Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung 392934808X


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort zur dritten Auflage von Heinz-Gerd Hofschen
1. Einführung: Über die Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung
2. Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse
3. Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution
4. Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung: Die Frühzeit der englischen Arbeiterbewegung
5. Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848
6. Die Revolution von 1848 in Frankreich
7. Die Revolution von 1848 in Deutschland und der "Bund der Kommunisten"
8. Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849–1863)
9. Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung
10. Die Internationale Arbeiter-Assoziation, die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871
11. Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha 1875 und das Sozialistengesetz (1878–1890)
12. Das Erfurter Programm (1891)
13. Die deutsche Arbeiterbewegung 1891–1900 und die Entstehung des Revisionismus
14. Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg (1900–1914)
15. Der Erste Weltkrieg (1914–1918) und die Revolution in Rußland
16. Die Novemberrevolution 1918
Diskussion zu einigen Problemen der Novemberrevolution
17. Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919–1923
18. Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923
19. Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924–1928)
20. Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)
21. Vom Beginn der Weltwirtschaftskrise bis zu den September-Wahlen 1930
22. Tolerierungspolitik und Kampf gegen Brünings Notverordnungsdiktatur (1930–1932)
23. Die Endphase der Weimarer Republik 1932/33
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Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung
 392934808X

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Wolfgang Abendroth, geboren 1906 in Elberfeld (Wuppertal), gehörte schon seit seiner Jugend der Arbeiterbewegung an. In den Jahren der Weimarer Republik war er zunächst Mitglied der KPD, dann der KPD (Opposition) um Brandler und Thalheimer. Nach deren Spaltung Ende 1932 war er in der Gruppe »Neu Beginnen« aktiv. Während der faschisti-

schen Diktatur arbeitete er im Widerstand; er wurde 1937 verhaftet und wegen »Hochverrat« zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. 1943 wurde er

zum Strafbataillon 999 eingezogen und in Griechenland eingesetzt. Dort schloß er sich der Partisanenbewegung an und geriet schließlich in britische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung 1946 wirkte er als Professor der Rechtswissenschaft in Leipzig und Jena. 1948 verließ er die SBZ. Er wurde zunächst Professor an der Wirtschaftshochschule in Wilhelmshaven und war dann von 1951 bis zur Emeritierung im Jahre 1972 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Marburg. Danach lehrte er als Dozent an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main.

In den 50er und 60er Jahren galt seine politische Arbeit vor allem dem Kampf gegen die Remilitarisierung, gegen die Atombewaffnung und gegen die Notstandsgesetze. 1962 wurde er aus der SPD, der er nach Kriegsende

beigetreten

war,

ausgeschlossen,

weil

er den

Sozialistischen

Deut-

schen Studentenbund (SDS) auch nach dessen Verdrängung aus der SPD weiter unterstützte. Abendroth nahm aktiv Anteil an der außerparlamentarischen Opposition und an der Studentenbewegung und engagierte sich in der Bewegung gegen die Berufsverbote wie in der Friedensbewegung. Wolfgang Abendroth ist am 15. September 1985 in Frankfurt am Main gestorben.

Die vorliegende Einführung basiert auf Tonbandmitschnitten der 1976/77 und 1977/78 an der Frankfurter Akademie der Arbeit gehaltenen Vorlesungen. Heinz-Gerd Hofschen übernahm die wissenschaftliche Bearbei-

tung der Tonbandabschriften, Gert Meyer die redaktionelle Überarbei-

tung. Die Schlußkorrekturen stammen von Wolfgang Abendroth; er hat

die Arbeiten am Manuskript noch im August 1985 abschließen können.

Wichtige Schriften von Wolfgang Abendroth sind: Die deutschen Gewerkschaften (1954); Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie (1955); Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie (1964); Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung (1965); Das Grundgesetz (1966); Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie (1968); Arbeiterklasse, Staat und Verfassung (1975); Ein Leben in der Arbeiterbewegung (1976); Die Aktualität der Arbeiterbewegung (1985).

Wolfgang Abendroth Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung Von den Anfängen bis 1933

Vorlesungen,

bearbeitet von Heinz-Gerd Hofschen

Redaktion: Gert Meyer

Distel Verlag

DISTEL

HEFTE - Beiträge zur politischen Bildung - Band 8

Herausgegeben von Uli Dieterich und Marion von Hagen

Dritte, durchgesehene Auflage 1997 (Neusatz)

Zweite Auflage 1988 Erste Auflage 1985 © by DISTEL VERLAG,

Sonnengasse 11, 74072 Heilbronn.

Alle Rechte vorbehalten. Druck und Bindung: Fritz Steinmeier, Nördlingen. Umschlagentwurf: Jürgen Knauer, Heilbronn. ISBN 3-929348-08-X

Inhalt

Vorwort von Heinz-Gerd Hofschen

. Einführung: Über die Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung . Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

. Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

. Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung: Die Frühzeit der englischen Arbeiterbewegung

. Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

. Die Revolution von 1848 in Frankreich

. Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

. Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt

(1849-1863)

. Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

63 77

88

10. Die Internationale Arbeiter-Assoziation, die Gründung der

Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71

11. Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha 1875

und das Sozialistengesetz (1878-1890)

12. Das Erfurter Programm (1891) 13. Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die

Entstehung des Revisionismus

14. Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg

97 106 121 132 140

15.

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

146

16. Die Novemberrevolution 1918

167

17. Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

192

18. Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

211

19. Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik

(1924-1928)

220

20.

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

231

21.

Vom Beginn der Weltwirtschaftskrise bis zu den SeptemberWahlen 1930

241

22.

Tolerierungspolitik und Kampf gegen Brünings Notverordnungsdiktatur (1930-1932)

255

23. Die Endphase der Weimarer Republik 1932/33

268

Vorwort zur dritten Auflage von Heinz-Gerd Hofschen

I. Wolfgang Abendroth war zweifelsohne einer der bedeutendsten marxistischen Wissenschaftler in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten

Weltkrieg. Selbst politisch von Jugend auf aktiv, hat er sein »Leben in der Arbeiterbewegung«,' seine politische Praxis in den sozialistischen Organisationen und demokratischen Bewegungen, von früh an mit der wis-

senschaftlichen Analyse ihrer Theorie und den staats- und völkerrechtlichen Arbeiten seinen Beiträgen zur politischen Soziologie rie” waren es seine Schriften und Vorträge

Geschichte vermittelt. Neben des gelernten Juristen, neben und zur marxistischen Theozur Geschichte und Theorie

der internationalen Arbeiterbewegung, die seine Wirksamkeit als Lehrer

ganzer Generationen von Studenten und Wissenschaftlern, Gewerkschaf-

tern und jungen Sozialisten begründet haben. Er hat nicht nur selbst eine Vielzahl von Darstellungen der Geschichte der Gewerkschaften,* der Sozialdemokratie,* des antifaschistischen Wi1 2

So auch der Titel seiner Autobiographie: Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbei-

terbewegung. Gespräche, aufgezeichnet von Barbara Dietrich und Joachim Perels, Frankfurt a. M. 1976. Vgl. dazu die bis 1966 reichende Bibliographie in: Wolfgang Abendroth: Antagonistische

Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie, Neuwied

und Berlin 1968, S. 541 ff.; sowie ders.: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung. Materialien

zur Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie der Bundesrepublik, hg. und eingel.

von Joachim Perels, Frankfurt a. M. und Köln 1975. - Für einen Gesamtüberblick über

die Publikationen Wolfgang Abendroths siehe Hans Manfred Bock: Wolfgang Abendroth (1906-1985) - Nachruf und bibliographischer Überblick, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), 21. Jg., H. 4 (Dez. 1985), S. 482-500; und Uli Schöler: Wolfgang Abendroth - Ergänzungen zu seiner Bibliographie - Mit einigen biographischen Anmerkungen, in: IWK, 24. Jg., H. 2 (Juni 1988), S. 213-234. Obgleich diese beiden Bibliographien für die Zeit von 1926 bis 1985 zusammen 689 Titel nachweisen (Bücher, Aufsätze, Zeitungsartikel, Interviews,

3 4

Reden), geben sie immer noch keine vollständige Auflistung der zum Teil auch in der Tagespresse erschienenen Arbeiten Abendrorchs. Wolfgang Abendrotch: Die deutschen Gewerkschaften. Weg demokratischer Integration, Heidelberg 1. Aufl. 1954, Berlin 3. Aufl. 1972. Ders.: Aufstieg und Krise der Sozialdemokratie. Das Problem der Zweckentfremdung einer politischen Partei durch die Anpassungstendenz von Institutionen an vorgegebene Machtverhältnisse, Frankfurt a. M. 1. Aufl. 1964, Köln 4., erw. Aufl. 1978.

8

Heinz-Gerd Hofschen

derstands und eine vielgelesene, in mehr setzte »Sozialgeschichte der europäischen beiten zu Einzelproblemen der Strategie schen ‚Bewegung und über deren Führer

als ein Dutzend Sprachen überArbeiterbewegung«,” sowie Arund Geschichte der sozialistiund Theoretiker verfaßt,” son-

dern er hat als Hochschullehrer auch viele seiner Schüler zur Beschäfti-

gung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung angeregt.” Die so von ihm begründete »Marburger Schule« war bis in die 1970er Jahre hinein die einzige Forschungsrichtung in der Bundesrepublik, die von einem marxistischen Ansatz aus die Geschichte der Arbeiterklasse und ihrer Kämpfe untersuchte,

Abendroths methodischer und inhaltlicher Zugang zur Geschichte der

Arbeiterbewegung, der in starkem Maße durch seine eigenen praktischen

Erfahrungen in ihr geprägt ist, zeichnet sich durch eine Reihe von Mo-

menten aus, die seine Position in der wissenschaftlichen und politischen

Landschaft der Bundesrepublik unverwechselbar machen: Festhaltend an der historisch-materialistischen Methode und am marxistischen Inhalt sozialistischer Politik, der ihm Maßstab bei der Beurteilung der Erfolge und Niederlagen der Arbeiterbewegung bleibt, untersucht er die historischen Prozesse, ohne der Gefahr zu erliegen, in der »die an die großen politischen und ökonomischen Organisationen angelehnte Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung stets« schwebt, nämlich »zur Legitimationswissenschaft der jeweils »richtigen« Politik der Spitzen von Parteien oder Gewerkschaften zu werden«.” So sehr Abendroth die Anpassungstendenzen der Sozialdemokratie verurteilt, die diese seit dem Vorabend

des Ersten Weltkrieges immer wieder gezeigt hat und die schließlich zur weitgehenden Aufgabe der gesellschaftsverändernden Zielsetzung geführt haben, so sehr er andererseits ultralinke, den Stand des Massenbewußt-

seins und die Notwendigkeit demokratischer Bündnispolitik negierende

Strategien in der Entwicklung der kommunistischen Bewegung (wie auch

deren Praxis in der Stalinschen Ära der UdSSR und den anderen Ostblockländern) kritisiert, so ist doch und gerade der »aus Abendroths ei5

Ders.: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a.M.

6

Ein kleiner Ausschnitt daraus findet sich in der Aufsatzsammlung: Wollgang Abendroth: Die Aktualität der Arbeiterbewegung. Beiträge zu ihrer Theorie und Geschichte, hg. von Joachim Perels, Frankfurt a.M. 1985; sowie in: Wolfgang Abendroth: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, a. a. O. Einen - allerdings nicht vollständigen - Überblick über diese von ihm angeregten Arbeiten bietet das Literaturverzeichnis in: Wolfgang Abendrorch: Ein Leben in der Arbeiterbewegung, a. a. O., S. 280 ff. Barbara Dietrich und Joachim Perels: Vorwort, in: Wollgang Abendroth: Ein Leben in

7 8

1965, 14. Aufl. 1984.

der Arbeiterbewegung, a. a. O., S. 7.

1. Aufl.

Vorwort

9

gener politischer Erfahrung hervorgegangene Einheitsfrontblick« das »organisierende Prinzip« seiner historischen Darstellung, in der die verschiedenen Richtungen der Arbeiterbewegung eben »nicht aus einer dogmatisch verabsolutierten fraktionellen Perspektive eingeordnet« werden,” sondern in der die Einheit dieser verschiedenen Strömungen

als

Voraussetzung für die Erringung des Sozialismus (ja selbst der Bewahrung der parlamentarischen Demokratie) begriffen wird. Abendroths historische Untersuchungen haben hinsichtlich ihrer Ab-

sicht wie auch ihrer Entstehung einen hohen Praxisbezug: Aus der Geschichte lernen, um die Wiederholung historischer Fehler zu vermeiden,

Bewußtsein zu bilden und Handlungsanleitungen für die Kämpfe der demokratischen Bewegung und der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der abhängig Beschäftigten zu gewinnen, ist das Ziel die-

ser Arbeiten, die häufig aus den Erfordernissen dieser Auseinandersetzungen heraus entstanden sind, wenn »z.B. die Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen die Restauration oder auch die - wenn auch schwachen -

sozialistischen Kräfte in der SPD der wissenschaftlichen Unterstützung ihrer Position bedurften«.”© IL

Auch die vorliegende »Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewe-

gung« verdankt ihre Entstehung der Praxis, denn sie ist die bearbeitete

Fassung von Vorlesungen, die Wolfgang Abendroth von 1974 bis 1982 an der Frankfurter Akademie der Arbeit vor jungen Gewerkschaftern gehalten hat. Infolge dieser Entstehung weist sie eine Reihe von Vorzügen auf: Sie ist wesentlich ausführlicher und dertaillierter als die früheren Abendrothschen Darstellungen, und sie bietet einen Gesamtüberblick über alle

Strömungen der Arbeiterbewegung. Sie ist gerade mit Blick auf die ursprünglichen Adressaten besonders darauf gerichtet, gesellschaftliche Strukturen und politische Handlungslinien und deren Motive, Traditio-

nen,

Ziele und Rahmenbedingungen

herauszuarbeiten und so die Kom-

9 Joachim Perels: Vorwort, in: Wolfgang Abendroth: Die Aktualität der Arbeiterbewegung, a.a. O., 5. 8.

10 Frank Deppe: Das wissenschaftliche und politische Wirken Wolfgang Abendroths. Ein Kampf gegen Faschismus und Restauration für Demokratie und Sozialismus. Ein Gruß zum 70. Geburtstag, in: Deutsche Volkszeitung vom 29. April 1976. Als Beispiele unter »jelen für eine solche wissenschaftliche Unterstürzung der Linken in der Sozialdemokratie siehe: Wolfgang Abendroth/Georg Fülberth/Heinz-Gerd Hofschen/Erich Ott/Gerhard Stuby (Hg.): Sozialdemokratie und Sozialismus. August Bebel und die Sozialdemokratie heute, Köln 1974; Wolfgang Abendroth: Marx aktuell, hg. von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Kreis Zehlendorf, Berlin 1985.

10

Heinz-Gerd Hofschen

plexität des Geschichtsprozesses zu verdeutlichen. Dabei berücksichtigt

sie in hohem Maße Strategiefragen der Arbeiterbewegung, die in gezielter

Aktualisierung für die heutigen Auseinandersetzungen aufbereitet wer-

den. In dieser Einführung finden sich viele spezifische Momente des Abendrothschen Herangehens an die Geschichte der Arbeiterbewegung:

seine starke Betonung der Bewußtseinslage und -entwicklung der Massen wie der Partei- und Gewerkschaftsmitglieder (aus denen heraus er häufig politische Entwicklungen

erklärt); das Gewicht,

das er auf die verfas-

sungsgeschichtliche Entwicklung und auf die Bewertung demokratischer Rechte für den Kampf der Arbeiterbewegung legt; die Beachtung, die er der Rolle der Intellektuellen in (und im Bündnis mit) der Arbeiterbewegung widmet; und schließlich die Verarbeitung gerade der historischen und politisch-strategischen Werke von Marx und Engels, beispielsweise in den Kapiteln über die Revolution von 1848 in Frankreich und Deutschland. Die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekte treten demgegenüber bisweilen stark zurück, bilden jedoch trotzdem stets den Hintergrund der Darstellung. Die Zeit der Weimarer Republik ist wesentlich umfangreicher dargestellt als frühere Epochen, was seinen Grund nicht nur in der bis heute fortdauernden politischen Bedeutung dieser Periode hat, sondern auch die Tatsache widerspiegelt, daß Abendroth diesen Abschnitt der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung selbst handelnd miterlebt hat. Manchen mag dieses Buch als ein altertümliches Relikt erscheinen, sind doch Arbeiterbewegung und Marxismus nicht erst seit dem Zusammenbruch des »realen Sozialismus« in der Wende des Jahres 1989 totge-

sagt worden. Die seit der Studentenbewegung stark belebte Aufarbeitung ihrer Geschichte ist in den Zeiten konservativer Hegemonie wieder ein Nebenthema für Spezialisten geworden. Aber die Wiederherstellung eines weltweiten, triumphierenden Kapitalismus nach der Transformation der östlichen Gesellschaften und der spätestens seit den 1980er Jahren evidenten Krise auch der reformistischen Arbeiterbeweg-ung in fast allen westlichen Ländern hat erneut die bereits in den vermeintlich »postmodernen« Gesellschaften überwunden geglaubten alten Fragen in Ökonomie und Politik wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Und damit wird auch der Blick auf die Geschichte (und die Geschichtlichkeit) dieser Gesellschaftsordnung wieder ebenso notwendig wie der auf die Lehren, die aus dem 150jährigen Kampf der Arbeiterbewegung für Demokratie und sozialen Fortschritt zu gewinnen sind. Diese Nutzbarmachung geschichtlicher Erkenntnisse und die Weitergabe historischen Denkens »durch eigene Erfahrungen ... an die Jüngeren, die heute die Auseinandersetzungen

Vorwort

11

auszutragen haben«, sah Abendroth als die »wichtigste Aufgabe« der »Alten« seiner Generation an:'! »Denn der Hauptfeind bleibt in unserem Zeitalter immer der gleiche: jener Monopolkapitalismus, der erst die Schande des Kolonialismus und seiner zynischen Verbrechen, dann die Barbarei zweier Weltkriege und in der Verzweiflungssituation der großen

Krise nach 1929 die auch in ihrer Zielsetzung totale Inhumanität des deutschen Faschismus geschaffen hat. Ihn müssen wir schlagen, bevor er in schlimmeren inneren Widersprüchen noch furchtbarere Katastrophen für die Menschheit bewirken kann.«“ IM

Die Bearbeitung der Tonbandabschriften von zwei der an der Akademie der Arbeit gehaltenen Vorlesungsreihen ist so erfolgt, daß der Charakter der Vortragsform, die Abendroths besondere »Fähigkeit der Kombination von empirisch-historischen Detailkenntnissen und theoretischer Vermittlungsrätigkeit«'” zeigt, soweit wie möglich gewahrt blieb, da sie ein hohes Maß von Lebendigkeit mit der Konzentration auf die wesentlichen historischen Entwicklungslinien verbindet. Außer der - bei Abschriften mündlicher Vorträge unvermeidlichen - stilistischen Überarbeitung, der Einteilung in sachlich gebotene Kapitel und der Auswahl der einzelnen Textteile aus zwei themengleichen Vorlesungsreihen mußten einige Ergänzungen vorgenommen werden, da Wolfgang Abendroth bisweilen auf die Anführung von Einzelfakten, Daten und Zahlen verzichtet hatte, was bei einem mündlichen Vortrag didaktisch sinnvoll ist, der das Aufzeigen von Strukturen und Entwicklungsprozessen bezweckt. Für die schriftliche Fassung einer »Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung« erschienen sie mir aber unverzichtbar, und deshalb wurden Daten, Wahl-

ergebnisse, Personennamen u.ä. an entsprechender Stelle im Text eingefügt. Historische Vorgänge, die allzu knapp gestreift wurden und deren

Kenntnis nicht allgemein vorausgesetzt werden kann, wurden durch Er-

gänzungen erläutert. Dem Charakter einer Einführung entsprechend, wurde auf die Beifügung eines wissenschaftlichen Apparates verzichtet.

11 Wolfgang Abendroth: Haben wir »Alten« noch etwas zu sagen? Sind wir »zornig«?, in: Axel Eggebrecht (Hg.): Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Mit Beiträgen von Wolfgang

Abendroth,

Heinrich

Albertz, Jean Amery,

Wolf

Graf Baudissin, Heinrich Böll, Axel Eggebrecht, Bernt Engelmann, Walter Fabian, Ossip K. Flechtheim, Eugen Kogon und Fritz Sänger, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 143-164,

hier S. 162. 12 Ebd.,S. 162 .

13 Frank Deppe, a.a. O.

12

Vorwort

Die Anmerkungen des Bearbeiters beschränken sich im wesentlichen darauf, die vom Verfasser direkt zitierte oder angesprochene Literatur nachzuweisen. Diese Anmerkungen sind durchlaufend numeriert, während inhaltliche Fußnoten Abendroths mit * gekennzeichnet sind. In der vorliegenden dritten Auflage wurden

lediglich der Satzspiegel

verändert, Druckfehler korrigiert und neuere Auflagen der zitierten Lite-

ratur nachgewiesen. Daß eine solche dritte Auflage notwendig wurde, bestätigt die Wertung eines Rezensenten, der beim Erscheinen dieser »Ein-

führung« 1985 schrieb: Wolfgang Abendroths »aus einem lebenslangem

Kampf in und für die Arbeiterbewegung erwachsenen historischen Erkenntnisse werden wichtig bleiben, auch für die neuen sozialen Bewegungen.«* Bremen, im Dezember 1996

14 Volker Ullrich: »Die Verwirklichung der sozialistischen Demokratie. Wolfgang Abendroths Vorlesungen über die Geschichte der Arbeiterbewegung«, in: Frankfurter Rundschau vom 12. Juli 1986.

13

1. Einführung: Über die Beschäftigung mit der

Geschichte der Arbeiterbewegung

Wir wollen uns in den folgenden Stunden mit Geschichte der Arbeiterbewegung befassen. Warum eigentlich, wie und wozu? Wenn

man

Geschichte betreibt, so tut man es im Grunde aus zwei

Erwägungen. Erstens: man kann seinen eigenen Standort und seine Handlungen gar nicht verstehen, wenn man nicht die geschichtliche

Funktion dessen, was man heute tut, aus dem früheren Geschichtsverlauf und aus dessen Ursachen heraus erklärt. Denn wenn man nur vom Tagesgeschehen beherrscht handelt, handelt man ja nur für die Sekunde, so wie der Unternehmer handelt, der in der Sekunde eben seinen Profit er-

zeugen muß — er muß es in der kapitalistischen Marktgesellschaft - und sich dann weiterhaspelt und höchstens mittelfristig vorplanen kann. Aber so kann man keine langfristige Strategie entwerfen. Und die zweite Erwägung ist die, daß man aus der Geschichte, sozusagen aus Parallelverläufen, eventuell etwas darüber lernen kann, wie man

es heute, selbst in

Einzelfragen, nicht machen darf. Aus früheren Erfahrungen kann man

schließen: wenn du in dieser oder jener Weise reagierst, so endet das mit

einer Niederlage. Man kann also Analogieschlüsse ziehen aus der Geschichte - nicht immer richtige, aber prinzipiell kann man es. Das sind die beiden Gründe, weshalb wir uns hier mit Geschichte abplagen wollen. Wenn wir Geschichte der Arbeiterbewegung betreiben, so müssen wir wissen, daß auch die Arbeiterbewegung von Anfang an immer in einem gesamtgeschichtlichen Zusammenhang steht. Den können wir nicht unbeachtet lassen und etwa nur die Geschichte der Arbeiterorganisationen isoliert betrachten. Denn die Arbeiterorganisationen sind ja immer in dem, wie sie entstehen und was sie jeweils tun, eine Antwort zunächst einer neu entstehenden, dann einer immer stärker werdenden sozialen

Klasse auf das, was im Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Beziehungen der jeweiligen Zeit geschieht, in der die Arbeiterklasse handelt und ihr Bewußtsein entwickelt. Wir müssen deshalb auf jeder Stufe der Geschichte der Arbeiterbewegung ganz knapp erwägen, wie sieht der historische Prozeß insgesamt, vor allen Dingen im sozialgeschichtlichen, aber auch im politisch-geschichtlichen Zusammenhang in jener Zeit aus?

14

2. Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

Wenn wir uns hier mit Geschichte der Arbeiterbewegung - und wir werden bald sehen, daß man Gewerkschaftsbewegung und politische Formen der Arbeiterbewegung nicht voneinander trennen kann — beschäftigen wollen, dann müssen wir, um

zum

Verständnis

des ganzen

Prozesses zu kommen, mit den An/fängen der Arbeiterbewegung beginnen, und zwar keineswegs nur mit den Anfängen in Deutschland. Schon deshalb nicht, weil die Industrialisierung und die Entstehung eines moder-

nen industriellen Proletariats und damit auch die Entstehung des Bewußtseins, daß jede abhängig arbeitende Gruppe eine gemeinsam handelnde Gruppe bilden muß, weil dieser ganze Prozeß nun einmal in England beginnt und nicht in Deutschland. Wir wollen mit dieser Periode der Bildung der modernen Arbeiterklasse beginnen. Schon vor der Industrialisierung,

also vor der Verwendung

moderner maschineller Produktionsmittel gab es bereits Anfänge von

Massenproduktion,

allerdings unter anderen technischen Bedingungen.

