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German Pages 163 [164] Year 1904
Sammlung Göschen
Abrifs der vergleichenden
Religionswissenschaft Von
Prof. D r . T h . A c h e l i s in Bremen
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Leipzig G. J . G ö s c h e n ' s c h e V e r l a g s h a n d l u n g 1904
Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, von der Verlagshandlung vorbehalten.
Spamersche Buchdruckerei in Leipzig
Inhaltsverzeichnis. Einleitung. § 1. Allgemeine Bestimmung der Aufgabe der Religionswissenschaft E r s t e r Abschnitt. Grundzüge in der Entwicklung der Religionsgeschichte. Erstes Kapitel. B e s t a n d t e i l e der Religion . . . § 2. Religion § 3. Entwicklung und Bedeutung der Gottesvorstellung § 4. Der Seelenbegriff § 5. Zukünftiges Leben § 6. Erlösung § 7. Natur und Gott § 8. Mensch und Gott § 9. Sphäre des Kultus § 10. Das Gebet § 11. Gelübde und Opfer § 12. Riten im engeren Sinne § 13. Der Priesterstand Zweites Kapitel. G r u n d l i n i e n in der E n t w i c k l u n g der Religionen § 14. Unterste Stufen (Fetischismus, Schamanismus) § 15. Höhere Stufen (Polytheismus, entwickeltere Naturreligionen) § 16. Ethische Religionen Z w e i t e r A b s c h n i t t . Prinzipien der Religionswissenschaft. § 17. Begriff der Religion § 18. Wesen und Ursprung der Religion . . . § 19. Charakter der Religion § 20. Gesetze der religiösen Entwicklung . . . § 21. Allgemeingültige Elemente der Religion . § 22. Schlußbetrachtung. Wichtigkeit des religiösen Problems für die G e g e n w a r t . . . .
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Literatur. E. v. H a r t m a n n , Das religiöse Bewußtsein im Stufengang seiner Entwicklung (1882). P ü n j e r , Grundriß der Religionsphilosophie (1886). O. P f l e i d e r e r , Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage (2 Bde., 8. Aufl. 1891). C h a n t e p i e d e l a S a n s s a y e , Lehrbuch der Religionsgeschichte (2 Bde. 1897, 3. Aufl. in Vorbei-.). H ö f f d i n g , Religionsphilosophie (Leipzig 1901). T i e l e , Einleitung in die Religionswissenschaft (2 Bde., Gotha 1899ff). M a x M ü l l e r , Natürliche Religion (Leipzig 1890). „ „ Physische Religion (Leipzig 1892). „ „ Anthropol. Religion (Leipzig 1894). „ „ Theosophie oder PsychologischeReligion(Leipzigl895)W. B e n d e r , Das Wesen der Religion (Bonn 1888, 4. Aufl.). R a u w e n h o f f , Religionsphilosophie (Braunschweig 1889). A l b . E a l t h o f f , Religiöse Weltanschauung (Leipzig 1903). J a m e s L o t h e r - M o r i s o n , Im Dienste der Menschheit. Ein Versuch über eine Zukunftsreligion (Leipzig 1890). A r t h u r B o n u s , Religion als Schöpfung (Leipzig 1902). C h a r l e s F e r g u s o n , Diesseits-Religion (Leipzig 1903). W. B o u s s e t , Das Wesen der Religion (Halle a. d. S. 1903).
Sodann für die Völkerkunde: R a t z e l , Völkerkunde (2 Bde., Leipzig 1894). P a s c h e l , Völkerkunde (Leipzig 1875). T y l o r , Anfänge der Kultur (2 Bde., Leipzig 1873). L i p p e r t , Kulturgeschichte der Menschheit (2 Bde., Stuttgart 1886). T. d. S t e i n e n , Unter den Naturvölkern Centralbrasiliens (Berlin 1894) und verschiedene Schriften A d . B a s t i a n s .
Einleitung. § 1. Allgemeine Bestimmung der Aufgabe und des Begriffes der Religionswissenschaft. So verschiedenartig auch die Standpunkte und demzufolge auch die Ergebnisse sein mögen, welche wir in religionswissenschaftlichen Untersuchungen antreffen, so hat sich doch prinzipiell darüber ein gewisses Einvernehmen herausgestellt, daß eine möglichst umfassende geschichtliche Prüfung des einschlägigen Materials stets mit einer entsprechenden psychologischen und erkenntnistheoretischen Erörterung Hand in Hand gehen müsse; mit anderen Worten, hier wie überall haben sich Erfahrung und Denken, Empirie und Spekulation nicht zu bekämpfen, sondern umgekehrt fruchtbar zu ergänzen. Die Unterschiede treten eigentlich erst in der praktischen Ausführung des Programms hervor, wenn es sich darum handelt, bald die eine, bald die andere Seite gebührend zu berücksichtigen. So ist es denn kein "Wunder, daß diese Wissenschaft, die sich ganz zwanglos in einen geschichtlichen und in einen philosophischen Teil gliedert, erst ein Kind unserer Zeit ist, der von den verschiedensten Seiten her das konkrete Material für ihre Forschung zugeströmt ist. Nicht zum wenigsten haben wir das in erster Linie den epochemachenden Erfolgen der vergleichenden Sprachwissenschaft zu verdanken,
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Einleitung.
so daß in der Tat die meisten einschlägigen Probleme auf diesem Boden erwachsen sind. Im Anschluß daran hat sich unsere Kenntnis des religiösen Lebens der Menschheit auch anderweitig ungemein vermehrt; durch Ausgrabungen sind die wertvollsten Inschriften überall zutage gefördert, die uns über den Glauben längst vergangener, kaum dem Namen nach bis dahin bekannter Völker Aufschluß geben. Dazu kommen endlich die nicht minder verdienstlichen Arbeiten der modernen Folklore, der Völkerkunde und der Missionare, welche aus dem Studium und der Beobachtung noch jetzt lebender Stämme auf niederer Gesittungsstufe uns die weitreichendsten Rückschlüsse auf höhere Entwicklungsphasen gestatten, obwohl gerade hier nicht selten die erforderliche Vorsicht außer acht gelassen ist. Die Schwierigkeit liegt darin, daß wir es hier meist oder durchweg nicht mit einem historischen Zusammenhang zu tun haben (schon aus dem bedauerliehen Mangel an entsprechenden Dokumenten), sondern mit Gebräuchen, Sitten, Anschauungen und Institutionen, die eben nur einer psychologischen, nicht chronologisch bedingten Erklärung fähig sind. Auf viel festeren Boden gelangen wir daher, sobald Urkunden vorliegen, die uns irgend einen fortlaufenden geschichtlichen Zusammenhang verbürgen, und deshalb bildete es für die Religionswissenschaft geradezu die Geburtsstunde, als Max Müller auf dem Internationalen Orientalischen Kongreß in London 1874 die Herausgabe der Heiligen Bücher des Ostens unter sachverständiger Leitung anregte (natürlich in Übersetzungen). Diese Sammlung der Sacred Books of the East (vom Jahre 1879—1898) ist beiläufig bemerkt auf 49 Bände angewachsen. Auch praktisch ist das Interesse an diesen Fragen dadurch gefördert, daß
Allgemeine Bestimmung der Aufgabe usw.
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in vielen Ländern (ganz besonders in Holland) an den Universitäten Lehrstühle für die Religionswissenschaft errichtet oder auch besondere Zeitschriften entstanden sind (in Paris die von J. Reville geleitete Revue de l'histoire des religions; in Deutschland herausgegeben von Tli. Achelis im Vorein mit anderen Fachgelehrten das Archiv für Religionswissenschaft, seit 1898). Will man endlich den Charakter der v e r g l e i c h e n d e n Religionswissenschaft insbesondere bestimmen, so liegt er darin, daß sie nach sorgfältiger kritischer Materialsichtung diejenigen allgemeinen Züge und Richtungen in den verschiedenen Religionen zu lintersuchen hat, welche ihrer typischen Eigenart halber auf bestimmten Entwicklungsstufen überall wiederkehren; das setzt wieder eine zusammenhängende psychologische und erkenntnistheoretische Behandlung der betreffenden Glaubensanschauungen voraus, so daß dann sich von selbst die relevanten Parallelen ergeben. Nur auf diese organische Weise lassen sich wirkliche (nicht vermeintliche) Gesetze der religiösen Entwicklung aufstellen, die den Tatsachen nicht -widersprechen. Die Theologie aber und insbesondere die christliche kann dieser umfassenden Aufgabe gegenüber nur einen bescheideneren Platz beanspruchen; sie hat es lediglich mit der einzelnen Religion und ihrer geschichtlichen Entwicklung zu tun, noch ganz abgesehen davon, daß hier öfter dogmatische und ethische Motive vorwalten.
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Bestandteile der Religion.
Erster Abschnitt.
Grundzüge in der Entwicklung der Religionsgeschichte. Erstes Kapitel.
Bestandteile der Religion. 1. Religion. 2. Mythologie. 3. Kultus. I. § 2. Religion. Trotzdem wir uns späterhin noch genauer mit dem Begriff und Wesen der Religion beschäftigen werden, und es auch mittelbar auf die Behandlung religiöser Probleme von Einfluß ist, wie weit die Sphäre und die Gültigkeit solcher Vorstellungen nach unserem Ermessen reicht, so erscheint es uns ratsam, vorläufig diese genauere logische Bestimmung noch zu verschieben und in Übereinstimmung mit der ethnologischen Anschauung unter Religion den eigentlichen Glauben an übersinnliche und überirdische Mächte, sodann die Mythologie, das farbenreiche Abbild des Göttlichen in der Natur, und endlich den Kultus in einer unlösbaren, organischen Einheit zu begreifen. Scheidet man eines dieser Elemente als unwesentlich aus, so wird man den Tatsachen nicht gerecht und folgt eben damit persönlichen, dogmatischen Neigungen. Es versteht sich von selbst, daß wir bei der Fülle des Materials hier nur einen kleinen, wenn auch vielleicht prägnanten Ausschnitt zu geben imstande sind; für alles genauere Detail müssen wir
Entwicklung und Bedeutung der Gottesvorstellung.
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auf die früher erwähnten Handbücher verweisen. Es gilt stets nur, bestimmte typische Züge herauszugreifen, denen wir überall, auf allen Stufen der Entwicklung, wenn auch vielfach verkümmert oder nicht voll entfaltet, begegnen, charakteristische Bestandteile des religiösen Empfindens, ohne die dies nicht gedacht werden kann und nicht vorkommt, einerlei wie hoch immer das sonstige geistige Niveau sein mag. Solche Urelemente des Glaubens sind z. B. die Annahme von Göttern, mächtiger Lenker der Welt und des menschlichen Lebens, die Vorstellung von der Seele, als dem eigentlichen Faktor unseres Daseins, von ihrer Entfaltung und Wirksamkeit, von einer späteren Existenz, von einem Paradiese, einer Erlösung vielleicht aus den Banden und Schranken irdischer Bedürftigkeit usw. § 3. Entwicklung and Bedeutung der Gottesvorstellung. In den Göttern malt sich, wie Schiller sagt, der Mensch, oder nach Goethes Ausdruck: Im Innern ist ein Universum auch; Daher der Völker löblicher Gebrauch, Daß jeglicher das Beste, was er kennt, Er Gott, ja seinen Gott benennt, Ihm Himmel und Erden übergibt, Ihn fürchtet und womöglich liebt. Deshalb ist eben die Betrachtung gerade dieser Anschauungen so ungemein instruktiv, weil dieselbe wie eine empirische Psychologie uns einen unmittelbaren Einblick in das Geistesleben der Menschheit verstattet. Gleich hier wird es sich zeigen, daß, wie bereits angedeutet, trotz aller ethnographischen und kulturgeschichtlichen Verschiedenheit sich gewisse stets wiederkehrende
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Bestandteile der Religion.
Elemente in der Gottesvorstellung aufzeigen lassen. Es ist äußerst bezeichnend, daß die Portugiesen mit ihrem "Wort feitio,o für die afrikanischen Götter gerade den Begriff bezeichneten, der zuallererst hier in Frage kommt, nämlich den der Macht, -wie sie dem Naturmenschen schon in der Vorstellung der körperlichen Stärke naheliegt. Diese Überzeugung ist so maßgebend, daß auch alle theogonischen Sagen von dieser einen großen Idee erfüllt sind; überall ist es eine Machtfrage, die entschieden wird in allen polytheistischen Systemen, so verschieden sie auch angelegt sein mögen, alle gravitieren um ein gemeinschaftliches Zentrum, das sich als das mächtigste in früheren Kämpfen erwiesen hat und noch stets einer solchen Kraftprobe fähig ist. Das ganze bewegte Drama der Mythologie, abermals unendlich verschiedenartig je nach den einzelnen Völkern, die gegenseitigen Beziehungen der Gottheiten zueinander usw. sind im letzten Grunde immer durch diese Perspektive bestimmt, wer der mächtigste Gott ist. Deshalb wirft auch der Neger ohne jedes Bedenken seinen Fetisch, der ihm bislang aus allen Nöten geholfen, fort, sobald er sich einmal unwirksam gezeigt. Alle Naturerscheinungen sind die Offenbarungen göttlicher Wesen, die eben gebunden sind an bestimmte elementare Vorgänge, so daß eigentlich kein gegenseitiges Übergreifen in die Machtsphäre vorkommen könnte. Nach dem naiven Anthropomorphismus früherer Zeiten (Goethe sagt einmal sehr treffend: Der Mensch begreift gar nicht, wie anthropomorph er ist) gibt es begreiflicherweise keinen Unterschied zwischen Sinnlich und Übersinnlich, Geistig und Materiell, der nicht völlig unterdrückte Gegensatz beider Welten ist nur durch eine Steigerung zum Ausdruck gebracht und zwar des Menschlichen zum Über-
Entwicklung und Bedeutung der Gottesvorstellung.
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menschlichen. Die Übergangsstufen sind noch überall deutlich erkennbar; zwar bedürfen die homerischen Götter nicht mehr der gewöhnlichen menschlichen Nahrung, aber Nektar und Ambrosia, gewisse ätherische Stärkungen, können auch sie nicht entbehren; zwar sind sie nicht so sehr an die Schranken von Raum und Zeit gebunden -wie wir, aber allmächtig und allgegenwärtig sind sie anderseits gar nicht, vielmehr bedarf es einer gewissen Zeit für ihre Ortsveränderung. Sodann erhebt sich als düstere, unbezwingliche Macht auch über sie das allgewaltige Schicksal, die personifizierte unentrinnbare Notwendigkeit des Geschehens. Sehr charakteristisch ist es z. B. auch (um ein anderes Gebiet zu streifen), daß Jakob freudig ausruft, daß auch zu Bethel Javeh sei. Sehr kindlich ist gleichfalls und unserem Schönheitsgefühl äußerst widersprechend die Art, wie diese göttlichen Yorztige äußerlich zur Darstellung gelangen, so durch Verdoppelung der entsprechenden Glieder oder durch Vereinigung tierischer und menschlicher Formen usw. Gerade die Kunst aber von den Fetischklötzen der Neger, den wahnwitzig verzerrten, blutdürstigen Gesichtern der Mexikaner bis zu den ätherischen, schönheitsvollen Göttergestalten der Griechen hin bietet uns ein sehr getreues Abbild dieser rein menschlichen Auffassung überirdischer Wesen. Wie in der individuellen Entwicklung, so tritt auch im Völkerleben verhältnismäßig erst spät die Idee des Sittlichen in ihr Recht; es fiel dies z. B. gleich anfangs den Forschern als ein wesentlicher Mangel auf, bei den vielfach so spekulativ und tiefsinnig angelegten polynesischen Sagen und Überlieferungen; jedenfalls wird das Sittliche meist ganz äußerlich gefaßt, als bloße Satzung (resp. Verbot) unter Beihilfe von Strafe und
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Bestandteile der Religion.
Belohnung. Immerhin scheint doch nach mancherlei Anzeichen verhältnismäßig schon früh im Zusammenhang damit ein gewisser, wenn auch roher Dualismus, eine, sei es auch recht primitive Unterscheidung zwischen Gut und Böse sich entfaltet zu haben, die dann im Laufe der Zeit sich immer mehr vertiefte. Die aUereinfachste und egoistische Logik spricht sich in dem bekannten Satz des Buschmannes aus, der einem ihn darob fragenden Missionar antwortete: Gut sei, wenn er einem anderen sein Weib wegnehme, böse dagegen, wenn es ihm geschähe. Jedenfalls sind konkrete Erfahrungen, auch über das Förderliche und Schädliche, hierbei im Spiel; aber erst auf höheren Stufen setzt die rein ethische Schätzung und Unterscheidung (nicht wenig durch priesterliche Spekulation gesteigert) ein, die ihre schärfste Ausbildung im System des Zoroaster in dem Kampf des Lichtgottes Orinuzd mit dem Geist der Finsternis Ahriman gefunden hat, das ewig wiederkehrende Kampfspiel zwischen der weißen und schwarzen Magie, wie man es auch wohl im Hinblick auf die damit verknüpften Zaubermittel genannt hat. Freilich werden aus naheliegenden Gründen gerade die feindlichen Gottheiten und Dämonen von den Naturvölkern besonders mit Opfern beschenkt, um ihre Gunst und Gnade zu erkaufen, aber verhältnismäßig bald dringt auch hier eine reinere Vorstellung durch, so daß freilich jene bösen Geister noch lange gefürchtet, aber nicht mehr verehrt werden. Dazu tritt dann (was später ausführlich zu besprechen) die auf sympathischen und somit edleren Neigungen erwachsene Ahnen Verehrung, die ihrerseits wieder mit dem für jeden Menschen besonders in Betracht kommenden Kultus des Schutzgeistes zusammenhängt. In dem einfachen Fetischismus, im Totemismus
Entwicklung und Bedeutung der Gottesvorstellung. 13 der Indianer und Australier, bis hinein in die höheren Stufen selbst unseres Bekenntnisses, wo dann die Wirksamkeit der Heiligen eintritt, läßt sich die psychologische Entwicklung dieses im besonderen Sinne sozialen Gedankens verfolgen. Auf die einzelnen Seiten des Grottesbegriffs werden wir später noch genauer eingehen, wenn es sich um das Verhältnis des höchsten Prinzips zur Natur und Welt handelt; aber schon hier müssen wir wenigstens kurz auf die für diese ganze Entwicklung maßgebende Bedeutung des Wunders hinweisen. Zwar sagt Max Müller ganz treffend: Nichts ist so natürlich als das Übernatürliche, aber für die schlichte, naive, animistische Anschauung des Naturmenschen, dem eben der Begriff des Gesetzes, einer zureichenden Ursache völlig fern liegt und unverständlich bleibt, ist alles Geschehene geknüpft an eine alles menschliche Maß übersteigende göttliche Tätigkeit. Das Wunder ist in der Tat des Glaubens liebstes Kind, und es handelt sich auch hier um eine allmähliche Verfeinerung der ursprünglich etwas gröberen Auffassung. Wie gesagt, alle Vorgänge in der Natur und im menschlichen Leben, vor allem bei den großen Wendepunkten unseres Daseins, bei Krankheit und Tod, sind Wirkungen dieser unbekannten göttlichen Macht, vor denen der „Wilde" stumm und voll Schauer in Ehrfurcht sein Haupt beugt, weil er sich dadurch in seiner Existenz unmittelbar bedroht fühlt. Diese anfänglichen launenhaften Äußerungen der überragenden göttlichen Kraft, die gelegentlich in den Mythologien phantastisch ausgeschmückt werden, erfahren gleichfalls auf höheren Gesittungsstufen eine entsprechende Umbildung; nur bei außerordentlichen Anlässen, die ein derartiges Eingreifen schlechterdings
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Bestandteile der Religion.
notwendig erscheinen lassen, bei der Weltschöpfung, bei dem Kampf gegen den Fürsten der Finsternis, bei der Verwandlung Gottes in Menschengestalt, kurz, wo ethische Gründe ein solches Wunder erfordern, bekundet sich die Offenbarung göttlicher Kraft. Die Entwicklung ist hier wie überall im geistigen Loben dieselbe, da sie eher ein Abbild des menschlichen Wesens selbst ist: vom Stadium einer Verworrenheit und Stumpfheit, wo alle Keime der späteren Entfaltung harren, wo stärkste Sinnlichkeit und Brutalität unmittelbar neben befremdlicher Gemütsweichheit ihren Platz behaupten, von dem Egoismus und der Naivität der natürlichen Begehrlichkeit und Betrachtung der Dinge führt auch hier durch unendlich viele Mittelstufen der Weg zur Vollkommenheit und Vollendung — nur freilich (ein nur zu oft übersehener Vorbehalt), daß nur allzuhäufig dieser Fortschritt durch bedauernswerte Rückfälle in die überwundene Barbarei unterbrochen wird und daß anderseits auch unter der täuschenden Hülle des schönen Scheins in diesen höheren Entwicklungsstufen sich noch sehr eigenartige fossile Reste (Überbleibsel nennt sie bekanntlich Tylor) mit einer bewundernswerten Zähigkeit verbergen, die eben ganz und gar einer anderen Schicht des Glaubens angehören. Eine metaphysisch-psychologische Erörterung aber über den etwaigen Ursprung der Gottesvorstellung würde hier, wo es sich lediglich um eine flüchtige kulturgeschichtliche Skizze handelt, unstatthaft sein; wir kommen auf das Problem im zweiten Abschnitt des Buches noch zurück. § 4. Der Seelenbegriff. Die ethnologisch - psychologische Abteilung des Seelenbegriffes berührt uns hier selbstverständlich nicht
Der Seelenbegriff.
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— Atem und Blut sind die beiden realen Anhaltspunkte für diese Theorie, die unverkennbarsten Spuren in der sprachlichen Abteilung führen darauf zurück —, sondern wir haben es lediglich mit dem inneren Zusammenhang zwischen der Gottes- und Seelen Vorstellung zu tun. Dieser beruht auf dem großen, unerschütterlichen Geisterglauben, der die ganze Menschheit, ob gröber oder feiner, auf allen ihren Entwicklungsstufen beherrscht. Wie der Tod als eine Vernichtung des Wesens ein dem Naturmenschen völlig unfaßbarer Gedanke ist, so muß auch dies wundertätige, den ganzen Organismus belebende Prinzip nach dem Zerfall des Körpers irgend wie weiter wirken, sei es als freundlicher Schutzgeist, sei es als böser, schädigender Dämon. Wie sehr und tief diese ursprüngliche Anschauung von der Bedeutung der abgeschiedenen Seele selbst dem skeptischen und aufgeklärten Westeuropäer im Blute steckt, das möge nur der Hinweis auf das bekannte Allerseelenfest in Paris veranschaulichen (übrigens genau dem sogenannten Laternenfest in Japan entsprechend), wo auf dem Kirchhof Père Lachaise Kuchen- und Süßigkeiten auf den Gräbern niedergelegt werden; es gilt, die Seele zu versöhnen und ihre Gunst zu erkaufen, während es für das moderne Bewußtsein vielfach sich nur um ein pietätvolles Erinnerungsfest handelt. Gelingt es nicht, durch Opfer und Gelübde sich des Wohlwollens der Abgeschiedenen zu versichern, so zeigen sich bald in Krankheiten und Unglück die verhängnisvollen Polgen. Je nach der Bedeutung des Verstorbenen stuft sich natürlich diese Verehrung ab, so daß sich ganz ungezwungen die Linie ergibt: Hausvater, Häuptling, Stammesgottheit, in allen ist die abgeschiedene Seele verkörpert. Wir kommen auf den hier wirksamen Ahnenkult noch
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Bestandteile der Religion.
zurück, deshalb mag die Bemerkung genügen, daß derselbe überall ein sozialer Faktor ersten Eanges war, so daß gerade der Tod und die sich daran knüpfenden Feierlichkeiten diesen Klassenunterschied nicht, wie wir vielfach denken sollten, aufhoben, sondern umgekehrt nur noch mehr verschärften. Sehr viele mächtige Götter sind unmittelbar aus diesem fruchtbaren Untergrund aufgewachsen; der Unkulunkulu (der Alte — Alte) der Zulus, zugleich Erschaffer der Welt, der Tamoi, Großvater, der brasilianischen Waldindianer, die meisten der sogenannten Kulturheroen, welche der Menschheit höhere Gesittung gebracht, haben früher unter den Ihrigen geweilt und sind dann zum Himmel aufgestiegen, \im weiter für das Wohl der Angehörigen zu sorgen. Damit ist der Kreislauf aber nicht abgeschlossen. vielmehr kann die Seele aus jenen ätherischen Sphären wieder sich der Erde zuwenden, und zwar verkörpert sie sich entweder einmal und erscheint in irdischer Hülle (so im Christentum) oder in Form einer fortlaufenden Wiedergeburt, wie es am konsequentesten der Buddhismus zeigt (im Dalai-Lama). Nicht weniger bedeutungsvoll ist die Vorstellung von der Seelenwanderung (Metem.psych.ose), die mit dieser Erscheinung der Seele als göttlichen Substanz zusammenhängt, bekanntlich in manchen Systemen und Theorien unter den Händen herrschsüchtiger Priester geworden, die die abergläubige Angst des primitiven Menschen vor den Gebilden seiner eigenen schöpferischen Phantasie benutzten, um sich einen möglichst weitreichenden Einfluß zu verschaffen. Aber die Bahn führt nicht nur aufwärts, zu den Göttern, sondern auch abwärts, zu den Tieren und Pflanzen, die gerade so gut durch Seelen belebt werden können. Bei dem herrschenden Animis-
Zukünftiges Leben.
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rnvis, bei der Vertrautheit des einfachen Menschen mit den Tieren, die er stets als seinesgleichen ansieht, kann diese Ansicht nicht überraschen; jeder Kalifornier kennt für sein Kind einen schützenden Genius in Tiergestalt, — für den Stamm ist es gleichfalls ein heiliges Tier, das als Totem verehrt wird —. Besonders die mächtigen oder irgendwie unheimlichen Tiere werden bevorzugt, also in erster Linie die großen Raubtiere, dann vor allem die Schlangen und sodann viele Yögel, besonders der Adler. Bei der nahen Verwandtschaft des Menschen \md Tieres ist es eine nur logische Konsequenz, wenn die ja nicht für immer (z. B. nicht nachts) an den bestimmten Sitz gebundenen Seelen der Menschen in Tierleiber hineinfahren — daher der so weit verbreitete, bei den entlegensten, ethnographischkulturgeschichtlich völlig zusammenhanglosen Völkern auftauchende Glaube an die Menschentiger, Werwölfe, Vampire usw. Der Wiedergeburt, deren eigentlich religiös-ethische Seite wir später noch betrachten werden, entsprach auf der anderen Seite die Präexistenz, an der neben den Indianern oder den Eweern an der Westküste Afrikas und manchen anderen Naturvölkern Pythagoras und viele orientalische Kirchenväter, platonischem Muster folgend, festhalten. § 5. Zukünftiges Leben. Wenn wir nur nicht den gewöhnlichen Ausdruck: Unsterblichkeit der Seele zu metaphysisch und ethisch auffassen, so gehört diese Vorstellung zu den unantastbaren Glaubensartikeln selbst niederer Rassen, schon deshalb, weil ihnen das Nichts, die Zerstörung oder Umbildung ein unzugänglicher Gedanke ist. In irgend welcher Form findet ein Fortleben statt (durchaus nicht A c h e l i s , Religionswissenschaft.
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Bestandteile der Religion.
immer in dem eben besprochenen Sinne als Wiedergeburt oder Auferstehung zu fassen), meist in genauem Verhältnis zum irdischen Dasein; deshalb z. B. die zahlreichen blutigen Opfer beim Tode großer Häuptlinge und Herrscher, denen später ein standesgemäßes Gefolge nicht fehlen darf. Daher ist dann dieser Aufenthalt höchst abweichend geschildert, durchgehend für die Vornehmen ein Tummelplatz von Freuden, ja Ausschweifungen, während sich die niederen Klassen mit einem bescheidenen Los begnügen müssen, noch ganz abgesehen von dem späterhin immer mehr ethisch gefaßten Gegensatz des Himmels und einer Hölle oder dunklen Unterwelt. Durchweg ist hierbei (was beiläufig erwähnt sein mag) die Vorstellung durchgedrungen, daß die Seelen meist an ihren künftigen Aufenthaltsort verbleiben und nicht willkürlich (es sei denn unter priesterliclier Hilfe) denselben verlassen können; umgekehrt finden öfter Besuche der Menschen dort statt (in Visionen und Halluzinationen), die freilieh nicht selten äußerst gefährlich verlaufen. Selbst im Christentum findet sich in der bekannten Vorstellung von der Höllenfahrt Christi ein Üborlebsel und Abbild dieses Mythus wieder. Im Zusammenhang mit den Naturvorgängen wird dies Totenland meist nach Westen, nach dem Sonnenuntergang verlegt, nach einer Insel der Seligen. So erzählt Hesiod in den Werken und Tagen von einem Reich der im vierten Zeitalter lebenden Heroen (zwischen der Bronze und dem Eisen), den Inseln der Glücklichen, die dann mit den Elysäischen Feldern identifiziert wurden, dem Wohnort der seligen Geister. Oder aber es ist die Unterwelt, der Hades, der die Abgeschiedenen aufnimmt, obwohl eine eigentliche Hölle, wie sie die höheren Kulturstufen kennen,
Zukünftiges Leben.
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den Stämmen niederer Gesittung unbekannt ist, da eben bei ihnen eine schärfere sittliche Idee der Vergeltung wenig entwickelt ist. Dasselbe läßt sich in bezug auf die Auffassung und Beurteilung des zukünftigen Lebens überhaupt beobachten; bald ist es nur eine entsprechende Fortsetzung des irdischen Daseins, nur noch alles schöner, prächtiger, bald taucht der unbequeme Gedanke einer Verantwortung für die diesseitige Lebensführung auf, so daß ein Ausgleich in irgend welcher, sei es noch so naiver Form angestrebt wird. Der Indianer findet in seinem Paradies die schönsten Jagdgründe, angefüllt mit dem leckersten Wild, der Arktiker einen sonnigen Ort, wo beständiger Sommer herrscht und Überfluß an Renntieren und Vögeln vorhanden ist, den Skandinavier nimmt die Walhalla auf, wo ritterliche Übungen, Kampf und Speerwurf seiner harren, der Moslem schwelgt in auserlesenen sinnlichen Genüssen, wie sie nur die erregte orientalische Phantasie dem Auge vorzugaukeln vermag, kurz, es macht sich durchweg ein sehr krasser Materialismus geltend, wie es auch ganz natürlich ist. Doch fehlt gelegentlich auch nicht eine düstere Kehrseite dieses Bildes, die Unterwelt erscheint als Orkus und Hades, wie ihn Achilles scheut, als düsterer Aufenthalt für Schatten. Die Vergeltungstheorie im Jenseits ist hingegen durchaus nicht allgemein verbreitet, setzt sie doch einen höheren Grad sittlicher Entwicklung voraus; gewisse Übergänge kann man freilich wohl finden, so wenn die Grönländer nur diejenigen in das glückliche Land Torngasuks, ihres großen Geistes, gelangen lassen, welche sich hier wacker bewährt, große Taten verrichtet, unermüdlich gearbeitet haben usw. Die feineren, rein sittlichen Maßstäbe fehlen natürlich da, wo es in erster Linie auf hervorragende körperliche 2*
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Bestandteile der Religion.
Tüchtigkeit und Ausdauer ankommt, gut und böse hat eine ganz andere Bedeutung als bei uns. Erst auf höheren Kulturstufen (besonders wo priestorliche Spekulation mit eingreift) gewinnen die bekannten Vorstellungen von einer allmächtigen Läuterung der Seele einen immer schärfer ausgeprägten Charakter. Alle größeren und höheren Religionen, die ägyptische, die vedische, die altpersische usw., kennen diese Idee von der Vergeltung, von einem mehr oder minder peinlichen Gericht, das über den Toten abgehalten wird. Wie vor einem Gerichtshof werden Klage und Verteidigung geführt, alles gegeneinander abgewogen, und das schließliche Urteil gefällt — so z. B. im Glauben des Zoraster. Es ist schwer, im einzelnen zu ermitteln, inwieweit diese Vorstellung von einer zukünftigen Vergeltung auch für sich schon die Sittlichkeit der Völker beeinflußt hat; aber anderseits ist es wohl kaum in Abrede zu stellen, daß sie wenigstens mit anderen verwandten Anschaxiungen, die wir gleich noch besprechen werden, ein sozialer Faktor im Völkeileben geworden ist, ganz besonders da, wo wie in Ägypten und Indien eine herrschsüchtige Priesterschaft die tiefwurzelnde metaphysische Neigung in dieser Richtung benutzen konnte. § 6. Erlösung. Obwohl erst in den höheren Religionsformen der ethische Begriff einer Entlastung von Schuld mit dem zugehörigen Element der Vergeltung zu voller Geltung gelangt ist, so sind doch schon auf den niederen Entwicklungsstufen die erforderlichen Keime zu jener weiteren Entfaltung vorhanden. Alle Opfer, der größte Teil des Kultus ist auf diesem fruchtbaren Grunde eines mehr oder minder drückenden Bewußtseins einer Ver-
Erlösung.
