Lettland musste sie sich formell als nichtkonfessionell bezeichnen. Daher lehrten an dieser Fakultät Vertreter verschiedener protestantischer Konfessionen. Als „Symbole der alten Unterdrückermacht, des Aberglaubens und des Obskurantismus“ wurden die Fakultät und die seit 1938 bestehende katholisch-theologische Fakultät von der sowjetischen Besatzungsmacht geschlossen (Assel: 94). Die junge lettische Universität beschäftigte viele deutsche Lehrkräfte, mehr deutschbaltische als „reichsdeutsche“. Ohne das deutsche Potential wäre sie kaum funktionsfähig gewesen. Neben der Theologischen Fakultät gab es das Herder-Institut, eine private deutsche Hochschule mit vier Fakultäten, unter ihnen eine beachtliche theologische. 1927–1935 hatte Gustav Mensching eine Professur am Lehrstuhl für Allgemeine Religionsgeschichte innerhalb der theologischen Fakultät inne. Aus lettisch-nationalistischen und ökonomischen Gründen erhielt er als „Reichsdeutscher“ nicht den Lehrstuhl, obwohl die Fakultät hinter seiner Ernennung stand. Mensching passte als Religionswissenschaftler gut in die liberale Grundanschauung dieser Fakultät. Er stand im Gegensatz zur konservativ-lutherischen Einstellung des Bischofs Ka¯rlis Irbe und der Mehrzahl der lettischen Pastoren sowie den von Barth her geprägten deutschen Theologen des Herder-Instituts. Menschings kirchenpolitische Neutralität machte ihn zum Einzelgänger inmitten der stark lettisch-nationalistischen Protagonisten der Falultät (Auskunft von Heinrich Wittram).

13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten 13.1 Anfänge der Religionswissenschaft in der Schweiz Von Anfang an übten konfessionelle Rahmenbedingungen einen Einfluss auf die Etablierung des Faches in der Schweiz aus. Die Basler Theologische Fakultät war stolz darauf, mit J.G. Müller, der seit 1837 regelmäßig über „Die Geschichte der polytheistischen Religionen“ las, diese Disziplin „zu einem bleibenden Bestandteil des Basler Lektionskatalogs gemacht [zu haben] zu einer Zeit, wo sie vielleicht noch an keiner andern deutschen theologischen Fakultät vertreten war“ (Festschrift 1910: 95). Einen Lehrstuhl für das neue Fach gab es in Basel aber nicht. Die Theologische Fakultät der Universität Zürich bot vom ersten Wintersemester (1833/34) religionsgeschichtliche Lehrveranstaltungen an. In den Folgejahren nahmen sich Theologen der Religionsgeschichte an: Johann Jakob Bachofen (1815–1887), Carl Jakob Burckhardt (1891–1974), Franz Overbeck (1837–1905). August/September 1904 fand in Basel der „II. Internationale Kongress für Allgemeine Religionsgeschichte“ statt. Dieser sollte einen „wissenschaftlichen Charakter tragen und der rein historischen Erforschung der Religion dienen; alle konfessionelle Polemik soll[e] prinzipiell unterlassen bleiben“ (Verhandlungen 1905: 6). Der Präsident, der Basler Alttestamentler Carl von Orelli, befürwortete, dass auch Religionskritiker („von Feuerbach oder Häckel herkommend“; ebd. 55) am Kongress teilnahmen. Damit grenzte er den Kongress von Veranstaltungen wie dem „Weltparlament der Religionen“ (1893) in Chicago ab, wo „Bekenner verschiedener Religionsgenossenschaften eine gemeinsame religiöse Basis suchen, um sich darauf zu erbauen, vielleicht gar eine künftige Einigung der verschiedenen Bekenntnisse vorzubereiten. Je freier sich der Kongress von solchen religiösen Tendenzen halten wird, desto förderlicher wird es für seine streng geschichtliche Aufgabe sein“ (55f.). In seiner Eröffnungsrede sagte von Orelli aber auch: „Ja, ich meine, dass jemand, der sich mit Recht rühmen könnte, solche persönliche religiöse Erfahrungen gar nicht zu besitzen, sich damit wenig zum Religionshistoriker empfehlen würde. Wer nicht selber von religiösen Bewegungen erfasst worden ist, wird von den religiösen Erlebnissen anderer nur eine oberflächliche Vorstellung haben und damit rechnen als mit einer im Grund ihm unbekannten Größe“ (54). In Genf begann die Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Lehrfach an der Faculté des Lettres 1873/74. Den Lehrstuhl „Histoire des religions et étude des systèmes sociaux“ erhielt am 25. 7. 1874 der Philosoph Théophile Droz (1844–1897), ein Agnostiker protestantischer Herkunft, der nur bis 1880 in Genf blieb. An der Universität Lausanne erschienen 1895 erstmals religionsgeschichtliche Lehrveranstaltungen im

Bedeutung der eigenen Religiosität für das Religionsstudium

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13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten

Vorlesungsverzeichnis; erst 1976 kam es zu einer Institutionalisierung des Faches.

13.2 Anfänge der Religionswissenschaft in den Niederlanden und die Religionsphänomenologie

„Duplex-OrdoSystem“

Verschiedene Bedeutungen von Religionsphänomenologie

Ab 1860 war die niederländische Religionswissenschaft (godsdienstwetenschap) integraler Bestandteil liberaler protestantischer Theologie in Leiden, Groningen, Utrecht und Amsterdam. 1876 trat das „Gesetz für das höhere Bildungswesen“ in Kraft, das die Universitäten von konfessionellen Bindungen löste. Aufgrund dieses Gesetzes wurden sog. „Staatsfächer“ (kritische alt- und neutestamentliche Studien, Kirchengeschichte, Allgemeine Geschichte der Religionen, Religionsphilosophie) gelehrt. Kirchengebundene Theologie dagegen (Dogmatik, Praktische Theologie) gehörte nicht in die staatlichen theologischen Fakultäten, ihre Fächer wurden an der Universität im Sinne ihrer jeweiligen Konfessionen („Nederlands Hervormde Kerk“, Arminianer, Lutheraner, Mennoniten) gelehrt. Die theologischen „Staatsprofessoren“, zu denen die Religionswissenschaftler zählten, wurden vom Staat ernannt, zuständig für die kirchlichen Ordinarien waren die Kirchen. Die kirchlichen Professoren waren eine Art Anhängsel der theologischen Fakultät und standen rangmäßig unter den Kollegen: sog. duplex-ordo-System (Platvoet 2002, 87). Die Anfänge von Religionswissenschaft und Religionsphänomenologie fallen in den Niederlanden zusammen. Bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen gingen die Religionsphänomenologen davon aus, dass Religion innerhalb der Kultur ein Phänomen sui generis ist, etwas Eigenes, Einzigartiges, das sich keiner anderen Gattung oder Kategorie zu- bzw. unterordnen lässt. Unter dem Begriff Religionsphänomenologie versteht man einerseits religiöse Erscheinungsformen, anderseits die Fachdisziplin, welche die Gesamtmenge religiöser Erscheinungsformen nach systematisch-vergleichenden Gesichtspunkten bearbeitet. Einige Wissenschaftler verwenden den Begriff Religionsphänomenologie sehr vage und unkritisch. Gelehrte wie Chantepie de la Saussaye, Geo Widengren und Åke Hultkrantz verstehen darunter „the comparative study and the classification of different types of religious phenomena“. Als speziellen Zweig der Religionswissenschaft bzw. Methode begreifen Forscher wie Cornelis Petrus Tiele, William Brede Kristensen, Gerardus van der Leeuw, Joachim Wach, Gustav Mensching, C. Jouco Bleeker, Mircea Eliade und Jacques Waardenburg die Religionsphänomenologie. Außerdem gibt es eine von der philosophischen Phänomenologie und Theologie beeinflusste Richtung mit den Hauptvertretern Rudolf Otto, Max Scheler, Paul Ricoeur (Allen 2005). Nach verbreiteter Ansicht gilt der Philosoph Edmund Husserl (1859–1938) – Gründer der Phänomenologie – als wichtige Quelle für die Religionsphänomenologie. Seine „Schule“ beeinflusste die Religionsphänomenologie jedoch nur oberflächlich. Am deutlichsten spürbar ist Husserls Einfluss auf die Begriffsbildung bei van der Leeuw. Überzeugender bei der Vätersuche ist wohl der Rückgriff auf Hegel. Im ersten Teil seiner „Enzyklo-

13.2 Anfänge der Religionswissenschaft in den Niederlanden und die Religionsphänomenologie

pädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1830) entfaltet er „Die Wissenschaft der Logik“ und unterscheidet zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“ (§ 131). 13.2.1 Cornelis Petrus Tiele Der liberale Protestant Tiele (1830–1902) erhielt 1877 den neu gegründeten Lehrstuhl für „History of Religions and Philosophy of Religion“ in Leiden. Für den auf die antik-vorderasiatischen Religionen spezialisierten Gelehrten war Religion eine „disposition of the heart“. Außerhalb der Niederlande wurde Tiele besonders durch seine „Outlines of the History of Religions, to the Spread of the Universal Religions“ (1877; 5. Aufl. 1892) bekannt (deutsche Ausgabe: Tiele 1880: Kompendium der Religionsgeschichte). Das Kompendium wurde bis in die 1930er Jahre benutzt, und die 6., verbesserte Auflage erschien 1931. Seine religionsphänomenologischen Vorstellungen entfaltete Tiele erst in späten Jahren. In den Gifford-Lectures (1896/98) über „Elements in the Science of Religion“ differenzierte er zwischen dem morphologischen Studium religiöser Wandlungen und Transformationen und der Ontologie, dem Studium des Sich-gleich-Bleibenden in allem Wandel. Tiele vertrat eine Entwicklungsidee der Religionen, unterschied einzelne „Stufen“ und „Richtungen“. Tieles „phänomenologische Analyse“ war Teil der Wesensfrage (Ontologie) der Religion, deren Zweck darin bestand, das Bleibende von den wechselnden Erscheinungen zu scheiden. 13.2.2 Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye Dieser von manchen als „Vater der Religionsphänomenologie“ bezeichnete Gelehrte (1848–1920) war wohl der Erste, der den Begriff „Phänomenologie der Religion“ verwendete. Nachdem er als „minister“ der Nederlandse Hervormde Kerk gedient hatte, wurde er erster Professor für Religionsgeschichte in Amsterdam (1879–1899), um anschließend in Leiden (1899–1916) eine theologische Professur („Theologische Enzyklopädie, Gotteslehre und Ethik“) zu übernehmen. Berühmt machte ihn sein „Lehrbuch der Religionsgeschichte“ (1887). „Der phänomenologische Theil dürfte der erste umfassendere Versuch sein, die Hauptgruppen der religiösen Erscheinungen, ohne sie doctrinär einheitlich zu erklären, so zu ordnen, dass die wichtigsten Seiten und Gesichtspunkte aus dem Material von selbst hervortreten“ (Chantepie 1889: vf.). Chantepie beschrieb und klassifizierte unterschiedliche Typen religiöser Phänomene, ohne theoretisch und methodisch ambitioniert zu sein. Entsprechend seiner Religionsdefinition („Glaube an übermenschliche Mächte und deren Verehrung“, 51) vertrat er die Überzeugung: „Eigentlich hat die Religion nur ein einziges Object: den lebendigen Gott, der sich allen Völkern als den einzig wirklichen Gott bezeugt“ (ebd.). Chantepie setzte sich für die Trennung von akademisch-konfessioneller Theologie und „science of religion“ ein. Sein zweibändiges „Lehrbuch“ (1887–1889) erlebte vier Auflagen, von denen die letzte postum erschien (1925). Chantepies Werk war die erste systematische Darstellung des Faches in deutscher Sprache. Die „zweite völlig

Erklären und Ordnen des Materials

Trennung von Theologie und Science of Religion

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13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten

neu gearbeitete Auflage“ (1897) erschien „unter Mitwirkung von Fachgelehrten“. Die vollständig überarbeitete, von den vorherigen Auflagen abweichende vierte Auflage bestach durch ihre durchweg bedeutenden Autoren. Herausgegeben wurde sie von dem reformierten Schweizer Religionshistoriker Alfred Bertholet und Edvard Lehmann. Dieser legte einen religionsphänomenologischen Überblick („Erscheinungs- und Ideenwelt der Religion“) vor, der in der zweiten und dritten Auflage entfallen war. 13.2.3 William Brede Kristensen

The faith of the believers

Der in Oslo über ein ägyptologisches Thema promovierte Kristensen (1867–1953) war seit 1917 niederländischer Staatsbürger. Von 1901–1937 hatte dieser Theologe und Altphilologe den Lehrstuhl seines akademischen Lehrers Tiele in Leiden inne. Er war der erste niederländische Religionswissenschaftler, der „Phänomenologie der Religion“ lehrte. Erst spät verstand sich Kristensen als Religionsphänomenologe (Molendijk 2000: 33). Sein Ansatzpunkt war: „There exists no other religious reality than the faith of the believers.“ Der Religionswissenschaftler musste gewissermaßen zum Perser werden, „in order to understand Persian religion, Babylonians to understand Babylonian religion and so forth“ (bei Plantinga 1989: 176). Mit Hilfe von Empathie, Gefühl und Nachleben wollte Kristensen die „inner power“ der Phänomene zu Tage fördern, dabei soweit wie möglich dem Selbstverständnis der Gläubigen gerecht werden. Kristensen teilte die religiösen Erscheinungsformen in drei Gruppen ein: Kosmologie, Anthropologie und Kultus. Mit dem „Wesen“ (essence) der Religion dagegen befasste sich nicht die systematisch-ordnende Religionsphänomenologie, sondern die dritte Disziplin, die Religionsphilosophie. 13.2.4 Gerardus van der Leeuw

Vielseitigkeit des Gelehrten

Unter seinem Einfluss machte sich ein starker philosophischer Einschlag bemerkbar, der zur Entstehung der phänomenologisch-verstehenden Religionsphänomenologie führte. Van der Leeuw (1890–1950) studierte niederländisch-reformierte Theologie, Ägyptologie und Religionsgeschichte. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges promovierte er über „Godsvorstellingen in de oud-Aegyptische pyramidentexten“. 1918 wurde er Nachfolger von Isaac van Dijk an der Theologischen Fakultät der Rijksuniversiteit Groningen auf dem Lehrstuhl für „Religionsgeschichte, Geschichte der Lehre Gottes und theologische Enzyklopädie“. Dieser wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in „Phänomenologie der Religion“ umbenannt. Van der Leeuw schrieb über Pyramidentexte, griechische Mythologie, Beziehung zwischen Religion und Kunst, Liturgik, Anthropologie, Bachs Johannes- und MatthäusPassion, niederländische zeitgenössische Kultur. In „Wegen en Grenzen“ (1932) thematisierte er die Entwicklung der Kunst, einschließlich Literatur, Tanz, Musik, Theater, Architektur, Film. 1934/35 war er Rektor der Groninger Universität. Van der Leeuw verfasste viele Werke auf Deutsch, u.a. seine „Phänomenologie der Religion“. In Deutschland wurde seine „Phänomenologie der Religion“ unterschiedlich aufgenommen. Mit seinem Interesse am „Wesen“ religionsgeschichtli-

13.3 Anfänge der Religionswissenschaft in Frankreich

cher Erscheinungen hing seine Neigung zu einer ahistorischen Betrachtungsweise zusammen. Van der Leeuw sah die Aufgabe des Faches darin, fremde religiöse Phänomene nachzuerleben. Der „tötenden Analyse“ stellte er „Einfühlung“ und „Verstehen“ von „innen heraus“ gegenüber. 13.2.5 Claas Jouco Bleeker Als Schüler von Brede Kristensen zählte dieser Ägyptologe, Theologe und Religionswissenschaftler zu den führenden niederländischen Religionsphänomenologen. Mit seiner Arbeit „Die Bedeutung der ägyptischen Göttin Maat“ wurde Bleeker (1898–1983) 1929 an der Universität Leiden promoviert. Er war einer der letzten „Bewahrer der religionsphänomenologischen Tradition“. Der theoretisch-methodisch reflektierte Bleeker verteidigte die Religionsphänomenologie u.a. mit dem wichtigen Argument, dass dieses Fach die Wissenschaftler dazu zwingt „to inquire into the presuppositions of the work“ (Bleeker 1975: 28). Neuartig war seine Unterscheidung zwischen „theoria“, „logos“ und „entelechia“ der Phänomene. Die „theoria“ richtete sich auf das Wesen, die religiöse Bedeutung der Phänomene. Der „logos“ drang in die Strukturen verschiedener Religionen ein. Die „entelechia“ befasste sich mit dem Wandel der Phänomene. Zusammen mit Geo Widengren gab Bleeker die zweibändige, systematisch angelegte „Historia Religionum“ heraus.

Fortentwicklung der Religionsphänomenologie

13.2.6 Theodorus Petrus van Baaren Überraschend wurde van der Leeuws Nachfolger der Agnostiker Theo van Baaren (1912–1989). Der „godsdiensthistoricus“ und Dichter äußerte grundlegende Kritik am Werk seines Vorgängers, attackierte dessen Interpretation ethnologischer Quellen und die Vermischung von Theologie und Religionswissenschaft. Van Baaren forschte über indigene Religionen, „primitive“ Kunst, religiösen Tanz, Schöpfungsmythen, die großen Religionen Asiens und die Religion des alten Ägypten. Bis heute lesenswert ist seine Darstellung „Menschen wie wir“ (1964).

13.3 Anfänge der Religionswissenschaft in Frankreich Auch die institutionelle Entwicklung der französischen Religionswissenschaft hing mit der gesellschaftspolitischen Situation des Landes am Ende des 19. Jh. zusammen. Ein robuster Laizismus richtete sich gegen die Präsenz der Kirchen in Schule und Universität. Bevor sich die Religionswissenschaft etablieren konnte, hatten sich Religionshistoriker wie Eugène Burnouf (1801–1852) über Altiran, Anquetil Duperron, James Darmsteter u.a. über indische Religionen, Gaston Maspero über Ägypten und Ernest Renan (1823–1892) über das Frühchristentum einen Namen gemacht. Am Collège de France wurde 1880 der Lehrstuhl „Histoire des religions“ eingerichtet, den der liberale protestantische Theologe Albert Réville (1826–1906) erhielt, ein Bewunderer Tieles und Verteidiger der republikanischen Demokratie. Weil er die Grundsätze des Laizismus respektierte, ließ

Laizismus

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13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten

Die „fünfte Sektion“ an der Sorbonne

er nach Amtsübernahme alle seine kirchlichen Funktionen ruhen. Réville schrieb eine Geschichte der Religionen (Prolégomènes de l’Histoire des religions, 1883–1889). Als 1868 die „École pratique des hautes études“ in Paris gegründet wurde, erhielt sie eine „fünfte Sektion“ für „Sciences religieuses“ mit zehn Abteilungen, von denen die Hälfte für die christliche, die übrigen für die nichtchristliche Religionsgeschichte (Indien, Ägypten, Griechenland/Rom, Ferner Osten, Westsemiten) zuständig waren. 1888 kam ein elfter Lehrstuhl für „nichtzivilisierte Völker“ hinzu. Den Lehrstuhl für „Histoire des dogmes“ erhielt Albert Réville, den für „Histoire de l’Eglise chrétienne“ sein Sohn Jean (1854–1908). Unter der Ägide von Émile Durkheim, Marcel Mauss und ihren Schülern entwickelte sich in Frankreich eine Religionswissenschaft, die Religion für eine – sozial zwar unentbehrliche – Illusion hielt. Der wachsende Einfluss von Durkheim und seiner Schule führte zu einer Abkehr von der jüdisch-christlichen Referenzkultur (Stausberg 2008: 307). 1909 legte Salomon Reinach (gest.1912) die erfolgreiche „Histoire generale des religions“ mit dem Titel „Orpheus“ vor. Im Unterschied zu vorhandenen Handbüchern (von Orelli, Chantepie de la Saussaye) berücksichtigte Reinach auch das Christentum. Seine Religionsdefinition gehört zu den merkwürdigsten: Religion ist für ihn „eine Summe von Skrupeln, welche die freie Ausübung unserer Fähigkeiten verhindert“. Neben sachgemäßen Darstellungen enthält das Handbuch viel Dilettantismus, auch Frivolitäten.