Maschinelle Produktion ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht vorhanden, aber Weltmarktverhältnisse sind, wenn auch begrenzt, durchaus schon da. Eine Massenproduktion muß also beginnen. Im

Grunde fängt diese Periode - Beginn der Massenproduktion, die über bloße handwerkliche Produktion gewerblicher Produkte hinausgeht - in den verschiedenen europäischen Ländern (und wir beschränken uns jetzt auf die Geschichte derjenigen Länder, in denen dann die maschinelle Produktion zuerst durchbricht) teilweise schon im späten Mittelalter mit der Entwicklung bürgerlicher Verhältnisse in den Städten an. Man braucht jetzt für den Markt und zur Befriedigung der Bedürfnisse großer Bevölkerungsteile vom Standpunkt derjenigen Unternehmer aus, die sich langsam als besondere Klasse in den Städten absondern, eine verbreiterte Produktion großer Mengen von Verbrauchsgütern nicht-agrarischer Art. Das kann man in zweifacher Weise angehen. Entweder zerlegt man die Produktion, die formell handwerkliche Produktion bleibt, in einzel-

ne, kleine Schritte und vergibt sie gesondert. Denn wenn man den ein-

zelnen Arbeitsschritt auf eine Person konzentriert, die diesen Arbeits-

vorgang ständig wiederholt, so kann diese Person natürlich dabei schnel-

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

15

ler, rascher und billiger produzieren, als wenn sie das gesamte Produkt handwerklich herstellen würde. Also nimmt ein kaufmännischer Unternehmer eine solche Zerlegung des Arbeitsprozesses vor und vergibt die

einzelnen Arbeitsschritte getrennt an einzelne, formell selbständig blei-

bende Handwerker (man denke an die Textilproduktion). Der kaufmän-

nische Unternehmer koppelt diese Prozesse. Dadurch, daß er als Verle-

ger - wir kennen heute noch diesen Begriff in der Produktion von Bü-

chern - alle diese Prozesse kombiniert und zusammenfaßt, erhält er das

Endprodukt, das massenweise durch die ständige Wiederholung der einzelnen Arbeitsschritte hergestellt wird. Gleichzeitig verwandelt der Verleger dabei den einzelnen, formell selbständig bleibenden Handwerker doch in einen abhängig Arbeitenden. Indem er das tut, kann er selbstver-

ständlich durch seine Vormachtstellung als Verleger, als kaufmännischer Unternehmer,

auch das Einkommen

dieser einzelnen Handwerker,

die

von ihm abhängig werden, erheblich senken, eine ungeheuer ausgeweitete Produktion beim Verkauf die eine Seite Periode alle

zu stark verbilligten Verhältnissen erzeugen und am Ende, der Waren, entsprechend hohe Gewinne erzielen. Das ist der Medaille. Die andere Seite ist die, daß schon in dieser diese Handwerkerschichten, also die städtischen Unter-

schichten, in bezug auf Marktstellung und Lebensstandard erheblich absinken. Diese Schritte hin zur modernen Massenproduktion nennt man

Ver-

lagssystem. Wir bemerken sie vom 16. Jahrhundert an; aber verstärkt zu Beginn des 18. Jahrhunderts in ständig wachsender Weise in allen europäischen Staaten. Ein weiterer Schritt der Entwicklung von Massenproduktion ist das sogenannte Manufaktursystem. Jetzt koppelt der immer mächtiger gewordene ursprüngliche Kaufmann diese Produktion in einer Weise, in der er sie noch stärker unter Kontrolle bekommt: indem er nämlich die einzelnen handwerklich Tätigen in einigen großen, wir könnten heute sagen: Fabrikräumen versammelt und nun auch der Form nach in abhängig Arbeitende verwandelt. Sie sind also nicht mehr der Form nach selbständige Handwerker, sondern sie sind nun auch der Form nach vollkommen ab-

hängige Arbeiter. Zwar läuft die Produktion im Manufaktursystem im Grunde noch in der gleichen Weise, nämlich in Form arbeitsteiliger Handarbeit, aber man kann nun schon erste Vereinfachungen vorneh-

men und die Kontrolle über die Arbeiter erhöhen. In einem Raum nähen alle Arbeiter beispielsweise Hemdsärmel

an, und vorne sitzt eine Auf-

sichtsperson und überwacht das. Damit stehen die Arbeiter unter direkter Kontrolle und können eventuell noch stärker im Lebensstandard gesenkt werden. Sie müssen noch billiger arbeiten als vorher, denn sie wer-

16

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

den Ja nun nicht mehr für die Ware, die sie abliefern, sondern unmittelbar für die Arbeitszeit, die sie in dem betreffenden Raum sitzen, bezahlt.

Beiden Formen der Veränderung der Produktionsformen des Mittelal-

ters (sie existieren zu großen Teilen in den einzelnen Ländern noch ne-

beneinander je nach Produktionszweig; bei den Zigarrenarbeitern zum Beispiel bleibt das Verlagssystem noch lange bis ins 19. Jahrhundert hinein erhalten) ist ein Merkmal gemeinsam: es entsteht in Wirklichkeit (aüch juristisch, wie beim Manufaktursystem, oder juristisch noch nicht, wie beim Verlagssystem) eine abhängig arbeitende neue Klasse. Es gab zwar auch vorher in der handwerklichen Produktion des Mit-

telalters schon abhängig Arbeitende. Der Handwerksgeselle zum Beispiel ist ja auch abhängig Arbeitender gegenüber dem Handwerksmeister. Aber der entscheidende Unterschied ist der: Dieser Handwerksgeselle der mittelalterlichen Periode erstrebt noch immer, selbst einmal innerhalb

der damaligen zünftlerischen Tradition selbständiger Handwerksmeister zu werden, und er kann bis zu einem gewissen Grade auch berechtigterweise diese Hoffnung haben. Der vom Verlagssystem oder gar der vom Manufaktursystem Abhängige hat diese Hoffnung normalerweise nicht mehr und entwickelt somit auch andere Bewußtseinsformen als der handwerkliche Geselle früherer Perioden. Gleichzeitig ändert sich auch der Lebensstandard im Verhältnis zu seinem Handwerksmeister, der ihn

beschäftigt. Der Handwerksgeselle hatte früher zwar auch schon einen geringeren

Lebensstandard als der Handwerksmeister,

und der Handwerksmeister

schlug aus der Ausbeutung seiner Arbeitskraft Profit. Aber dieser Handwerksgeselle oder Lehrling lebte sehr häufig noch in der Großfamilie des

Meisters. Er war dadurch in jeder Beziehung, auch in seinen persönlichen

Belangen, zwar sehr abhängig von diesem Meister, aber weil er ja in des-

sen Familie lebte, war der Lebensstandardsabstand gleichwohl nicht so

groß, wie er es nun in der Manufakturperiode wird. So war trotz aller Reibungen zwischen Handwerksgesellen und Handwerksmeistern, die es natürlich auch früher immer gegeben hat und wie sie sich in Gesellenbünden (die meist verboten wurden) äußerten, dies System noch durch eine Ideologie der gemeinschaftlichen Interessen gekennzeichnet, wie sie sich in der Zunfrt darstellte. Jetzt im Verlags- oder Manufaktursystem ist das keineswegs mehr der Fall. Infolgedessen verwandeln sich die auch in der vorherigen Periode schon keimhaft angelegten Klassengegensätze allmählich in volle Klassengegensätze, die sich auch ideologisch in der Vorstellungsweise der be-

troffenen Bevölkerungsgruppen niederschlagen. Hatten vorher beide — Geselle und Meister - noch gemeinsame Interessen in den Auseinander-

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

:17

setzungen mit den Oberschichten der damaligen Gesellschaft — etwa Handwerk gegen Kaufmannschaft in der Stadt, alle zusammen gegen die

Feudalklassen - und standen diese Interessengegensätze im Vordergrund

der Auseinandersetzung, so wird jetzt (schon im 18. Jahrhundert) der Gegensatz zwischen den gemeinsamen Interessen der abhängig arbeiten-

den Bevölkerung und den Interessen der Kapitalistenklasse, der Unternehmer, die sie ausbeuten, zum entscheidenden Problem der gesamten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig

sinkt

der Lebensstandard

der vom

Verlagssystem

oder

vom Manufaktursystem betroffenen abhängig Arbeitenden extrem ab. Er kann so extrem absinken gegenüber der Periode vorher, weil inzwischen

das Angebot an Arbeitskräften in der Gesellschaft ständig wächst. Denn aus der agrarischen Produktion wie aus der früheren handwerklichen Produktion werden ständig Arbeitskräfte freigesetzt. Hat der Handwerksmeister (bleiben wir wieder beim Beispiel der gewerblichen Produktion) der vorherigen Periode nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch ein gewisses Maß an Verantwortungsbewußtsein für die Aufrechterhaltung relativ menschlicher Arbeitsbedingungen für seinen Gesellen, weil der ja in seinem Familienverband steckt und womöglich der künftige Mann seiner Tochter ist, der einmal den Betrieb übernehmen soll, so hört das nun vollkommen auf. Wohlgemerkt: ich biete hier nur Schemata, nicht mehr. Diese Schemata stellen sich im realen historischen

Prozeß häufig modifiziert dar. Sinkt beispielsweise die Bedeutung irgend-

eines Handwerks in der Gesellschaft ab oder herrscht eine gesellschaftliche Krise, dann ist auch diesem Handwerksmeister sein unmittelbares Tagesinteresse wichtiger als seine zünftlerische Ideologie. Dann geht er

auch brutal gegen den Gesellen vor und wirft ihn hinaus. Aber in normalen Lagen sieht diese Bewußtseinsstruktur eben anders aus. So geht das bis zum Verlagssystem bzw. dem Manufaktursystem. Nun gewinnt das Unternehmerbewußtsein an Bedeutung gegenüber dem früheren bloßen Handwerksmeisterbewußtsein. Infolgedessen interessiert es

nicht mehr,

ob nun

ein Verlags-

oder Manufakturarbeiter

verhungert

oder nicht, wenn er so wenig Lohn bekommt oder so wenig Entgelt beim Verlagssystem, sondern es kommt nur noch auf die Profiterzeugung an. Und es muß auch für den, der an der Spitze eines solchen Produktionssystems bestehen will, nur auf den Profit ankommen, weil sich inzwischen - zunächst in vereinzelten Bereichen, dann generell - volle Markt-

konkurrenzverhältnisse im Warenabsatz durchsetzen. Der Unternehmer macht Bankrott, wenn er nicht ständig Profit erzeugt. Dazu muß er den Lebensstandard seiner Verlags- und Manufakturarbeiter drücken, muß versuchen, möglichst billige, extrem billige Arbeitskräfte zu bekommen.

18

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

Und so wird etwa der im Verlagssystem beschäftigte Zigarrenkleinpro-

duzent, den der Verleger in sein System kombiniert hat, gezwungen, nun

auch die Kinder und die Frau bei der Zigarrenerzeugung mitarbeiten zu lassen, denn sonst kann die ganze Familie nicht mehr existieren.

Im Manufaktursystem fängt man nun an, auch die Kinderarbeit als

ganz selbstverständlich einzubeziehen - oft zu schlimmsten Arbeitsbedingungen. Und je stärker diese Systeme um sich greifen, je mehr sich

Markt- und Konkurrenzverhältnisse in der immer weniger durch rechtli-

che Regelungen (wie sie im Feudalsystem bestanden) erfaßten Gesamtproduktion entwickeln, je stärker also das Marktdenken durchbricht und sich auch praktisch ökonomisch durchsetzt (wenn auch zunächst erst in lokalem Maßstab und in einigen Gewerben, nur ın Einzelfällen welt-

marktmäßig), desto stärker wächst jetzt die Extremausbeutung all derje-

nigen, die lediglich in abhängiger Arbeit produzieren. Je weiter also dieses System vordringt, desto stärker sinken die Löhne, desto stärker wird die Einbeziehung der Gesamtbevölkerung, auch der Frauen und Kinder,

in die Produktion, desto größer wird die Gefahr, daß auch auf relativ

lange Perioden die Arbeitsentgelte nicht mehr ausreichen, um die Famili-

enreproduktion rein physisch garantieren zu können. Wenn schon das sechsjährige Kind arbeiten muß wie ein Pferd und sogar (denken wir an England, aber ähnliche Bedingungen gibt es auch in verschiedenen Städ-

ten in Deutschland) im Bergwerk arbeiten muß, damit die Familie existieren kann, dann ist das Ergebnis, daß solche Familien sich gar nicht physisch reproduzieren können, denn die Kinder und Frauen gehen da-

bei zugrunde. Die Lebenserwartung auch des erwachsenen männlichen

abhängig Arbeitenden sinkt ständig. Die Ernährungsbedingungen und die

Wohnbedingungen werden ständig schlechter. Das geht natürlich nur so lange, wie der Bevölkerungszustrom aus dem Bereich der Landwirtschaft anhält, der in diese gewerbliche Produktion fließt. Denn sonst reproduziert sich ja die Ware Arbeitskraft nicht mehr. Wenn dieser Zufluß geringer wird, muß im Interesse des Ganzen, nämlich im Interesse der Aufrechterhaltung des Produktions- und Profitsystems überhaupt, sogar die öffentliche Gewalt regulierend eingreifen, weil sonst sozusagen durch Selbsterledigung der abhängig arbeitenden. Schicht infolge mangelnder physischer Reproduktion dies System selbst gefährdet würde. Vorläufig hält aber gerade in den Perioden des unmittelbaren Über-

gangs zum nächsten Schritt, zur industriellen Produktion, dieser Zufluß

hauptsächlich vom flachen Lande her in den meisten dieser betroffenen Nationen durchaus noch eine Zeitlang an. Aus einem ganz einfachen Grunde: Denn in dem Maße, in dem ich zum Beispiel bei der Textilver-

19

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse.

sorgung des Marktes Wolle als Grundrohstoff, sei es für verlegerische, für

manufakturelle oder dann für industrielle Tätigkeit, brauche und also die Produktion von Wolle in der eigenen Agrarwirtschaft erforderlich und nützlich wird, verändern sich auch in der Landwirtschaft die Produktionsbedingungen. Die Landwirtschaft ist in ihrer Produktion in England bis zur frühen Neuzeit (in Deutschland bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts) zunächst noch feudal strukturiert, mit Bauern, die in gewisser Weise dem

Feudalherrn gegenüber abhängig sind, aber wesentliche Bereiche ihrer Wirtschaft selbständig regeln, als Basis des Ganzen. Der feudale Großgrundbesitzer kommt nun zu der Erkenntnis: Ich stelle mich ja wesentlich besser, wenn ich selber vor allem Wolle produziere und mir Schafherden anschaffe; dann kann ich meinen eigenen Verdienst wesentlich

steigern und desto vornehmer in der Stadt leben. Also setze ich meine einzelnen Bauern, die ja in einem lehensartigen Abgabeverhältnis formell von mir abhängig sind, raus, fasse große Grundstücksabschnitte zusammen und lasse Schafherden darauf weiden. Dann verdiene ich erheblich mehr, als wenn ich kleine Abgaben von meinen einzelnen, hier Getreide,

dort Kartoffeln usw. produzierenden Bauern bekomme. — Deshalb drängt dieser Großgrundbesitzer auch darauf, die alten rechtlichen Bedingungen zu

ändern,

sein

früheres

bloßes

Feudaleigentum

durch

entsprechende

rechtliche Umdeutung in modernes Unternehmereigentum zu verwandeln. Er kann dann zu seinem Bauern sagen: Geh' davon, ich will von dir keine Abgaben mehr, ich kann dich nicht mehr brauchen, denn ich brauche nur noch ein paar Landarbeiter, um meine Schafe zu hüten! —- Infol-

gedessen wird vom Land ständig Bevölkerung abgestoßen, die in die Stadt

wandert. In England vollzieht sich dieser Prozeß hinsichtlich der rechtlichen Seite relativ reibungslos, da der unmittelbare Einfluß der Oberklas-

sen auf die Entscheidungen der öffentlichen Gewalten des Rechtssystems durch die parlamentarische Form sehr stark ist, selbst in der kurzen Periode des Absolutismus. Solange nun dieser Zustrom früherer Bauern in die Städte anhält, kann man sich auch diese Totalverelendung der abhängig arbeitenden Bevölkerung leisten; denn solange gibt es ja genug Arbeitskräfte, die den Fortbestand des gesamten Systems garantieren. (Die Bedeutung der ArmenGesetzgebung, die vorher im englischen Feudalsystem existierte, sinkt daher praktisch ständig ab und garantiert keinen ausreichenden Lebensstandard mehr für die verelendeten Schichten.) Die pauperisierten Schichten werden daher schlicht verbraucht durch das Verlags- und Manufaktursystem und dann ab Ende des 18. Jahrhunderts auch durch die industrielle Produktion in den Städten sowie durch die Grundstoffproduktion, etwa in den Bergwerken,

20

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

Mit dem Vordringen der industriellen Produktion verschärfen sich diese

Tendenzen ungeheuer. Ausgangspunkt und Zentrum der immer weitere Bereiche erfassenden industriellen Revolution ist die Maschine. Sie ersetzt den Arbeiter, der ein einzelnes Werkzeug verwendet, durch einen Mechanismus, der mehrere - zunächst gleichartige - Werkzeuge zugleich

einsetzt. Durch

die Kombination

mit Antriebsmaschinen

(Dampfma-

schine) wird die Produktion von den Grenzen der menschlichen Kraft

befreit. Der Mensch wird (wie Marx formulierte) zum Anhängsel der Maschine, für deren Bedienung nun weder besondere Körperkräfte noch durch lange Ausbildung gewonnene Fertigkeiten notwendig sind. Dadurch kann der Einsatz von Frauen- und Kinderarbeit auf das äußerste gesteigert und die Arbeitszeit ausgedehnt werden - mit all den ruinösen Folgen für die betroffenen Bevölkerungsteile. Auf diese Verelendungsprozesse, die den Frühkapitalismus kennzeichnen, gibt es erste Reaktionen von Teilen der Unterklassen und Ten-

denzen zu werdendem Klassenbewußtsein. Diese Gegenwehr basiert jedoch noch nicht auf einer Analyse der Gesamtentwicklung, aus der Elemente eines rationalen Kampfes hätten abgeleiter werden können. Und so ändert sich im Grunde dadurch zunächst nur sehr wenig.

Erst als die Umwandlung der agrarischen Produktion in Großproduktion weitgehend erfolgt ist, keine Bauernbevölkerung mehr in die Städte umgesetzt werden kann und somit der Nachschub an Arbeitskräften versiegt, bildet sich auch in Teilen der Oberschichten, soweit sie weiterblikken, die Überlegung: Wir müssen dieser Totalverelendung, die dazu führt, daß die Leute einfach verrecken, wenn sie in solchen Produktionsverhältnissen leben, mindestens bestimmte Grenzen setzen, denn wir

brauchen ja Arbeitskräfte. - Von da an gibt es Randtendenzen, ich möchte sagen: konservativer Art, die in Anknüpfung an früheres feudales und kirchliches Denken für bestimmte sozialpolitische Maßnahmen der öffentlichen Gewalt eintreten. Aber vor allen Dingen haben wir von da an natürlich auch immer wieder explosive Gegenmaßnahmen der verelendeten Unterklassen. Dieses Schema, das ich hier entwickelt habe, stellt sich in den einzel-

nen europäischen Nationen durch lokale Bedingungen natürlich modifiziert dar. Aber das Grundsystem repetierte sich überall, auch in den Reaktionsformen der Unterklassen. Es entwickelt sich allerdings mit gro-

ßen zeitlichen Verschiebungen, denn das Moment der Ungleichzeitigkeit, um hier einen Terminus von Ernst Bloch zu verwenden, der ihn mit vol-

lem Recht auch auf heutige Verhältnisse anwendet, spielt eine große Rolle. In England haben wir seit dem 16. Jahrhundert einen Staat, der - abgesehen von Randproblemen (schottische Frage etc.) - national einheitlich

Die Herausbildung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse

21

ist, mit nur geringen regionalen, politischen und rechtlichen Differenzen. In Frankreich ist das ebenso, wenn auch wiederum mit anderen Rah-

menbedingungen. In Deutschland sieht das allerdings schon deshalb anders aus, weil als Hinterlassenschaft der Niederlagen der Unterklassen in dem Bauernkrieg 1525 und der Reformationsperiode die totale politische

Zersplitterung übriggeblieben war - mit regional völlig verschiedenen Bedingungen etwa in Sachsen, in Bayern, in Brandenburg usw.

Wegen dieser lokal sehr verschiedenen politischen Bedingungen findet sich dieses Moment der Ungleichzeitigkeit auch bei der Durchsetzung des allgemeinen Schemas, der Entwicklung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse in den verschiedenen europäischen Ländern. Zwischen Eng-

land und Frankreich besteht diese Ungleichzeitigkeit zum Beispiel schon deswegen, weil England in dieser Periode nach der Niederringung der spanischen Konkurrenz praktisch (eine Zeitlang gemeinsam mit Holland) die Totalkontrolle des Welthandels ausübt. Es kontrolliert die Meere und hat großen, wachsenden Kolonialeinfluß, somit die Verfügung über den Zugang zu sehr vielen wichtigen Rohstoffen. Frankreich besitzt hingegen

zwar hier und da Kolonialeinfluß, aber eben nicht die Kontrolle der Meere. Und so erklärt sich historisch relativ einfach, daß sich zuerst ın

England dieses Schema der Entwicklung der bürgerlichen Produktions-

weise durchsetzt, während es sich in den anderen Staaten zwar auch ent-

wickelt, aber mit Zeitverschiebungen — auch bei der Ausbildung der einzelnen Seiten dieser Produktionsverhältnisse.

22

3. Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

Der volle Durchbruch der industriellen Produktion in England, das Entstehen moderner Fabriksysteme (zunächst mit dem Zentrum der Textil-

produktion) entwickelt sich in der gleichen Zeit, in der die Auseinander-

setzung Englands mit der amerikanischen und später der französischen

Revolution beginnt. Es sei daran erinnert, daß die amerikanische Revolution (Unabhängigkeitskrieg 1775-1783, Unabhängigkeitserklärung 1776) mit dem Ergebnis endet, daß die erste moderne demokratische Republik

ın der damaligen Welt entsteht. Dies geschieht zwar bei bereits wachsender Bedeutung des Industrialismus in England und dann auch in den Vereinigten Staaten, aber ohne daß etwa die Arbeiterklasse schon beginnt, einzugreifen und selbständig aufzutreten. Bei der amerikanischen Revolu-

tion sind es bürgerliche Schichten, die die Revolution tragen - übrigens sehr bald auch Teile der Großgrundbesitzer des amerikanischen Südens

(aus ganz bestimmten ökonomischen Gründen, die wir hier nicht zu untersuchen brauchen). Seit der amerikanischen Revolution wird von Intellektuellen und von kleinbürgerlichen Schichten auch in England wieder die demokratische

Beteiligung an der Willensbildung der Nation gefordert. Denn es ist eine Legende, wenn man glaubt, daß etwa der englische Parlamentarismus dieser Periode eine demokratische Staatsform insofern gewesen sei, als die

gesamte Bevölkerung an der politischen Willensbildung beteiligt gewesen wäre.

Der

englische

Parlamentarismus

dieser

Zeit

beruht

zwar

darauf,

daß das Parlament die Entscheidungsgewalt über den Staat besitzt und der König nur eine begrenzte Rolle spielen kann, aber das englische Par-

lament dieser Periode besteht einerseits aus dem Oberhaus, in dem fast nur die feudale Oberschicht, nämlich der Großgrundbesitz repräsentiert

war, und andererseits aus dem Unterhaus, das jedoch aufgrund eines extrem nicht-demokratischen Wahlrechts gewählt wurde. Viele Wahlkreise des Unterhauses sind, praktisch ähnlich wie das Oberhaus, Erbgut der feudalen Oberklassen, der Großgrundbesitzer, da die Wahlberechtigten

in einem Wahlkreis des flachen Landes manchmal nur eine Handvoll

Leute ausmachten. Es gab Wahlkreise mit nur 6 oder 7 Wählern, denn Wahlrecht besaß nur, wer eine bestimmte Höhe des Einkommens nach-

Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

23

weisen konnte (also nicht etwa der Landarbeiter) und wer außerdem ein bestimmtes Bildungsniveau besaß. Aber im England dieser Zeit war noch

die große Majorität der Bevölkerung ohne jede Schulbildung und analphabetisch. Andererseits stützte sich dieses Unterhaus auch schon auf Wahlkreise,

die

in der

Hand

der

aufsteigenden

Kapitalistenklasse,

der

Bourgeoisie, lagen - sowohl in Händen der industriellen Bourgeoisie als

auch in denen der in England außerordentlich wichtigen Finanzbour-

geoisie; denn England ist als Zentrum des Weltmarktes auch Zentrum des Weltbankwesens. In diesen städtischen Wahlkreisen Englands war die Zahl der Wähler natürlich erheblich höher, weil die Zahl der schulisch

Ausgebildeten und derer, die über erhebliches Einkommen verfügen konnten, größer war. So ging im englischen Staat in dieser Zeit der beginnenden Industrialisierung die politische Macht hin und her zwischen den »Tories« und den »Whigs«.

Die

Tories waren

die Partei der feudalen Oberklassen

alten

Stils, die Whigs die Parteigruppierung der Finanz- und Industriebourgeoisie sowie derjenigen Teile der feudalen Oberklassen, deren Interessen schon auf den Weltmarkt und nicht mehr auf die alten feudalen Abhän-

gigkeiten gerichtet waren. Auf diesen /nteressenwandel bei einem Teil der Großgrundbesitzer haben wir bereits hingewiesen: Im gleichen Maße, in dem die industrielle Erzeugung und ihre Vorformen aufsteigen, wächst der Bedarf an Rohstoffen und damit das Interesse von Teilen der feudalen Großgrundbesitzer,

ihr vorher bäuerlich beackertes Land marktfähig zu machen und z.B.

durch große Schafherden zur Produktion von Wolle für die Textilindustrie zu nutzen. Abhängige Kleinbauern wurden verdrängt und ein Teil

in Landarbeiter umgewandelt, die über keine Eigenwirtschaft mehr verfügen, sondern

ten.

nur noch

für den

Grundbesitzer

große Flächen

bearbei-

Aus diesen Entwicklungen erwuchsen in England natürlich schon in dieser Zeit des Konflikts mit den sich ernanzipierenden amerikanischen Kolonien erhebliche Klassenwidersprüche, die sich im Zuge der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution noch verschärften. Gleichwohl bildet sich zunächst ein Kompromiß zwischen dem aufsteigenden industriellen Bürgertum und den Großgrundbesitzern, den Lords, her-

aus. Dieser Kompromiß bestand darin, daß einerseits die industrielle Bourgeoisie einen erheblichen Spielraum auf dem Markt bekam und daß die englische Staatsgewalt dafür eingesetzt wurde, ihr Absatzmärkte und Rohstoffquellen in anderen Ländern zu sichern, daß aber andererseits bestimmte Einkommensbereiche des Großgrundbesitzes durch die gleiche Staatsgewalt gegen billigere Waren aus dem Ausland abgeschirmt wur-

24

Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

den, obwohl eigentlich die industrielle Bourgeoisie großes Interesse daran hatte, z.B. die Getreidepreise herunterzusetzen, weil dann beim Einkauf der Ware Arbeitskraft geringere Löhne gezahlt werden konnten,

ohne

daß die Arbeiter verhungerten. Aber das Bürgertum mußte sich zunächst damit abfinden, Getreide, das der englische Großgrundbesitz lieferte, zu höheren Preisen zu kaufen und hohe Zollschranken zu akzeptieren. Denn nur unter dieser Bedingung gab ihm die Feudalklasse freie Hand zur Durchsetzung seiner industriellen Interessen. Diese Vorgänge, die sich bereits vor dem amerikanischen Befreiungskrieg abspielen, sind im Grunde sogar ursächlich für den Ausbruch der amerikanischen Revolution. Denn das aufsteigende Bürgertum in den englischen Kolonien Nordamerikas lehnt diese Schutzzölle, die sich auch

gegen seine Produkte (z.B. Zucker) und seine Handelswaren (z.B. Tee) richten, natürlich ab. So wird die Schutzzollpolitik zum eigentlichen Auslöser des amerikanischen Befreiungsprozesses. In diesem Kampf mit den Vereinigten Staaten — also bereits vor der

Auseinandersetzung mit der französischen Revolution - wird England, das bis dahin liberalste europäische Land, zum Schutzhüter der extremen Reaktion. England will seine amerikanischen Kolonien und die Dispositionsgewalt über die amerikanische Produktion behalten, und deshalb tritt es bewaffnet gegen viele der Forderungen auf, die an sich die logische Konsequenz jenes Aufklärungsdenkens waren, das bis dahin in England den größten Spielraum in ganz Europa gehabt hatte. Denn die Ideologie

der Aufklärung hatte dem ökonomischen Aufschwung Englands und damit dem Aufstieg des englischen Bürgertums entsprochen. Nun aber wird das öffentliche Eintreten für die Gleichheit aller Menschen —- wie sie die amerikanische Revolution in praktischer Konsequenz der Aufklärungsideen postuliert - in England zur strafbaren Handlung. In einem Land, in dem bis dahin die Gedanken

der Aufklärung frei diskutiert wer-

den konnten - nicht nur in philosophischen, sondern auch in politischen Zusammenhängen —, wird die Meinungsfreiheit der aufgeklärten Intellektuellenzirkel aufgehoben, und zwar sogar durch Whig-Ministerien, durch Ministerien der Bourgeoisie also. All das, was in der großen englischen bürgerlichen Revolution ein Jahrhundert vorher an Meinungsfreiheit erkämpft worden ist, wird nun eingeschränkt und zum Teil aufgehoben. Nach der Anerkennung der amerikanischen Revolution (die Amerikaner hatten aus politischen Gleichgewichtsgründen die Unterstützung des französischen Absolutismus bekommen, und England mußte seinen amerikanischen Krieg aufgeben) tritt eine vorübergehende Auflockerung dieser Reduktion freien, bürgerlichen, kritischen Denkens ein - grotesker-

weise unter einem Tory-Ministerium.

Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

25

Doch nun kommt es zur Großen Französischen Revolution (1789), die in Frankreich vorübergehend demokratisches Denken zum Siege führt. Da diese Revolution in einem Lande stattfindet, das vorher beim amerikani-

schen Unabhängigkeitskrieg (allerdings aus ganz anderen Gründen) mit den Vereinigten Staäten verbündet gewesen war, kann keine englische

Regierung uninteressiert bleiben. In der amerikanischen Revolution hatten formale demokratische Verfassungsgrundlagen gesiegt (wenngleich hinsichtlich des demokratischen Charakters manche Einschränkungen angebracht sind). Jetzt droht das gleiche Gespenst der Demokratie ın Frankreich, mit all den Gefahren für die englische Weltvormachtstellung. Deshalb sind sich die führenden Klassen Englands sehr bald einig: Dieser Unfug der Ausbreitung der Demokratie auch in den europäischen Kontinentalbereich hinein muß eingeschränkt werden! - England ist von Beginn der französischen Revolution an immer wieder das Zentrum aller Kombinationen der europäischen Staaten gegen diese Revolution. Innenpolitisch entspricht dem ein Rückfall in die, ich möchte sagen: Ausnahmegesetzgebung, die alles, was an liberalen und demokratischen Freiheiten in England vorher existiert hatte, wieder zurücknimmt. Das richtete sich gegen die demokratisch denkenden Intellektuellen (wie Thomas Paine'‘) und Kleinbürger, aber auch bereits gegen Kräfte der werdenden Arbeiterklasse, die sich gegen diese Gesamtpolitik Englands wandten. Prompt sind in England die Ausnahmegesetzgebungen zum Verbot jeden

Eintretens etwa für demokratisches Wahlrecht, für die Durchführung des Gleichheitsgedankens im bürgerlichen Recht usw. wieder da, wie sie während der Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten bestanden. Dabei ist es wieder grotesk anzusehen, wie nicht nur Tory-Ministerien, sondern auch Whig-Ministerien die energischsten Vertreter solcher Aus-

nahmegesetze werden.

Aber in diesem England rast während der französischen Revolution

und der Auseinandersetzung mit Frankreich, dann auch in der folgenden Periode bis zur Niederlage Napoleon Bonapartes (Waterloo 1815) die Industrialisierungswelle weiter. Die Umwandlung zahlloser ehemaliger Landarbeiter, Kleinbürger aus den Städten, ruinierter Handwerker,

da-

vongejagter Kleinbauern vom Lande und Angehöriger pauperisierter Schichten in industrielle Arbeiter schreitet fort. Alle diese Arbeiter hatten gemeinsame Merkmale: Es gab nur ganz wenige unter ihnen, die auch nur lesen und schreiben konnten. Und indem sie jetzt industrielle Arbeiter wurden, sank ihr Lebensstandard gegenüber früher zunächst ab. Die 1

Thomas

Stemmler,

Paine: Die Rechte des Menschen, kritisch durchges. und eingel. von Theo übers.

von

Dorothea

M.

Forkel,

Frankfurt

a.M.

1973

1791/92). - Paine wurde aus England vertrieben, sein Buch verboten.

(zuerst

erschienen

26

Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

Nahrungsversorgung wurde schlechter, die Arbeitszeit länger. Sie war für diese erste Generation von Industriearbeitern fast unbeschränkt. Es mußte gearbeitet werden, solange es eben physisch ging. Die Folge waren häufig 16stündige Arbeitstage.

Ein weiteres kam hinzu. Die Konjunkturen schwankten, die Absatzmöglichkeiten, etwa für Textilien, die ja auch für den Weltmarkt erzeugt

wurden, gingen auf und ab, und dazwischen lagen immer Stillegungsperi-

oden oder zumindest Perioden mit Produktionseinschränkungen für einzelne Werke. Das bedeutete Arbeitslosigkeit für die industriellen Arbeiter, die dann nichts mehr zu essen hatten und der traditionellen Wohl-

fahrtsorganisation, der englischen Kirche, zur Last fielen. Infolgedessen wächst die Erbitterung in dieser sich bildenden Arbeiterklasse ständig, und dies auch noch aus einem weiteren Grunde: Herrscht gerade eine Hochkonjunkturperiode, so braucht der industrielle Kapitalist beispielsweise eines großen Textilunternehmens (die Textilindustrie spielt damals die wichtigste Rolle) viele Arbeitskräfte, denn trotz beginnender Industrialisierung ist die Technik noch nicht weit entwik-

kelt. Die Produktion ist noch sehr arbeitsintensiv. Die Notwendigkeit wächst also, neue Arbeiter heranzuholen. Und so werden nicht nur die

Frauen (das war schon längst selbstverständlich), sondern vermehrt auch

die Kinder - schon kleine Kinder im Alter von 6 oder 7 Jahren - im in-

dustriellen Arbeitsprozeß eingesetzt und ruiniert. Will man aber langfristig industriell produzieren, braucht man im Gegensatz zu früheren Stufen der Produktion Arbeitskräfte, die mindestens im Lesen und Schreiben ausgebildet und nicht mehr völlig analphabetisch

sind. Schon um Informationen rasch vermitteln und die Arbeiter rasch einsetzen zu können,

ist dies erforderlich. Wenn

man

aber bereits die

kleinen Kinder in den Arbeitsprozeß total einordnet, macht man eine Ausbildung im Lesen und Schreiben, eine Einschulung unmöglich. So entstehen für das Kapital unvermeidliche innere Widersprüche schon aus diesen ökonomischen Gründen; denn die Kapitalisten verhindern durch

die Jagd nach Profit in der Konjunkturperiode gerade das, was sie permanent brauchen: die Erzeugung voll verwertbarer Arbeitskräfte. Sie ver-

hindern das in doppelter Weise: erstens dadurch, daß sie die Kinder gesundheitlich völlig ruinieren, eine Krüppelgeneration erzeugen und extrem hohe Sterblichkeitsraten bewirken; zweitens, indem sie selbst die

primitivste schulische Ausbildung der Arbeitskräfte unmöglich machen. Wegen dieser für das Kapital selbst widersprüchlichen Lage entstehen nun auch in der englischen Wissenschaft und politisch in der Partei des englischen Kapitals, bei den Whigs, Widersprüche. Sie können allerdings nicht ausgetragen und rational gelöst werden, da gleichzeitig der, wir

Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

27

können ruhig sagen: Weltkrieg gegen die französische Revolution stattfindet, den dieses Kapital mitträgt; denn es geht um die Beherrschung des Weltmarktes und um dessen Absicherung gegen demokratische Gefahren. Die französische Revolution produziert ja in Konsequenz ihres Aufklärungsdenkens sehr rasch das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Allerdings geschieht dies noch keineswegs mit dem Sieg der »Gironde«, der Partei des rechten Flügels des französischen Bürgertums, sondern erst mit dem Sieg der Jakobiner. Bis dahin bleibt das Wahlrecht durchaus beschränkt, und auch beim Sieg der Jakobiner scheitert zum Beispiel das Frauenwahlrecht aufgrund der inneren Widersprüche zwischen dem lin-

ken und dem rechten Flügel der Jakobiner. Der linke Flügel hatte es gefordert,

aber die äußerste

Linke

der Jakobiner

wird

in der Periode

des

Extrem-Terrors 1793 ebenso geköpft wie die rechte Fraktion der Jakobi-

ner zuvor. An der Macht bleibt die Robespierre-Gruppierung, die gerade diesen

Schritt

zum

Frauenwahlrecht

nicht vollziehen

will.

Immerhin

herrscht aber - wenn auch mit Einschränkungen - in Frankreich und

den USA das demokratische Wahlrecht. Es ist leicht vorstellbar, wie das

die englischen Oberklassen in einer Situation fortschreitender Massenproletarisierung mit Entsetzen erfüllen mußte; denn während dieser Zeit reproduzierten sich, in Anlehnung an das Denken der französischen Revolution, unter den linken englischen Intellektuellen (nicht unter den

Professoren, aber unter den Studenten, bei vielen Anwälten, Journalisten usw.) immer wieder Bestrebungen und Geheimgesellschaften, die für

gleiches Wahlrecht und generelle Gleichheit eintraten. Wenn sich diese Gruppierungen von Linksintellektuellen - die »Gesellschaften für Menschenrechte« und wie sie alle hießen — mit der ständig wachsenden indu-

striellen Arbeiterklasse verbanden, so mußte das den Vertretern der herr-

schenden Klassen aus allen politischen Richtungen als ungeheuer bedroh-

lich erscheinen. Als Konsequenz wird die terroristische Gesetzgebung gegen solche Bestrebungen verschärft, demokratisches Denken wird - sogar von den Liberalen - in extremer Weise verpönt. »One

man, one vote« -

ein Mann, eine Stimme: diese demokratische Parole ist des Teufels! Wir

brauchen — so sagten sie - zwar Parlamentsentscheidungshilfe, aber das nennen wir nicht Demokratie. Das haben früher einmal die Presbyterianer und andere Parteiungen im englischen Revolutionskampf des 17. Jahrhunderts - auch im Appell an die demokratischen Hoffnungen der Unterklassen - Demokratie genannt. Damals brauchte man für den Sieg des Bürgertums auch die Unterklassen, aber seit diese geschlagen sind, ist das Wort Demokratie des Teufels. (Daß sich alle Reaktionäre Demokraten nennen, wie das heute üblich ist, war in dieser Periode noch

keineswegs der Fall.)

28

Die englische Bourgeoisie und die amerikanische und französische Revolution

Die von den herrschenden Klassen so gefürchtete Verbindung der verelendeten Arbeitermassen zu diesen Intellektuellen- und Kleinbürgergruppierungen in den großen Städten deutet sich zwar gelegentlich an, aber sie kann schon aus einem einfachen Grunde nicht intensiv sein: Während die verschiedenen Geheimgesellschaften eifrig illegales Druckwerk produzieren und kolportieren, können die Arbeiter ja gar nicht lesen und schreiben. Teilbeziehungen entstehen gelegentlich, nur nicht in einem solchen Maße, daß sie etwa die Gesamtreaktion dieser Arbeiter-

massen hätten bestimmen können. Das fürchtet nur die Regierung, die deshalb ihre Ausnahmegesetzgebung gegen freie Meinungsäußerung immer weiter verschärft. Es entwickelt sich von der Wende zum 19. Jahrhundert an eine merkwürdige Reaktionsform unter diesen total verelendeten Arbeitermassen. Früher, in den Produktionsperioden vor dem Vordringen des industriellen Kapitalismus, waren ihre Lebenshaltungsmöglichkeiten ja etwas besser gewesen — jetzt waren sie äußerst elend. Man versetze sich in die Lage von Mürttern, die ihre Kinder in die Fabrik bringen müssen, wo

sie ruiniert werden; man versetze sich in die Lage von Müttern und Vä-

tern, die ihre Kinder verhungern sehen. Diese verelendeten Arbeiter er-

blicken zunächst im Industriebetrieb und in den Maschinen die Ursachen

ihres Elends. So entsteht seit Ende des 18. Jahrhunderts in immer neuen

Wellen die sogenannte Ludditenbewegung, die Bewegung der Maschinenstürmer.

29

4, Maschinenstürmerei, Unionismus und

Chartistenbewegung:

Die Frühzeit der englischen Arbeiterbewegung

Die Ludditenbewegung war eine Reaktion der aus früheren sozialen Verhältnissen herausgesetzten industriellen Arbeiter - eine vielleicht unlogische und verfehlte, aber sehr leicht verständliche Reaktion. Diese Arbei-

ter waren der Meinung: Was uns kaputt macht, das ist die Maschine. Dadurch, daß die Maschine

eingeführt worden

ist und produziert, haben

wir als Handwerker (beispielsweise als handwerkliche Weber) unsere früheren Arbeitsbedingungen verloren. Gelingt es uns, die Maschine zu zerschlagen,

können

wir unsere

früheren

zwar

schlechten,

aber eben

nicht so katastrophalen Verhältnisse zurückbekommen. - Dies war sicher eine Illusion. Aber diese Haltung ist verständlich bei all den Teilen der werdenden und der schon vorhandenen industriellen Arbeiterklasse, die zu den Bürgerrechts-Verschwörungen, die bereits erwähnt wurden, keinerlei Verbindung haben. So wiederholt sich diese Maschinenstürmerbewegung in immer neuen Wellen über mehr als ein Jahrzehnt. Die Staatsgewalt antwortet mit extremem Terrorismus. Wer Maschi-

nen zerstört, gemeinsam mit anderen handelnd, wird mit dem Tode bestraft. Diejenigen, die sich an solchen Aktionen beteiligen, werden massenweise aufgehängt und liquidiert; dadurch kann man die Bevölkerung wieder unterwerfen und zahm und verwertbar machen. Mit diesem blutigen Terror wird jede Welle der Ludditenbewegung niedergekämpft. Die Maschinenstürmerei vollzieht sich nämlich mit immer neuen Wiederholungen, da die später beteiligten, irrational reagierenden Arbeiter überhaupt nichts davon wissen, daß es in England einige Jahrzehnte vorher

analoge Protestbewegungen gegeben hat. Sie wissen bei den Maschinen-

stürmeraktionen von 1811 oder 1816 nicht mehr, daß es das ja schon En-

de des 18. Jahrhunderts gegeben hat, denn sie haben ja keinerlei Ausbildung und können keine Literatur lesen. Es zeigt sich bei der Maschinenstürmerei, daß sie jeweils dann am

stärksten auftritt, wenn ökonomische Krisen ausbrechen und die Arbeits-

losigkeit zunimmt. Diesen Zusammenhang werden wir auch bei den folgenden Phasen der Arbeiterbewegung beobachten. Es gibt für die Maschinenstürmerei nicht nur das englische Beispiel. Solche Phasen der

30

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

Entwicklung wiederholen sich in großen zeitlichen Abständen in allen europäischen Nationen, auch bei uns ın Deutschland, wenn auch relativ spät - drei Jahrzehnte später. Sie wiederholen sich hier später, aber in fast den gleichen Formen und mit fast den gleichen Reaktionen der öffentlichen Gewalt. Es sei nur auf den schlesischen Weberaufstand von 1844 verwiesen, der durch Heinrich Heines Weberlied und Gerhart Haupt-

manns Drama sehr bekannt ist. Auch in Frankreich finden wir solche Bewegungen. Der Lyoner Seidenweberaufstand von 1831 hat ebenfalls stark maschinenstürmerischen Charakter. Aber die Maschinenstürmerei mußte sich totlaufen. Einerseits unterlag sie dem wirksamen Terror der Staatsgewalt (der allerdings zuneh-

mend Bedenken selbst in den höchsten Schichten hervorruft, wie etwa das Auftreten des Dichters Lord Byron im englischen Oberhaus zeigt). Andererseits wächst in der Arbeiterklasse die Einsicht, daß sich auf die-

sem Wege ihre Lage rnicht verbessern kann. Es beginnt langsam und wiederum verbunden mit großen Widersprüchen eine rationalere Reaktion der werdenden und jetzt schon existenten industriellen Arbeiterklasse in England. Die Arbeiter, die das Elend ihrer Kinder sehen, die in den Arbeitsprozeß einbezogen sind, beginnen sich unter der Forderung zu sammeln, daß Kinderarbeit zunächst einmal mindestens beschränkt werden muß. Sie fordern für die Unternehmer, die Kinder arbeiten lassen, Auflagen, die Kinderarbeit menschlicher und deren Arbeitszeit kürzer zu

machen. Diese Forderung wird auch in den Bürgerrechtsbewegungen der

Intellektuellen und Kleinbürger diskutiert, die nun - nach den militäri-

schen Erfolgen gegen das Napoleonische Kaiserreich (das gleichwohl viele Errungenschaften der französischen Revolution bewahrt hatte) - von der englischen Regierung nicht mehr so scharf unterdrückt werden. Kritisches Denken kann sich wieder relativ legal äußern (die volle Legalität

wird allerdings erst nach dem völligen Sieg über Napoleon 1815 wieder

gewährt). Jetzt kann es auch in Teile der industriellen Bourgeoisie, die

über ihre längerfristigen Interessen nachdenken, eindringen und Kräfte der offiziösen Intelligenz im Staatsapparat beeinflussen. Das prägt sich zunächst bei den Whigs aus, also bei der Partei, die fortschrittlichere Gesamtinteressen repräsentiert als die Tories, die immer noch die stursten

und beschränktesten Formen der unmittelbaren Interessen des Großgrundbesitzes vertreten. In dieser Periode rascher Industrialisierung (England beherrscht nun nach der Ausschaltung Frankreichs den Weltmarkt voll) wächst die Tendenz zu einem rationaleren, längerfristige Interessen verfolgenden und nicht mehr an den unmittelbaren Tageserfolg gebundenen Denken auch in Teilen der englischen industriellen Bourgeoisie sowie in den akade-

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

31

misch ausgebildeten Schichten (England muß ja wegen seines ungeheueren Kolonialreiches ständig eine breite Akademikerschicht für dessen Verwaltung und Ausbeutung produzieren). Diese Tendenz schlägt sich einerseits ım Streben nach ersten Kinderschutzgesetzen nieder und anderer-

seits ım Bemühen um eine Verbreiterung der Volksbildungsinstitutionen

(also des Schulwesens, wie es die Church of England aufbaut), weil der

industrielle Kapitalist nun Arbeiter braucht, die wenigstens kleine Anweisungen lesen können, ganz abgesehen davon, daß er ja immer auch Arbeiterschichten — beispielsweise im inzwischen industrialisierten Druckwesen - braucht, die voll ausgebildet sind.

Deshalb bemerken wir damit vergrößert sich die beiterklasse. An die Stelle treten die ersten Anfänge Organisationen.

jetzt eine Ausbreitung der Volksbildung - und rationale Reaktionsfähigkeit der englischen Arder Maschinenstürmerbewegung der Ludditen des Unionismus, die ersten gewerkschaftlichen

Sie verbinden sich sehr rasch mit der Forderung nach

Einführung des allgemeinen, gleichen und auch direkten Wahlrechts, wie

sie von den fortschrittlichen Teilen der Intelligenz (in Übereinstimmung mit den formalen Bestimmungen des amerikanischen wie des jakobinischen französischen Verfassungsrechts) vorgebracht wird. So finden wir im England des beginnenden 19. Jahrhunderts diese beiden Tendenzen zunächst neben- und dann miteinander: die Tendenz zur Umwandlung

der ludditischen, der maschinenstürmerischen Explosionen, die nur im Selbstmord enden, in quasi gewerkschaftliche Verbände und die Tendenz, eine demokratische Verfassungsreform zu fordern. Diese kombi-

niert sich zeitweise mit ähnlichen Bestrebungen in den industriellen Oberklassen. Denn jetzt wächst die demokratische Wahlrechtsbewegung im Bürgertum, vor allen Dingen in der Schicht der Intelligenz, aber auch

in der industriellen Bourgeoisie. In manchen Gebieten war nämlich der industrielle Kapitalist, obwohl er der weitaus reichste Mann war und den

größten Einfluß hatte, in der Wahlrepräsentation des einzelnen Wahlkreises ausgeschaltet, weil die alten Eliten das Wahlrecht hatten: die Pfar-

rer, die Grundherren etc. Diese wählten dann nicht den Whig, den Vertreter der industriellen Kapitalisten, sondern den Tory zum Abgeordne-

ten. Und das paßt großen Teilen der industriellen Bourgeoisie natürlich nicht. Es gibt aber auch Kräfte der industriellen Bourgeoisie, die anders denken, vor allem diejenigen, deren Betriebe und deren Wohnsitze in Regionen lagen, die ohnedies total von der industriellen Bourgeoisie beherrscht waren. Die sagten sich: Eine Veränderung des Wahlrechts ist unsinnig. Die nützt mir gar nichts, denn bislang herrsche ich allein. Kann ich wissen, was meine industriellen Arbeiter, die ja die große Mehrheit

der Wähler stellen würden, machen werden, wenn ich nicht mehr allein

32

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

das Wahlrecht habe? — So ist die industrielle Bourgeoisie - und auch das Bankkapital - durchaus nicht einer Meinung in dieser Frage. Unbedingte Anhänger des alten englischen Wahlrechts waren natürlich nur die Tories und die Großgrundbesitzer. Die ganze damalige ökonomische Theorie der industriellen Bourgeoisie wie des Großteils des Finanzkapitals beruht zunächst auf den Theorien von Adam

Smith und dann

von David Ricardo,

den großen

liberalen

Begründern der politischen Ökonomie als Wissenschaft. Weil sie die Marktverhältnisse analysierten und die Vermittlung der Produktion zum Konsumenten als das Hauptproblem rationaler Anleitung der Produkti-

on ansahen, waren sie der Meinung, der Markt sei die auf Dauer für die

Menschheit ideale Vermittlung der Produktion und ihres Wachstums durch Konkurrenz. Nach dieser Auffassung sind alle Zölle nur Behinderung des Marktes. »Weg mit den Zöllen — Freihandel« ist die Parole. Das entsprach den realen Interessen der britischen industriellen Bourgeoisie. Während diese die Meinung vertritt, eine langsame Veränderung oder Verbesserung der arbeitenden Schichten könne sich nur aus dem Markt

und durch Wachstum der Profite ergeben, kommen Vertreter der heranwachsenden ökonomischen Wissenschaft, Schüler von Smith und Ricardo, zu der Auffassung: Man muß etwas für die industriellen Proletarier tun, denn

deren Marktbedingungen

für den Verkauf ihrer Arbeits-

kraft sind als Masse so, daß sie nur in geschlossenen Gruppen die Wirk-

lichkeit verändern können, also müssen sie auch das Recht zur Bildung von »Unions«, von Gewerkschaften, haben, die ihre Interessen gegenüber

den industriellen Kapitalisten begrenzt zum Ausdruck bringen können. Aber aus der Zeit der generellen Bekämpfung der radikalen Demokratie während der Kriege mit Frankreich durch das englische Parlament und seine Regierung und aus der Zeit der groben Verfolgung der Ludditen heraus glaubt damals noch die Mehrheit auch der englischen Bourgeoisie — nicht nur der Tories -, solche Vereinsgründungen zur Vertretung

materieller Interessen der Arbeiter weiter unterdrücken zu müssen. Erste gewerkschaftliche Versuche sind auch aus anderen Gründen, aus den Widersprüchen des handwerklichen Produktionssystems heraus, in fast allen europäischen Ländern zu dieser Zeit streng verboten. In den Gesellenverbänden - die in gewisser Weise die Vorläufer der Gewerkschaften sind — sieht bereits im 16. Jahrhundert der Handwerksmeister, aber auch der städtische Großkaufmann eine ungeheure Gefahr, und so

werden sie zum Beispiel in dem ansonsten machtlosen deutschen Reich 1731 durch ein Reichsgesetz verboten. Selbst in der französischen Revolution wurden Streiks und Koalitionen von der gesetzgebenden Versammlung untersagt (Loi Le Chapelier 1791). Es mußte daher eines der

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

33

Hauptziele der rationaler werdenden englischen Arbeiterbewegung sein, diese Verbote zu beseitigen und das Koalitionsrecht zu erkämpfen. Aber hierfür muß man in England die Zustimmung des Parlaments bekommen. Eine solche Zustimmung erhält man im Unterhaus aber nur, wenn das Wahlrecht demokratisiert wird. Deshalb laufen die Bestrebungen

nach demokratischem Wahlrecht und nach Koalitionsfreiheit dort fast parallel. In England waren die ersten Versuche zur Gründung von Arbeiterorganisationen in der Zeit der französischen Revolution aufgetreten. 1792

hatte der Londoner Schuhmacher Thomas Hardy die erste der »Corresponding societies« gegründet, in denen sich in den folgenden Jahren Tau-

sende von Arbeitern organisierten. Sie wurden - wie gewerkschaftliche Vereine — rasch verboten (Combination Act von 1799). Die werdende Bourgeoisie fürchtete, ihr Profit würde durch die Tätigkeiten von Gewerkschaften, die bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Arbeiter durchsetzen könnten,

geschmälert. So besteht in England immer noch

ein striktes Verbot gewerkschaftlicher Koalitionen, das (weil es halb ın Vergessenheit geraten war) zu Beginn der-20er Jahre des 19. Jahrhunderts besrätigt wird, als sich erneut Versuche zur Bildung von »Unions« regen.