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fehlung, eines Irrtums usw. entstanden und des damit zusammenhängenden Gefühls einer Befreiung, einer Versöhnung mit der erzürnten Gottheit. Eine vertiefte, metaphysisch und ethisch feinere Auffassung führt diesen einfachen, schon bei einigen Naturvölkern (so bei den alten Peruanern) hervortretenden Gedanken zu einer systematischen Ausbildung, zu einem offiziellen Dogma, wie z. B. in der christlichen Kirche oder im Buddhismus oder im Brahmamsmus. Eine ungemein logische Konsequenz liegt in der bekannten Lehre des Gautama, ein Urbild aller späteren Mystik, indem sie die völlige Ertötung des Individuums erfordert, die hier deshalb in aller Kürze skizziert sein mag. Die Seligkeit der Vollendung, nach der joder echte Jünger des Weisen hinstreben soll, liegt nicht in der Tat und sei sie noch so erhaben, weil diese eben noch praktisch ist, an der Welt, die überwunden worden soll, haftet, sondern in dem Erkennen, das zugleich alles Begehren überwindet und die tiefste Wahrheit erfaßt, daß ich selbst dem ewigen Weltwesen, dem Atmän gleich bin. Das ist das selige Stadium des Nirvana, wo das Bewußtsein und das Individuum erlischt, wo alles Leiden und Wünschen ein Ende findet. Bekanntlich ist über die richtige Auslegung dieses mystischen Zustandes ein heftiger Streit entbrannt, ob wir eine Seligkeit oder umgekehrt Vernichtung darin sehen müßten; die offizielle Lehre weicht jeder positiven Bestimmimg und Deutung aus und zwar mit der ausdrücklichen Erklärung, daß dadurch der in Frage kommende sittliche Wandel nicht irgendwie berührt werde. Die Sache ist wohl so zu deuten, daß mit der geforderten Tilgung der individuellen Empfindung (z. B. der Freude über die gelungene Erlösung) streng genommen auch jede Entwicklung, die eben für mensch-
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Bestandteile der Religion.
liches Denken an persönliche Form geknüpft ist, aufhört, während für eine etwas gröbere Auffassung diese Einigung des Menschen mit dem Atmän als höchste "Wonne gilt. Ähnlich ist die brahmanische Moksha eine Befreiung von allen sinnlichen Fesseln und Hemmnissen; "während uns die Alltagswelt und unser gewöhnliches Wahrnehmen eine Vielheit von Dingen täuschend vorspiegelt (mayä), gelangen wir erst durch das schärfere Denken zur wahren Erlösung, indem wir die Einheit der Seele und des Brahma erkennen. Deshalb muß natürlich jedes Begehren verschwinden, das Manas ("Wahrnehmung und Wille) sich völlig vom Objekt loslösen oder wie es in den Upanishaden heißt: Weil denn durch das objektlose Manas bedingt Erlösung ist, Darum soll, wer nach ihr trachtet, Sein Manas vom Objekt befrein. Wer frei von Sinnenwelthaftung Sein Manas schließt im Herzen ab, Und so zur Manaslosigkeit Gelangt, der geht zum Höchsten ein. So lange kenne dein Manas, Bis im Herzen es wird zunickt, Das ist Wissen, ist Erlösung, Das andre ist gelekrter Kram. Nicht denkbar und nickt undenkbar, Denkbar und undenkbar zugleich, Frei von jeder Parteinahme Ist Brahman, das er dann erreicht. Oder wie es ansprechender für unser Gefühl in einem anderen Verse lautet:
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Wenn alle Leidenschaft schwindet, Die nistet in der Menschen Herz, Dann wird wer sterblich, unsterblich, Schon hier erlangt das Brahman er. Und zwar bildet dies einen rastlosen, sich immer wiederholenden Prozeß in der Weltentwicklung und im Menschenleben: War' die Erlösung anfangend, Sic tönte nicht unendlich rein. Diese unio mystica, um den landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, dies Auslöschen der eigenen hinfälligen Persönlichkeit, wie es in den griechischen Mysterien wiederkehrt, in den orgiastischen DionysosFeiern, bei den Gnostikern, den tiefsinnigen mittelalterlichen Mystikern von Eckehart, Tauler usw. bis Angelus Silesius und anderen, von den Ägyptern und Indern zu schweigen — auch der Sufismus liefert völlig analoge Erscheinungen —, enthält zugleich die immer sprudelnde Quelle weltverachtender Begeisterung und fanatisch religiöser Erregung, wie sie sowohl in allen Martyrien hervortritt, als auch als sozialpsychologischer Faktor in der äußeren Entwicklung und Verbreitung der verschiedenen Religionen über den Erdball hin. Durch diese mystische Verzückung, die natürlich den ganzen Organismus ergreift und erschüttert, vollzieht sich jene geistige Wiedergeburt des Menschen, die selbstverständlich je nach der Kulturstufe eine höchst verschiedenartige Färbung erhält. So maßgebend für den Buddhismus und Brahmanismus auch das Erkennen sein mag, so ist doch sonst die tiefe Sehnsucht, also ein Gemütsaffekt, das ausschlaggebende Motiv für die Vereinigung der sündigen Seele mit der Gottheit, als dem
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Bestandteile der Keligion.
umschließenden Urgründe alles Seins. Diese Richtungoffenbart sich, um noch ein anderes Beispiel anzuschließen, in der neuplatonischen Richtung des Dionysius des Areopagiten (4 Jahrh. n. Chr.), der einen nachhaltigen Einfluß auf seine Zeit ausübte. Es war die unaussprechliche Herrlichkeit eines völligen Untergehens, eines Eintauchens des Menschen in Gott, was den Gläubigen mit brennenden Farben ausgemalt wurde. Auch hier wird die menschliche Erkenntnis trotz ihrer Endlichkeit und Beschränktheit doch als Mittel verwendet, um den Weg zur Vereinigung mit der Gottheit zu ebuen. Die wahrhaft Eingeweihten müssen von den Gegenständen und den Kräften des Sehens befreit werden, ehe sie in die Dunkelheit der Unkenntnis (agnosia) eindringen können. Der Eingeweihte wird dann in dem Unberiihrbaren und Unsichtbaren verschlungen, er gibt sich gänzlich dem, was über alle Dinge hinausreicht, hin, er gehört nicht mehr sich selbst an, noch irgend einem anderen endlichen Wesen, sondern er ist kraft einer edleren Fähigkeit mit dem vereinigt, was infolge der gänzlichen Wirkungslosigkeit aller beschränkten Erkenntnis ganz und gar unwißbar ist und in einer über den Verstand hinausgehenden Weise dadurch, daß man nichts weiß, erkannt wird. Wie gesagt, diese Erlösung aus den Banden der Sinnlichkeit und Zeitlichkeit, diese unmittelbare Vereinigung der Menschen mit Gott, der Weltseele, so daß er mit ihr eins wird, wiederholt sich in den verschiedensten Wendungen und Bildern überall; erst dadurch bekundet sich wahre, eigentliche Unsterblichkeit, die eben von aller individueller Beschränkung absieht. Diese ganze Gedankenfolge, die öfter auch die Wirksamkeit eines Mittlers, eines Erlösers einflicht, beruht aber — das ist wolil beachtenswert — auf der maßgebenden
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Voraussetzung, die ebensowohl in den naiven Ansichten der Naturvölker wie in den tiefsinnigen Spekulationen der Philosophen hervortritt, daß Seele und Gott, Mensch und Absolutes nicht feindliche Gegensätze sind (sonst könnte bei aller Läuterung von keiner Sehnsucht und vollends nicht von einer Erlösung die Rede sein), sondern wesensverwandt. Der Halbgott, der Kulturheros, der Bringer höherer Gesittung, der Priester und Verkünder unaussprechlicher Geheimnisse, der Prophet und Gottgesandte, der Mittler zwischen Gott und Menschheit, der sie wieder zu den lichten Höhen emporführt, wo sie Gott schauen können, der ßeligionsstifter, die mit der Kraft aus der Höhe gesalbte Persönlichkeit — sie alle bilden nur die einzelnen Marksteine auf diesem langen und vielfach dornenvollen Wege der Erlösung. Soweit aber liierfür anderweitige besondere Bedingungen und Mittel in Frage kommen (etwa Fasten, Kasteiungen, Opfer usw.), werden wir später bei Gelegenheit des Kultus noch darauf zurückkommen; hier handelt es sich für uns zunächst nur darum, die allgemeine Idee, die dieser ganzen Anschauung zugrunde liegt, zu veranschaulichen. II. M y t h o l o g i e . § 7. Natur und Gott. Die epochemachenden Erfolge der vergleichenden Sprachwissenschaft haben auch für die Mythologie begreiflicherweise einen nicht zu unterschätzenden Gewinn gezeitigt; aber es verband sich damit eine freilich wohlbegreifliche einseitige Bevorzugung der gewaltigen Naturerscheinungen, während die starken sozialen Motive kaum recht gewürdigt wurden. Gegenüber
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dieser optimistischen Auffassung des Naturmenschen hob deshalb die Anthropologie und Ethnologie diese andere Seite des Mythus mit Recht hervor, indem sie statt der vorausgesetzten phantasievollen, poetischen Deutung der elementaren Kräfte die Wirksamkeit des Seelenund Ahnenglaubens für die mythischen Gebilde betonte. Jedenfalls ist es psychologisch durchaus unwahrscheinlich und geradezu widerspruchsvoll, dem primitiven Menschen eine blasse Unterscheidung zwischen Seele und Symbol zuschreiben zu wollen; vielmehr mußte er in seiner Kindlichkeit unmittelbar in allen Naturvorgängen göttliche Mächte annehmen, an die er ebenso glaubt, wie etwa der orthodoxe Christ au die "Wunder der Heiligen Schrift. Was ursprünglich, d. h. in dem Augenblick der Entstehung leibhaftige Wirklichkeit für das naive Empfinden war, das wurde im Laufe der Zeit, als das Bewußtsein kritischer wurde und das schärfere Nachdenken die frische Phantasie ertötete, Symbol, Dichtung, ja Allegorie. Nicht nur Naturerklärung allein, sondern nicht minder die grauenvolle Tatsache des Todes, mit der sich der Mensch abfinden mußte, lieferten die Triebfedern für den großen mythologischen Prozeß; die letzte wirksame Quelle aber haben wir in dem rastlosen menschlichen Streben der personifizierenden Apperzeption zu erblicken, die eben die ganze Außenwelt notgedrungen nach menschlichem Vorbilde, also seelisch belebt auffaßt. Diese Allbeseelung ist geradezu der Kern aller Mythologie, sie mag sonst ethnographisch noch so verschiedenartig gefärbt sein; ebendaher erklärt es sich, daß bei allem Wechsel der Einzelheiten sich doch und zwar bei den stammfremdesten, räumlich und zeitlich durchaus unzusammenhängenden Völkerschaften ganz unzweideutige typische
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Übereinstimmungen vorfinden. Daß wir uns hier nur mit einigen, allgemeinen Umrissen begnügen müssen, leuchtet von selbst ein. Nach animistischer Weltanschauung, die eben jeder streng gesetzlichen, mechanischen Auffassung unzugängig ist, ist die ganze "Welt vom strahlenden Himmel und der glänzenden Sonne bis hinab zu den kleinsten und geringfügigsten Bestandteilen der anorganischen Natur belebt, d. h. der Sitz von Geistern. Alles dies ist eben nicht in dem Sinne einer poetisierenden anthropomorphen und vor allem etwa bewußten Umformung zu verstehen, sondern eines ganz ungeschminkten Realismus. Das gilt z. B. in erster Linie von den Tieren, die als völlig gleichberechtigte Persönlichkeiten gefaßt werden, da ja irgend welcher sittlicher "Weltunterschied noch gar nicht existiert; beide sind aus demselben Holz geschnitzt, nur daß der Mensch, als schlimmer Konkurrent, sich im Laufe der Zeit eine gewisse Vorherrschaft zu verschaffen gewußt hat. Deshalb liegt es auch für den Ahnenkult so nahe, in den Tieren sowohl die Vorfahren des eigenen Stammes zu sehen, die dann eben mit ganz besonderer Scheu verehrt werden, als auch die durch Zauber noch gegenwärtig sich vollziehenden Verwandlungen zu Vertretern irgend welcher Dämonen. Die Tiere bilden daher den Einschlag in dem bunten Gewebe des mythologischen Teppichs bei vielen Völkern und gerade bei denjenigen am meisten, welche noch völlig naiv sind; so ist z. B. für die Bakairi (in Brasilien) die Sonne ein großer Ball aus bunten Vogelfedern und ebenso der Mond. "Wenn der Mond abnimmt, so kommt zuerst eine Eidechse, die wir den Rand entlang bemerken, um ihn mitzunehmen, am zweiten Tag ein gewöhnliches Gürteltier, dann ein Riesengürteltier, dessen
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dicker Körper uns die gelben Federn des Gestirns bald ganz verbirgt (dies ist nebenbei bemerkt ein Nachttier, das daher auch bei Mondschein gejagt wird). Alle Märchen somit, wie wir dieselben lieutigestags in unserer wissenschaftlichen Ästhetik bezeichnen, sind ursprünglich volle Wahrheiten, gerade so unerschütterlich und real wie irgend welche religiöse Dogmen im Augenblick ihrer Geburt. Wie die naive Phantasie dabei verfährt, mag noch eine Erzählung der Indianer am Amazonas veranschaulichen: Der Geier und die Schildkröte wetten, wer rascher nach dem Himmel, wo gerade ein Fest gefeiert wurde, gelangen könne. Die Schildkröte versteckt sich in den Proviantkorb des Geiers, den sie, als er von einem Spaziergang zurückkommt, mit der Versicherung empfängt, sie sei schon längst vor ihm dagewesen. Um die Entscheidung herbeizuführen, wird ausgemacht, wer zuerst auf Erden ankomme, solle Sieger sein. Die Schildkröte läßt sich einfach fallen und wird dadurch Sieger; freilich plattet sie sich durch den heftigen Fall ab, wie man es noch heute sehen kann. Oder es treten Menschen an die Stelle der Tiere; die Eskimo nennen die Sterne im Oriongürtel die Verwilderten — es sind Seelmndsjäger, die den Heimweg verfehlt haben, oder die Kasias in Bengalen berichten, die Sterne seien einst Menschen gewesen; sie kletterten auf den Gipfel eines Baumes (gemeint ist natürlich der Ilimmelsbaum), aber, da andere unten den Stamm abhieben, so seien sie oben in den Zweigen sitzen geblieben. Neben diesem Ahnenkult (das zeitliche Verhältnis ist, wie oben angedeutet, sehr schwer zu bestimmen) tritt nun, besonders bei Ackerbau treibenden Völkern aus naheliegenden Gründen die Verehrung großer Naturkräfte und -erscheinungen, vor allem der
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Sonne und des Mondes. Das ganze wirtschaftliche Gedeihen war in erster Linie von dem Stand der Gestirne abhängig; die Phantasie mußte sodann gerade hier einen bequemen Tummelplatz ihrer dichterischen Verklärung erblicken; es genügt, in dieser Beziehung auf die so allgemeinen Sagen von dem Ringen und Sterben der Sonnenhelden zu verweisen, wo gelegentlich und zwar auch schon bei den Naturvölkern niederer Ordnung eine nicht gewöhnliche Idealisierung sich bekundet. Dazu kommt noch, daß gegenüber diesen mehr oder minder normalen Vorgängen gerade plötzliche, mit gewaltiger Wucht wirkende Erscheinungen die Aufmerksamkeit des Naturmenschen auf sich ziehen, Gewitter, Meteorfälle, vulkanische Ausbrüche, von Katastrophen wie Erdbeben und Sintfluten noch ganz zu schweigen. Man kann, um iiherhaupt nur eine gewisse Übersicht über das sinnverwirrende Detail zu gewinnen, von einem umfassenden Weltmythus sprechen, für dessen weitere Verästelung der ursprüngliche Gegensatz zwischen Himmel und Erde maßgebend ist. Bald ist die Sonne das Auge des Himmels, bald das künftige Heim der Seelen, bald die Gehilfin des Himmels bei der Schöpfung; Erde und Himmel vielfach als aufeinanderliegend gedacht, trennen sich später (nicht ohne Anwendung von Gewalt), die Erde ist das Weib, mit dem der Himmel alles zeugt, vor allem die Menschen; dazwischen steht eine Reihe Götter zweiter Ordnung, Gehilfen bei der Schöpfung, der Donner- und Blitzgott, der Feuerbringer (Prometheus, Hephästos, Maui, Loki usw.), der nicht selten, besonders in der niederen volkstümlichen Mythologie die Gestalt des hohen Himmelsgottes in den Hintergrund drängt; die Wolkenschlange, der züngelnde Blitz, ist den Nahua in
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Mittelamerika die Schöpferin des Menschen, wie den Fidschianern ihr Ndengeh. Aber es würde, wie schon bemerkt, zu weit führen, wollten wir auch nur einen ungefähren Überblick über die unerschöpfliche Fülle der mythenbildenden Motive, geschweige der Stoffe selbst, zu geben versuchen; wir bescheiden uns damit, zum Schluß auf den Unterschied der kosmogonischen und theogonischen Sagen zu verweisen, die sich freilich gegenseitig berühren. Jene behandeln die "Weltentstehung, entweder (was viel seltener der Fall ist) im rein evolutionistischen Sinne, so z. B. in dem eigenartigen uralten religiösen Gedicht der Hawaiier: He pule heiau, oder unter Lenkung und auf Befehl der Götter oder gar eines Gottes. In der schärferen Abstraktion gelangt das Denken durch fortschreitende Eliminierung zu einzelnen obersten Prinzipien, die nicht weiter zurückgeführt werden können, so Geist oder Kraft, Materie, Raum, Zeit, Nacht. Das Chaos des Hesiod, das Ginnungagap der Yöluspa der Germanen vertreten diesen absolut leeren Raum. Bei andern — so bei den Polynesiens bei Homer, den Indern, der ältesten orphischen Kosmogonie usw. ist es die Nacht, bei den Babyloniern, den Iraniern, einigen indischen Systemen etc. der Gegensatz von Geist und Materie, Gott und Stoff; in den meisten Kosmogonien findet sich ein "Weltbildner — der babylonische Gott Marduk teilt die Materie, der indische Brahmanaspati schweißt die Welt zusammen, mir selten, wie in der Genesis, haben wir es mit einem Weltschöpfer zu tun. Eine hervorragende Rolle spielt in den Kosmogonien verschiedener Völker (Polynesier, Inder, Ägypter und Orphiker) das Ei, das zerbricht und nun Himmel und Erde bildet. Überall lassen sich, besonders auf vorgerückten Stufen,
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die nahen Beziehungen der "Weltschöpfung mit dem Charakter der betreffenden Religion klar erkennen: während in der Genesis die Allmacht Gottes verherrlicht wird, dient in der pantheistischen Auffassung der Ägypter und Babylonier die "Welt als "Wohnung und Sphäre der göttlichen Kraft, bei den Iraniern tritt zufolge ihres scharfen Dualismus der Kampf zwischen dem guten und bösen. Prinzip und schließlieh der vertrauensvolle Glaube an den endlichen Sieg des Guten im Weltzweck hervor. Oder aber wir haben es mit Göttersagen zu tun, ihren Geschlechtern, gegenseitigen Kämpfen bis zu einem Siege der einen, dem Unterliegen der feindlichen Dynastie, ihren weiteren Schicksalen, der Vereinigung der verschiedenen Familienglieder. unter einem Oberhaupt, dem fürder allgemeine Verehrung gezollt wird — mitunter steht noch über ihnen als unpersönliche Macht gedacht die Notwendigkeit des Geschehens, das unerbittliche Schicksal, dessen Lauf die Götter höchstens zu hemmen, aber nicht zu verändern vermögen. § 8.
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Der zweite bedeutungsvolle Teil der Mythologie, der sie der Religion im eigentlichen Sinne nähert, dem Glauben, bezieht sich auf das Verhältnis der Menschheit zur Gottheit, das, wie nicht weiter erörtert zu werden braucht, gleichfalls ganz und gar durch die betreffende geistige Entwicklungsstufe der Völker bedingt ist. Trotzdem gerade hier die Gegensätze besonders grell sind — man vergleiche daraufhin die Vorstellungen z. B. eines Austrainegers mit der Weltanschauuung eines Goethe oder Spinoza! —, so läßt sich doch eine gemeinsame Basis nicht verkennen; diese
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besteht in dem lebhaften, wenn auch unbewußten Gefühl der inneren Verwandtschaft des Göttlichen und Menschlichen, wie es seinen ersten konkreten Ausdruck im Ahnenkult gefunden hat. Alle so unendlich verschieden ausgestatteten Beziehungen zwischen beiden "Welten -nehmen von hier aus ihren realen Ausgangspunkt; sympathetische und Achtungsgefühle liefern dazu die entscheidenden psychologischen Triebfedern. Auch hier muß eine kurze Übersicht ausreichen. Die Naturgeister und -gottheiten werden ganz von selbst zu mehr oder minder selbständigen Mächten, zu denen der Mensch in ein bestimmtes Verhältnis tritt. Wenn die Huronen den Himmel verehren, so opfern sie ihm auch Tabak, um sich seiner Gunst zu versichern, da er es in der Hand hat, die Jahreszeiten zu bestimmen und die "Winde zu lenken; ja sie fürchten seinen Zorn, wenn sie es sich beikommen lassen, ihr Wort zu brechen. In ähnlicher Weise reden die Zulu von dem Himmel als jener mächtigen Persönlichkeit, deren Zürnen man im Gewitter verspüren könne. Auch bei den Samojeden und Finnen läßt sich dieser Übergang von dem rein Natürlichen zum Anthropomorphen verfolgen; ihr Gott, der Himmel, ist der Uralte, Erste, der Lenker des Himmels, an den sie sich mit ihren Gebeten um gedeihliches Fortkommen wenden. Je höher mm die Gesittung steigt und die Bedürfnisse sich vermehren, desto mehr entwickelt sich naturgemäß jene vielleicht anfangs lose Beziehung; besonders gilt das vom Ackerbau, dessen Ertrag eben ganz und gar von der göttlichen Huld abhängig gemacht wird. Wie der Donnergott meist nur Zerstörung und Verwüstung anrichtet, so verdanken die Saaten ihr Wachstum und Gedeihen dem gütigen Regengott, der deshalb auch so häufig ein
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Gegenstand der Verehrung ist. Die altgriechische Erdgöttin entwickelt sich später zur segenspendenden Demeter, deren ewiges Feuer im Tempel zu Mantinea brannte, und die Römer identifizierten sie unbedenklich mit (1er Terra Mater. Die Feuer Verehrung hat bei den Parsis zu einem selbständigen, stark ethisch imprägnierten Kultus geführt; der indische Gott des Feuers Agni wird ebenso allmählich seiner materiellen Bestandteile und Züge ganz entkleidet und zu einer überragenden geistigen Persönlichkeit. In der Entfaltung der griechischen Hestia und der römischen Vesta ist derselbe "Weg zu verfolgen, der, wie überall, uns von dem Gebiet des Sinnlichen, Materiellen auf das Sittliche, Geistige, Soziale führt. Der Hinweis endlich auf die so weit verbreitete Sonnenverehrung mag diese Andeutungen beschließen. Das Verhältnis nun zwischen Gott und Mensch ist ein doppeltes: entweder läßt sich die Gottheit zu den .tief unter ihr stehenden Menschen herab, indem sie menschliche Gestalt und Erscheinung (wenn auch nur vorübergehend annimmt) — das sind die Gottmensehen, die gottgesandten Stifter einer neuen Religion und Verkünder einer Heilsbotschaft für die sündige Menschheit — oder die Menschen rücken in langen Abständen zu den Höhen göttlicher Vollendung empor, sie werden ihrer irdischen Hinfälligkeit und Beschränktheit entrückt und unsterblich, das sind die in Sage und Dichtung hoch gefeierten Heroen, mit denen die Schntzgeister, welche speziell den Menschen auf seinem Lebensweg bewachen und beschirmen, nahe verwandt sind. Die Grenzen beider Sphären sind öfter flüssig, Götter werden zu Menschen, ohne ihre Würde einzubüßen (mitunter auch gar nicht aus einem besonderen ethischen, sondern irgend einem rein persönlichen, praktischen Beweggrund), Menschen A c h e I i s , Religionswissenschaft.
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werden anderseits zu Göttern erhoben. Diese nahe Beziehung kommt auch wohl dadurch zum Ausdruck, daß von irgend einem als historisch betrachteten Anfangspunkt die Götter auf Erden geherrscht haben, so z. B. in Ägypten vor Menes; deshalb ist auch jeder folgende König ein Sohn der Sonne, ein Sonnengott selbst, von der Mutter Erde geboren. Bei der Erschaffung der Menschen durch Bö, den strahlenden Sonnengott, hatte der verborgene Sonnengott Tum ihnen eine der seinigen gleiche Seele verliehen. Jeder Tote wird in der Unterwelt, wenn er nur mit den erforderlichen magischen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgestattet ist, zum Osiris selbst und bewährt sich als solcher im siegreichen Kampf gegen die Mächte der Finsternis und des Todes. Die höchste Spitze dieser Anschauung dürfen wir wohl in der Inkarnation des göttlichen Wesens erblicken, wie es die griechisch-christliche Spekulation in der bekannten Lehre vom Logos von dem fleischgewordenen Wort in Christus entwickelte. Hier ist die Einheit der menschlichen und göttlichen Natur am stärksten betont und in alle Konsequenzen hinein verfolgt. Ähnlich ist die (freilich sich stets wiederholende) Inkarnation des göttlichen Buddha in dem tibetanischen Dalailama in Lhassa. Natürlich ist damit auch Unfehlbarkeit und die höchste sittliche Vollkommenheit gegeben, ein untrügliches Kennzeichen, daß wir uns eben auf verhältnismäßig vorgeschrittenen Entwicklungsstufen befinden, wo außerdem tiefsinniges Denken mit ausgeprägter Yorliebe f ü r das rein Abstrakte einsetzt. Yiel weiter verbreitet ist der umgekehrte Glaube an Halbgötter, Heroen, die durch eigene Kraft und Tüchtigkeit sich die Unsterblichkeit erringen, während der Schamane und Zauberer nur durch die Ekstase und Yision für eine Zeitlang der Gott-
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ähnlichkeit teilhaftig wird. Gerade in der Schilderung dieser meist volkstümlichen und beliebten Gestalten vermischen sich mythologische und religiöse Züge unter leiser Beimischung ethischer Elemente ungezwungen miteinander, und hier ebenfalls lassen sich bei aller ethnographischen Verschiedenheit unverkennbare Ähnlichkeiten bei völlig stammfremden Völkerschaften feststellen, so bei den Polynesiern, Amerikanern, Indiern usw. Es kommt auch vor, daß der Göttersohn, früher in unmittelbarer Nähe der Götter lebend, später durch Leichtsinn und Frevel sich dieses Vorzugs beraubt hat und nun mit allen Widerwärtigkeiten des gewöhnlichen menschlichen Schicksals sich abplagen muß. Oder die Grenzen beider Sphären sind so verwischt, daß ein Gott ein sterbliches Weib heiratet (oder umgekehrt), und dadurch das göttliche Ebenbild verblaßt. Bald sind sie sterblich, bald werden sie nach den Inseln der Seligen entrückt oder unmittelbar unter die Zahl der Götter aufgenommen. Sehr bezeichnend ist auch die bekannte Erzählung des Pausanias, daß die Bewohner von Marathon alle in der Schlacht dort Gefallenen verehrten, indem sie dieselben Heroen nannten; den in der Schlacht bei Platää Gefallenen wurden sogar Toten opfer dargebracht. Neben rein mythischen Gestalten (besonders kommen liier die Sonnensagen in Betracht) finden wir gelegentlich auch geschichtliche Persönlichkeiten, die auf diese Weise göttliche Ehren erhalten; Könige wie Sargon von Agade in Babylonien, oder Weise wie Laotse und Kongtse in China, vor allem aber die großen Reformatoren und Stifter einer neuen Religion wie Mahavira, Buddha, Zoroaster usw. gehören in diesen Rahmen. Ein ähnliches Zwischenglied in dieser langen Kette bilden die Heiligen der verschiedenen 3*
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Religionen, die dann meist auch mit besonderer Wunderkraft ausgerüstet sind, zuweilen auch auf nicht gewöhnliche Weise sterben. Wieder anders ist die Stellung der Dämonen, die nach Hesiod ursprünglich rein göttliche Wesen waren und dann von Zeus als Schutzgeister der Menschen auf die Erde hinabgesandt wurden. Die bekannte pessimistische Bedeutung des Wortes als böser Geister, die dem Menschen nur schaden, ist erheblich weiter verbreitet und eigentlich die herrschende bei den Naturvölkern; die christliche Kirche hat diese Vorstellung noch mehr verschärft. Sowohl auf den einfachen Gesittungsstufen, als in der höheren Kultur, wo eben der Gegensatz des Guten und Bösen unverhüllter hervortritt, ist diese Anschauung von schädlichen Mächten, die den Menschen in angsterregenden Träumen oder in schweren Krankheiten heimsuchen oder ihm sonst irgendwie nach dem Leben trachten, äußerst weit verbreitet. Die ganze Therapie, die bekannte Exorzisation der bösen Geister bis zur Austreibung des Teufels in unserer so hoch erleuchteten Gegenwart beruht auf dieser animistischen Grundlage, die anscheinend unverwüstlich ist bei aller sonst tiefgreifenden Aufklärung. Kranksein heißt geradezu gelegentlich so viel wie von einem Geist geschlagen sein, und unsere deutsche Sprache hat mit dem Hexenschuß oder dem Besessensein diese Perspektive ebenfalls noch sehr unverhohlen zum Ausdruck gebracht. Auch sonst glaubt sich der erregbare Sinn des Naturmenschen überall von Kobolden und Dämonen bedroht, die sich im tiefen Wald verstecken, so daß man, wie die Niam-Niam in Afrika sagen, ihre unheimliche Stimme im Rauschen der Blätter vernehmen kann. Verwandt ist damit das Treiben der Gespenster, Seelen, die ihre verhängnisvolle Vernachlässigung unnachsicht-
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lieh rächen, und die nur durch die stärksten Opfer und Zaubersprüche gebannt werden können. Mit diesen Unholden hängen dann die in unheimlichen Visionen erscheinenden Incubi und Succubi zusammen, ferner die Yampire, die den Menschen infolge nächtlicher Besuche das Blut aussaugen und ihn bis zum Gerippe ausmergeln, die Hexen beiderlei Geschlechts, nicht, wie man wohl gemeint hat, eine scheußliche Erfindung des christlichen Mittelalters, sondern unendlich weit auf Erden verbreitet, wo die Dämonen in die unglücklichen Menschen hineinfahren und sie zu willenlosen Werkzeugen ihrer verderblichen Macht erniedrigen, endlich die eigentlichen Teufel, die dem uralten Dualismus gemäß in irgend welcher, sei es schwächerer oder stärkerer Form auf allen Stufen religiös-mythologischer Entwicklung wiederkehren. Verschiedene Naturvölker wissen von einem derartigen bösen Geist zu erzählen, so die Indianer auf Florida von einem Gott Toia, dem sie eine gewisse Verehrung zollten, oder es kennen die brasilianischen Indianer einen Widersacher Gottes, welcher letztere bei Nacht arbeitet, namens Epel, oder an der Loangoküste genießt der böse Gott, der besänftigt werden muß, noch häufiger einen Kultus als der gute, der sich so wie so schon als milde erweist. Immerhin ist die rein ethische Vorstellung von einer Vergeltung schlechter Handlungen durch eine böse Gottheit und der förmlichen Herrschaft eines Teufels über den Menschen, wie es höhere Stufen entwickelt haben (Zoroaster, Islam, Christentum), nur vereinzelt, vollends aber der Kultus des Teufels, wie wir ihn bei den Jezidis in Mesopotamien treffen, die ihre eigentliche Verehrung dem Satan weihen, indem sie hoffen, daß er dereinst nach seiner Wiedereinsetzung die Macht
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bekommen werde, sie entsprechend zu belohnen. Daß endlieh der uralte Grlaube an Dämonen und Gespenster, die umgehen und Schaden anstiften, wenn sie nicht durch geeignete Vorkehrungen versöhnt werden, in neuerer Zeit durch den Spiritismus eine unverdiente "Wiedergeburt erfahren hat, wollen wir nur beiläufig als einen Beleg für die Unverwüstlichkeit primitiver Anschauungen erwähnen. III. K u l t u s . § 9. Sphäre des Kultus. Wie schon bemerkt, gilt uns der Kultus, einerlei wie eng oder weit man den Begriff desselben faßt, als ein unzertrennlicher Bestandteil der Religion überhaupt; überall auf Erden finden wir wenigstens irgend welche Riten und Zeremonien, die auf göttliche Verehrung hindeuten, und deshalb ist der bis in die neueste Zeit lebhaft geführte Kampf, ob der Mythologie oder dem Kultus der Vorrang in der psychologischen Entwicklung gebühre, für uns hinfällig, es gehört eben beides unmittelbar zusammen, und erst unsere Zergliederung sucht einen zeitlichen Unterschied herauszufinden. Schon der so wichtige Priesterstand sorgt dafür, daß durchweg, wo wenigstens irgend eine, und sei es aucli noch so lockere Organisation anzutreffen ist, den betreffenden gottesdienstlichen Verrichtungen die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird. Fassen wir den Kultus ganz einfach als Verehrung übersinnlicher Mächte, sofern sie für das vorgestellte ideale Dasein in Betracht kommen, so bezieht er sich eben naturgemäß auf die Verwirklichung dieser "Wünsche und Hoffnungen, die des Menschen Herz stets bewegen;
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gerade wegen dieses für den materiellen Naturmenschen (das übrigens auch in uns noch gar nicht ganz erstorben zu sein pflegt) so entscheidenden praktischen Verhältnisses wurzelt der Kultus so tief im menschlichen Geist, die Religion würde, namentlich, auf primitiven Stufen, jeglichen Halt verlieren. Im übrigen veranschaulicht die folgende kurze Orientierung den engen Zusammenhang zwischen Mythologie und Kultus. In erster Linie ist nämlich der Baumkultus zu nennen, echt animistischen Ursprungs, wozu vielleicht auch praktische Nützlichkeitsgründe getreten sein mögen, ungemein weit verbreitet, fast universell, seinerseits mit dem Ahnenkult zusammenhängend. Meist nämlich sind es mythische Ahnherren, später zu Göttern aufsteigend, denen irgend ein Baum als Sitz ihrer Macht und "Wirksamkeit zugeschrieben wird. Nur eine kurze Ubersicht möge das veranschaulichen: Wie neben den anderen Kontinenten in Europa im allgemeinen, so läßt sich auch in Griechenland, Italien, Gallien, Deutschland usw. im besondern diese Baumverehrimg nachweisen. Die heiligen Haine unseres Vaterlandes sind schon von Tacitus her bekannt, desgleichen das Fällen der heiligen Eiche durch Bonifacius; auf der Insel Skye gilt noch jetzt ein Baum f ü r so unverletzlich, daß ihn niemand zu berühren wagt; ebenso kräftig blüht noch gegenwärtig der Baumkultus in Livland. Auch wird das Wort church von quercus nach einigen Schriftstellern abgeleitet. In ganz Zentralafrika, im Süden von Ägypten, in der Sahara etc. herrscht diese Anschauung mit unverminderter Frische. Selbst der Bodhi-Baum des Gautama gehört in diesen Zusammenhang oder vielleicht auch der bekannte Homakultus in Persien. Nicht minder weitverbreitet ist sodann die Stein-
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Verehrung; wie der roll zusammengewürfelte Steinhaufe auf den Gräbern Polynesiens oder die kunstvoll gefügte Pyramide in Mexiko und Ägypten oder die großen Steinbauten in Kambodja und in Yukatan oder endlich die Topa in Indien überall an das Grab und den Tod anknüpfen, so werden auch die Steine zu Sitzen der Gottheit, so daß sie meist auch eine, freilich zuweilen etwas rohe künstlerische Behandlung erfahren. Ob es der Stein ist, mit dem z. B. in Assam jeder Tote gekennzeichnet wird, oder der berühmteste aller arabischen Steine, jener in die Kaaba eingemauerte, vorislamitische, oder der ägyptische Obelisk oder sonst irgend ein berühmter Malstein, z. B. die oft angeführten seltsamen Fetischbilder der auch sonst so interessanten Osterinsel, immer leuchtet wieder der ursprüngliche dämonologische Gedanke durch: es ist die Verkörperung irgend eines Ahnen oder eines späteren Gottes, den es mit bestimmtem Zeremoniell zu ehren gilt. Selbst die klassischen "Völker wußten mancherlei von diesen primitiven Entwicklungsstadien zu erzählen. Womöglich noch verbreiteter ist das Holzbild, das wir ja ebenfalls bei den Griechen als Vorläufer der späteren Marmorstatuen antreffen; Indianer, Polynesier, Indier, Neger usw. liefern hierfür noch ein weiteres sehr umfangreiches Material. Wie in der Mythologie, so wird auch im Kultus das Wasser als Wohnsitz göttlicher Wesen aufgefaßt, sei es der erdumfassende Okeanos oder irgend ein Strom des betreffenden Landes. Während die großen gesetzmäßig und periodisch auftretenden Naturerscheinungen verhältnismäßig erst spät die Aufmerksamkeit des Naturmenschen erregen, beschäftigt sich seine Phantasie, soweit es selbstverständlich die geographischen Bedingungen gestatten, schon früh mit dem feuchten
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Element. Schöpfungstheorien, die zum Teil auch mit auf vulkanische Kräfte sich beziehen, knüpfen sich an die Tätigkeit eines Gottes, der, wie der polynesische Maui, die Erde mit einer Angel aus dem Meere auffischt. Einer ähnlich weiten Verbreitung hat sich der Feuerkultus zu erfreuen, namentlich auf den Stufen höherer Entwicklung, wo ein gewisser ästhetischer Sinn die rohen, materiellen Vorstellungen verklärt und idealisiert hat. Das klassische Altertum mit dem ethisch so ungemein wertvollen Kult der Hestia und Vesta, unsere arische Vorzeit, wie sie sich in den Veden (in der Gestalt des Agni) und in dem Zendavesta widerspiegelt, ist dafür ein leuchtendes Zeugnis; aber die sühnende, reinigende Kraft des Feuers war auch den einfachen Steppenbewohnern nicht unbekannt. Je nach seiner Verwendung erschien es bald als läuternde, wohltätige, nützliche Macht — die ganze Gesittung basiert ja stets auf dem Feuerraub, wie er in den verschiedensten Sagen gefeiert wird — oder als verheerendes, schädliches Element, als fressendes Ungeheuer, das als Moloch auch die teuersten Opfer des Menschen verschlingt. Einen eigentlichen Gestirnkultus können wir bei den niederen Naturvölkern nicht beobachten, so üppig auch ihre Mythologie in dieser Beziehung emporrankt; sobald aber die Gesittung etwas weiter vorgeschritten ist, namentlich sobald der Ackerbau das Leben der Völker bestimmt, tritt auch die Verehrung der Sonne und des Mondes auf (auch die Vorstellung von den Ahnen, die ihren Sitz auf den Sternen haben, ist mitbestimmend); selbst das so nüchterne, rationalistische China hat noch mancherlei Anklänge hieran bewahrt. Mondfinsternisse, wo Dämonen das Gestirn bedrohen, spielen eine verhängnisvolle Eolle, und es bedarf aller möglichen Be-
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schwörungsformeln des zauberkundigen Priesters, um diese Gefahren zu beseitigen. Endlich ist hierhin der schon früher erwähnte Tierkultus zu rechnen nebst dem gleichfalls behandelten Totemismus; hier handelt es sich in der Tat um eine regelrechte Verehrung des iin Tier verkörperten Gottes oder Ahnherrn. Der Tierdienst, bei den Ägyptern und Indiern besonders bekannt, ist ein wesentlicher Bestandteil fast aller Eeligionen, indem für die ursprüngliche Anschauung die für uns so maßgebende sittliche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier fehlt und dafür umgekehrt die sympathetische WesenVerwandtschaft an die Stelle tritt. Der so unendlich weitverzweigte Tierfetischismus (bei den Indianern, Negern, Polynesiern, Asiaten etc.) ist, wie wir uns später noch genauer überzeugen werden, aus dieser psychologischen "Wurzel entsprossen. IV. B e s t a n d t e i l e d e s K u l t u s . § 10. Das Gebet. So wichtig uns der geistige Austausch zwischen Mensch und Gottheit auch zu sein scheint, und sooft wir auch bei den Völkern verschiedenster Abkunft und selbst den rohesten Stämmen Anrufungen überirdischer Mächte antreffen, so ist es doch nicht völlig über jeden Zweifel erhaben, ob wir die Universalität des Gebets behaupten dürfen, obwohl das Fehlen desselben ebenso sicherlich eine verschwindende Ausnahme bezeichnet. Anfänglich handelt es sich meist, wie zu erwarten, um rein materielle Güter, um irdische Bereicherung an Hab und Gut, um Schädigung des Feindes, um Verhütung drohender Gefahren u. a., obwohl auch anderseits schon verhältnismäßig sehr früh gewisse ethische
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Kegungen auftreten. Von den Samoanern ist uns folgendes Gebet überliefert: Hier ist Ava für euch, ihr Götter! Blickt freundlich auf diese Familie (der Häuptling verrichtet das Opfer); lasset sie wachsen und gedeihen und erhaltet uns alle bei guter Gesundheit. Lasset unsere Pflanzungen fruchtbar sein, lasset Futter wachsen, und möge Überfluß herrschen an Nahrung für uns, eure Geschöpfe. Hier ist Ava für euch, ihr Kriegsgötter! Lasset ein starkes und zahlreiches Volk f ü r euch in diesem Lande sein! Hier ist Ava für euch, ihr segelnden Götter. Kommt nicht an diesem Ort ans Ufer. Möge es euch gefallen, durch den Ozean hin nach einem anderen Lande zu segeln. — Stark pathetisch klingt der Kriegsgesang eines Delawaren: 0 du großer Geist dort oben, Habe Mitleid mit meinen Kindern Und meinem Weibe! Verhüte, daß sie meinetwegen nicht trauern! Laß es mir in diesem Unternehmen gelingen, Daß ich meinen Feind erschlagen möge Und heimbringe die Siegeszeichen Zu meiner teuren Familie und meinen Freunden, Daß wir miteinander uns freuen! Habe Mitleiden mit mir und behüte mein Leben, Und ich will dir ein Opfer bringen usw. Geradezu aber von einem höheren sittlichen Standpunkt aus geht die Bitte der Khonds, eines drawidischen Stammes im nördlichen Indien: 0 Herr, wir wissen nicht, was gut für uns ist; du weißt es, darum bitten wir dich, oder die eines Azteken: 0 gnädiger Herr, laß diese Heimsuchung, mit der du uns züchtigst, uns vom Übel und Irrtum befreien, oder die eines Peruaners,
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an Viracocha, die Weltgottheit, gerichtet: 0 Pachacamac, der du von Anfang an warst und bis zu Ende sein wirst, mächtig und mitleidig, der du den Menschen schufst, indem du sagtest: Lasset Menschen sein, der du uns vor dem Übel behütest und uns Leben und Gesundheit bewahrst, bist du im Himmel oder auf der Erde, in den Wolken oder in den Tiefen? Höre die Stimme dessen, der dich anfleht, und gewähre ihm seine Bitten. Verleihe uns ewiges Leben, bewahre uns und nimm dies unser Opfer an. — Zwar ist hier (was freilich von anderer Seite entschieden bestritten wird) die Möglichkeit eines christlichen Einflusses nicht ausgeschlossen. Ein längeres Gebet, das die ganze Lebensführung mit einschließt (es stammt von den schon erwähnten Khonds in Indien), möge der folgende Auszug veranschaulichen: Gott, du erschufest uns und legtest lins die Eigenschaft des Hungers bei; daher war Getreidenahnmg notwendig f ü r uns, und daher waren notwendig für uns fruchttragende Felder. Du gabst uns einen jeden Samen, du befählest uns, Rinder zu gebrauchen und Pflüge zu machen und zu pflügen. Hätten wir nicht diese Kunst von dir erhalten, so würden wir wohl noch leben können von den natürlichen Früchten des Feldes, aber in unserer Verlassenheit hätten wir dir keine Verehrung erweisen können.— Deshalb erinnere dich dessen und erfülle die Gebete, die wir jetzt an dich richten. Am Morgen erheben wir uns vor Sonnenaufgang zu unserer Arbeit und besorgen die Saaten. Beschütze uns vor dem Tiger und vor der Schlange und vor Steinen des Anstoßes. Laß das Korn plötzlich emporschießen, laß die Erde unter unseren Pflugscharen nachgiebig sein, laß die zusammengeballten Erdklumpen zergehen wie Hagelkörner, laß unsere Saaten viel Frucht
Das Gebet.