13.4 Anfänge der Religionswissenschaft in Italien

Die „Römische Schule“ Raffaele Pettazzonis

Seit der Einigung Italiens und der Entstehung des Königreichs Italien (1861) wurde die Trennung von Kirche und Staat forciert. Die Zwangszivilehe wurde eingeführt, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen abgeschafft. 1873 wurden die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten eingestellt. In diesem historischen Kontext wurde der erste italienische Lehrstuhl für „Religionsgeschichte“ in Neapel in der Fakultät für Philosophien und Literatur mit Filippo Abignente besetzt. Dieser veröffentlichte wenig, in seinen Vorlesungen thematisierte er Buddhismus, Parsismus, Judentum, ägyptische Religion. Sein Nachfolger wurde zwölf Jahre später Raffaele Mariano, der kritisch über Religion und Gesellschaft und über Themen vergleichender Religionswissenschaft schrieb. Der seit 1886 in Rom bestehende Lehrstuhl für Religionsgeschichte wurde mit dem Philosophen und Religionshistoriker Baldassare Labanca (1829–1913) besetzt. Ihm folgte der eigentliche Begründer der italienischen Religionswissenschaft: Raffaele Pettazzoni (1883–1959). Als Stifter und Oberhaupt der „Römischen Schule“ der Religionswissenschaft gab er bis in die 1950er Jahre den Ton an. Vor allem gegen den einflussreichen „storicismo“ (Historismus) des Philosophen und Politikers Benedetto Croce (1866–1952), der als Neubegründer des stark von deutscher Philosophie beeinflussten italienischen Neoidealismus gilt. In seiner „Estetica“ (1902) wandte Croce sich gegen Versuche, Literatur auf der Basis geschichtlicher, soziologischer und biographischer Fakten zu „erklären“. In seiner Ästhetik vertrat er die Autonomie des Kunstwerks. Der Forscher stützte sich auf seine Intuition, nicht aber auf an-

13.5 Anfänge der Religionswissenschaft in Belgien

derweitige äußere Informationen soziologischer, biographischer u.a. Natur. Für Pettazzoni war Geschichte ein Ort kultureller Prozesse, Interdependenzen und struktureller Veränderungen. Wesentlich war für ihn der religionsgeschichtliche Vergleich (metodo storico-comparativo). Die zweite Front war der in Italien omnipräsente Katholizismus, dem gegenüber Pettazzoni erfolgreich die Eigenständigkeit der Religionswissenschaft verteidigte. Er verwarf die von der Kirche aufgenommene These vom Urmonotheismus der Wiener Schule Pater Wilhelm Schmidts. Zentrales Thema Pettazzonis war die Erforschung der höchsten Himmelswesen im Glauben „primitiver“ Völker. Er trat entschieden der Urmonotheismus-These entgegen, die den „Hochgottglauben“ als Zeugnis einer Uroffenbarung Gottes deutete und in Beziehung zum biblischen Monotheismus setzte. Pettazzoni argumentierte, dass der Begriff des „allwissenden höchsten Wesens“ einen besonderen gedanklichen Komplex darstellte, der bei Hirten- und Nomadenvölkern entstand. Pettazzoni leistete u.a. beachtliche Beiträge zur Phänomenologie der Religion. Dabei sprach er sich gegen die einseitige Verabsolutierung einer (unhistorischen) phänomenologischen Methode aus, die den Sinn der religiösen Phänomene finden wollte, ohne ihr geschichtliches Werden zu berücksichtigen. Wegweisend war Pettazzonis Eintreten für ein enges Zusammenwirken von Phänomenologie und philologisch-historischer Forschung (vgl. die Arbeiten von M. Stausberg). Anfang der 1940er Jahre bildeten Pettazzoni und seine Schüler Ugo Bianchi (1922–1995), Angelo Brelich (1913–1977), Ernesto De Martino (1908–1965), Vittorio Lanternari (1918–2010), Dario Sabbatucci (1923–2003) die „Scuola romana di studi storico-religiosi“ oder „di Storia delle religioni“. Insbesondere die Rezeption ethnologischer Fragestellungen prägte diese Schule, zu der auch der Iranist Uberto Pestalozza (1872–1966) gehörte, der über Zoroastrismus und Manichäismus publizierte. 1916 gründete Ernesto Buonaiuti die Zeitschrift Rivista di scienze delle religioni – als Nachfolgeorgan seiner 1910 auf Druck der katholischen Kirche eingestellten Rivista storico-critica delle scienze teologiche. 1925 gründete der zum Kreis der Rivista-Organisatoren gehörende Pettazzoni zusammen mit dem Sanskritisten Carlo Formichi und dem Tibetologen Giuseppe Tucci (1894–1984) die Studi e Materiali di Storia delle Religioni. Von 1928–1955 gab Pettazzoni die Zeitschrift allein heraus. In dieser nicht nur italienischsprachige Beiträge publizierenden Zeitschrift finden sich Autoren wie Van Gennep, Clemen, Van der Leeuw, Mensching, Kerényi u.a.

13.5 Anfänge der Religionswissenschaft in Belgien An der französischsprachigen belgischen Université libre de Bruxelles hielt seit 1884 der antiklerikale Graf Eugène Goblet D’Alviella (1846–1925) – Rechtsanwalt, Senator, Universitätsrektor, Staatsminister, führender Freimaurer – Vorlesungen. Erst 1893 erhielt er die außerordentliche Professur für Religionsgeschichte und wurde 1896 ordentlicher Professor. Sein Schwerpunkt war die religiöse Archäologie. Sein Nachfolger Richard Kreglinger (1885–1928) schrieb u.a. eine Abhandlung über „Die religiöse Entwicklung

Religionsgeschichtlicher Vergleich Der „allwissende Gott“

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13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten

der Menschheit“ (deutsch 1930) und über „La Religion d’Israel“ (1922). 1935 fand in Brüssel der VI. Internationale Kongress für Religionsgeschichte statt, dessen Dokumente nicht ausdrücklich als Tagungsband erschienen, sondern in zwei Bänden unter dem Titel „Mélanges Franz Cumont“ zu Ehren des belgischen Klassischen Philologen Franz Cumont (1868–1947), dessen Spezialgebiet die Erforschung der spätantiken Mysterienreligionen war.

13.6 Anfänge der Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich Schwierig gestaltete sich die Institutionalisierung der Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich. Es waren gerade britische Gelehrte – die „Big five“ Friedrich Max Müller, Edward Burnett Tylor, William Robertson Smith, James Frazer und Andrew Lang –, die der Religionsforschung einen, wenn auch einseitig ethnologisch-evolutionistischen Schub gaben und u.a. durch Vortragsreihen (Hibbert- und Gifford-Lectures) in die viktorianische Gesellschaft hineinwirkten. Exkurs: Bedeutende Lectures Hibbert Lectures Auf den Unitarier Robert Hibbert (1769–1849) geht diese 1847 gegründete antitrinitarische Stiftung zurück, die „an annual series of non-sectarian lectures on theological issues“ finanzierte. Seit 1878 existieren diese Vorlesungen, an denen berühmte Gelehrte beteiligt waren. Max Müller hielt die Inauguralvorlesung „On the religions of India“. Gifford Lectures on Natural Theology Für die seit 1888 existierende Vortragsreihe stiftete der Jurist Adam Lord Gifford 80.000 Pfund Sterling, die nach einem festgelegten Schlüssel zwischen Edinburgh, Glasgow, Aberdeen und St Andrews aufgeteilt wurden, um einen Lehrauftrag oder „Popular Chair for ,Promoting, Advancing, Teaching, and Diffusing the study of Natural Theology‘“ einzurichten. Die Themen stammen aus fundamentaltheologischen, philosophischen und ethischen Bereichen. Es sollte keine Rolle spielen, welcher Religion der Vortragende anhing, oder ob er überhaupt religiös war; auch Skeptiker, Agnostiker und Freidenker waren als Redner willkommen. Friedrich Max Müller hielt in Glasgow zwischen 1888 und 1891 zwei Vorlesungen über Natural Religion, Physical Religion, Anthropological Religion und Psychological Religion.

Comparative Religion

Religion war eine Domäne der klassischen Universitäten (Oxford, Cambridge), wo der konservative Geist der anglikanischen Staatskirche herrschte. Bis 1871 konnte man keinen Universitätsgrad erwerben, ohne sich nicht öffentlich zu den 39 „articles of religion“ der Church of England zu bekennen. Zu den Pionieren der „Comparative Religion“ im Vereinigten Königreich zählte der unitarische Geistliche Joseph Estlin Carpenter (1844–1927), der 1904 den Lehrstuhl für Comparative Religion am Manchester New College erhielt. Seine (wohl 1910 erschienene) „Comparative Religion“ war der Evo-

13.7 Anfänge der Religionswissenschaft in Skandinavien

lutionstheorie verpflichtet, präsentierte jedoch eine Art religionsphänomenologischer Übersicht. Carpenter konnte bereits auf zwei religionswissenschaftliche Buchserien zurückgreifen: In der christlich ausgerichteten Reihe „Non-Christian Religious Systems“ publizierten Gelehrte von internationalem Rang: der Indologe Sir Monier Monier-Williams (Hinduism, 1878), T.W. Rhys Davids (Buddhism, 1880). In der 21-bändigen Reihe „Religions ancient and modern“ veröffentlichten so bedeutende Autoren wie H.A. Giles (China), Jane Harrison (Griechenland), Syed Ameer Ali (Islam), Rhys Davids (Buddhismus), James Leuba („The Pschological Origin and the Nature of Religion“, 1921). Der liberale Kongregationalist Andrew Martin Fairbairn (1838–1912) setzte sich für die Einführung religionswissenschaftlicher Lehrveranstaltungen auch in nicht- kongregationalistischen theologischen Colleges ein. Weniger erfolgreich verlief die schottische Entwicklung, wenngleich auch hier relativ früh Vorlesungen über „The Faiths of the World“ (1881/2) gehalten wurden, so etwa bei den in Edinburgh stattfindenden St. Gile‘s Lectures, deren Autoren durchweg schottische Geistliche waren. Erfolgreich war die „History of Religion“ (1895) des Professors für Bibelkritik Allan Menzies (St. Andrews). Der Autor maß den „scientific“ Charakter seines Werkes daran, dass „all religions must be treated impartially, and that the same method must be applied to each of them“ (Menzies 1895: V).

13.7 Anfänge der Religionswissenschaft in Skandinavien 13.7.1 Finnland Die Beschäftigung mit anderen Religionen und ihren Göttern geht auf den lutherischen Reformbischof Mikael Agricola (um 1509–1557) zurück, der im Vorwort zu seiner finnischen Psalmübersetzung (1551) eine Liste von (vermeintlichen) Göttern und ihren Aktivitäten präsentierte. Bischof Isak Rothovius (1572–1652), der die erste finnische Universität (Turku) gründete, überliefert Informationen zur finnischen Mythologie. Eine „Schule finnischer Mythologie“ begründete der Rhetoriker Henrik Gabriel Porthan (1739–1804), aus dessen Umfeld so bedeutende Arbeiten hervorgingen wie die von Christian Erik Lencqvist (De superstitione veterum Fennorum theoretica et practica, 1782) und die Mythologia Fennica (1789) des Volkskundlers, Philologen und Volksaufklärers Christfrid Ganander (1741–1790), die erste wissenschaftliche Studie über die finnische Mythologie. Für die Religionswissenschaft waren die Arbeiten des Schriftstellers, Philologen und Arztes Elias Lönnrot (1802–1884) besonders wichtig. Mit Agricola gilt Lönnrot als „zweiter Vater der finnischen Sprache“. Auf dem Fundament mündlicher Volksüberlieferungen stellte er das finnische Nationalepos Kalevala zusammen (1835). Kaleva („das Land Kalevas“) ist der Name des Urvaters des im Epos besungenen Helden. Der jung verstorbene Matthias Alexander Castrén (1813–1852), erster Lehrstuhlinhaber für finnische Sprache und Literatur an der Universität Helsinki, unternahm Forschungen in Sibirien und beförderte das Studium des Schamanismus bei Finno-Ugriern

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13. Geschichte der Religionswissenschaft als akademisches Fach an westeuropäischen Universitäten

Åbo Akademi Turku

Sprachwissenschaftliche und ethnologische Ausrichtung

und anderen (sub)arktischen Völkern. Auf der Grundlage eines fünfjährigen Forschungsaufenthaltes erforschte der Volkskundler K.F. Karjalainen (1863–1933), weltweit erster Professor für Erzählforschung, „Die Religion der Jugravölker“ (drei Bände 1921–1927). Der erste religionswissenschaftliche Lehrstuhl in Finnland wurde 1960 an der schwedischsprachigen Åbo Akademi University Turku gegründet und mit dem Semitisten und Alttestamentler Helmer Ringgren (1917–2012) besetzt, einem Schüler Widengrens. Ringgren blieb nur bis 1964, ging dann nach Uppsala (1964–1983). Nachfolger Ringgrens wurde der Iranist Sven S. Hartman (1917–1988), auch er Widengren-Schüler. 1963 erfolgte die Etablierung eines Lehrstuhls für „Uskontotiede“ (Religionswissenschaft) an der finnischen Universität Turku (erster Lehrstuhlinhaber: Lauri Honko). Der dritte bedeutende Gelehrte an der Åbo Akademi war der Lette Haralds Biezais (1906–1995), der in Riga bei Gustav Mensching, seinem ersten „Lehrer für Religionsgeschichte“, studiert hatte, daher in der Tradition der verstehenden Religionswissenschaft stand. Im Mittelpunkt von Biezais stand der Gedanke der „religiösen Erfahrung“, wie er ihn durch den lettischen Otto-Schüler Valdema¯rs Maldonis und durch Mensching vermittelt bekam. Biezais arbeitete über lettische Mythologie und Volksreligionen. Der Schwerpunkt finnischer Religionswissenschaft liegt im sprachwissenschaftlichen (finno-ugrische Sprachen), ethnologischen und volkskundlichen Bereich. Charakteristisch für die finnische Religionswissenschaft ist die enge Verbindung von Vergleichender Religionswissenschaft und Volkskunde. In vor-institutionalisierter Gestalt gab es Religionswissenschaft an der Universität Helsinki seit den 1880er Jahren. 13.7.2 Norwegen Die Institutionalisierung der Religionswissenschaft in Norwegen begann 1898 mit der Anstellung von William Brede Kristensen als „Adjunktstipendiat“ (Adjunkt = Titel für Lehrkräfte) für Religionsgeschichte in der historisch-philosophischen Fakultät der Universität in Kristiania (Oslo). Den ersten Lehrstuhl erhielt 1914 der Theologe Wilhelm Schencke (1869–1946), der ihn bis 1939 innehatte. Bis zu seiner Emeritierung war Schencke ein scharfer Kritiker von Theologie als Universitätsfach. 13.7.3 Schweden 1877 wurde in der Theologischen Fakultät der Universität Uppsala der Lehrstuhl „Theologische Propädeutik und Theologische Encyclopaedie“ gegründet. Unter Propädeutik verstand man eine wissenschaftliche Einführung in das Studium der christlichen Religion und der Unterschiede zu anderen Religionen. Die ersten Lehrstuhlinhaber waren Bischof Knut Henning Gezelius von Schéele (1838–1920), ab 1887 Bischof Johan August Ekman (1845–1913). Bei diesem Impulsgeber der Jungkirchenbewegung finden sich „gewisse Ansätze“ von Religionsgeschichtsforschung, die aber nicht auf dem schon erreichten Erkenntnisniveau seiner Zeit standen. 1901 kam es zu einem Wendepunkt, als Nathan Söderblom den Lehrstuhl

13.7 Anfänge der Religionswissenschaft in Skandinavien

übernahm. Mit der schwedischen Religionswissenschaft verbindet sich besonders die Universität Stockholm, an der zwei Jahre lang der SöderblomSchüler und spätere Bischof von Linköping Tor Andrae (1885–1947) wirkte. Dieser nicht-evolutionistisch ausgerichtete Gelehrte war ein Spezialist für islamische Frühgeschichte, auch für Religionspsychologie (Andrae 1926) und Mystik (Andrae 1947). Er wurde zwei Jahre später an die Universität Uppsala berufen. Große Wirkungen gingen auch von der Universität Uppsala aus, an der mehrere Jahrzehnte lang zwei Forscher lehrten: der eine in der (konfessionell ungebundenen) Theologischen Fakultät (Geo Widengren, 1907–1995), der andere in der Philosophischen Fakultät (Carl-Martin Edsman, 1911–2010). Mit dem Andrae-Schüler und -Biographen Widengren verband sich die selbst „vor Ort“ nicht unkritisiert gebliebene Uppsala-Schule. Sie stand im Zusammenhang mit der „Myth and Ritual School“ und nahm für den gesamten Alten Orient ein einheitliches kultisches „pattern“ an. Man ging davon aus, dass – unabhängig von lokalen, regionalen oder religiösen Unterschieden – ein festes Kultschema praktiziert wurde, bei dem der dieses Schema begründende Mythos eine wichtige Rolle spielte, zum Beispiel beim Neujahrsfest. Geo Widengren (1907–1996) war 1938 der erste Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte und Psychologie der Religion, der anstelle des Söderblomschen Lehrstuhls eingerichtet wurde. Neben seiner „Religionsphänomenologie“ arbeitete er über den „Hochgottglauben“, das „sakrale Königtum“ und die enge Zusammengehörigkeit von „Mythos und Ritus“. Das Neue an Widengrens Religionsphänomenologie (Widengren 1969) bestand in der konsequenten historischen Kontextualisierung und der Ablehnung des religiösen Aprioris des Forschers. Außerdem war er ein entschiedener Gegner evolutionistischer Ansätze. Es ging ihm nicht um das Wesen der Religion, sondern um die verschiedenen religiösen Strukturen in ihren jeweiligen historischen Kontexten. Widengren ging es weniger um die religiösen Erfahrungen des homo religiosus, sondern um die Äußerungen von Religion in Gemeinschaft, Ethik, Lehre und vor allem Riten. Widengren lehnte den Begriff des Heiligen im Ottoschen Sinne ab. Stattdessen hielt er den so genannten Hochgottglauben für „das innerste Wesen der Religion“. Eine andere religionswissenschaftliche Position, die auch kritisch gegenüber den Grundpositionen der Uppsala-Schule war, verbindet sich mit CarlMartin Edsman, einem ursprünglichen Neutestamentler und Patristiker, der sich mit Hellenismus, Christentum, den religiösen Vorstellungen und Praktiken der alten Finnen beschäftigte und Experte für ekstatische und magische Erscheinungsformen war. In Deutschland wurde er durch seine „Hauptreligionen des heutigen Asiens“ (Edsman 1985) bekannt. Das Werk war als „Nebenliteratur für interessierte Gymnasiasten“ und für Studienanfänger gedacht. Den seit 1913 bestehenden religionsanthropologisch ausgerichteten Lehrstuhl an der Universität Stockholm hatte knapp 30 Jahre Åke Hultkrantz (1920–2006) inne (von 1958–1986). Hultkrantz war Spezialist für indigene Religionen Nordamerikas und für Religionen des circumpolaren Bereiches (samische, altnorwegische Religionen).

Myth and Ritual School

Historische Kontextualisierung

Hochgottglaube

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14. Religionswissenschaft im Nationalsozialismus

Drei Richtungen von Religionswissenschaft

Die NS-Vergangenheit deutscher Religionswissenschaftler fand lange Zeit keine Beachtung und wurde erst seit den späten 1990er Jahren thematisiert (Heinrich 1997, 2001, 2002; Junginger 1995, 1997, 2000, 2008). Diese Forschungen haben das Wissen über Religionswissenschaftler im Nationalsozialismus biographisch differenziert und vertieft, Entwicklungsprozesse nachgezeichnet und zeitgenössische Fachdiskussionen analysiert. Sie haben versucht, die Abstufungen und Grauzonen zwischen oppositioneller Regimekritik, innerer Emigration, Opportunismus und Fanatismus zu erhellen. Dank dieser Untersuchungen wurde es möglich, Licht in die Situation der Religionswissenschaft im Dritten Reich an einzelnen Universitäten (u.a. Tübingen, Marburg, Bonn, Leipzig) zu bringen. Die Religionswissenschaft in Deutschland setzte nach 1933 Traditionslinien der Weimarer Republik fort. Man kann die Religionswissenschaft im „Jahrzwölft“ (Werner Bergengruen) des Nationalsozialismus in drei Gruppen teilen, von denen zwei seriöse Forschung betrieben: die religionshistorisch orientierten Religionswissenschaftler inner- und außerhalb des Faches und die Vertreter der „Religionswissenschaft des Verstehens“. Großen Einfluss hatte darüber hinaus die „völkische Religionswissenschaft“ mit ihrer ideologischen Vorstellung der Auserwähltheit des deutschen Volkes. Seit dem Ende des 19. Jh. war der Volksgedanke rassisch aufgeladen. Die sich selbst religiös verstehende völkische Bewegung postulierte die Einheit von Volks- und Glaubensgemeinschaft. Völkische Religion und Nationalsozialismus stimmten darin überein, dass sie den Glaubensfokus in Volk und Rasse sahen (Puschner).