Gegen diese Unterdrückungspolitik treten der aufgeklärte linke Flügel des englischen Bürgertums und der soziale Flügel der Kirche auf. In der Kirche, die einerseits in Perioden der Arbeitslosigkeit noch immer Fürsorgefunktionen innehatte, um die Proletarier vor dem Verhungern zu

bewahren, und die andererseits (mit teilweiser Unterstützung der Bourgeoisie, die qualifiziertere Arbeitskräfte benötigte) ein Volksbildungswesen errichtet hatte und so in unmittelbarer Verbindung mit den elenden und ausgebeuteten Massen stand, hatte sich ein solcher sozialer Flügel

herausgebildet, der sich in der Folgezeit ständig erneuerte. Dieser Um-

stand erklärt auch einen wichtigen Unterschied zur deutschen Entwick-

lung. Während in Deutschland die Sozialdemokratie später wegen der totalen Identifikation der Kirchen - beider Kirchen - mit der Unterdrükkungsfunktion des Staates und den Ausbeuterklassen zu einer unbedingt antichristlichen Partei wurde (wenn das auch nicht immer deutlich ausgesprochen wurde), entwickelte sich das Verhältnis von Kirche und Arbeiterbewegung in England durch das Wirken des sozialen Flügels der Kirche anders. Der Kampf um soziale Forderungen (Kinderschutzgesetze) und um Koalitionsfreiheit tritt 1819 mit den Massendemonstrationen in Manchester in eine neue Phase. In langwierigen Auseinandersetzungen gelingt es der Arbeiterbewegung 1824, die Aufhebung des Koalitionsverbotes durchzusetzen (wobei die Interessengegensätze zwischen den Tories und der

34

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

aufstrebenden Bourgeoisie zum Tragen kommen und die bestehende Hochkonjunktur dieses Zugeständnis in den Augen der Fabrikanten vertretbar erscheinen läßt). Das hieß nun allerdings keineswegs, daß der Unionismus jetzt völlig von ihn einschränkenden Gesetzen frei gewesen wäre und freie Gewerkschaften im heutigen Sinne hätten existieren können. Zunächst waren nur die besser ausgebildeten und erfahreneren Teile der Arbeiterklasse bereit, das Risiko zu tragen, ın Gewerkschaften zu gehen und deshalb immer wieder schikaniert zu werden, hingegen noch nicht die breiten Massen der ungelernten Arbeiter. Aber die Aufhebung

des absoluten Gewerkschaftsverbotes verbessert die Kampfmöglichkeiten der Arbeiterbewegung beträchtlich. Das Erstarken der nunmehr legalen

»Unions« und deren Aktivitäten und Streiks bewegen nach langen Auseinandersetzungen das Parlament endlich 1833 dazu, mit den Fabrikgesetzen Kinderschutzvorschriften zu erlassen und zur Kontrolle ihrer Einhal-

tung staatliche Fabrikinspektoren einzusetzen. So hat sich einerseits in der englischen Arbeiterklasse die Tendenz

durchgesetzt, durch Bildung von Gewerkschaften die Konstituierung der

Arbeiterklasse aus einer amorphen Masse in eine organisierte Klasse, die

sich zu wehren weiß, zu betreiben. Andererseits kommt es gleichzeitig —

und das bestimmt die Weiterentwicklung der Arbeiterbewegung in dieser frühen Phase wesentlich - zu einer Verbindung dieser rein ökonomischen

Reaktion

der Arbeiterklasse

(die im

Streik

ihr

ökonomisches

Kampfmittel sieht) mit politischen Mitteln und Zielen. Denn in diesen Gesetzen, so schwach sie waren, hatten die englischen Industriearbeiter,

aber auch der linke Teil der demokratischen Intelligenz, gesehen: es waren zwar - nach schweren Kämpfen und großen Opfern - bestimmte Re-

gulations- und Arbeitsschutzmaßnahmen im Parlament durchsetzbar, aber doch nur in sehr unzureichendem Maße, denn der Widerstand der

Bourgeoisie und in solchen Fragen natürlich auch der Großgrundbesitzer

war groß. Deshalb mußte man den Kampf um die Veränderung des Wahlrechts wieder aufnehmen, damit im Parlament auch die breiten Massen zu Gehör kommen konnten. So wächst jetzt die Wahlreformbe-

wegung, vorangetrieben zunächst von Teilen der kritischen Intelligenz, aber auch von Teilen der industriellen Oberklasse, die durch die perma-

nente Aufrechterhaltung der hohen Agrarschutzzölle behindert ist und nicht weiß, wie sie diese loswerden kann, wenn nicht das Wahlrecht verändert wird. Insoweit unterstützen auch die Liberalen eine zunächst von den jakobinischen Gesellschaften und dann auch von unionistischen Kreisen organisierte Massenbewegung, die große Petitionen mit Unterschriften zugunsten eines demokratischen Wahlrechts, die ans Parlament

gerichtet sind, als Kampfmittel einsetzt. Demonstrationen für demokrati-

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

35

sches Wahlrecht werden jetzt auch durch die »Unions«, also durch die

industrielle Arbeiterklasse vorangetrieben, die begreift, daß sie, um politischen Einfluß zu nehmen, die Wahlrechtsbewegung unterstützen muß.

So entstehen die Vorbedingungen für das, was man die chartistische Bewegung nennt, die eine Volks-Charta (the People’s Charter), eine Ausweitung

der Freiheitsrechte, vor allem die Einführung des allgemeinen, gleichen, freien Wahlrechts durchsetzen will. In dieser ersten Welle der Entwicklung tritt zwar allgemein das chartistische Interesse stark in den Vordergrund, doch nicht bei allen Denkern.

Da gibt es zum Beispiel in dieser Zeit schon einen englischen Intellektuellen und Textilindustriellen, der sich in seinen Denkprozessen aus dem unmittelbaren Interessenzusammenhang seiner Klasse löst: Robert Owen.

Er kommt um 1820 zu folgenden Überlegungen: Industrialismus ist nötig, aber wenn wir ihn weiter auf kapitalistischer Grundlage berreiben,

dann betreiben wir notwendig gleichzeitig die Verelendung der Massen der Produzenten, während doch andererseits dieses Industriesystem die

Chancen schafft, immer größere Massenbedürfnisse zu befriedigen. Ich

selbst möchte meine Arbeiter besserstellen, aber wenn ich das täte, dann

würde ich spätestens in der nächsten größeren Krise niederkonkurriert.

Auf diesem individuellen Wege geht das nicht, also muß ich große Un-

ternehmen schaffen, die genossenschaftlich organisiert sind und nicht

durch einen industriellen Kapitalisten, der Mehrwert machen muß, weil er sonst Pleite machen würde. - Owen begann seinen Betrieb genossenschaftlich zu organisieren und folgerte weiter: Ich muß den Unionismus fördern, ich muß jedes Bildungsstreben der Arbeiter fördern, und ich muß den »Unions«, den Gewerkschaften beibringen: es genügt nicht,

wenn ihr die Abschaffung der Kinderarbeit und erwas bessere Löhne fordert, um nicht zu krepieren. Sondern ihr müßt euch das Ziel setzen, eine

Gesellschaft zu erreichen, in der es industriellen Kapitalismus nicht mehr

ausschließlich

als Wettbewerbskapitalismus

Unternehmer

ihren Betrieb

von

industriellen

Privatei-

gentümern gibt. Die erste Stufe in dieser Richtung ist, daß industrielle zunächst

in Beteiligungsform vergenossen-

schaftlichen, der dann vom Staat gegen das Totkonkurrieren geschützt werden muß, um die neue genossenschaftliche Wirtschaftsform gegen die existente kapitalistische Wirtschaftsordnung allmählich durchsetzen zu können. Dieses Denken von Robert Owen dringt jetzt in die »Unions« ein, wenn auch zunächst die Wahlrechtsfrage allein weiter ım Vordergrund steht. Die Chartistenbewegung, diese Demonstrationsbewegung für demokratische Verhältnisse und demokratisches Wahlrecht in England, ist von ihrem Ursprung und ihren ersten Trägern her nicht nur Arbeiter-

36

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

bewegung, aber sie ist jetzt der Masse der Anhänger nach Arbeiterbewegung. Überall schließen sich die englischen Industriearbeiter und ihre

Frauen begeistert dieser Bewegung an. Verstärkt wird sie durch die erste

internationale zyklische Krise des Kapitalismus, die 1825 ausbricht, und durch die revolutionären Prozesse 1830 auf dem Kontinent (Frankreich, Belgien, Polen). Im englischen Parlament sind jetzt alle Teile der Bourgeoisie, auch die reaktionärsten, für eine Veränderung des Wahlrechts.

Denn sie wollen endlich die Bevormundung durch den Adel, durch die

Großgrundbesitzer loswerden. Und das bedeutet, daß im Unterhaus kla-

re Mehrheitsverhältnisse im Interesse der Bourgeoisie geschaffen werden

müssen, um von dort aus eine rationalere Gesamtpolitik des Staates auch

in der Krise zu betreiben. Es finden sich plötzlich Anhänger der Verän-

derung des alten restriktiven Wahlrechts bis in einen jetzt entstehenden halblinken Flügel der Tories hinein, die begreifen, daß sie Konzessionen machen müssen: sonst könnte das ganze System explodieren. Die Ausein-

andersetzung um die Reform des Wahlrechts tritt in eine entscheidende Phase. Zum ersten Mal gelingt es dieser Chartistenbewegung, weil in den Jahren von 1815 bis 1830 auch ein großer Teil der englischen Arbeiter die ersten Schreibzüge gelernt hat, so daß sie ihren Namen schreiben konn-

ten, Millionen Petitionen an das Parlament für eine demokratische Wahlrechtsreform,

für die Wahlrechts-Charta

zusammenzubringen.

Organi-

siert wird das von den wenigen bestehenden »Unions« (z.B. »Grand Union of Spinners« 1829, »National Association for the Protection of Labour« 1830). Es kommt zu Massenaktionen und Massendemonstrationen. Um

eine Systemgefährdung zu vermeiden

und als Ergebnis

eines

Klassenkompromisses mit der Feudalklasse setzt die Bourgeoisie eine Revision des Wahlrechts, die Reformgesetze von 1832, durch, die gleichzeitig die Voraussetzung dafür bilden, daß später durch die Revision der Steu-

ergesetze dem Prinzip des freien Marktes größerer Einfluß gewährt wird.

Aber in dieser Reformgesetzgebung werden die Massen von der liberalen Bourgeoisie betrogen. Denn das demokratische, allgemeine, gleiche Wahlrecht, wie es die Massenbewegung des Chartismus gefordert hat,

wird nicht gewährt. Diese Massenbewegung, die durch ihr Andrängen

dem Liberalismus in England die Macht gab, seine eigenen Interessen in

Form dieses Kompromisses durchzusetzen, erreicht nichts von dem, was sie gewollt hat. Das Resultat der Reformgesetze besteht zwar darin, daß die Zahlen der Wahlberechtigten steigen, aber nur auf etwa 15-20% der

männlichen Bevölkerung. Das Wahlrecht erhalten jetzt alle, die ein bestimmtes Bildungsmaß, nämlich erste Grade einer Universität haben (das entsprach nicht dem, was etwa bei uns eine volle Universitätsausbildung

bedeutet, sondern weniger). Aber eine solche Ausbildung hatten ja nur

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

37

Angehörige der »middle classes« und anderer Kreise von einer bestimmten Höhe

des Einkommens

an. Von Arbeitern konnte sie nirgends er-

reicht werden. So haben jetzt zwar die alten Feudalklassen plus »middle

classes« das Wahlrecht, nicht aber die Arbeiterklasse. Und damit war die-

se Bewegung, vom Interesse der Arbeiterklasse, aber auch eines Teils der unteren Mittelschichten aus gesehen, gescheitert. Die Bourgeoisie erntet

als Konsequenz die Steuerrevisionen, die sie wünschte, und auch Bereinigungen der Zollgesetze. Die Arbeiterklasse bekommt einen Tritt in den Hintern. Gegen diesen Klassenkompromiß kommt es seitens der Arbei-

terklasse zu großen Protestdemonstrationen. Die Arbeiter, vorher aufge-

rüttelt durch die von den »middle classes« mitgestützten Unterschriftensammlungen für ein demokratisches Wahlrecht, an denen Millionen teilgenommen hatten (ein für England damals völlig neuer Vorgang), fühlen sich betrogen. Die Massenkundgebungen werden verboten und in einzelnen Fällen von der Armee zusammengeschossen (Newport 1839). Der Wahlrechtskampf endet also in dieser ersten Phase mit einer Nie-

derlage der englischen Arbeiterklasse, die sich nunmehr verstärkt auf den ökonomischen Kampf und den Aufbau von Gewerkschaften konzen-

triert, wobei die Ideen Robert Owens jetzt eine größere Rolle spielen. Bei

Owen finden sich (wie bereits erwähnt) zwei Elemente der Entwicklung

der englischen Arbeiterbewegung: einerseits das Element des Unionismus, d.h. der Entwicklung der gewerkschaftlichen Bewegung und des unmit-

telbaren Kampfes gegen die Unternehmer um die Sicherung des Lohnes, andererseits das (in dieser Form nur aus der damaligen Situation heraus verständliche) Element des genossenschaftlichen Denkens, das auch in der späteren englischen Arbeiterbewegung stets große Bedeutung behält. Bei Owen treten zwei Seiten dieses genossenschaftlichen Denkens auf. Owen,

im Grunde ein aufgeklärter antikapitalistischer Kapitalist, sieht,

haben

kann,

welch ungeheuer positive Bedeutung die Technisierung für die gesamte Menschheit durch Einsparung gesellschaftlich notwendiger Arbeitskraft daß aber diese positive Möglichkeit,

wenn

sie dem

Pro-

fitstreben unterworfen bleibt, durch das ständige Freisetzen von Arbeitskräften und die ungeheuerliche Ausbeutung der Arbeiterklasse im Frühkapitalismus überlagert und verhindert wird. Sein Lösungsvorschlag besteht darin, die industriellen Betriebe in das genossenschaftliche Eigen-

tum aller, die darin arbeiten, zu überführen. Sein Ziel sind also Produkti-

onsgenossenschaften (eine Richtung sozialistischen Denkens übrigens, die später auch in Deutschland bei Lassalle von Bedeutung ist). Andererseits sieht Owen, daß im Handel mit Lebensmitteln und Kon-

sumgütern ungeheure Verdienste erzielt und die Arbeiter betrogen werden. Zur Verbesserung der Lebensbedingungen fordert er, daß man er-

38

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

stens (und dieses Ziel verfolgt er gemeinsam mit einem Großteil der industriellen Bourgeoisie, nicht nur der Arbeiterklasse) das englische, die Großgrundbesitzer begünstigende Schutzzollwesen energisch reduzieren müsse, und daß man zweitens die Verteilung der Konsummittel genossenschaftlich organisieren müsse, um Sonderprofite des Handels auszuschalten. Owens Ideen führten auch zur Gründung von Konsumgenossen-

schaften.

So läuft neben der chartistischen Tradition und in manchen Phasen

mit ihr vereint beides, der Unionismus und das genossenschaftliche Den-

ken, zunächst auch weitgehend in personeller Identität der Kader der englischen Arbeiterbewegung, die sich in der Krise zu Beginn der 30er

Jahre bilden. Nachdem

durch die Reformgesetzgebung von 1832 die in-

dustrielle Bourgeoisie sich mit den anderen Oberklassen dahin geeinigt

hat, die Arbeiterklasse um das demokratische Wahlrecht zu betrügen, und die chartistische Bewegung zunächst geschlagen ist (auch wenn sie als solche durchaus noch weiterbesteht), verlagert sich das Schwergewicht der werdenden Arbeiterbewegung zur gewerkschaftlichen und zur genossenschaftlichen Seite hin, mit dem Hauptgewicht jetzt auf der gewerkschaftlichen Seite. In der Krise sind die Kampfbedingungen der Arbeiterbewegung natürlich angesichts der hohen Arbeitslosigkeit schlecht, sie verbessern sich erst im Aufschwung (ein grundlegender Tatbestand, den

wir auch in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik beobachten

konnten: erst nachdem die Krise von 1966/67 einem erneuten Aufschwung gewichen war, kam es 1969 zu den spontanen Streikaktionen). Der Tiefpunkt der Krise war in England 1829/30; danach beginnt langsam der Aufschwung zu einer großen, neuen Industrialisierungsphase. Nun reagiert das theoretisch noch gänzlich ungeschulte englische Prole-

tariat mit Unterstützung der »Unions«, und zwar reagieren nicht nur die Teile, die bisher schon von »Unions« erfaßt waren (das waren ım allgemeinen nur gelernte Arbeiter gewesen), sondern

auch die ungelernten

Massen. Die »Union«-Bewegung wächst ungeheuer rasch. Es entstehen große Diskussionen über die Frage: Wie sollen wir unsere Kämpfe führen? Durch Einzelkämpfe auf einzelne Gewerbe beschränkt (denn die englischen Gewerkschaften sind ja als Berufsorganisationen entstanden) oder als breite Streikbewegung des gesamten englischen Proletariats und wieder verbunden mit unseren Demokratisierungsforderungen in bezug auf den Staat? - 1833 entsteht der Plan einer »General Labour Union«, die durch den Zusammenschluß der Arbeiter in Produktionsgenossenschaf-

ten den kapitalistischen Unternehmen

die Arbeitskräfte entziehen und

eine sozialistische Wirtschaftsgesellschaft herbeiführen sollte. Diese Gedanken von Robert Owen führen 1834 zur Gründung der »Grand Natio-

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

39

nal Consolidated Trades Union«, die energische Gegenmaßnahmen der Unternehmer und des Staates hervorruft, die schließlich zum Zerfall des

großen Gewerkschaftsbundes mit seinen produktionsgenossenschaftlichen Ideen und zu seinem Verbot führen. Es kommt zu einer neuen Periode der englischen Reaktion, sozusagen zu einer feudal und industriekapitalistisch kombinierten Reaktion. Denn in den Wahlen, die nach der Reformgesetzgebung von 1832 stattfinden, verlieren die alten verstockten Tories ihre Majoritäten, weil jetzt das industrielle Bürgertum und andere Aufstiegsschichten das Wahlrecht erhalten haben; die Mehrheit geht an den realistischer denkenden Flügel der Whigs (der späteren Liberalen) über, eine Kombination aus rechtem Bür-

gertum und progressiveren Schichten des früheren Feudaladels, die begonnen hatten zu begreifen, daß man sich auf den Markt orientieren müsse. Es folgt eine Periode terroristischer Unterdrückungen der unionistischen Arbeiterbewegung, bei der jedoch eine ganze Reihe von gesicher-

teren Legalitätsrechten dieser Arbeiterbewegung übrigbleibt.

Wie bereits dargelegt, war 1824 schon die formelle Legalisierung von

Gewerkschaften in England erfolgt, wobei die Gewerkschaften faktisch auf die Organisierung der gelernten Spitzenberufe beschränkt blieben.

Jetzt werden

die Gewerkschaftsrechte etwas breiter, was jedoch nichts

grundsätzlich am fortgesetzten Terrorismus gegen die Arbeiterbewegung ändert. Ebenso ist es mit den Genossenschaften. Zwar scheitern Owens Genossenschaftsgedanken in der Praxis, doch befördern sie antikapitali-

stisches Denken in der Arbeiterklasse. So endet diese erste Periode der englischen Arbeiterbewegung damit, daß der Versuch der »Big Union«,

der Vereinheitlichung der gesamten Gewerkschaftsbewegung zu einer alle Berufsgewerkschaften umfassenden Einheitsorganisation - so viele Millionen sie auch vorübergehend zusammengeschlossen hat - scheitert und verboten wird. Aber »Unions« als Berufsgewerkschaften existieren weiter und setzen ihre Diskussionen und Aktivitäten fort. Ebenso scheitert die

Idee, die gesamte Industrie in ein Genossenschaftssystem auf der Basis kollektiven Eigentums zu überführen. Aber die Konsumgenossenschaften als legale und relativ breite Organisationen mit bestimmten Korrektivwirkungen gegenüber dem Markt existieren fort. Der Versuch der Bour-

geoisie, von der Begünstigung des feudalen Adels durch unerhört hohe Schutzzollwälle loszukommen,

setzt sich weitgehend durch; das gehört

zum Kompromiß der herrschenden Klassen bei den Reformgesetzen. Und davon profitiert im jetzt rasch beginnenden neuen ökonomischen Aufschwung im Rahmen der neuen großen Industrialisierungswelle zum Teil auch

die Arbeiterklasse.

Hinzu

kommt,

daß sich das Unterstüt-

zungssystem ın Arbeitslosenperioden als kommunales Hilfssystem doch

40

verbessert

Maschinenstürmerei, Unionismus und Chartistenbewegung

und

daß

Maßnahmen

in Richtung

einer Arbeiterschutz-

gesetzgebung, wenn auch zunächst nur für Kinder- und begrenzt für Frauenarbeit, durchgesetzt worden sind. Ebenso wird die Volksschulbil-

dung erheblich verbreitert und verbessert. Obwohl diese Maßnahmen zum Teil auch im Interesse der Bourgeoisie lagen, so bleiben trotz des Scheiterns der »Big-Union«-Bewegung doch etliche Anstöße übrig, die in dieser Form der englischen Arbeiterbewegung zu verdanken waren.

Die Krise von 1829/30, eine der ersten weltweiten Krisen in der ersten großen Aufschwungsphase des industriellen Kapitalismus, hatte auch in

anderen Ländern Folgen. Es war eine vom Weltmarkt ausgehende Krise.

Betrachten

wir nun

die größeren

Kämpfe

in anderen

entscheidenden

Ländern Europas. Diese Kämpfe beginnen in dem damals fortschrittlichsten Land Kontinentaleuropas, in Frankreich.

41

5. Von der französischen Julirevolution 1830

bis zum Vorabend der Revolution von 1848

In Frankreich war nach dem Sieg der finstersten Reaktion über den Fortschritt, nach dem Sieg der europäischen Koalition über Napoleon das Bourbonen-Haus von den Alliierten wieder auf den Thron gehoben wor-

den. Aber selbst der 1814/15-1824 regierende Bourbonen-König Lud-

wig XVIII hatte gewisse Konzessionen an die Periode der Großen Fran-

zösischen Revolution beibehalten müssen. Der Code Napoleon, die Zivil- und Strafgesetzgebung, d.h. die systematisierte Verrechtsstaatlichung Frankreichs, war geblieben. Zwar waren die Großgrundbesitzer wieder eingesetzt worden, aber Leibeigenschaft in irgendwelcher Form hatte man nicht wieder einführen können. Ansätze der französischen Industrialisierung hatten sich infolgedessen auch bei aller Reaktion der Bourbonen-Herrschaft (die ja zum System der europäischen Restauration, dem Mertternich-System, gehörte) weiterentwickeln können. Nicht nur die Entwicklung des französischen industriellen Kapitalismus, sondern

auch

gewisse Überreste der parlamentarisch-demokratischen Vorstellungsweise der französischen Revolution waren in der Restaurationsperiode erhalten geblieben. Das freie Wahlrecht war abgeschafft, aber ein Parlament war geblieben, das allerdings vom Adel beherrscht wurde. Das städtische

Bürgertum war nur schwach vertreten, denn Wahlrecht gab es nur für die

akademischen Schichten und die Großbourgeoisie. Aber immerhin, dieses Parlament existierte, und dort konnte öffentlich diskutiert werden.

Nun kommt die Krise von 1825, und gleichzeitig geht der französische Feudaladel — unterstützt von dem neuen ultrareaktionären König

Karl X. - zur Offensive gegen die Interessen und Rechte des Bürgertums

über. Folglich gerät ein großer Teil der französischen Bourgeoisie, vor allem des Bankkapitals, das damals in Frankreich eine große Rolle spielte, in schärfere Opposition gegen die Krone. Auf dem Höhepunkt der Krise (1830) kommt es auch zu Reaktionen

der Massen, die damals in den Städten noch vorwiegend aus Handwerkern bestehen, die, formell selbständig, für Verleger produzieren, die ıh-

nen die Waren abkaufen und dann auf den Markt bringen. Von diesen Verlegern, die zur Bourgeoisie gehören und mit dem Bankkapital verwoben sind, werden die kleinen Handwerker ausgebeutet. Daneben gibt es

42

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

Gesellen und — erst in geringer Zahl - abhängig Arbeitende in den ersten,

noch kleinen quasi industriellen Unternehmungen. Diese gesellschaftlichen Widersprüche fanden in Frankreich ihren Niederschlag in miteinander konkurrierenden Philosophien im gebildeten Bürgertum (wie dem Saint-Simonismus, Fourierismus, später dem Proudhonismus),' die alle im

Grunde verlängerte Formen des Aufklärungsdenkens der französischen Revolution waren, das sich über die Reaktionsperiode hinaus erhalten hatte. In diesen Philosophien mengten sich nun das Fortschrittsdenken der Revolution mit der Analyse der neuen Realität der werdenden kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft. Sie denken ähnlich wie in England Ro-

bert Owen (der allerdings viel realistischer war, weil er in einer höher industrialisierten Gesellschaft lebte) in Richtung auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ohne großes kapitalistisches Privateigentum. Dieses Denken wirkt in die französischen Unterklassen hinein, die dann 1830 rebellieren. Sie reagieren nicht mit Lohnkämpfen, nicht »unionistisch« wie in England, sondern mit einem politischen Aufstand gegen die reak-

tionären Bourbonen.

Die französische Bourgeoisie, auch das Bankkapital, kann sich dieses Aufstands der Massen bedienen. Bei bürgerlichen Revolutionen ist es ja stets so gewesen, daß nicht ihre eigentlichen Nutznießer auf den Straßen

kämpfen, sondern vielmehr die stärker unterdrückten Massen. So auch in der Julirevolution 1830. Die Bourbonen müssen gehen, und die Oberklassen (die Massen sind sich im Grunde des Tatbestandes bewußt, daß sie

noch nicht vollständig siegen können) bekommen in Verbindung mit dem bürokratischen Staatsapparat das Heft wieder in die Hand. Sie verständigen sich auf den Kompromiß des Übergangs zu einer neuen Form der Monarchie, die nun vom Haus Orleans, einem Seitenzweig der Bour-

bonen, gestellt wird. Der neue König Louxis-Philippe wird zu einer für die Bourgeoisie viel günstigeren Verfassung gezwungen. Die Bourgeoisie setzt Anfänge wirklicher Parlamentsvorherrschaft (natürlich mit nicht-demokratischem Zensuswahlrecht, das sie gegenüber den Massen absichert) und den Abbau der Großgrundbesitzer-Vorrechte durch. An die Macht kommt nun das Bankkapital (mit großen Interessen im quasi industriellen Verlagssystem), das mit den aufstrebenden industriellen Kapitalisten Kompromisse schließt. Natürlich ist die französische Arbeiterklasse nicht damit einverstanden, daß sie um die Erfolge des Kampfes, den sie selbst geführt hat, praktisch geprellt ist, wie das auch in England geschieht. Sie ist noch stärker 1

Zum französischen Frühsozialismus Fouriers, Saint-Simons und Proudhons vgl. Werner Hofmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, 6. Aufl. Berlin/New York 1979, unter Mitwirkung von Wollgang Abendroth und Iring Fetscher.