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zurückgeben und erinnere dich, daß mit unserem Ertrage auch deine Verehrung wächst, und daß die Verminderung derselben auch- die Verminderung deiner heiligen Riten nach sich zieht usw. Auch auf höheren Stufen, selbst bei uns, finden sich doch unwillkürlich recht materielle Beziehungen eingeflochten, oder es treten starke soziale Differenzierungen hervor, wie z. B. in den Veden, wo es u. a. lautet: Nimm unsere Trübsal von uns! Durch heilige Verse mögen wir die Oberhand gewinnen über diejenigen, welche sich keiner heiligen Hymnen bedienen. Mache einen Unterschied zwischen den Aryas und denen, welche Dasys sind; züchtige die, welche keine heiligen Riten beobachten, unterwirf sie den Opfernden. Indra unterwirft die Unfrommen den Frommen und vernichtet die Grottlosen durch die Gottesfürchtige!!. — Noch stärker erklingt dieser Ton bei den Moslems: Ich suche Zuflucht bei Allah vor Satan, dem Verfluchten. Im Namen Allahs, des Mitleidigen, des Erbarmers. 0 Herr aller Geschöpfe, o Allah, vernichte die Ungläubigen und Polytheisten, deine Feinde und die Feinde der Religion! 0 Allah, mache ihre Kinder zu Waisen und zerstöre ihre Wohnsitze, laß ihren Fuß ausgleiten und gib sie und ihre Familien und ihre Häuser und ihre Weiber und ihre Kinder und ihre Verwandten und ihre Brüder und ihre Freunde und ihr Besitztum und ihre ganze Rasse und ihr Hab und Gut und ihr Land den Moslems zur Beute. — Später, als priesterliche Spekulation sich des Kultus bemächtigte, hat das Gebet in der Kraft des Wortes, d. h. des göttlichen Zaubers, eine siegreiche Bedeutung für den Kampf mit allen bösen Leidenschaften und schadenbringenden Dämonen gewonnen. Alle großen Religionen haben sich dieser Suggestion zu ver-
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sichern gewußt, besonders, wie wir später noch sehen werden, bei den Exorzisationen, von dem Brahmanismus bis zum Christentum hin. Nach dem Vendidad bei den Persern wird dem Wort unter den verschiedenen Möglichkeiten, Krankheiten zu heilen, unbedingt der Vorzug erteilt. Honover, der allgemeine Name für das lebendige Wort Ormuzds, bewährt sich, richtig verwendet, stets im Kampf mit dem bösen Ahriman und seinen Heerscharen. Deshalb ist auch das Wissen der heiligen Sprüche in den Priesterschulen so ungemein wichtig, und so verleiht dieser Besitz überall (bei den Indern, Persern, Juden, Moslems, Buddhisten, Christen usw.) die Herrschaft über die bösen Geister; dem „AVorte" wird ein göttlicher Kultus zu teil, da es eben die Wirksamkeit Gottes, ja die Gottheit selbst einschließt (von der gnostischen Logostheorie noch ganz abgesehen). Daher dient denn auch das Wort nicht nur als Zauber und Fetisch, sondern als Amulett, zur Abwehr von Krankheiten und Todesfällen. Ein Papierschnitzel, bestehend aus Koransprüchen, ist im islamischen Afrika ein sehr gesuchter Artikel; das berühmte buddhistische Om mani padme hum, unser Rosenkranz, die Gebetsräder und -miihlen der Mongolen gehören sämtlich mit noch unendlich vielen anderen Erscheinungen in diesen Zusammenhang. Natürlich ist Form und Inhalt des Gebets unvergleichbar verschieden je nach der allgemeinen Kulturstufe und nach der Individualität des einzelnen; neben dem einfachsten, ja wohl auch rohesten Ausdruck sinnlicher Begehrlichkeit finden wir längere, kunstvolle, dann freilich mechanisch abgeleierte Litaneien oder die vedischen Gesänge, die homerischen Hymnen, die neuerdings aufgefundenen Lieder zu Ehren der ägyptischen und assyrischen Gottheiten, die Psalmen
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Israels, die tief empfundenen religiösen Gedichte der Moslems und der ebenso mystischen Kirchenlieder unseres Glaubens — welche Fülle und Verschiedenartigkeit der Ideen und des Stils und doch in gewissem Sinne darin eins und übereinstimmend, daß sie, wie auch immer, einen bestimmten Gemütszustand, eine Sehnsucht, ein heftiges Verlangen und Begehren uns veranschaulichen, wenigstens anfangs, mag auch immerhin später priesterliche Berechnung und Ausnutzung den bloßen Affekt erstickt haben. Gerade in dieser Richtung haben wir den eigentlichen Wert der Offenbarung, d. h. einer streng immanenten, psychologisch verständlichen, zu sehen, die der Ursprung und lebendige Quell aller Religion ist. Diese Gemütsstimmung, die Religiosität im echtesten Sinne des Wortes, bildet deshalb auch den eigentlichen Pulsschlag des Kultus, der ohne dies Element sofort unweigerlich zu totem Formelkram sich versteinert; der Glaube, die unerschütterliche Überzeugung von der Wirksamkeit und Bedeutung des göttlichen Wortes ist das innere Band, das in allen Kirchen die äußere Organisation, jeden Ritus und jede feierliche Handlung mit der inneren Empfindung, mit dem Sehnsuchtsdrang des Menschen, diesem unvertilgbaren Zug nach der Höhe, der die Religion geboren hat, verknüpft. Aber nicht nur durch das bloße Wort gelangt der Mensch zur „Gerechtigkeit", so daß er nur eines Wissens bedarf, um aller Qual ledig zu werden, sondern diese Kulttreue, wie man es geradezu nennen könnte, beweist sich in der unverbrüchlichen Haltung des göttlichen Gesetzes, Vorschriften, die gleichsam Antworten des höchsten Wesens auf unsere Fragen und Bitten sind. Die Beschränkungen und Verbote sind bisweilen
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außerordentlich streng und empfindlich, ganz besonders (was sehr charakteristisch ist) auf niederen Entwicklungsstufen, wo eben die Priester ihre weitreichende Macht gerade in dieser Beziehung auszunutzen wissen. Am bekanntesten sind die verschiedenen Speiseverbote, vor allem aber das gefürchtete polynesische System des Tabu, demzufolge alles schlechterdings ("Wohnungen, Gegenstände etc.) von den Priestern oder den mit ihnen verbundenen Häuptlingen mit Beschlag belegt werden konnte. In allen höheren Religionen begegnen uns sodann irgend welche Gebote, mit göttlichem Glanz umkleidet, bei den Indern, Persern, Juden, Moslems, Christen usw., nicht selten bezeichnenderweise negativ gefaßt, eben als Einschränkungen der rohen, zügellosen egoistischen Instinkte der Menschen; erst eine feinere, tiefere Auffassung bringt sittliche Motive in den Zusammenhang hinein. Je nacli der Kulturstufe schwankt ihr Charakter; während das auf dem Ahnenkult und der Pietät errichtete System des Confucius die Ehrerbietung der Kinder gegen Vater und Mutter besonders eindringlich einschärft, steht für den Buddhisten die Forderung an der Spitze alles anderen, kein Leben zu zerstören, oder fehlt für den Brahmanen das im Judentum so scharfe Verbot des Götzendienstes, resp. der Herstellung von Götterbildern. Diese Gesetze bilden die Grenzlinien der betreffenden Kultgemeinschaft und bestimmen somit die Zugehörigkeit der einzelnen Glieder, so daß das unverbrüchliche Halten dieser Vorschriften eine selbstverständliche Forderung der religiösen Selbsterhaltung ist. Daß gerade hier leicht eine verhängnisvolle Erstarrung eintreten kann, eine bloß äußerliche Abfindung bei völliger innerer Entfremdung, liegt auf der Hand und ist durch unzählige
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geschichtlicliu Tatsachen, die sich, noch immer wiederholen, belegt. § 11. Gelübde und Opfer. Mit dem Gebet, das, wie der Ausdruck schon anzeigt, eine Bitte in sich schließt, hängt unmittelbar das Opfer zusammen, das der Mensch als Geschenk der Gottheit anbietet, was wiederum aus den verschiedenartigsten Beweggründen sich herschreiben kann. Wie der Naturmensch sich vor einem mächtigen Häuptling demütig auf die Knie niederläßt, und um seine Gunst zu erlangen, ihm eine Gabe überreicht, so bekundet sich eine ähnliche Anschauung in dem Verhältnis des Menschen zur Gottheit. Um diesen psychologischen Zusammenhang klarzustellen, möge es gestattet sein, aus der großen Fülle des Materials einen instruktiven Beleg herauszugreifen. Als 1693 das Meer in Guinea sehr stürmisch war, schickte der König den Fetischpriester an die Küste mit einem Krug Palmöl, einem Sack voll Eeis und Getreide, einer Flasche Branntwein, einem Stück Kattun u. dergl. Als der Zauberer nun an den Strand gekommen war, hielt er eine längere Rede an die See, in der er ihr versicherte, der König sei ihr Freund, und die "Weißen als ehrliche Leute lobte; es möge ihnen deshalb gestattet sein, zu landen. Bei diesen "Worten warf er den Krug mit Ol in die "Wellen und ließ ihm unter ähnlichen Versicherungen Reis, Branntwein, Getreide usw. nachfolgen. Mag man mit manchen Forschern den Kultus und insbesondere das Opfer als den eigentlichen Ursprung der religiösen Entwicklung betrachten oder umgekehrt aus dem Mythus, aus einer bestimmten "Weltanschauung, aus einem Glauben die Verrichtung des Opfers als ein A c h e l i s , Religionswissenschaft.
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notwendiges Ergebnis ableiten, jedenfalls ist das letztere ein sehr wichtiger Faktor der ganzen Religion. U. E. kann man, wie so häufig, nicht beides chronologisch voneinander scheiden, vielmehr greift Glaube und Tat unmittelbar ineinander über, so daß man viel eher von einer Gleichzeitigkeit beider zu sprechen befugt wäre. Ebenso bedeutsam ist die soziale Beziehung, die Teilnahme der Stammesmitglieder an einem gemeinsamen Mahle, das dem Stammgott (Totem) zu Ehren abgehalten wird; wenigstens führen viele Opferformen und -riten auf diesen Ursprung zurück. Wie sich in dieser Gemeinschaft der an dem Mahle teilnehmenden Personen das Gefühl der Zusammengehörigkeit unverkennbar ausdrückt, so nicht minder dem überirdischen Wesen gegenüber eben auf Grund dieser Feier der Wunsch, in ein näheres Verhältnis zu treten, das irgendwie auch für die Zukunft Bestand hat und in drohenden Gefahren Schutz und Schirm verspricht. Nicht selten sind gerade Liebesmahle mit blutigen Opfern begleitet (bei den Azteken, selbst bei den sonst so zartfühlenden Peruanern kam das vor, und bei unzähligen anderen Naturvölkern), die erst allmählich (so z. B. im brahmanischen Kultus) durch harmlose Symbole vertreten wurden. Diesen Opfern und Feierlichkeiten zu Gunsten der sozialen Gruppe stehen gegenüber diejenigen Riten, die als Gelübde und Weihungen mehr mit dem Wohlergehen des einzelnen zusammenhängen; es bedarf aber keiner ausführlichen Erörterung, daß dieser von einigen Schriftstellern versuchte Unterschied ziemlich flüssig ist. Wenn nach uralter Anschauung die Gottheit Besitz genommen hat von Idolen, Tieren oder Menschen, so verzehrt sie die ihr gebrachten Gaben, da sie noch ganz und gar materiell vorgestellt wird. Das Blut,
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dieser „besondere Saft", oder eine andere Flüssigkeit — man denke nur an den berühmten Sorna oder Haoma in der indopersischen Glaubenslehre! — spielt dabei eine große Rolle, während die festen Teile des Körpers vergehen können. Die stärkste Form dieses Spiritualismus dürfen wir wohl in dem "Weihrauch erblicken, wie er bei den Amerikanern im Gebrauch ist; dahin gehört die unserem Empfinden kaum noch zugängliche religiöse Bedeutung des Tabakrauchens. So pflegten die Osagen bei jedem neuen Unternehmen eine Pfeife anzustecken und dabei das folgende Gebet zu sprechen: Großer Geist, komm herab und rauche mit uns als Freund! Feuer und Erde, raucht mit mir und helft mir meine Feinde vernichten. — Die Sioux blickten zur Sonne, wenn sie rauchten, und wenn die Friedenspfeife angezündet wurde, so boten sie ihr dieselbe dar mit den Worten: Rauche, Sonne. Bei allen Beschwörungen ist die Narkose durch den Tabaksrauch die unumgängliche Vorbedingung. Der Weihrauch insonderheit war in allen amerikanischen Tempeln im Gebrauch, nicht minder wie in Griechenland, Rom, Ägypten etc. Mit diesen mehr oder minder wertvollen Geschenken ist unmittelbar, wie bereits erwähnt, verknüpft der Gedanke einer Huldigung, einer Verehrung, einer Anerkennung der überragenden göttlichen Macht oder auch einer Sühne für begangene Fehltritte, so daß sich dann später die bekannte, oft ironisierte Vertragstheorie zwischen Mensch und Gottheit entwickelt und jener herrisch auf Grund seiner Geschenke die Absolution fordert, ja wohl bei ausreichender Sicherstellung darauf lossündigt. Diese Entartung von den Tagen der jüdischen Propheten bis zu Luther hinab ist bekannt, und die Worte der Schrift: Ich habe Lust an der Liebe, nicht am Opfer, an der Erkenntnis 4*
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Gottes und nicht am Brandopfer, ich habe keine Lust ?um Blute der Farren, der Rinder und Böcke, gelten leider noch heute. Die furchtbaren Menschenopfer, die, nach gewissen bedeutsamen Rudimenten zu urteilen (abgesehen natürlich von den unwidersprechlichen Belegen), einst überall geherrscht haben, beruhen in der Hauptsache auf diesem Wahn einer ganz besonders wirksamen Huldigung, ja eines daraus entspringenden Zwanges, den der Mensch auf die Gottheit dadurch ausübt. Zunächst möge ein oder das andere Beispiel jene Stimmung verdeutlichen: Die Sulus suchen den Himmelsgott durch ein Opfer von Rindern geneigt zu machen, um dadurch Regen zu bekommen; die Häuptlinge wählen die Ochsen aus, einer wird freilich nur getötet; das Fleisch desselben verzehrt man im Hause unter tiefstem Stillschweigen, zum Zeichen demütiger Unterwerfung; die Knochen werden außerhalb des Dorfes verbrannt und nach der Mahlzeit singt man ein Lied ohne Text. Den eigentlichen Gipfel des Opfers als eines Verzichtes auf wertvollen Besitz stellt aber das den Göttern von den Priestern dargebrachte Opfer des Menschen dar, das sich in den mannigfaltigsten Abstufungen (als Ablösung bis zum harmlosen Symbol hinunter) überall verfolgen läßt. Dahin gehören die Reinigungsopfer bei den Juden, die Hingabe des Blutes an Jehovah, die griechischen und römischen Ablösungsmythen (die versuchte Opferung der Iphigenie oder die der Mania dargebrachten Mohnoder Lauchköpfe), die unzähligen Schlachtopfer bei den Semiten — opferte doch auch der König von Moab seinen ältesten Sohn, als ihm der Streit zu stark war —, das so weit verbreitete Blutlassen, Ohrendurchstechen, das Namenritzen der Gottheit auf der Haut, die Verstümmelungen und Verunstaltungen, die Blutbund-
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reste bei Germanen und Römern — bei jenen spiegeln sie sich ungemein anschaulich in der Mythologie -\vider —, die Kinderverspeisung und -opfer u. a. Das folgende Beispiel aus dem esthnischen Yolksaberglauben läßt den früheren blutigen Zusammenhang noch deutlich erkennen: Der Opfernde mußte seinen Zeigefinger blutig ritzen und dabei das Gebet sprechen: Ich nenne dich mit meinem Blute und verlobe dich mit meinem Blute und bezeichne dir meine Gebäude zum Segen; laß sie gesegnet sein durch mein Blut und deine Macht. Sei mir zur Freude, du Allermächtigster, meinen Eltern Erhalter, mein Beschützer und meines Lebens Beschirmer. Ich flehe zu dir aus Fleisches und Blutes Kraft: Empfange die Speise, die ich dir darbringe zu deinem Unterhalt und zu meines Leibes Freude; bewahre mich als dein gutes Kind, und ich werde dich dankend preisen. Bei des Allmächtigen, meines eigenen Gottes Hilfe, erhöre mich! Was ich aus Nachlässigkeit etwa Unvollkommenes gegen dich getan, das vergiß! Aber bewahre es treu im Gedächtnis, daß ich meine Gaben auf ehrbare "Weise meinen Eltern zu Ehren und zur Freude und zur Vergeltung abgetragen habe. Überdies küsse ich niederfallend dreimal die Erde. Sei mit mir schnell im Tun und Friede sei mit dir bis hierher. — Zuweilen, besonders in ernsten Krisen, in drohenden Gefahren bricht dann der alte Wahn mit doppelter Wucht sich wieder Bahn, alle humaneren Anschauungen, die inzwischen schon Platz gegriffen hatten, unaufhaltsam hiuwegschwemmend. So bei den Karthagern, die schon längst zu den blutigen. Opfern für ihren Moloch fremde, eigens zu diesem Zweck gekaufte Kinder verwenden. Aber als sie das Unglück im Kriege verfolgte, veranstalteten sie ein furchtbares Massenopfer
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von zweihundert den vornehmsten Familien entnommenen Knaben. "Während in Mexiko bei dem jährlichen Test der Wasser- und Gebirgsgötter wirkliche Menschenopfer stattfanden, wiederholte sich das in harmlosen, aber doch recht drastischen Vorgängen in den Häusern der einzelnen Bürger, wo man Menschenbilder aus Teig formte, denen die Herzen aus der geöffneten Brust genommen und verzehrt wurden. Bei den praktischen nnd rationalistischen Chinesen ist die Substitution etwas verwickelter; dort zeichnet man, um von der das Jahr regierenden Gottheit Gesundheit zu erflehen, die rohe Figur eines. Menschen auf das Papier, klebt sie auf einen Bambusstengel und steckt denselben aufrecht in ein Paket von Scheingeld. Dies .Bildnis wird dann mit den dazu gehörigen exorzisierenden Prozeduren zugleich mit der Krankheit auf die Straße hinaus gebracht, der Priester spritzt aus seinem Munde "Wasser auf den Patienten, das Bild und das Scheingeld, die beiden letzteren werden verbrannt, und die Gesellschaft verzehrt zum Schluß die kleine Mahlzeit, die für die Gottheit hingestellt ist. Die bekannte Darbringung des erkrankten Gliedes an die Gottheit in einer Nachbildung, ebenfalls hierhin gehörig, ist nicht weniger "weitverbreitet. Eine Reihe sehr bedeutsamer Zeremonien, die wir gleichfalls schon bis zu den niedrigsten Naturvölkern zurückverfolgen können, bestellt sodann in den Fasten, die sich der Mensch auferlegt, in mehr oder minder schmerzhaften Kasteiungen und in Gelübden, die er auf sich nimmt, oder endlich in Votivopfern zum Dank für Errettung aus Gefahren. Um mit den letzten zu beginnen, so sind jene zahlreichen Wachsbilder bekannt, die wir noch heutigestags in manchen Kirchen sehen,
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wenn irgend ein Körperglied verletzt war und nun dem Heiligen geweiht wird. Selbst auf Tiere erstreckte sich diese Sitte früher. Besonders bedeutungsvoll sind aber, namentlich, wie wir später uns überzeugen werden, für den Priesterstand, die Prüfungen, denen sich der Novize unterzieht, um dadurch den ersehnten Zutritt zur Gottheit zu erlangen. So beschreibt Bastian den Lebensweg eines afrikanischen Zauberers: Das Kind wird schon in den ersten Tagen nach der Geburt zu dem Ganga (Oberpriester) gebracht, der ihm ein oder mehrere Gelübde auferlegt, und die Mutter wacht sorgfältig darüber, es von klein auf zu ihrer Beobachtung anzuhalten und darin zu unterrichten, damit es in späteren Jahren weniger leicht Fehltritten ausgesetzt sei. Anderswo (es war eben vom Kongo die Rede) wird dagegen die mystische Verknüpfung mit dem Mokisso (Schutzgeist) bis zu dem eindruckfähigsten Moment des Jugendalters, dem Ubergang zur Pubertät, verschoben, wenn in der träumerischen Zeit der Ideale iu Afrika die Kolonien in den "Wald ziehen oder der Indianer seinen einsamen Baum besteigt. Außerdem geben bedeutungsvolle Lebensereignisse Veranlassung, den Fetisch zu erkennen. Auf welche Weise immer der Mokisso ausgewählt sein mag, mit ihm ist seinem Verehrer sein Lebensziel gegeben, er findet in ihm seine Befriedigung, die Erfüllung jener bangen Fragen, die, wie überall die Menschenbrust, so auch die des Negers durchwehen; nur daß sie in der letzteren sich mit einer einfacheren Antwort zufriedenstellen lassen. Das Gelübde, das er über sich genommen, bildet für ihn den ganzen Umfang seiner Religion. Solange er in angenehmen Verhältnissen lebt, fühlt er sich glücklich und zufrieden unter dem Schutze seines Mokissos, er fühlt sich stark unter
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seinem Beifall, er schreibt seine sonnigen Tage dem "Wohlgefallen desselben zu, weil er genau in der "Weise handelt und denkt, wie es sein "Wunsch und "Wille erheischt. Hat er aber absichtlich oder unfreiwillig sein Gelübde gebrochen, seine Vorschriften übertreten, so ist er in einen unheilbaren Zwiespalt mit seiner Bestimmung getreten; natürlich brechen Unglücksfälle über ihn herein, bald häuft sich der schwere Druck der Leiden, und was bleibt ihm übrig, als zu sterben und zu vergessen? Denn ihm strahlt nirgends ein höheres Licht der Hoffnung, nirgends eine Bahn des Heils und der Errettung. Der Unglückliche in Afrika braucht nicht den Tod zu suchen; die Feinde, die ihn rings in der Gestalt seiner Mitmenschen umgeben, haben bald den Schwachen unter ihre Füße getreten und mit dem letzten Atemzuge des Fetischanbeters ist ein "Weltsystem (freilich ein "Weltsystem im kleinsten Duodezformat) untergegangen. Der Mensch stirbt, und mit ihm stirbt der Gott, den er sich selbst gemacht hatte, sie sinken beide zurück in die Nacht des Nichts (San Salvador S. 254). Dies System von Kasteiungen und Büßungen, planmäßige Entziehung aller Nahrungsmittel, die Abkehr von aller menschlichen Gesellschaft, die gewaltsame Konzentrierung auf einen einzigen beherrschenden Gedanken, auf ein das ganze Gemüt ausfüllendes Lebensziel bringt jene für die gesamte Religionsgeschichte so wirksame mystische Verzückung, die Ekstase, hervor, der -wir überall, auf niederen und höheren Stufen, begegnen. Visionen und Halluzinationen stellen sich ein, die den Betreffenden rettungslos der Tyrannei dieser Erregungen unterwerfen, so daß er vollständig automatisch handelt; er wird ein Gefäß des guten oder bösen Geistes, der von ihm Besitz genommen hat. Ein
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sehr anschauliches Beispiel dieses seelischen Prozesses (es handelt sich hier um einen indianischen Lebenstraum) mag hier noch auszugsweise mitgeteilt werden: Der Großvater nahm mich bei der Hand und führte mich tief in den "Wald hinein. Hier suchte er eine hohe Tanne aus und bereitete mir in derselben ein Lager, auf dem ich mich zum Fasten niederlassen sollte. Alsdann sagte mir mein Großvater, ich dürfte unter keiner Bedingung etwas genießen, weder essen, noch trinken, keine Beeren pflücken, auch nicht das Regenwasser, das vielleicht fallen möchte, auflecken. Auch müßte ich mich überhaupt nicht von meinem Lager erheben, immer stille liegen, Tag und Nacht mich ganz auf mich selbst beschränken und geduldig der Dinge harren, die da kommen würden. Die ersten drei oder vier Fastentage waren mir so schrecklich und anstrengend, wie das erste Mal, und ich konnte die Nächte vor Hunger und Durst nicht schlafen. Aber ich überwand es, und am fünften Tage fühlte ich nicht viel Plage mehr. Ich verfiel in einen träumerischen und halb starren Zustand und schlief ein. Aber bloß mein Körper schlief, meine Seele wurde frei und wachte. In den ersten Nächten zeigte sich mir nichts, es war alles still; aber in der achten Nacht, da vernahm ich auf einmal ein Rauschen und Wehen in den Zweigen. Es war, wie wenn ein schwerer Bär oder Elentier durch die Gebüsche und Wälder bricht. Mich überfiel eine große Furcht; ich dachte, es wären ihrer zu viele, und ich wollte Anstalten zur Flucht machen. Der aber, welcher sich mir näherte, wer es immer gewesen sein mag, erriet meine Gedanken und sah meine Furcht schon von ferne, und er ließ sich sanft und milde auf die Zweige meines Baumes mir
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zu Häupten nieder. Darauf fing- er an, sich mit mir zu unterhalten, lind fragte mich: Fürchtest du dich, mein Sohn? Nein, erwiderte ich, jetzt schon nicht mehr. Warum bist du hier in diesem. Baum? Um zu fasten. Warum fastest du? Um Stärke zu erlangen und mein Leben zu 'wissen. Das ist gut, denn es fällt vortrefflich mit dem zusammen, was jetzt eben anderswo für dich geschieht. Gerade in dieser Nacht hat man sich über dich und dein Wohl beraten, und ich bin gekommen, dir zu sagen, daß der Ratschluß dir sehr günstig war. Ich bin beauftragt, dich einzuladen, damit du selber schauest und vernehmest. Komm, folge mir. Der Geist schwebte mir voran nach Osten, ich ihm nach. Obwohl wir in der Luft schwebten, so ging ich doch viel sicherer als auf fester Erde. Als wir nach langer Zeit auf dem Gipfel eines hohen Berges angekommen waren, fand ich daselbst einen Wigwam und eine außerordentliche Ratsversammlung darin. Einer der Männer nahm das Wort und sprach: Schau dich um, du findest hier bei uns alle guten Gaben Gottes, Gesundheit und Stärke und langes Leben und alle Geschöpfe der Natur. Und damit du Krankheit vermeidest, empfange diese Büchse mit Medizin. Gebrauche sie in der Not, und bist du in Bedrängnis, so erinnere dich deiner Verzückung und sei unser gedenk. Wenn du zu uns betest, so wollen wir dir helfen und beistehen. Alle die Vögel und Adler und wilden Tiero, die du in unserem Wigwam in Fülle flattern und laufen siehst, wir schenken sie dir. Du sollst ein tüchtiger Jäger werden und sie alle schießen. Während dieser ganzen Zeit hatte mein Körper daselbst ganz starr und bewußtlos wie ein Leichnam gelegen; nur meine Seele hatte so frei in den lichten Räumen
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gewandelt. Dann atmete ich auf, seufzte und regte mich wie einer, der aus tiefem Schlaf erwacht usw. Dies führt dann zu der schon früher besprochenen Wiedergeburt der Seele, zu einer völlig neuen Form des Ich, die mit dem früheren Dasein in keiner Beziehung steht. Diese religiöse Ekstase, die, wie schon gesagt, in der Entwicklung aller Religionsstifter und Propheten eine äußerst wichtige Rolle spielt, bekundet sich dann nach den verschiedensten Richtungen; hier für unseren Zusammenhang, wo wir es mit dem Kultus zu tun haben, kommt in der Hauptsache die Offenbarung göttlicher Befehle in Betracht. Diese Orakelerteilung geschieht auch wohl (abgesehen also von diesen ekstatisch erregten Sehern) auf Grund des sogenannten Tempelschlafs oder der Inkubation. Berühmt und viel besucht waren z. B. zu diesem Zweck die ägyptischen Heiligtümer (so der Serapistempel in Kanobus); nicht viel geringer schätzten die Griechen diese Inspiration und Zukunftsdeutung. Auch zu Heilungszwecken wurde diese Entschleierung der Zukunft seitens der Priester verwendet; selbst bei fürstlichen Persönlichkeiten, wie das folgende Erlebnis Vespasians beweist, gelangten die bekannten Suggestiv-Vorstellungen zur Geltung: Ein gemeiner Mann von Alexandria, wegen Augenübels bekannt, fiel dem Kaiser zu Füßen und flehte seufzend um Heilung seiner Blindheit nach Anweisung des Gottes Serapis, den dies abergläubige Volk vor anderen verehrte; er bat den Fürsten, daß er ihm Wangen und Augenhöhle mit seinem Speichel zu benetzen geruhen möchte. Auch ein Lahmhändiger bat, auf eben des Gottes Geheiß, der Cäsar möchte mit eigenem Fuß auf seine Hand treten. Vespasian lachte anfangs und wies sie fort. Als jene beharrten, scheute
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er einerseits den Ruf eines eitlen Beginnens, anderseits flößte das Flehen jener beiden und das Zureden der Schmeichler ihm Hoffnung ein. Zuletzt verlangte er ein Gutachten der Ärzte, ob solche Blindheit und Lahmheit durch menschliche Hilfe heilbar sei. Die Ärzte erklärten sich verschiedentlich: dem einen sei die Sehkraft nicht erstorben und "werde wiederkommen, wofern die Hindernisse gehoben würden; dem anderen seien die Glieder verrenkt und könnten, wofern heilende Kraft angewendet werden, wiederhergestellt werden. Vielleicht liege dies in der Götter "Willen, und der Fürst sei zum göttlichen Werkzeug auserkoren. Yespasian also, im Glauben, seinem Glück sei alles möglich, vollzog mit fröhlichem Antlitz, vor einer gespannten Menge Anwesender, das Verlangte. Sogleich gestaltete sich die Hand zur Brauchbarkeit, und dem Blinden leuchtete wieder der Tag (Tacitus, Hist. IV, 81). Noch bekannter sind die Leistungen der ägyptischen Zauberer zu Moses Zeiten, die höchstens noch durch die indischen Yogins und moslemischen Derwische übertroffen werden; im übrigen werden wir noch auf dies Gebiet, sofern es sich auf Beschwörung böser Geister bezieht, zurückkommen. Überall aber ist der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Inspiration (dem Erfülltsein durch den göttlichen Geist) und dem Orakelerteilen einleuchtend; das entspricht bekanntlich so sehr dem allgemeinen Volksglauben, daß auch Epilepsie oder idiotische Schwächen meist als Zeichen göttlicher Berufung angesehen werden. Die Autosuggestion spielt hierbei, wie der folgende typische Vorgang veranschaulichen mag, eine wesentliche Rolle: Der Priester auf den Fidschiinseln blickt schweigend und unverwandt auf einen Walfischzahn, bis er nach einigen Minuten
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anfängt, leicht zu zittern, und sich dann diese Zuckungen zu heftigem Gliederschütteln steigern. Jetzt ist der Gott in ihn gefahren; mit rollenden, hervortretenden Augen, unnatürlicher Stimme, blassem Antlitz und bleichen Lippen, "während ihm der Schweiß aus allen Poren bricht, gibt er die Antwort des ihn erfüllenden Gottes; dann lassen die Symptome nach, mit starrem Blick schaut er in die Luft, und der Gott ist in das Land der Geister zurückgekehrt. Diese Orakelbesessenheit wiederholt sich überall, ob wir nach Delphi gehen oder Ägypten, nach Japan oder nach Palästina, mit nur unerheblichen Nuancierungen; ja selbst in der Seherin von Prevorst kehrt dieser Ausdruck völliger Passivität der Gottheit gegenüber wieder: Hier lieg ich lebend Vor dir, Allerbarmer, Ich Arme, ich Kranke, Ich Schwache, ich Kranke, Du nimmst den gehorsamen Kindern den Schmerz, Du bist der Allwissende, Sicherst mein Herz. Ein sehr reiches Gebiet von Kultusvorstellungen eröffnet sich endlich uns durch einen Blick auf die so außerordentlich zahlreichen und mannigfaltigen Trauergcbräuche, die zum Teil, wie es in der Natur der Sache liegt, streng sozial geregelt, der Obhut der Priesterschaft unterstehen, oder mehr privater Natur, der Willkür des einzelnen überlassen sind. Nur einige Streiflichter mögen genügen; Krankheit und Tod geben auch hier in der Hauptsache die betreffende Veranlassung dazu ab. So ist es den Kaffern verboten, den Namen
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des Toten oder ähnliche 'daran erinnernde Ausdrücke zu gebrauchen; das besonders nach dem Tode von Häuptlingen auferlegte Tabu der Polynesier, das Favete linguis der Römer, die zahlreichen Beschränkungen in bezug auf die "Wahl der richtigen Tage, die Verstümmelungen und Entstellungen (Zähneausschlagen, Blutablassen), Haarschur, bestimmte Trauerfarben, sei es am eigenen Leibe, wie in der Kleidung, die eigentlichen Trauerfeierlichlteiten vor, bei und nach der Bestattung, die durchweg die Tendenz verraten, die Seele des Abgeschiedenen zu versöhnen, und anderes gehört in diesen Zusammenhang. Ganz charakteristisch ist es auch, daß manche Papuastämme, die sonst so gut wie nackt gehen, bei Anlaß eines Trauerfalls ihren ganzen Körper mit einem Flechtstoff umwickeln oher eine besondere Trauergewandung sich anlegen. Die Alfuren zerreißen ihre Kleider usw. Sehr verbreitet ist sodann die Sitte der Reinigung durch Wasser nach einem Leichenbegängnis — die Skythen nahmen nach jeder Bestattung ein Dampfbad —, auch ist es ein erprobtes Mittel gegen böse Geister, freilich anderseits auch das Feuer oder starker Lärm und Getöse (z. B. bei Sonnen- und Mondverfinsterungen, wo man dadurch den Gestirnen den Dämonen gegenüber zu Hilfe kommt), Anschauungen und Gebräuche, die uns noch später bei Anlaß der Exorzisationen beschäftigen werden. § 12. Riten im engeren Sinne. Es wird sich im Laufe unserer Betrachtung immer unwiderleglicher zeigen, daß das ganze Leben der Menschen, besonders des auf niederer Gesittungsstufe stehenden, von Anfang bis zu Ende im Zeichen der
Riten im engeren Sinne.