14.1 „Völkische Religionswissenschaft“ Während der NS-Zeit bildeten sich drei konkurrierende Fraktionen heraus: Neben der von Jakob Wilhelm Hauer gegründeten „Deutschen Glaubensbewegung“ (DG) existierte die sich vor allem unter Walther Wüst um wissenschaftliche Seriosität bemühende Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ um den Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler (1900–1945), der als „Präsident“ fungierte. Drittens bestand eine Fraktion um Hitlers Chefideologen Alfred Rosenberg (1892–1946). 14.1.1 Jakob Friedrich Hauer und die „Deutsche Glaubensbewegung“ Völkische Religionswissenschaft war gleichbedeutend mit nationalsozialistischer Religionswissenschaft. Diese orientierte sich an einem nichtchristlichdeutschen bzw. indogermanischen Glauben. Ihr wichtigster Vertreter war der pietistisch erzogene Tübinger Indienmissionar, Indologe und Religions-

14.1 „Völkische Religionswissenschaft“

wissenschaftler Friedrich Wilhelm Hauer (1881–1962). Nach einem Studium der Theologie wandte er sich der Indologie und Religionswissenschaft zu. Seine Verdienste um die Erforschung des Yoga, u.a. in seiner Dissertation (Hauer 1922) sind nicht zu bestreiten. Der prophetische Religionsstifter Hauer stellte seine Religionswissenschaft in den Dienst der neuen, antisemitisch fundierten „deutschgläubigen“ Religion. Hauer war der Vertreter einer „religiösen Religionswissenschaft“. Seit 1920 war er Mitgründer und Kanzler der christlich-liberalen Studentenvereinigung „Köngener Bund“, dessen Mitglieder meist pietistischen Hintergrund hatten. Gegen Ende der Weimarer Zeit wandte sich Hauer stärker der deutsch-völkischen Bewegung zu. Auf seine Initiative wurde kurz nach der Machtergreifung Hitlers die „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung“ gegründet, woraus die kurzlebige „Deutsche Glaubensbewegung“ (DG) entstand, zu der sich mehrere völkische Bünde zusammenschlossen. Schon früh vertrat Hauer eine rassistische Einstellung, wobei er Rasse biologisch und geistig verstand. Sein Ziel war der Aufbau eines arteigenen indogermanischen Glaubens. Die akademisch geprägte DG und ihr prophetischer Stifter versprachen, die Glaubens- und Weltanschauungskrise nach dem Ersten Weltkrieg zu überwinden und dem Nationalsozialistischen Reich eine Glaubensbasis zu vermitteln. Von Anfang an wollten Hauer und seine Gesinnungsfreunde die NS-Ideologie mit ihren eigenen deutschgläubigen Vorstellungen in Übereinstimmung bringen. Dies zeigte sich an der Übernahme rassistischer und antisemitischer Ideologie. 1934 trat Hauer der SS und dem Sicherheitsdienst (SD) bei und wurde zu dessen Spitzel. Darüber hinaus wurde er Mitglied im NS-Dozentenbund (1935) und in der NSDAP (1937). 1941 besaß Hauer den Rang eines Hauptsturmführers. Es gelang ihm, den für ihn persönlich zugeschnittenen „Lehrstuhl für Indologie, Vergleichende Religionswissenschaft und Arische Weltanschauung“ zu erhalten. Ab April 1940 war Hauer Direktor seines eigenen „Arischen Seminars“, das mit dem für „Judenangelegenheiten“ zuständigen Reichssicherheitshauptamt kooperierte, indem es zum Beispiel Gutachten zur Bekämpfung von Staatsgegnern lieferte. 14.1.2 Religionsforschung im Umkreis von Himmlers „Ahnenerbe“ Der in den Niederlanden geborene, charismatisch begabte Herman Wirth (1885–1981) gehörte zu den populärsten Laienforschern in der Weimarer Zeit und während des Nationalsozialismus. Kritiker bezeichneten ihn als Oberpriester seiner eigenen Religion, Dichter, Religionsstifter und Prophet. Wirth vertrat ein „urnordisches Christentum“, sah sich als Vorreiter einer Urreligions- bzw. Urgeistesgeschichte. Seine „Gesellschaft für Geistesurgeschichte“ und seine Sammlung „Volksbrauchtum und Urglauben“ waren Vorläufer von Himmlers „Ahnenerbe“, das die Überlegenheit des deutschen Ariers durch Forschungen zur germanischen Vor- und Frühgeschichte und zur Geschichte der Indogermanen wissenschaftlich nachweisen sollte. Als das „Ahnenerbe“ 1935 gegründet wurde, erhielt es fünf „Pflegestätten“ für: Sinnbildkunde, Wortkunde, Germanenkunde, indogermanisch-finnische Kulturbeziehung, Märchen- und Sagenkunde. Zu Himmlers „Geisteselite“ zählten auch der Sprachwissenschaftler und Volkskundler Heinrich Harm-

Stifter einer religiösen Religionswissenschaft

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14. Religionswissenschaft im Nationalsozialismus

janz (1904–1994) sowie der Indogermanist und Wissenschaftsfunktionär Walther Wüst (1901–1993). Wüst war „wissenschaftlich verantwortlich“ und repräsentierte das Ahnenerbe als „Kurator“. Als Rektor der Universität München war Wüst persönlich an der Verhaftung der Geschwister Scholl beteiligt. Zuständig für die indogermanische Religionsgeschichte war der antisemitische Theologe, Archäologe und Volkskundler Otto Huth (1906–1998), der auf einer rechtsradikalen Webseite als „einer der führenden Religionswissenschaftler innerhalb des 3. Reiches“ bezeichnet wird. Huth hatte bei Clemen mit der Arbeit „Janus. Ein Beitrag zur altrömischen Religionsgeschichte“ (1932) promoviert. Huths Fokus lag auf der Entdeckung des „Ur-Indogermanischen“. So sah er in den Olympischen Spielen (1936) einen „urindogermanischen Brauch“. 1939 erwarb Huth in Tübingen den noch neuen Titel des Dr. phil.habil. für „Allgemeine Religionsgeschichte“. Die Arbeit erschien als letztes Beiheft des von 1936 bis 1941/42 (Bd. 37) in erster Linie rasse- und volkskundliche Themen publizierenden „Archiv(s) für Religionswissenschaft“. Huth rekonstruierte in seiner Habilitationsschrift „Vesta“ einen vermeintlichen „indogermanischen Feuerkult“. Prinzipien von Huths Religionswissenschaft waren Rassenkunde und sein Interesse am „religiösen Erlebnis“. 1942 wurde Huth außerordentlicher Professor für Religionsgeschichte an der 1941 von den Nationalsozialisten dem Deutschen Reich angegliederten „Reichsuniversität Straßburg“. Diese „Besatzungsuniversität“ existierte bis 1944. 14.1.3 Alfred Rosenbergs „Hohe Schule der NSDAP“

„Institut für Religionswissenschaft“

In seiner weit verbreiteten Schrift „Der Mythus des 20. Jh.“ (139.–146. Auflage 1939) kreierte Alfred Rosenberg (1892–1946) eine „Religion des Blutes“, die das angeblich jüdisch unterwanderte Christentum ablösen sollte. Rosenberg war seit 1934 „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ und von 1941–1945 „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“. Ihm schwebte eine Art Eliteuniversität vor. Diese „Hohe Schule der NSDAP“ sollte aus mindestens elf Instituten bestehen, von denen das „Institut für Religionswissenschaft“ in der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hier interessiert. Gründungsleiter wurde der ehemalige evangelische Pfarrer Wilhelm Brachmann (1900–1989), der 1936 vom altpreußischen Kirchenausschuss aus „Glaubensgründen“ abberufen worden war. Er leitete ab 1937 das Institut und habilitierte sich 1942 mit einer Arbeit über „Glaube und Geschichte im deutschen Protestantismus. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung“. Von 1942 an vertrat er den Lehrstuhl für Religionswissenschaft und wurde ab 1943 ordentlicher Professor. Durch religionswissenschaftliche Arbeiten fiel Brachmann nicht auf. Als Aufgabenbereich sollte die Außenstelle Halle folgende Aufgaben erfüllen: Darstellung des hellenistischen Zeitalters, Entstehung des Christentums, deutsche Frömmigkeit.

14.3 „Religionswissenschaft des Verstehens“ und andere Vertreter

14.2 Philologisch-historische Religionswissenschaft Der Dieterich-Schüler Friedrich Pfister (1883–1967) setzte sich im Sinne Hermann Useners für die Kooperation von Religionswissenschaft und Volkskunde sowie anderen Philologien (klassische, orientalische, germanische) ein. Bekannt wurde er durch seine Untersuchung „Die Reliquien als Kultobjekt“ (1912), in der er antiken und christlichen Reliquienkult miteinander verglich. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit lag beim Alexanderroman. Carl Clemen trat nach 1933 für die Einführung der Religionswissenschaft an deutschen Universitäten ein. 1934 kritisierte Clemen in seiner altgermanischen Religionsgeschichte die Unseriosität des nationalsozialistischen Germanenbildes, griff dabei offen führende Rassetheoretiker und nationalsozialistische Germanenforscher an. Wissenschaftstheoretische und methodologische Fragen interessierten den Historiker und Philologen eher am Rande, und psychoanalytische Theorien missbilligte er. Dass er religionsphänomenologischer Forschung völlig ferngestanden haben soll, ist angesichts einiger Schriften (Clemen 1922, 1936) eher zweifelhaft. Außerdem setzte er sich erfolgreich für Gustav Mensching als seinen Nachfolger ein. Walter Baetkes (1884–1978) Verdienste um die Religionswissenschaft lagen in seinem Eintreten für die religionshistorische Forschung. Auf der Basis umfassender Quellenkenntnisse der germanischen und nordischen Religionsgeschichte baute er die Religionswissenschaft als Disziplin auf, welche die Grenzen zur Theologie und zur „Religionswissenschaft des Verstehens“ deutlich zog. Die Zeiten der wissenschaftlichen Qualifizierung Helmuth von Glasenapps (1891–1963) fallen vor bzw. in die Ära der Weimarer Republik. 1914 promovierte er mit „Die Lehre vom Karman in der Philosophie der Jainas“. Der Kriegsfreiwillige schied verletzt aus dem Heer aus, wurde Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und hatte die Aufgabe, in der neu etablierten Nachrichtenstelle für den Orient Informationen über Länder des Nahen und Fernen Ostens zu sammeln und propagandistisch auszuwerten. Seine 1918 erfolgte Habilitation wurde 1923 unter dem Titel „Madhvas Philosophie des VishnuGlaubens“ veröffentlicht. 1928 erhielt von Glasenapp die außerordentliche Professur für Indologie in Königsberg. In der Zeit des Nationalsozialismus gelang es ihm, nicht aufzufallen. Weil er sich, wie er selbst bekannte, „ruhig verhielt und ein abgelegenes Fach vertrat“, hatte er „vom Nationalsozialismus persönlich keine Nachteile. Er trat weder der Partei noch irgendeiner ihrer Organisationen bei, sondern konzentrierte sich ganz auf seine akademischen und wissenschaftlichen Aufgaben.“ (bei Christof 2003)

14.3 „Religionswissenschaft des Verstehens“ und andere Vertreter Zu dieser Richtung von im Einzelnen recht unterschiedlichen Religionswissenschaftlern zählen Rudolf Otto, Friedrich Heiler, Joachim Wach, Gustav Mensching. Sie sind die „ersten Gelehrten in Deutschland, die als reine Religionswissenschaftler bezeichnet werden müssen“ (Heinrich 2002: 166).

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14. Religionswissenschaft im Nationalsozialismus

14.3.1 Joachim Wach

Veränderte Auffassung von Religionswissenschaft

Joachim Wach (1898–1955) wurde am 10. 4. 1935 von der Sächsischen Landesregierung als „Nichtarier“ seines Amtes enthoben. Eine Anfang April 1935 ausgesprochene Einladung an die Brown University (USA) zu einer Gastprofessur nutzte er zur (geplanten?) Emigration. Damit begann Wachs amerikanische Phase. Sie führte zu einer veränderten Auffassung von Religionswissenschaft. Die aus der Ferne registrierten nationalsozialistischen Greueltaten mögen den Protestanten Wach dazu geführt haben, sich schon im Spätsommer 1935 der Episcopal Church zuzuwenden. 14.3.2 Friedrich Heiler

Weder Anhänger noch Widerständler

Wegen seiner Beteiligung am Protest der Theologischen Fakultät gegen den „Arierparagraphen“ wurde Heiler (1892–1967) 1934 von den Nazis in die Philosophische Fakultät in Greifswald und 1935 in die Philosophische Fakultät in Marburg strafversetzt. Dass es gerade Heiler traf, lag wohl an der seit den 1930er Jahren schwierigen Beziehung zwischen der Theologischen Fakultät und dem seinen Kollegen viel zu katholisch erscheinenden Heiler. Heiler und seine „Hochkirchliche Vereinigung“ distanzierten sich von der Dialektischen Theologie und der Bekennenden Kirche ebenso wie von der nationalsozialistischen Ideologie. Heiler war kein Anhänger des Nationalsozialismus, aber auch kein Widerstandskämpfer. Während der NS-Diktatur eckte er nicht durch religionswissenschaftliche Publikationen an; stattdessen widmete er sich unverfänglichen theologischen Themen, schrieb ein bedeutsames, aber ungefährliches Buch über „Urkirche und Ostkirche“ (1937). Im Zweiten Weltkrieg und danach wirkte dieser „priesterliche Mensch“ (Kurt Goldammer) stellvertretend für Gemeindepfarrer in der Kranken-, Lazarettund Kriegsgefangenenseelsorge. 14.3.3 Heinrich Frick Auch wenn sein Interesse stark auf missionswissenschaftlichem Gebiet lag, bereicherte Frick (1893–1952) die Religionswissenschaft, indem er den dialogischen Ansatz Söderbloms und Ottos Verständnis des Heiligen miteinander verband. Frick war vom Nationalsozialismus überzeugt, und nach der „Machtergreifung“ vom 1. 1. 1933 wurde er förderndes Mitglied der SS, trat dem NS-Lehrerbund, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und dem Reichsluftschutzbund bei. Von 1937–1945 war Frick Dekan der Theologischen Fakultät (Marburg). 14.3.4 Ernst Benz Der Marburger Kirchenhistoriker studierte u.a. bei Pettazzoni und bei dem bedeutendsten Vertreter des italienischen Modernismus, dem 1925 wegen seines Eintretens im Modernistenstreit exkommunizierten katholischen Theologen Ernesto Buonaiuti (1881–1946). 1934/35 ging Benz (1907–1978) als Dozent an die Luther-Akademie im heute estländischen Tartu (früher Dorpat). Die Universität Marburg berief ihn 1935 zum außerordentlichen,

14.3 „Religionswissenschaft des Verstehens“ und andere Vertreter

1937 zum ordentlichen Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte sowie Geschichte der deutschen Mystik. Schon früh trat er in die SA ein (1. 11. 1933), 1937 in die NSDAP als einer der ganz wenigen Theologen, die in diesem Jahr noch aufgenommen wurden. Im Rahmen des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) hielt er Vorträge und Schulungskurse in Danzig und Frankfurt. Im Zweiten Weltkrieg diente Benz als Divisionspfarrer an der Ostfront. Benz lehrte bis 1973 in Marburg. 14.3.5 Gustav Mensching 1935 kehrte Mensching (1901–1978) aus Riga nach Deutschland zurück. Während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden komparatistische Werke (Mensching 1931, 1934, 1937, 1938, 1941) und Kompendien (Mensching 1938, 1940). 1937 gab Mensching anstelle seines im selben Jahr verstorbenen Lehrers Rudolf Otto ein zentrales Dokument anonym bleibender Reformkatholiken heraus: „Der Katholizismus. Sein Stirb und Werde. Von katholischen Theologen und Laien“. Das Vorwort unterstrich Menschings tolerantes und ökumenisches Wollen. Seine Einstellung zum Nationalsozialismus ist auch durch neuere Forschungen nicht hinreichend klar geworden. Wenig plausibel sind Untersuchungen, die Mensching eine völkische bzw. nationalsozialistische Gesinnung attestieren. Für den Mensching-Forscher Hamid Reza Yousefi war Mensching ein „Gegner des Nationalsozialismus“ (Yousefi 2002: 63), der sich einer „Bemäntelungsstrategie“ (66) bediente. Ähnlich argumentiert ein anderer Mensching-Fachmann: „Ein Vergleich zwischen Menschings grundlegenden Positionen seiner Vergleichenden Religionswissenschaft und der nationalsozialistischen Religionsauffassung zeigt eine grundsätzliche Verschiedenheit und Unvereinbarkeit. (…) Mensching ist daher von keiner Gutachterkommission vorgeworfen worden, dass er jemals inhaltlich nationalsozialistische Positionen bezüglich der Religionsauffassung vertreten hätte.“ (Parusel 2003: 141f.). Seit dem 1. 4. 1936 wurde er als Nachfolger von Carl Clemen mit der Leitung des Religionswissenschaftlichen Seminars in der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn beauftragt. Am 9. 6. 1942 wurde Mensching auf den wieder errichteten Lehrstuhl berufen. Das Thema seiner Antrittsvorlesung lautete: „Der Schicksalsgedanke in der Religionsgeschichte“.

Gegner der nationalsozialistischen Rassenideologie

14.3.6 Martin Buber Martin Buber (1878–1965), Lehrer am jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main, erhielt 1923 einen Lehrauftrag für Religionswissenschaft und jüdische Ethik an der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main. 1930 wurde er zwar noch zum Honorarprofessor ernannt, doch wie alle jüdischen Professoren nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ aus dem Amt entfernt. Dass Buber auch als Religionswissenschaftler wahrgenommen werden kann, zeigt sein „Universitäres Schema der Religionswissenschaft“, mit dem er sich 1933 vermutlich an Gershom Scholem (1897–1982) wandte, als er sich um eine Professur an der Hebräischen Universität Jerusalem bewarb. Religionswissenschaft bestand für den sozio-psychologisch argumentierenden Buber aus sieben Disziplinen: „Einleitung in

„Universitäres Schema der Religionswissenschaft“

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14. Religionswissenschaft im Nationalsozialismus

die Religionswissenschaft“, „Allgemeine Religionskunde“, „Phänomenologie der Religion (Religiöse Vorstellungen und Äußerungen)“, „Religiöse Typologie (Die personhaften Träger der Religion)“, „Religiöse Gemeinschaftskunde“, „Allgemeine Religionsgeschichte“, „Spezielle Religionsgeschichte“ (Zank 2006: 65). Bubers wesentlicher Beitrag zur Religionswissenschaft waren jedoch seine biblischen Studien. An der Hebräischen Universität, wo er ab 1938 lehrte, erhielt er nicht den von ihm angestrebten Lehrstuhl für Religionswissenschaft, sondern unterrichtete in Anthropologie und Soziologie. 14.3.7 Wilhelm Koepp und Åke Joel Ohlmarks Noch 1944 wurde an der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald ein religionswissenschaftliches Institut gegründet. Es bestand nur zwei Semester, und niemand setzte sich offenbar für dessen Fortbestand ein. Hinter der Gründung stand der evangelische Theologe und Deutsche Christ Wilhelm Koepp (seit 1922 ordentlicher Professor für Systematische Theologie und Religionswissenschaft). Leiter des Instituts wurde der in Lund über ein germanisches Thema promovierte schwedische Religionshistoriker, Schamanismus- und Edda-Experte Åke Joel Ohlmarks (1911–1984). Seit 1941 war er in Greifswald Lektor für Schwedisch und Lehrer für Isländisch. Ohlmarks lehrte vor allem über altnordische Kultur- und germanische Religionsgeschichte. Er trat im Laufe seines Schaffens außerdem durch seine vollständigen Shakespeare- und Koranübersetzungen sowie durch Übersetzungen des englischen Schriftstellers J.R.R. Tolkien hervor. 14.3.8 Rudolf Friedrich Lehmann Nach dem Tode von Hans Haas leitete der evangelisch-lutherische Ethnologe Rudolf Friedrich Lehmann (1887–1969) kommissarisch das Religionsgeschichtliche Seminar in Leipzig. 1935 wurde seine Venia auf Religionswissenschaft erweitert. Zwei Jahre später erhielt er die außerordentliche Professur für „Völkerkunde und Religionswissenschaft“. Dieser von Wilhelm Wundt beeinflusste Gelehrte, der die einflussreicher werdende Religionsphänomenologie kritisierte, erwarb sich insbesondere durch die Rezeption soziologischer Methoden und die Klärung der Begriffe „Mana“ und „Tabu“ Verdienste. Der 1941 in Südafrika internierte Lehmann war Mitglied im NSDozentenbund und unterschrieb nach der Machtübernahme Hitlers das „Bekenntnis der Professoren“. 1937–1945 lehrte Lehmann Völkerkunde und Religionswissenschaft. 14.3.9 Hilko Wiardo Schomerus Der in Halle an der Saale lehrende Gelehrte fiel in der Zeit des Nationalsozialismus dadurch auf, dass er die entstellte Wahrnehmung und pseudowissenschaftliche Darstellung der indogermanischen Religionsgeschichte beanstandete (bereits vor 1933), die in den Kreisen um Mathilde Ludendorff (1877–1966) verbreitet wurde. Diese überzeugte Antisemitin und Gründerin des „Bund(es) für Deutsche Gotterkenntnis“ wollte das deutsche „Edelvolk“ vom jüdischen „Fremdglauben“ befreien und zu einem „arteigenen Gotter-

14.3 „Religionswissenschaft des Verstehens“ und andere Vertreter

leben“ führen. Ludendorff führte einen Kampf gegen Freimaurer, Juden und Jesuiten. In völkischen Kreisen bestritt man die Originalität des Christentums unter Bezugnahme auf indische Quellen, was Schomerus zur Kritik herausforderte.1933 setzte er sich für jüdische Kollegen ein. Schomerus war ein herausragender Kenner südindischer Sprachen, übersetzte Texte aus dem Tamil und engagierte sich dafür, westlichen Theologen und zukünftigen Missionaren Indiens Religionen zu eröffnen. Zwar betrieb Schomerus die Religionswissenschaft unter theologischer Perspektive, doch war ihm die theoretisch-methodisch saubere und faire Darstellung anderer Religionen ein Anliegen.