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

43

gepreilt als in England, denn in Frankreich bleibt das totale Gewerkschaftsverbot bestehen. Alle demokratischen Rechte gelten also nur für die Bourgeoisie, die Intellektuellenschicht und natürlich den Feudaladel, nicht aber für die Arbeiterklasse, auch nicht für die Gesellen und selbst

nur partiell für die größeren Handwerker. Somit bleibt die Unzufriedenheit auch in dem nun beginnenden konjunkturellen Aufschwung beste-

hen. Als der Aufschwung kommt, rebellieren neben den industriellen auch die im Verlagssystem beschäftigten Arbeiter vor allen Dingen in der Seidenindustrie von Lyon, der damals bedeutendsten Industrie Frankreichs. Es kommt dort 7831 zu einem riesigen Streik. Zeitlich findet er

parallel zu den Streiks in England statt, doch nicht mit so klaren Vorstellungsweisen, denn die Gewerkschaftsidee ist noch nicht klar entwickelt.

Der Streik scheitert am Terror der Staatsgewalt — der liberalen Staatsgewalt, die jetzt Frankreich regiert. So sehr die Liberalen auch immer nach allgemeinen Menschenrechten gerufen haben - diese Menschenrechte sollen ja immer nur für sie, nicht aber für die Unterklassen gelten. Nach

dem Scheitern der Streikbewegung muß in dem neuen ökonomischen

Aufschwung auch eine neue Periode der Verselbständigung der französi-

schen Arbeiterbewegung notwendig folgen. Die französische Revolution von 1830, die Entwicklung der französischen und englischen Arbeiterbewegung der 30er Jahre haben auch in Deutschland Konsequenzen gehabt. Dieses Deutschland ist damals noch industriell weit hinter England und Frankreich zurückgeblieben.

Gleichwohl bringt diese Periode einen Aufschwung demokratischer Bewegung, in der das industrielle Proletariat, das sich erst in ganz schwachen Ansätzen zu entwickeln beginnt, noch keine eigenständige Rolle spielen kann. Infolgedessen bleibt die deutsche Bewegung beschränkt auf Armutsschichten, die von demokratisch werdenden Intellektuellen mobi-

lisiert werden (ein typischer Fall ist Georg Büchner mit seinem 1834 erscheinenden

»Hessischen Landboten«), und auf Teile der Handwerker-

schaft und kleinbürgerliche Schichten. Die deutsche Bewegung verpufft nach ihrem Höhepunkt, dem Hambacher Fest von 1832, noch weitgehend

folgenlos. Nur die zollpolitische Vereinheitlichung der deutschen Staaten, die Entwicklung

des Zollvereins wird erreicht, der von Österreich

und Preußen organisiert wird, weil sich beide absolutistisch regierte Staaten darauf besinnen, daß durch Zollpolitik und Zollvereinheitlichung Ansätze wirtschaftlicher Vorwärtsentwicklung gefördert werden können. Aber die demokratische, liberale Bewegung versickert in Einzelbe-

wegungen in den zersplitterten deutschen Territorien. Jedoch hatte sich in all den deutschen Staaten das Handwerk verstärkt weiterentwickelt, obwohl es jetzt in Konkurrenz zu der Manufaktur und

44

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

den Anfängen

der Industrieproduktion

stand. Es war

ein wachsender

Überfluß an Handwerksgesellen entstanden, die zwar eine Ausbildung bekommen hatten, aber dann im Handwerksbetrieb nicht weiterbeschäftigt

werden konnten. Diese »überzähligen« Gesellen gingen nach Absolvierung ihrer Lehrlingsausbildung (bzw. -ausbeutung) auf Wanderschaft. Das Wanderschaftswesen der Handwerksgesellen, eine Überlieferung aus früheren Jahrhunderten, hatte sich im 19. Jahrhundert in vielen handwerklichen Berufen erheblich verbreitert. Die Gesellen zogen von Land zu Land und suchten ihre ökonomische Existenz nun keineswegs mehr nur in den deutschen Staaten, sondern in allen europäischen Ländern. (So reaktionär und brutal die Polizeikontrolle auch in der Restaurationszeit nach 1815 in allen deutschen und europäischen Staaten war, mit dem,

was wir heute selbst in bürgerlich-demokratischen Staaten an Totalüber-

wachung

beobachten,

war sie noch

gar nicht zu vergleichen, weil sie

technisch nicht möglich war.) Infolgedessen gab es in Frankreich eine große Zahl deutscher Handwerksgesellen, die hin und her wanderten, mal diese, mal jene Arbeit annahmen, dabei auch französisch lernten und

so mit einer neuen Stufe der Entwicklung der französischen Arbeiterbewegung in Berührung kamen. Nach der Niederlage der französischen Arbeiter im Lyoner Seidenar-

beiterstreik von 1831 belebt sich unter den sozialen Gruppen, die mit der

liberalen Bourgeoisie, die sich auf die Orl&ans-Dynastie orientiert hat und

sie durch die Großbanken beherrscht, unzufrieden sind, eine neue Form oppositionellen Verhaltens, die auch in die werdende französische Arbeiterklasse hineinwirkt. Die ersten, die diese neue Bewegung tragen, sind verständlicherweise - wie in Deutschland - Intellektuelle, die das Men-

schenrechtsdenken der Großen Französischen Revolution wieder ernst nehmen und vorwärtstragen wollen. In Deutschland sind es beispielsweise die Gießener Studentengruppe um die Brüder August und Karl Follen, Georg Büchner u.a. In Frankreich fragen sich Studenten und Jungintellektuelle, warum

die Revolution mit ihren demokratischen Vorstellun-

gen nicht gesiegt hat. Woran lag das, und was war der letzte große Ausschlag der französischen Revolution, von dem aus man doch in Richtung

Menschenrecht und Demokratie hätte weiterkommen können? Da bietet

sich an, an das anzuknüpfen, was bei der letzten großen Gegenwehr ge-

gen die Herrschaft der Bourgeoisie von seiten des Kleinbürgertums, das demokratisch dachte, als jakobinische Verschwörung, unmittelbar bevor es zum Siege Napoleons kommt, organisiert worden war: an Babeuf und dessen demokratische Konspiration von 1796. Also denkt man jetzt in Konspirationen, in engen Kadergruppen, die sich demokratisch schulen und überzeugt sind, daß man an die demokra-

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

tisch-progressive Diktatur der Jakobiner in der Großen

45

Französischen

Revolution wieder anknüpfen müsse, weil die Massen ja noch nicht soweit seien, selbständig zu handeln. Die Massen sollen zur wirklichen Demokratie hingeführt werden. So bildet sich in Frankreich eine Verschwörungsgesellschaft zunächst aus Studenten und Jungintellektuellen; dann stoßen auch zahlreiche Handwerker hinzu. Unter ihnen begmnt sich die proudhomstlsche

Philosophie durchzusetzen,

die zum

Teil in

Vorstellungen einer Konkurrenzwirtschaft von Genossenschaften denkt, welche die Grundlage der künftigen Gesellschaftsentwicklung bilden sollen. Dabei geht sie allerdings davon aus, daß diese Gesellschaftsform ohne

große gewaltsame demokratische Revolution durchgesetzt und sozusagen im natürlichen Ablauf der werdenden Industrialisierung erreicht werden kann. Beide Strömungen - die Babeufschen Verschwörergesellschaften und der Proudhonsche Frühsozialismus — entwickeln sich zwischen dem Ende der Revolutionsperiode von 1830 und der nächsten großen Krise, die um

1846 einsetzt und zur Revolutionsbewegung des Jahres 1848 überleitet, in

Frankreich nebeneinander. Mit diesen beiden Bewegungen kommen zwei Gruppierungen aus Deutschland in Berührung (allerdings stärker mit der konspirativen Bewegung der Geheimgesellschaften): die zu Beginn der 30er Jahre geflohe-

nen deutschen Intellektuellen, die der neuen Reaktionsperiode entgehen

wollen, und die deutschen Handwerksgesellen, die nach Frankreich gewandert waren. Diese hatten bereits lesen und schreiben gelernt und

stellten insofern ein Bildungspotential dar. So bildet sich parallel mit der

französischen Konspirationsbewegung eine deutsche, teils von Emigran-

ten, die nicht mehr nach Deutschland zurück können (das sind die Intellektuellen), teils von Handwerksgesellen, die sehr wohl zurück können und wollen und die also eine Kommunikation nach Deutschland hin schaffen können und - wenn auch in sehr kleinem Umfang - auch schaffen. Es sind keine großen Gruppen, die in die Geheimbundsarbeit einbezogen werden, vielmehr kleine, oft nur winzige, aber für die damalige

Stufe der deutschen Entwicklung doch sehr bedeutsame Gruppierungen. Die französischen Geheimgesellschaften - wie die »Societ& des Amis du Peuple« (Gesellschaft der Volksfreunde), die »Societe des Saisons« (Gesellschaft der Jahreszeiten) — haben allesamt Vorstellungen wie einst Babeuf: Eines Tages können wir durch einen Putsch von gut organisierten Geheimgesellschaften den König verjagen und die demokratische Republik unter unserer Führung proklamieren. - Für die Strategiebildung dieser Verschwörergesellschaften,

Vorstellungen

in denen

natürlich

die

unterschiedlichsten

existieren (schließlich sind es zunächst Intellektuellen-

Zirkel), ist eine direkte Traditionslinie zur Verschwörung des Gracchus

46

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

Babeuf von 1796 wichtig. Von dieser Verschwörung war ein Mann übrig-

geblieben: Filippo Buonarroti. Der hatte lange Jahre im Kerker verbüßt

(die meisten Verschwörer - auch Babeuf - waren 1797 hingerichtet worden), und als er endlich freikommt, geht er nach Belgien und schreibt

seine Memoiren über die Verschwörung des Babeuf. Dieses Buch‘ wird

zur Fibel der gesamten Verschwörungsbewegungen. Babeuf hatte bereits

die Anschauung vertreten, daß die demokratische Republik nur zu sichern sei, wenn man die Interessen der abhängig Arbeitenden einbeziehe. So bildet Buonarrotis Buch, das diese Babeufschen Gedanken enthälrt, ei-

nen ideologischen Beitrag zur Kombination der demokratisch-intelJektuellen Verschwörerbewegung mit den Vereinigungen der Hand-

werksgesellen und Arbeiter. Der Gedanke einer Zusammenarbeit breitet sich in diesen Geheimbewegungen langsam aus.

Ein Teil der Geheimbünde gerät unter die Führung eines Mannes, der

für die französische Arbeiterbewegung eine große Rolle spielen sollte, ei-

ne teils progressive, teils utopische: Auguste Blangui.? Um Blanqui bilder sich die extrem putschistische, aber auch die an Arbeiterforderungen und die Vertretung von Arbeiterinteressen am radikalsten anknüpfende Gruppierung innerhalb der Verschwörungsbewegungen und konstituiert sich als selbständige

Organisation:

die bereits erwähnte

»Gesellschaft der

Jahreszeiten« (Societ€ des Saisons). Man überschätze jedoch die Breite dieser Bewegung in den ersten Jahrzehnten nicht. Blanqui verschwindet nach einem unsinnigen Putschversuch im Mai 1839 wieder für ein Jahrzehnt hinter Gittern (Blanqui hat drei Viertel seines Lebens im Kerker zugebracht), aber was er gedacht und organisiert hat, das wirkt weiter.

Die deutschen Geheimzirkel in Paris, in Lyon usw. fangen an, sich

zusammenzuschließen, und sie beginnen, das frühsozialistische Denken

in England und Frankreich, die Konzeptionen von Robert Owen und Pierre Joseph

Proudhon,

vor allen Dingen

aber die Schriften Filippo

Buonarrotis zu rezipieren. So entsteht zunächst der »Bund der Geächteten« (1834), dann der »Bund der Gerechten« (1836), ein Bund von Handwerkern und Jungintellektuellen, der seine »Gemeinden« auch in DeutschJand organisieren will. In dieser Bewegung von wenigen Studenten und vielen Handwerksgesellen wird darüber diskutiert, daß man eine Gesellschaft ohne kapitalistisches Privateigentum brauche. Im »Bund der Geächteten« fing das an, ım »Bund der Gerechten« wird dieser Gedanke zur 2 3

Vgl. Filippo Buonarroti: Babeuf und die Verschwörung für die Gleichheit, hg. von Anna und Wilhelm Blos, Stuttgart 1909; Bonn-Bad Godesberg 2. Aufl. 1975 (zuerst im Original erschienen: 1828).

Vgl. Auguste Blanqui: Instruktionen für den Aufstand. Aufsätze, Reden, Aufrufe, hg. von Frank Deppe, Frankfurt a. M. 1968.

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revohution von 1848

47

herrschenden Ideologie. Der »Bund der Gerechten«, der eng mit Blanquis

»Gesellschaft der Jahreszeiten« kooperiert, nimmt eine eindeutige Haltung gegen das kapitalistische Privateigentum ein. Er errichtet sogar in

England Gemeinden, denn deutsche Handwerksgesellen wandern auch dorthin. Der Bund gerät nach Blanquis gescheitertem Aufstandsversuch

(1839), in den er verwickelt war, in den Verfolgungsstrudel durch die

französische Geheimpolizei und die Verfolgungsbehörden des Deutschen

Bundes. Schon aus diesem Grund gehen viele Emigranten weiter nach England, wo liberalere Verhältnisse herrschen. Im »Bund der Gerechten«

wird nun ein durch Anlesen aller möglichen Schriften autodidaktisch

hochgebilderer Handwerksgeselle, Wilhelm Weitling,* zum fahrenden Ideologen. Er kommt aus Deutschland und ist auch lange in der Schweiz

gewandert.

Seine Philosophie gelangt unter Einbeziehung christlicher

Gedankengänge zu dem Resultat: Wir müssen eine kommunistische Ge-

sellschaft schaffen, in der alle gleichberechtigt sind, alle gemeinsam die

Produktion in einer Form organisieren, in der das kapitalistische Privat-

eigentum mit seinen Konkurrenzverhältnissen abgeschafft wird, damit die Krisen, die uns dauernd bedrücken, und die schreckliche Ausbeutung

der Arbeiter in Deutschland und in Frankreich (England kennt er kaum)

verschwinden. Da die wellenweise Verfolgung all dieser Gesellschaften durch die französische und deutsche Polizei weitergeht, ändert sich an der Arbeitsweise dieser Bünde nichts. Sie müssen in dieser Verfolgungssituation

streng konspirativ - und damit klein - bleiben und können noch nicht auf Massenkämpfe gerichtet sein, denn anderenfalls säßen sie ja sehr bald alle wie Blanqui hinter Gittern - und es saßen in Frankreich viele hinter Gittern. In diesem Jahrzehnt, das auf die große Krise von

1847/48 zu-

läuft, das gleichzeitig eine erhebliche Expansion der Anfänge industrieller Produktion auch in Kontinentaleuropa aufweist (man denke z.B. an den deutschen Eisenbahnbau), wächst die Einsicht in die Ursachen der Krise in den drei Ländern, die damals im Zentrum der europäischen Entwick-

lung stehen: England, Frankreich und Deutschland. Die Krise kommt ab 1846/47 zur Entladung. Sie geht von den Vereinigten Staaten aus, die inzwischen mit ihren Nordstaaten eine der großen industriellen Mächte geworden sind, und greift nach England über. Sie ruft dort sofort eine neue große Welle sowohl der chartistischen wie der unionistischen Bewegung hervor, die sich rasch ausbreitet und zu Massenstreiks und Massendemonstrationen führt. Den Höhepunkt dieser Bewe4

Vgl. Wilhelm Weitling: Garantien der Harmonie und Freiheit, hg. von Bernhard Kaufhold, Berlin 1955 (zuerst erschienen 1842); ders.: Das Evangelium eines armen Sünders, Leipzig 1967 (zuerst erschienen 1845).

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Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

gung bildete die Massendemonstration von 100000 Arbeitern auf dem

Kennington Common (London) vom 10. April 1848, die von Polizei und

Militär aufgelöst wird. Das Parlament verwirft - wie schon 1839 und 1842 - erneut die Wahlrechts-Charta. Damit ist wieder einmal die charti-

stische Hoffnung auf gleiches Wahlrecht für lange Zeit dahin, trotz der drei Millionen Unterschriften, die die Arbeiter für die Wahlrechtsforde-

rung organisieren konnten, Die Krise greift über nach Kontinentaleuropa und führt dort zu stärkeren Explosionen. In ihrem Vorfeld kommt es zu einer denkwürdigen

Veränderung im »Bund der Gerechten«, der nun zum »Bund der Kommunisten« wird. Bei dieser Entwicklung spielen Karl Marx und Friedrich Engels bald eine entscheidende Rolle. Engels hatte bereits große Erfahrungen aus der englischen Arbeiterbewegung und der englischen Industrialisierung gewonnen und diese in seinem Buch über »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«* (1845) verarbeitet. Er war als Spitzenangestellter des großen Textilunternehmens seiner Brüder nach England gekom-

men und hatte Marx schon um die Mitte der 40er Jahre mit dem englischen frühkommunistischen Denken vertraut gemacht. Marx hatte, nachdem die von ihm redigierte linksliberale »Rheinische Zeitung« ın Köln von der preußischen Regierung verboten worden war, 1843 nach Paris emigrieren müssen. Dort hatte er seine ersten großen philosophischen Manuskripte geschrieben, und dort traf er auch mit Engels zusammen. In Paris und - nach Marx’ Ausweisung aus Frankreich 1845 — in Brüssel traten Marx und Engels in Verbindung mit den deutschen Handwerkervereinen und dem »Bund der Gerechten«. Sie gründeten das »Kommunistische Korrespondenz-Komitee«, das den utopisch-sozialistischen Vorstellungen, die den »Bund der Gerechten« noch beherrschten, entgegentrat. In diesem Brüsseler Komitee diskutierte Marx 1846 mit Wilhelm

Weitling. Dabei ergaben sich natürlich scharfe Gegensätze. Der eine, hochgebildet, in der Tradition Hegelscher Philosophie und ihrer linken Varianten groß geworden, mit großem Wissen über die Philosophiegeschichte Europas, war natürlich dem anderen, der ja nur angelesenes Wissen hatte erwerben können, weit überlegen. Der selbstbewußte Intellektuelle hat gemeinsam mit Engels den nur mit Anlernungswissen versehenen Arbeiter als »Zentralphilosophen« der Geheimbundsbewegung bald ausgestochen. Und da er wie alle Intellektuellen den Richtigkeitsfanatismus hatte - das gehört nun einmal zum Wesen des Intellektuellen —, war diese Auseinandersetzung nicht frei von persönlichen Schärfen. Marx hat 5

Vgl. Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (künftig zitiert: MEW), Bd. 2, Berlin 12. Aufl. 1990, S. 229 ff,

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

49

die Mehrheit auf seine Seite ziehen können, weil er die überlegenen Ar-

gumente hatte, Denn er hatte, was die Handwerksgesellen und auch Weitling natürlich noch nicht konnten, inzwischen gelernt, die realen Bewegungen der kapitalistischen Ökonomie wissenschaftlich zu analysieren. Mit Hilfe dieser Analysen konnte er realistischere Nahperspektiven

liefern als das bloße Putschdenken, das auch bei Weitling noch mitschwang. Marx und Engels bemühen sich nun - von den führenden Gemeinden

des »Bundes der Gerechten« unterstützt —, diesem Bund, der sich vom nur utopischen Denken löst und auf einem Kongreß im Juni 1847 in London zum »Bund der Kommunisten« umgestaltet wird, eine verbindli-

che, handlungsorientierende Philosophie zu geben, die nicht mehr, wie bei Weitling, bloß reine Spekulation war, sondern die eine realistische revolutionäre Prognose und Strategie aufgrund der Analyse der Klassenverhältnisse liefern soll. So ist dann aufgrund einer Entscheidung der Zentralbehörde des Bundes, die in London saß (weil sie dort am ge-

schütztesten war), an Marx und Engels. die Weisung ergangen, ein Pro-

gramm des Bundes, das »Manifest der Kommunistischen Partei«“ zu schrei-

ben. Den Vorentwurf lieferte zunächst Engels (Engels konnte viel populärer schreiben) in Form eines Fragenkataloges. Erst sehr viel später wurde dieser Vorentwurf unter dem Titel »Grundsätze des Kommunismus«’ publiziert; es ist noch heute wichtig, ihn zu lesen. Das Endmanuskript

verfaßte Marx gemeinsam mit Engels. Das »Manifest der Kommunisti-

schen Partei« wurde in seinen Grundzügen auf dem Zweiten Kongreß des Bundes der Kommunisten Ende 1847 beschlossen und Anfang 1848,

noch vor Ausbruch der Revolution, publiziert. Dieses »Manifest« enthielt (wie bereits vorher die »Grundsätze«) die Prognose des unmittelbaren Bevorstehens einer neuen Revolutionswelle - eine Prognose,”die außer Marx und Engels damals niemand gewagt

hätte. Das »Manifest« enthielt gleichzeitig eine Prognose der Klassen-

kämpfe, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln müssen, und in denen das Proletariat gezwungen sei, erstens überall demokrati-

sche Rechtsordnungen durchzusetzen, die ihm auch politische Rechte geben, und zweitens dann zur Transformation der kapitalistischen in eine kommunistische Produktionsgesellschaft überzugehen, in der es‘ keine Klassenvorrechte und also auch keine Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Unternehmer mehr geben würde. Entstanden als Endprodukt der Aufarbeitung der gesamten ökonomischen Literatur, wie sie vom Be6 7

Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, iın: MEW, Bd. 4, Berlin 11. Aufl. 1990, S. 459 ff. Vgl. Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: ebd., S. 361 ff.

50

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

ginn des Kapitalismus an bis zu dieser Zeit in Frankreich, in England und

auch in Deutschland (dort allerdings auf geringerem Niveau) erschienen war, enthält dieses Programm die Analyse des wahrscheinlichen Verlaufs der kommenden Klassenkämpfe in der kapitalistischen Gesellschaft. Dazu übernimmt es vieles aus den Erfahrungen der Klassenkämpfe in dem Lande, in dem sie am entwickeltsten

auftreten, nämlich

in England,

das

Engels aus eigener Erfahrung genauestens kennt. Es enthält dabei natür-

lich auch am Rande ökonomische Fehlinterpretationen, obwohl die zen-

trale ökonomische Beobachtung sich als richtig erwies. So betont Marx ım »Manifest« noch die Prognose der unvermeidlichen ökonomischen

Verelendung der Arbeiterklasse - eine These, die er bald darauf aufgege-

ben hat. Im »Manifest« glaubt Marx noch - wie das später Lassalle an-

nahm und dafür von Marx hart kritisiert wurde —, daß sich die Arbeiter-

klasse innerhalb des Kapitalismus keinen dauerhaft besseren Lebensstandard erkämpfen könne. Diese von liberalen Ökonomen

übernommene

These wird aber schon Mitte der 50er Jahre von Marx selbst widerlegt.

Im »Manifest« wird die Strategie der Entwicklung des Proletariats zum

Klassenbewußtsein als die wichtigste Bedingung des Erfolges auch für die kommende demokratische Revolution, die die ökonomische Macht noch

in der Hand der industriellen Bourgeoisie belassen und noch nicht zum

Kommunismus

führen werde, dargestellt; denn ohne das Proletariat als

Zentrum und Vorkämpfer werde auch die demokratische Revolution nicht siegen können. Zu dieser Zeit ist ja ın Deutschland und in Frank-

reich das Proletariat, die abhängig arbeitende Klasse, noch keineswegs die Mehrheitsklasse der Gesellschaft. Die Mehrheit bilden noch die Kleinbe-

sitzer, die Bauern, Handwerker und Kleinbürger. Deshalb hat Marx keineswegs an den unmittelbaren Sprung in die kommunistische Gesellschaft durch die demokratische Revolution geglaubt. Er war aber der

Meinung, diese Arbeiterklasse werde die Vorhut in der kommenden demokratischen Revolution sein, sie werde sich weiter als Klasse bewähren, organisieren und entwickeln. Demokratische Revolution. heißt: eine Revolution, die die politischen Rechte in dem Staat, den sie erschafft, allen

zuerkennt und nicht (wie in allen damaligen Staaten) nur privilegierten Klassen verleiht; eine Revolution,

die die Forderung

des allgemeinen,

gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts und die Forderung der Abschaffung der Monarchien und der politischen Vorrechte erfüllt. In der Durchsetzung dieser Forderungen sahen Marx und Engels damals das Zentralproblem der bevorstehenden Revolution in Europa, und sie waren sich klar darüber, daß die Klasse, die konsequent dafür eintreten und kämpfen wird, in allen Ländern nur die Arbeiterklasse sein wird, denn

die kleinbesitzenden Klassen werden schwanken. Tritt aber die Arbeiter-

Von der französischen Julirevolution 1820 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

klasse

mit

eigenem

Klassenbewußtsein

militant

in Erscheinung,

51

dann

werden sich diese kleinbesitzenden Klassen der Arbeiterklasse in der demokratischen Zielrichtung anschließen, denn sie entspricht ja auch ihrem

Interesse. Möglicherweise kann man dann - wie Marx und Engels durch-

aus annahmen - in einigen Ländern schon darüber hinausgehen und abgesicherte weitere Rechtspositionen der Arbeiterklasse durchsetzen, von

denen aus sie den weiteren Kampf um die kommunistische Revolution

führen kann - den Kampf um die Transformation der bürgerlichen De-

mokratie in die Herrschaft der Arbeiterklasse, die gleichzeitig zur Besei-

tigung des industriellen Kapitalismus und zum

Sieg eines industriellen

Sozialismus in allen wirtschaftlich entwickelten Ländern führt, also zur Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und zu einer nicht mehr der Konkurrenz überlassenen, sondern durch die Demokratie

planend gestalteten Ökonomie im Gemeineigentum aller. Das sind die zentralen strategischen Vorstellungen, die Marx und Engels in ihrer Pro-

grammschrift formulieren. Es wäre sicherlich falsch zu sagen, es sei allein

die individuelle Entwicklung von Marx und Engels gewesen, die hier zum Durchbruch komm:t. In Wirklichkeit stehen sie ja seit langem in Kontakt

mit all den Gruppen und Bestrebungen in Frankreich und England, die

sich in Richtung auf eine Theorie der Arbeiterbewegung hinbewegen. Aber die wesentliche gedankliche Arbeit am »Manifest« ıst zweifellos von Marx und Engels geleistet worden.