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Religion steht — ein deutlicher Anhaltungspunkt, beiläufig bemerkt, für den sozialen Charakter der .Religion — ; in diesem Rahmen nehmen naturgemäß Krankheit und Tod den wichtigsten Platz ein, und deshalb findet sich gerade ein außerordentlich vielseitiges religiöses Zeremoniell entwickelt. Für diese Entfaltung darf der Priester eine ganz besondere Bedeutung beanspruchen; ihm sind wir eine, wenn auch noch so flüchtige Erörterung schuldig. Natürlich kann es sich auch hier bei dem überquellenden Material nur um Hinweise und einige charakteristische Belege handeln. Bei sehr vielen und zwar durchaus nicht stammverwandten Völkerschaften wird die Mondgöttin zum Beistand bei der Geburt eines Kindes angerufen — so bei den Peruanern, den Iraniern, Semiten etc. —; es ist beachtenswert, daß genau auf derselben Stelle, wo zu Zeiten der alten Römer der Tempel der Juno Lucina stand, sich jetzt die Kirche der S. Maria Maggiore befindet, in welcher unter den Reliquien der Kirche die "Wiege oder Krippe des Heilandes aufbewahrt wird. Die drei Schicksalsgöttinnen der Griechen, Klotho, Laeliesis und Atropos, stellten sich schon bei der Geburt ein und weissagten dem Kinde die Zukunft, ein Vorgang, der genau den alten skandinavischen Nornen entspricht. Dahin gehören auch die zahlreichen Schutzgottheiten verschiedener Völker, wo dann, meist unter Anleitung erfahrener Priester, dem Neuangekommenen das Horoskop gestellt wird. Diese astrologischen Berechnungen wiederholen sich bei den Mexikanern, den Hindus, den Mongolen, den verschiedensten Angehörigen des germanischen Stammes etc. Das Kind gilt meist als unrein, und deshalb bedarf es besonderer Zeremonien, um es zu reinigen und vor bösem Zauber zu beschützen;
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dasselbe gilt von der Frau, die nicht selten eine längere Zeit der Absonderung durchzumachen hatte. Neben dem religiösen Moment tritt auch das hygienische und diätetische, wenn auch manchmal in seltsamer Vermummung, zu Tage. Nur bei den rohesten Völkerschaften wird der Eintritt eines jungen Erdenbürgers mit völliger Stumpfheit und Gleichgültigkeit aufgenommen, meist finden Festlichkeiten und zwar nicht selten recht ausschweifende bei diesem Anlaß statt. Ganz eigentümlich mutet uns die Nachricht des Herodot von den Thraciern an, daß sie sich um das Neugeborene herumsetzten und es beweinten, da es nunmehr die Lasten des Lebens zu ertragen habe. Festesjubel, Trinkgelage, großes Gepränge, ohrenzerreißende Musik usw. finden wir gewöhnlich; so wird uns von den Mohammedanern in Bagdad erzählt, die das neugeborene Kind mit Musik empfangen; eine Bande, die durch Späher sich über das zu erwartende freudige Ereignis rechtzeitig zu unterrichten sucht, stürmt dann das betreffende Haus und beginnt nun ein furchtbares Konzert, in dem die Pauke stets die bedeutendste Rolle spielt. Auch unter den jetzigen Kidturvölkern Europas darf das Kindtaufmahl eine nicht geringe Bedeutung beanspruchen. Ganz besonders wird (aus begreiflichen Gründen) die Geburt eines Knaben mit besonderem Jubel begrüßt, obwohl manche afrikanische Stämme, die den "Wert einer Tochter nach der Zahl der Kühe berechnen, sich über die Geburt eines Mädchens freuen, mit dem man einst ein gutes Geschäft zu machen hofft. Meist aber ist es so, wie es bei den Kabylen hergeht, wo bei der Ankunft eines Knaben Freudenschiisso abgefeuert werden, der ganze Stamm zu Pferde steigt und eine Feier beginnt, die man Phantasie nennt, und die hauptsächlich in Wett-
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rennen besteht; die Familie versammelt sich zu Glückwünschen und Festlichkeiten im Hanse oder Zelte. Ist der Sprößling ein Mädchen, so halten es die Männer für unter ihrer Würde, davon Notiz zu nehmen, und nur die Frauen bezeugen ihre Teilnahme. Geschenke werden verabreicht an Mutter und Kind, auch Symbole, Schutzgeister werden für das Kind ausgewählt (später in den Pubertätsweihen wiederholt sich das in größerem Maßstabe), endlich auch Opfer, um die Gottheit günstig zu stimmen, besonders bei der Namengebung. Noch heute opfern die Mütter in Unteritalien im Gefühl der Dankbarkeit zwei Tauben. Auch die Namengebung trägt meist einen religiösen Charakter; so wurde bei den Römern, Griechen, Mexikanern das Kind im Tempel den Göttern dargestellt. Auf Neuseeland geht der Akt in der Weise vor sich, daß der Priester (Tschunga) einen grünen Zweig ins Wasser taucht nnd damit unter geheimnisvollen Zaubersprüchen, die (schon ihrer altertümlichen Sprache halber) den meisten Beteiligten unverständlich sind, das Haupt des Kindes besprengt. Für die Wahl der betreffenden Namen sind soziale und religiöse Gründe durchweg entscheidend; bei den Arabern in Marokko finden wir meist Namen aus der Bibel und dem Koran, in Lappland sogar Götternamen oder sonst öfter die Namen von Kalender-Heiligen, oder es werden die Namen der Großväter oder berühmter Häuptlinge bevorzugt. Die verschiedenen Reinigungzeremonien, die sich schließlich in der christlichen Taufe verdichtet haben, lassen wir, da sie, ethnographisch betrachtet, einen zu engen Rahmen ausfüllen, auf sich beruhen; natürlich ist hier der Zusammenhang mit jüdischem und heidnischem Ritual unverkennbar — das Wasser ist ein besonders wirksames Mittel zur Abwehr feindA c h e l i s , Religionswissenschaft.
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licher Dämonen, diese Anschauung hat sich in den meisten Kulturreligionen erhalten. Bei weitem die bedeutsamste Institution, die sozial und religiös auch deshalb die größte Wertschätzung überall genießt, sind die P u b e r t ä t s w e i h e n , wenn es sich darum handelt, den Knaben in die Zahl der wehrfälligen, vollberechtigten Männer aufzunehmen. Auf der einen Seite bedarf es einer für unsere Vorstellung übermenschlichen Standhaftigkeit, um die auferlegten Martern ertragen zu können, auf der anderen wird aber dem Novizen als Lohn ein mystischer Ausblick in allerlei überirdische Herrlichkeiten verheißen, die eine Art Wiedergeburt begründen. Der Reisende Dapper erzählt aus Oberguinea: Der Belli-Paato ist ein Tod, eine Wiedergeburt und eine Einverleibung in die Versammlung der Geister oder Seelen, mit denen die Gemeinde im Busch erscheint und das für die Geister befreite Opfer essen hilft. Das Zeichen Belli-Paato (etliche Reihen Schnitte am Halse und über die Schulterblätter) empfangen die Eingeweihten alle zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre einmal, wobei sie getötet, gebraten und ganz verändert werden, dem alten Leben und Wesen absterben und einen neuen Verstand und Wissenschaft bekommen. Die noch ungezeichnete Jugend wird nach dem vom König bestimmten Busch gewaltsam (weil sie sich vor dem Tod fürchten) gebracht, und die Alteren unterweisen sie in dem. Killing-Tanz und dem Bellidong (Lobgesang). Dort leben sie mehrere Jahre (die Mütter bitten die Eingeweihten, daß die Veränderung bei ihren Kindern leicht vor sich gehen möge) in Jagd und Spiel ungesehen. Frauen, die beim Gehölz vorbeigehen, werden fortgeschleppt. Wenn sie aus dem Busch kommen, werden sie von den Alten in Sachen, welche
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die Rechte, den Krieg und die Herrschaft des Dorfes betreffen, unterwiesen. Sie stellen sich an, als ob sie erst in die "Welt kämen und nicht einmal wüßten, wo ihre Eltern wohnten oder wie sie hießen. Ähnlich lautet die Schilderung, die Bastian einem afrikanischen Zauberer verdankte: Der große Fetisch lebt im Innern des Buschlandes, wo ihn niemand sieht und niemand sehen kann. Wenn er stirbt, sammeln die Fetischpriester sorgfältig seine Knochen, um sie wieder zu beleben, und ernähren sie, damit er aufs neue Fleisch und Blut gewinne. Im Lande Ambamba muß jeder einmal gestorben sein, und wenn der Fetischpriester seine Kalabasse gegen ein Dorf schüttelt, so fallen diejenigen Männer und Jünglinge, deren Stunde gekommen ist, in einen Zustand lebloser Erstarrung, aus dem sie gewöhnlich nach drei Tagen auferstehen. Den aber, welchen der Fetisch liebt, führt er fort in den Busch und begräbt ihn in dem Fetischhaus, oftmals für eine lange Reihe von Jahren. Wenn er wieder zum Leben erwacht, beginnt er zu essen und zu trinken, wie zuvor, aber sein Verstand ist fort, und der Fetischmann muß ihn erziehen und selbst in jeder Beziehung unterweisen, wie das kleinste Kind. Anfänglich kann das nur durch den Stock geschehen, aber allmählich kehren die Sinne wieder, so daß sich mit ihm sprechen läßt, und nachdem seine Ausbildung vollendet ist, bringt ihn der Priester seinen Eltern zurück. Dieselben würden ihn selten wiedererkennen, ohne die ausdrückliche Versicherung des Fetizeros, der ihnen zugleich die früheren Ereignisse ins Gedächtnis zurückführt. Wer die Prozedur der Wiedergeburt in Ambamba nicht durchgemacht hat, ist allgemein verachtet und wird bei den Tänzen nicht zugelassen. Bei den Spartanern haben wir noch als 6*
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schwachen Nachklang dieser Feierlichkeit die Geißelung der Knaben am Altar oder als noch kümmerlicheres Überbleibsel den bekannten Ritterschlag im Mittelalter. Daß diese Loslösung aus dem ursprünglichen Bereich mütterlicher Obhut und Pflege nur unter Wehklagen der beteiligten Frauen vor sich ging, leuchtet von selbst ein. Auf die (übrigens gewöhnlich in zarterem Alter vorgenommene) Beschneidung, die durchaus nicht, wie man sich zuerst einbildete, auf die Juden oder nur auf die Semiten überhaupt beschränkt ist, hier näher einzugehen, liegt kein Grund vor, um so weniger als bis zum heutigen Tag die Ansichten sehr geteilt sind, ob dabei wesentliche hygienische oder religiöse Motive ausschlaggebend gewesen sind. Vermutungsweise könnten wir nur äußern, daß, wie so häufig, beides zusammengewirkt hat. Sowenig uns die verschiedenen Eheformen zu beschäftigen brauchen, so müssen wir doch einen kurzen Blick auf die Hochzeit als eine anerkannte Institution des Völkerlebens werfen. Nur bei manchen locker organisierten Naturvölkern, wie z. B. den Neuseeländern, fehlt es völlig an irgend welchen Feierlichkeiten; vielfach wird die Form des späteren ehelichen Zusammenlebens symbolisiert, so schickte bei den Creekindianern der Mann seiner Geliebten etwas Fett von dem selbsterlegten Bären, half ihr das Feld beackern und namentlich Bohnen pflanzen, die mit den neben sie gesteckten Stangen das Sinnbild inniger Vereinigung ausdrücken sollten. Gemeinsames Essen und Trinken der Brautleute spielt gleichfalls eine Rolle. Das Austauschen des Verlobungsringes ist weitverbreitet, nicht nur bei den Germanen und Slaven, sondern z. B. auch bei Stämmen in Indien. In stärkster dramatischer Spannung
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gesteigert sind die Hochzeitsfeierlichkeiten bei der sogenannten Raubehe, wo also eine sei es wirkliche, sei es nur fingierte Entführung der Braut mit entsprechendem Gefecht vorhergegangen ist. Bei den Circassiern wird dadurch erst die Ehe rechtskräftig, indem bei einem veranstalteten Festschmaus der Bräutigam mit einer Schar hereinstürzt und sich der Braut bemächtigt. Auf der Stufe des Nomadismus, bei ausgeprägter Freiheitsliebe hat sich diese Form besonders lange erhalten, sei es auch nur in bedeutsamen Überlebseln, die aber den früheren blutigen Ernst noch deutlich durchblicken lassen. Wie immer, so reichen sich auch hier Ende und Anfang die Hände; wie die Ankunft eines jungen Sprößlings mit lärmenden Festlichkeiten begrüßt zu werden pflegt, so das Scheiden eines Menschen aus dieser Welt. Nach der schon öfters berührten animistischen Theorie ist alles erfüllt mit Geistern, deren Gunst es zu erkaufen gilt; gerade der Tod ist für sie ein nur zu bequemer Angriffspunkt, und deshalb gehört die vorschriftsmäßige (natürlich je nach Zeit, Ort und Kultur unendlich variierende) Beerdigung des "Verstorbenen zu den heiligsten Pflichten der Überlebenden. Das ganze klassische Altertum ist in Sage und Dichtung von diesen Anschauungen erfüllt, die sämtlich darauf hinauslaufen, daß die Seele nicht eher Ruhe finden und vor den Eingriffen der Dämonen geschützt sein kann, als wenn die Bestattung, resp. Verbrennung nach hergebrachtem Ritus erfolgt ist; das christliche Begräbnis ist auch für uns der letzte Nachklang dieser uralten Vorstellung. Da die Seele dann an den betreffenden Platz gebannt ist und nicht mehr frei umherschweifen kann, so ist freilich dieser Ort, besonders zu Nachtzeit, für die menschlichen Wesen
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ein Gegenstand des Schreckens und Grauens. Nun gibt es aber auch, abgesehen von diesen Veranstaltungen, der Seele Ruhe zu verschaffen oder ihr für ihre beschwerliche Reise in das ferne Land Speise und Trank mitzugeben, eigentliche Totenmahlzeiten, die (öfter periodisch) den Abgeschiedenen an Ort und Stelle vorgesetzt werden. Statt aller geben wir hier eine sehr instruktive Schilderung einer solchen Trauerfeierlichkeit bei den Kolstämmen in Indien, die wegen ihres leidenschaftlichen Totenkultus berühmt sind. "Wenn einer ihrer Leute auf dem Scheiterhaufen verbrannt ist, so trägt man die gesamten Überreste seiner Gebeine in einer Prozession mit feierlichem Schritt umher, während die dumpfen Töne der Trommel erschallen. "Wenn das alte "Weib, das die Knochen in einem Bambusgefäß trägt, dasselbe von Zeit zu Zeit absetzt, so kehren Mädchen mit Krügen und Metallgeschirren wehklagend ihre Gefäße um, um zu zeigen, daß dieselben leer sind; so führt man die Überreste nach jedem Haus im Dorf und meilenweit nach der "Wohnung jedes Freundes oder "Verwandten, und die Einwohner kommen heraus, um zu wehklagen und die guten Eigenschaften des Verstorbenen zu rühmen; die Gebeine werden alsdann nach allen Lieblingsplätzen des Toten getragen, nach den Feldern, die er bebaute, nach dem Garten, den er pflanzte, nach dem Tanzplatz des Dorfes, wo er so fröhlich war. Endlich bringt man sie zum Grabe und bestattet sie in einein irdenen Gefäß mit einem Vorrat von Nahrungsmitteln und bedeckt sie mit einer jener gewaltigen Steinplatten, die den europäischen Reisenden in den Distrikten der Ureinwohner Indiens so in Erstaunen setzen. Außerdem werden noch zum Gedächtnis angesehener Männer Denksteine außerhalb des Dorfes
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errichtet; sie stellen auf einer Bodenerhöhung, wo der Geist, wenn er von seinen Wanderungen unter den Lebenden ausruhen will, sich im Schatten des Pfeilers niederläßt. Ein derartiger Trauergesang lautet: Wir schalten dich nie, wir kränkten dich nie, Kehre zu uns zurück; Wir liebten und pflegten dich stets, und lebten lange zusammen Unter dem nämlichen Dach; Verlaß es jetzt nicht! Es nahen die nächtlichen Regen und kalte, stürmische Tage, 0, wandre nicht umher! Weile nicht bei der verbrannten Asche, komm wieder zu Tins! Nicht findest du Schutz unterm Pipulbaum, wenn mächtiger Eegen herabströmt. Die Weide schützt dich nicht vor der bitteren Kälte des Windes. Komm in dein Haus! Es ist gefegt und gereinigt für dich; und wir sind da, die dich immer geliebt; Und Reis ist hingestellt für dich und Wasser; Komm heim, komm heim, komm zu uns zurück. Wie tief diese Anschauungen im Volksgemüt wurzelten, zeigt die Tatsache, daß die Opfer- und Leichenfeste trotz alles Eiferns der christlichen Priester sich aus dem Heidentum mit ungeschwächter Kraft weiter erhielten; wurde doch selbst ein französischer König nach seinem Tode mit genau denselben Ehren und Auszeichnungen während voller vierzig Tage gefeiert. Einen dramatischen Charakter nehmen die
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Festlichkeiten an, wenn bei den Tänzen zugleich Masken angewendet werden, um die feindlichen Dämonen, welche der Reise ins Seelenland Gefahren bereiten, zu schrecken; es werden dann auch der Leiche Masken mit ins Grab gelegt. Ebenso fällt die Krankheit mit in den Rahmen des Kultus, insofern es sich auch hier um bestimmte Riten handelt, auf Grand deren die bösen Geister gebannt werden können. Wir kommen darauf zurück, wenn wir die Stellung und Bedeutung des hierbei maßgebenden Zauberers überhaupt besprechen werden; denn daß die Krankheit kein normaler chemischer und physiologischer Vorgang ist, sondern umgekehrt ein Werk übernatürlicher Wesen, wurde schon früher angedeutet. Vorher aber noch einige Worte über die im Kultus so wichtigen Tänze. Es ist ein Zeichen für den ungeheueren Abstand unserer Weltanschauung von der primitiver Völker, daß der Tanz für uns jede religiöse Bedeutung verloren hat und lediglich eine erotische Färbung besitzt. Mustern wir aber die Tätigkeit des Zauberers, des Propheten und Wahrsagers bei den verschiedensten Stämmen der Erde, so erscheint überall der Tanz als ein ganz besonders bevorzugtes Mittel, in den gewünschten Besitz übernatürlicher Kräfte zu gelangen. Wir geben hier eine Schilderung eines solchen Vorganges, wie ihn Bastian im dunklen Erdteil beobachtete: In einem aufgeschlagenen Mattengemach saß der Kranke zwischen seinen Freunden im Hintergrunde, vor ihm eine Reihe von Musikanten, die lustig auf ihren Instrumenton losspielten und einen Höllenlärm zuwege brachten. An der Hüttenseite links von dem und vor dem Kranken hockte der Ganga, damit beschäftigt, sich das Gesicht zu bemalen, rot die Nase, gelb die Stirn, schwarz die
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Backen, und er wurde in dieser Operation von einer neben ihm sitzenden Frau unterstützt. Vor der Hütte brannte ein Scheitfeuer, und aus der Ferne sah man durch das Dunkel die schwankenden Lichter eines Fackelzuges sich nähern, wodurch ein zweiter Ganga herbeigeführt wurde, dessen Begleiter mit phantastischem Kopfputz ausstaffiert waren. Als die beiden Auguren in der Hütte zusammengetroffen waren, wurden ihre Zauber- oder Medizinsäcke gegenseitig geöffnet und die Farben zum Bemalen geprüft. Dann schwenkte man feierlich die mit magischer Kraft gefüllten Fellbündel über dem Feuer, wohin ein Käucherwerk geworfen war, während auch die Götzenfiguren geordnet und in Reih und Glied gestellt wurden. Alles war somit vorbereitet und fertig für die dämonische Manifestation, die sich nun an dem einen Priester kundgab, indem derselbe unter einem von dem Chorus beantworteten Gesang von einem konvulsivischen Hin- und Herschwingen des Körpers ergriffen wurde und in wilden Sätzen emporsprang, tanzend und stampfend, während er die Fetische vor dem Kranken rüttelte und schüttelte. Sein Konfrater, auf der Erde sitzend, ahmte die Bewegungen des Aufrechten nach und begleitete sie mit ähnlichen: dann aber, als die Drehungen und "Wendungen rascher, heftiger und immer heftiger wurden, wurde auch er emporgerissen, und nun tollten beide bei dem lauten und lauteren Getobe einer betäubenden Musik in der engen Hütte, über und zwischen den Feuern, zwischen und über den Töpfen, Kisten und Kasten, über, durch und zwischen den Zuschauern hin und her, ohne indes sich selbst oder einen der Anwesenden zu verletzen. Nach Wiederholung ähnlicher Prozeduren, die manchen Schweißtropfen kosteten, geriet dann auch der zuletzt
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gekommene Ganga in den Zustand der Besessenheit, sprach gleichfalls mit verstellter Stimme und verkündete, nachdem über die Krankheit unterrichtet, als Ausspruch, seines Dämons, daß für den Beginn der Heilzeremonien ein aus Baumwolle, Pulver und Öl bereitetes Zaubermittel nötig sein würde. Nach der ihnen durch den Dämon eingeblasenen Inspiration hatten die Ärzte die Nacht zuvor dahin entschieden, daß die Krankheit verursacht sei, weil der von ihr Ergriffene eine durch die Quixilles (Fastengelübde) seiner Familie verbotene Speise gegessen hätte und so den Fetisch, der ihn jetzt strafe, beleidigt habe usw. (Deutsche Expedition an der Loangoküste I, 55 ff.). Dies sonderbare Schauspiel wiederholt sich überall, soweit wir blicken können, bei den Kothäuten, den Australiern und Polynesiern, bei den Asiaten, bei den. Griechen usw. Immer ist es dieselbe tiefgewurzelte Uberzeugung, die uns entgegentritt, nämlich daß nur so dem Menschen der Weg zur geheimnisvollen Geisterwelt eröffnet sei, daß ihm nur so die Kunde über Leben und Tod zukomme und über die etwaigen Mittel, die Krankheit zu bannen. Ob es große Scharen sind, die, durch die unheimliche Glut dieses verzehrenden Feuers angesteckt, in wütenden Tanzreigen sich schwingen (was, wie wir gleich sehen werden, auch vorkam), oder ob einzelne durch den göttlichen Geist auserwählte Personen die Kolle inspirierter Propheten spielen, macht nichts aus. Auf den niederen Stufen der Entwicklung handelt es sich meist um Heilung von Krankheiten, um sog. "Wunder, auch übermenschliche Kraftleistun gen der Zauberer selbst (Verwundungen, Verstümmelungen, fingierte Todeszustände usw., was alles auf Grund einer ungemeinen Nervenüberspannung, Anästhesie und längerer Schulung vollauf erklärlich ist);
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bei höher stehenden Völkern ist es die mächtige, den ganzen Geist erfüllende Begeisterung und Sehnsucht nach völliger Vereinigung mit der . Gottheit, die in der Mystik hervortritt. Es ist ein „heiliger Wahnsinn", der in den Dionysischen Killten und Mysterien die Menschen erfaßt, die im „Enthusiasmus" unmittelbar mit der Gottheit verkehren und mit hellen Geisterangen die dunkle Zukunft enträtseln können. Noch aus den Bakchen des Euripides schlägt uns jener Dunst einer sinnverwirrenden Erregung entgegen, die mit unwiderstehlicher Wucht die ganze Seele bis zu ihren tiefsten Tiefen ergreift und aufwühlt; auch der Chor bewahrt noch, schon in seiner Tanzübung, diesen alten Zusammenhang mit den ekstatischen Erscheinungen der Naturvölker. Die bei Nacht unter fortwährendem Schlagen dumpf klingender Trommeln auf den Bergen Thrakiens umherschweifenden Frauen werden ebenso gewürdigt, Verkünderinnen des göttlichen Willens zu sein, wie die eigentlichen Priester und Zauberer primitiver Stämme. Auch die Mystik aller Epochen saugt hier ihre unverwüstliche Kraft und Frische, ja vielfach sind es auch dieselben Mittel: Musik, wirbelnder Tanz, narkotische Reize u. a., was diese anomale Erregung herbeiführt. So schwingen sich noch heutigestags die Derwische des Orients beim Schall der Flöten und Trommeln bis zur äußersten Verzückung und Erschöpfung, und im Vollgefühl dieser Durchdringung mit dem göttlichen Geist ruft der bekannte Mystiker Dsclielaleddin Rumi: Wer die Kraft des Reigens kennt, wohnt in Gott; denn er weiß, wie Liebe tötet. Zu Zeiten tiefer religiöser Gärung und Bewegung, gefördert durch mancherlei anderweitige soziale Störungen, verheerende Seuchen und andere Erschütterungen der
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Gesellschaft, tauchen psychische Erkrankungen des ganzen "Volkslebens auf, die mit elementarer Wucht alle Schichten ergieifen und sich in gewaltigen Expansionen Luft machen; es sind das geistige Kontagien, die ebenso verderblich und verheerend wirken, wie physische. Eine solche Erkrankung bildete die am Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts in Deutschland und in den Niederlanden ansteckende Tanzwut, auch genannt Tanz des heiligen Johannes oder Yeit (der Johannistag war schon seit jeher durch Tänze und ausgelassene Festlichkeiten ausgezeichnet); erst nach vielen vergeblichen Anstrengungen vermochte die Geistlichkeit im Bunde mit der Obrigkeit der unheimlichen Gäste Herr zu werden. Auch in ganz anderen Gegenden, z. B. in Abessinien zeigte sich die dämonische Volkskrankheit oder in Süditalien (Tarantismus genannt einer giftigen Spinne wegen, deren Bisse man fürchtete), oder in Frankreich die Sekte der Konvulsionärs (Anfang des 18. Jahrhunderts), oder die epileptischen Erscheinungen, die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Shetlandsinseln mit merkwürdiger Zähigkeit erhalten haben; überall bekundet sich auch äußerlich die Erinnerung an den religiösen Faktor dadurch, daß diese Zufälle in der Kirche bei entsprechender anomaler Erregung des Gemüts auftreten und sich durch Sympathie und Suggestion den Gemeindegliedern mitteilen. § 13. Der Priesterstand. Für das ganze weitverzweigte Gebiet des Kultus ist die Stellung und Bedeutung des Priesters (Zauberers, Arztes, Medizinmannes usw.) so ausschlaggebend, daß wir dabei etwas länger verbleiben müssen. Auch hier sind bei allem Eeichtum des ethnographischen Details
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die Grundzüge der Organisation und der sie bedingenden Anschauungen typisch, allgemein wiederkehrend. Nach aniraistiscber Auffassung, wo der Tod lediglich das "Werk schadenfroher, feindlicher Dämonen ist, muß der Priester zugleich Arzt, Medizinmann neben dem berufenen Verkünder des göttlichen Willens sein, und so ist seine Aufgabe eine doppelte, den Verkehr mit der Gottheit zu vermitteln und damit auch über Leben und Gesundheit seiner Stammesgenossen zu wachen; daß dadurch seine soziale Stellung, wie wir gleich noch genauer sehen werden, ungemein gesichert uud einflußreich wird, liegt auf der Hand. Vor allem ist kein Opfer denkbar ohne diese Mittelsperson, einerlei ob wir es (wie vielfach) mit förmlichen Priesterschulen zu tun haben (so bei den Kelten, den Indiern, Persern etc.), mit einem auf den überkommenen Besitz übernatürlicher Kenntnisse und Geheimmittel eifersüchtigen Stande, oder nur mit einzelnen, durch lebhaftes Naturell und scharfe Auffassung vor anderen befähigten Individuen, die dann auch meist Häuptlinge zu sein pflegen. Es ist deshalb wohl möglich, was von einigen Forschern vermutet wird, daß die ältesten Herrscher die Fetischpriester sind; denn in der Tat sind ursprünglich geistige und weltliche Macht, die wir nur in einer mehr oder weniger scharfen Isolierung kennen, in einer Hand vereinigt. Zunächst gilt es, wie bereits früher geschildert, durch Fasten, Kasteiungen, starke Reizmittel, Abschluß von der Umgebung usw. die individuelle Anlage und Geschicklichkeit zur Übernahme eines immerhin schwierigen und verantwortungsvollen Amtes zu entwickeln. Die betreffenden Knaben werden eigens zu diesem Zweck von den älteren Priestern und Zauberern geprüft und dann erst systematisch ausgebildet. Die Sphäre
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seiner Tätigkeit ist, genau genommen, unbegrenzt, d. h. sie erstreckt sich auf das gesamte soziale Leben eines Stammes und Volkes; ja selbst auf höheren Kulturstufen (man denke an den Buddhismus und an das Christentum!) nimmt die Macht dieses Oberhirten und Oberpriesters trotz aller Differenzierung der Gesittung und Zuwachs an Bildung nicht ab, sondern eher noch zu. Der ursprüngliche Kardinalsatz dieses Glaubens, wie wir ihn bei den Naturvölkern in elementarer Reinheit noch beobachten können, ist nämlich auch später nicht beseitigt, sondern höchstens durch die skeptische Kritik einiger Zweifler erschüttert worden, daß der Priester der Sitz der Gottheit sei, die aus seinem Munde spreche. Der unfelilbare Papst und der ebenso untrügliche Dalailama in Lhassa sind dafür die beredten Zeugnisse, hier ist die Idee einer Inkarnation der Gottheit Tat und Wahrheit geworden. Als Zauberer ist der Priester im Besitz aller jener wunderbaren Fähigkeiten, die ihm seinen Ruf verschafften, und die er bei den betreffenden Anlässen (zuweilen nicht ohne starkes persönliches Risiko) zu erproben verpflichtet ist. Die Heilung von Kranken, Beschwören und Bannen böser Geister (Exorzisation, besonders bei den Naturvölkern bewährt), Zitieren von Verstorbenen, das Vorrichten von Wundern, für Afrika besonders das Regenmachen usw., das sind etwa seine Leistungen. Zeigt er sich aber wider Erwarten unfähig, so muß er sich durch Ordale reinigen, oder er verfällt der rächenden Volksjustiz, die oft wenig Umstände mit dem schnöden Betrüger macht. Das ist um so verhängnisvoller, als auch bei den Naturvölkern der heikle Brotneid eine Rolle spielt und nicht immer zwischen den Ärzten die erforderliche Eintracht herrscht; dazu kommt, daß in der Regel der etwaige Tod dem
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behandelten Medizinmann zur Last gelegt und ihm auch wohl ganz logisch das Honorar vorenthalten wird. Man darf übrigens in dieser Beziehung nicht allzu absprechend sein; denn bei all unserer Technik und Aufklärung steckt uns noch viel Aberglaube im Blut — der ganze so weitverbreitete Sympathiezauber beruht darauf — so daß man wohl gesagt hat, der indianische Medizinmann, der durch einen nach einer bestimmten Richtunggeschleuderten Pfeil einen Abwesenden umbringe, unterscheide sich durchaus nicht von einem Verliebten, der die entfernte Freundin küsse. Ganz besonders zeigt sich dieser uralte Animismus in dem auch bei uns noch gar nicht erloschenen Amulettglauben. Daß freilich trotzdem viel Täuschung und Schwindel dabei mitunterläuft, soll selbstverständlich nicht irgendwie geleugnet werden. Auf höheren Gesittungsstufen wird der Priester zum König und Gott; wenn in Loango ein Herrscher seinen Tod herannahen fühlt, so teilt er seinem Eat die geheimen Zeichen mit, nach denen er erkennen kann, in welchen seiner Söhne sein Geist eingefahren sei. Der Inka war der erbliche Priesterkönig, der deshalb auch als Vertreter der Gottheit einen offiziellen Kult erhielt; genau derselben Idee begegnen wir in Ägypten, wo der Herrscher Sohn des Amon-Ra oder das lebende Bild desselben heißt. Der japanische Mikado führt seine Abstammung direkt auf die Götter zurück; er ist, ebenso wie der Kaiser im Reich der Mitte, für alles Glück und Unglück im Lande verantwortlich, ihm wird ein Kult zu teil und anderseits bringt er (obschon noch selten) Opfer usw. Wie immer, so ist auch hier der alte Dualismus des Guten und Bösen wirksam; der schlimme Zauberer bringt den Menschen nur Unheil, z. B. Krankheiten und Tod. Besonders muß man sicli vor dem
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Hexenmeister hüten, der die ahnungslosen Menschen ins Unglück stürzt, das Vieh schädigt und zu Tode bringt. In weiterer kulturgeschichtlicher Entwicklung ergibt sich aber hieraus der schon früher geschilderte Kampf zwischen der weißen und schwarzen Magie, zwischen dem echten, glaubenseifrigen Vertreter der wahren Gottheit und dem Diener des Teufels, ein Streit, der so lange gewährt hat, wie die Welt steht, und demzufolge auch nie erlöschen wird.
Zweites Kapitel.
Grundlinien in der Entwicklung der Religionen. § 14. Unterste Stufen (Fetischismus, Schamanismus). Uin sich nicht von vornherein die unbefangene kritische Auffassung des Materials zu verderben, ist es nicht unwesentlich, sich über den Begriff der Entwicklung, der uns freilich noch später beschäftigen wird, und den der einzelnen Formen und Erscheinungen religiöser Art zu verständigen. Alle Entwicklung enthält die Keime späteren Werdens in sich beschlossen, und nur in dieser organischen Entfaltung liegt die Gewähr des natürlichen Wachstums und des stetigen, geschichtlichen Zusammenhanges. Anderseits ergibt sich aber auch daraus die Unmöglichkeit einer haarscharfen Scheidung; alle Trennungen sind vielmehr nur theoretische Versuche, die schier überwältigende Masse der Einzelheiten durch gewisse Kategorien übersichtlicher zu gestalten. Wie das Höhere im Niederen der Anlage nach (virtuell) enthalten ist, so müssen auch, wenngleich verschleiert oder verkümmert, in den religiösen Ge-
U n t e r s t e Stufen (Fetischismus, Schamanismus).
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bräuchcn und Anschauungen späterer Epochen die früheren Ansätze für ein geschärftes Auge zu erkennen sein. Fetiselihaftes findet sich deshalb nicht nur in den niedrigsten Naturreligionen, in denen es überwuchert, sondern auch noch in den höheren, ja in den höchsten, wenn auch nur versteckt, ohne daß der Betreffende sich darüber War geworden ist. "Und umgekehrt, der Kern aller Religion, die tiefe Sehnsucht des menschlichen Herzens, ein gewisses Ehrfurchtsgefühl läßt sich gleichfalls schon auf den Stufen primitiver Gesittung, inmitten aller Barbarei erkennen, welche die Anfänge des sozialen Lebens der Menschheit einleitet. Nur insofern, als zuerst die bekannten animistischen Vorstellungen in betreff des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern überwiegen, während später mehr ethische Forderungen zum Durchbrach kommen, können wir von gewissen Stufen in der religiösen Entwicklung sprechen. Wir fassen, um auch das beiläufig hier zu bemerken, diesen ganzen Vorgang streng sozial auf, als Kennzeichen und Ergebnis einer großen, umfassenden Strömung und Richtung im Gegensatz zu einer bloß individuellen Anschauung und Färbung, wie sie vielleicht bei einem religiösen Heros, bei einem Religionsstifter erseheinen mag. Im übrigen wird später noch genauer davon die Rede sein. Ganz besonders muß man sich aber vor Augen halten, daß wir es in jeder religiösen Auffassung mit einer p s y c h o l o g i s c h m e t a p h y s i s c h e n Erklärung der Welt zu tun haben, die sich je nach der geistigen Entwicklung der Menschen eben verschieden in seinem Hirn spiegelt und damit ihren entsprechenden mythologisch-religiösen Ausdruck findet. Das, was Bastian speziell im Hinblick auf die Theorie der Krankheit sagt, verträgt unbedenklich eine A c h e l i s , Religionswissenschaft.