Einsatz für jüdische Kollegen

14.3.10 Christel Matthias Schröder Nicht unerwähnt bleiben kann der Bremer Pfarrer und Heiler-Schüler Christel Matthias Schröder (1915–1996), dessen Dissertation „Rasse und Religion. Eine rassen- und religionswissenschaftliche Untersuchung“ (1937) – von Hauer schärfstens kritisiert – dazu führte, dass ihm die erstrebte Universitätskarriere verschlossen blieb. Schröder gab die Heiler-Festschrift („In deo omnia unum“, 1942) zu dessen 50. Geburtstag heraus. Sein größtes Verdienst war die Herausgabe der Reihe „Die Religionen der Menschheit“ (1960ff.).

„Die Religionen der Menschheit“

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15. Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre 15.1 Abgrenzung des Zeitraums

Ende einer ganzen Forschungsperiode?

Je nachdem, welchen terminus ad quem man für den Zeitraum nach 1945 ansetzt, fällt die inhaltliche Qualifizierung dieser Phase unterschiedlich aus. Wer wie Frank Whaling (Whaling 1995) vom Ende des 20. Jahrhunderts zurückblickt, oder wer gar vom Erscheinungsdatum der vorliegenden Einführung ausgeht, wird den ungleich langen Zeitraum (50 bzw. 70 Jahre) anders beurteilen, als derjenige, der als Grenzlinie die 1960/70er Jahre bestimmt, also nur eine Phase von ca. 25 Jahren betrachtet. Dies geschieht in der vorliegenden Einführung, welche danach einsetzende „postmoderne“ (im Sinne Lyotards) Entwicklungen ausklammert, lebende Fachvertreter durchweg aus der Darstellung ausschließt. Heinz-Robert Schlette hat in seinem FAZ-Nachruf auf Mensching (gest. 1978) die Vermutung ausgesprochen, dass mit seinem Tode eine ganze Forschungsperiode zu Ende gegangen sei.

15.2 Die 1950/60er Jahre: Wirtschaft – Kultur – Kirche

Schweigen über nationalsozialistische Untaten

Das Ziel der Rechristianisierung

Der Wissenschafts- und Kulturbetrieb in Nachkriegsdeutschland wurde größtenteils von bildungsbürgerlichen Eliten geprägt, die um die Jahrhundertwende geboren wurden. In der Nachkriegszeit entstanden die Evangelischen (1945) und Katholischen Akademien (1951), in denen sich Menschen zusammenfanden, die eine neue moralisch-spirituelle Orientierung suchten. Weit verbreitet war in den 1950er Jahren die Praxis eines „bereitwilligen Beschweigens“ der NS-Schandtaten. So traten „politische Fehler und moralische Versäumnisse“ zu Tage, die „das geistige Klima in der Bundesrepublik nachhaltig prägten“ (Frei: 405f.). In den 1950er Jahren begann ein Bauboom („Wiederaufbau“). Das „Wirtschaftswunder“ (Währungsreform, Marshallplan, ab 1955 erste „Gastarbeiter“, Entstehung des Massentourismus) war mit einer durchweg pessimistischen Zivilisationsbeurteilung gepaart. Manchen galt die Technik als gefährliche Kulturbedrohung, und aus bewusst elitärer Haltung heraus warnten Kulturkritiker vor der „Masse“. Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“ (1930) wurde in Deutschland erst durch die Taschenbuchausgabe von 1956 massenhaft rezipiert. Infolge Wohlstands und verringerter Arbeitszeit boomte in den 1950/60er Jahren der Massentourismus, und Urlaub – zunehmend auch Ferntourismus – wurden zum Statussymbol. Anfang der 1950er Jahre hatten beide Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland eine einzigartige Bedeutung, 96 % der Bevölkerung waren Kirchenmitglieder. Die „Ära Adenauer“ (1949–1963) stand für Rückbesinnung auf Christentum und Humanismus. Man wollte Bevölkerungskreise, die aufgrund der Erfahrungen des Dritten Reiches abseits von Christentum und Kir-

15.3 Wissenschaftsentwicklungen im Umfeld der Religionswissenschaft

che standen, „rechristianisieren“, ihre „Lebensführung“ (Max Weber) durch bürgerliche „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ (Ludwig Klages) prägen: Pflichterfüllung, Disziplin, autoritärer Erziehungsstil, Pünktlichkeit, Bereitschaft zur Anpassung, Kirchenbesuch usw. Kontrovers diskutierte man den Einfluss der Kirche auf die Schule (Bekenntnisschulen als Regelschulen in zahlreichen Bundesländern). Den Kirchen ging es nicht nur um Verkündigung, Seelsorge, Diakonie; vielmehr strebten sie nach Einfluss auf Politik-, Wirtschafts- und Sozialfragen und verankerten sich in der Gesellschaft (Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Kirchenfunkredaktionen). Ende der 1950er Jahre setzte ein „Klimasturz“ (Thomas Großbölting) bei jüngeren gebildeten Katholiken gegenüber dem religiösen Angebot ein. Das katholische Milieu begann „abzuschmelzen“ (Klöcker 1991), doch waren die Gegensätze zwischen den Konfessionen noch verhältnismäßig stark ausgeprägt. In den langen sechziger Jahren erhielt die konservativ-klerikal-heile Welt Risse (Erotikboom, liberalere Rechtspraxis). Ein regelrechter „Verweltlichungsschub“ (Detlef Pollack) brach sich Bahn. Die unangepasste Jugend griff die „alten“ Werte an und setzte sich für neue Selbstverwirklichungswerte (Selbstentfaltung, Jugendkultur) ein. Diskrepanzen zwischen dem traditionellchristlichen Familienbild und der gelebten sozialen Praxis (höhere Scheidungszahlen, weniger Heiraten, mehr kinderlose Ehen) machten sich bemerkbar. Die Kirchen wurden von Austrittswellen überzogen, und der konfessionelle Religionsunterricht erlebte eine tiefgreifende Krise. Zwischen kirchlichem und gesellschaftlichem Wertesystem klaffte eine immer breitere Lücke. Die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer seit den 1950er Jahren, die Abkommen mit der Türkei (1961), die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Rezession (1966/67) lösten Debatten um die so genannten „Gastarbeiter“ aus. Während bis in die 1960er Jahre im Religionsunterricht beider Konfessionen die Religionen primär unter bildungsmäßigen, apologetischen, kerygmatischen oder pastoralen Gesichtspunkten thematisiert wurden, geriet Ende der 1960er Jahre stärker die Wirklichkeit von Schüler, Welt und Gesellschaft in den Blick. Im Katholizismus profitierte die Diskussion von den Impulsen des II. Vatikanums, im Protestantismus von der Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen. Apologetische Einstellungen wurden zurückgedrängt, dialogische gefördert. Im Gefolge der Curriculumreform traten anthropologische und gesellschaftlich-funktionale Aspekte in den Vordergrund. Die damalige (deutsche) Religionswissenschaft war nicht in der Lage, die (religions-)unterrichtlichen Informationsdefizite zu beheben. Ihre einführenden Werke gingen auf die unterrichtlich relevanten Religionen und deren Probleme „vor Ort“ kaum ein.

Klimasturz 1950/ 60er Jahre

Krise von Kirche und Religionsunterricht

Kirchliche Öffnungen

15.3 Wissenschaftsentwicklungen im Umfeld der Religionswissenschaft Wie andere Geisteswissenschaften auch knüpfte die Religionswissenschaft der Adenauer-Ära (1949–1963) an Vorkriegstraditionen an. Das Fach war an wenigen Universitäten vertreten und besaß in diesen Jahren den Status eines „Orchideenfaches“. Nachdem der Lehrbetrieb an den deutschen Universitäten Ende 1944 zum großen Teil zum Erliegen gekommen war, nahm man

Religionswissenschaft als Orchideenfach

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15. Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre

„Kritische Theorie“ und „Dialektik der Aufklärung“

„Philosophie nach Auschwitz“

Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften

diesen ein Jahr später ohne radikale personelle Veränderungen wieder auf. Die Professoren attestierten ihren Studierenden durchweg Ernsthaftigkeit, Neugier und Fleiß. Aufwändige, nach Besatzungszone unterschiedlich anspruchsvolle Entnazifizierungsverfahren führten zum Ausschluss bzw. zur Wiedereinstellung von Professoren. In den über zweieinhalb Jahrzehnten bis Mitte der 1970er Jahre griff man in vielen Fächern zunächst auf Denkrichtungen, Schulen und Methoden der Weimarer Republik zurück. So knüpfte die (west-)deutsche Philosophie an die Philosophie der 1920er Jahre und ältere Traditionen an. Die vier Hauptrichtungen der Nachkriegsphilosophie: Existenzphilosophie, Anthropologie, Phänomenologie und Ontologie (Heidegger/Jaspers, Gehlen, Bollnow, Hartmann u.a.) existierten schon vor bzw. im Dritten Reich. Für Traditionen wie den Neopositivismus, der sich in den 1920er Jahren (Wiener Kreis) entwickelte, traf dies nicht zu. Auch die jüdische und marxistische Philosophie fanden keine rechte Beachtung. Bedeutsam war der Aufstieg der sozialistisch-antiautoritären „Neuen Linken“. Man entdeckte die „Kritische Theorie“ mit ihrem Hauptgedanken der „Dialektik der Aufklärung“. Nach der Erfahrung zweier Weltkriege, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Auschwitz warf Theodor W. Adorno die Frage nach dem „richtigen Leben im falschen“ auf. Die Vernunft beförderte im geschichtlichen Prozess nicht Freiheit und Glück der Menschen, sondern oft das Gegenteil. So hatte die Beherrschung der Natur die Herrschaft zwischen den Menschen zur Folge (Klassenherrschaft). Frustration und Repression der Libido führten zur Zerstörung der abendländischen Zivilisation. Ein philosophisches Grundthema war die Frage nach der Möglichkeit von „Philosophie nach Auschwitz“ und der Diskussion der „Schuldfrage“. In den 1960er Jahren setzte eine weitere Phase der Analytischen Sprachphilosophie ein, die sich mit John Langshaw Austin und seiner bereits in den 1950er Jahren entworfenen „Sprechakttheorie“ verband und von John Rogers Searle verfeinert wurde (Speech acts, 1969). Im Mittelpunkt stand der Gedanke, dass Sprache einen Handlungscharakter besitzt (performativer Sprechakt). Im religiösen Bereich fand eine „Therapeutisierung“, „Somatisierung“ und „Orientalisierung“ (Claudius Kienzle) statt, womit die Aufnahme psychotherapeutischer Methoden in der Seelsorge und die Rezeption fernöstlicher Geisteshaltungen und Praktiken gemeint waren. Die Idee individueller Freiheit jenseits gesellschaftlicher Normen lebte die „Beat Generation“ (u.a. Jack Kerouac, William S. Burroughs, Allen Ginsberg) schon seit Ende der 1940er Jahre vor. In der Kunst brachen sich erhebliche Neuerungen Bahn (Beuys, Happening, Fluxus, Pop-Art usw.). In den 1960er Jahren brach in den Sozialwissenschaften der „Positivismusstreit“ aus, der von Karl R. Popper („Kritischer Rationalismus“) und Theodor W. Adorno („Kritische Theorie“), später von Jürgen Habermas und Karl Albert fortgeführt wurde. Dabei ging es um die Klärung von Forschungsausrichtung sowie theoretischer, moralischer und politischer Grundhaltungen in der damaligen Soziologie. Wesentliche Fragen betrafen die Leistungen der Sozialwissenschaft, ihre „Objektivität“ und das Problem der Werturteilsfreiheit. In der Literaturwissenschaft, z.B. Germanistik, dominierten bis in die späten 1950er Jahre verschiedene Varianten der „werkimmanenten Interpretation“. Politische, gesellschaftliche, historische Gesichtspunkte waren aus

15.4 Entwicklungen in der Religionswissenschaft

der Beschäftigung mit Literatur ausgeklammert, und man bestand auf der „Autonomie des Kunstwerks“. Methodisch neuartige Ansätze seit den 1960er Jahren konzentrierten sich auf psychoanalytische, sachlich-analytische Untersuchungen von Text- und Gattungsstrukturen. Zu Strukturalismus und Rezeptionsästhetik gesellten sich ab den 1970er Jahren Diskursanalyse, intertextuelle, semiotische, poststrukturelle usw. Verfahren hinzu. Seit etwa 1970 richtete sich die Aufmerksamkeit der Germanisten stärker auf sozialund medienspezifische Probleme. Die Religionswissenschaft der Nachkriegszeit bemühte sich um Abgrenzung von der Theologie. Das fiel zunächst nicht schwer, weil auf Seiten der (evangelischen) Theologie die anthropozentrische Basis, die noch die Theologie des 18./19. Jahrhunderts geprägt hatte, durch zwei Weltkriege erschüttert war. Es ging den Theologen nicht mehr um „Religion“, sondern um die biblische Gottesoffenbarung. Damit waren die Verbindungsfäden zwischen beiden Wissenschaften gekappt. Was in der Religionswissenschaft geschah, war für evangelische Theologen irrelevant. Umgekehrt boten die theologischen Entwicklungen keine attraktiven Anknüpfungsmöglichkeiten für die Religionswissenschaft: dialektische Theologie (Karl Barth, Friedrich Gogarten) und existentiale Bibelwissenschaft (Rudolf Bultmanns „Entmythologisierung“). Die Luther-Renaissance (Karl Holl) stellte Kategorien von Luthers Theologie in den Mittelpunkt (Rechtfertigung, Gesetz und Evangelium).

„Autonomie des Kunstwerks“

Beziehungslosigkeit von (evangelischer) Theologie und Religionswissenschaft

15.4 Entwicklungen in der Religionswissenschaft Nicht nur für die deutsche Religionswissenschaft dürfte gelten, dass so gut wie alle Vertreter einen religiös-konfessionellen Hintergrund hatten. Die deutsche Religionswissenschaft im Vierteljahrhundert nach dem 2. Weltkrieg hatte einen durchweg konservativen Charakter. Nicht theoretisch-methodische Neuaufbrüche sind zu verzeichnen, sondern die Fachvertreter waren an der materialen Ausarbeitung, Ausfüllung und Erweiterung ihrer für bewährt gehaltenen Ansätze interessiert. Entwicklungen anderer Fächer (Literatur-, Sozialwissenschaften) wurden in der Religionswissenschaft nicht wahrgenommen oder abgelehnt. Weithin herrschte die Auffassung, dass sich die „objektive“ Religionswissenschaft auf Deskription beschränken müsse und Wertungen in ihr keinen Raum hätten. Da man die Rezeption sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse („Positivismusstreit“) vermied, entstand innerhalb des Faches auch keine theoretisch-methodische Unruhe. Heinz-Robert Schlette forderte bereits vor über 50 Jahren, „dass die Religionswissenschaft nicht als ein pures, an Welt und Geschichte desinteressiertes Sandkastenspiel betrieben werden darf“ (Schlette 1971: 142). Seine „Einführung in das Studium der Religionen“ ist innerhalb der Religionswissenschaft wirkungslos geblieben. Um einen Einblick in die personelle Situation der deutschen Religionswissenschaft zu erhalten, bietet sich ein Blick auf das Mitarbeiterverzeichnis der dritten Auflage der (evangelischen) Lexikonreihe Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG, 1957–1965) an. Theologisch befand sich diese Auflage im Fahrwasser der Dialektischen Theologie, so dass der Religionswissenschaft eine marginale Bedeutung zukam. Insgesamt steuerten 17 deutsche Religionswissenschaftler Beiträge zur

Konservative Ausrichtung des Fachs, keine theoretischmethodische Unruhe

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15. Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre

RGG bei. Eine Frau war darunter (Liselotte Richter) und einige ausländische Gelehrte (Haralds Biezais, Angelo Brelich, Carl-Martin Edsman, Mircea Eliade, Åke Hultkrantz). Heiler verfasste ein paar religionsphänomenologische und frömmigkeitsgeschichtliche Artikel, von Glasenapp bearbeitete die buddhistische und jainistische Religionswelt, Schoeps lieferte judaistische Beiträge, und Lanczkowski schrieb einige religionsphänomenologische Artikel. Die übrigen Autoren (Johann Baptist Aufhauser, Fritz und Ernst Bammel, Karl Beth, Ernst Dammann, Friedrich Rudolf Lehmann, Kurt Rudolph, Christel Matthias Schröder) waren mit wenigen Einzelartikeln vertreten. Die Mehrheit der Beiträge zu zentralen religionswissenschaftlichen Themen – zum Beispiel über „Religion“ – stammte von Gustav Mensching. Man hätte ihn auch als Autor des Artikel „Religionswissenschaft“ erwartet, doch den übernahm der Missionswissenschaftler Walter Holsten (1908–1982), der noch für weitere Kernbeiträge zuständig war: Phänomenologie der Religion, Religionsgeographie, Religionsgeschichte, Religionsstatistik. 15.4.1 Friedrich Heiler: Religionswissenschaft als Theologie

Heilers theologische Voraussetzungen der Religionswissenschaft

In Marburg wurde Friedrich Heiler 1945 Dekan der Philosophischen Fakultät, 1948 erhielt er wieder seinen Lehrstuhl in der Theologischen Fakultät. In den 1950er Jahren legte er keine größere religionswissenschaftliche Abhandlung vor. Erst 1959 gab er das zu Teilen von ihm verfasste Handbuch „Die Religionen der Menschheit“ heraus. Diesem erfolgreichen Band ließ er sein religionsphänomenologisches Hauptwerk „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ (1961) folgen. Heiler führte neben wissenschaftlichen Voraussetzungen drei religiöse an: a) „Ehrfurcht vor aller wirklichen Religion“, b) „persönliche religiöse Erfahrung“ bzw. „Religiosität im weitesten Sinne“; c) „Ernstnehmen des religiösen Wahrheitsanspruchs“. Die folgende Aussage machte Heiler zu einer singulären Gestalt innerhalb der damaligen Religionswissenschaft: „Alle Religionswissenschaft ist letztlich Theologie, insofern sie es (…) mit dem Erlebnis jenseitiger Realitäten zu tun hat“ (alle Zitate Heiler 1961: 17). 15.4.2 Ernst Benz: Vorurteilsfreie Religionsbegegnung