Als das »Manifest« gerade publiziert ist, bricht die revolutionäre Entwicklung auf dem europäischen Kontinent aus, die Marx und Engels durchaus erwartet hatten. Sie gibt ihnen bald die Chance, nach Deutschland zurückzukehren, wo sie dann eine legale Tageszeitung, die »Neue Rheinische Zeitung«, aufmachen und von dort aus auf die deutsche Bewegung erheblichen Einfluß nehmen können. Zunächst aber erleben sie den Höhepunkt der damaligen Entwicklung von Klassenkämpfen in Frankreich, ihrer Übergangsstation nach Deutschland. Marx und Engels und die Zentralbehörde des »Bundes«, der sie jetzt angehören, gehen zunächst nach Paris und entwerfen dort ein Aktionsprogramm für Deutschland, Allerdings steht die französische Entwicklung zunächst im Vordergrund, die Marx und Engels sehr genau analysiert haben, nicht nur in begleitenden Kommentaren

der »Neuen

Rheinischen

Zeitung«,

sondern vor allen Dingen in zwei großen wissenschaftlichen Arbeiten, die man kennen sollte: Marx’ Arbeit über die »Klassenkämpfe in Frankreich«* und seine spätere Schrift über den »18. Brumaire des Louis Bona8

Vgl. Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: MEW, Bd. 7, Berlin

9. Aufl. 1990, 5. 9 ff.

52

Von der französischen Julirevolution 1830 bis zum Vorabend der Revolution von 1848

parte«.” Da aber die französischen Klassenkämpfe auch über die deut-

schen Kämpfe dieser Periode mitentscheiden, müssen wir zunächst einmal diese französische Situation betrachten.

Wir halten aber fest, daß die Strategie von Marx und Engels für

Deutschland damals darin bestanden hat, anzuerkennen,

daß hier eine

proletarische Revolution in Richtung auf eine unmittelbare Entwicklung

des Sozialismus nicht auf der Tagesordnung stehen konnte, sondern zunächst einmal die Errichtung einer bürgerlichen Demokratie. Das führt

zu manchen Widersprüchen in der deutschen Entwicklung, auf die wir noch zurückkommen müssen, auch in der Entwicklung erster Organisationen der Arbeiterbewegung. Diese Gesamtstrategie war zweifellos richtig, denn die Industrialisierung in Deutschland war noch außerordentlich

schwach entwickelt, wenn sie auch schon seit den 30er Jahren begonnen

hatte. Daher war ein modernes, kampfkräftiges Proletariat, das an eine unmittelbare Machtübernahme und Umstrukturierung der Gesellschaft denken konnte, zunächst noch nicht vorhanden, es mußten erst die Voraussetzungen für eine solche Umwandlung geschaffen werden - eben

durch den Sieg der Demokratie über den Absolutismus.

9

Vgl. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin 8. Aufl. 1988, S. 111 ff.

53

6. Die Revolution von 1848 in Frankreich

Kehren wir zurück nach Frankreich. Wir sahen, daß die französische Fe-

bruarrevolution 1848 ein Auslaufprodukt der schweren ökonomischen Krise war,

von

Zeit durchaus

der die Arbeiterklasse

schon

(die es in Frankreich ja in dieser

gibt) hauptsächlich

betroffen war;

aber auch

die

kleinbürgerlichen Randschichten im Übergang in die Arbeiterklasse und die industrielle Bourgeoisie litten unter ihr. Der Gegensatz zwischen der

industriellen Bourgeoisie und dem Teil des Bürgertums, der unter LouisPhilippe an der Macht teilhat und die Regierung zusammen mit den Resten der Feudalklassen mitbestimmt, dem Bankkapital also, mußte nun schärfer werden, allein schon deshalb, weil die von den Pleiten zuerst Be-

troffenen eben die industriellen Kapitalisten waren. So steht plötzlich auf dem Höhepunkt der Krise die ungeheure Majorität des französischen Volkes: die Masse der kleinen Bauern, die Kleinbürger (die Kleinproduzenten in den Städten) und die abhängig arbeitenden Schichten, in unüberwindlichem Gegensatz zum Regime und drängt auf Demokratie. Das Regime der Bourbonen-Könige bis 1830 war zwar anparlamentarisiert, aber undemokratisch gewesen, und das Regime des Louis-Philippe, des orleanistischen Königs, das durch die Revolution von 1830 an die Macht gekommen war, war ebenso undemokratisch, denn es hatten ja nur die

herrschenden Klassen teil an der Macht. In der Großbourgeoisie gibt es in dieser Situation also zwei Fraktionen, die in scharfen Gegensatz zueinander geraten. In der Zeit des liberalen Kapitalismus (das gilt partiell auch für die späteren Perioden des Monopolkapitalismus) existieren zwar unzweifelhaft gemeinsame Interessen der Bourgeoisie gegenüber den feudalen Klassen wie gegenüber der Arbeiterklasse, aber innerhalb der Bourgeoisschichten gibt es auch schärfste

Interessengegensätze. Bankkapital und Industriekapital sind noch nicht, wie in der Zeit des Monopolkapitalismus, verschmolzen. Das Bankkapi-

tal, das Kapitalien sammelt und die industrielle Bourgeoisie zur Errich-

tung neuer Produktionsstätten finanziert, steht zum Industriekapital, man könnte fast sagen: in einer Art Ausbeutungsverhältnis. Es finanziert den Industriekapitalisten nicht nur, sondern es schöpft auch einen großen

Teil seiner Profite ab, um sie in die eigene Tasche zu lancieren, und will,

wenn in einer Wirtschaftskrise Pleiten um sich greifen, seine gegebenen Kredite auf Kosten des industriellen Bourgeois gesichert wissen. Infolge-

54

Die Revolution von 1848 in Frankreich

dessen geraten diese Schichten in der Krise hart aneinander, und die indu-

strielle Bourgeoisie muß, um ihr Profitniveau zu retten, Bündnisse su-

chen. Bei den feudalen Schichten, die eher mit dem Bankkapital einig sind, kann sie keinen Bündnispartner finden. Den hofft sie, bei den Kleinbürgern zu gewinnen, und so gibt es in der ganzen Zeit der orleanistischen Herrschaft in Frankreich im Parlament eine industriell-kapi-

talistische plus intellektuelle Opposition gegen die herrschende Koalition von Feudalschicht und Bankkapital. Der industrielle Bourgeois wie der Intellektuelle, der ja aus den bürgerlichen Klassen kommt, gibt die Schuld an den Krisen und Pleiten dem Bankkapital und will - um sie künftig verhindern zu können - an der Macht teilhaben. Dabei hat es zwischen

dieser legalen Opposition der liberalen industriellen Kapitalisten und der regierenden Koalition immer wieder Kompromisse und in Konjunktur-

perioden auch Einigkeit gegeben. Es beginnt bereits in dieser Zeit der Bourbonen-Dynastie die große koloniale Ausdehnung Frankreichs in Nordafrika (Eroberung Algiers 1830), und in der gemeinsamen Exploitation von Nordafrika war man sich also zum Beispiel durchaus einig. Nun

aber, in der Krise, sieht das industrielle Bürgertum seine ökonomische Stellung durch Bankkapital und Feudalklassen gefährdet. Es hat daher zunächst gar nichts gegen die Explosion, die im Februar 1848 erfolgt.

Die Bevölkerungsmassen Frankreichs, zunächst die von Paris, stürzen

Louis-Philippe und die orleanistische Dynastie und proklamieren die demokratische Republik, die Zweite Republik. Alle Schichten der Bevölkerung stimmen in einem Ziel zunächst überein: Weg mit der orleanistischen Dynastie, her mit der Demokratie! — Mit Demokratie meint man die volle Demokratie, denn nur für sie, für das allgemeine Wahlrecht waren die Massen für den Sturz der orleanistischen Dynastie zu mobilisieren gewesen. Die Massen brauchte man, denn sie sind es, die kämpfen.

Der industrielle Bourgeois geht nicht mit der Flinte auf die Straße und

Jagt die Monarchie weg, das macht der Kleinbürger, der Student, auch der Professor, der in der Tradition des aufklärerischen Denkens der Großen Französischen Revolution steht, und das macht vor allem der Arbeiter und der Geselle aus dem Pariser Kleinbetrieb. Der industrielle Bourgeois,

der am Erfolg beteiligt sein will, fördert die Erhebung zwar und möchte mit in die Regierung (er kann zunächst gar nicht allein ın die Regierung, weil es ja die Massen sind, die die Monarchie stürzen), aber er hat dabei

völlig andere Interessen als große Teile der handelnden Massen, denn er

will hauptsächlich gute Kapitalverwertungsbedingungen und einen konjunkturellen Aufschwung erreichen. Große Teile der Massen sind arbeitslos - entweder als industrielle Proletarier (das ist noch eine kleine Minderheit) oder als Handwerker, die mit in die Krise hineingerissen werden.

Die Revolution von 1848 in Frankreich

55

Durch Mißernten, Steuerbelastung und die industrielle Krise, die dazu führt, daß sie ihre Produkte nicht mehr absetzen können, sind auch die

Bauern ökonomisch in Bedrängnis falls hinter die Revolution. Da die söhnen bestehrt, ist sie nicht bereit, gierungsform noch einen Finger zu

geraten und stellen sich daher ebenArmee zum großen Teil aus Bauernfür den König und die vorherige Rerühren.

Die Monarchie wird gestürzt, und es bildet sich eine Revolutionsregierung, die zunächst aus einer Koalition aller derjenigen Klassen besteht, die gemeinsam siegreich gegen die Monarchie gefochten haben. Es ist eine Koalitionsregierung, in der die kleinbürgerlichen Parteien und Klassen an der Spitze stehen mit der industriellen Bourgeoisie ım Hintergrunde. Die kleinbürgerlichen Klassen wollen auch der Arbeiterklasse Konzessionen machen, denn sie begreifen, daß sie als Handwerker und Bauern den industriellen Proletariern, wenn diese weiter ım völligen Elend leben,

nichts verkaufen können. So ist es verständlich, daß sich an der Spitze der französischen Republik zunächst eine Koalition bildet, die auch den Arbeitslosenmassen große Konzessionen machen will. In diesen Massen der Arbeitslosen findet sıch das Denken jener sozia-

listischen utopistischen Gruppen, wie es sich vorher entwickelt hatte (Saint-Simonisten, Proudhonisten usw.), und zum

Teil das Denken

der

revolutionären Geheimbünde (der Blanquisten), die auf der Seite des in-

dustriellen Proletariats stehen, und die, weil dieses Proletariat noch keine anderen wirksamen Kampfformen entwickelt hat, dem Putschgedanken

verhaftet bleiben. Da das industrielle Proletariat noch eine kleine Min-

derheit in der Bevölkerung ist, knüpfen die Blanquisten in ihrer Strategie an die Vorstellungen der jakobinischen Diktatur von 1793/94 an, die die

Republik und die Demokratie dadurch sichern wollte, daß sie zunächst die revolutionäre Diktatur einer Minderheit errichtete, weil die Massen

noch gar nicht fähig schienen, sich selbst zu regieren.

Blanqui, durch die Revolution aus dem Kerker befreit, der beste Kopf,

den diese revolutionäre Gruppe (die damals progressivste in Frankreich) hat, wendet sich dementsprechend gegen die Wahlen zur Nationalversammlung, die die Koalitionsregierung der Februarrevolution für April 1848 ausgeschrieben hatte: Was konnte denn bei einer solchen Nationalversammlung herauskommen, auch wenn sie nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht (allerdings ohne Frauenwahlrecht) gewählt wird,

denn bei den Volksmassen bilden die Kleinbauern noch die Mehrheit, die überhaupt nicht wissen, was sie wollen, und die sich daher von alten re-

aktionären Gruppen, z.B. der Kirche, führen lassen? - Blanqui befürwor-

tet eine revolutionäre Diktatur, um die Massen erst einmal darauf vorzu-

bereiten, daß sie sich selbst regieren können. Also putscht er am 15. Mai

56

Die Revolution von 1848 in Frankreich

1848 wieder, um die Nationalversammlung auseinanderzujagen, aber er scheitert damit. Denn die Volksmassen, auch die Arbeitermassen von Paris - von Minderheiten abgesehen - stehen noch hinter dieser Koalitionsregierung, in der sie ihre Interessen repräsentiert sehen, zumal sie ihnen

auch Konzessionen gemacht hat.

Die wichtigste Konzession sind die Nationalwerkstätten,

Werkstätten

für die Arbeitslosen. Das Recht auf Arbeit, das bereits in den ersten Tagen

der Februarrevolution als Gesetz verabschiedet wurde, soll realisiert werden, indem Produktionswerkstätten des Staates, aber mit genossenschaftlicher Verrechnung, geschaffen werden, in denen jeder Arbeitslose Anspruch darauf hat, angestellt und vom Staat bezahlt zu werden (auch wenn die Produkte zur Zeit nicht absetzbar sein sollten). Wegen dieser

Konzession der Koalitionsregierung - Kombination der Verankerung des Rechts auf Arbeit in der Verfassung und Errichtung dieser Nationalwerkstätten für die Versorgung der Arbeitslosen — steht die große Mehrheit auch des Pariser Proletariats nicht hinter Blanqui. Sie begreift nicht dessen in der Perspektive gar nicht falsche Befürchtung, daß das Ganze scheitern wird durch die Bauerndeputierten, durch die vom flachen Lande gewählten Abgeordneten in der Nationalversammlung.

Nach dem Scheitern des Mai-Putsches wird Blanqui wieder eingesperrt. Das ändert natürlich nichts daran, daß die Klassenwidersprüche und die Klassenkämpfe

weitergehen.

Die Klassenwidersprüche

wirken

auch (das sei nur am Rande erwähnt) in bezug auf die Außenpolitik, denn jetzt haben wir eine revolutionär-demokratische Koalitionsregierung und

eine Republik in Frankreich. Bereits die Erste Republik nach der Großen Revolution von 1789 hatte bewirkt, daß sich alle europäischen Mächte zu einer Koalition zusammenfanden, um diese Republik in einem Interven-

tionskrieg zu liquidieren (übrigens damals unter der wirksamen Führung

eines Staates, in dem die Bourgeoisie schon herrschte, nämlich Englands,

in Kombination mit allen reaktionären Mächten Europas). Von daher

war 1848 klar, daß, wenn die Revolution sich nicht ausbreiten würde in Europa, auch diese demokratische Revolution in Frankreich - gerade

weil sie der Arbeiterklasse solche Konzessionen gemacht hatte - zu ähnlichen Verwicklungen führen könnte. Um das zu verhindern, hätte Frankreichs Politik von vornherein sein müssen: Intervention in die übrigen europäischen Revolutionsprozesse zugunsten der Revolution, wie es die Blanquisten forderten. Aber selbstverständlich waren die französi-

schen Volksmassen gern in einen Krieg. solchen Krieg unter ge die Volksmassen

nicht für eine solche Politik, denn wer rennt schon So hat die Politik der Koalitionsregierung, die einen allen Umständen vermeiden will, auch in dieser Fraauf ihrer Seite, so daß die Blanquisten auch mit ihrer

Die Revolution von 1848 in Frankreich

57

Propaganda für einen revolutionären Krieg scheitern. Es siegen also die Koalitionsregierung und die Nationalversammlung über Blanqui. Damit

war der fortschrittlichste Teil innerhalb der französischen Arbeiterklasse vorab geschlagen, weil er sich als bloße Vorhut ohne ausreichende Verankerung in den Massen und ohne langfristig angelegte Strategie, befangen im Putsch- und Geheimbundsdenken, nichts anderes holen konnte als eine schwere Niederlage.

Nachdem diese Vorentscheidung gefallen war, mußte sich auch in der Assemblee nationale, im Parlament, das Gewicht weiter nach rechts ver-

schieben. Die industrielle Bourgeoisie wollte natürlich von den Produk-

tionswerkstätten und vom Recht auf Arbeit nichts wissen, denn Recht auf Arbeit bedeutet Verteuerung der Arbeitskräfte. Existiert das Recht

auf Arbeit nicht nur als Phrase, sondern - garantiert durch den Staat in

Form der Produktionswerkstätten — real, dann kann man Arbeitskräfte

nicht mehr auf dem bloßen Hungerniveau einkaufen. Deshalb ist der industrielle Bourgeois natürlich gegen diesen »Utopismus« des »Rechts auf Arbeit«. Er hatte ihn nur zunächst höchst ungern als Kompromiß dulden müssen. Bald denken auch andere Teile der Regierungskoalition und vor allen Dingen des Parlaments so, denn das neugewählte Parlament steht rechts von der Regierung, da die Masse der Deputierten Abgeordnete der kleinen Bauern sind. Diese kleinen Bauern denken noch, obwohl sie gerade die ökonomische Krise erlebt haben, als Kleineigentümer; sie wollen

den Besitz gesichert haben und daher auch weniger Steuern zahlen. Na-

tionalwerkstätten, die der Staat bezahlt, bedeuten aber hohe Steuern. Aus diesen Gründen wechseln die Bauerndeputierten gerade in dieser Phase

ihr Denken sehr rasch. Zwar ist der französische Kleinbauer dieser Periode, wie übrigens auch später, nicht wie der deutsche durch lange Jahr-

zehnte bloßes Objekt der Manipulation der verschiedenen Fraktionen der Reaktion gewesen; er erinnerte sich stets der Tatsache, daß er seine Existenz als selbständiger, freier Bauer der Großen Französischen Revo-

Jution und den Jakobinern verdankte (diese Veränderungen waren auch in der Restaurationsperiode nicht rückgängig zu machen gewesen) - obwohl das alles nun ein halbes Jahrhundert zurücklag. Deshalb waren die Kleinbauern 1830 und 1848 nicht für die alten Monarchien eingetreten;

aber das änderte nichts daran, daß sie als Kleinbesitzer dachten und sich wehrten, wenn man ihnen so energisch die Steuern erhöhen wollte, wie man es tun mußte, um das Recht auf Arbeit und die Produktionswerkstätten aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt, daß die Bauernmassen und ih-

re Deputierten auch in mancher Beziehung durch die Kirche und durch die Presse manipulierbar waren; die gesamte große Presse lag in der Hand der liberalen Bourgeoisie, vor allem ihrer reaktionärsten Fraktion, des

58

Die Revolution von 1848 in Frankreich

Bankkapitals, aber zum Teil auch in der Hand ihrer erwas progressiveren

Fraktion, des industriellen Kapitals. So konnte man diese Bauerndeputierten, die Bauernmassen und sehr bald auch Teile der Handwerkermassen gegen die Produktionswerkstätten ideologisch mobilisieren.

Im

Regierungskompromiß,

der

durch

die Februarrevolution

zur

Macht gebracht worden war, hatte sich als zunächst stärkste Partei eine Gruppierung entwickelt, die sich dann sozialdemokratische Partei nennt und die von radikal-demokratischen Intellektuellen (wie Louis Blanc) ge-

führt wurde. Sie - wie auch Teile der von Ledru-Rollin geleiteten kleinbürgerlichen Republikaner - wollten in der sich industrialisierenden Ge-

sellschaft die Interessen der Arbeiterklasse mitvertreten. Diese radikalen Intellektuellen, die zum großen Teil das utopisch-sozialistische Denken der Proudhonisten und Saint-Simonisten studiert hatten, waren die Kon-

strukteure und Anhänger der Formel »Recht auf Arbeit« und der Nationalwerksrätten für die Arbeitslosen gewesen. Ihre Konzeption war folgende: Durch die Produktionswerkstätten werden wir langsam und‘friedlich erstens den industriellen Kapitalismus zähmen, weil wir ihm ja die

extremsten Ausbeutungsbedingungen durch das Recht auf Arbeit entziehen; zweitens werden

wir, da ja die Produktionswerkstätten

öffentlich-

rechtlich organisierte Einrichtungen sind, den industriellen Kapitalismus

langsam niederkonkurrieren und friedlich in irgendeine Form sozialistisch-industrieller Produktionsweise hinüberwachsen. - Das ist die Vorstellungsreihe, von der die sozialdemokratische Partei, zunächst die stärk-

ste Partei der französischen Städte dieser Zeit, ausgeht. Sie hatte erwartet, bei den Nationalversammlungswahlen stärkste Partei zu bleiben. Das war allerdings eine Illusion, denn noch wohnt die Mehrheit der Franzosen auf dem Lande. Die Partei wird nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung in dem Maße zurückgedrängt, iın dem nun die Bauern - unterstützt von der industriellen Bourgeoisie und im Hintergrund vom zeitweilig entmachteten Bankkapital — kühner werden. So taumelt die Regie-

rungskoalition von einem Konflikt zum anderen. Diese Konflikte gehen

immer zuungunsten der sozialdemokratischen Partei aus, die weiter an

eine friedliche Fortentwicklung in immer neuen Kompromissen glaubt und nicht begreift, daß jetzt schwere Klassenauseinandersetzungen unvermeidlich werden. Die realen Machtverhältnisse hatten sich seit der Februarrevolution grundlegend geändert. Damals hatte man die Illusion, die alten Machtstrukturen seien endgültig überwunden. Aber die Februarrevolution hatte in ihrer Euphorie vergessen, den Staatsapparat (Armee und Administration der alten Monarchie), der ja nicht zerschlagen war, in die Hand zu bekommen und umzugestalten. Dieser Staatsapparat hatte im Moment der Februarrevolution nicht aktiviert werden

Die Revolution von 1848 in Frankreich

59

können, denn damals waren die Bauern ın der Armee nicht bereit, auf die

Arbeiter und die revolutionären Handwerker zu schießen. Mit der Zuspitzung auch der finanziellen Krise des Staates wurde das bald anders.

Jetzt hatten die Offiziere ihre Soldaten wieder in der Hand, und die alten Richter und Verwaltungsbeamten wurden wieder kühner. So war eine Situation, in der die Sozialdemokratie Louis Blancs aus der Regierung fliegt

und sich die Regierungskoalition umbildet, durchaus voraussehbar. Die Krise der Revolution, die nur von den Blanquisten vorhergesehen worden war, wurde von Tag zu Tag realer. Die Arbeitsmöglichkeiten in den Produktionswerkstätten wurden erst eingeschränkt, dann schließlich

faktisch aufgehoben, so daß der Arbeitslose sich vor die Wahl gestellt sah, entweder zu verhungern oder sich freiwillig zur Armee zu melden, wenn er in dem entsprechenden Alter war. In die Armee einzutreten bedeutete erstens, sich den Offizieren unterzuordnen, und zweitens, sich in den Ko-

lonialkriegen in Nordafrika verheizen zu lassen, denn in dieser Periode werden

die ehemals der Türkei hörigen Teile Nordafrikas von Frank-

reich erobert. Was Wunder, daß nun im Juni 1848 die Arbeiter der Produktionswerkstätten und das Pariser Proletariat gegen die Entscheidung

der Regierung (aus der Louis Blanc inzwischen hinausbefördert worden war), die Nationalwerkstätten zu schließen, aufstehen. Sie rebellieren ohne Führung, denn die Blanquisten, die den Aufstand hätten organisieren können, sind ja seit dem Mai-Putsch bereits hinter Gittern. Ohne erfahrene militärische Führung erhebt sich das Pariser Proletariat gegen eine Armee, die wieder schießbereit ist, denn die Bauernsöhne in der Ar-

mee folgen jetzt wieder ihren Offizieren. Und so kommt es zur /uniSchlacht (23.-26.Juni 1848), in der die Armee die Pariser Arbeiterklasse schließlich niederwirft mit Tausenden und Abertausenden von Toten und - wegen der Proklamation des Kriegsrechts durch den Kriegsminister Cavaignac — mit anschließenden Hinrichtungen, denen 1500 Arbeiter zum Opfer fallen. Damit war das Geschick dieser Zweiten Republik praktisch entschieden. Sie war nun aus der Kompromiß-Republik

zwischen den Klassen,

die gemeinsam gegen die Monarchie rebelliert hatten, zur rein bürgerlichen Republik geworden. Diese bürgerliche Republik, die durch die Majorität der Bevölkerung auf dem flachen Lande und in den Kleinstädten abgestützt wurde, war eine Republik des Kampfes gegen die Arbeiterklasse. Der erste große selbständige Klassenkampf des Proletariats in Frankreich war als Bürgerkrieg in der Juni-Schlacht gegen die Arbeiterklasse

entschieden worden. Der Aufstand der Arbeiterklasse hatte nur dem Ziel

gegolten, das Recht auf Arbeit und die Nationalwerkstätten zu verteidigen. Es ging ihr um die Verteidigung der Errungenschaften der Februar-

60

Die Revolution von 1848 in Frankreich

revolution und um mehr nicht, denn die politischen Vorstellungen der Blanquisten hatten während dieser Kämpfe noch nicht einmal unter den kämpfenden Arbeitern vorgeherrscht. Die weitere Entwicklung in Frankreich war in dieser Lage im Grunde unvermeidlich. Die gemeinsame Niederwerfung der Arbeiterklasse, hin-

ter der die Bauern und ein Teil der Handwerker gestanden hatten, die hofften, wieder verdienen zu können, schuf eine neue breite Klassenko-

alition aller Klassen außer der Arbeiterklasse. Allerdings war die Krise noch nicht voll beseitigt, und daher liefen die Auseinandersetzungen weiter. An eins war zunächst nicht zu denken: an die unmittelbare Wieder-

herstellung der orleanistischen Monarchie, denn Bankkapital und Feudaladel waren zu kompromittiert - übrigens auch für die Herren Generäle und Offiziere der Armee, denn eine Monarchie, die sich widerstandslos stürzen läßt, hat ihre Autorität verloren. Große Teile des Bankkapitals wollten zwar den Orleanismus zurückhaben, doch waren sie zu schwach, um das herbeizuführen. Große Teile des Feudaladels, der auch noch bestand (die Februarrevolution hatte gar nicht die Zeit gefunden, das wieder

zu korrigieren,

was

1815

mit

der partiellen

Wiederherstellung

der

Machtpositionen des Feudaladels geschehen war), wollten sogar die Bourbonen wiederhaben, aber sie waren auch zu schwach, um das durch-

setzen zu können. Staatsapparat und Armee, von beiden früheren Mon-

archien enttäuscht, aber entschlossen, gegen die Arbeiterklasse zu kämp-

fen und die Macht Frankreichs (auch außenpolitisch) wieder herzustellen, waren nur zu sehr kleinen Teilen für diese Pläne der altmonarchistischen

Parteien (die nun wieder legal existierten), aber sie wollten den Staat nun autoritärer gestalten. Andererseits begannen die Konflikte zwischen Bankkapital und Industriekapital wieder zu wachsen. Im Durcheinander aller dieser Widersprüche und Konflikte erweist sich die bisherige Zweite Republik in wachsendem Maße als nicht mehr in sich kompromißfähig. Zwischen

den

verschiedenen

Gruppen

- dem

Industriekapital,

dem

Bankkapital, dem Feudaladel und denjenigen Teilen des Kleinbürgertums und der kleinen Bauern, die sich im Kampf gegen die Arbeiterklasse immer hinter diese Republik gestellt hatten - wird ein Interessenausgleich

immer schwieriger. Also muß man nach einer Stärkung der Staatsmacht

suchen, um die Konflikte der herrschenden Klassen und eines Teils der

Mittelklassen untereinander ausgleichen zu können und um zu verhindern, daß sich die Arbeiterbewegung eventuell von ihrem Blutzoll in der

Juni-Schlacht wieder erholt. Diese Gefahr droht deutlich, denn die klein-

bürgerlichen Republikaner Ledru-Rollins und die sozialdemokratische

Partei, die jetzt in der Opposition sind, wachsen wieder, da die Bedräng-

Die Revolution von 1848 in Frankreich

61

nis auch kleinbürgerlicher Schichten und der Arbeiterklasse durch den

Staatsapparat und die Steuererhöhungen wieder zunimmt. Die Lösung, die die herrschenden Klassen der Gesellschaft anstreben, besteht in der

Errichtung und Stärkung einer verselbständigten Staatsmacht. Und die kann man in einer derartigen Krise nur durch eine breite Volksbewegung erreichen, die den Staatsapparat mindestens vorübergehend unterstützt und die sich durch Kräfte führen läßt, die noch nicht kompromittiert sind.