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Verallgemeinerung auf a l l e Ergebnisse unserer geistigen Entwicklung: Wenn der Wilde im Jungle einen Dämon zwischen den Baumzweigen sitzen glaubt, der, auf ihn herabfallend, seinen mit eisiger Hand gepackten Körper im Fieberfrost schüttelt, wenn wir dagegen von einem Miasma reden, so ist der Unterschied im Grunde kein großer; denn wir wissen von unserem Miasma nicht gerade viel mehr, als der Wilde vom Dämon. Nur paßt dieser in sein System, jenes dagegen in das unsrige. Indem wir, unter Herbeiziehung der über chemische Prozesse angesammelten Kenntnisse, aus den unter gewissen Elektrizitätsverhältnissen der Atmosphäre vermodernden Pflanzen- oder Tierstoffen Effluvia aufsteigen lassen, so mögen wir, wenn physiologische Kenntnisse zur Hand sind, dieselben in ihrem Wege durch die Lunge weiter verfolgen, und dann, je nach der Modemedizin, ihre Einwirkung auf das Blut- oder auf das Nervensystem zum Ansatzpunkt einer pathologischen Theorie machen. Dem Wilden, dem alle die chemischen, physiologischen, pathologischen Vorkenntnisse fehlen, würden wir unsere Lehre von den Miasmen vergeblich predigen, er würde nichts Rechtes dabei denken können; die Vorstellung eines Dämons, eines Geistes ist dem Naturmenschen eine zu naheliegende, eine zu bequeme und sinnlich faßliche, als daß er sie für ein nichtssagend in sein Ohr tönendes Wortgeklingel aufgeben sollte; im Gegenteil, er setzt den Dämon überall, er vergeistigt sich die ganze Natur, er führt überall ihre Prozesse auf übermenschliche Agentien zurück (Beiträge zur vergleich. Psychol. S. 66). Trotz dieser geheimen Berührungspunkte, die namentlich sich für das Denken unserer niederen Volksschichten herausstellen, dürfen wir freilich den eigentlichen Gegensatz der Weltan-
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schauung in dem Geisterglauben einerseits und anderseits in dem ehrlichen Bestreben finden, alles auf streng mechanische, gesetzliche Vorgänge zurückzuführen, die über jede individuelle Willkür und Laune erhaben sind. Fassen wir somit den Fetischismus als eine psychologische Durchgangsstufe, die aller Wahrscheinlichkeit nach das ganze Menschengeschlecht geteilt hat, so müssen wir damit die Ansicht Max Müllers und anderer Forscher ablehnen, die darin nur eine Entartung und ein etwaiges lokales Zersetzungsprodukt sehen wollen. Man darf außerdem gar nicht verkennen, daß ihm eine viel höhere Tendenz innewohnt, als manche glanben; mit einer gewissen nicht unberechtigten Ironie bemerkt deshalb der Altmeister der Völkerkunde: Der Fetischglauben gilt als die roheste Auffassung der Religion, aber roher noch dürfte fast die europäische Auffassung solch afrikanischer Auffassung erscheinen, besonders wenn im eigenen Hause gekehrt werden sollte. Jedenfalls ist immer festzuhalten, daß nie der einzelne Gegenstand als solcher, sondern vielmehr nach der grundlegenden Anschauung der ihn bewohnende Geist die Verehrung empfängt. Und anderseits bildet er, wie Tiele erklärt, die Überleitung zu höheren, wertvolleren Elementen und Forderungen: Hat er auf der einen Seite zu widerwärtiger Abgötterei geführt, so ist auf der anderen Seite aus ihm durch die Macht der Poesie und der bildenden Künste eine reiche Symbolik erblüht, die ein wichtiges Moment der religiösen Sprache bildet und nicht einmal auf das Gebiet der Religion beschränkt ist. Das englische Union-Jack und unsere Driekleur sind in den Augen des Negers Fetische. Sie sind es im edelsten Sinne, Symbole unserer Nationalität und Unabhängigkeit, sichtbare Erinnerungen an das Vaterland 6*
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in fernen Himmelsstrichen, und wir sind bereit, sie mit unserem Leben zu verteidigen. Die eigentliche Triebfeder aber ist, wie wir schon früher sahen, die schrankenlose Allbeseelung, welche der Naturmensch in seiner Umgebung vorzunehmen durch einen unwiderstehlichen inneren Personifizierungsdrang gezwungen ist. Ob das die großen, regelmäßigen Naturerscheinungen sind, oder irgendwelche zufälligen, die Aufmerksamkeit und Phantasie besonders anregenden Vorkommnisse, macht nichts aus; die dahinzielenden Berichte und Anekdoten, möchte man fast sagen, sind ja bekannt: So der an die Küste Afrikas gespülte Anker, von dem ein vorwitziger Eingeborener, der gerade ein Stück Eisen gebrauchen kann, etwas abhaut. Da ihn unmittelbar darauf irgend eine Krankheit faßt, so hat sich sichtlich der darin verborgene Gott für diesen Übergriff gerächt. Das Pferd wurde das Bild des Donnergottes für die Mexikaner, die die todbringende AVirkung dor spanischen Reiter diesem Fabeltier, das sie bislang noch nie gesehen, zuschrieben usw. Stets handelt es sich um ein unmittelbares, rein persönliches Verhältnis zwischen Mensch und Gott, meist oder durchweg in rein egoistischem Interesse, höchst materiell gedacht; deshalb die früher besprochenen Gelübde und Fasten, um die Gunst des Geistes zu erkaufen, deshalb die Schutzmittel und Amulette gegen die bedrohlichen Angriffe anderer Dämonen, deshalb endlich das rücksichtslose Preisgeben der Götter, wenn ihre Kraft und Hilfe bei der erforderlichen Gelegenheit versagt. Von irgendwelchem systematischen Aufbau, von einer einheitlichen Gliederung, wie sie schon der Polytheismus verrät, ist hier noch keine Rede; es ist alles dem Zufall, der Laune und Willkür, dem mächtigen Zauber des kundigen Priesters unter-
Unterste Stufen (Fetischismus, Schamanismus).
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worfen, ja selbst die Reihe und Auswahl der Götter ist, wie wir uns überzeugten, völlig wechselhaft und unbeständig. Nicht viel höher steht der S c h a m a n i s m u s (das Wort ist eine Verstümmlung aus der buddhistischen Bezeichnung „Qramana" für Büßer), obwolil hier eine gewisse Stabilität und Ordnung eingetreten ist. Hier haben wir es wenigstens mit Göttern zu tun, die nicht jeden Augenblick wieder in das Xichts verschwinden können, aus dem sie emporgetaucht sind; sie bewohnen eine andere "Welt, zu der meist nur dem offiziellen Priester (ursprünglich wurde der Ausdruck von den sibirischen Zauberern gebraucht) der Zugang offensteht. Diese Götter genießen somit eine bestimmte Geltung und Bedeutung, sind nicht so sehr von der beliebigen Anerkennung clor 3Iensch.cn abhängig, und stets der sinnlichen Wahrnehmung entzogen und auch nicht irgend einem Naturobjekt innewohnend. Um so vielseitiger und wirksamer ist deshalb die Tätigkeit des Wimdermannes, der durch seine Künste (Gebet, Tanz, Opfer der verschiedensten Art) die Gottheit den Wünschen der Menschen geneigt machen kann; ja sie kann geradezu durch alle diese Mittel zur Einhaltung eines Vertrages gezwungen werden. Das ist der schlimme, alles echte religiöse Leben, d. h. die Gesinnung vergiftende Wahn, dem, wie Pescliel mit Recht sagt, alle Völker erlegen sind; wenige haben ihn völlig abgestreift, er treibt sein Spiel noch in Amerika, in Sibirien, im buddhistischen Asien, im brahmanischen Indien, als Amulett bei den Mohammedanern, im Gottesgericht und im Regenzauber bei den Afrikanern, als Nahak-Spuk bei den Papuanen. Wir selbst sind erst seit kurzer Zeit die Hexenprozesse los geworden, noch unser großer Kepler mußte in seine schwäbische Heimat reisen, und es
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Grundlinien in der Entwicklung der Religionen.
kostete ihn schwere Mühe, seine alte Mutter vor dem Feuertode zu retten, mit welchem ihre protestantischen Schamanistenriecher drohten. Klar aber ist, daß die sittliche Erziehung des Menschen durch die Religion nirgends einer größeren Gefahr begegnet, als dem schamanistischen Wahn. Man lege irgend einer sinnbildlichen Handlung irgend eine übernatürliche Wirkung bei, und der Ritus thront als Brahma über dem Göttlichen. § 15. Höhere Stufen (Polytheismus, entwickeltereNaturreligionen). Befreit sich der Mensch allmählich aus den Banden des ursprünglichen Geisterglaubens und Dämonismus, so gewinnt damit auch das anfänglich so regellose mythologische und religiöse Bild festere, geordnete Züge. Die überirdische, übersinnliche Welt kann ja auf jeden Fall nur ein mehr oder minder getreues Abbild des Diesseits sein, der schlimme Riß, den die skeptische Philosophie zwischen das Ding an sich, zwischen das eigentliche Wesen und die uns nur zugängliche Erscheinung gebracht hat, existiert noch nicht. Ist nun für die dürftige Struktur der primitiven Horde und des Stammes ein gewisser sozialer Unterschied unverkennbar (Alter, körperliche Tüchtigkeit helfen bald dazu, diese Abstufung zu einer dauernden, erblichen zu machen), so muß sich notwendigerweise dies Moment auch in der Religion bemerklich machen. Die menschliche Familie und Hausgenossenschaft (sei es auch in welcher Fassung) ist hierfür das konkrete Vorbild und Muster ; meist ist das Verhältnis des männlichen Himmels zur weiblichen Erde, die ursprünglich eins waren, maßgebend, aus dieser Ehe entstehen weitere Götter, und
Höhere Stufen (Polytheismus usw.).
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so bilden sich ganze Götterdynastien, die nicht selten in langen, blutigen Kämpfen miteinander um die Siegespalme streiten. Vielfach findet sich auch als gemeinsame "Wurzel eine Urgöttin, die an der Spitze eines Geschlechtes steht (was wohl mit matriarchalischen Uranschauungen zusammenhängen dürfte), so z. B. die ägyptische Hathor, die westasiatische Istar oder Astarte, die als Magna Mater deorum später nach Rom kam, die argivische Hera, die ephesische Artemis, die große Demeter gehören in diesen Rahmen. Ganz besonders tritt der patriarchalische Charakter in der finnischen Mythologie hervor, wo in der Kalevala Ukko, der Himmelsgott, den höchsten Rang einnimmt und deshalb dann angerufen wird, wenn die Hilfe der anderen Götter versagt: Ukko, du, o Gott dort oben! Ukko, komm, du wirst gerufen, Ukko, komm, du bist jetzt nötig. In dieser Anordnung, die eben ganz von selbst allmählich zu einem wirklichen monotheistischen Abschluß führen muß, bekundet sich verhältnismäßig schon früh eine gewisse aristokratische Tendenz, eine Unterscheidung der mächtigeren Götter von den älteren, zur Seite gedrängten, die nur gleichsam von der Gunst der jetzigen Herrscher zehren, sie sind die Diener, Helfer und Mittler der großen Weltlenker. Die Form ist vielfach verschieden, der Typus und die Idee dagegen stets dieselbe, mindestens völlig übereinstimmend; bald ist es der Gott des betreffenden Ortes oder Gaues (so der Ptali in Memphis oder Amun-Re in Theben, Marduk in Babel, Assur in Assyrien) oder ein allgemein anerkannter Volksgott, wie der griechische Zeus oder der römische Jupiter. Der griechische Gott versinnbildlicht
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Grundlinien in der Entwicklung der Religionen.
vortrefflich jenen wachsenden monotheistischen Zug bei aller Buntheit des olympischen Pantheons. Obschon er dem unerbittlichen Schicksal gegenüber machtlos ist (wenigstens kann er den Spruch desselben nicht vereiteln, sondern nur verzögern), obwohl er launenhaft und sinnlich angelegt ist, zeigt er auf der anderen Seite doch wieder große und erhabene Züge, die fast an eine gewisse Allmacht streifen. Sehr klar ist in dieser Zeichnung das Menschliche ausgeprägt, aus dem bloßen Dämon wird eine festumschriebene Persönlichkeit, bei der, wenn auch in losen Umrissen, der ethische Typus aufzudämmern beginnt. Aber eben weil dies Moment noch nicht scharf genug entwickelt und noch nicht der eigentliche Gradmesser für jede Beurteilung geworden ist, so vermengt ein naives Bewußtsein ganz unbefangen Menschliches, Allzumenschliches in das göttliche Porträt, woraus für ein gereifteres, ernsteres Denken ein ärgerlicher Widerspruch erwächst, wie er in allen mythologischen und religiösen Entwicklungen hervortritt. Insofern trägt alle Mythologie den Todeskeim in sich, und der verhängnisvolle Buf: Der große Pan ist tot, erschallt auf diesem Felde mit unfehlbarer Sicherheit früher oder später. Namentlich ist es das unverhüllte erotische Moment mit all seinen weiteren Verästelungen, das einer späteren Generation so anstößig, um nicht zu sagen, widerwärtig wird; gerade hiergegen richteten sich nicht zum wenigsten die Pfeile der griechischen Philosophen, in erster Linie des Xenophanes, als er die heitere homerische Götterwelt angriff. Der Anthropomorphismus richtet sich auf die Dauer selbst zu Grunde, da er in argloser Naisrität die widersprechendsten Eigenschaften in dem göttlichen Bilde vereinigt hat. Und doch zeigen sich schon zwei
Höhere Stufen (Polytheismus usw.).
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charakteristische Züge, die eine erfreuliche Umwandlung andeuten; einmal ist dies die wenn auch anfangs nur schüchterne Betonung geistiger Fähigkeiten, vor allem der Klugheit, des Scharfsinns vor der ursprünglich einseitigen Wertschätzung der bloßen Stärke und körperlichen Kraft. In allen Mythologien wird der entscheidende Sieg letzten Endes nicht durch das Übergewicht physischer Leistungen erfochten, sondern auf Grund vorausschauender Klugheit, der sich auch wohl an geeigneter Stelle List anschließt; so bei Zeus im Eingen mit den noch halbtierischen Giganten, Odhin gegenüber den Riesen, der babylonische Bei oder noch mehr der barmherzige Schöpfergott Ea gegenüber der Tiämat. Ja, wenn die neue Weltordnung schon einigermaßen hergestellt und gesichert erscheint, wissen die physisch schwächeren, aber intelligenteren Götter zu Zeiten drohender Gefahren jedesmal Bat und Aushilfe; vor allem ist der sonst so gehaßte und mit Recht seiner Untreue wegen bestrafte germanische Loki, einst einer der drei höchsten Götter, dafür ein typisches Beispiel. Zweitens stellen sich aber die rein sittlichen Forderungen an die höchsten religiösen Ideale als immer unabweislicher heraus. Bei aller menschlichen Naivität des homerischen Sängers, mit der er unbefangen die Liebeshändel der Olympier schildert, ist es doch wieder sein aufrichtiges Bestreben, Zeus als den obersten Gott, der Recht und Gerechtigkeit handhabt, der der Schützer der Frommen und Gottesfürchtigen ist, ein Hüter des Eides, der Gastfreundschaft usw., hinzustellen als Lenker der Welt, dem auch gewisse erhabene Züge göttlicher Allmacht und Allwissenheit, obschon unter starken Einschränkungen, nicht fehlen. Der uralte physische Gegensatz zwischen Nacht, Dunkelheit, Dürre, Tod und Licht,
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Grundlinien in der Entwicklung der Religionen.
Tag, Fruchtbarkeit, Leben überträgt sich von selbst auf das ethische Gebiet, am schärfsten und konsequentesten bei den Iraniern, deren genialen Keligionsstifter Zarathustra wir freilich schon einer höheren Stufe zurechnen müssen. Aber daß wir auch bei den eigentlichen Naturvölkern, wenn auch vorgeschrittener Gesittung, dazu die fruchtbarsten Ansätze antreffen, beweisen die überhaupt verhältnismäßig sehr geläuterten Anschauungen der Peruaner. Ihr höchster Gott Viracocha wird streng monotheistisch verehrt, wie das folgende Gebet veranschaulicht (natürlich gab es auch keine Abbildungen von ihm): O Viracocha, immer gegenwärtig, Viracocha Ursache von allem, Viracocha der Helfer, der unermüdliche Schöpfer, Viracocha, der du alles anfangen läßt, der du ermutigst, Viracocha, du immer glücklicher, Viracocha. immer nahe, höre auf unser Gebet, sendo deinem Volk Gesundheit und "Wohlfahrt, Andere seiner Bezeichnungen sind: der, welcher vollendet oder der wahrhaft Eine oder der, welcher alles überwacht oder der Erzieher der Welt usw. Überhaupt sind alle Lichtgottheiten zugleich segenbringend und ethisch förderlich, sie sind (zugleich mit den eigentlichen Halbgöttern) die wahren Kulturträger, während umgekehrt die Götter der finsteren Unterwelt nicht mehr geehrt werden, als irgend nötig erscheint, um sich vor Schaden zu hüten. Osiris, Hei, Hades, der finnische Mana, der polynesische Maui, der ton ganische Hikulco usw. sind sämtlich Herrscher eines Totenreiches, aus dem kein neues Leben erblühen kann, falls wenigstens nicht besondere ethische Vorstellungen und Forderungen diese mythologische Idee befruchten.
Ethische Religionen.
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§ 16. Ethische Religionen. Wir hatten uns bemüht, das Ringen nach reineren, den höchsten Wesen angemesseneren Vorstellungen auch schon innerhalb der höheren Naturreligionen als einen gleichsam organischen Zug der ganzen Entwicklung, die die Religion überhaupt durchmacht, hinzustellen; nur unter dieser Voraussetzung ist die spätere Blüte begreiflich, während wir sonst vor einem unverständlichen Wunder stehen würden gegenüber einem schlechthin Neuen. Anderseits soll jener Ausdruck ein spezifisches Merkmal bezeichnen, das Ethische dieser Stufe durchdringt die ganze religiöse Auffassung derart, daß z. B. die gute Gesinnung, die bei einer Tat nicht nach irgend einer Auszeichnung-, einem Verdienst u. a. schielt, lediglich für die Wertschätzung entscheidet. Es fragt sich nun zunächst, welche historische Religionen (denn auch dies wichtige Moment setzt hier ein) zu dieser Abteilung gerechnet werden dürfen. Uber Christentum, Buddhismus und Islam wird schwerlich ein Zweifel aufkommen, alle drei sind Weltreligionen im stärksten Sinne und haben wenigstens die Tendenz, das Gute überall zu belohnen; das gleiche gilt, wenn auch mit einer gewissen, durch den Kultus verursachten Einschränkung vom Zoroastertum, von den Veden, vom Judentum und von der Lehre des Confucius. Fraglich ist es dagegen, ob wir den Taoismus von Lao-tse, dem Zeitgenossen des chinesischen Weisen, der in seltsamer Weise die tiefsinnigsten metaphysischen Gedanken und sittliche Vorstellungen mit läppischem Aberglauben vermengt, mit Max Müller hierhin rechnen dürfen. Dazu kommt seine geringe Verbreitung, die ihn wohl besser als Sekte bezeichnen läßt. Aber nicht nur das Ethische
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Grundlinien in der Entwicklang: der Religionen.
ist das Kardinalproblem des Ganzen geworden, so daß die schließliehe Erlösung immer von einer inneren Umwandlung und Wiedergeburt des Menschen abhängt, sondern auch sonst sind manche andere bedeutsame Änderungen des bisherigen Tatbestandes eingetreten. Zunächst in betreff des Begriffes der Offenbarung; diese beschränkt sich nicht mehr auf eine gelegentliche Erleuchtung zu rein praktischen Zwecken, sei es, um die Zukunft zu enthüllen oder Krankheiten zu heilen und Geister zu bannen, sondern sie erstreckt sich auf die ganze Lebensführung und Weltanschauung überhaupt. Diese Inspiration bekundet sich deshalb als eine dauernde Beeinflussung des menschlichen Wandels, die ebendadurch auch, wie schon gesagt, eine wirklich innere Umwandlung des Menschen zuwege bringt. Die gottgeweihten Propheten befinden sich im fortwährenden Konnex mit der sie erfüllenden Gottheit, sie fühlen sich berufen, ein neues Gesotz zu verkünden, dessen Bedeutung und Geltung sie durch einzelne Aussprüche erläutern und bekräftigen. Daraus ergeben sich dann für ihre Anhänger gewisse vorgeschriebene Dogmen, deren Heiligkeit und Erhabenheit mit der Zeit zunimmt, und damit verknüpft sich ebenso ungezwungen die Wertschätzung ihrer Aussprüche, die in heiligen Urkunden und Büchern gesammelt werden. Über die Zeit ihrer Aufzeichnung lagert vielfach Dunkel, das auch einer späteren Kritik nicht immer zu lichten gelingen will; sehr bezeichnend ist es, daß dies niemals von den Religionsstiftern selbst ausgegangen ist. Zu diesen heiligen Büchern gehören bekanntlich außer der Bibel die Yeden, das Tripitaka Gautamas, der Koran, der Avesta mit den Gathas, die Kings der Chinesen (die z. B. höher von ihnen geschätzt werden als ihre
Ethische Keligionen.
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klassischen Bücher, die Shu). Fünf Länder sind es, die heüige Bücher, die eben kanonisches Ansehen erlangt haben, hervorbrachten: Indien, Persien, China, Palästina und Arabien, somit beschränken sie sich auf Asien; Indien nimmt ohne Zweifel die erste Stelle ein als die Mutter von vier großen Religionen, jede mit einem eigenen Kanon heiliger Schriften. Welche Bedeutung die Religionsstifter sich selbst beigelegt haben, und inwiefern auch wir ihnen etwas Schöpferisches zuerkennen dürfen, werden wir später noch sehen; jetzt nur so viel, daß ihre Aussprüche eben durch diese erfolgende schriftliche Fixierung gesetzliche Kraft gewinnen, die jede etwaige Umbildung oder auch nur abAveichende Auffassung von vornherein unmöglich machen soll. "Welche verhängnisvolle Gefahr für eine gesunde Entwicklung des religiösen Lebens gerade in diesem Umstände liegt, wie oft hierdurch Erstarrung und Versumpfung verursacht wurde, ist klar und durch unzählige geschichtliche Fälle ausreichend belegt. Abgesehen von dem politischen Mißbrauch, der nur zu oft mit diesem Glauben getrieben ist, entartete diese ursprünglich reine und edle Verehrung des Göttlichen zu schnödem Götzendienst, der sich in nichts von dem so verachteten Fetischismus unterscheidet. Für die autoritative Auslegung jener unverbrüchlichen Richtschnur wurde aber jene Macht sehr bedeutungsvoll, die durch den Zuwachs der Gläubigen ein immer stärkeres soziales Ansehen erhielt, die Kirche. Auch hier liegen die fruchtbaren Keime schon in früheren Epochen; überall begegnen wir, wie wir uns bereits überzeugten, bei den Naturvölkern Priesterschulen, mehr oder minder lockeren Organisationen, endlich Geheimbünden, Mysterienkulten, Orden und Sekten. Wir
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Grundlinien in der Entwicklung der Religionen.
erinnern an die Areoi in Polynesien, an die zahlreichen chinesischen, indischen und persischen Sekten, an die Essener in Israel, die Hanifen in Arabien, die Orphiker, Gnostiker, Süfiten etc. Aber hier haben wir es öfters mit Sonderbildungen zu tun, die eine Reaktion gegen die herrschende Ansicht darstellen, während die Kirche gerade von Rechts wegen beansprucht, die richtige Hüterin des Glaubens und der vielleicht sonst schwankenden Überlieferung zu sein. Je weiter sich das anfänglich kleine Gebiet der neuen Religion ausdehnt und fremde Völkerschaften aufgenommen werden, um so unverhüllter tritt auch die universalistische Tendenz hervor, die über alle ethnographischen und topographischen Schranken hinweggreift. Die Botschaft Gautamas war von vornherein völlig allgemein gehalten, die Verkündigung des Heiles durch Christus wurde es wenigstens sehr bald, aber der Islam ist aus ursprünglich sehr eng begrenztem Rahmen zu der Expansionskraft einer Weltreligion ersten Ranges aufgewachsen. Umgekehrt ist das Judentum, das freilich von vornherein einen sehr exklusiven Charakter trug, durch die Ungunst der Zeiten seines heimatlichen Bodens beraubt, aber um so zäher hängt die über die ganze Welt verstreute Schar, die ihrer Nationalität längst verlustig gegangen ist, an ihrem religiösen Besitztum. Dennoch wird man dies Stadium, das eben bei aller Kraftanstrengung doch keinen sichtbaren Fortschritt in Aussicht stellt, kein Wachstum, eher eine Erstarrung und Verkümmerung nennen dürfen, der die Zukunft nicht beschieden sein kann. Andere Formen sind wieder trotz ihrer universellen Anlage doch in ihrer ganzen Auffassung ethnographisch beschränkt, wenn auch nicht auf ein bestimmtes Volk, so doch auf eine Rasse; das
Ethische Religionen.
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gilt z. B. vom Buddhismus, der schwerlich je (von allen anderen Gegengriinden abgesehen) die Religion der Europäer werden kann und wird. Auch, die Veden darf man als ein spezifisches indisches Gewächs bezeichnen, das bei einem anderen Klima unfehlbar erfrieren würde. Ist aber das Ethische das eigentliche Merkmal dieser höheren Religiosität, obwohl dasselbe leider durchaus nicht, wie wir schon konstatierten, zum offenen Durchbruch gelangt, vielmehr unter dem Wust des Dogmas und Ritus erstickt ist, so muß auch demnach das bloß äußere Bekenntnis, die tote Formel zu Gunsten der entscheidenden inneren Gesinnung (also eines lediglich sittlichen Faktoren) zurückstehen. Dahin geboren auch alle verhängnisvollen Tendenzen, die nicht selten im religiösen Gewände aufgetreten sind, nämlich den Menschen seiner eigentlichen inneren Tatkraft zu berauben und ihn als willenloses Werkzeug der Askese und Tötung des Ich zu überliefern. Nicht getötet soll der Mensch werden, sondern wiedergeboren, nicht erschlaffen soll er in quietistischer Mystik, indem er allen großen Kulturaufgaben gegenüber entsagungsvoll, oder besser gesagt, feige die Hände in den Schoß legt, sondern eben an seinem Teil sich unmittelbar an der rastlosen Durchdringung der Welt mit den höchsten und reinsten Idealen beteiligen, so daß er, wie Goethe sagt, das Vergängliche unvergänglich macht und alles nach Spinozas Ausdruck sub specie aeternitatis betrachtet. Das Ethische entfaltet somit das eigentlich und wahrhaft Menschliche, indem es das Dogmatische des bloß theokratischen Standpunktes, der sich nur an den äußeren Befehl Gottes hält, überwindet, so daß der Ausspruch des alten Kant zur Geltung gelangt: Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch
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Grundlinien in der Entwicklung der Religionen.
außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille, oder wie Goethe es ausdrückt: Gutes tu rein aus des Guten Liebe! Das überliefre deinem Blut! Und wenn's den Kindern nicht verbliebe, Den Enkeln kommt es doch zu gut. Gerade die Geschichte unserer Eeligion kann nach dieser Richtung bedeutsame Fingerzeige geben: wie das Urchristentum (wenigstens nach unserer Auffassung) keine sozialen Probleme schwieriger Art kannte, so sind dieselben anerkanntermaßen für uns Aufgabe allerersten Eanges geworden. Es wäre traurig um unser Christentum bestellt, wenn wir achtlos an denselben vorübergehen müßten; mögen die Versuche und Erfolge auch noch so unzulänglich sein, eine echte, tiefgehende, den Menschen beherrschende religiöse Gesinnung wird auch stets ihren Blick auf diese praktischen Fragen richten, weil sie eben mit in den Bereich unserer gesamten Kultur unmittelbar gehören. Diese sozialethische Färbung, schließlich nur die Äußerung des inneren geläuterten sittlichen Triebes der Sympathie, als der höchsten Verklärung wahrer Menschlichkeit, streitet durchaus nicht, wie man vielleicht meinen sollte, mit dem Erlösungsprinzip, wie es die großen Weltreligionen aufstellen. Denn faßt man dies nur nicht in äußerlicher Weise rein materiell auf, z. B. durch die Erregung der bekannten stark sinnlich gefärbten Paradieshoffnnngen, so beruht diese Entlastung in einem rastlosen Kampf gegen die Sünde. Das religiöse Bewußtsein kann aber nur das lähmende Schuldgefühl überwinden, d. h. erlöst werden von dem Fluch der Zeitlich-
Begriff der Religion.
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keit und menschlichen Hinfälligkeit, wenn es nicht außerhalb der Welt stellt, sondern eben innerhalb der Wirklichkeit aus der fruchtbaren Wechselwirkung mit der Umgebung die dauernde Befriedigung schöpft, die für den Kampf des Lebens unerläßlich ist. Eine zweite Frage hingegen ist es erst, wie wir Tins dies Ideal der Erlösung im einzelnen konkret denken, ob im optimistischen Sinne als eine stufenweise Vollendung des Individuums vielleicht in einer höheren, reineren Existenzform, oder pessimistisch in einer Rückführung desselben, in einer Auflösung in das Nichts oder endlich pantheistisch als Vereinigung mit dem schaffenden Weltgeist.
Zweiter Abschnitt.
Prinzipien der Religionswissenschaft. § 17.
Begriff der Religion.
Wir hatten früher darauf hingewiesen (vgl. § 2), daß für die Auffassung der Völkerkunde der Glaube, die Mythologie und der Kultus unter dem gemeinsamen Namen der Religion ein unzertrennliches Ganze darstelle, das in der geschichtlichen Entwicklung, wie wir dieselbe soeben in großen Umrissen betrachteten, in der Tat auch stets im inneren Zusammenhange gestanden hätte. Nichtsdestoweniger bedarf es aber selbstverständlich für eine schärfere Zergliederung einer genaueren begrifflichen Bestimmung dessen, was wir im eigentlichen Sinne des Wortes unter Religion zu verstehen haben. Niemand wird freilich eine Prüfung aller verschiedenen Definitionen, die im Laufe der Zeit versucht sind, etwa von Cieeros Erklärung an: religio A c h e 1 i s ^Religionswissenschaft.
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Prinzipien der Religionswissenschaft.
est, quae superioris cuiusdam naturae quam divinam vocant curam caerimoniamque affert, bis herab auf die Gegenwart verlangen; immerhin wird es ratsam sein, auf einige solcher Auffassungen hinzuweisen. Nach Kant besteht die Religion in der Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote, wobei sichtlich die Beziehung zur Sittlichkeit möglichst betont wird; bei Hegel und Fichte tritt umgekehrt das logische Moment in den Yordergrund. Nach jenem ist nämlich die Religion das Wissen des endlichen Geistes von seinem Wesen als absoluter Geist; Fichte behauptet: Religion ist Erkenntnis. Sie macht den Menschen sich selber klar, beantwortet die höchsten Fragen, die überhaupt aufgeworfen werden können, und bringt so dem Menschen vollkommene Einigkeit mit sich selbst und wahre Heiligung seines Gemütes. Schleiermaclier hingegen sucht lediglich den Zusammenhang mit dem Gefühl festzuhalten, indem er erklärt: Religion ist weder Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls und des unmittelbaren Selbstbewußtseins, welche sich darin offenbart, daß wir uns unser selbst als schlechthin abhängig oder als in Beziehung mit Gott bewußt sind. Wundt endlich bezeichnet alle Vorstellungen und Gefühle als religiös, die sich auf ein ideales, die Wünsche und Forderungen des menschlichen Gemüts vollkommen befriedigendes Dasein beziehen. In anderen Ableitungen, besonders denjenigen, welche die ersten Regungen des religiösen Bewußtseins betreffen, wird wieder die Furcht, ein unerklärliches Grauen vor dem überwältigenden Eindruck der Naturerscheinungen und damit im Zusammenhang der unausrottbare Trieb der Kausalität als der eigentliche Faktor der Religion bezeichnet. Die meisten dieser Definitionen leiden an
Begriff der Religion.
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einer durch dogmatische Voreingenommenheit der Forscher bedingten Unvollständigkeit; sie sind zu eng, heben gewisse Merkmale hervor auf Kosten anderer, die dagegen zurücktreten, und namentlich werden sie nicht dem Gemütszustand des Menschen, aus dem alle Religion hervorgeht, gerocht. So sehr nämlich, ethnologisch genommen, die Religion für uns eine soziale Funktion ist, d. h. ein organisches Ergebnis der Entwicklung, gerade so wie Sprache, Recht, Sitte und Kunst, so sehr bedarf es doch umgekehrt einer psychologischen Berücksichtigimg des individuellen Bewußtseins, weil eben ohne diese schöpferische Quelle überhaupt von keiner sozialen Entwicklung die Rede sein könnte. Unter dieser Perspektive wird die Religion zu einem Affekt, zu einer Stimmung und Gesinnung, die sich dann in Worten und Handlungen einen entsprechenden Ausdruck sucht. In diesem rein subjektiven Sinne ist Religion Frömmigkeit, einerlei immer, was man auf den verschiedenen Kulturstufen darunter zu verstehen hat. Wir würden sonach mit Goethe die Ehrfurcht als ein religiöses Element ersten Ranges beanspruchen, nicht die vielbesprochene Furcht und Angst, sondern das tiefe Ergriffensein von dem ehrerbietigen Gefühl einer unendlichen Macht gegenüber, die unser Schicksal beherrscht. Damit ergibt sich dann die Anbetung der Gottheit als dieser überragenden Potenz, sei es in welcher Form auch immer, von selbst. Auch auf den Stufen primitiver Entwicklung, im Fetischismns, ist doch, wie wir uns schon früher überzeugten, das wenn auch dunkle Gefühl der Abhängigkeit.einer höheren Macht wirksam, der Naturmensch betet nicht den einzelnen zufälligen Gegenstand an, sondern die darin verkörperte Kraft, die er dort verkörpert glaubt. Der 7*
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Prinzipien der Religionswissenschaft.