Interesse an Gegenwarts- und „neuen Religionen“

Bereits 1946 fungierte Ernst Benz als Direktor des Ökumenischen Seminars der Marburger Universität. Viele Jahre wirkte er als Mitherausgeber der „Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“ (ZRGG). Er war ein hervorragender Kenner der Christentumsgeschichte, behandelte Themen im Überschneidungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft. Benz schrieb über den „Übermenschen“, die Endzeiterwartung und materialreich über „Die Vision“ (1969). Seine Abhandlungen behandelten oft vergessene, verschollene, verketzerte Gestalten und Bewegungen. Eine seiner wertvollsten Schriften im Grenzbereich von Theologie/Religionswissenschaft war die Studie „Ideen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ (1960). Der Kirchenhistoriker Benz arbeitete sich immer stärker in die allgemeine Religionsgeschichte ein, wobei sein Schwerpunkt auf den Gegenwartsreligionen lag. Sein besonderes Interesse galt den ostasiatischen, indischen Religionen, vor allem Zen-Buddhismus und Hinduismus. Benz’ Sicht auf Christentum und

15.4 Entwicklungen in der Religionswissenschaft

Religion/en war von Anfang an ökumenisch ausgerichtet. Diese Sicht führte ihn dazu, für eine offene, vorurteilsfreie Begegnung des Christentums mit anderen, auch „neuen“ Religionen einzutreten. 15.4.3 Kurt Goldammer: Formenwelt des Religiösen Der musikalisch hochbegabte Kurt Goldammer stammte aus einer vom konservativen Luthertum geprägten Familie mit pietistisch-humanistisch-liberalem Einschlag. Von 1935–1939 studierte er in Leipzig Evangelische Theologie, Kunstgeschichte, christliche Archäologie, Philosophie und allgemeine Religionsgeschichte (bei Walter Baetke), ab 1936 in Marburg (u.a. bei Friedrich Heiler, Hans v. Soden, Rudolf Bultmann). 1939 promovierte er bei Heiler („Die eucharistische Epiklese in der mittelalterlich abendländischen Frömmigkeit“, 1941). Habilitiert wurde Goldammer 1946 in der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg. 1947 berief man ihn zum außerplanmäßigen Professor für „Religionsgeschichte und Geschichte der religiösen Kunst“. Goldammer stand in Marburg lange Jahre im Schatten Friedrich Heilers, obgleich er der theoretisch und methodisch weitaus Bewusstere war. Heilers Nachfolger wurde – für die Religionswissenschaft wenig glücklich – der Afrikanist und Religionshistoriker Ernst Dammann (1904–2003), der Afrikanistisches und Missionswissenschaftliches publizierte und für die Reihe „Theologische Wissenschaft“ einen „Grundriss der Religionsgeschichte“ (1972) vorlegte, der Abschnitte über nachklassische und neue Religionen enthielt. Als 1974/75 der Fachbereich „Außereuropäische Sprachen und Kulturen“ gegründet wurde, war Goldammer sein erster Dekan. Die Religionswissenschaft war für Goldammer eine von der Theologie unabhängige humanistische Wissenschaft. Dennoch ging Goldammer in vielen Arbeiten auch Grundfragen des Dialogs und der Religionstheologie nach. Er knüpfte an methodologische Überlegungen Joachim Wachs an und legte in „Die Formenwelt des Religiösen“ (1960) einen im Grundkonzept neuen Versuch vor, die Religionsphänomene systematisch zu fassen und neu aufzugliedern. Er setzte beim Formbegriff an, den er für elastischer und brauchbarer als den Typusbegriff hielt. Für Goldammer war ein Studium der Religionswissenschaft ohne theologische, philosophische und geschichtliche Studien nicht möglich.

Versuch neuartiger religiöser Formenlehre

15.4.4 Gustav Mensching: Toleranzhermeneutik Mensching legte in den späten 1940er Jahren nicht nur seine „Soziologie der Religion“ (1947), sondern auch eine kleine „Geschichte der Religionswissenschaft“ (1948) vor. In den 1950er Jahren ließ er die zweite Auflage seiner Ethik „Gut und Böse im Glauben der Völker“ (1950) folgen und publizierte mehrere Quellensammlungen (u.a. Buddhistische Geisteswelt, 1955; Leben und Legende der Religionsstifter; 1955; Die Söhne Gottes, 1958). Zentrales Thema bildete das Problemfeld: „Toleranz und Wahrheit in der Religion“ (1955). Eine Zusammenfassung seiner religionswissenschaftlichen Erkenntnisse legte er in „Die Religion. Erscheinungsformen und Lebensgesetze“ (1959) vor. Für Mensching bedeutete die konfessionell „enge“ Adenauer-Ära eine hochgradige Herausforderung. In einer Zeit, in der die Haltung der Toleranz nicht einmal zwischen den christlichen Konfessionen möglich schien, warb

Praktische Religionswissenschaft

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15. Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre

er für Toleranz zwischen den Religionen. In dieser Zeit wuchs sein Interesse an der praktischen Dimension der Religionswissenschaft. Menschings nationen- und kulturenverbindender Einsatz für Toleranz wird an seinem Engagement bei der „Gesellschaft zur Gründung einer Welt-Universität“ (1960) deutlich. Zahlreiche Nobelpreisträger und Gelehrte von Weltruf traten für einen weltumspannenden Humanismus ein und waren von der Idee beseelt, diese Welt-Universität zum Mittelpunkt der Völkerverständigung zu machen. Mensching betrieb keine Religionswissenschaft im Elfenbeinturm, sah in ihr auch eine praktische Disziplin, die zur Lösung von Gegenwartsproblemen beitragen kann. Menschings Kritik an den organisierten Kirchen zeigte sich auch darin, dass er zu den Männern der „ersten Stunde“ gehörte, die dem Beirat der von dem Publizisten Gerhard Szczesny (1918–2002) gegründeten Bürgerrechtsorganisation „Humanistische Union“ (1961) angehörten – eine als antichristlich gescholtene Gegenbewegung zur restaurativen Einstellung der Adenauer-Ära. Zum Programm gehörte von Beginn an die Trennung von Kirche und Staat. Bis zu seiner Emeritierung 1969 hatte Mensching den Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Bonn inne. 15.4.5 Hans-Joachim Klimkeit: „Problemorientierte Religionsphänomenologie“

Religionswissenschaft als „Stätte der Kommunikation“

„Problemorientierte Religionsphänomenologie“

Die Lehrveranstaltungen des Mensching-Nachfolgers Hans-Joachim Klimkeit (1939–1999) bewegten sich anfangs noch im traditionellen Fahrwasser des Faches: Persönlichkeiten der Religionswissenschaft, außerchristliche Gnadenreligionen, Vergleichen und Verstehen, Heilige Schriften, religiöse Weisheitsliteratur, neuere Strömungen in den Religionen. Religionswissenschaft war für ihn eine „Stätte der Kommunikation bestimmter interdisziplinärer, aufeinander bezogener Studien- und Forschungsrichtungen“. In Gestalt einer „problemorientierten Religionsphänomenologie“, für die er kein Theoriekonzept hinterließ, versuchte Klimkeit, diese Disziplin weiterzuentwickeln. Eine problemorientierte Ausrichtung hatte erhebliche Bedeutung beim multiperspektivischen Durchdenken von (über)lebenswichtigen Problemen. Die Objekte der empirischen Religionswissenschaft lassen den Forschenden bzw. Rezipienten nicht unverändert; denn sie enthalten Orientierungswissen, wollen Rat geben, Optionen bereitstellen, damit die Rezipienten ihren Zustand der Desorientiertheit verlassen können. Klimkeits Religionswissenschaft schritt über das rein (historisch-kritisch-philologisch) Empirische hinaus, stand gedanklich in enger Verbindung zu Otto Friedrich Bollnow, Hans Jonas und Gustav Mensching. Klimkeits religionshistorische Studien beschäftigten sich mit interreligiösen Begegnungsprozessen, vor allem an den nördlichen und südlichen Routen der Seidenstraße. 1990 trat Klimkeit mit seinem an eine breitere Öffentlichkeit gerichteten Werk „Der Buddha. Leben und Lehre“ hervor. Daneben beschäftigte er sich auch mit aktuellen Themen, vielfach im Zusammenhang mit dem politischen Hinduismus. Trotz seiner philologisch fundierten Forschung blieb Klimkeit dem religionssystematisch-verstehenden Ansatz seines Lehrers verpflichtet. Dies belegt auch sein Vorwort zum Tagungsband „Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft“ (Klimkeit 1997).

15.4 Entwicklungen in der Religionswissenschaft

Klimkeit setzte sich darin mit den sich seit Ende der 1960er Jahren verändernden religionswissenschaftlichen Denkweisen engagiert auseinander und vertrat weiterhin das im Begriff des Heiligen liegende Proprium von Religion. Psychologistische und soziologistische Ansätze lehnte er ab. 15.4.6 Karl Hoheisel: Hairesis Ein weiterer Schüler Gustav Menschings war Karl Hoheisel (1937–2011), dessen Forschungsgebiete Judentum, Religionen der klassischen Antike und Religionsgeschichte des (früh)neuzeitlichen Europas umfassten. Der Titel seiner Festschrift „Hairesis“ (2002) macht auch deutlich, wie sehr Hoheisel insbesondere an abweichenden Religionen und religiösen Bewegungen (Freimaurer, Esoterik, Okkultismus) interessiert war. Hoheisel lieferte in den 1980er Jahren fundierte Beiträge zur Religionsgeographie. 15.4.7 Hans-Joachim Schoeps: Zeitgeistforschung Eine Religionswissenschaft eigenen Zuschnitts stellte die von Hans-Joachim Schoeps (1909–1980) inaugurierte „Zeitgeistforschung“ dar. Schoeps war einer der profiliertesten Gelehrten der deutsch-jüdischen Wissenschaftsgeschichte. Der in entschieden preußischem, antidemokratischem und deutsch-nationalem Geist erzogene, nationalkonservative (Religions-)Historiker und Religionsphilosoph promovierte bei Wach über die „Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie in der Neuzeit“ (1932). Weil es dem deutschbewussten Juden, der für die Trennung von „deutschen“ und „undeutschen“ Juden eintrat, nicht gelang, in seinem Vaterland beruflich „Fuß zu fassen“, emigrierte Schoeps 1938 nach Schweden. Nach dem Krieg (1947) erhielt er den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „Religions- und Geistesgeschichte“ in Erlangen – eine Fächerkombination, die ihr Vorbild im Lamprechtschen Institut für „Kultur- und Universalgeschichte“ (Leipzig) besaß. Schon ein Jahr nach Amtsantritt gründete Schoeps zusammen mit Ernst Benz die „Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“ (ZRGG) und 1958 die „Gesellschaft für Geistesgeschichte“. Ihr geht es um die Erforschung des Zeitgeistes, wie er sich in Literatur, Kunst, Politik, Wirtschaft, Recht, und eben auch in Religion etc. ausdrückt (Schoeps 1958). Schoeps gab Anstöße zu einer religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit der Religionsgeschichte in der Öffentlichkeit (Falaturi/Klöcker/ Tworuschka 1983). 15.4.8 Carsten Colpe: Überlegungen zur Theoriebildung Der in Göttingen (1962–1968), dann an der FU Berlin lehrende historische Theologe, Iranist und Religionswissenschaftler Carsten Colpe (1929–2009) war ein herausragender Kenner der Religionsgeschichte der Umwelt des Neuen Testaments und Frühen Christentums. Er beschäftigte sich mit Hellenismus, iranischen Religionen, Gnosis, Hermetik, Manichäismus und Frühislam. Colpe gehörte zu den Religionswissenschaftlern, die früh Überlegungen zur Theoriebildung anstellten, insbesondere religionssystematische Gedanken zum Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft. In den Mittel-

„Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“

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15. Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre Weiterentwicklung historischer Religionsphänomenologie

punkt rückte dabei der Begriff des „Heiligen“ und die Weiterentwicklung einer historisch orientierten Religionsphänomenologie. Hervorzuheben ist auch sein wort- und begriffsgeschichtliches Interesse. In aktuelle Auseinandersetzungen, zum Beispiel um die Rushdie-Affäre, Golfkrieg, sog. „Heiliger Krieg“ mischte er sich ein. Colpe vertrat eine reflexive „historische Phänomenologie“, die „Aussagen über das ,Sein des Heiligen‘ nicht ausschließt“, gleichzeitig aber auch „Aussagen über die ,gesellschaftliche Einbettung des Heiligen‘ ermöglicht“. Im Sammelband „Die Diskussion um das ,Heilige‘“ (Colpe 1977) stellte Colpe wichtige einschlägige Beiträge zum Begriff des „Heiligen“ zusammen. Wir befinden uns bereits in der Phase methodologischer Neubesinnungen in der Religionswissenschaft, und Colpe bemerkte, dass „die Mehrzahl der modernen Religionstheorien (…) am Begriff des Heiligen vorbei konzipiert werden“ (Colpe 1977: X), was jedoch nur für soziologisch und funktionalistisch ausgerichtete Beiträge zutraf, daher nicht verallgemeinert werden darf. 15.4.9 Helmuth von Glasenapp: „unparteiisch und objektiv“ Im Mai 1946 wurde der Indologe Helmuth von Glasenapp Nachfolger Friedrich-Wilhelm Hauers auf dem Lehrstuhl für „Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft“. In den Jahren bis zu seiner Emeritierung (1959) erweiterte er sein wissenschaftliches Spektrum in Richtung Vergleichende Religionswissenschaft : „Ich fasste dabei meine Aufgabe dahin auf, unparteiisch und objektiv – soweit dies einem Menschen möglich ist – die einzelnen weltanschaulichen Systeme zu untersuchen und in ihrem Wesen zu begreifen (bei Christof 2003). Von Glasenapp publizierte über Buddhismus und westliche Denker, die sich zu den asiatischen Religionen geäußert hatten, auch trat er durch populäre Titel hervor: „Die fünf großen Religionen“ (1963), „Die Religionen der Menschheit. Ihre Gegensätze und ihre Übereinstimmungen“ (1954), „Glaube und Ritus in den Hochreligionen in vergleichender Übersicht“ (1960). Sehr nützlich waren seine Textsammlungen wie zum Beispiel „Indische Geisteswelt“ (zwei Bände). 15.4.10 Günter Lanczkowski: philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft Als Professor für Religionsgeschichte wirkte in Heidelberg von 1967–1986 der Altamerikanist und Religionswissenschaftler Günter Lanczkowski (1917–1993). Gegenüber den jeweiligen Fachphilologien vertrat er eine eigenständige, philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft. Seine „Einführungen“ (Lanczkowski 1978, 1980) hinkten bereits der in Gang geratenen Methodendiskussion hinterher, deren Entwicklung er in einem bis heute sehr nützlichen Sammelband anhand wichtiger Theorie- und Methodenbeiträge darstellte (Lanczkowski 1974).

16. Religionswissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik In der DDR war die Situation der Religionsgemeinschaften völlig anders als in der Bundesrepublik. Kirchen und andere Religionsgemeinschaften waren natürliche Konkurrenten des Staates, da sie sich der herrschenden Staatsideologie widersetzten. Man gestand den Kirchen nur ihre Kultausübung zu. In den 1950er Jahren führte dies zu einem letztlich erfolglosen Kirchenkampf (Pressekampagnen, Werbung für Kirchenaustritt, Durchsuchungen, Verhaftungen). Sozialismus und Religion/en galten als unvereinbar. Bis in die späten 1980er Jahre mussten Christen in der DDR Ausgrenzungen und Diskrimierungen erfahren. Weder in den theologischen noch in den philosophischen Sektionen der Universitäten zur DDR-Zeit fand die Religionswissenschaft „ein wirkliches Heimatrecht“ (Lohmann 1998: 201). An der Universität Greifswald existierte kein eigener Fachbereich für Religionswissenschaft mehr, doch Kirchenhistoriker und Alttestamentler nahmen sich der Religionsgeschichte an. Der Neutestamentler Alfred Jepsen (1900–1979) behandelte in seinen Vorlesungen nicht nur die biblischen Umweltreligionen, sondern auch Islam und die Religionen Indiens. Im Zuge der dritten Hochschulreform wurden Ende der 1960er Jahre die Institute abgeschafft und die Fakultäten in Sektionen umgewandelt, diese wiederum in Abteilungen, Forschungskollektive oder so genannte Wissenschaftsbereiche untergliedert. Die Leiter dieser Einheiten unterstanden direkt dem Sektionsdirektor, und dieser dem Rektor. Bis zur Gründung der Sektion Theologie bestand an der Universität Rostock das „Institut für allgemeine und vergleichende Religionsgeschichte“, das sich primär mit Frühjudentum, Hellenismus und Gnosis beschäftigte. Innerhalb der Theologie existierte auch in Greifswald das Lehrgebiet Religionsgeschichte nach der Sektionsgründung weiter und wurde von Peter Heidrich (1929–2007) in einem breiten Umfang betrieben. Angeboten wurden von ihm Vorlesungen über Weltreligionen, Religionsphänomenologie, Märchen, Mythen und die griechische Tragödie. Innerhalb des Theologischen Instituts der Berliner Humboldt-Universität gab es zwei der Religionswissenschaft zugeordnete Abteilungen: „Abteilung für Allgemeine Religionsgeschichte und Missionswissenschaft“ sowie innerhalb der Systematischen Theologie die „Unterabteilung für Religionswissenschaft“, deren Direktorin die Religionsphilosophin Liselotte Richter (1906–1968) war (Wenzel 1999). Nachdem die Sektion Theologie gegründet worden war (1971), verlief die institutionelle Entwicklung so, dass die „Unterabteilung“ aufgelöst, die Missionswissenschaft von der Religionswissenschaft abgetrennt und der Ökumenik zugeordnet wurde. Die übrig bleibende Religionsgeschichte wurde als Lehrfach eingerichtet und mit KarlWolfgang Tröger (geb.1932) besetzt. Dieser Gnosis-Fachmann bot ein brei-

Kirchen und Religionen als natürliche Konkurrenten des Staates

Dritte Hochschulreform

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16. Religionswissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik

Empirischhistorische Religionswissenschaft

„Institut für Allgemeine Religionsgeschichte“ in Jena

tes Angebot an, das die Umwelt des Christentums, Spätantike, Indien und Islam ebenso umfasste wie allgemein nichtchristliche Religionen. In der Theologischen Fakultät bzw. Sektion der Universität Halle beschäftigten sich zwar mehrere Fächer (Altes/Neues Testament, Kirchengeschichte) mit religionsgeschichtlichen Fragen, aber eine globale, allgemeine Religionsgeschichte wurde vom Lehrstuhl für „Missionswissenschaft und Allgemeine Religionsgeschichte sowie Südindische Geschichte und Dravidologie“ durch Arno Lehmann (1901–1984) betrieben. Dieser Missionsmann beschäftigte sich mit den anderen Religionen im Geiste einer „evangelischen Religionskunde“. Seit 1946 befand sich das „Religionsgeschichtliche Seminar“ an der Universität Leipzig in der Philosophischen Fakultät. Vertreter wie Walter Baetke (1884–1978) und Kurt Rudolph (geb.1929) sorgten für eine historische Religionswissenschaft, die frei von religionsphilosophischer und theologischer Interpretation zu sein beanspruchte. 1951 wurde in der Theologischen Fakultät das „Institut für Religionssoziologie“ gegründet, dem auf Betreiben staatlicher Stellen der religiöse Sozialist Emil Fuchs (1874–1971) zugewiesen wurde. Dahinter stand der Versuch, so genannte „fortschrittliche Kräfte“ im Lehrkörper der Fakultät zu verankern, um die Mehrheitsverhältnisse in der Fakultät zu verschieben. An der Universität Jena versuchte Herbert Preisker (1888–1952), seit 1945/46 Dozent für allgemeine Religionswissenschaft, die seit 1939 an der Theologischen Fakultät bestehende „Abteilung für Religionsgeschichte“ in die Philosophische Fakultät zu überführen. Seit dem WS 1949/50 existierte ein „Religionsgeschichtliches Seminar“ als selbständige Institution neben dem „Theologischen“. Beide Seminare wurden ab 13. 11. 1951 selbständige Institute innerhalb der Theologischen Fakultät. Der Religionsgeschichte gegenüber aufgeschlossen waren die Kirchenhistoriker Karl Heussi und dessen Nachfolgerin Hanna Jursch sowie der Alttestamentler Rudolf Meyer. Nach Preiskers Tod vertrat Arno Lehmann (1953–1958) als Gastprofessor. Der Dozent für Allgemeine Religionsgeschichte und Neues Testament, Theodor Lohmann (1929–2011), wurde 1959 Direktor des Instituts für Religionsgeschichte. Von 1969–1993 hatte Theodor Lohmann den Lehrstuhl für Religionswissenschaft inne. Lohmann gelang es, 1963 eine internationale Tagung unter dem Gesamtthema „Glaube und Aberglaube in der Welt der Religionen“ auszurichten, deren weitere Folgen vom Minister für Hochschulwesen der DDR untersagt wurden. Bis zur Gründung der Sektion Theologie (1970) existierte ein eigenes „Institut für Allgemeine Religionsgeschichte“, das jedoch nach der Wende abgeschafft wurde (Lohmann 1998).