Ich will hier an gewisse Parallelen - es gibt auch große Unterschiede — zum Ende der Weimarer Republik erinnern. Damals bestand in vielem eine ähnliche Lage - sowohl in bezug auf die mangelnde Kompromißfähigkeit der herrschenden Klasse untereinander als auch in bezug auf die

von den Herrschenden gesehene Notwendigkeit des blutigen Terrors der Staatsgewalt gegen die Arbeiterklasse, um das kapitalistische Gesellschaftssystem aufrechtzuerhalten. In der Krise braucht das System eine

starke abstrakte Staatsgewalt, um durch sie die Kompromißfähigkeit in der herrschenden Klasse herstellen zu, lassen, wenn

es die herrschende

Klasse schon nicht selbst schafft. So war auch seit Ende 1848 in Frankreich die Lage, in der dann ein Wundertäter aus dem Nichts auftaucht:

Loutis Bonaparte,

der sich später Napoleon

III. nennt,

zwar Vetter eines

großen Mannes, aber selbst ein Abenteurer ohne viel Verstand, jedoch ein großer Redner. In ihm sehen große Teile beider Fraktionen der Bourgeoisie, der Bank- wie der Industriefraktion, ihren Retter. Sie geben Geld, damit er seine Agitation verbreiten kann, die unter den Bauernmas-

sen sehr wirksam ist, denn dem Scheine nach (nicht in der Wirklichkeit) verkörpert Louis Bonaparte die Tradition der Großen Französischen Re-

volution und des großen Napoleon Bonaparte, der ja die Ergebnisse die-

ser Revolution durch ganz Europa getragen und den Bauern ihren Besitz garantiert hatte. Aber nicht nur unter den Bauern fand diese Agitation

Anklang, sondern auch bei Teilen der Handwerker und des geschundenen industriellen Proletariats, denn das hatte ja noch kein gefestigtes, lange entwickeltes Klassenbewußtsein. Nur kleine Kader, die Angehörigen

der Geheimbünde, der blanquistischen Verschwörungen, hatten ein entwickelteres Klassenbewußtsein. Auch diejenigen, die in der Revolution

Ledru-Rollin und Louis Blanc gefolgt waren, haben ihr Bewußtsein erst durch den Revolutionsprozeß selbst gewonnen und waren dann durch die Niederlage bitter enttäuscht worden. War es ein Wunder, daß sie sich jetzt gewinnen ließen von der Agitation jener vom Bankkapital und von anderen Teilen des Kapitals finanzierten Abenteurerbande, die hinter Louis Bonaparte stand? Nach dem Datum des Wahlsiegs in der Präsidentenwahl vom Dezem-

62

Die Revolution von 1848 in Frankreich

ber 1848 nennt man diese Bande die »Dezember-Gesellschaft«. Der Staatsapparat steht hinter Louis Bonaparte, trotz der unzähligen Affären und Betrugsgeschäfte, in die er vorher verwickelt gewesen war, denn die von ihm vermeintlich verkörperte Tradition der napoleonischen Monarchie war dem Militär und dem Staatsapparat insofern äußerst lieb, als Frankreich unter ihr die Vormacht ganz Europas geworden war. Die Dezember-Bande, sozusagen die SA der damaligen Zeit, in der - gut besoldert — Abenteurer und Verbrecher jeder Couleur aufgenommen

wurden, terro-

risiert nun die Restfraktionen der alten bürgerlichen Parteien und natürlich vor allem die kleinbürgerlichen Republikaner Ledru-Rollins, die nun

Sozialdemokraten genannt werden und sich selbst - in Erinnerung an die linken Jakobiner — als »Berg« bezeichnen. Die Partei Ledru-Rollins be-

ginnt allerdings, ihren Massenanhang sowohl in der Arbeiterklasse als auch unter den Handwerkern und den progressiven französischen Bauern zu verlieren.

So gelingt dieses Experiment des Aufstiegs Louis Bonapartes. Die französische Revolution, bereits geschlagen durch den Stoß der Gegenrevolution, den sie in der Juni-Schlacht 1848 bekommen hatte, ersäuft im Aufstieg des Bonapartismus. Dieser vollzieht sich in Etappen. Am Anfang steht im Dezember 1848 die Wahl des Louis Bonaparte zum Präsidenten nach Einführung der plebiszitären Präsidentenwahl. Nachdem er auch seine bürgerlichen Förderer weithin politisch entmachtet hat - am 2. De-

zember 1851 löst er die Legislative in einem Staatsstreich auf —, läßt er

sich im Dezember 1852 schließlich zum Kaiser ausrufen. So endert diese französische Revolution in der besonderen Form der gegenrevolutionären Herrschaft, die Napoleon IIl. errichtet, dem Bonapartismus.

63

7. Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

Die Entscheidungsschlacht der französischen Revolution im Juni 1848 war zur Entscheidungsschlacht der europäischen Revolution geworden.

Bis zur Juni-Schlacht hatten auch große Teile des deutschen Kleinbürgertums und sogar der werdenden, noch zahlenmäßig kleinen industriellen Bourgeoisie in Deutschland von der demokratischen Republik geträumt,

die sie erstreben wollten. Die französischen Klassenkämpfe hatten die industrielle Bourgeoisie, den liberalen Flügel der Massenbewegung, die sich im März 1848 auch in Deutschland gebildet hatte, zu der Erkenntnis gebracht, daß die Einführung der Demokratie doch ein recht heikles Expe-

riment war, denn es existierte ja bereits eine Arbeiterklasse, die für ıhre Interessen kämpfen wollte. Die Bourgeoisie ist daher bereit, immer neue Kompromisse mit den Gruppierungen der bisher herrschenden Feudalklasse einzugehen, um den Risiken zu entgehen, denen sich die französische Bourgeoisie in der Juni-Schlacht hatte aussetzen müssen. Die Liberalen in den verschiedenen Staaten des Deutschen Bundes verkaufen ihre demokratische Zuversicht sehr rasch.

Seit der Märzrevolution, die - nach einem Vorspiel im Februar 1848 in

Baden

- mit Barrikadenkämpfen

in Preußen,

Österreich und anderen

deutschen Staaten rasch gesiegt hatte, waren die großbürgerlichen Liberalen an den Regierungen beteiligt gewesen. Diese Revolutionen in den deutschen Staaten waren zunächst samt und sonders von ähnlichen Klassenkoalitionen getragen wie die Februarrevolution in Frankreich. Sie wurden praktisch von allen Klassen der Bevölkerung unterstützt, mit Ausnahme natürlich der feudalen Klassen und des Staatsapparates selbst.

Die deutsche Märzrevolution war nicht so kühn wie die Revolution in

Frankreich. Sie hatte nicht zur unmittelbaren Proklamation der einen und unteilbaren Republik geführt wie in Frankreich die Februarrevolution 1848, sie hatte nur zu Verfassungsversprechungen der bestehengebliebenen alten Staatsmacht hingeleitet. Denn so kühn wie die französische Bevölkerung war ja die deutsche nicht, und ein so starkes industrielles Proletariat wie in Frankreich gab es in Deutschland nirgends. Ein Teil der Intellektuellen in Deutschland war zwar in Ansatzpunkten liberal und sogar demokratisch und revolutionär, aber keineswegs so entschie-

64

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

den wie in Frankreich. Denn Frankreich war ja die Nation, die schließlich die Tradition einer großen, siegreichen Revolution, die Europa erschüttert hatte, besaß, die auch den Sturz der Bourbonen-Monarchie von

1830 hinter sich hatte, In Deutschland hatten 1830 nur einige der Mittel-

staaten kleine Verfassungskonzessionen

machen

müssen,

und auch die

nur an Teile der bürgerlichen Klassen. Infolgedessen war es kein Wunder, daß die deutschen Intellektuellen politisch keineswegs auf dem geistigen Niveau der französischen standen. Sie forderten zwar liberale Umgestaltungen, sie dachten national und waren mit dem Deutschen Bund unzufrieden, der ausschließlich auf dem Gleichgewichtsverhältnis der beiden

Großmächte Preußen und Österreich beruhte und dem deutschen Volk im übrigen die nationale Einheit vorenthielt. Auch die industrielle Bourgeoisie dachte national insofern, als sie ein einheitliches Zollgebiet und Freihandel (wenn auch mit Zollschutz gegen die industriell entwickelte-

ren anderen Nationen) haben wollte. Aber radikal-demokratisch dachte —

anders als in Frankreich - nur ein ganz kleiner Teil der damaligen liberalen Intelligenz. Auch der Bewußtseinsgrad der Bauern- und Handwerkermassen war geringer als in Frankreich. Von daher war es klar, daß der Prozeß der deutschen Revolution langwieriger, widerspruchsvoller, kompromißgeladener sein mußte als in Frankreich.

Das wußten auch Marx und Engels, als sie nach Deutschland zurück-

kehrten, um hier den Prozeß der Revolution vorwärtszutreiben. Sie kamen deshalb mit einem Aktionsprogramm, das die letzte ordentliche Sitzung des Zentralkomitees des »Bundes der Kommunisten« vor der Rück-

kehr nach Deutschland beschlossen hatte, den »Forderungen der Kommu-

nistischen Partei in Deutschland«,} dessen »17 Punkte« im Grunde eher ein jakobinisch-demokratisches denn ein sozialistisches Aktionsprogramm

waren. Sie wußten, daß die Erringung der demokratischen Republik die erste Stufe des Revolutionsprozesses sein mußte. Bereits 1847 hatte En-

gels in den »Grundsätzen des Kommunismus« darauf hingewiesen, daß die Revolution kein einmaliger Akt sei, sondern ein langwieriger Prozeß.

In Deutschland müsse dieser Prozeß zunächst zur Machtbeteiligung der ja noch unterentwickelten Arbeiterklasse in einer jakobinisch-demokrati-

schen Diktatur führen, die allein in der Lage sein würde, die Staatsappa-

rate der Einzelstaaten zu vernichten und eine nationale Demokratie auf-

zurichten. Erst in einem langen Prozeß könne es zur weiteren Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse und zur Übernahme der Führung durch sie, zur Prävalenz der Arbeiterklasse in diesem Prozeß kommen. 1

Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland, in: MEW, Bd. 5, Berlin 8. Aufl. 1982, S. 3 ff.

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

Es käme

dann zu ihrer Hegemonie,

65

weil sie die klarstdenkende Klasse

sein konnte, noch nicht etwa zu ihrer Herrschaft (zu der sie noch gar nicht fähig sei), um die langsame Umleitung auch des Industrialisierungs-

prozesses in sozialistischer Richtung durchzusetzen. Das war der wesentliche Inhalt dieser »17 Punkte«, der insofern realistisch war, als ihm man-

che Ansatzpunkte im damaligen Deutschland durchaus entsprachen; denn es gab unter den demokratischen Kräften, denen nun die Fürsten und Regierungen große Konzessionen machen mufßten, weil sie zitterten und glaubten, nicht mehr genügend Macht hinter sich zu haben, wirklich

demokratische Fraktionen, an die man anknüpfen konnte. Nur waren sie eben wesentlich schwächer als in Frankreich. Das zeigte sich sowohl bei den Wahlen zur preußischen wie bei denen zur deutschen Nationalversammlung. Die Wahl zur deutschen Nationalversammlung (dem »Paulskirchenparlament« in Frankfurt) war ja eine ungeheure Konzession, zu der sich die deutschen Regierungen hatten bereit finden müssen, zumal diese Wahlen aufgrund eines der Form nach demokratischen Wahlrechts stattfanden. Der »Bund der Kommunisten« war sich, als seine führenden Mitglie-

der nach Deutschland zurückgingen und an die kleinen Gemeinden in Deutschland anknüpften, einer doppelten Aufgabe bewußt: Erstens wollte man jede Tendenz zur demokratischen Revolution verstärken und mobilisieren. Am Ende der demokratischen Revolution sollte die einheitliche, unteilbare, deutsche demokratische Republik stehen - weg also mit

den fürstlichen Staaten! Um dieses Ziel zu erreichen, müsse man mit allen demokratischen Kräften kooperieren, die es gab, und dabei auch kompromißbereit sein. Zweitens müsse man, um einen Kern zu bilden, der den Revolutionsprozeß vorantreiben kann, immer wieder versuchen,

dort, wo es Ansätze der industriellen Arbeiterklasse gibt, diese zu Selbstbewußtsein, zu Klassenbewußtsein hinzuführen. Aber gleichzeitig - und das ist das Widersprüchliche der Lage — mußte man der Arbeiterklasse klarmachen: Eure Bündnispartner sind auch die industriellen Bourgeois,

die Kleinbürger und Intellektuellen, wenn wir sie nur dahin führen können, gemeinsam mit uns für den nächsten Schritt, für die demokratische Republik zu kämpfen.

Das war die widerspruchsvolle Aufgabe, vor der sich der »Bund der

Kommunisten« sah und deren Erfüllung schon deshalb unendlich schwierig war, weil beispielsweise in Breslau die Lage völlig anders war als in Köln, in Berlin völlig anders als in Baden. Die Einheitlichkeit der Verhältnisse, die Frankreich mit seinem Zentrum Paris kannte, gab es in diesem Deutschland noch nicht. Sie herzustellen, mußte eines der Ziele

des Revolutionsprozesses selbst sein.

66

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

Eines anderen Umstands

waren sich die Mitglieder des »Bundes

der

Kommunisten« ebenfalls bewußt, und Marx und Engels hatten schon im

letzten Teil des »Kommunistischen Manifests« die notwendigen strategischen Schlußfolgerungen daraus gezogen: In Deutschland sind wir keineswegs, weil wir ja eine streng illegal, konspirativ arbeitende Zirkel-

gruppe sind, die Arbeiterpartei, wie sie aus der Massenbewegung heraus

entstehen wird, sondern wir sind eine konspirative Vorbereitungsorganisation für eine solche proletarische Partei, nicht mehr. Wir sind eine Ansammlung von kleinen Zirkeln, die die Ideen des »Kommunistischen

Manifests« an die Arbeiter herantragen und in den Arbeitern lebendig machen wollen. Also können wir gar keine Partei neben den Massenbe-

wegungen und größeren Parteien sein, die aus der revolutionären Massenbewegung entstehen werden, sondern nur eine Vorhut in den jetzt entstehenden Arbeiterparteien. Wir sind der bewußteste Teil, der den Arbeitern sagen kann, wie sie sich verhalten sollen, wobei wir gar nicht voraussetzen können, daß die Arbeiter das sofort einsehen, denn sie müssen ja aus ihren eigenen Erfahrungen und Kämpfen lernen. Infolgedessen können wir keine besondere kommunistische Partei neben den anderen Parteien gründen. - Das ist die Strategie, an der Marx und Engels nicht nur in der Revolution von 1848 festhalten, sondern - wie wir später sehen werden - auch in der nächsten Aufschwungsperiode der Arbeiterbewegung. Sie modifizieren ihre Strategie erst, als sich nach der Gründung der I. Internationale (1864) in einzelnen Ländern wirkliche Arbeiterparteien entwickeln — die deutsche Sozialdemokratie, der französische Parti Ouvrier usw. Dann treten sie durchaus für die theoretische Klarheit die-

ser Parteien ein, bisweilen sogar für Spaltungen; man mag mit ihnen manchmal streiten, ob sie da im einzelnen recht gehabt haben, aber der Historiker, der die Dinge später betrachtet, sieht immer manches anders als der, der in der Entwicklung selbst steht. In dieser Periode, der ersten Aufschwungsperiode der Arbeiterbewegung, wenden sich Marx und Engels also entschieden gegen den Versuch, eine besondere kommunistische

Partei neben Massenparteien der Arbeiterklasse zu bilden. Sie wollen, wenn jetzt spontan aus der Massenbewegung heraus eine Partei entsteht,

nicht außerhalb dieser Partei stehen, sondern in ihr wirken. Wenn wir das modern ausdrücken, könnten wir sagen, daß sie als besondere Frak-

tion in der Partei, die dort ihre Strategie einbringt, jedoch nicht als abgespaltene Sonderpartei arbeiten wollen. In Deutschland entsteht aber während dieser Kämpfe der Revolutionszeit nicht wie in Frankreich eine eigene Arbeiterpartei. Wir hatten im

ökonomisch weiter entwickelten Frankreich gesehen, daß die Partei von Louis Blanc, die Sozialdemokratie, halb Arbeiterpartei, halb Kleinbür-

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

67

gerpartei ist. Außerhalb dieser Partei stehen andere Gruppierungen: z. B.

die Blanquisten als besondere Partei, eine reine, aber konspirative Partei der Arbeiterklasse,

die sehr bald scheitert, obwohl

sie sehr viel klarer

denkt als die Partei des Louis Blanc. Aber in Deutschland kommt noch

nicht einmal etwas Ähnliches zustande, weil die deutschen Verhältnisse

wesentlich

unentwickelter

sind. Wir

bemerken

zwar

im nördlichen

Rheinland und in Sachsen, teilweise in Berlin und in anderen Gegenden

Ansätze einer Industrialisierung (die erste Eisenbahnbauperiode hatte bereits vorher eingesetzt), aber keine breite Arbeiterklasse wie in Frankreich! Das haben Marx, Engels und der Kommunistenbund sehr genau gesehen und ihre Strategie entsprechend formuliert. Sie wußten, daß sich dieser Bund mit seinen Gemeinden in Deutschland auf wenige fortge-

schrittene Intellektuelle (wie z.B. Joseph Weydemeyer) und auf Handwerksgesellen stützt, die bei ihren Wanderungen sozialistisches Denken

kennengelernt haben, daß aber zu den Arbeiterzentren, die es damals gibt, zu den Textilarbeitern etwa ım Rheinland, kaum Verbindungen bestehen. Sie wußten, auf welch niedrigem Bewußtseinsniveau sich das deutsche Volk befindet, und deshalb besteht ihr Aktionsprogramm aus

Forderungen, die vor allem das Ziel der demokratischen Revolution in den Vordergrund stellen. Daher ergibt sich auch dieses scheinbar merkwürdige Verhalten der Mitglieder des »Bundes der Kommunisten« im Revolutionsprozeß. Viele seiner Mitglieder kehren aus der Emigration in Frankreich und England

nach Deutschland zurück und beeinflussen die einzelnen Gemeinden des

Bundes in deren konkretem Verhalten während des Revolutionsprozes-

ses. Dabei verhalten sie sich häufig völlig verschieden - je nach den lokalen Gegebenheiten, an die sie anknüpfen müssen. Marx und Engels

kommen in eines der damals auch in der industriellen Entwicklung fortschrittlichsten Gebiete zurück, in den nördlichen Teil der Rheinprovinz des Landes Preußen, nach Köln. Hier war Marx, bevor er 1843 emigrierte, Redakteur der »Rheinischen Zeitung«, des demokratischsten Blattes der liberalen Bourgeoisie, gewesen. Marx und Engels gründen nach ihrer Rückkehr sofort eine Tageszeitung, die »Neue Rheinische Zeitung« (die

vom 1. Juni 1848 bis 19. Mai 1849 erschien), mit der sie den Revolutions-

prozeß in ganz Deutschland beeinflussen, denn es ist die klarste, radikal-

ste demokratische Zeitung des ganzen Deutschen Bundes. Auch dem Mitarbeiterkreis nach ist sie eine der besten damaligen Zeitungen - man denke allein an das Feuilleton, in dem Ferdinand Freiligrath und Georg Weerth schrieben. Marx und Engels leisten in Köln eine doppelte Arbeit:

Einerseits bauen sie diese radikal-demokratische Tageszeitung auf, die sich keineswegs nur an die Arbeiterklasse, sondern auch an die radikalen

68

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

Kleinbürger und demokratisch denkenden Intellektuellen wendet, um ihnen eine Strategie für den Revolutionsprozeß zu vermitteln, die darauf abzielt, die demokratische

Revolution

vorwärtszutreiben.

Andererseits

sind sie an der Gründung eines Arbeitervereins in dieser Region beteiligt,

der von allen in dieser Zeit in Deutschland gegründeten Arbeitervereinen am stärksten zu einer Massenorganisation wird, und sie vermitteln dieser

Arbeiterorganisation ihre Strategie: ihre Arbeiterinteressen gegen die industrielle Bourgeoisie zu vertreten und quasi gewerkschaftlich zu denken, vor allem aber auch den demokratischen Befreiungskampf zu unterstüt-

zen und damit das zu ersetzen, was es in Deutschland nicht gibt: eine fest organisierte, linke demokratische Volkspartei, die das deutsche Kleinbür-

gertum in dieser Zeit nicht zuwege bringt. Dieser Kölner Arbeiterverein, der Tausende von Mitgliedern hat (eine für diese Zeit enorm hohe Zahl), folgt - nach heftigen Auseinandersetzungen mit, wir würden heute sagen:

ultralinken Positionen — ihrer Strategie und führt in der Hauptsache pro-

demokratische und pro-einheitsstaatliche Demonstrationen und Aktionen durch. Er erkämpft den Freiraum für die »Neue Rheinische Zei-

tung«, so daß die preußische Administration lange Zeit nicht stark genug ist, diese Zeitung zu verbieten, während in vielen anderen Teilen des Deutschen Bundes demokratische Presseäußerungen sehr rasch wieder verboten werden. Die Mitglieder des Kommunistenbundes, die in andere Gebiete gehen,

verhalten sich in ganz ähnlicher Weise, aber unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse. Ihre Zielsetzung ist dieselbe: Treiben wir die Klein-

bürger und den linken Teil der industriellen Bourgeoisie voran, damit sie

für demokratische Rechte und eine deutsche Republik kämpfen, denn das ist das aktuelle Hauptziel. Nur wenn wir die Revolution in Richtung auf die demokratische Republik weiterentwickeln, haben wir längerfristig eine Chance auch für sozialistische Ziele. Soweit möglich, organisieren wir daneben Arbeitervereine. Der Kommunistenbund als solcher spielt jetzt kaum noch eine Rolle, Er existiert vor allem in Gruppenbeziehungen fort, jedoch nicht mehr als formelle Quasi-Partei. Das »Kommunistische Manifest« wird zwar verbreitet, allerdings in ganz wenigen Exemplaren. Erst in späteren Perioden der Arbeiterbewegung erlebt es Riesenauflagen, und heute ist es zum klassischen Dokument der gesamten Arbeiterbewegung geworden. Damals aber beträgt die Auflage nur einige tausend Exemplare, von denen ein großer Teil gar nicht in Deutschland, sondern in anderen Ländern

Europas verbreitet wird.

Der Revolutionsprozeß in Deutschland verläuft äußerst widersprüchlich und uneinheitlich. Zu dem, was Marx und Engels erstrebt haben,

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

69

zum Sieg der demokratischen Republik und dann zur Konstituierung einer einheitlichen Arbeiterpartei kommt

es nicht, weil die Revolution in

Etappen geschlagen wird. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß die wirkliche Entscheidung über den deutschen Revolutionsprozeß gar nicht in Deutschland gefallen ist; sie ist in Frankreich durch die Juni-Kämpfe 1848 vorweggenommen worden. Weil in Frankreich die Arbeiterklasse in dieser Weise selbständig aufgetreten ist und im Juni-Aufstand ihre In-

teressen, nämlich die Erhaltung der Produktionswerkstätten und des Rechts auf Arbeit, mit der Waffe in der Hand vertreten hat, bekommt die internationale Bourgeoisie, und vor allem auch die deutsche, einen solchen Schrecken, daß sie vor jedem Ansinnen der Reaktion zurückweicht. Ihre Hauptfurcht gilt jetzt nicht mehr dem Sieg der Gegenrevolution,

sondern einem Sieg der Arbeiterklasse, so wenig ein solcher auch in Deutschland aktuell wirklich ein Problem ist. Die deutschen Liberalen erschrecken

immer

dann, wenn

demokratische

Varianten stärker wer-

den; sie ziehen sich aus Angst vor dem Druck der Reaktion auf der einen

Seite und aus schrecklicher Angst vor revolutionärer Gewalt auf der anderen Seite wieder zurück. In Krisenperioden proklamiert zwar auch der linke, der demokratische Teil der liberalen Bewegungen, der sich im Revolutionsprozeß ebenfalls entwickelt, die Gewalt, denn anders als durch physische Gewalt kann man monarchistische Regimes bekanntlich nicht abschaffen. So war es bei den deutschen Liberalen seit 1830 gewesen. Damals hatten auch in Deutschland regionale demokratische Bewegungen stattgefunden, die in verschiedenen deutschen Staaten Konzessionen des Absolutismus an das Verfassungsstreben des liberalen Bürgertums herbeigeführt hatten. Aber wenn die Massen in diesen Bewegungen allzusehr demonstrierten, wie beispielsweise im Kurfürstentum Hessen, dann

schlotterten den übrigen Liberalen sofort die Knie - obwohl sie aufgrund

dieser Massenbewegung eine Verfassung erhielten. Nicht anders ist jetzt

ihr Verhalten im Revolutionsprozeß 1848. Die Vorbereitung der Revolution in Frankreich und dann die Februarrevolution selbst rufen natürlich einen großen Aufschwung demokratischer Volksbewegungen auch in Deutschland hervor. Es kommt zur Märzrevolution in Berlin und zu Parallelentwicklungen in allen großen deutschen Städten. Auf die Straße gehen dabei die Handwerker und die Arbeiter, die Kleinbürger und zum Teil auch die Studenten, Die Bourgeois nehmen an den Barrikadenkämpfen kaum teil. Aber diese revolutionäre Entwicklung liegt zunächst durchaus im Interesse der industriellen Bourgeois, die wollen, daß ihre absolutistischen Herren zu Konzes-

sionen gezwungen werden. Jeder industrielle Bourgeois in Deutschland will damals ein einheitliches deutsches Zollgebiet, wenn möglich einen

70

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

einheitlichen deutschen Staat mit einheitlicher Gesetzgebung, denn das

ermöglicht die Ausbreitung des Industrialismus und damit die Erhöhung

seiner Profite. Daher ist er sehr glücklich über die Revolution, denn die zwingt die Feudalklasse und die Bürokraten des Königs, die nur äußerstenfalls eine Konzession an die Vernunft machen, zu Zugeständnissen.