ganze Axiimismus, der Ahnendienst, die Verehrung der Gestirne usw. wäre ein läppisches, schales Spiel ohne Sinn und Verstand, wenn wir nicht als wesenhaftes Moment jene Gemütsstimmung voraussetzen müßten, die sich ihrerseits natürlich wieder höchst verschiedenartig bekunden kann. Während dem ursprünglichen Egoismus zufolge der Wilde meist recht materielle Ziele auch in seiner Religion verfolgt, wie er in genauer anthropomorpher Auffassung der Gottheit diese Beziehung zu den ihn umgebenden Geistern sich sehr sinnlich und roh ausmalt, tritt auch viel später ein wirklich ethischer Gedanke und gerade die Forderung einer inneren Heiligung in der Religion auf, wie es der große Dichter so schön ausdrückt: In unseres Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich dem ewig Ungenannten, Wir heißen's: fromm sein. Alle echte Religiosität ist daher Sache des Herzens, des Gefühls und hat unmittelbar nichts mit dem Verstände, mit der Erkenntnis zu tun; ja man kann mit einem gewissen paradoxen Anschein sagen, wären uns alle Welträtsel gelöst, bestünde gar kein Widerspruch mehr axif Erden für uns, kein Geheimnis, das unser Scharfsinn nicht zu durchdringen vermöchte, so wäre auch das Ende der Religion gekommen, wir hätten nichts mehr, das wir anzubeten und zu verehren brauchten, weil die ganze unendliche Welt bemeistert uns zu Füßen läge. Solange wir aber als endliche Wesen in der Unendlichkeit des Weltganzen stecken, dessen Erhabenheit wir auch nicht annähernd aviszu-
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denken, ja gar nicht einmal zu fassen im Begriff sind, selbst nicht in den Wei bestunden höchster dichterischer oder philosophischer Inspiration, so lange bleibt die Religion ein unantastbares Gut der Menschheit auf allen ihren Entwicklungsstufen. Aller Götzendienst, der uns so verwerflich und kindisch dünkt, ohne daß wir bedenken, wie sehr wir selbst tagtäglich noch in den Banden schimpflicher Idolatrie befangen sind, hat mit dem wahren Gottesdienst in der Anbetung seinen gemeinschaftlichen Nährboden. Selbstverständlich gibt es keine Religion ohne Glauben, ohne eine bestimmte "Wertschätzung des Lebens und des Ichs, aber trotzdem bildet das eigentliche Dogmatische nur einen nebensächlichen, jedenfalls stets veränderlichen Bestandteil der Religion, den nur blinder Fanatismus und Unverstand zur Hauptsache erheben kann. Für die äußere Entwicklung, für die soziale Organisation werden gewisse autoritative Normen stets unentbehrlich sein, aber es ist jederzeit der unfehlbare Tod einer lebendigen, freien Entfaltung des religiösen Bewußtseins, wenn diese Formeln zur Knechtung der Geister gebraucht werden und eine herrschsüchtige Hierarchie sich berufen glaubt, den Gang der Weltgeschichte hemmen zu können. Außerdem geht schon deshalb der eigentliche Kern und "Wert der Religion hierbei verloren, weil die Festsetzung dieser Auffassungen lediglich oder jedenfalls in der Hauptsache nicht auf instinktivem "Wege durch das Gefühl geschieht, sondern eben durch den spekulierenden Verstand, der mit echt religiösem Glauben gar nichts zu schaffen hat. Dafür liefert die Geschichte der großen "Weltreligionen und nicht zum wenigsten die des Christentums uns allzu traurige Belege. Es bedarf wohl nicht der ausdrücklichen Versicherung, daß wir
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anderseits nicht gewillt sind, der schwärmerischen Mystik, der schlaffen, weltfremden Askese und anderen Auswüchsen das Wort zu reden; auch der religiöse Glaube ist stets, wie unsere ganze geistige Entwicklung, mittelbar abhängig von unseren Erfahrungen und Vorstellungen, kurz von unserem gesamten Weltbild, das auch hierauf projiziert. Und ebensowenig wie wir das berüchtigte Credo, quia absurdum empfehlen möchte]], können wir uns selbstverständlich für die bedenkliche doppelte Buchführung erwärmen, auf dem Gebiet der Religion dem bloßen Glauben die führende Rolle zu überlassen, in der Wissenschaft aber der Erkenntnis. Wie überall, handelt es sich auch hier um eine Einigung der verschiedenen geistigen Faktoren, die zwar vielen nicht gelingen will — deshalb gerade hier die häufigen kläglichen Erscheinungen, aber trotzdem dürfen "wir es als ein Ergebnis unserer psychologischen Betrachtung und der geschichtlichen Entwicklung bezeichnen, daß der Ursprung der Religion und ihr eigentlicher Begriff in einer tiefgradigen Gefühlserregung besteht. Das wird noch unabweisbarer heraustreten, wenn wir im folgenden das Wesen und die psychologische Entstehung der Religion untersuchen. § 18. Wesen nnd Ursprung der Religion. Wie v i r uns überzeugten, beruht die Religion auf einem Affekt, auf einer tiefgehenden Gefühlserregung, die in der Anerkennung eines Gottes als einer übermenschlichen Realität ihren Kernpunkt besitzt. Dabei kommt ein Yerstandesprozeß, ein etwaiges bewußtes Schlußverfahren, ein genauer, zureichender Beweis kaum oder nur in zweiter Linie in Betracht; erst nachträglich, auf den Stufen höherer Kultur, sucht der Mensch
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seinen Glaubensinhalt mit der übrigen Erfahrungswelt in Einklang zu bringen, ja gelegentlich sogar ihn nach. Art wissenschaftlicher Lehrsätze zu beweisen. Meist ist dieser Vorgang aber ein Zeichen dafür, daß die ursprüngliche lebendige Glut, aus welcher alle religiöse Überzeugung, welcher Art sie auch sein möge, stammt, verflogen und dafür ein kalter klügelnder Dogmatismus an die Stelle getreten ist. Es ist die Macht, vor der der Naturmensch sein Haupt beugt, und die auch wir in den höheren Formen einer das ganze Weltall durchströmenden kosmischen Kraft anerkennen und in der Sprache der Dichtkunst preisen. So unendlich weit die Weltanschauung der primitiven Völker von unserer heutigen abstehen mag, wenn wir dieselbe in einem Kant oder Goethe vertreten finden, so bildet doch der Gottesbegriff die gemeinsame Wurzel für alle weiteren Gedanken und Gefühle. Und dieser Gottesbegriff wieder, so unvergleichbar er uns auf den ersten Anblick hin auch erscheinen mag, wenn wir das religiöse Ideal eines Austrainegers und Goethes etwa einander gegenüberstellen, begründet sich seinerseits wieder in dem ebenso unklaren wie übermächtigen Gefühl einer inneren Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott, wie wir es bereits früher geschildert haben (vgl. § 3). Die Kluft, die sich zwischen beiden Sphären auf zutun schien, wird ausgefüllt durch eine ganze Reihe von vermittelnden Persönlichkeiten (Halbgötter, Propheten, Kulturheroen, Erlöser usw.), die die verlorene Einheit wiederherstellen und das verblaßte göttliche Ebenbild im Menschentum erneuern. Geschichte und Sage liefern der geschäftigen Phantasie in zahlreichen Gestaltungen hierfür, wie bekannt sein dürfte, den Stoff. In all diesen Bildern, die uns die Mythologie fast aller,
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wenigstens einigermaßen begabter Völker entrollt, offenbart sich, der angeborene, unwiderstehliche Drang nach einer Vereinigung dos Menschen mit der Gottheit, -wie er am schärfsten und konsequentesten bei den Mystikern aller Zeiten zum Ausdruck gelangt. Und dies Streben beruht wiederum auf dem mächtigen Unendlichkeitsgefühl, das den Menschen genau genommen nie verläßt, aber doch nur in einzelnen Weihestunden unser ganzes Sein erfüllt. Im Mystiker, der die Fesseln der Sinnlichkeit und Zeitlichkeit abstreift, der sich eins fühlt mit der Gottheit, mit dem Weltgeist, mit dem Atman nach indischem Ausdruck, ist dieser Höhepunkt tatsächlich erreicht, das Individuum ist erloschen und der Kreislauf des "Werdens damit vollendet; aber in schwächerem Grade, sei es auch nur auf wenige rasch verrinnende Augenblicke, empfindet jeder wirklich religiöse Mensch diesen Trieb, den hemmenden Schranken der Endlichkeit zu entfliehen, diesen Zug nach der Höhe. Unzweifelhaft hat Goethe mit seinen bekannten Versen daher einen allgemein menschlichen Zug in gewohnter Meisterschaft bezeichnet: Doch ist es jedem eingeboren, Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, Wenn über uns, im blauen Raum verloren, Ihr schmetternd Lied die Lerche singt, Wenn über schroffen Fichtenhöhen Der Adler ausgebreitet schwebt, Und über Flächen, über Seeen Der Kranich nach der Heimat strebt. Dies Unendlichkeitsgefühl, das selbstverständlich die verschiedenartigste Färbung annimmt, verwebt sich mit einer gewissen Wertschätzung unserer eigenen
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Persönlichkeit gegenüber übergewaltigen Naturkräften, denen wir physisch durchaus nicht gewachsen sind. Ohne diese Empfindung- unserer unvergleichlichen Bedeutung würden wir sonst unfehlbar verzagen, erdrückt werden durch die überragende Größe der elementaren Kräfte und auch verkümmern ob all des Elends und Leides, das uns unausweichlich umgibt. Trotz all unserer Hinfälligkeit und Beschränktheit, die zum Teil gerade eine Quelle religiöser Sehnsucht ist, trotz aller fehlgeschlagenen Hoffnungen, bei aller Vergänglichkeit selbst des Höchsten und Besten, was wir haben, rettet uns lediglich jenes unausrottbare Gefühl des eigenen unersetzlichen Wertes vor Pessimismus und völligem Zerfall. Daher ist der Glaube an Ideale, an Werte, die dem ganzen flüchtig verrauschenden Leben erst Inhalt und Bedeutung verleihen, der eigentliche religiöse Kardinalsatz, und man könnte sogar von diesem ethischen Standpunkt aus sagen, alle Religion geht darauf aus, unserem Dasein einen höheren Wert zu verleihen. Aber, so könnte man fragen, wie unterscheidet sich nun Religion im engeren Sinne von Mythologie oder von Kunst und von Wissenschaft, die doch auch Ideale voraussetzen, Wertgrößen, ohne die sie in nichts zusammenschrumpfen? Die Mythologie beschäftigt sich lediglich mit der Natur, in welche sie ihre bunten Bilder einwebt; das sittliche Leben, ein sehr fruchtbarer Nährboden für die Religion, liegt ihr fern. Sodann spielt in ihr, ebenso wie in der Kunst, die Phantasie eine maßgebende Rolle, der gegenüber das in der Religion maßgebende Gefühl nicht zum Durchbruch zu kommen vermag. Für die Kunst ist sodann der Begriff der Illusion entscheidend, des schönen Scheins gegenüber der harten, unfreundlichen Wirklichkeit, die er uns
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täuschend verhüllt, während gerade die religiöse Erhebung und Erbauung eine Versöhnung mit dem unmittelbaren Leben bezweckt, dessen Druck wir nur allzu hart empfinden. Das Verhältnis aber des Glaubens zur Wissenschaft bedarf schon um seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung willen einer etwas genaueren Erörterung. Wie Mythologie und Kunst bei aller Verschiedenartigkeit doch auf der andern Seite gleichartige Beziehungen zur Religion aufweisen, so pflegt meist der Unterschied von Wissenschaft und Religion zum unüberbrückbaren Gegensatz gesteigert zu werden. Auf der einen Seite steht die klare Erkenntnis, der logische Beweis, der nichts mit Gefühlen und Affekten zu tun hat; umgekehrt, er scheint von seiner Stichhaltigkeit etwas zu verlieren, wenn Pathos und Erregung sich hineinmischen. Wie lose ist dagegen das Band, das eine tiefe religiöse Überzeugung mit eigentlichen Vernunftgründen, mit den Gesetzen der induktiven Logik verknüpft! Jeder wissenschaftliche Satz, sofern er auf allgemeine Anerkennung Anspruch erhebt, muß streng beweisbar sein — das ist die denknotwendige Voraussetzung für diese objektive Gültigkeit •—; keine, auch nicht die einfachste und allgemeinste religiöse Erfahrung ist dagegen einer solchen Demonstration zugängig. Man hat demgegenüber wohl darauf hingewiesen, daß auch die Wissenschaft gewisser allgemeiner Sätze nicht entbehren könne, die nicht beweisbar seien, sondern sozusagen auf Treu und Glauben angenommen würden. So z. B. das Kausalitätsgesetz als Grundvoraussetzung unseres ganzen Denkens. Aber diese Annahme gewisser unwiderleglicher, aber unbeweisbarer Regeln, ja Gesetze unseres Erkennens, ohne die alles in einem wüsten Chaos untergehen würde, unterscheidet
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sich nicht unerheblich von dem eigentlich religiösen Glauben. Dieser behauptet die Wirklichkeit von Ereignissen und Vorgängen, die außerhalb unserer sinnlichen Wahrnehmung und unserer kritischen Weltauffassung liegen, deshalb auch nicht durch logische Gründe dargetan •werden können; jene Anerkennung aber gewisser allgemeiner Voraussetzungen unseres Denkens (der Kausalität, der Identität usw.) beschäftigen sich gar nicht zunächst mit etwas Wirklichem, mit einer fraglichen Tatsache, sondern mit der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt, für die sie bestimmte Regeln a priori aufstellt. Will jemand sie ablehnen in törichtem Anarchismus, will er ihre Evidenz nicht zugeben, so kann er freilich durch kein höheres logisches Schlußverfahren gezwungen werden; aber trotzdem ist dies Zugeständnis jener lediglich formalen Wahrheiten, d. h. Formen unserer Erkenntnis, sichtlich etwas ganz anderes als der unerschütterliche, sittlich bedingte religiöse Glaube an die das menschliche Leben durchflutende, ja beherrschende göttliche Allmacht. Daß auch freilich für die Wissenschaft die Subjektivität mit in Anschlag zu bringen ist, versteht sich von selbst, kann aber an dem allgemeinen Tatbestand nichts ändern. Dennoch soll und braucht zwischen beiden kein absoluter Gegensatz, wenigstens keine Feindschaft zu bestehen, schon deshalb nicht, weil sie beide ihre volle Wirksamkeit nur in unmittelbarem gegenseitigen Einvernehmen miteinander zu entfalten vermögen. Und ebenso wird man es imbefangen keiner Religion verübeln können, wenn sie es unternimmt, so gut sie kann, den Zusammenhang ihrer Lehren und Vorstellungen mit den übrigen Disziplinen und vor allem mit anderen Triebfedern unseres Daseins zu prüfen. Sie wird sich um so eher
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berufen fühlen zu einer solchen historisch-kritischen Untersuchung, als sie dadurch erst sich selbst über ihre eigene Entwicklung klar zu werden und so erst Unwesentliches von Grundlegendem zu scheiden imstande ist. Aber selbstverständlich kann aller Scharfsinn auf diesem Felde nicht die wahre Religiosität, die Frömmigkeit und lautere Gesinnung des Herzens — die eigentlichen Triebfedern jeder echten Religion — ersetzen; umgekehrt, alles wissenschaftliche Bemühen der Theologie greift letzten Endes auf diesen unveräußerlichen Tatbestand des praktischen Glaubens zurück, soll nicht toter Formalismus und geisttötender Buchstabenglaube entstehen. § 19. Charakter der Religion. Auch die Religion, sowohl als der Gemütszustand des einzelnen Menschen gedacht, wie als geschichtliche Erscheinung gefaßt, kann sich nicht, wie wir bemerkten, den allgemeinen sozialen Einflüssen entziehen, die alles geistige Leben beherrschen; aber als Religiosität, als die vollkommene Harmonie und der schöne, ausgeglichene Frieden in der Brust des Menschen, wo die "Wünsche, die ewig begehren, eingeschläfert sind, sei es auch nur für einen flüchtigen Augenblick, ist sie doch mehr oder minder unabhängig von der Fülle und Tiefe des "Wissens, von dem Scharfsinn eines durchdringenden Verstandes und der genialen Kombination der Spekulation. Hier entscheidet die ungebrochene Kraft eines alle "Widersprüche besiegenden Glaubens, der sich nicht an das Zeugnis der Sinne und der wissenschaftlichen Kritik hält, sondern lediglich oder doch vorwiegend an die Stimme der eigenen sittlichen Erfahrung und des Gewissens. Dazu gehört freilich anderseits ein ebenso
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starkes, durch keine Schicksalsschläge erschüttertes, sondern umgekehrt nur noch mehr gefestigtes Gottvortranen, das in dem Weltlenker stets den gütigen Vater verehrt, der alles zum besten wendet. Diese Überzeugung, die allerdings wohl erst unter dem Druck der Leiden und Prüfungen allmählich heranreift, verleiht dem Menschen jene erhabene Stimmung und Gesinnung, die alle wahrhaft religiösen Menschen lehrt, das ganze irdische Leben in den verschiedenartigsten Modulationen sub specie aeternitatis aufzufassen, wodurch wiederum das schon öfter erwähnte Gefühl des Unendlichen zum vollsten Ausdruck gelangt. Das führt dann im weiteren Zusammenhange zu der stillen Gelassenheit und Ergebung in den göttlichen "Willen, die aller Eigenwilligkeit entsagt, zu einem unverwüstlichen Optimismus, der allen "Widerwärtigkeiten und Schicksalsschlägen gegenüber standhält, ja zu einer seltenen Heiterkeit des Gemüts, die sich als freudige Stimmung himmelweit unterscheidet von einer passiven Stumpfheit und Unempfindlichkeit des Gefühls, wie man es bei den schwerleidenden Schichten niederer "Volkskreise wohl anzutreffen pflegt. Wie überall, so vermag aber auch hier bei aller individuellen Anlage Pflege und Erziehung viel auszurichten. Die Natur ist zunächst die große Lehrmeisterin der religiösen Empfindungen, wie wir es in den gewaltigen mythologischen Konzeptionen sehen oder in den Beden und Gleichnissen der berühmten Propheten und Herzenskiindiger aller Zeiten und Völker, die gerade auf das Leben und Weben der Natur die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer lenkten. Selbst der moderne Denker verschmäht es nicht, aus dieser ewig sprudelnden Quelle zu schöpfen; es mag genügen, in dieser Beziehung auf Kant und Goethe, zwei im übrigen
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so verschiedene Geister, zu verweisen. Die Kritik der praktischen Vernunft schließt bekanntlich mit den "Worten: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt, der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Und Goethe erklärte dem Kanzler von Müller: Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und aber tausend Erscheinungen, hebt doch den Blick sehnend zum Himmel auf, der sich in unermessenen Bäumen über ihn wölbt, weil er tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen Eeiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen. Wie diese religiöse Durchdringung der Natur ausfallen mag, ist eine Sache für sich; in wundervoller pantheistischer Verklärung malt uns dies Bild der große Dichter aus: Im Grenzenlosen sich zu finden, Wird gern der einzelne verschwinden, Da löst sich aller Überdruß; Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen Sich aufzugeben ist Genuß. Weltseele komm, uns zu durchdringen! Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen, Wird unserer Kräfte Hochberuf. Teilnehmend führen gute Geister, Gelinde leitend, höchste Meister, Zu dem, der alles schafft und schuf. Und umzuschaffen das Geschaffne, Damit sich's nicht zum Starren waffne, Wirkt ewiges, lebend'ges Tun. Und was nicht war, nun will es werden
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Zu reinen Sonnen, farb'gen Erden, In keinem Falle darf es ruhn. In der Mystik und Ekstase erreicht diese schwärmerische Begeisterung, die in ihrer nachhaltigen Glut alle irdische und menschliche Beschränktheit hinwegtilgt und läutert, ihren Gipfelpunkt, der bei aller kulturgeschichtlichen sonstigen Verschiedenheit des Milieus bezeichnenderweise durchweg dieselben typischen Züge erkennen läßt. Wo an der Persönlichkeit Gottes festgehalten wird, erscheint die Natur als Spiegelbild seiner Majestät und Allmacht, wie sie die Psalmen in so erhabener Form preisen. Anderseits müht sich die Spekulation ab, in tiefsinnigen Erörterungen, die sie uns gern als Beweise aufdringen möchte, das Verhältnis Gottes zur Welt, zur Materie, zum Menschen zu veranschaulichen — metaphysische Konstruktionen, die bei aller Unzulänglichkeit doch den Ernst und das Pathos der ganzen Stimmung, von der sie getragen sind, bezeugen. Sehen wir aber von diesen kosmologischen Dichtungen über den höchsten Weltgrund ab, obwohl sie einen gebührenden Platz .in der Geschichte des menschlichen Denkens beanspruchen dürften, so ist für die durchschnittliche religiöse Entwicklung die Beziehung auf das soziale Leben aus naheliegenden Ursachen viel wirksamer. Diese persönlichen Erfahrungen greifen uns viel unmittelbarer ans Herz als die Naturanschauung, die schon ihrerseits ein feineres, gereifteres Verhältnis voraussetzt, als es der prosaische Durchschnittsmensch zu besitzen pflegt. Glück und Segen, der uns auf unserem Pfade zu teil geworden, auch die harte Schule des Unglücks, der Entbehrungen können die schlummernden religiösen Triebe des Dankes oder der Ergebung in uns wecken, und gerade hier kann die
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geschickte Hand eines erfahrenen Seelsorgers viel ausrichten. Über aller Anleitung und Erziehung aber, die im übrigen nicht unterschätzt werden soll, steht die eigene Erweckung zu neuem Leben infolge einer inneren Offenbarung. Hier erfolgt in der Tat (für den äußeren Beobachter unerwartet, in Wahrheit natürlich längst vorbereitet) eine völlige Wiedergeburt, wie sie die großen Weltreligionen, vor allem der Buddhismus und das Christentum so anschaulich zu schildern wissen. "Wir haben früher bereits (vgl. § 6) auf die typischen Züge der Ekstase, der Vereinigung des Menschen mit der Gottheit in dem Stadium der Verzückung, hingewiesen, so daß wir uns hier mit einigen Andeutungen begnügen können. In dieser Durchdringung des Individuums durch den Weltgeist vollzieht sich eine Erneuerung und Umwandlung des Menschen, der seine frühere Natur wie ein altes Gewand ablegt, um ein neues Kleid anzuziehen; der einzelne fühlt sich demgemäß auch lediglich als Organ und Werkzeug des Höheren, sein Selbst ist erstorben, verschwunden, so daß sich der Erweckte als gottberufener Verkünder der nun von ihm ausgehenden Offenbarungen fühlt. So z. B. bei Montan, dem Stifter einer christlichen Sekte im 2. Jahrhundert, der von sich erzählt, es sei ihm, wenn dieser Zustand der Verzückung über ihn komme, als ob er schlafe, oder als ob sein Herz (der Sitz des Bewußtseins nach antiker Vorstellung) ihm ans der Brust genommen und eine fremde Macht ihm ein anderes eingesetzt habe. Es ist ihm, wie uns manchmal im Traume, als sei er der Zuschauer oder Zuhörer dessen, was die fremde Macht, die ihn in Besitz genommen, aus ihm rede oder durch ihn tue. Er höre nur wie im Traume eine ferne, fremde Stimme reden, welche
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sieh seiner Sprachorgane bediene, -wie ein Plektron, das die Saiten schlägt. Und dieser Zustand sei über ihn gekommen, als ob etwas Fremdes auf ihn geflogen sei, wie ein "Windstoß oder ein betäubender Geruch. Und dies alles schildere nicht der Mensch in ihm, sondern der Gott in ihm, so daß es fraglich sei, ob der Mensch im wachen Zustande daran noch eine Erinnerung besitze. In der Seherin von Prevorst hat Grün noch Züge dieser Art bewahrt: Hiev lieg ich betend Yor dir, Allerbarmer, Ich Arme, ich Kranke. Ich Schwache, ich Kranke, Du nimmst den gehorsamen Kindern den Schmerz, Du bist der Allwissende, Siehest mein Herz. Daß a\ich hier gelegentlich Verstellung und Betrug ihre zweideutige Rolle gespielt haben, soll nicht geleugnet werden, im ganzen und großen aber erwirkte diese Entriickung nicht nur eine zeitweilige Erhebung über alles irdische Leid und Ungemach, so daß z. B. die christlichen Märtyrer öfter nichts von den Qualen empfanden, die ihnen ihre heidnischen Verfolger auferlegten, sondern auch eine dauernde Heiligung und Läuterung des ganzen Lebenswandels, eine Geringschätzung der gewöhnlichen Freuden und Annehmlichkeiten des Daseins, die ihrerseits wieder zur ausgesprochenen Askese, zur Abkehr von jeder Sinnlichkeit und Kunst führen konnte und tatsächlich geführt hat. Diesem i n d i v i d u e l l e n Charakter der Religion, der für die persönliche Entwicklung des einzelnen entA c h e I i s , Religionswissenschaft.
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scheidend ist, steht gegenüber ihre soziale Bedeutung, die sie als eine großartige geschichtliche Erscheinung im Yölkerleben beanspruchen darf. Wir brauchen an dieser Stelle nicht mehr deu bedauernswerten Irrtum der Aufklärung, der leider auch in unserer Gegenwart noch nicht völlig erstorben zu sein scheint, zu widerlegen, daß die Religion die Erfindung eines einzelnen Menschen sei, um so weniger als wir später noch den Anteil zu erörtern haben werden, der in der Geschichte der Religionen den Religionsstiftern zukommt. Für uns bildet die Religion ebenso wie jode andere sozialpsychische Erscheinung, wie Recht, Sitte und Kunst ein organisches Glied in der Reihe der großen Kulturschöpfungen, die freilich sämtlich nicht ohne die Wirksamkeit des einzelnen zu stände gekommen sind, aber niemals ohne die soziale Wechselwirkung der Angehörigen irgend einer ethnischen Organisation gedacht werden können. Ist uns schon somit aus psychologischen Gründen die Religion eine soziale Funktion, so bestätigt sich dieses Ergebnis durch eine kulturgeschichtliche, ethnologische Betrachtung; denn überall, selbst auf den primitiven Gesittungsstufen, ist die Religion zugleich Organisation, gebunden an das Priestertum, an den Kultus, kurz an soziale Faktoren. Für die großen Weltreligionen gilt das, wie ohne weiteres einleuchtet, vollends; die Gemeinde Gautamas, Mohammeds, Christi ist aus kleinen, unscheinbaren Keimen zu gewaltigen, Welt und Völker umspannenden, internationalen Gemeinschaften, Hierarchien ausgewachsen, in denen die Rechte und Pflichten der einzelnen Glieder dieses ungeheuren Mechanismus ganz genau festgesetzt sind. So sicher die Freiheit und Selbständigkeit der Wissenschaft nur allzuleicht durch diese Gebundenheit des einzelnen
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und durch die bestimmten kanonischen, d. h. allgemein verbindlichen Bestimmungen leidet, so -wirkt doch auf der anderen Seite der Anblick eines solchen mächtigen Baues imponierend. Die Weltreligionen haben im Unterschied von kleineren Organisationen der Geschichte ganzer Länder und Völker neue Bahnen gewiesen. Der Buddhismus hat, wie ein oft gebrauchtes Wort lautet, Asien besänftigt, er ist eine zivilisatorische Macht ersten Banges für die "wilden Stämme jenes Erdteils geworden. Der Islam hat mit unwiderstehlicher Expansionskraft über die engeren Grenzen seiner Heimat sich ausgedehnt und Afrika und zum Teil auch Europa und Asien erheblich umgestaltet und völlig neue kulturgeschichtliche Konstellationen geschaffen. Das Christentum hat, trotz seiner Zersplitterung in unendlich viele, sich nicht selten mit feindseligem Haß bekämpfende Sekten, doch unbeirrt seinen Siegeszug über die Erde fortgesetzt, den schon die Apostel ihrer Zeit, wenn auch mit unzureichenden Mitteln, antraten. Sehr beachtenswert ist der Umstand, daß im Lauf der Zeit die ursprüngliche Reinheit ihrer Lehren stets getrübt und nicht selten in ihr Gegenteil verkehrt ist; Buddha wollte die Menschheit vom Fluch der Zeitlichkeit, von dem ewigen Kreislauf der Geburten und des Werdens überhaupt erlösen und alle in die Ruhe des Nirvana einführen. Wie er die Schranken und Fesseln der Kasten durchbrach und damit die auf ihre Yorrechte stolzen Brahminen gegen sich aufbrachte, so verbannte er auch konsequent alle Götter aus seiner Religion und machte dagegen alles von der Erkenntnis der Menschen abhängig. Und doch bevölkerte sich bald wieder der Himmel mit den früheren, nur etwas umgewandelten Gestalten, und doch traten nur zu schnell wieder die alten Gegensätze auf, 8*
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"welche die eine unterschiedslose Masse der Gläubigen in verschiedene Klassen und Abstufungen schied. Was aber aus der Religion der Liebe in den Händen herrschsüchtiger, fanatischer und dabei roher und gemeiner Priester in verschiedenen Jahrhunderten geworden ist, welche Hekatomben von unschuldigen Opfern dem höchsten Gott allerbarmender Güte geschlachtet sind, das aufzuzählen mag den Nachfolgern Voltaires überlassen bleiben, aber die leidige, greuelvolle Tatsache schafft man damit nicht aus der Welt. Welche Rolle die Religionsstifter in dem ganzen Prozeß dieser geschichtlichen Neubildung gespielt haben, werden wir später noch zu bedenken haben; jetzt nur so viel, daß sie sich alle unterschiedslos als Yorkiinder einer ersehnten Heilsbotschaft fühlten, obschon diese nicht ohne Kampf nnd Streit (selbst blutigen Zwist) zum Sieg, zur allgemeineren Anerkennung gelangen sollte. Bei Gautama war es die Aufhebung der Leiden, der Weg der vier Wahrheiten, um den es sich handelt; bei Christus ist es die allumfassende Liebe, die den zürnenden, strafenden Jehovah völlig umwandelt; Mohammed richtete in erster Linie die ganze Glut seines Fanatismus gegen den heimischen, tiefeingewurzelten Polytheismus und Geisterglauben. Auch sie empfinden, wie die anderen Propheten, in einer übernatürlichen Verzückung diese Offenbarung aus der Höhe — bei Budclha, wo der ganze Nachdruck auf der Erkenntnis liegt, ist es die plötzliche Erleuchtung unter dem Bodhibaume, die ihm die schmerzlich gesuchte Wahrheit enthüllt — und nun sind sie gegen alle Versuchungen und Anfechtungen des teuflischen Widersachers, der sie von ihrem mühsam errungenen Heilswege wieder unter mancherlei lockenden Vorspiegelungen abbringen möchte, gefeit und gesichert. Diese Offen-
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barung bildet meist den entscheidenden Wendepunkt für die weitere Entwicklung und Gestaltung der neuen Lehre; erst viel später schließen sich daran weitere Erklärungen und Zusätze, die jenen ursprünglichen Kern und Grelialt des religiösen Gedankens weiter ausbilden sollen. Dann, und zwar abermals nach geraumer Zeit, erfolgt erst die schriftliche Fixierung der Reden und Aussprüche des göttlichen Meisters durch die Jünger der rasch aufblühenden Gemeinde, bis der Bestand dieser authentischen Äußerungen durch einen festen Konzilionbeschluß gegen allen Zweifel späterer Generationen gesichert wird. Das ist der Ursprung der heiligen Bücher, die für die betreffende religiöse Gemeinschaft verbindliche Kraft besitzen und trotz allem "Wandel der Zeit auch f ü r immer behaupten wollen. Daß damit ein unversöhnlicher Krieg zwischen sklavischer Autorität und blindem Gehorsam einerseits und freier Kritik und persönlicher Selbständigkeit anderseits heraufbeschworen ist, leuchtet ein, und die Religionsgeschichte aller Kirchen und größeren Organisationen ist davon bekanntlich erfüllt. Gewiß sind für alle praktische Bildungen irgend welche Normen unerläßlich, und insofern sind jene Aufzeichnungen, an denen selbstverständlich nie die Religionsstifter selbst beteiligt gewesen, die unentbehrlichen Gesetzbücher für etwaige Entscheidungen innerer Streitigkeiten. Aber anderseits unterbinden sie nur allzuleicht, wie eben angedeutet, die gesunde, natürliche Entwicklung, die stets mit einer Umbildung und Anpassung an neue Kulturströmungen Hand in Hand gehen muß. Dazu tritt die fast unvermeidliche Gefahr einer Verwechslungechter, innerlicher Religiosität mit bloß äußerlicher Observanz gewisser Bräuche und Einrichtungen, mit Heuchelei lind dem Dienst der Lippen, den schon Christus so
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"unnachsichtlich bekämpfte. Dieser verhängnisvollen Fessel entbehren die sog. Naturreligionen, die ganz ansprechend von einem Indianer einem christlichen Missionar gegenüber verteidigt wurden: Zwei Religionen hat der große Geist dem Menschen gegeben, die eine in einem Buche, um den wreißen Mann auf den rechten Weg zu leiten, der, wenn er ihren Lehren folgt, den Himmel des weißen Mannes erreichen wird. Die andere findet sich in den Köpfen der Indianer, in dem Himmelsgewölbe, in den Felsen, Flüssen, Bergen. Auch die roten Männer, die auf Gott in der Natur lauschen, werden seine Stimme hören und zuletzt den Himmel jenseits finden. Und Max Müller, in dem Bestreben, diese innere Stimmung des Herzens als unveräußerliche Grundlage jeder historischen, kodifizierten Religionsform hinzustellen, fügt hinzu: Was unserer Zeit mehr als alles andere not tut, ist natürliche Religion. Was immer die verschiedenen Theologen unter übernatürlicher Religion verstehen mögen, die Geschichte lehrt uns, daß nichts so natürlich ist als das Übernatürliche. Allein das Übernatürliche muß sich stets über dem Natürlichen aufbauen; übernatürliche Religion ohne natürliche wäre ein Haus, das man auf Sand gebauet hat. Fallen dann, wie in unseren Tagen, die Regenschauer des Zweifels darauf herab, umbrausen es die Wogen der Kritik und die Stürme des Unglaubens und der Verzweiflung, so stürzt es zusammen, weil es nicht auf den Felsengrund der buchlosen Religion, der natürlichen, der ewigen Religion gegründet ist. Im Begriff der religiösen Entwicklung, den wir später noch einer genaueren Untersuchung unterziehen werden, liegt das Moment des Vergleiches und des Wertunterschiedes eingeschlossen. Zunächst schon inner-
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halb der einzelnen Rcligionsformen in Bezug auf verschiedene Stufen, so z. B. betreffs des Katholizismus und Protestantismus oder des nördlichen und südlichen Buddhismus usw. Sodann im weiteren Rahmen, wenn man Christentum und Buddhismus (wie das ja häufig geschehen) einander gegenüberstellt und ihre beiderseitigen Fehler und Vorzüge gegeneinander abwägt. Nun ist freilich von vornherein klar, daß hierbei gewisse individuelle, nationale, kulturhistorische und Rassenvorurteile eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen; wir wollen von rein persönlichen Stimmungen noch ganz Abstand nehmen, aber wir befinden uns unbewußt in dem Bann unserer ganzen Erziehung und geistigen Entwicklung, der unser wissenschaftliches Urteil verfälscht. Wie selten wird die jüdische Religion, das Alte Testament ganz unbefangen von uns betrachtet, wie voreilig finden wir uns meist mit dem eigentlichen Gehalt des Buddhismus ab oder des Islam! Die Priorität, der "Vorzug des Christentums ist uns von vornherein eine ausgemachte Tatsache, ohne daß wir imstande wären, den Beweis dafür auch nur annähernd anzutreten. Gewiß fallen auf den ersten Blick manche und zwar tiefgreifende Parallelen zwischen den letzten beiden Rcligionsformen in die Augen (und dieselben sind bekanntlich mehr als billig ausgenutzt), es mag ausreichen, auf die rein formale Gemeinsamkeit der universalen, von jeder nationalen und ethnischen Beschränkung absehenden Tendenz zu verweisen; aber der eigentliche Sinn und die Richtung ihrer Gedanken ist himmelweit verschieden: bei Buddha (abgesehen von dem ursprünglich streng atheistischen Charakter seines Glaubens) die nachdrückliche, ja ausschließliche Betonung der Erkenntnis, bei Christus die des Gemüts und Willens; dort
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eine Erlösung der Persönlichkeit, liier eine Befreiung aus den Banden der Sünde und des Egoismus. So ist letzten Endes der e t h i s c h e Maßstab das entscheidende Kriterium, der im sieghaften Optimismus die Erhaltung des Lebenswertes, wenn auch im endlosen Kampf und Ringen, lehrt, während bei Gautama schließlich uns das Truggespinst des pessimistischen Nihilismus angrinst. Diese große kulturgeschichtliche Perspektive, die bei allem Idealismus doch der Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang gerecht wird und deshalb auch jederzeit organisatorisch von größter Bedeutung gewesen ist, wird bei aller Anerkennung sowohl des Scharfsinnes, der in der buddhistischen Psychologie und Metaphysik sich bekundet, als des Segens, den diese Lehre zivilisatorisch über Zentralasien gebracht hat, für jeden Unbefangenen die Wagschalc zu Gunsten des Christentums neigen. Und gerade deshalb dürfen wir wohl im Anklang an ein bekanntes Wort Leasings sagen: Nicht, weil Gott uns das Christentum offenbart hat, glauben wir, daß es die vollendete Religion ist, sondern weil es sich uns als die vollendete Religion bezeugt, glauben wir, daß Gott es uns offenbart habe. Auch Schillers Distichon kann uns in dieser Uberzeugimg nicht beirren: Welche Religion ich bekenne 'i Keine von allen, Die du mir nennst, ,Und warum?' Aus Religion. Denn diese Ablehnung richtet sich sichtlich nur gegen den äußeren Formelkram und den Zwang des Dogmas, der für jede freie Natur unerträglich ist. Ebensowenig ist es für uns von Belang, ob wir mit dieser Anerkennung auch dem Christentum zugleich den Charakter einer absoluten Religion beilegen; jedenfalls würden wir nur das im relativen Sinne tun wollen.
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da auch in unserem Bekenntnis sich allzuviel ilensehiiches und Vergängliches eingeschlichen hat, und da •vir, was gleich noch genauer zu erwägen ist, den Begriff einer stetigen Entwicklung und Umbildung auch auf unseren Glauben angewandt wissen wollen; es würde eben sonst alles erstarren und damit für jede tiefere sozial-ethische Wirkung untauglich werden. § 20.