17. Religionswissenschaft im Spiegel der internationalen Tagungen (1950–1970) Seit ihrer Gründung auf dem 7. internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Amsterdam (1950) existiert die „International Association for the History of Religions“ (IAHR), ein weltweiter Dachverband mit dem Ziel „the historical, social, and comparative study of religion“ zu fördern, wobei Religionswissenschaft als „critical, analytical and cross-cultural study of religion, past and present“ beschrieben wird. Ausdrücklich wird festgehalten: „The IAHR is not a forum for confessional, apologetical, or other similar concerns“. Derzeit besteht die IAHR aus 42 nationalen, sechs regionalen und vier affiliierten Gesellschaften. Alle fünf Jahre richtet die IAHR einen Weltkongress aus. Die ersten religionsgeschichtlichen Kongresse gehen an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. So wurde in Paris 1900 im Rahmen der Weltausstellung der Premier Congrès International d’Histoire des Religions abgehalten – eigentlich als Ersatz für den nicht zustande gekommenen 2. Weltkongress der Religionen a la Chicago 1893. Im Gegensatz dazu propagierte man Religionswissenschaft als moderne Methode. Jean Réville stellt die Frage: „Is not the science of religions the real modern theology, and that destined to take the place of the ancient theology, which was limited to Judaism and Christianity and founded upon the supernatural?“ (Réville 1900: 273) Eine Vorstellung von den Themen und Problemen der internationalen Religionswissenschaft lässt sich anhand der sechs Weltkongresse gewinnen. Generalthema in Amsterdam war „The Mystic-Ritual Pattern in Civilisation“ – eine Problematik, bei der skandinavische Religionswissenschaftler führend waren, die dieses „Pattern“ als grundlegend im ganzen Nahen Osten betrachteten. Bis in die 1960er Jahre blieb die Thematik Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Auch der Kongress in Rom (1955) war historisch orientiert, und sein Generalthema „Sacral Kingship“ hing eng mit dem Amsterdamer Thema zusammen. Aus der Rückschau müssen die Kongresse in Tokio (1958) und Marburg (1960) zusammengesehen werden. In Tokio ging es um „Religion and Thought in East and West. A Century of Cultural Exchange“. Hier trafen diametral entgegengesetzte Auffassungen von Religion/en und der Aufgabe der Religionswissenschaft aufeinander: Während westliche Gelehrte Religion objektiv analysieren wollten, betrachteten ihre östlichen Kollegen die Religion/en als Lebensgrößen, sahen ihre spirituellen Dimensionen. Die Herausgeber des Tagungsbandes von Tokio platzierten Heilers Ansprache an den Anfang des Tagungsbandes, in der dieser die Aufgabe des Faches als „a way to Unity of Religions“ definierte. Auf dem Marburger Kongress (1960) wurde die durch Heilers Position verursachte Verstimmung vieler Tagungsteilnehmer deutlicher artikuliert. Heiler benutzte den Kongress, um für seine theologische Lieblingsidee zu wer-

Amsterdam

Tokio, Marburg

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17. Religionswissenschaft im Spiegel der internationalen Tagungen (1950–1970)

Religionswissenschaft als „anthropological discipline“

ben: Religionswissenschaft als Grundlage für eine Verständigung, ja Einigung der Religionen. Diese Ansicht erregte bei vielen Kongressteilnehmern Widerstand; denn IAHR-Kongresse wurden nicht als angemessener Ort für derartige (theologische) Positionen gesehen. Bleeker hielt ein Grundsatzreferat über „Die Zukunftsaufgaben der Religionsgeschichte“, das er nicht als Diskussionsgrundlage verstanden wissen wollte. Er wollte damit die weitere Diskussion fördern. Den Stein ins Rollen brachte der israelische Religionshistoriker R.J.Zwi Werblowsky (geb.1924), der zusammen mit 16 Kollegen ein Manifest formulierte, das aus fünf „basic minimum presuppositions“ bestand. Punkt 1 definiert als Ziel des Faches „a better understanding of the nature of the variety and historic individuality of religions“. Punkt 2 verortet das Fach als Zweig der „Humanities“ als „anthropological discipline“. Religiöse Phänomene werden „like all human facts“ analysiert. Aussagen über den absoluten Wert der Religion seien für die Religionswissenschaft nicht möglich. Punkt 3 wehrt die Auffassung ab, dass „the value of religious phenomena can be understood only if we keep in mind that religion is ultimately a realization of a transcendent truth“. Punkt 4 sieht den Sinn religionswissenschaftlicher Forschung in sich selbst, nicht aber in der Verfolgung anderer Ziele (z.B. Dialog). Punkt 5 unterstreicht, dass die Verfolgung gewisser Ideale (u.a. nationale, internationale, gesellschaftliche, spirituelle) jedem privat überlassen bleibe und nicht den Charakter der IAHR beeinflussen oder färben dürfe (Schimmel 1960: 236f.). Das von vielen nicht akzeptierte Manifest war dann auch nicht Bestandteil des offiziellen Kongressberichts.

18. Religionswissenschaft in der Schweiz Die Arbeiten des evangelischen Theologen, Missionsmannes und Mystikspezialisten Carl-Albert Keller (1920–2008), der von 1966–1987 „Professeur de science des religions“ in Lausanne war, sollen hervorgehoben werden, weil manche Ansichten dieses Gelehrten quer zum gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Mainstream stehen. Keller kritisierte, dass „die teilnehmende Beschäftigung mit eventuellen ,jenseitigen‘ Dimensionen des Seins, mit dem Transzendenten, mit der Annäherung und dem Erleben des ,Göttlichen‘ (…) der grundsätzlich einer bestimmten Weltanschauung verhafteten und verpflichteten Theologie vorbehalten (sei). Solche Theologie stehe mit der universal orientierten Religionswissenschaft in unversöhnlichem Zwist“. Für Keller war „mystische Religion erlernbar“. Bloße Einfühlung genüge nicht; denn der Forscher „wird die religiösen Autoren bis zum Schluss ernst nehmen. (…) Der ernsthaft ums Verstehen bemühte Religionswissenschaftler wird es nicht verschmähen, selber, als Schüler der Meister, mit mystischer Religiosität Experimente zu machen“ (Keller 1997: 87). Seit 1980 war der Theologe und Orientalist Fritz Stolz (1942–2001) als Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Religionsgeschichte und Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät in Zürich tätig. Stolz forschte über die Religionsgeschichte Israels und des Alten Orients und analysierte „Weltbilder der Religionen“ (2001). Insbesondere beschäftigte er sich mit Reflexionen über Theorien und Methoden der Religionswissenschaft, mit dem religionsgeschichtlichen Vergleich und den Beziehungen zwischen Theologie und Religionswissenschaft. In seiner Einführung, die alle grundlegenden Aspekte behandelt, führte Stolz die seither viel diskutierte Unterscheidung des Durchdenkens der Religion „von außen“ (Religionswissenschaft) und „von innen“ (Theologie) ein. Ausgewählte Beiträge enthält der Sammelband „Religion und Rekonstruktion“ (hg. von Daria Pezzoli-Olgiati 2004).

Religionswissenschaftler als Schüler mystischer Meister

„Durchdenken der Religion von innen“ (Theologie) – „Durchdenken der Religion von außen“ (Religionswissenschaft)

19. Religionswissenschaft in den USA 19.1 Die Anfänge im 19. Jahrhundert

Transzendentalisten, Unitarier

Zwei Wegbereiterinnen der Religionswissenschaft

Fremde Religionen weit entfernter Länder hatten für die amerikanische Gesellschaft im 18./19. Jh. keine konkrete Bedeutung. Die religiöse Erfahrung der Nordamerikaner war von weitgehender Toleranz zwischen den gleichberechtigten Denominationen geprägt. Auseinandersetzungen gab es allenfalls zwischen Protestanten und Katholiken und zwischen Christen und Juden. Die neue vergleichende Methode übte einen erheblichen Einfluss auf Theologen, Philosophen, Philologen, Historiker, Ethnologen aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. setzten sich viele Transzendentalisten für das Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft ein. Zu den Wegbereitern der Comparative Religion in den USA zählen zwei Frauen aus liberal-protestantischem, unitarischem Milieu. Hannah Adams (1755–1832) veröffentlichte 1784 ihr dreiteiliges Hauptwerk „View of Religious Opinions“ (ab der 4. Auflage „Dictionary of Religions“). Dieses erfolgreiche Kompendium betrachtete die Religionen aus ihrer jeweils eigenen Perspektive. Adams strebte durchweg Unparteilichkeit an. Eine zweite Vorreiterin war Lydia Maria Child (1802–1880), die dem Transzendentalismus nahe stand. Sie gehörte zu den vielseitigsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit, kämpfte im Geist der Aufklärung für die Rechte von Sklaven, Indianern und Frauen, schrieb Romane, Ratgeberliteratur, Essays, Biographien, eine zweibändige internationale Frauengeschichte. Child trat für Toleranz und Internationalität ein „und näherte sich, ihrer Zeit weit voraus, einer Position des Kulturpluralismus“ (Opfermann 2000: 135). An ein allgemeines Publikum richtete sie ihr religionsgeschichtliches Hauptwerk „The progress of religious ideas. Through successive ages“ (3 Bde.). Child wollte fremde Religionen „with reverence“ so darstellen, wie sie den „intelligenten“ Gläubigen selbst erscheinen. Seit der Mitte des 19. Jh. mehrten sich Veröffentlichungen zu Weltreligionen und Religionswissenschaft. Aus einem methodistischen Seminar entstand durch den Einsatz von William Fairfield Warren (1833–1929) die Boston University, an der Religion in einem nicht-konfessionellen Sinn von Anfang an fester Bestandteil war. Der Methodist Warren war erster Acting President of Boston Theological School, seit 1873 zugleich erster Lehrstuhlinhaber für „Comparative Theology and Philosophy of Religion“. Die Universität Boston war wohl die erste Hochschule in den USA, die regelmäßig Vorlesungen über Religionen anbot – gehalten von bedeutenden Gelehrten verschiedener Religionstraditionen. Warren interessierte sich sehr für die Beziehungen des Christentums zu anderen Religionen und war von der Einheit der Religionen überzeugt. 1867 übernahm der Transzendentalist und unitarische Theologe James Freeman Clarke (1810–1888) an der Harvard Divinity School den Lehrstuhl für „Natural religion and Christian doctrine“ und wurde später „Professor of

19.1 Die Anfänge im 19. Jahrhundert

Ethnic Religions and the Creeds of Christendom“. Seit 1876 hielt er Vorlesungen über vergleichende und historische Religionswissenschaft. In seinem viel gelesenen „Ten Great Religions. An Essay in Comparative Theology“ (Boston 1871; Bd. 2: 1883; 30. Auflage 1893) thematisierte er Ursprung und Entwicklung der Religionen, behandelte Schlüsselkonzepte wie Gott, Mensch und Heil. Es ging ihm um ein Verständnis der Religionen, zugleich auch um die „Einheit der Religion“. 1881 zog Princeton mit dem Lehrstuhl „Relations of Philosophy and Science to Christianity“ nach. An der University of the City of New York (später New York University) übernahm 1890 Frank Field Ellinwood (1826–1908) den Lehrstuhl für „Comparative Religion“. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der „American Society of Comparative Religion“ (1890). 1882 berief die Cornell University einen Professor für „History and Philosophy of Religion and Christian Ethics“, und in Harvard übernahm der presbyterianische Theologe George Foot Moore (1851–1931) im selben Jahr den Lehrstuhl für „History of Religions“. Ein Department of Comparative Religion entstand im Jahr der Gründung der Universität Chicago (1892). George Stephen Goodspeed (1860–1905) war der erste Lehrstuhlinhaber für „Ancient History and Comparative Religion“ (1898). Ein halbes Jahrhundert später erhielt diesen Lehrstuhl als vierter Inhaber Joachim Wach. An der Brown University wurde ebenfalls 1892 ein Lehrstuhl für „Natural Theology“ errichtet. Im selben Jahr wurden die „American Lectures on the History of Religions“ ins Leben gerufen, wobei die Universitäten Baltimore, Boston, Brooklyn, Chicago, New York, Philadelphia u.a. zu den Gründungsmitgliedern gehörten. In den 1890er Jahren begannen die jährlichen Haskell- und dreijährlichen Barrows-Lectures. Die „American Oriental Society“ schuf 1897 eine Sektion für „historical study of religions“, und 1899 errichtete das Union Theological Seminary einen Lehrstuhl für „Philosophy and History of religions“. Das „Weltparlament der Religionen“ (1893) in Chicago übte einen beachtlichen Einfluss nicht nur auf die US-amerikanische Religionsszene aus, sondern auch auf die Religionswissenschaft. Die Ziele des Weltparlaments nach religiöser Einheit verschmolzen in den Augen vieler mit denen des Faches Comparative Religion. So erlebte das Fach an zahlreichen Colleges und Universitäten mit erziehungswissenschaftlichem Schwerpunkt einen Aufschwung. Auch stieg das Interesse der Kirchen am Fach, und im Rahmen der Missionarsausbildung wurden religionswissenschaftliche Lehrveranstaltungen empfohlen. Bis Mitte der 1930er Jahre förderte eine religiös-liberale Grundstimmung die Beschäftigung mit Religion/en und Religionswissenschaft. Institutionell hatte die Religionswissenschaft an US-amerikanischen Universitäten keinen leichten Stand, weil in Schulen, Colleges und Universitäten kein durch öffentliche Mittel geförderter Unterricht in „Religion“ erteilt werden durfte. Die von den einzelnen Denominationen organisierten Institutionen hätten zwar diese Möglichkeit gehabt, doch war die zeitgenössische amerikanische Theologie an Religionen nicht besonders interessiert.

„World Parliament of Religions“ (1893)

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19. Religionswissenschaft in den USA

19.2 Die „Chicago School of History of Religions“ Zu dieser wirkmächtigen Schule werden Joachim Wach, Mircea Eliade, der aktiv in der Episkopalen Kirche engagierte Joseph Mitsuo Kitagawa (1915–1992) und der Wach-Schüler Charles H. Long (geb. 1936) gezählt. Im Mittelpunkt standen Fragen nach dem Verstehen, der Interpretation, dem Sinn religiöser Symbole und der Bedeutung der eigenen Religiosität für den Forscher. 1961 gründete Eliade die Zeitschrift „History of Religions“ und präsentierte im ersten Heft sein Manifest „History of Religions and a new Humanism“ (Eliade 1961: 1–8). Eliades Ziel war nicht die reine Forschung, vielmehr drängte es ihn danach, eine „Botschaft“ zu verkünden. In seinem Manifest, das sich auch als Gegenentwurf zu den fünf Punkten des Marburger Kongresses von 1960 lesen lässt, entwickelte er eine dialogische Ausrichtung der Religionswissenschaft, setzte sich für die „Pflicht zum Humanismus“ ein. Damit gehörte Eliade neben Otto, Mensching, Benz und Cantwell Smith zu den Wegbereitern einer Praktischen Religionswissenschaft. Nach Frans Wijsen (2013: 179f.) zählt ganz wesentlich auch C. P. Tiele dazu. 19.2.1 Joachim Wach Wach lehrte an der Brown University (1935–39) als Associate Professor of Biblical Literature (1939–46), schließlich folgte er dem Ruf nach Chicago, wo er bis zu seinem Tode (1955) wirkte. In seinem amerikanischen Exil wurde die religiöse Erfahrung für Wach zum hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis religiöser Phänomene. Sein postum veröffentlichtes Werk „The Comparative Study of Religions“ („Vergleichende Religionsforschung“, 1962) verband Einsichten und Methoden von Religionswissenschaft, Religionsphilosophie und Theologie. Sah der frühe Wach die Aufgabe seiner Wissenschaft in der Erforschung und Darstellung der empirischen Religionen – also als nicht-normative, beschreibend-verstehende Wissenschaft, deren Aufgaben in der historischen und systematischen Bearbeitung der konkreten Religionen lagen –, so verzichtete der späte Wach auf diesen empirischen Anspruch. Religionswissenschaft wurde eine Glaubenswissenschaft, eine Art historische Theologie mit normativem Anspruch. In den USA wird Joachim Wach bis heute als einer der „Väter“ der Disziplin sehr geschätzt. Zusammen mit Gustav Mensching zählt man ihn zu den „Klassikern der Religionssoziologie“. Bereits vor seiner Emigration hatte Wach eine „Einführung in die Religionssoziologie“ (1931) herausgebracht, der 1944 eine umfangreiche typologische, von Max Weber, Gerardus van der Leeuw und Ernst Troeltsch beeinflusste „Religionssoziologie“ folgte. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde dieses Werk zurückhaltend rezipiert. 19.2.2 Mircea Eliade Künstler und Wissenschaftler

Der Künstler und Wissenschaftler Eliade verhalf der Religionswissenschaft weltweit zu größter Popularität. Als er nach Chicago kam, so bemerkte er, gab es in den USA drei bedeutende Lehrstühle. 20 Jahre später waren es 30, von denen die Hälfte der Inhaber seine Schüler waren (Pals: 196).

19.2 Die „Chicago School of History of Religions“

In seinem Klassiker „Die Religionen und das Heilige“ (Eliade 1949, 1954) thematisierte er keine konkreten Religionen, sondern „Elemente der Religionsgeschichte“. Eliades methodisches Prinzip: „Ein religiöses Phänomen [wird] sich nur dann als solches offenbaren, wenn es in seiner eigenen Modalität erfasst, wenn es also unter religiösen Maßstäben betrachtet wird. Ein solches Phänomen mittels der Physiologie, der Psychologie, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, der Sprachwissenschaft, der Kunst usw. einzukreisen, heißt, es leugnen“ (Eliade 1954: 11). Religion war für Eliade auch eine soziale, sprachliche usw. Angelegenheit: „Trotzdem wäre es vergeblich, die Religion aus einer dieser – zuletzt nur menschlichen – Funktionen zu erklären. Für die Erklärung von Religion sind sie somit (…) belanglos“. (12) Mittelpunkt von Religion/en sind „Hierophanien im weitesten Verstande des Wortes“. Eliade untersuchte kosmische, biologische Hierophanien („jedes Beliebige, in dem sich Sakrales manifestiert“, 13), solche von Ort und Zeit. Er analysierte die Bedeutung von heiligem Raum (Symbolismus der „Mitte“ der Welt) anhand von Häusern, Tempeln, Städten usw. Diese werden vom Menschen „entdeckt“, dienen ihm als „fester Punkt“ zur „Orientierung“ in der umgebenden „chaotischen Homogenität“. Heilige Räume sind geweihte Räume, wobei Eliade die Weihe als Wiederholung der Schöpfung versteht; denn heilige Räume liegen für die Gläubigen stets im „Zentrum der Welt“. Viele Bilder drücken die Verbindung mit dem Himmel aus: Säule, Leiter, Berg und Baum sind solche Symbole für die „Weltenachse“ (axis mundi). Wenn Städte gegründet, heilige Stätten errichtet, Wohnhäuser gebaut wurden, wiederholten solche „Gründungen“ die Schöpfung. Heilige Zeit verläuft „parallel“ zur chronologischen, ist aufgrund ihrer Kontinuität nur scheinbar von profanen Intervallen unterbrochen. Nach Eliade gibt es keine Zeit ohne Mythen. Viele Mythenmotive sind im Laufe der Zeit „abgesunken“, leben als Balladen, Legenden, Romane, Ideologien, Produkte der Massenkommunikation fort. Mit großem Sendungsbewusstsein wies Eliade dem Religionshistoriker eine Schlüsselrolle beim Verstehen der gegenwärtigen geistigen Situation zu. Sein Programm der „totalen Hermeneutik“ bestand darin, „jede Art des Zusammentreffens des Menschen mit dem Heiligen von den prähistorischen Zeiten bis zur Gegenwart zu entziffern und zu erklären“. In der im üblichen Wissenschaftsbetrieb vorherrschenden Selbstbeschränkung auf „fragmentarische, analytische Forschung“ sah Eliade einen erbärmlichen Verlust an Kreativität. Eliade wollte die nichteuropäischen, insbesondere indischen, auch archaischen Religionsinhalte in „geistige Botschaften“ für heute verwandeln. Man hat Eliade vorgehalten, zu stark zu verallgemeinern. Ethnologen beanstandeten seinen Mangel an Empirie. Sein Schamanismus-Werk wurde kritisiert, weil Eliade keine Feldstudien „vor Ort“ betrieben hätte. Zu seinen bekanntesten Kritikern zählte der englische Sozialanthropologe Sir Edmund Leach (1910–1989).

Hierophanien in Raum und Zeit

„totale Hermeneutik“

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19. Religionswissenschaft in den USA

19.3 Clifford Geertz

Religion als Symbolsystem

In der Anthropologie (Burkard 2005) wurde das lange vorherrschende Evolutionsschema durch Neuorientierungen abgelöst. So übertrug der französische Anthropologe Claude Levi-Strauss (1908–2009) die aus der stukturalen Linguistik stammenden Modelle auf nicht-sprachliche Bereiche. Zu den wichtigsten Vertretern der Ethnologie in den USA zählte Clifford Geertz (1926–2006), dessen Ansatz insbesondere in Religionswissenschaft und Theologie rezipiert wurde. Das vom Menschen selbst gesponnene Gewebe „Kultur“ war für Geertz seinem Wesen nach unvollständig, die Suche nach einem letzten Grund daher sinnlos. Er entwickelte eine komplexe Definition von Religion: „Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen (Geertz 1983: 47). Als unzulänglich gelten Auffassungen von Religion, die diese lediglich im Inneren des Menschen ansiedeln oder als ideologisches System begreifen. Religion ereignet sich im Zwischenraum von Innerem und Äußerem, zwischen Person, Kultur und Gesellschaft. Ethische, praktische, kognitive sowie emotionale und ästhetische Dimensionen des religiösen Prozesses werden so miteinander verbunden. „Kultur als Text“ – so lautete unter Rückgriff auf den französischen Philosophen Paul Ricoeur (1913–2005) – das Erklärungsmodell. Ricoeur hatte gezeigt, dass sich Handlungen wie Texte lesen lassen. Geertz teilte das seit Bronislaw Malinowski (1884–1942) geltende Axiom, dass die Rekonstruktion von Bedeutungszuschreibungen „aus der Perspektive der Eingeborenen“ erfolgen müsse. Geertz’ Fokus richtete sich u.a. auf Zeichen- und Symbolsysteme, auf die symbolische Bedeutung von Dingen und Handlungen, die er als essentielle Bestandteile von Kulturen betrachtete. Sein Erfolg gründete sich in erster Linie auf einige zwischen 1973 und 1983 geschriebene Essays. (Geertz 1973, 1983). In ihnen reflektierte er zentrale Probleme der Sozialwissenschaft im Allgemeinen und der Ethnologie/ Kulturanthropologie im Besonderen. Geertz’ wohl am meisten rezipiertes Werk ist „The Interpretation of Cultures“ mit dem Aufsatz „Dichte Beschreibung“. Es ist die Aufgabe einer ,wissenschaftlichen Kulturphänomenologie‘, nach den Bedeutungen für den Handelnden zu suchen. Es genügt nicht, äußere Tatsachen zu beobachten, zu registrieren.

20. Religionswissenschaft in Kanada In den 1940er Jahren bot ein einziges College in den atlantischen Provinzen Religionswissenschaft an. Als sich zu Beginn der 1970er Jahre in Nordamerika die „religious studies departments“ zum „fastest-growing graduate field at secular universities“ (Time Magazine vom 18. 10. 1971: „The Boom in Religious Studies“) entwickelten, begannen kanadische Forscher eine größere Rolle zu spielen. Robert L. Slater (1896–1984) setzte sich für eine dialogische Religionswissenschaft ein. Bereits 1951 gründete Wilfred Cantwell Smith (1916–2000) das Institute of Islamic Studies an der McGill University in Montreal. Hier waren die Hälfte der Lehrkörper und Studierenden Muslime, und hier drehte sich alles um die Ost-West-Begegnung. Smith lehrte dort eine Zeit lang mit Slater zusammen. Bahnbrechend war Cantwell Smiths Aufsatz „Vergleichende Religionswissenschaft: Wohin – Warum?“ (Eliade 1963). Im Fokus seiner Überlegungen standen nicht Religionssysteme, sondern der Glaube konkreter Menschen. „Es kann kein religionswissenschaftliches Untersuchungsergebnis Gültigkeit besitzen, wenn es nicht von den Anhängern der betreffenden Religion anerkannt werden kann. (…) Wenn den eigenen Glauben der Gläubige in der Darstellung des Wissenschaftlers nicht wiedererkennen kann, ist es nicht sein Glaube, der dargestellt wurde“ (Smith 1963: 87). Cantwell Smiths Religionswissenschaft war praxisorientiert, und Religionswissenschaftler – nicht nur Theologen und Gläubige – sollten an Dialogen teilnehmen, „deren Ziel es ist, gegenseitiges Verstehen und gegenseitige Freundschaft und Zusammenarbeit zu erzielen“ (87). Der Religionswissenschaftler kann in verschiedene Rollen schlüpfen, kann Mittler, Dolmetscher, ehrlicher Makler, Aufklärer sein. Kritiker warfen Cantwell Smith vor, prinzipiell unzugängliche persönliche religiöse Erfahrungen zu begünstigen, wenn er den „Glauben“ der Menschen in den Mittelpunkt stellte. Postkoloniale Kritik argumentierte gegen seinen Ansatz, dass die vom Wissenschaftler ausgewählten Indigenen keine authentischen Zeugen wären; denn die Natives wären längst vom europäischen Denken infiziert. Auch der personalisierende Ansatz – für viele ein methodischer Befreiungsschlag – , kam nicht ungeschoren davon; denn der öffentliche Aspekt von Religion werde dadurch ein religionswissenschaftlich blinder Fleck.

Praxisorientierung

21. Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich

Shap Working Party

Erst 1905 wurde innerhalb des neu gegründeten Department of Theology (London) ein Lehrstuhl für „Comparative Religion“ errichtet und mit dem Pali-Gelehrten Thomas William Rhys Davids (1843–1922) besetzt. Dieser hatte schon 1882–1904 an derselben Institution gelehrt – ohne festes Gehalt. Bis in die frühen 1960er Jahre war die Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich nur an drei Zentren vertreten (Manchester, Leeds, London) und wurde meist von Spezialisten einzelner Religionen oder Theologen gelehrt. Neben dem archäologisch und ethnologisch ausgerichteten Theologen Edwin Oliver James (1888–1972) wirkte der anglikanische Geistliche und Bibelwissenschaftler Alan Coates Bouquet (1884–1976) als Lecturer in History and Comparative Study of Religions (Cambridge). Bouquet sah die Gefahren religionswissenschaftlicher Arbeit darin, Religionen bloß wie tote Insekten und gepresste Blumen zu sammeln. Dadurch verlören sie ihre Farben und Realität: „The only tolerable way of engaging in the work is to let one’s self be enthralled by man’s ceaseless quest for something supernatural and eternal which the ordinary life of this world will never give him, and to try to put one’s self into the place of those who are obviously enthusiasts for a religion which is not one’s own“ (Bouquet 1967: 25f.). Einige britische Religionswissenschaftler der Nachkriegszeit hatten einen afrikanistischen Schwerpunkt, waren zum Teil Missionare und hatten an afrikanischen Universitäten gelehrt. Einflussreich war der produktive, insbesondere über afrikanische Religionen arbeitende Edward Geoffrey Simons Parrinder (1910–2005). Sein Werk „What World Religions Teach Us“ (1968) entwickelte sich zu einem Bestseller. Der liberale Methodist Parrinder war 19 Jahre Missionar in Afrika (bis 1946) und wirkte seit 1959 am King’s College London. Er war Gründer und Ko-Präsident der für die englische Religionspädagogik hochbedeutsamen „Shap working party“. Religionswissenschaft war für Parrinder eine religiöse Angelegenheit, und er hielt persönlichen Glauben für erkenntnisfördernder als Agnostizismus. Parrinders Nachfolger als Präsident der British Association for the History of Religion war Andrew Walls (geb.1928), Missionswissenschaftler und bedeutender Kenner des Christentums in Afrika. Ein britischer Religions- und Missionswissenschaftler mit langjährigen Erfahrungen in Schweden und USA war Eric John Sharpe (1933–2000), von dem eine viel gerühmte Geschichte der Religionswissenschaft stammt (Sharpe 1975). Bereits mit Methodenfragen beschäftigte sich der meist über Buddhismus arbeitende Trevor Ling (1920–1995) in Leeds, später Manchester. Herausragende Bedeutung in der englischsprachigen Welt hatte der Schotte Ninian Smart (1927–2001). 1967 wurde er Gründungsprofessor am neuen „Department of Religious Studies“ (Lancaster), das erste seiner Art in

21. Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich

England. Kontroversen entstanden, weil Smart bestimmte, dass der Lehrstuhlinhaber „might be ,of any faith or none‘“. Seit den späten 1960er Jahren setzte sich Smart dafür ein, den traditionellen Religionsunterricht zu reformieren. Seine Vorschläge erlangten fast dogmatische Gültigkeit. Smart zog das Wittgenstein’sche Modell der „Familienähnlichkeit“ zum Verständnis von Religion/en heran. Mit diesem Begriff demonstrierte der österreichischbritische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951), dass sich keine allgemeinen Merkmale für alle Sprachen, Spiele und Sprachspiele angeben ließen. Einige Spiele hätten gemeinsame Merkmale, mit anderen jedoch überhaupt keine. Daraus folgte, dass „familienähnliche“ Begriffe keine „universalen“, für alle Beispiele gemeinsam zutreffenden Merkmale enthielten. „Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele“ – die Familie Spiele – sind über so genannte Familienähnlichkeiten miteinander verwandt. In „The Religious Experience“ (1969) entwickelte Smart ein Sechs-Dimensionen-Modell von Religion/en, das er im Laufe der Zeit auf acht erweiterte: 1. ritual or practical; 2. doctrinal or philosophical; 3. mythic or narrative; 4. experiential or emotional; 5. ethical or legal; 6. organisational or social. Später ergänzte er dieses Modell um weitere Dimensionen: 7. artistic or material (= Architektur, Kunst, Musik); 8. political and economic as supplementary dimensions. Smarts Religionswissenschaft besaß eine praktische Dimension; denn es ging ihm um „cross-cultural understanding“. Seine Idee, eine „World Academy of Religion“ (WAR) aus Wissenschaftlern und Religionsvertretern zu gründen, führte zu heftigen Auseinandersetzungen. Manche sahen in dieser Zielsetzung eine unerlaubte Vermischung von Religion und Religionswissenschaft, betrachteten Smarts Gedanken als „Kriegserklärung“ an die „scientific community“. Das Werk des schottischstämmigen Ethnologen Victor W. Turner (1920–1983), vor allem seine Forschungen über Pilgerreisen (Mexiko, Brasilien, Irland) und Rituale (vor allem im heutigen Sambia), erwiesen sich als sehr einflussreich für die Ethnologie und Religionswissenschaft der letzten Jahrzehnte. Turner knüpfte an van Genneps Ritualtheorie an, beschäftigte sich insbesondere mit dem Phänomen der „liminality“ (Zwischenphase bei van Gennep) und der dort entstehenden „communitas“ mit ihren aufgehobenen Sozialstrukturen, die dazu führen, dass sich alle Menschen (zum Beispiel Pilger in Mekka) als gleich empfinden.

Sprachspiele, Familienähnlichkeit, Dimensionen der Religion/en

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22. Religionswissenschaft in Japan

Religionswissenschaftliche Pioniere

Vielen Geschichten der Religionswissenschaft liegt ein eurozentrischer Blickwinkel zugrunde, wenn sie das Fach als westliches, damit allen anderen überlegenes Aufklärungsprodukt begreifen. Dass die Abgrenzung von Religion als eigener Bereich innerhalb von Kultur nicht ausschließlich europäischem Denken entsprang, wie Vertreter einer „europäischen Religionsgeschichte“ meinen, zeigen Beispiele aus dem japanischen und buryatmongolischen Raum. Im Folgenden wird keine Geschichte der japanischen Religionswissenschaft geboten, sondern auf ihre Anfänge und die Abgrenzungsthematik geblickt. Der keiner religiösen bzw. philosophischen Schule zugehörige japanische Philosoph und Kaufmann Tominaga Nakamoto (1715–1746) war einer der frühesten asiatischen Historiker, die sich mit der Buddhismusgeschichte beschäftigten. Auch mit Konfuzianismus und Shinto setzte er sich differenziert auseinander. Früher als westliche Gelehrte erkannte er, dass nur ein kleiner Teil der tradierten Buddhaworte auf Siddharta Gautama selbst zurückgingen. Nakamoto schrieb nicht als Beteiligter, sondern nahm eine religionswissenschaftliche Perspektive ein: „Ich bin kein Anhänger des Konfuzianismus, kein Anhänger des Daoismus und kein Anhänger des Buddhismus“ (zitiert bei Radke 2003: 138). Im Kontext einer Christenverfolgung (1867) tauchte wohl der Begriff shu¯kyo¯ für „Religion“ in Japan auf (Kleine 2013: 258), und wohl 1884 wurde erstmalig shu¯kyo¯ aku für „Religionswissenschaft“ im heutigen Sinne gebraucht. In den späten 1880/90er Jahren fanden an mehreren Bildungsinstitutionen religionswissenschaftliche Vorlesungen statt. Das Entstehen der neuen Disziplin wurde durch das Chicagoer Weltparlament der Religionen (1893) und durch christlich-universalistische Einflüsse gefördert. Die beiden religionswissenschaftlichen Pioniere waren der in seiner Jugend kongregationalistischer Christ gewordene Nobuta Kishimoto (1865–1928) und der Nichiren-Buddhist Masaharu Anesaki (1873–1949). Durch sein Studium an der Harvard Divinity School geriet Kishimoto unter universalistischen Einfluss. 1893 hielt er eine Rede auf dem Weltkongress, und nach seiner Rückkehr wurde der 29-Jährige Lecturer für Comparative Religion. Seine Vorlesungen am Senmon College erschienen 1895 als kleines Buch „Shukyo no hikakuteki kenkyu“ (The comparative study of religion). Nach seinem Studium an der Kaiserlichen Universität Tokio ging Anesaki nach Europa (1900–1903) und studierte bei den Indologen Paul Deussen, Hermann Oldenberg, Richard Garbe und in England bei Thomas William Rhys Davids. 1905 erhielt Anesaki den neu eingerichteten Lehrstuhl für Religionswissenschaft. Zusammen mit anderen gründeten Kishimoto und Anesaki 1896 die „Association for Comparative Religion“ (hikaku shukyo gakkai) und veranstalteten 24 Treffen bis 1899, als sich die Studiengruppe wegen einer längeren Studienreise Anesakis nach Deutschland auflöste. Die interreligiös besetzte Studiengruppe „diente ausschließlich dem

21. Religionswissenschaft im Vereinigten Königreich

Vergleich und der Erklärung religiöser Phänomene. Sie verfolgte ein rein wissenschaftliches Interesse“ (Schrimpf 2000: 143–147). Anesaki erhielt 1905 den ersten Lehrstuhl für „Religious Studies“ an der (Kaiserlichen) Universität Tokio. Im mongolischen Raum des 17./18. Jh. lagen auch „Anfänge einer komparatistischen Wissenschaft von Religion/en (mong. shashin). Dort kam es zur „Ausdifferenzierung eines autonomen Bereichs ,Religion‘“ (Kollmar-Paulenz). Die Chroniken berichteten nicht nur vergleichend über das Christentum. In einer Chronik (Toboyin/Toboev) wurde diskutiert, ob man die ,Lehre der Schamanen‘ tatsächlich in die Kategorie ,shashin‘ einordnen könnte, da wesentliche Merkmale, die diese Ordungskategorie ausmachten, wie die Soteriologie (der Autor geht vom Buddhismus als Standardmodell für ,shashin‘ aus) fehlten“.

Anfänge vergleichender Religionswissenschaft im mongolischen Raum

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23. Ausblick Mit dem Niedergang westlicher Dominanz über die Kolonien und der davon beeinflussten christlichen Mission verschob sich das christliche Gravitationszentrum vom Westen in die nicht-westlichen Gebiete der Weltkirche. In den einst kolonisierten Weltregionen brachen sich religiöse Renaissancebewegungen Bahn. Industrialisierung, Landflucht und Verstädterung hatten neue Formen der „Lebensführung“ (Max Weber) zur Folge. Die Zunahme der Weltbevökerung, die globale Erwärmung, begrenzte Energieressourcen, Zerstörung der Ozonschicht usw. zogen Umweltverschmutzung nach sich, was seit den frühen 1970er Jahren religionsökologische Ansätze in Gang setzte (Club of Rome). Seit Beginn der 1960er Jahre erhielt der Diaspora-Begriff positive Aspekte: Freiwillige oder unfreiwillige Migrationen (Vertreibung) führten dazu, die Religionsweltkarte zu verändern. Die wohl auf die 1960er Jahre zurückgehende Begriffsbildung Globalisierung und das seit Mitte der 1980er Jahre stark zunehmende Interesse daran, gilt auch im Bereich der Religion/en.

23.1 Globale Auswirkungen auf die Religionswissenschaft

Expansion und Pluralisierung der Religionswissenschaft

Für die Ausbreitung und Internationalisierung der Religionswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sind diverse begünstigende Momente verantwortlich: u.a. der enorme Bevölkerungszuwachs von 1950–1999 von 2,5 Milliarden auf über sechs Milliarden Menschen. Weltweit wirkte sich diese Zunahme auf die personelle Verstärkung der Religionswissenschaftler aus. Die in vielen Ländern erfolgte soziale Öffnung der Hochschulen als Grundlage der Demokratisierung von Bildung und Wissenschaft trug dazu bei, religionswissenschaftliche Lehrstühle, Institute, Departments, Centres usw. weltweit zu vermehren. Angewachsen sein dürfte auch die Zahl der Studentinnen und Professorinnen. Neue Berufsfelder für Religionswissenschaftler über die Bereiche Wissenschaft, Lektorat und Bibliothek hinaus waren eine Folge. Auch neue technologische Entwicklungen beeinflussten das Studium der Religion/en: In den 1950er Jahren überquerten Passagierflugzeuge den Atlantik, Düsenflugzeuge ersetzten Propellermaschinen. Im Europa der 1970er Jahre wurden Flugreisen demokratisiert, nicht länger bediente sich nur der Jet-Set dieses Beförderungsmittels. Seit 1958 gab es Kommunikationssatelliten in den USA, und 1962 wurde der erste Fernsehsatellit zur Übertragung zwischen Japan, USA und Europa genutzt. Ab den 1970er Jahren wandten sich europäische Staaten der Nachrichtenübertragung per Satellit zu. Die „Welt“ wurde den Menschen nähergebracht, und auch für Religionswissenschaftler ergaben sich verlockende Kommunikationsmöglichkeiten. Politische Ereignisse (u.a. Vietnamkrieg, ca. 1955–1975) erhöhten das Interesse an der asiatischen Religionswelt. Weltweit geriet der Buddhismus

23.2 Paradigmenwechsel

in die Schlagzeilen, als sich ein vietnamesischer Mönch in Saigon verbrannte (1963). Der „Immigration Act“ (1965) förderte in den USA nachhaltig die Begegnung mit Asiaten, weil mehr Asiaten in die USA einwanderten. Die genannten Kriterien führten zu einer Expansion und Pluralisierung der Religionswissenschaft weltweit (Whaling 1995; Alles 2010: 39–41).