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Es kann liier nicht unsere Aufgabe sein, die Frage einer ausführlichen Untersuchung zu unterziehen, inwiefern wir auch für das gesamte soziale Gebiet von Gesetzen zu sprechen befugt sind, die freilich nicht die Ausnahmslosigkeit der naturwissenschaftlichen Geltung beanspruchen können. Aber ein unbefangener Blick auf die Geschichte in all ihren Verzweigungen (Wirtschaftsgeschichte, Politik, Statistik usw.) zeigt deutlich, ilaß hier gewisse Erscheinungen regelmäßig wiederkelu-en, die jeder individuellen Willkür enthoben sind. Es verschlägt schließlich wenig, ob wir diese normalen Ereignisse Rhythmen oder Gesetze des Verlaufs nennen, indem beide Ausdrücke die Möglichkeit einer Abweichung stets offen lassen. Ist aber die Religion, wie wir sahen, ihrem ganzen Charakter nach eine sozialpsychische Schöpfimg, so müssen sich auch, wenn anders überhaupt die Geschichte nicht ein blindes Chaos darstellt, in ihr bestimmte periodisch wiederkehrende Formen auffinden lassen, die ihre ganze Entwicklung beeinflussen. In erster Linie wird es sich darum handeln, die Beziehung der Religion zur Bildung- und Gesittung der Völker überhaupt zu prüfen; schwerlich wird wenigstens jemand leugnen, daß hier ein Kausalverhältnis vorliegt. Die Weltanschauung eines Kegers, Polynesiens, Chinesen,
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Semiten, insbesondere eines Phöniziers, eines Romanen, eines Germanen spiegelt sich selbstverständlich mit größerer oder geringerer Treue auch in seinen religiösen Vorstellungen wieder, und deshalb tragen auch alle Religionen trotz ihrer teilweise sehr starken u n i v e r s a l i s t i s c h e n Tendenz doch einen e t h n i s c h e n Charakter. Gerade darin bestand und besteht noch heutigestags, wie wir früher schon äußerten, der verhängnisvolle Fehler mancher unserer Missionare, daß sie an ihren abstrakten Gedanken festhalten und dadurch keine rechte Fühlung mit ihren ganz und gar an die sinnliche Anschauung gebundenen Schützlingen gewinnen können. Die chinesische Religion ist völlig utilistisch, praktisch, eine nüchterne Moraltheorie, jedes Idealismus und poetischen Zaubers bar — Laotses tiefsinnige Mystik hat deshalb auch in den breiten Massen des Reiches der Mitte keine "Wurzel zu schlagen vermocht —, die indische Religion ist dagegen erfüllt von phantastischen Spekidationen, metaphysischen kühnen Konstruktionen, die an innerer Geschlossenheit und erfahrungsfeindlicher Konsequenz der Transcendental- und Identitätsphilosophie des 19. Jahrhunderts völlig ebenbürtig sind; die alte germanische Religion atmet einen weltverachtenden, tragischen Geist mit streng sittlichen Zügen, der entschlossenen Sinnes die rächende Nemesis sich auch an der sündigen Götterwclt vollziehen läßt, während die griechischen Olympier im unvergänglichen Glänze der Schönheit ein glückseliges Leben führen, auf das nur selten ein finsterer Todesschatten fällt. Diese Abhängigkeit der Religion von der Kultur (man denke übrigens an die verschiedenen Entwicklungsphasen des Christentums, die auch in dieser Beziehung lehrreich sind — Judenchristentum und Hellenismus, römisch-abcndländi-
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scher und byzantinischer Typus, Mittelaltertum, Katholizismus, Reformation und Gegenreformation, Pietismus und Rationalismus) wird auch meist lebhaft empfunden und zwar vielfach als ein schlimmer Einfluß beklagt. Besonders sind es die Anhänger der sog. guten alten Zeit, die es schmerzlich empfinden, daß in weiten Schichten des Volks sich eine Wandelung der religiösen Überzeugung vollzogen, daß mit der wachsenden Aufklärung sich auch die Einfachheit und Schlichtheit des religiösen Weltbildes verändert hat und dafür vielfach eine voreilige Geringschätzung religiöser Denkart überhaupt und mit ihr nicht selten materielle Genußsucht eingetreten ist. Bisweilen wird dann diese Reaktion so stark, daß die soziale Beziehung sich bis zu einem unüberbrückbaren Gegensatz verschärft, der gegenüber jener epikureischen Stimmung in einer ebenso ausgesprochenen Weltverachtung (Askese) seinen tatsächlichen Ausdruck findet. Das, Avas bei den großen Weltreligionen sich vorbildlich bei ihren Stiftern und ersten Anhängern zeigte, wiederholt sich dann in schweren Krisen späterhin; die Geschichte der Heiligen, der Mönche und Nonnen, der Orden und Klöster überhaupt bietet dafür die entsprechenden Belege. Die Unverwüstlichkeit des religiösen Triebes offenbart sich aber gerade darin, daß alle diese Anfechtungen, diese Schwankungen schließlich glücklich überwunden werden; es findet, wie immer im sozialen Leben, ein gewisser Ausgleich statt, der die einseitigen Extreme und Forderungen beseitigt. In der französischen Encyklopädie war die Religion, jedenfalls das Christentum längst totgesagt und sogar feierlich bestattet, auch die Aufklärung litt noch unter dem nüchternen, unhistorischen und unpsychologischen Individualismus und Rationalismus, unsere gegenwärtige
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naturwissenschaftliche, öfter recht selbstgefällige Weltanschauung glaubt nicht minder über diese Lebensmacht zur Tagesordnung übergehen zu können, und doch, ist die religiöse Sehnsucht, dieser eigentliche Quell alles Ubersinnlichen, •wirklich unter und in uns erloschen oder etwa, wie viele meinen, durch Wissenschaft oder Kunst abgelöst? Wer unbefangen unsere gesellschaftlichen Zustände und unser geistiges Leben betrachtet, wer sich nicht durch das laute Geschrei der Umstürzler und nicht durch die unleugbare Tatsache der Dogmenentfremdung täuschen läßt, kann nur mit einem Nein darauf antworten. Umgekehrt, wir müssen im Interesse einer wahrhaft fruchtbaren religiösen Entwicklung darauf bestehen, daß die Religion sich nicht künstlich abschließt gegen die Außenwelt, sondern vielmehr die segensreichen, wirksamen Anregungen des auch sie umschließenden Nährbodens in sich aufnimmt und durch Assimilation zu eigen macht. Es möge ausreichen, auf die Geschichte der Gottcsvorstellungcn zu verweisen; der ursprünglich ganz sinnlich gefaßte Begriff (Stärke, Leidenschaften aller Art usw.) verliert allmählich sein materielles Gepräge — Max Müller hat eine selir instruktive Biographie des indischen Feuergottes Agni geliefert und dabei diesen langsamen Prozeß einer stets wachsenden Idealisierung anziehend geschildert —, bis er in dem Munde der tiefsten Denker und Seher sich zur ethischen und metaphysischen Vollendung läutert. Das gilt vollends vom Kultus, der ganz und gar sozial bedingt ist, also unmittelbar abhängig von der geistigen Atmosphäre eines Yolkes und einer Zeit. Der Kannibalismus und Anthropophagie als religiöse Einrichtungen, der Molochdienst, die Autodafes, der Phallusdienst der Antike und bei den Indern, die so weitverbreitete
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Tempelprostitution, der immittelbar unsittliche Kult vieler semitischer Gottheiten u. a. m. gehört in diesen Znsammenhang. Hier liegen unzweifelhafte Anzeichen vor für unsere Annahme, daß auch die religiöse "Welt den allgemeinen geistigen Einflüssen untersteht, die alles soziale Leben beherrschen. Und wie in der individuellen Entwicklung', so wird es auch in der Geschichte der Völker eine unerläßliche Forderung bleiben, alle äußere Anregungen innerlich zu verarbeiten und einheitlich zu gestalten; jede Absperrung und Isolierung bringt Stillstand und Tod, nur in der Überwindung und Ausscheidung der bedenklichen, anarchischen und anderseits der rückständigen, unfruchtbaren Elemente kann der wahre Fortschritt sowohl für den einzelnen wie für die soziale Gruppe bestehen. Die Extreme rächen sich selbst; alle Religion, die nicht mit den treibenden Ideen eines Zeitalters in inniger Fühlung bleibt, wird überholt und erstarrt zu einer Mumie; alle Kultur, die kurzsichtig genug meint, die Religion, dieses Ferment und diese Grundlage zugleich allen geistigen Lebens, entbehren zu können (Goethe sagt einmal sehr treffend: Die Menschen sind nur so lange produktiv in Religion und Kunst, als sie religiös sind), verflacht und geht, -wie die französische Encyklopädie und der sich ihr anschließende Materialismus genügend zeigt, rettungslos dem Untergang entgegen. Beispiele für eine glückliche Umbildung solcher fremden Einwirkungen sind die Griechen, Perser und im gewissen Sinne auch die Germanen, für eine bloß äußerliche Nachahmung dagegen die Phönizier, Atliiopier und viele Stämme auf niederen Gesittungsstufen dem Islam gegenüber. Sehr bedeutsam ist das wachsende Verhältnis der Religion zum Staat, zur politischen Macht. Es ist bekannt, daß bei den
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Naturvölkern und noch weit hinein in die Perioden höherer Kultur der Häuptling und König zugleich der Priester, ja die irdische Verkörperung der Gottheit ist, die er eben leibhaftig seinen Untertanen darstellt. "Während hier begreiflicherweise von keinem Gegensatz die Rede sein kann — auch später noch ist vielfach der Kaiser der Repräsentant der höchsten überirdischen Macht —, tritt im Laufe der Zeit eine Spannung ein, die nicht selten zu einem erbitterten Kampf führt, der nur durch mehr oder minder haltbare Kompromisse zeitweilig beigelegt wird. Nur selten hat diese Entwicklung zu einer vollständigen reinlichen Trennung beider Gewalten Veranlassung gegeben, während meist bekanntlich die Selbständigkeit der Stellung gegenseitig verbürgt ist und dafür der ideelle Einfluß beider Faktoren zu wechselseitigem Schutz aufgeboten wird. Jedenfalls bringt eine brutale Knechtung und selbst die bloße Herrschsucht beiden Interessenten mir Nachteil und Schaden idealer Güter; ganz besonders gilt das von dem so oft im Namen der Religion angerufenen Schutz des Staates, eine törichte Maßregel, die selbst im besten Falle nur augenblickliche Verlegenheiten aus der Welt schafft. Letzten Endes müssen auf höheren Kulturstufen beide stark genug sein, um sich selbst gegen alle Gefahren schirmen zu können, um so mehr als es sich bei beiden um ganz verschiedene Interessen handelt. Von der Kirche und ihrer Bedeutung als religiöser Gemeinschaft und Organisation werden wir gleich noch zu sprechen haben; vorläufig für diesen Zusammenhang nur so viel, daß nach unserem Ermessen die Staatskirche ein nicht unbedenklicher und deshalb schwerlich auf die Dauer haltbarer Kompromiß, ein Übergangsstadium ist.
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Abgesehen von dieser rein sozialen Beziehung der religiösen Formen zu den jeweiligen staatlichen Organisationen zeigt aber auch noch in anderer Hinsicht diese Entwicklung typische Züge, gesetzliche Normen und Erscheinungen, die nicht an einen bestimmten Ort und an ein besonderes Volk gebunden sind, sondern die sich schlechterdings überall wiederholen, so daß wir ihnen einen notwendigen atigemeinen Charakter beilegen dürfen. Es war früher schon von der fortschreitenden Veredlung der Gottesvorstellungen die Rede, die wir in den verschiedenen Zeitaltern und Entwicklungsphasen beobachten können; dasselbe gilt von der Religion überhaupt. Will man nicht der mit den Tatsachen ganz unverträglichen Ansicht von einem ursprünglichen Monooder Henotheismus anhangen, so bleibt nichts anderes übrig als die kulturgeschichtlich hinreichend beglaubigte Annahme von dem anfänglichen bunten Chaos der verschiedenartigsten Götter, die freilich gelegentlich um einen gewissen gemeinsamen Mittelpunkt kreisen. Je weiter sich aber der Horizont ausdehnt, je mehr das ursprünglich engbegrenzte ethnographische Moment einer universalistischen Tendenz weicht, um so schneller verblaßt dieser bunte mythologische Zauber; nur in Form von Heiligen erhalten sich noch die früheren Götter, aber sonst ist unwiderruflich der Polytheismus dem Untergang geweiht, der Monotheismus behauptet überall siegreich das Feld, nicht nur im Christentum, obwohl er hier am reinsten hervortritt, sondern (wenigstens anfänglich) in allen großen Weltreligionen. Dadurch bekundet sich eine zunehmende Vertiefung der herrschenden Anschauungen, eine stärkere ethische Imprägnierung, selbst etwaigenfalls auf Kosten dichterischen Zaubers. Diese Läuterung zieht dann ihre weiteren Kreise; nicht
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der Kultus, die bloße äußere Beobachtung von Riten und Gebräuchen bildet mehr den entscheidenden Maßstab, sondern die Gesinnung, die wahre Frömmigkeit, die Religiosität; nicht mehr das Bekenntnis von Dogmen und Formeln, nicht die bloße Zugehörigkeit zu einer Kirche, sondern eben die Gottesfürchtige Ergebung, die lautere, unsträfliche Lebensführung, die nie ermattende Menschenliebe. Trotz aller Spaltungen, trotz aller Differenzierungen der Probleme durch immer schärfere Kritik und Zerlegung erscheint hierin gerade umgekehrt als Gegengewicht die Hervorhebung einzelner besonders wichtiger, unerläßlicher Momente, bei aller Vielheit der Zug nach Einheit, trotz aller Mannigfaltigkeit das Streben nach Versöhnung der feindlichen Gegensätze. Kennzeichnend, und das möchten wir abermals als ein allgemeines Entwicklungsgesetz in Anspruch nehmen, ist die stets mächtigere ethische Tendenz, die anfänglich der religiösen Weltanschauung so fern lag; sie gerade bringt hierdurch, wie wir uns später noch genauer überzeugen werden (vgl. § 21), in den allgemein gültigen und verbindlichen Normen, die auf diesem Grunde erwachsen , auch die typisch guten und hervorragenden menschlichen Züge und Eigenschaften zum Ausdruck. Schon früher (vgl. § 19) haben wir das Verhältnis zwischen dem Individuum imd der Umwelt, seinem Milieu berührt; liier, wo es sich um die Gesetze der religiösen Entwicklung handelt, bedarf dies Moment einer besonderen Untersuchung, weil nur dann der ganze Zusammenhang klar zu Tage tritt. Auch liier, wie in so vielen anderen psychologischen Problemen, gilt es, die unwahren, nur durch einseitiges Denken und mangelhafte Beobachtung erzeugten Extreme zu vermeiden. So wenig die Religion ihrer Bildung und Entwicklung
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nach eine Erfindung des Individuums ist, wie die rationalistische Aufklärung meinte, so sehr in ihr überall soziale Motive und Elemente wirksam sind, so wenig kann sie der Hilfe genialer Persönlichkeiten entbehren. Das zeigt, abgesehen von der psychologischen Erwägung, eine unbefangene empirische Betrachtung. Es widerspricht jeder Logik, zuerst die Selbständigkeit der einzelnen zu leugnen und nur die Wirksamkeit der sozialen Gruppe zu behaupten, die sichtlich ohne die lebendigen Individuen völlig in der Luft schwebt, und nachträglich doch wieder stillschweigend die großen Männer anzuerkennen. Nicht minder zeigt, wie gesagt, eine nüchterne geschichtliche Auffassung der Dinge, daß jeder bedeutende Aufschwung an die Kraft und Kapazität genialer Persönlichkeiten, mögen diese immerhin entstanden sein, wie sie wollen, geknüpft ist; ganz besonders gilt das von religiösen Reformen und Neubildungen. Confucius, Laotse, Buddha, Zoroaster, Moses, Mohammed, Christus, Luther usw. haben ihrerseits im Gegensatz zu den herrschenden Zeitströmungen ein neues Milieu geschaffen, das ganz und gar ihr Gepräge trug, und so auf Jahrhunderte der Weltgeschichte ihren eigenartigen Stempel aufgedrückt. Gewiß haben auch sie anderseits von ihrem Zeitalter etwas mitgenommen — bloß aus Opposition, aus Zerstörung wird schwerlich etwas Neues geboren —, aber daß sie es vermochten, diesen fruchtbaren Keim selbständig weiter zu entfalten und irgend einer bis dahin unklaren und deshalb auch unwirksamen Idee Fleisch und Blut zu verleihen, das ist ihre Großtat, ihr besonderes, durch nichts entstelltes und verkleinertes Verdienst. Wir wollen trotzdem nicht leugnen, daß gerade hier die menschliche Phantasie in Legendenbildung manches verfälscht und dem jeweiligen A e h e l i s , Religionswissenschaft.
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Heros zugedichtet liat, was ihm eine spätere Kritik vielleicht nehmen muß. Das gilt sowohl von der Lehre, von einzelnen Gedanken, als auch von Taten (so z. B. von "Wundern bei einem Religionsstifter); diese letzteren sind nun für den Gehalt einer Religion herzlieh gleichgültig, obwohl sie die Menge vorübergehend begeistern können, sie sind das entbehrliche Beiwerk der Religion, das freilich bezeichnenderweise nirgends fehlt. Und was das eigentliche Dogma anlangt, so sind freilich manche Anklänge davon schon früher vorhanden — absolut Neues gibt es überhaupt nicht in der Welt —, aber zum Mittelpunkt einer "Weltanschauung, die dadurch in Gegensatz zum bisherigen Glauben tritt, sind diese verstreuten Elemente erst in der Fassung jener scharfsinnigen und erhabenen Männer geworden, die auch stets ihren Zeitgenossen, sofern sie nicht persönlich mit ihnen verfeindet waren, als die Verkörperung der höchsten göttliche Ideen erschienen. Aber das ist freilich nicht zu vergessen: alle Reformation ist nur Umbildung, Entwicklung fruchtbarer, aber nicht genügend geschätzter Keime; somit ist im gewissen Sinne stets die geschichtliche Kontinuität gewahrt gegenüber einem bloß destruktiven Anarchismus, der nicht aufbaut, sondern nur zerstört. Diese lediglich verneinende Tendenz ohne jedes historische Verständnis hat sich noch stets als unfruchtbar erwiesen — man denke an den seltsamen Versuch Comtes, eine neue religiöse Gemeinschaft zu stiften —, während alle großen Rcligionsstifter erst sich gründlich in der ihnen zugänglichen Tradition orientierten, ehe sie mit ihren eigenen Ideen hervortraten; das gilt ganz besonders von Buddha und Christus, denen wir deshalb eine kurze Betrachtung schenken möchten, soweit sie eben für diesen sozialpsychologischen Zusammenhang in Betracht kommen.
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Gautama, der Königssohn, in Pracht und Glanz aufgewachsen, unbefriedigt durch die Antworten der gelehrten Brahmanen auf die quälenden Fragen und Rätsel, fand erst durch einen rastlosen Erkenntnisprozeß die ersehnte Ruhe, indem er das Individuum als die letzte Quelle alles Leidens faßte; deshalb muß dies, wie es auch die Upanishads lehren, im Nirvana verschwinden. Als nach unendlichen Prüfungen und Anfechtungen (auch von Seiten Maras des Versuchers) Buddha zur Vollendung und zwar aus eigener Kraft sich durchgerungen hatte, sprach er: Der Allüberwinder, der Allwissende bin ich, unbefleckt von allem, was ist. Alles habe ich verlassen; ohne Begehren bin ich, ein Erlöser. Aus eigener Kraft besitze ich die Erkenntnis; wen sollte ich meinen Meister nennen? Ich habe keinen Lehrer; niemand ist mir zu vergleichen. In der Welt samt den Himmeln ist niemand, der mir gleich sei. Ich bin der Heilige in der Welt, ich bin der höchste Meister. Ich allein bin der vollendete Buddha; die Flammen sind in mir erloschen; ich habe das Xirvana erreicht. Und bei seinem Tode sprach der Gott Brahma: In den Welten die Wesen all legen einst ab die Leiblichkeit, So wie jetzt Buddha der Siegesfürst, der höchste Meister aller Welt, Der Mächtige, Vollendete zum Nirvana ist gangen ein. Durch seinen Wandel gab er allen Menschen das leuchtende Muster für ihre Entwicklung, und damit riß er, auch ohne daß er einen eigentlichen Kampf gegen die Brahmanen aufnahm, die alten Schranken der Kaste und die althergebrachten Forderungen der Askese nieder, um allen, die unter der Last des Daseins sich dahin9*
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schleppen, eine Erlösung und Befreiung zu bieten. Aber trotz dieses einschneidenden Gegensatzes ist dadurch Avieder mit dem früheren System die Vereinigung geboten, daß es sich in beiden Fällen um die Erlösung aus eigener Kraft handelt; nur ist der Buddhismus konsequenter, energischer, "wie er überhaupt sich durch eine Rücksichtslosigkeit und Kühnheit des Denkens auszeichnet: er weist (wenigstens anfangs und nach seiner eigentlichen Auffassimg) alle andere Beihilfe, also auch die der Priester als völlig überflüssig ab, und endlich scheut er auch vor dem letzten Schluß nicht zurück, den zur "Vollendung Gelangten Gott gleichzusetzen. Besser gesagt, ein Gott paßt nicht mehr in das streng logische System, die Gottheit wird entthront, ihren Platz nimmt der Heilige, der Vollendete ein. Gewiß soll das Mitgefühl mit den armen, von der Not des Daseins erdrückten Menschen nicht in dem Werk und Beginnen Buddhas geleugnet werden, aber doch fehlt seiner wesentlich metaphysisch-psychologischen "VVeltauffassung der belebende Hauch barmherziger Menschenliebe, wie denn überhaupt Affekte, und seien sie die erhabensten und heiligsten, nicht in ein philosophisches System eines so nüchternen Denkers, wie es 9 a ^yamuni schließlich doch war, gehören. E s ist sehr charakteristisch, daß wir, ganz im Gegensatz zu Christus, im Leben des indischen Religionsstifters nie von einer zornigen Aufwallung des sittlich empörten Gemüts etwas hören. Wolil aber ist als Prinzip eine allgemeine Menschenliebe gefordert, wie z. B. in folgendem Satz: "Wie das Wasser alle, den Bösen sowohl als den Gerechten, auf dieselbe Weise von allerlei Staub und Schmutz reinigt und sie mit erfrischender Kühle erfüllt, so sollst du Freund und Feind mit deiner Liebe erquicken, und
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•wenn diese neunte Vollkommenheit erlangt ist, wird dir die "Weisheit eines Buddha angehören. Aber der eigentliche Nerv seiner "Weltanschauung ist nicht der Affekt, die allerbarmende, nie ermattende Liebe und Versöhnlichkeit, sondern der alles klar durchschauende und erfassende Verstand, die Spekulation, die Erkenntnis. Auch der Sohn des Zimmermannes in Nazareth suchte geschichtlich das fortzubilden, was noch entwicklungsfähig war, wie er selbst von sich sagte, er sei gekommen, nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen; auch er wandte sich zunächst zu seinen Landsleuten und Glaubensgenossen und erst dann zur Menschheit überhaupt; auch er war ein vorsichtiger, besonnener Reformator bei allem großartigen Pathos seiner Persönlichkeit im Gegensatz zu einem radikalen Nihilisten. Aber er wollte nicht das Individuum mit all seinen Trieben und Neigungen aufheben, vernichten, sondern alles Irdische im unaufhörlichen Kampf der Gegensätze läutern, veredeln, er war Optimist, kein Pessimist bei aller Anerkennung der furchtbaren dämonischen Macht des Bösen, er war Vertreter eines unentwegten sittlichen Strebens, das im vollsten Maße sich erst sozial betätigen kann und deshalb evolutionistisch wirken muß und einer egoistischen Askese und Isolierung durchaus unzugänglich ist; nicht die Schärfe der Reflexion entscheidet, die Tiefe der metaphysischen Erkenntnis, sondern lediglich die Stärke des Glaubens, des Gefühls, der Überzeugung von der völligen Umwandlung des Menschen, seine Wiedergeburt in dem Geist der Liebe und Brüderlichkeit. Auch die Stifter der großen "Weltreligionen sind bei aller Genialität gerade in Bezug auf ihre soziale Wirksamkeit an die Kausalität, die all unser Tun beherrscht, gebunden, d. h. genauer gesagt an die
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jeweilige kulturgeschichtliche Situation, die sie vorfinden. Gewiß ist einerseits alles geistige Leben geknüpft an die Tätigkeit individueller Geister, ohne die Avir mir einen öden, inhaltsleeren Mechanismus statt eines geschichtlichen sozialpsychischen Prozesses hätten. Aber auf der anderen Seite ist ebenso entschieden daran festzuhalten, daß erst das Bestehen der sozialen Gemeinschaft diese individuelle Entwicklung ermöglicht. Wie der einzelne freilich nicht eher existiert als die Gesamtheit, so speist diese erst vermöge einer unausgesetzten Wechselwirkung jenen mit geistigem Gehalt. Der Gesamtorganismus ist der konkrete Niedersclilag unendlicher Arbeit früherer Generationen, der um so reichhaltiger ist, je ununterbrochener sich der Zusammenhang zwischen den einzelnen Bindegliedern jener Entwicklung darstellt. Je feingegliederter und vielseitiger ein solcher Organismus ist, je mehr die einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten die Vertreter großer, treibender Ideen sind, die sie nach ihren besonderen Kräften zu verwirklichen streben, um so fruchtbarer wird überhaupt die ganze Wechselwirkung zwischen den Persönlichkeiten und dem Milieu ausfallen. Gerade die Epochen der höchsten Kultur, die sonnenbeleuchteten Höhen der Weltgeschichte tragen diesen unleugbaren Stempel jenes innigsten Zusammenhanges zwischen diesen beiden Faktoren, der jederzeit die Gewähr eines echten, nicht sofort wieder durch verhängnisvolle Bückfälle unterbrochenen Fortschrittes in sich trägt. Gerade die religiöse Persönlichkeit kann nur dann eine breite und gesegnete Wirksamkeit entfalten, wenn sie in unmittelbarer Fühlung mit den Idealen ihrer Zeit bleibt, die sie nicht vernichten, sondern umgestalten und zu höherer, reinerer Gestaltung zu führen berufen ist.
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Eine ganz besondere, freilich in allen größeren Religionsgemeinschaften wiederkehrende Form dieser eben geschilderten Wechselwirkung bietet die Kirche, die bald als eine hoffnungsvolle Förderung, bald ebenso sehr als schweres Hemmnis der religiösen Entwicklung angesehen ist. Ursprünglich ist sie als Organisation die berufene Hüterin der Tradition, sei es auf dem Gebiet der Lehre, sei es auf dem des Kultus. Es ist nun eine stets wiederkehrende Erscheinung, daß bei der etwaigen Isolierung der Kirche von dem geistigen Leben ihrer Zeit notwendig Erstarrung und Verknöcherung eintritt und nicht selten damit auch zugleich eine brutale Vergewaltigung der freien, sich diesem Zwang und Druck widersetzenden Persönlichkeit. Das ist der unheilvolle Fluch jeder Orthodoxie, sei sie nun bei den Juden, den Mohammedanern, den Buddhisten oder Christen zu finden. Eine hierarchisch abgestufte Priesterschaft, eine als göttliche Offenbarung anerkannte Heilige Schrift, Befolgung derselben Riten und Gebräuche, Feier derselben Feste, Anerkennung derselben religiösen Ansichten usw. — das sind etwa die Elemente und Prinzipien, auf denen ein solcher mehr odor minder verläßlicher Bau errichtet ist. "Wie sehr sich übrigens, bis in gleichgültige Einzelheiten hinein, hier die Bestandteile wiederholen, das veranschaulicht sehr drastisch das Erstaunen, um nicht zu sagen, Entsetzen der jesuitischen Missionare, als diese zuerst die dem Katholizismus zum Verwechseln ähnliche Organisation der buddhistischen Kirche in Tibet kennen lernten, die deshalb keine andere Erklärung für diese ungereimte Tatsache wußten, als die bekannte Zuflucht zum Teufelswerk, das hier eine abscheuliche Karikatur geliefert habe. Gewiß ist der in dieser religiösen
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Gemeinschaft schon auf Grund der uralten sympathischen menschlichen Triebe erfolgte Zusammenschluß ganz natürlich und löblich, aber diese rein ideale Bedeutung geht vollständig verloren, wenn die Kirche ihre Macht über die Gewissen der Menschen im politischen Sinne einer Knechtung des freien Denkens mißbraucht. Und noch schlimmer gestaltet sich die Sachlage, wenn die Gewalt des Staates zur letzten entscheidenden Exekutive zu Hilfe gerufen und etwas erzwungen wird, was nur als freiwilliger Tribut eines freudigen Herzens Wert beanspruchen kann. Gerade die Geschichte unserer eigenen Keligion ist leider, wie allbekannt, befleckt und besudelt mit den schlimmsten und häßlichsten Übergriffen eines fanatischen, nichts weniger als frommen Klerus. Wahrhaft betrübend ist es aber, ein Umstand, der manchen warmen Menschenfreund pessimistisch verbittern könnte, daß meist auch diejenigen religiösen Gemeinschaften, die sich unter schweren Anfechtungen und Verfolgungen freies Licht und Loben erkämpft haben, nachher anderen Versuchen gegenüber sich nicht minder unduldsam und tyrannisch zu zeigen pflegen; selbst dem an und für sich liberalen Protestantismus sind solche Herrschergelüste leider durchaus nicht fremd. Daß aber alle religiöse Uberzeugung, wenn sie irgendwie praktische Gestalt anzunehmen beginnt, auch einen äußeren Zusammenschluß, eine sei es auch noch so lose Organisation bedingt, das zeigt neuerdiDgs z. B. das Bemühen der so zahlreichen russischen Sektierer, bei denen immer die Umrisse einer solchen Gliederung hervortreten; meist überleben sie zwar den Tod ihres jeweiligen Stifters nicht lange — die herrschende Indolenz und die Wut und Verfolgung der orthodoxen Kirche genügt, um das Saatkorn zu ersticken.
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§ 21. Allgemeingültige Elemente der Religion. "Wie die Ethik, so zeigt auch das religiöse Bewußtsein der Menschheit eine fast unübersehbare Fülle von Verschiedenheiten, ja harten Widersprüchen, die sich kaum mit den einheitlichen Forderungen eines in sich konsequenten Ideals vereinigen lassen. In erster Linie tritt eine ethnische, fast könnte man sagen, topographische Beschränkung der sittlichen Anschauungen hervor; je stärker und einseitiger diese Isolierung ist, um so eigenartiger, volkstümlicher färbt sich (las Bild der religiösen Vorstellungen, obschon, wie wir öfter gesehen, auch die primitiven Entwicklungsstufen die auffälligsten Parallelen bieten. Eine beliebige, selbstverständlich völlig lückenhafte Anführung einiger dahingehender Beispiele mag diesen Stufengang veranschaulichen. Die Blutrache, eine uralte religiöse Institution, geradezu ein unentbehrliches Bindemittel für rohere Organisationsformen, beruht auf mächtigen instinktiven, durch die Blutverwandtschaft konsolidierten Regungen, die trotzdem einer höheren, reineren Auffassung schnurstracks zuwiderlaufen; erst die mächtige Hand des Staates kann die Befolgung dieser Pflicht unmöglich machen. Das Opfer mit all seinen blutigen Greueln bezeugt den ursprünglich erschreckenden religiösethischen Tiefstand des Menschengeschlechts; nur langsam konnten im Lauf der Zeit mancherlei Ablösungen und Surrogate den unbarmherzigen Ernst und die wilde Grausamkeit früherer Zeiten ersetzen. Mit der Grausamkeit im Bunde hat die ihr psychologisch verwandte "Wollust im Dienste der Religion weithin, besonders in den vorderasiatischen semitischen Religionen, die furchtbarsten Verheerungen angerichtet. Insbesondere ist,
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wie bereits früher erwähnt, die Geschichte des Gottesbegriffs , wenn wir von der eigentlichen Mythologie noch absehen, instruktiv für diesen "Wandel der Anschauungen; man vergleiche daraufhin die Gestalten des griechischen Zeus, des germanischen Wodan, des jüdischen Jehovah mit unseren Vorstellungen über die Gottheit und die "Weltordnung überhaupt! Je bereitwilliger wir nun diese Ideale zugeben (was übrigens, beiläufig bemerkt, nur abermals den maßgebenden sozialen Zusammenhang beweist), um so mehr müssen wir dem so verbreiteten Irrtum entgegentreten, als ob es mm überhaupt gar keine objektive religiösen Normen und "Werte gebe. Was von der Ethik gilt (vgl. übrigens ein Werk des Verfassers: Ethik, Göschensche Sammlung, Band 70, besonders Seite 126 ff.), das gilt auch von der Religion in demselben Maße, und zwar Tim so mehr, als eben diese Veredlung der ursprünglichen rohen und unmenschlichen Vorstellungen lediglich auf ethischen Motiven beruht. Die Pflicht, das Sollen, dieser letzte, rein persönliche und nicht weiter ableitbare Faktor jeder Sittlichkeit, ist freilich nichts weiter als die Angemessenheit des Individuums an den sozialen Typus, aber es ist eben bezeichnend, daß diese sozial-ethischen Normen sich andauernd (von einzelnen beklagenswerten Rückfällen abgesehen) humanisieren, d. h. veredeln. Überall zeigt sich die allmähliche Unterdrückung des anfangs schrankenlosen und brutalen Egoismus, der ungezügelten Sinnlichkeit und umgekehrt die gewissere Wertschätzung menschlicher Eigenart und doch des Gemeinschaftslebens, der sympathetischen Gefühle, der Achtung und Ehrfurcht, der Liebe in ihrem weitesten Umfang usw. Der Verbrecher erscheint zunächst zwar als Feind und Zerstörer der betreffenden
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sozialen Organisation, an der er sich vergreift, im weiteren Sinne aber auch als Gegner der sittlichen Weltordnung, der Gottheit, die jene gewährleistet, ja letzten Endes als Widersacher des guten Prinzips, ja seines besseren Selbst. Ganz kurz könnte man somit, ohne sich auf konkrete Bestimmung einzulassen, sagen, allgemein gültig sind diejenigen Elemente der Religion, welche allgemein ethisch verbindlich sind. Zu diesen Urbestandteilen des sittlichen Bewußtseins, die aber, wenn auch in etwas anderer Beleuchtung, für die religiöse Entwicklung zutreffen, wäre etwa zu rechnen: Liebe, Ehrfurcht, Pietät, Frömmigkeit, Glaube, Vertrauen usw. Ganz besonders sind Liebe, Ehrfurcht, Pietät und Frömmigkeit spezifisch religiöse Momente von schlechthin allgemeiner, typischer Geltung und Verbindlichkeit. Vor allem bildet die erstgenannte das große Grundmotiv jeder religiösen Weltanschauung, sofern sie wenigstens auf eine höhere Wertschätzung unsererseits Anspruch erheben will. Betrachten wir die verschiedenen Formen der Liebe, die Mutter-, die Gattenliebe, die Freundschaft, die Nächsten-, die pantheistische All-Liebe oder die tlieistisch gefärbte Gottesliebe, so haben wir eine in sich zusammenhängende, durch die stärksten sittlichen Empfindungen und Ideale beherrschte Stufenleiter, die gerade eine immer schärfere Eliminierung des ursprünglich so maßgebenden Egoismus in sich darstellt. Gerade hier tritt das Allgemeingültige scharf hervor, das auch dann seine Verbindlichkeit ungeschwächt bewahrt, wenn tatsächlich, wie auf dem Gebiet der Ethik, das Verhalten der Menschen diesen höchsten Anforderungen und Normen nicht entspricht. Die Liebe ist nach dem schönen Wort des Apostels die größte unter allen sittlichen Gütern (Glauben und Hoffnung),
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weil sie in (1er völligen Vernichtung des egoistischen Interesses und in der entsprechenden schrankenlosen Erweiterung des ursprünglich so engherzigen Ich vor keinem auch noch so großen Opfer zurückbebt, selbst der Preisgabe des eigenen Lebens. Dagegen streitet es nicht, wenn die Liebe selbst wieder in ihren verschiedenen Betätigungen, vom rein natürlichen, noch vielfach recht selbstischen Instinkt an bis zur erhabensten Gottes- und Menschenliebe, wie sie Spinoza und Goethe fassen, einer stetigen Veredlung bedarf, die eben begreiflicherweise mit dem ganzen geistigen und sittlichen Niveau des Individuums in unmittelbarstem Zusammenhange steht. Ein weiteres sehr bedeutsames Gefühl für die religiöse Entwicklung, das gleichfalls allgemeingültige Verbindlichkeit beanspruchen darf, ist die Pietät, schon in dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern bewährt, in der religiösen Perspektive aber durch die Verbindung mit Ehrfurcht, Ergebung und Frömmigkeit, die davon unzertrennlich sind, zu besonderem Wert erhoben. Alle sozial-ethischen Verhältnisse beruhen letzten Endes (abgesehen von gewissen sympathetischen Bedingungen) auf dem unbedingten Vertrauen, das wir unseren Mitmenschen entgegenbringen, auf dem Gefühl der Dankbarkeit für mancherlei, sei es auch nur ideelle Wohltaten, die wir von unseren Angehörigen genießen — beides sind beachtenswerte Momente im Ahnenkult — und damit zugleich die freie, ungezwungene, wohl gar durch mystischen Überschwang noch gesteigerte Ergebung des durch irdische Leiden und Trübsal geplagten frommen Menschen in den göttlichen Willen — wie gesagt, die Ästhetik und Mystik aller Zeiten und Völker findet hier ihren psychologischen und metaphysischen Ausgangspunkt. Die tiefste
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Quelle religiöser Stimmung aber fließt, wie bereits Goethe, dem v i r uns hier anschließen (Wilh. Meisters Wanderjahre, II. Buch, 1. und 2. Kapitel), erkannt, aus der unbegrenzten Ehrfurcht vor der göttlichen Macht und Güte — ein Gefühl, das ebenfalls bei aller ethnographischen und kulturgeschichtlichen Verschiedenheit typisch, allgemeingültig genannt werden darf. Die weisen Männer, denen Meister eine Zeitlang seinen Sohn zur Erziehung überlassen will, erklären ihm auf seine befremdenden Fragen den Sachverhalt folgendermaßen: Der Natur ist Furcht wohl gemäß, Ehrfurcht aber nicht; man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes mächtiges Wesen: der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu vermeiden, beide wünschen es los zu werden und fühlen sich glücklich, wenn sie es auf kurze Zeit beseitigt haben, wrenn ihre Natur sich zur Freiheit und Unabhängigkeit einigermaßen wiederherstellte. Der natürliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben: von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber beschwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequem. Ungern entschließt sich der Mensch zur Ehrfurcht oder vielmehr entschließt sich nie dazu; es ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muß, und der sich nur bei besonders Begünstigten aus sich gelbst entwickelt, die man auch deswegen von jeher für Heilige, für Götter gehalten hat. Hier liegt die Würde, hier das Geschäft aller echten Religionen, deren es auch nur drei gibt, nach den Objekten, gegen welche sie ihre Andacht wenden. . . . Die Religion, welche auf Ehrfurcht vor dem, was über uns, beruht, nennen wir
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die ethnische; es ist die Religion der Völker und die erste glückliche Ablösung von einer niederen Furcht; alle sogenannten heidnischen Religionen sind von dieser Art, sie mögen übrigens Namen haben, wie sie wollen. Die zweite Religion, die sich auf jene Ehrfurcht gründet, die wir vor dem haben, was uns gleich ist, nennen wir die philosophische; denn der Philosoph, der sich in die Mitte stellt, muß alles Höhere zu sich herab, alles Niedere zu sich herauf ziehen; und nur in diesem Mittelzustand verdient er den Namen des "Weisen. Indem er nun das Verhältnis zu seinesgleichen und also zur ganzen Menschheit, das Verhältnis zu allen übrigen irdischen Umgebungen, notwendigen und zufälligen, durchschaut, lebt er im kosmischen Sinne allein in der Wahrheit. Nun ist aber von der dritten Religion zu sprechen, gegründet auf die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist; wir nennen sie die christliehe, weil sich in ihr eine solche Sinnesart am meisten offenbart; es ist ein letztes, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Aber was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen hohen Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und liebzugewinnen! Hiervon finden sich freilich Spuren durch alle Zeiten, aber Spur ist nicht Ziel, und da dies einmal erreicht ist, so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann, da sie sich einmal göttlich verkörpert hat, nicht wieder aufgelöst werden
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mag. . . . Alle drei zusammen bringen eigentlich die wahre Religion hervor; aus diesen drei Ehrfurchten entspringt die oberste Ehrfurcht, die Ehrfurcht vor sich selbst, und jene entwickeln sich abermals aus dieser, so daß der Mensch /AIITI Höchsten gelangt, was er zu erreichen fähig ist, daß er sich selber für das Beste halten darf, was Gott und Natur hervorgebracht haben, ja daß er selbst auf dieser Höhe verweilen kann, ohne durch Dünkel und Selbstheit wieder ins Gemeine gezogen zu werden. Diese ethische Bedeutung wird dann auch in der Lehre und Person Christi so nachdrücklich betont: Im Leben erscheint der Meister als ein wahrer Philosoph, als ein "Weiser im höchsten Sinne. Er stehet auf seinem Punkte fest, er wandelt seine Straße unverrückt, und indem er das Niedere zu sich heraufzieht, indem er die Unwissenden, die Armen, die Kranken seiner Weisheit, seines Reichtums, seiner Kraft teilhaftig werden läßt und sich deshalb ihnen gleichzustellen scheint, so verleugnet er nicht von der anderen Seite seinen göttlichen Ursprung; er wagt, sich Gott gleichzustellen, ja sich für Gott zu erklären. Auf diese Weise setzt er von Jugend auf seine Umgebung in Erstaunen, gewinnt einen Teil derselben für sich, regt den anderen gegen sich auf und zeigt allen, denen es um eine gewisse Höhe im Lehren und Leben zu tun ist, was sie von der Welt zu erwarten haben. Und so ist sein Wandel für den edlen Teil der Menschheit noch belehrender und fruchtbarer als sein Tod; denn zu jenen Prüfungen ist jeder, zu diesem nur wenige berufen, und damit wir alles übergehen, was aus dieser Betrachtung folgt, so betrachtet die rührende Szene des Abendmahls. Hier läßt der Weise, wie immer, die Seimgen ganz eigentlich verwaist zurück,
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und indem er für die Guten besorgt ist, füttert er zugleich mit ihnen einen Verräter, der ihn und die Bessern zugrunde richten wird. Hier kommen die höchsten und edelsten Affekte des menschlichen Gemüts, natürlich auch erst in langsamer Entfaltung, zum Ausdruck, und diese Entwicklung vollzieht sich deshalb mit psychologischer Notwendigkeit, weil aus diesen allgemeinmenschlichen Trieben und Neigungen ebenfalls ein allgemeinverbindliches, weil im höchsten Sinne ethisches Ideal sich emporringt Ganz besonders möge man beachten, daß eben hier nicht das intellektuelle Moment, sondern nur die etlrische Empfindimg einer großartigen, überragenden Erhabenheit zur Geltung gelangt, vor der wir in stiller Ergebung demütig unser Haupt beugen; gerade dies tiefe Ergriffensein, das seinerseits natürlich wieder je nach der anderweitigen geistigen Entwicklung des Menschen sich unendlich differenzieren kann, macht den spezifisch religiösen Charakter dieser ganzen Gemütserregung aus. Und alle diese Äußerungen unserer tiefsten Gefühlswelt sind endlich getragen und beherrscht von einem ebenso allgemeinen und typischen Element, ohne das der ganze Bau rettungslos zusammenstürzen würde, ohne den Glauben, „des "Wunders liebstes Kind". Auch hier sind die mannigfachsten Abstufungen denkbar, die ihrerseits wieder kulturgeschichtlich und individuell sich begründen; aber charakteristisch ist für den religiösen Glauben jene schon öfter behandelte mystische Neigung zum Unendlichen, Unfaßbaren, Ubersinnlichen, zur Versenkung in diese geheimnisvolle "Welt, der wir nicht entfliehen können, trotzdem wir sie nur zu gern wegleugnen, die unerschütterliche Überzeugung von einem absoluten "Wert trotz aller irdischen Beschränkung,
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die unaustilgbare Sehnsucht endlich, den hemmenden Schranken des Ich, der empirischen Persönlichkeit, und sei es auch nur in flüchtiger Illusion und Vision, zu entrinnen. Dies religiöse Gefühl, ein echt menschliches Erbgut, ist beim Glauben (das Wort selbstverständlich völlig undogmatisch gefaßt) entscheidend, so daß Goethe in Wahrheit und Dichtung sagt, es komme alles darauf an, daß man glaube, "was man glaube, sei völlig gleichgültig. Der Glaube sei ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und Zukunft, und diese Sicherheit entspringe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes, übermächtiges und unerforschliches Wesen. Auf die Unerschütterlichkeit dieses Zutrauens komme alles an; wie wir uns aber dies Wesen denken, sei ganz gleichgültig. Ob wir in den tiefsten Geheimnissen der Religionsphilosophie heimisch sind und mit glänzendem Scharfsinn alle heiklen Probleme, die bereits jenseits der Grenze „des Erforschlichen" liegen, lösen zu können vermeinen, oder ob wir mit unbeirrtem Vertrauen und warmer Empfindung uns der göttlichen Leitung unseres Geschicks hingeben, erfüllt von dem Gefühl: Verquält in stumpfer Sinne Schranken, Scharf angeschloßnem Kettenschmerz, 0 Gott, beschwicht'ge die Gedanken, Erleuchte mein bedürftig Herz — immer entscheidet die Ehrlichkeit und Glut dieser Überzeugung und Weltanschauung, nicht etwa die Klarheit und Verstandesschärfe in der Auffassung, schon aus dem durchschlagenden Grunde, weil die heiklen Welträtsel, die unser Erkennen rein theoretisch nicht zu beseitigen vermag, auch nicht durch den Glauben A c h e l i s , Religionswissenschaft.
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gelöst werden können. Aber die Sachlage hat sich insofern verschoben, als hier nicht das Denken die führende Rolle spielt, sondern eben das Gefühl, und an diesem gehen die Widersprüche des Daseins ohne jeden Anstoß vorüber. Hier handelt es sich um die, sei es auch nur instinktive Gewißheit, daß die Welt der Werte, des Geistes, der Zwecke unvergänglich ist bei allem Zerfall und aller Hinfälligkeit des Irdischen, daß es eine höhere Wirklichkeit gibt als die Materie und daß wir, wie Goethe sich ausdrückt, die Bestimmung haben, das Vergängliche unvergänglich zu machen. Je umfassender der früher (vgl. § 1) geschilderte Standpunkt der vergleichenden Religionswissenschaft ist, um so eher ist die kritische Prüfung imstande, aus dem unendlich vielseitigen empirischen Material diejenigen Elemente herauszusondern, die eben auf allgemeine, objektive Geltung Anspruch erheben können. Hier wie überall muß die empirische Untersuchung mit der psychologisch-metaphysischen Betrachtung Hand in Hand gehen, die Spekulation muß in ihrem deduktiven Verfahren sich stützen auf die Ergebnisse jener ethnographischen und kulturgeschichtlichen Arbeit, will sie sich nicht bei bloßen Hypothesen und unsicheren Schlußfolgerungen beruhigen. Ja, man kann und muß noch einen Schritt weitergehen: es gilt, zwischen den Rechten des einzelnen, seiner Gemütsstimmung, seiner Individualität und den eben so unveräußerlichen Forderungen wissenschaftlicher Erkenntnis zu vermitteln, jenen Streit, der die ganze Geschichte der Menschheit von Anbeginn bis zur Gegenwart, erfüllt hat, dauernd zu schlichten, soweit das menschlicher Einsicht möglich ist. Daraus ergibt sich (was hier nämlich nicht im einzelnen ausgeführt, sondern eben nur als Axiom
Allgemeingültige Elemente der Religion.
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aufgestellt werden kann), daß eben der persönlichen Auffassung und Anschauung als solchen nicht ohne weiteres eine allgemeine Verbindlichkeit zusteht — hier läuft vielmehr mancherlei Irrtum und voreilige Generalisierung aus bloß subjektiven Erfahrungen mit unter —, sondern diese muß eben auf diese mögliche Erweiterung kritisch geprüft werden; aber ebenso sollte man (wie es leider in unseren Tagen nicht selten geschieht) nicht die entsprechende Kehrseite vergessen, daß es eine verhängnisvolle Anmaßung der Wissenschaft ist, ihre, häufig noch gar nicht einwandfreien Sätze zu unmittelbaren Kritereien religiöser Vorstellungen zu machen. Hier berühren sich eben zwei verschiedene Gebiete, und die angeblich vorurteilslose "Wissenschaft begeht nicht minder verhängnisvolle Übergriffe, wie der religiöse Glauben, wenn er sich einfallen läßt, gegen anerkannte, völlig jedem Zweifel überhobene Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung von seinem Gefühlsstandpunkt aus Protest zu erheben. Daß dieser nutzlos ist, ungehört verhallen muß gegenüber dem Fortschritt unserer Erkenntnis, hat die Geschichte der modernen Weltanschauung zur Genüge dargetan; aber eben die verschiedenen Reibungen und Widersprüche zwischen diesen beiden Sphären menschlichen Geisteslebens bezeugen mehr als alles andere den in der Natur unserer nach Einheit ringenden Auffassung liegenden Zug nach Uberwindung dieses quälenden Zwiespaltes, der weder dem Individuum noch der Wissenschaft als solcher förderlich sein kann. Naturwissenschaftliche Theorien und selbst künstlerische Genüsse vermögen nicht den ganz eigenartigen Zauber der religiösen Erbauung und Beseligung zu ersetzen — jedenfalls nicht für die großen Massen des Volks —, 10*
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deshalb ist das schon öfter schadenfroh prophezeite Ende der Religion ein grober Trugschluß; freilich beweist, wie wir gleich sehen werden, die starke Gärung, um nicht zu sagen, Krisis, in der sich augenblicklich die Entwicklung des religiösen Bewußtseins befindet, wie unmittelbar auch diese anscheinend so transzendente Welt mit den realen Faktoren unseres anderweitigen geistigen Lebens zusammenhängt; es fragt sich eben nur, inwieweit der religiösen Anschauung noch eine relative Selbständigkeit zukommen kann. § 22. Schlußbetrachtnng. Wichtigkeit des religiösen Problems für die Gegenwart. "Wir haben schon öfters auf die Tatsache mit allem Nachdruck hingewiesen, daß für uns, bei aller Anerkennung der Frömmigkeit und Ergebung als einer Grundstimmung des religiösen Menschen, die Religion kulturgeschichtlich eine sozialpsychische Erscheinung sei, somit nach allen Seiten hin bedingt durch die anderweitigen Faktoren, die unser geistiges Leben beherrschen. Auch die Ethnographie bestätigt diese Auffassung; die Religion, geboren aus dem Druck und der Not des Daseins und dem daraus quellenden Gefühl der Erlösung, ist schon in ihren Anfängen, wie viele meinen, die Mutter aller Künste und Fertigkeiten, jedenfalls zeigt sie einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Recht, der Sitte, der jeweiligen Organisationsstufe und anderseits mit den ästhetischen Neigungen und Trieben (so z. B., um nur eines hervorzuheben, im Tanz). Dagegen beweist nichts die traurige Tatsache, daß sich die Kirche, die offizielle Vertreterin der Religion, vielfach ablehnend gegen große, bahnbrechende Kulturfortschritte verhalten hat — Toleranz, Abschaffung der
Schlußbetrachtung. Wichtigkeit des relig. Problems. 149 Folter, die Hexenprozesse, Anerkennung der kopernikanischen Weltanschauung u. a., denn schließlieh mußte die, wenn auch recht widerwillige Anbequemung und Umbildung doch erfolge)?, und wir stehen noch unmittelbar in diesem Assimilationsprozeß drin. Es läßt sich nämlich nicht leugnen, daß, wie es in jeder Entwicklung der Fall zu sein pflegt, augenblicklich ein sehr verhängnisvoller Wendepunkt bevorsteht, da manche frühere Anschauungen einen fundamentalen Wandel erfahren haben, ohne daß es schon gelungen wäre, andere haltbare Pfeiler dem Gebäude hinzuzufügen. Besonders gilt das bekanntlich von dem geradezu revolutionären Einfluß der modernen Naturwissenschaft, die sich denn auch begreiflicherweise auf ihre Stellung nicht wenig einbildet. Wir möchten hier ausnahmsweise eine Auslassung Lotzes anführen, jedenfalls eines unverdächtigen Zeugen, der, von jeder Unduldsamkeit und wissenschaftlichen Überhebung fern, doch die Rechte naturwissenschaftlicher Kritik nicht verkürzt wissen wollte: Durch die Majestät ihres Inhalts und durch die großartige Schönheit ihres Ausdrucks, dessen Einfachheit wirksamer ist, als jede bewußte Kunst, wird die heilige Schrift die Gemüter völlig gefangen nehmen. Die gänzliche Hingabe an ihren Buchstaben jedoch hindert zuerst nicht die Unglaublichkeit ihrer Berichte, sondern die Bildlichkeit ihrer Lehrdarstellung, welche zum Verständnis Deutung verlangt. In zweiter Linie erst — denn nur die Verehrung der Lehre fesselt uns an die Schrift — erheben sich die Zweifel gegen die wunderbaren Begebenheiten, deren Glaubwürdigkeit für uns nicht die gleiche sein kann, wie für die Zeit, aus der ihre Erzählung stammt. Durch Wunder und Zeichen die Gegenwart Gottes bestätigt zu sehen, war für diese
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Zeit eine natürliche Forderung, deren Erfüllung dennoch weniger für sie bedeutete, als sie uns bedeuten würde. Denn dem Altertum war der Gedanke einer Naturordnung fremd, die nach allgemeinen Gesetzen ihre Erscheinungen verknüpft; jede Kraft, die in der Natur zu schaffen hat, galt als ein Trieb, der unmittelbar von seinem Zweck geleitet auch die Macht der Verwirklichung desselben besitzt. Das Wunder lag daher nicht als Widerspruch außer der Einrichtung der Natur, sondern war die selbst natürliche Betätigung einer größeren Macht, die örtlich und zeitlich ungewohnt in den Wirkungskreis kleinerer Kräfte tritt. . . . So unermeßlich überwiegend spricht der Eindruck aller Erfahrung für stetige, Schritt für Schritt vorbereitende Entwicklung aller Naturereignisse, daß auch ein allgemeines Zugeständnis doch nur dem stillen, unablässigen Wirken Gottes in der Natur, aber nicht den plötzlichen Unterbrechungen des natürlich begründeten Geschehens durch augenblickliche Eingriffe der göttlichen Macht Glauben verschafft. Nur dann würde dieser Glaube entstehen, wenn die ideale Bedeutung des Wunders im Zusammenhange des Weltganzen groß und deutlich genug wäre, um es als geschichtlichen Wendepunkt zu fassen, zu dessen Herbeiführung sich unbemerkt die wirkenden Kräfte des Weltalls stetig vorbereitet hätten. Und diesen Gedanken würden an sich allerdings die wunderbaren Ereignisse erwecken, die in der Heiligen Schrift das Leben Christi verklären, wenn nicht teils die inzwischen veränderte Naturanschauung, teils die Auffassung des geistigen Sinnes, den sie darstellen sollen, uns ihre physische Realität zweifelhaft machte. Als der sichtbare Himmel über der Erdscheibe noch für den Wohnsitz Gottes galt, konnte die Auffahrt zum
Schlußbetrachtung. Wichtigkeit des relig. Problems. 1 5 1
Himmel dem Gemüte als eine reale Rückkehr des Göttlichen zu Gott erscheinen; nachdem die Astronomie um die kugelförmige Erde einen unermeßlichen gleichartigen Weltraum kennen gelehrt hat, fehlt dem Aufschwünge das verständliche Ziel. Eine Zeit, die das Übersinnliche noch schwer vom Sinnlichen trennte, konnte die körperliche Auferstehung des Heilandes als Bürgschaft der eigenen Unsterblichkeit verehren; uns ist nicht diese leibliche Wiederbelebung Gegenstand der Hoffnung; auch wirklich geschehen, würde sie uns nur die Fortdauer dieses Lebens gewährleisten, solange sein Träger, ein Körper, besteht; was uns trösten könnte, wäre der Beweis eines fortdauernden Lebens des Geistes, nachdem er in die unsichtbare Welt zurückgetreten ist, die uns in der sichtbaren verborgen umgibt. (Mikrokosmus III, 363.) Um diesen verhängnisvollen Gegensatz zur modernen Bildung zu verschärfen, kommt noch der betrübende Umstand hinzu, daß vielfach die Dogmatik sich mit der Ergründung völlig unbeweisbarer, wissenschaftlicher Untersuchung unzugänglicher Gegenstände abgibt oder abgab, die vielleicht für eine mystische Gefühlsrichtung von Belang sind; wir rechnen dahin die unfruchtbaren Spekulationen über die Dreieinigkeit, über die Persönliclikeit des Heiligen Geistes u. a. m. Nicht minder ergebnislos sind die immer wieder auftauchenden kosmologischen Betrachtungen, vermöge deren die Allmacht und Weisheit Gottes gegen vorwitzige Angriffe seitens der Naturwissenschaft geschützt werden sollen; eher könnte man mit einem gewissen Anschein der Berechtigung behaupten, das Gegenteil sei der Fall, der Zweifel und die Kritik würden dadurch nur geweckt. Jedenfalls herrscht überall Streit und Feindschaft statt gegenseitigen Vertrauens oder wenigstens gemessener
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Achtung. Nicht zu verkennen ist ferner eine zunehmende Entfremdung großer Volksschichten von der Kirche, von der Überlieferung, von den herrschenden dogmatischen Vorstellungen und demgegenüber (besonders im Katholizismus) ein Prunken mit vielleicht durch das Alter ehrwürdigen Schaustücken, die aber sonst ihren Zauber völlig eingebüßt haben. Diese Erstarrung in Formeln, im Buchstabenglauben hat oftmals jede freiere Regung und Entfaltung gelähmt und dafür einen hierarchischen Hochmut gezeitigt, der letzten Endes nur der Kirche und ihren Vertretern gefährlich wird. Und doch wäre es, wie wir öfter betont haben, eine schlimme Täuschung, zu meinen, die Religion als solche, der innere religiöse Trieb sei völlig erstorben: umgekehrt mehren sich die Anzeichen für eine hoffnungsvolle Umgestaltung und Wiedergeburt unserer religiösen Anschauungen. Es geht ein tiefes, aufrichtiges Sehnen nach Erhebung und Erlösung aus den Banden menschlicher Beschränktheit durch unsere Zeit, die Mystik insbesondere hat trotz aller nüchternen Aufklärung und Verstandesarbeit wieder, wie wir später sehen werden, sich unter uns ein breites Terrain erobert, ja gelegentlich (zu ihrem eigenen Schaden) zu seltsamen Extravaganzen geführt. Tiefer als andere Generationen haben wir wieder das mächtige Unendlichkeitsgefühl empfunden, das uns auf Schritt und Tritt umgibt, im unendlich Kleinen und unendlich Großen, das uns emporträgt aus aller persönlichen Beengung und Hinfälligkeit zu den Höhen des Lebens, das uns die Überzeugung des unersetzlichen Wertes im erbarmungslosen Kampf des Daseins verleiht, das uns als integrierende Glieder des großen kosmischen Weltprozesses erscheinen läßt, der sich nicht nur da draußen, um uns her,
Schlußbetrachtung. "Wichtigkeit des relig. Problems. 153 sondern auch in uns selbst mit gleicher Folgerichtigkeit abspielt, das unser flüchtig verrinnendes Dasein mit unvergänglichem Gehalt erfüllt. Wie schon in uns, in unserem Herzen Himmel und Seligkeit, Hölle und Verzweiflung liegt, das eine mythologisch gefärbte Phantasie nach außen projiziert, so nimmt auch die durch die Naturwissenschaft entworfene imd all ihren Berechnungen zu gründe liegende Unermeßlichkeit von Kaum und Zeit mit heiligem Schauer, ja mit erhabener Lust unser Gemüt gefangen, wir fühlen uns eins mit dem Weltgeist, dem schaffenden Atman in diesen lichten, verklärten Stimmungen, wie der tiefsinnige Angelus Silesius es so schön und knapp ausdrückt: Ich weiß,
daß ohne mich Gott nicht ein Nun kann leben, Werd' ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.
Und diese wahrhafte, tiefempfundene Andacht, dieses Totalitätsgefühl, wie es seinerzeit Schleiermacher in seinen berühmten Reden so ergreifend auszumalen verstand (vgl. übrigens auch Kalthoff, Religiöse Weltanschauung, Leipzig, Eugen Diederichs 1903, besonders Seite 17 ff.), nimmt mit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis nicht etwa ab, sondern umgekehrt — natürlich bei entsprechender individueller Disposition — zu, es wird gereifter, gesättigter. So sicher wir wissenschaftlich nie den Ursprung des Lebens begreifen werden, so weit wir auch immer auf dem Gebiet zoologischer Forschung vordringen mögen, so umgeben auch sonst den tieferblickenden Denker unergründliche Rätsel und Geheimnisse, die uns nach dem großen Worte Newtons wie Kinder erscheinen lassen, die am Ufer des Meeres
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mit schönen Muscheln spielen. Und doch predigt uns die große Entwicklungslehre, richtig verstanden, psychologisch und metaphysisch aufgefaßt, ein unaufhaltsames Wachstum geistigen Lebens aus den dürftigsten, unscheinbarsten Anfängen bis zu ebenso unbegreiflichen Stufen der Fertigkeiten, die uns vielleicht jetzt noch als bloße "Wunder anmuten. Die Vollendung des Menschen, seines weltumspannenden Ideals, die ganze Geschichte der Sprache, der Religion, des Rechtes, der Sitte, der sozialen Organisationsstufen, der Kunst, ja die Geschichte seines eigenen "Werdens, seines Geistes dämmert uns jetzt erst in diesem Unendlichkeitsspiegel in allgemeinen Umrissen auf; jetzt erst lernen wir den ganzen Gehalt und Ernst des viel zitierten "Wortes an und in uns verstehen, daß das eigentliche Studium der Menschheit, wie Pope und nach ihm Goethe sagten, der Mensch selbst sei. Hier, in diesem Ausgangs- und Endpunkt, berühren sich somit augenfällig "Wissenschaft und Religion, tief bohrende, weltumfassende Erkenntnis — denn sonst wäre alles eine schöne Traumdichtung, vielleicht nur eine rhetorisch aufgeputzte Floskel — und ebenso ursprüngliches Gefühl, andächtiges Staunen, das fast zu einem Gebet wird, freilich ohne "Worte. In diesem Sinne sagt der große Dichterfürst: Wer Der Wer Der
Wissenschaft und Kunst besitzt, hat Religion; jene beiden nicht besitzt, habe Religion!
Name ist auch hier vollends Schall und Rauch. Oder wie Goethe einmal Eckermann gegenüber seinen Standpunkt von dem landläufigen kirchlichen unterscheidet: Es gibt den Standpunkt einer Art Urreligion,
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den der reinen Natur und Vernunft, welcher göttlicher Abkunft. Diese wird ewig dieselbige bleiben und dauern und gelten, solange gottbegabte Wesen vorhanden. Doch ist er nur für Auserwählte und viel zu hoch und edel, um allgemein zu werden. Sodann gibt es den Standpunkt der Kirche, welcher mehr menschlicher Art. Er ist gebrechlich, wandelbar und im Wandel begriffen; doch auch er wird in ewiger Umwandlung dauern, solange schwache menschliche Wesen sein werden. Schon Fechner, der Freund und Gesinnungsgenosse Lotzes — und wir dürfen den großen Begründer der Atomistik wolil unbedenklich zu den modernen Menschen rechnen —, hatte sich an der Selbstverständlichkeit des Mechanismus, des bloß äußerlich Gesetzmäßigen gestoßen, bei dem sich die gewöhnliche naturwissenschaftliche Aufklärung so gern beruhigt, und er versuchte deshalb, den so unendlich bequemen und doch, genau betrachtet, so fadenscheinigen Dualismus zugunsten eines beide Glieder umschließenden und den Zwiespalt aus der menschlichen Organisation psychologisch ableitenden Monismus zu überwinden, der „ Nachtansicht * seine „Tagesansicht", die ihn mit hellem Schein erfüllte, entgegenstellend, so daß wir selbst als Teile des allgemeinen Weltwesens nach körperlicher und geistiger Seite dieser doppelten Erscheinungsweise unterliegen werden. Die letzte Konsequenz seiner „ synechologischen" Ansicht, weil sie das einzelne und besondere in der Einheit des Wesens und Geschehens zusammenfaßt, führt freilich, wie es nicht anders sein kann, über die Sphäre logischer Beweisbarkeit hinaus in das Gebiet metaphysischer Betrachtung, die über die exakte Erfahrung hinaus alle zerstreuten Beziehungen zu letzten, entscheidenden, abschließenden Forderungen
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eines einheitlichen Weltbildes zusammenfaßt. Hier setzt eben, wie Feehner erklärt, der Glaube, d. h. der wissenschaftlich begründete, ein; denn alles Allgemeinste, "Wahrste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unserer Natur nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze "Welt reicht und von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durchs Endliche verfolgt, ins Unbegrenzte von Raum und Zeit wirken, ist Glaubenssache; daß es Atome und Undulationen des Lichts gibt, ist Glaubenssache; der Anfang und das Ziel der Geschichte sind Glaubenssache, ja strenggenommen ist alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahrbar ist und logisch feststellt. Ein jedes "Wissen um das, was ist, setzt sich fort in Glauben und muß sich darin fortsetzen und endlich damit abschließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fortschritt und einen Abschluß des "Wissens gibt. Nach dieser Anschauung, die wohl bemerkt an dem vollen Bestand wissenschaftlicher Erfahrung festhält und durchaus nicht, wie man vielleicht annehmen möchte, blinder Willkür Tor und Tür öffnet, ist alles vom kleinsten Atom bis zum gewaltigsten Weltkörper beseelt, belebt, alles Sein ist Wirken, nur erklärlich, wenn es gebunden erscheint an ein, sei es auch noch dunkles Empfinden. Ähnlich haben Bölsche, Wille und andere Denker bei aller Anerkennung naturgesetzlicher Geschlossenheit des Weltlaufs die durchgängige Beseelung aller AVirklichkeit, also ein echt mystisches Gefühl in ihrer wissenschaftlichen Forschung wieder zu Ehren gebracht. Und nicht nur die Betrachtung der Natur, sondern auch unsere Auffassung der Geschichte, des Lebens der Menschheit und der sozialen Vorgänge erfordert eine dementsprechende religiöse Umgestaltung.
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Die Offenbarung des göttlichen Geistes in der so unendlich vielseitigen Entwicklung unseres Geschlechts, nicht geknüpft an eine einmalige Tat, sondern als ein ununterbrochener Strom der Ideen gedacht, der sich belebend und erfrischend auf öde Gefilde ergießt, das Ringen der Völker miteinander, die langsame organische Entfaltung großer, weltbewegender Ideale, der trotz aller Lücken und Unterbrechungen doch für einen höheren, umfassenderen Blick erkennbare innere Zusammenhang in allen Epochen weltgeschichtlichen Lebens — alles das ist nicht nur ein erhabener Gegenstand ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern vor allem religiösen Glaubens, der gegenüber allem Skeptizismus und Nihilismus an der unverlierbaren Sehnsucht nach dem Unendlichen festhält. Das Menschheitsideal, das sich in unseren Tagen zum Lichte eniporringt, unter gewaltsamen Erschütterungen des gesellschaftlichen Organismus, wie es nicht anders sein kann, nimmt immer kühnere, erhabenere Formen an, aber soll es nicht in eitel Dunst verfliegen, so muß es im unmittelbaren, lebendigen Zusammenhang mit der Wirklichkeit stehen und doch anderseits durch und durch religiös getränkt sein. Fehlt ihm diese Weihe aus der Höhe, ist es lediglich (was freilich genau genommen ein Widerspruch ist) völlig materialistisch gefaßt, so geht es sicherlich zu Grunde. Trotz allen unaufhaltsamen Zerfalls der Dogmen, trotz aller fortschreitenden Verweltlichung des Kultus, trotz aller irreligiösen politischen Herrschsucht der Ecclesia militans (die gerade in unseren Tagen so recht theatralisch ihre wohl disziplinierten Heeresmassen zum Kampf aufmarschieren läßt) ist die wahre Religion, jene fromme, weltüberwindende Kraft gottergebener Begeisterung uns noch
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nicht völlig verloren gegangen. Das beweist auch der tiefe Drang nach Erlösung und Befreiung, der zu uns in mächtigen Tönen aus der mystisch angehauchten Dichtung der letzten Jahre spricht, auf die wir zum Schluß noch in aller Kürze hinweisen möchten. Goethe, wohl einer der Berufensten, hatte seinerzeit Eckermann gegenüber erklärt: Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folgen hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es ihm beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren "Weltregiernng zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. In demselben Sinne hat der wahre Dichter sich in die tiefen Abgründe unseres Ich zu versenken, aus denen unser bewußtes Handeln und Denken emporsteigt; denn wie Novalis, dieser feinsinnigste und geistvollste Romantiker, sagt: Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Werten, die Vergangenheit und Zukunft. Diese schwere Kunst, jenes dunkle geheimnisvolle Reich des Unbewußten zu ermessen und unser häufig recht abgestumpftes Verständnis für diese Probleme zu erschließen, charakterisiert ganz besonders den genialen belgischen Dichter Maurice Maeterlinck, .der es geradezu als Aufgabe der wahren Poesie er-
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klärt, die großen Straßen, die vom Sichtbaren zum Unsichtbaren führen, offen zu halten. Während er anfangs fatalistisch diese unheimliche, bedrohliche Macht (recht anthropomorph) als neidisch, tückisch und brutal schildert, hat er später diesen Schicksalsglauben zugunsten eines tatkräftigen Optimismus überwunden, schon auf Grund des für alle Mystiker selbstverständlichen Satzes von der Einheit des Menschen und der Gottheit. Der wahre Weise ist, wie er mit Recht betont, Herr seines Schicksals, das nicht von außen, sondern von innen kommt; denn es hat keine anderen Waffen, als die, welche wir ihm reichen. Aber trotzdem dürfen die folgenden Umrisse seiner Weltanschauung, die in der Überzeugung wurzelt, daß unser Bewußtsein nur einen spärlichen, sonnenbeschienenen Ausschnitt unseres seelischen Lebens überhaupt darstellt, und daß der eigentliche Kern unseres Wesens in diesem Untergrunde verhüllt liegt, wohl ganz zutreffend seine Ansicht wiedergeben: Ich glaube, daß es unser unbewußtes Leben ist, das ungeheure, unerforschliche, göttliche, in dem wir die Erklärung für unser Glück oder Mißgeschick finden müssen. In uns befindet sich ein Wesen, das unser wirkliches Ich ist, unser erstgeborenes, unvordenkliches, unbegrenztes, allgemeines und wahrscheinlich unsterbliches Ich ist. Unser Verstand ist wahrscheinlich nur ein Phosphoreszieren über diesem inneren Meer, das er nur unvollkommen kennt. Aber von Tag zu Tag lernt er mehr, daß alle Geheimnisse der menschlichen Erscheinungen, die er bisher nicht verstanden hat, in ihm liegen. Dies unbewußte Wesen lebt auf einem anderen Boden und in einer anderen Welt' als unser Verstand. Es weiß nichts von Raum und Zeit, diesen beiden ungeheuren einge-
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bildeten Wänden, zwischen denen unsere Vernunft dahinfließen muß, wenn sie sich nicht verlieren will. Es weiß alles und vermag alles. Übrigens hat man diese Allwissenheit und Allmacht ja stets im gewissen Grade zugegeben und seinen Kundgebungen die Namen: Instinkt, Seele, Unbewußtes, Reflexbewegungen, Vorgefühl, Intuition usw. gegeben. Ja wir möchten so kühn sein, die neuere sehr starke symbolistische Richtung, die auch in verschiedenen Märchendichtungen ihren entsprechenden Ausdruck gefunden hat, in denselben Znsammenhang mit der eben geschilderten Mystik zu bringen. Es ist z. ß. sehr bezeichnend, daß gerade unser sonst so kritisches Zeitalter, das noch dazu die Sturm- und Drangzeit des Naturalismus hat über sich ergehen lassen müssen, doch wieder jenen iinbezvinglichen Drang nach der Naivität und Ursprünglichkeit des Märchenglaubens in sich fühlt, dessen wichtigste psychologische Voraussetzung die (selbstverständlich unbewußte) Annahme, ja Überzeugung von der unzertrennlichen Einheit alles Lebendigen, insbesondere des Menschen und Tieres ist. Damit ist freilich nicht gesagt, daß dieser Glaube auch überall die entsprechende vollkommene poetische Form gefunden hat, vielmehr drängt sich uns öfter ein bedauerlicher Mangel an kongenialer Anempfindung und demzufolge auch an vollendeter Plastik auf. Aber im übrigen wird kein Unbefangener den kulturgeschichtlichen und psychologischen Wert einer solchen Verinnerlichung, eines tiefen Suchens und Sehnens über all den Tand und die bunten Flitter der Außenwelt nach dem wahren, eigentlichen Sinn des Lebens und Seins verkennen; in dieser Hinsicht sind, wie Goethe und neuerdings wieder Emerson sagt, die Dichter die eigentlichen Befreier aus sozialer
Schlußbetrachtung. Wichtigkeit des relig. Problems. 1 6 1
Versklavung, in der wir alle dumpf dahinschmachten. Diese ihre Mission ist aber sichtlich eine tief religiöse, so daß der eben erwähnte amerikanische Denker auch noch hinzusetzt: Deshalb dauern alle Werke der Einbildungskraft, die zu der Höhe der Wahrheit hinaufführen, von wo aus der Dichter die Natur imter sich liegen sieht und sie als Ausdrucksmittel verwendet. Die Religionen der Welt sind die Stoßseufzer weniger mit Einbildungskraft begabter Menschen.
A c h e l i s , Religionswissenschaft.
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Register. Aberglaube 79. Ahnenkult 12, 28. Allgemeingültigkeit 137 ff. Anbetung 42 ff. Animismus, s. a. Beseelung 16, 27, 79, 100. Anthropomorpliismus 10, 88.
Askese 123. Assimilation 149. Aufklärung 114, 128. Autorität 117. Beseelung 26, 84. Bewußtsein 139, 158. Bewußtseinsstufen 159. Bezauberung s. Exorzisation. Bücher, heilige 92 ff. Buddha 94, 119ff., 131. Buddhismus 119 ff. Christentum 96. Christus 133 ff. Oonfucius 91. Dämonen 12, 37, 77. Dichtkunst 33, 83, 158. Dogma 95. Dogmatisch 95. 105. Dualismus 31, 79. Egoismus 120, 138. Ehe 68. Ehrfurcht 130, 140 ff. Ekstase 34, 111. Elemente der Religion 8 ff. Entwicklung 81 ff. Entwicklungsstufen in d. Religion 80 ff., 121 ff.
Ergebung 140 ff. Erlöser 24, 103. Erlösung 9, 20 ff. Ethik 137. Exorzisation 78 ff. Fasten 25. Feste 72. Fetischismus 10, 80 ff. Frömmigkeit 139. Gebet 42ff. Gebot 48. Gebräuche 135. Gefühl 145. Geheimbünde 93. Geisterverehrung 83. Gelübde 49 ff. Gesetz 128 ff. Gestirndienst 32. 41. Glaube 17, 31, 34, 145. Gott (Gotter, Gottheit) 31 ff. Gottesdienst, s.a.Kultus 42 ff. Gottmensch, s. a. Inkarnation 33. Gräber 15, 72ff. Halbgott 25, 34. H e i l i g e 13, 123. Individualismus 123. Individuum, s. a. Persönlichkeit 128 ff. Inkarnation 34, 78. Islam 119. Jenseits 17 ff. Kannibalismus 124. Kaste 131.
| Kasteiung 25. Kirche 93, 135 ff. Klerus 136. Kosmogonie 30. Krankheit 7211'. Kultur 69, 96, 102. Kultus 8, 38 ff'. Kunst 106. l a o t s e 91, 122. Liebe 139 ff. Magie, s. a. Zauberei 80. Milieu 128 ff. Mittler 21. Mystik 3311. Mvtliologie 25 ff. Mythus 26. Xamengebung 65. Natur 25 ff., 109. Naturgüttor 27 ff. Naturmythen 26 ff. Naturreligionen 118. Nirvana ül. Objektivität 109. Offenbarung 10, 112. Opfer 49 ff. Optimismus 109, 159. Orakel 59. Organisation 47, 93. Organismus 23. Paradies 18 ff. Personifikation 84. Persönlichkeit 88. Pessimismus 36, 105. Pietät 139. Polytheismus 86ff. Priester 76 ff. Pubertätsweihen 66ff.
Register.
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Rationalismus 123. Sehnsucht 23, 47, 145. Unsterblichkeit 17 ff., Reformator 35. Sittlichkeit 95 ff. 151. Religion, Begriff ders. Sozial 114. Unterwelt 18 ff. 97 ff. Sozial psychische „ Bestandteile Schöpfungen 114ff. Veden 95. ders. 8 ff. Stand 33, 77. Verehrung 38 ff. „ Charakter Stifter d. Religion 129 ff. Vereinigung m i t der ders. 108 ff. Subjektivität 107. Gottheit 23 ff. „ Entwicklung Symbolik 26, 83. Vergeltung 19ff. ders. 80 ff. System 30, 48. Vergöttlichung 34. „ Formen ders. Verschiedenheit, ethno81 ff. graphische. religiöse Tanz 72ff. „ Ursprung usw. 137 ff. Tempelschlaf 57. ders. 102 ff. Teufel 37. ! Vertrauen 139. „ Wesen ders. Theogonie 10. I Visionen 56ff. 102 ff. Theokratie 95. Religionswissenschaft, Theorie 69, 81, 147. Wechselwirkung zwiAufgabeSff. Tierdienst 42. ; sehen dem einzelnen Begriff 6 ff. i Tod 26, 71, und dem Milieu 12811'. „ Material und Tote 70. i Weltreligionen 91 ff. Methode äff. Totem 42, 50. • Weltseele 104. Religiosität lOOff., 117. Träume 57 if. ! Wei tbegriff 89. Riten 62 ff. Typisch 138 ff. :1 Wiedergeburt 17, 23, 92. Wissenschaft 107. Sage 10, 30, 69, 103. Wunder 13, 74, 144. Schamanismus 34, 85 ff. tjberlebsel 18, 69. Schöpfer 30. Überlieferung 11. Schöpfungssagen 41. Unbewußt 32, 158. Zauberei 76. Schutzgeist 12. 33, 05. Unendlichkeitsgefühl Zeremonie 54ff. Seele Uff. 104, 152. Zoroaster 20, 90. Seelenwanderung 16. Universalismus 42, 12i , . Zukünftiges Leben 17ff.
11*
j n gleichem "Verlage erschienen:
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Indische Religionsgeschichte von
Prof. Dr. Edmund Hardy (Sammlung Göschen Nr. 83)
Buddha von
Prof. Dr. Edmund Hardy (Sammlung Göschen Nr. 174)
Griechische und römische Götterund Heldensage von
Prof. Dr. Herrn. Steuding (Sammlung Göschen Nr. 27)
Deutsche Mythologie von
Prof. Dr. Friedr. Kauffmann (Sammlung Göschen Nr. 15)
Deutsche Heldensage von
Prof. Dr. O. L. Jiriczek (Sammlung Göschen Nr. 32)
Preis: In Leinwand gebunden je 80 Pf. Gr. J. Göschen sehe Verlagshandlung in Leipzig.