23.2 Paradigmenwechsel Die seit den 1970er Jahren entstandene Religionswissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass die Fachvertreter viel stärker als ihre Vorläufer Entwicklungen und Neuorientierungen in benachbarten Fächern rezipieren. Eine intensive Theorie- und Methodendiskussion war die Folge. Besaßen die durchweg christlich sozialisierten Vorgänger, die zum großen Teil sogar Theologie studiert hatten, immer auch ein „religiöses Interesse“ am Gegenstand – was kein Grund ist, sie als „religiöse Religionswissenschaftler“ zu etikettieren! –, so ist die „Tranzendenzoffenheit“ (Wolfgang Gantke) bei nachmodernen Fachvertretern weitgehend erodiert. Religiöses bzw. existentielles Interesse meint insbesondere auch Fragen nach Wahrheit einzelner Religionen bzw. der Religion. Unbestreitbar geht es Religion/en um „das was unbedingt angeht“ (Tillich). Dieses Kernthema wird heute ausgeblendet. Für die Mehrheit der Religionswissenschaftler ist Religion keine „eigene Provinz im Gemüte“ (Schleiermacher) mehr, nicht Sonder-, sondern Teilbereich von Kultur wie Recht, Moral, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Extreme Positionen lösen Religion und damit die Religionswissenschaft gar in einzelne Bestandteile auf, deren Bearbeitung dann verschiedene Fächer betreiben können. An die Stelle essentialistischer Religionsdefinitionen traten funktionalistische. Die berechtigte Kritik an einer a-historischen Religionsphänomenologie (v.a. van der Leeuw) hat zu einer weitgehenden Ablehnung dieser genuin religionswissenschaftlichen Forschungsausrichtung geführt. Religion wurde seit der Wendezeit erfreulicherweise stärker kontextualisiert, im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Religionen als autarke Systeme – gar die Religion im Singular –, nicht mehr religionstypologische Überlegungen, sondern (gelebte gegenwärtige) Religionen in ihren politisch-ökonomisch-ökologisch-sozialen Bezügen. Das Interesse an diesen Beziehungen zwang zur Aufnahme neuer, empirischer Methoden (Stichwort: ,qualitative Religionsforschung‘). Viele Religionswissenschaftler verstehen Religionswissenschaft als „Kulturwissenschaft“. Wohl seit dem Geertz’schen Aufsatz „Religion als kulturelles System“ (1966) kehrten viele von der Auffassung ab, dass die persönliche Erfahrung wesentlich für Religion/en und ihre Erforschung ist. Dementsprechend wuchs das Interesse an äußeren Gegebenheiten: Weltbild, Gemeinschaft, Handeln in Ethik und Ritual, Opfer usw.

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Personenregister Dieses Register enthält nicht die Autoren der benutzten Sekundärliteratur Abaelard, Petrus 23 Abbé Jean Antoine Dubois 36 Abignente, Filippo 102 Achelis, Thomas 68 Adams, Hannah 131 Adenauer, Konrad 116f., 122 Adorno, Theodor W. 118 Agricola, Mikael 105 Akbar 13 Albert, Karl 118 Albertus Magnus 23 al-Bı¯ru¯nı¯ 21, 22 Alexander der Große 17 al-Ghazali 22 Ali, Syed Ameer 105 al-Mas’udi 21 Andrae, Tor 107 Andres, Friedrich 93 Anesaki, Masaharu 139 Anglicus, Bartholomäus 25 Anselm von Canterbury 23 Archimedes 21 Aristoteles 10, 21, 42 Arnim, Achim von 58 Asch-Scharastani 21 Aufhauser, Johann Baptist 120 Augustinus 19 Austin, John Langshaw 118 Baaren, Theodorus Petrus van 101 Bach, Johann Sebastian 100 Bachofen, Johann Jakob 97 Bacon, Francis 41 Bacon, Roger 26f. Baeck, Leo 75, 76, 90 Baetke, Walter 111, 121 Bailey, Alice 90 Baldäus, Philippus 36 Bammel, Ernst 120 Bammel, Fritz 120 Barrows, John Henry 132 Barth, Karl 96, 119 Bartolomé de las Casas 35 Bauer, G.L. 59 Bentham, Jeremy 61 Benz, Ernst 112f., 120f., 123, 133 Bergengruen, Werner 108

Berger, Immanuel 49 Bergson, Henri 72 Bernard, Jean Frederic 46, 47 Bernardino de Sahagffln 35 Bertholet, Alfred 78, 100 Beth, Karl 120 Beuys, Joseph 118 Bianchi, Ugo 103 Bibliander, Theodor 34 Biezais, Haralds 106, 120 Bleeker, Claas Jouco 98, 101f., 128 Blickle, Peter 23 Bochart, Samuel 36 Bödeker, Hans Erich 10 Bodenschatz, Georg, Johann, Christoph 37 Bodin, Jean 32 Böhm, Johannes 30 Bollnow, Otto Friedrich 118, 122 Bolzano, Berhhard 12 Bopp, Franz 57 Borgeaud, Philippe 13 Bouquet, Alan Coates 137 Bousset, Wilhelm 79, 82 Brachmann, Wilhelm 110 Brentano, Clemens 58 Brelich, Angelo 103, 120 Brosses, de Charles 58, 62 Broughton, Thomas 50 Buber, Martin 73, 90, 113f. Bucer, Martin 33 Buddha 50 Bultmann, Rudolf 119 Buonaiuti, Ernesto 103, 112 Burckhardt, Jakob 16, 29, 90 Burnouf, Eugéne 101 Burroughs, William S. 118 Calvin, Johannes 33 Campbell, Joseph 90 Canguilhelm, Georges 11 Cantwell Smith, Wilfred 133, 136 Carpenter, Joseph Estlin 104f. Carpini, Johannes de Plano 25f. Cassirer, Ernst 40, 73 Castrén, Matthias Alexander 105 Chambers, Robert 63

Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniel 13, 98, 99f. Charron, Pierre 32 Cherbury, Herbert von 42 Child, Lydia Maria 131 Chladenius, J.M. 41 Cicero 16 Clarke, James Freeman 131f. Clemen, Carl 92f., 103, 110, 111, 113 Clemens von Alexandrien 19 Colebrook, Henry Thomas 57 Colpe, Carsten 123 Comte, Auguste 86 Corbin, Henri 90 Crequiniere, M. de la 37 Creuzer, Georg Friedrich 58, 68 Croce, Benedetto 102f. Cumont, Franz 104 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 50 Dammann, Ernst 120 Daniélou, Jean Kardinal 90 Darmsteter, James 101 Darwin, Charles 63, 79 De Goya, Francisco 52 Deißmann, Gustav Adolf 92 Demokrit von Abdera 14, 15 Descartes 23, 45 Deussen, Paul 139 Dickens, Charles 61 Diderot, Denis 50 Diederichs, Eugen 76 Dieterich, Albrecht 80 Dijk, Isaak 100 Dilthey, Wilhelm 54, 72, 81 Dölger, Franz Joseph 93 Droz, Théophile 97 Duperron, Anquetil 101 Durkheim, David-Émile 86f., 94, 102 Eckstein, Ferdinand 58 Edsman, Carl-Martin 107, 120 Eichhorn, Albert 78 Eichhorn, Johann Gottfried 59 Einstein, Albert 75 Ekman, Johan August 106

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Personenregister Eliade, Mircea 90, 98, 120, 133f. Ellinwood, Frank Field 132 Erikson, Erik H. 88 Euhemeros von Messene 15 Ewald, Heinrich 95 Fa-Hsien 20 Fairbairn, Andrew Martin 105 Fascher, Erich 79 Fernández de Oviedo 35 Ficino, Marsilio 30 Flasch, Kurt 23 Flournoy, Theodore 88 Flügge, Christian Wilhelm 49 Formichi, Carlo 103 Forster, Georg 58 Franck, Sebastian 31 Francke, August Hermann 44 Frazer, James George 64f., 89, 104 Freud, Sigmund 88f. Freyer, Hans 95 Frick, Heinrich 95, 112 Friedrich Wilhelm I. 44 Friedrich, Caspar David 52 Fries, Jakob Friedrich 83 Fröbe-Kapteyn, Olga 90 Fuchs, Emil 127 Gabler, Johann Philipp 59 Gadamer, Georg 54 Galen(os) 21 Galilei, Galileo 29 Ganander, Christfrid 105 Gantke, Wolfgang 9 Garbe, Richard 95, 139 Gaskell, Elisabeth 61 Gasset, Ortega y 116 Geertz, Clifford 134f., 142 Gehlen, Arnold 75, 118 Gennep, Arnold van 80, 103, 138 George, Friedrich 75 Gifford, Adam Lord 88, 104 Giles, Herbert Allen 105 Ginsberg, Allen 118 Glasenapp, Helmuth von 75, 111, 120, 124 Goblet D’Alviella, Eugène Graf 103 Goethe, Johann Wolfgang 57 Gogarten, Friedrich 119 Goldammer, Kurt 112, 121 Goodman, Felicitas 9 Goodspeed, George Stephen 132 Görres, Josef von 58 Grimm, Jacob 59f., 68

Grimm, Wilhelm 59f. Gunkel, Hermann 79, 81 Gutenberg, Johann 28, 29, 51 Haas, Hans 94 Habermas, Jürgen 118 Hall, Stuart 32 Hardy, Edmund 77 Harmjanz, Heinrich 110 Harnack, Adolf 75, 84, 91f. Harrison, Jane 105 Hartmann, Nikolai 118 Hartmann, Sven S. 106 Hauer, Jakob Wilhelm 90, 92, 108f., 124 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 33, 55f., 98f. Heidegger, Karl 73, 118 Heidrich, Peter 126 Heiler, Friedrich 82, 84, 90, 111, 112, 115, 120, 121, 128 Helm, Karl 80 Herder, Johann Gottfried 41, 53, 57, 58, 59, 70 Herder, Johann Gottfried 70 Herodot 13, 16f., 30 Herrliberger, David 48 Hesiod 10, 14 Hesse, Hermann 90 Heussi, Karl 127 Heyne, Christian Gottlob 58f. Hibbert, Robert 104 Hillebrandt, Alfred 81 Himmler, Heinrich 108 Hippokrates 21 Hitler, Adolf 108, 109, 114 Hobbes, Thomas 36, 41 Hofmannsthal, Hugo von 75 Hoheisel, Karl 123 Holl, Karl 119 Holsten, Walter 13, 120 Homer 10, 67 Honko, Lauri 106 Hsüan-tsang 20 Huet, Daniel 36 Hueter, Karl Albert 69 Hultkrantz, Åke 98, 107, 120 Humboldt, Wilhelm von 57 Hume, David 41f., 48 Hurd, William 48 Husserl, Edmund 79, 98 Huth, Otto 110 Huxley, Thomas Henry 63 Ibn Hazm 22 Ibn Khaldun 22 Ibn Rushd (Averroes) 13 Ibn Sina (Avicenna) 21

Irbe, Ka¯rlis 96 Isidor von Sevilla 25 James, Edwin Oliver 137 James, William 88 Jaspers, Karl 73, 118 Jastrow, Morris, jun. 13 Jepsen, Alfred 126 Jevons, Frank Byron 67 Johannes Buxtorf Westphalus d. Ä 137 Jonas, Hans 122 Jones, William 57 José de Acosta 36 Jovet, Jean 48 Jung, Carl Gustav 75, 76, 88, 90 Jünger, Ernst 73 Jursch, Hanna 127 Kalidasa 58 Kanne, Johann Arnold 58 Kant, Immanuel 23, 40, 42, 52, 79 Karjalainen, K.F. 106 Karl der Große 23 Keckermann, Bartholomäus 45 Keller, Carl-Albrecht 130 Kerényi, Karl 90, 103 Kerouac, Jack 118 Ketton, Robert of 34 Keyserling, Hermann Graf 76, 90 Kidd, Benjamin 63 Kingsley, Charles 61 Kirchner, Athanasius 36 Kishimoto, Nobuta 139 Kitagawa, Joseph Mitsuo 133 Klages, Ludwig 72, 117 Klimkeit, Hans-Joachim 122f. Koepp, Wilhelm 114 Konfuzius/Kungzi 44 Kopernikus, Nikolaus 29 Koppers, Wilhelm 67 Kreglinger, Richard 103 Kristensen, William Brede 98, 100, 101, 106 Kritias 15f. Kuhn, Thomas 77 Labanca, Baldassare 102 Lafitau, Joseph-François 47, 66, 68 Lamprecht, Karl 123 Lanckowski, Günter 120, 125 Lang, Andrew 56, 57, 104 Lanternari, Vittorio 103 Leach, Edmund 134 Leeuw, Gerardus van der 13, 82, 98, 100f., 103, 133, 142

Personenregister Lehmann, Arno 127 Lehmann, Johannes Edvard 13, 92, 100 Lehmann, Rudolf Friedrich 114, 120 Leibniz, Gottfried Wilhelm 44 Lencqvist, Christian Erik 105 Lessing, Gotthold Ephraim 26, 53 Leuba, James Henry 88, 105 Leusden, Johannes 37 Levi-Strauss, Claude 65, 135 Ling, Trevor 137 Locke, John 36, 41 Lohmann, Theodor 127 Long, Charles H. 133 Lönnrot, Elias 105 Ludendorff, Mathilde 114f. Luther, Martin 33f., 119 Machiavelli, Niccolò 32 Mahmoud von Ghazna 21 Majer, Friedrich 68 Malinowski, Bronislaw 65, 135 Mann, Thomas 75, 76, 90 Mannhardt, Johann Wilhelm Emanuel 60 Margaritha, Antonius 34 Mariano, Raffaele 102 Marrett, Robert Ranulph 42, 65, 89 Martino, Ernesto De 103 Maspero, Gaston 101 Massignon, Louis 90 Mauss, Marcel 87, 102 McLennan, John Ferguson 62 Megasthenes 17 Meiners, Christoph 48f. Meinhold, Peter 33 Melanchthon, Philipp 33 Mensching, Gustav 13, 55, 79, 82, 84f., 96, 98, 103, 106, 111, 113, 116, 120, 121f., 133 Menzies, Allan 105 Menzius/Mengzi 44 Mercator, Gerhard 31 Merkel, Rudolf Franz 96 Meyer, Rudolf 127 Mignolo, Walter D. 32f. Mirandola, Pico Della 30, 37 Mohammed 32, 48, 50 Monier-Williams, Monier 105 Monod, Wilfred 84 Montaigne, Michel 32, 35 Montfaucon, Bernard de 47 Moore, George Foot 132 Morgan, Lewis Henry 68 Mozart, Wolfgang Amadeus 68 Müller, Friedrich Max 12f., 56, 67, 104

Müller, Johann Georg 97 Müller, Karl Otfried 58, 59 Münster, Sebastian 32, 45 Mussard, Pierre 36 Nakamoto, Tominaga 139 Nerretter, David 46 Niethammer, Friedrich Immanuel 12 Nietzsche, Friedrich 70, 75 Nolde, Emil 90 Norden, Eduard 75 Ohlmarks, Åke Joel 114 Oldenberg, Hermann 139 Orelli, Carl von 97 Ortega y Gasset, José 116 Ortelius, Abraham 31 Otto, Rudolf 65, 75, 78, 79f., 90, 93, 95, 98, 107, 111, 113, 133 Otto, Walter F. 90 Overbeck, Franz 97 Pantaenus von Alexandria 19 Parmenides 24 Parrinder, Edward Geoffrey Simons 137 Pauly, Friedrich 81 Pearce, Susan 39 Pestalozza, Uberto 103 Petrarca, Franceso 29 Pettazzoni, Raffaele 102f. Pfefferkorn, Johannes 37 Pfister, Friedrich 80, 111 Picart, Bernard 38, 46, 47f. Pinard de la Boullaye, Henri 13 Platon 21, 24, 30 Plinius, der Ältere 30 Poe, Edgar Allan 41 Polo, Marco 20, 26 Pope, Alexander 41 Popper, Karl Raimund 11f., 118 Porthan, Henrik Gabriel 105 Portmann, Adolf 90 Preisker, Herbert 127 Prodikos von Keos 15 Ptolemäus 21 Pufendorf, Samuel von 41 Purchas, Samuel 46f. Rade, Martin 83 Rahner, Hugo 90 Ranke, von Leopold 69f. Reinach, Salomon 102 Reitzenstein, Richard 75 Renan, Ernest 101 Reuchlin, Johannes 37 Réville, Albert 101f.

Réville, Jean 16, 102, 127 Rhys-Davids, Thomas William 105, 137, 139 Richter, Julius 92 Richter, Liselotte 126 Ricoeur, Paul 98, 135 Rilke, Rainer Maria 75 Ringgren, Helmer 106 Ritter, Hellmut 75 Robertson Smith, William 89, 104 Rohde, Erwin 79 Rosenberg, Alfred 108, 110 Rosenzweig, Franz 73 Ross, Alexander 46, 47 Roth, Heinrich 38 Roth, Rudolph 95 Rothovius, Isak 105 Rousseau, Jean-Jacques 43f. Rousselle, Erwin 76, 90 Rubruk, Wilhelm von 26 Rückert, Friedrich 57 Rudolph, Kurt 120, 127 Rushdie, Salman 124 Sabbatucci, Dario 103 Sabellicus 30 Sachau, Eduard 94 Sardi, Alessandro 30 Schedel, Hartmann 51 Schéele, Knut Henning Gezelius von 106 Scheler, Max 73, 76, 98 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 68 Schencke, Wilhelm 106 Schikaneder, Emanuel 68 Schiller, Friedrich 57 Schlegel, August Wilhelm 57, 58 Schlegel, Friedrich 57, 58 Schleiermacher, David Friedrich 42, 54f., 56, 78, 142 Schlette, Heinz-Robert 116, 119 Schmidlin, Joseph 86, 93 Schmidt, Wilhelm Pater 67f., 103 Schnädelbach, Herbert 71 Schoeps, Hans-Joachim 120, 123 Scholem, Gershom 90, 113 Schomerus, Hilko Wiardo 96, 114f. Schopenhauer, Arthur 72 Schröder, Christel Matthias 115, 120 Searle, John Rogers 118 Selden, John 37 Seleukos I. 17 Sharpe, Eric John 10, 13, 137 Siemens, Werner von 69 Simmel, Georg 73

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Personenregister Slater, Robert L. 135 Smart, Ninian 137f. Smith, Jonathan Z. 1 Soden, Hans Freiherr von 121 Söderblom, Nathan 81, 84, 93f., 106 Sombart, Werner 87 Spencer, Herbert 56, 63f., 67 Spengler, Oswald 73 Spinoza, Baruch de 13 Starbuck, Edwin Diller 88 Stäudlin, Carl Friedrich 49 Steffes, Johann Peter 93 Stein, Edith 73 Stolz, Fritz 130 Sundén, Hjalmar 89 Szczesny, Gerhard 122 Tagore, Rabindranath 76 Terrasson, Jean 68 Thales von Milet 14 Thukydides 10 Tiele, Cornelis Petrus 13, 93, 98, 99, 100 Tillich, Paul 95, 142 Tolkien, John Ronald Reuel 114 Troeltsch, Ernst 69, 70, 76, 78, 92, 133 Tröger, Karl-Wolfgang 126 Tucci, Giuseppe 90 Turner, Victor Witter 80, 138

Tylor, Edward Burnett 42, 56, 64, 65, 67, 104 Usener, Hermann 79 Varenius, Bernhard 46 Vico, Giambattista 41, 45, 58 Victoria, Queen 61 Voltaire 43, 68 Vossius, Gerhard Johannes 30, 36 Wach, Joachim 77, 94f., 98, 111, 112, 121, 123, 132, 133 Walls, Andrew 137 Warburg, Aby 75 Warren, William Fairfield 131 Weber, Max 73, 87, 117, 133, 141 Weber-Kellermann, Ingeborg 60 Weinel, Heinrich 78 Weinreich, Otto 80 Weinrich, Harald 50 Weiß, Johannes 78 Welcker, Friedrich Gottlieb 59, 68 Werblowsky, Raphael Jehuda Zwi 128f. Wette, de Wilhelm, Martin Leberecht 59

Widengren, Geo 98, 101, 106, 107 Wielandt, Christoph Martin 57 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 82 Wilhelm, Richard 76 Wilkins, Charles 57 Winckelmann, Johann Joachim 57 Wirth, Herman 109 Wissowa, Georg 79 Witte, Johannes 92 Wittgenstein, Ludwig 138 Wolff, Christian 44 Wrede, William 79 Wudi 18 Wunderle, Georg 95 Wundt, Wilhelm 64, 87f. Wünsch, Richard 81 Wüst, Walther 108, 110 Xavier, Franz 26, 34 Xenophanes 14 Zedler, Johann Heinrich 50 Ziegenbalg, Bartholomäus 36 Zimmer, Heinrich Robert 90 Zwinger, Theodor 31 Zwingli, Huldrych 33