Feudale Klassen können nie denken, und hohe Bürokraten, die langfristig denken können, kann man immer an fünf Fingern abzählen. (Natürlich

braucht der preußische Staat - bleiben wir beim fortgeschrittensten Staat des Deutschen

Bundes

- eine relativ aufgeklärte Bürokratie,

denn

sonst

kann er alle seine Provinzen gar nicht verwalten und hohe Steuereinnahmen erzielen, um seine Armee zu unterhalten. Daher muß diese Bürokratie auch funktionieren. Aber sie stammt —- besonders ihre Spitze —

zum großen Teil aus dem Feudaladel, der damals herrschenden Klasse,

Deshalb hat sie nicht nur die Interessen der Verwaltung des eigenen Ressorts, sondern auch alle Vorurteile im Kopf, die dem Feudaladel von Jugend an zu eigen sind. Selbst wenn die einzelnen Bürokraten aus bürgerlichen Schichten kommen, leben sie mehrheitlich in dieser monarchistischen Vorstellungswelt. Daher können sie nicht langfristig strategisch denken, sondern immer nur in den Grenzen ihrer beschränkten Interessen.) So ist das liberale Bürgertum zunächst bei den Wahlen zur preußi-

schen Nationalversammlung und zur deutschen Nationalversammlung

(der Deutsche Bund löst seine Institutionen nicht auf, aber er gestattet selbst diese Wahlen zur Nationalversammlung aus Angst vor der Revolu-

tion) für die Einführung eines gleichen Wahlrechts, um einen deutschen Nationalstaat zu schaffen.

Es war aber voraussehbar - und Marx und Engels haben das prognostiziert —, daß die liberalen Bürger nicht bei dieser Haltung bleiben wür-

den, sobald die Reaktion wieder beginnt, sich mit Erfolg zu wehren (das

versucht natürlich jede reaktionäre Staatsgewalt), sondern daß sie schleunigst ihre Kompromisse

mit der Reaktion suchen und zurückweichen

werden, da sie eine enorme Angst vor dem Weitertreiben des Revolutionsprozesses haben. So geschah es denn auch in allen deutschen Staaten in extremem

Maße

nach der Juni-Schlacht in Paris. Direkt nach

den

Wahlen zur deutschen und zur preußischen Nationalversammlung wer-

den die liberalen Parteien, in denen das Bürgertum und Professoren vorherrschen, vorsichtig. Sie wollen das gleiche Wahlrecht nicht mehr, das sie dem Druck der Unterschichten aussetzen würde. Sie wollen keine einheitliche Republik mehr — die will nur noch eine kleine demokratische radikale Fraktion —, sondern sie wollen eine konstitutionelle Monarchie, eine Monarchie mit gesicherten Verfassungsrechten für die Bür-

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

71

ger, nicht etwa für die Arbeiterklasse. Daher führen die Liberalen auch keine Kämpfe gegen die noch bestehenden Machtpositionen der Fürsten,

sondern sie diskutieren zunächst einmal breit über die Verfassung, wobei sie nicht erwa den geplanten Staatsaufbau behandeln (denn der ist strittig, und

ein Streit darüber

könnte

den

Revolutionsprozeß

weitertreiben),

sondern sie verhandeln abstrakt das Grundrechtesystem, denn das ist ja eine Grundlage des bürgerlichen Rechtssystems. Diese Politik setzt sich in Frankfurt in der Nationalversammlung gegen eine kleine demokrati-

sche Fraktion völlig durch. Teilweise setzt sie sich auch in der preußi-

schen Nationalversammlung durch, aber dort bleibt die Haltung vieler Abgeordneter zunächst noch radikaler, denn sie stehen in Berlin unter einem ganz anderen öffentlichen Druck als die Frankfurter Nationalver-

sammlung.

Frankfurt ist damals

eine industriell völlig unentwickelte

Stadt mit reaktionärer Struktur. Berlin ist da wesentlich weiter, deshalb stehen die liberalen Abgeordneten der preußischen Nationalversammlung unter einem viel stärkeren Druck von immer neuen Demonstratio-

nen der Volksmassen und halten sich besser. Die Regierung - der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hatte als Antwort auf den 18. März

schleunigst sein Kabinett umgestalter und Vertreter der liberalen indu-

striellen Bourgeoisie und des Bankkapitals des Rheinlandes ins Kabinett geholt (Camphausen, Hansemann) - macht erhebliche Konzessionen,

denn sie fürchtet gerade nach der Juni-Schlacht das Proletariat aufgrund

ihrer Kenntnis der rheinischen Industrieregionen sehr. So kommt es also

zu einem Kapitulationsprozeß der Bourgeoisie tung auf immer neue Kompromisse mit dem gedrängten feudalen Großgrundbesitz. In der sammlung sitzen — auf dem Lande gewählt,

Großgrundbesitzgebieten

behalten

die

vor der Reaktion in Richzunächst in die Defensive preußischen Nationalverdenn in den ostelbischen

Grundherren

weitgehend

die

Macht über das Denken ihrer früheren Leibeigenen, die ja in völliger Unwissenheit gehalten worden sind - auch Großgrundbesitzer, wie bei-

spielsweise der Herr von Bismarck, die die reaktionärste Fraktion des

Parlamentes bilden. Aber nicht einmal Herr von Bismarck wagt in der

ersten Periode der Revolution, für die volle Wiederherstellung der absolutistischen Macht aufzutreten — das tut er erst später. Statt dessen tritt er klugerweise für die unbedingte Aufrechterhaltung der Disziplin in der Armee und in der Bürokratie ein, denn das sind die Instrumente, mit denen man später den Sieg der Gegenrevolution organisieren kann. Die preußische Nationalversammlung und die Krone können sich über die Verfassungsfrage zunächst nicht einigen. Zwar ist auch die preußische Nationalversammlung nicht etwa so kühn, die demokratische Re-

publik zu fordern; sie verlangt nur die parlamentarische Herrschaft in ei-

72

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

ner konstitutionellen Monarchie wie in England. Sie kombiniert das englische Verfassungsdenken mit den Forderungen der Chartisten nach Durchsetzung des gleichen Wahlrechts und erhebt damit schon eine demokratisch-revolutionäre Forderung. Aber eine solche Verfassung will natürlich weder die Krone noch — jetzt nach den Juni-Kämpfen in Frank-

reich — die liberale Großbourgeoisie des Rheinlandes, der rechte Flügel der Liberalen. In dieser Situation kann die preußische Nationalversammlung vom König im November 1848 aufgelöst werden, und die Arbeiter-

klasse und das demokratische Kleinbürgertum sind nicht mehr stark genug, sie wirklich verteidigen zu können. Aber es gibt in Berlin, wie in anderen Großstädten mit Ansätzen eines modernen Proletariats, auch Arbeitervereine, die nun die besonderen In-

teressen der Arbeiterklasse einbringen und dadurch auch die Bourgeoisie zu Konzessionen zwingen wollen. In ihnen gibt es natürlich noch viel kleinbürgerliches Denken, und in jedem Revolutionsprozeß werden frisch politisierte Massen zum Teil auch utopischen Forderungen folgen. Es gibt kleinbürgerliche Sozialisten - »wahre Sozialisten«, wie Marx und Engels sie nennen -, die von Saint-Simon und von Proudhon her wissen, daß, wird der industrielle Kapitalismus voll entwickelt, dann eine Periode heftiger Klassenkämpfe folgt, und die, um diese Periode zu vermeiden,

sofort in sozialistische Lösungen hineinspringen wollen. Gegen diese Konzepte wenden sich Marx und Engels ebenso wie gegen eine andere Variante, die im deutschen Revolutionsprozeß eine größere Rolle spielt, eine Variante putschistischer Art. Die Anhänger dieses putschistischen Denkens glauben, sie könnten die demokratische Republik sofort erringen, wenn sie mit einer aus Emigranten zusammengestellten Kleintruppe

aus Frankreich, das ja Republik ist, in Baden einmarschieren und die ba-

dische Republik aufrichten. Diese Meinung vertreten einige kleinbürger-

lich-demokratische Revolutionäre, unter ihnen auch der Dichter Georg

Herwegh. In einem revolutionären Prozeß werden solche Illusionen im-

mer auftauchen. Marx und Engels wissen aber, daß eine demokratische

Republik nur zu errichten ist, wenn die Massen auf seiten einer demokra-

tischen Revolution stehen und die Republik erkämpfen.

Das sind die beiden ultralinken Varianten, gegen die sich Marx und

Engels am stärksten in dieser Periode wenden müssen. Sie brauchen weniger gegen die Ideologie des utopischen Sozialismus der verschiedensten Ausformungen zu kämpfen (die sie im »Kommunistischen Manifest« gründlich kritisiert hatten) als gegen diesen utopischen Putschismus der kleinbürgerlich-demokratischen, revolutionären Bewegung. Eine

andere

Tendenz,

gegen

die Marx

und

Engels

auftreten,

ist die

Tendenz zu entpolitisierend-illusionären Forderungen, die bei der Grün-

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

dung von Arbeitervereinen

an den verschiedensten

73

Stellen auftauchen.

Der Revolutionsprozeß hat die abhängig Arbeitenden in starkem Maße mobilisiert, denn sie haben ja die praktischen Kämpfe auf der Straße geführt, die die Regierungen zu Konzessionen und zur Kapitulation vor der Forderung

nach

Einberufung

einer

Nationalversammlung

gezwungen

haben. Jetzt sind die Massen lebendig, und jetzt beginnen sie auch zu entdecken - was die Mitglieder des Kommunistenbundes ihnen immer wieder klarzumachen versuchen —, daß sie besondere Arbeiterinteressen wahrzunehmen haben und auf Dauer die revolutionärste Klasse in diesen

Klassenauseinandersetzungen in Deutschland sein werden. Dabei müssen sie ihre Sonderforderungen auch gegenüber der Bourgeoisie durchsetzen.

Es bilden sich die ersten lokalen Gewerkschaftsansätze, die bei den Buchdruckern und den Zigarrenarbeitern sogar zu Zusammenschlüssen auf

nationaler Ebene führen. Die Buchdrucker gründen im Juni 1848 in

Mainz

den

National-Buchdruckerverein,

der einen

einheitlichen

Tarif

fordert und ihn mit einem gleichzeitigen Streik aller deutschen Buch-

drucker durchzusetzen versucht, der allerdings scheitert. Die Buchdrukker sind der gebildetste Teil der damaligen abhängig arbeitenden Bevölkerung, und ihre Aktionen waren gar nicht so utopisch und auch nicht

politisch falsch. Aber an anderen Stellen dringen divergente Tagesforderungen völlig in den Vordergrund, was durchaus verständlich ist.

Bei den Arbeitervereinen, wie sie von dem Mitglied des Kommunistenbundes Stephan Born im Bundesmaßstab vereinigt und im September 1848 zur Arbeiterverbrüderung (der mehr als 100 dieser Vereine angehören) zusammengeschlossen werden, stehen mit Recht die Forderungen nach sozialpolitischen Maßnahmen -des Staates und nach freiem Lohnkampf im Mittelpunkt - Forderungen also, die den Beginn der Einsicht

in die Notwendigkeit einer modernen Gewerkschaftsbewegung zeigen. Diese Forderungen werden zusammengefaßt und auf Kongressen programmatisch proklamiert. Die besonderen Arbeiterforderungen, so berechtigt und notwendig sie auch mit der Zielrichtung auf eine sozialisti-

sche Gesellschaft sind, treten in vielen Arbeitervereinen an die Stelle der Einsicht, daß die aktuelle Hauptaufgabe das Vorwärtstreiben des Kamp-

fes um eine einheitliche demokratische Republik im Bündnis mit den kleinbürgerlichen Massen und den Intellektuellen bleiben muß. Diese Entwicklung wird vom »Bund der Kommunisten« kritisiert, dennoch arbeiten die Mitglieder des Kommunistenbundes in den Führungen der Arbeitervereine mit, und die fortschrittlichsten Teile der demokratischen

Bewegung suchen mit den Mitgliedern des Kommunistenbundes Fühlung, wie beispielsweise Ferdinand Lassalle, der dann in der späteren Periode der Arbeiterbewegung eine große Rolle spielen wird. Er sucht Ver-

74

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

bindung

mit der Redaktion

der »Neuen

Rheinischen

erkennt, daß diese Gruppe am klarsten denkt.

Zeitung«,

weil

er

Nur: die Entscheidung über den Ausgang der Revolution ist bereits gefallen. Sie ist dadurch gefallen, daß die liberale Bourgeoisie in beiden Na-

tionalversammlungen,

in Berlin

wie

in Frankfurt,

ihr Bündnis

nach

rechts sucht. In den Debatten setzt sie durch unsinnig lange Grundrechtsdiskussionen die praktische Politik von der Tagesordnung ab und entmachtet dadurch die Nationalversammlung im Verhältnis zu den Re-

gierungen der einzelnen Länder, die ja immer noch fortbestehen. In der

preußischen Nationalversammlung weiß die Mehrheit der Abgeordneten

nicht, was sie tun soll, als das Parlament von der Krone aufgelöst wird.

Die Führung der rheinischen Bourgeoisie hat ihr Bündnis mit der Krone geschlossen und ist fest entschlossen, einen Vormarsch der Arbeiterbewegung und den Sieg einer wirklich demokratischen Revolution zu verhindern. Damit ist im Grunde schon alles entschieden., Zwar kommen

noch neue revolutionäre Wellen, aber sie siınd nicht

mehr von so zentraler Bedeutung wie ım März 1848. Nun kann jeder einzelne weitere Revolutionsversuch niedergeschlagen werden. Im Oktober wird die Revolution in Wien abgeschlachtet, und die Frankfurter Na-

tionalversammlung steht daneben und schweigt, obgleich dabei ihr Mit-

glied Robert Blum von Regierungstruppen ermordet wird. Einzelvorstö-

ße der revolutionären Demokratie, wie im September in Frankfurt, können durch die gemeinsame Aktion der Regierungen leicht bewältigt wer-

den. Derweil streiten die Herren Ideologen der Liberalen, die Bamberger

und Uhland, die eine bundesstaatliche konstitutionelle deutsche Monarchie anstreben, ob sie diese konstitutionelle Monarchie unter österreichi-

scher oder preußischer Krone schaffen sollen. Schließlich entscheiden sich die liberalen Bourgeois im März 1849 in der deutschen Nationalver-

sammlung, in der sie die große Mehrheit haben, praktisch für eine klein-

deutsche Reichsverfassung und wollen den preußischen König als Kaiser haben. Das ist so lächerlich, daß der preußische König den Abgeordneten, die zu ihm kommen und ihn untertänigst bitten, die Krone zu übernehmen, sagen kann, eine revolutionsbeschmutzte Krone nehme er nicht

an, er bleibe lieber preußischer König.

Nun ist bereits alles entschieden, obwohl das Volk noch einmal auf die

Barrikaden geht, um die Reichsverfassung, die die Liberalen längst aufgegeben haben, zu verteidigen. Im Mai 1849 kommt es in Dresden, in Elberfeld, in der Pfalz und in Baden zum Aufstand. Der linke Flügel und einige demokratisch-kleinbürgerliche Deputierte der Nationalversammlung bestehen auf der Reichsverfassung und weichen nach Stuttgart aus, um als »Rumpfparlament« weitertagen zu können. Aber auch dort jagt

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

75

sie preußisches Militär auseinander. Der Reichsverfassungsaufstand wird nur noch von der radikal-demokratischen Fraktion getragen. Es war nur zu klar, daß nichts mehr zu gewinnen war; denn außer in Teilen von Baden und der Pfalz gab es keine Kräfte mehr, um die Revolution noch ret-

ten zu können. Und so wird der badische Aufstand (Friedrich Engels war übrigens in Baden in die Revolutionsarmee eingetreten) zwar nicht durch die badische Armee — die löst sich praktisch auf bzw. ist zu den Revolutionären übergegangen —, aber durch die preußische Armee nach heftigen

Kämpfen niedergeschlagen und niedergemetzelt. Es endet mit dem Sieg der Gegenrevolution. kratischen

Kräfte

Die proletarischen wie die kleinbürgerlich-demo-

werden

wieder

in

die

Emigration

gezwungen,

denn

überall im Deutschen Bund setzt prompt der konterrevolutionäre Terror ein. Allerdings bleiben Konzessionen an die Bourgeoisie bestehen. Preußen ist jetzt Verfassungsstaat geworden mit einer vom König oktroyier-

ten Verfassung, die statt des gleichen Wahlrechts das Dreiklassenwahlrecht enthält, das bis zum Sieg der Revolution im Jahre 1918 in Preußen

bestehen

bleibt.

Mit

ihm

ist im

preußischen

Abgeordnetenhaus

die

Mehrheit des rechten Flügels der Bourgeoisie und der feudalen Oberklas-

sen gesichert.

Der alte Deutsche Bund wird restauriert und krönt das Werk der Gegenrevolution durch Unterdrückungskampagnen gegen die junge Arbei-

terbewegung. Inzwischen ist der reaktionäre Abgeordnete der Nationalversammlung

Otto

von

Bismarck

in der Diplomatie

der preußischen

Krone aufgestiegen und jetzt Vertreter Preußens beim Deutschen Bund. Er stellt 1854 den Antrag auf Totalverbot aller Arbeitervereine im Deut-

schen Bund, der einstimmig von den Vertretern der anderen Länder angenommen wird. Jetzt waren Arbeitervereinigungen nicht mehr nur in den einzelnen Ländern verboten, sondern auch durch Bundesrecht des Deutschen Bundes illegalisiert. Es kam also eine extrem reaktionäre, nicht nur

eine restaurative Politik zum Zuge, die den Interessen der feudalen Klas-

se, jedoch nur sehr begrenzt denen des rechtesten Flügels der Liberalen entsprach. Das unbedingte Verbot von Arbeitervereinen kann eigentlich von der rheinischen Bourgeoisie nicht so entschieden vertreten werden, denn sie hätte die Vereinsfreiheit schon im eigenen Interesse bewahren wollen, aber auch aus der Überlegung heraus, daß es in konjunkturellen Aufschwungsperioden vielleicht sinnvoll sein könnte, von der Bourgeoisie kontrollierte Arbeitervereine sich entwickeln zu lassen. Aber mit der Niederschlagung der Revolution siegt im Deutschen Bund die extremste Reaktion, wenn auch in manchen Fällen noch Reste von Konzessionen

an die Bourgeoisie — allerdings nicht mehr an die Volksmassen — bleiben, wie etwa die Kontrollierung des Steuerrechts durch das Parlament in

76

Die Revolution von 1848 in Deutschland und der »Bund der Kommunisten«

Preußen, dessen politisches System insofern nicht mehr identisch ist mit dem absolutistischen System vorher.

Das Ende des Revolutionsprozesses in Deutschland bedeutet auch das

Ende der revolutionären Welle von 1848/49 in Europa. Dieser Revolutionsprozeß war durch eine ökonomische Krise, die ganz Europa ergriffen hatte, entstanden. Nun setzt ab Ende 1848, in England schon vorher, eine

neue ökonomische Aufschwungsperiode ein, die durch die Resultate des Revolutionsprozesses beschleunigt wird. Teils durch die Konzessionen zugunsten der Bourgeoisie, teils durch den Sieg des Bonapartismus

ın

Frankreich beschleunigt sich der wirtschaftliche Aufschwung, und daher ist die Revolutionsperiode in Europa zu Ende, Der revolutionäre Anstoß

war in der Krise entstanden, als sich die Volksmassen nicht mehr zu hel-

fen wußten. Mit der neuen Konjunktur festigt sich nun die Restauration überall.

77

8. Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

Die europäische Revolutionsperiode von 1848/49, Folge der ökonomi-

schen Krise ab 1846, hinterließ in allen europäischen Ländern Ansätze der werdenden Arbeiterbewegung, die in Kontinentaleuropa wie in Eng-

land an der Seite der kleinbürgerlichen revolutionär-demokratischen Bestrebungen mit dem Ziel des demokratischen Wahlrechts und erstmals auch mit dem Ziel ihrer Verselbständigung gegenüber den kleinbürgerlich-demokratischen Schichten zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen

aufgetreten war. Zwar siegt in allen europäischen Ländern die Konterrevolution, aber überall, auch im Deutschen Bund, hat das jetzt restaurierte, konterrevolutionäre Regime - auch wenn es äußerlich so aussieht, als

ob alles wieder so wäre wie vor 1848 - doch gewandelte Formen. Man kann deshalb nicht von einer totalen Wiederherstellung der vorherigen Verhältnisse reden. In den Staaten des Deutschen Bundes sind die absolutistischen Staats-

formen durch konstitutionelle Strukturen ersetzt worden. Infolgedessen ist überall der Bourgeoisie, nicht den Arbeitermassen, ein geringfügiges Mitregierungsrecht eingeräumt worden. In Preußen, das selbst mit seiner oktroyierten Konstitution in begrenztem Maß ein Verfassungsstaat ge-

worden ist, scheint im Abgeordnetenhaus dank des Dreiklassenwahlrechts eine Mehrheit für die Junkerklasse garantiert zu sein. Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß nun in einigen preußischen Provinzen Teile der Junkerklasse beginnen, sich mit aufsteigenden Gruppen der bürgerlichen Klasse zu verschmelzen. Ihre dadurch gewandelten Interes-

sen bringen sie auch in die Gesetzgebung des Staates ein. Teile der Junkerklasse werden gleichzeitig zu industriellen Produzenten und müssen daher ihre politische Position aus ihrer gewandelten Interessenlage heraus ändern. Die Arbeiterbewegung ist im Deutschen Bund vorerst erledigt. Mit dem Kölner Kommunistenprozeß von 1852 und damit der Liquidation der kommunistischen Gemeinden in Deutschland ist der Kommunistenbund durch totale Illegalisierung ausgelöscht. Darüber hinaus hat der Deutsche

78

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

Bund 1854 den Beschluß gefaßt:, Arbeiterorganisationen generell zu verbieten. Damit sind alle Organisationsversuche, wie sie während der Revolution z.B. in Gestalt der Arbeitervereine eingeleitet worden waren, zu

Ende (denn wer da weiter mitmachen würde, kommt in Haft). Die Durchsetzung aller illegalen Organisationsversuche mit Spitzeln — das zeigt der Kölner Kommunistenprozeß — gelingt in dieser Niedergangsperiode weitgehend. Das Gesetz über das Verbot der Arbeiterorganisationen gilt übrigens formell bis zum Ende des Deutschen Bundes, also bis 1866; allerdings wird es von einer ganzen Reihe von Mitgliedsstaaten am Ende nicht mehr angewandt, weil es nicht mehr durchführbar ist. So wird die Organisationszusammengehörigkeit der Arbeiter für eine ganze Periode beseitigt. Die organisatorischen Kerne waren ja vor 1848 kleine Kader - man denke an den Kommunistenbund —, und kleine Kader kann man leicht liquidieren, wenn sie keinen Massenrückhalt haben und sich nicht regenerieren können. Die Massen, die in der Revolution aktiviert

worden sind, leben jetzt im Schrecken vor dem Terror der Gegenrevolu-

tion, und man kann sie zunächst nicht mehr mobilisieren. Dank des ökonomischen Aufschwungs in der neuen Periode der kapitalistischen

Konjunktur, die eine große Ausweitung der industriellen Unternehmun-

gen gegenüber der Periode vorher bringt, wird die Arbeitslosigkeit reduziert, und erhebliche Teile der Arbeiterklasse sind nun trotz ihrer wei-

terhin elenden Lage in einer geringfügig besseren Situation als vorher.

Entsprechend mindert sich der Trend zur Selbstorganisierung, zumal die

Arbeiter die Erfahrung des Scheiterns der Revolution noch vor Augen haben.

Bei den bürgerlichen Klassen ist diese Zerstörung ihrer Organisatio-

nen nicht in gleichem Maße vorhanden, denn liberale Bewegungen - mit Ausnahme radikal-demokratischer natürlich — bleiben legal. Die bürgerli-

chen Klassen führen in allen möglichen Formen liberale Vereinigungen

weiter, die sie für die Wahlen als organisatorischen Rahmen ja auch brau-

chen und die in gewisser Weise politischen Druck entfalten können. Andererseits haben die Konservativen aus dem Revolutionsverlauf gelernt und spekulieren jetzt zum Teil darauf, die sozialen Interessen der Arbeiter gegen die hürgerlichen Klassen auszuspielen,

um

die Liberalen

zu

schwächen und z.B. in Steuer- und Budgetfragen zu Zugeständnissen zu zwingen. Daher scheinen nun bisweilen die Konservativen, die Repräsen-

tanten der Junkerklasse, in manchen sozialen Fragen relativ rationaler zu

sein als die bürgerlichen Klassen, die auf unmittelbaren Profit ausgehen müssen. Aber auch bei Teilen der Liberalen wächst die Erkenntnis,

daß

ihr kurzfristigstes Profitinteresse mit der langfristigen Profitstrategie in

Konflikt gerät. Eine Folge dieses doppelten Prozesses war z.B. die Re-

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

79

formierung des preußischen Kinderschutzgesetzes im Jahre 1853,' denn (wir hatten das schon am englischen Beispiel gesehen) eine zu extreme Ausbeutung der Kinder und eine totale Verhinderung aller Ausbildungsmöglichkeiten der ärmeren Schichten hat die Konsequenz, daß in der nächsten Entwicklungsstufe nicht mehr genügend verwertbare Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Man kann nicht mit lauter Analphabeten, die zudem noch krank sind, industriell wirtschaften. So wird Kinderarbeit auch in Preußen verboten, wenn sie von Kindern unter 12 Jahren ausgeführt wird. Und die Kinderarbeit für die 12- bis 14jährigen wird auf 6 Stunden

pro Tag beschränkt. Gleichzeitig wird eine striktere Durchsetzung der Schulpflicht betrieben, allerdings nicht - wie in der späteren Zeit - in Form einer 8jährigen Schulpflicht, sondern dahingehend, daß die Kinder mindestens 2 bis 4 Jahre in die Schule gehen müssen. Gleichzeitig wird die Volksschullehrerausbildung vom preußischen Staat noch extrem ver-

nachlässigt. Sie wird der kirchlichen Bevormundung unterstellt, um zu

verhindern,

daß

eine oppositionelle

Lehrerbewegung

entsteht. Junker-

klasse und Staatsapparat haben für die Einschränkung der Kinderarbeit

übrigens auch militärische Gründe, denn man kann eine Armee der all-

gemeinen Dienstpflicht nicht mehr mit vollen Analphabeten, die zudem

durch die frühe Kinderarbeit verkrüppelt sind, aufrechterhalten. In dem Jahrzehnt nach der Revolution setzt sich der ökonomische Aufschwung rasch fort. Die industrielle Produktion Deutschlands verdoppelt sich in den 50er Jahren und übertrifft bald die Frankreichs. Die Kohleerzeugung erhöht sich von 7 auf 17 Mio. Tonnen, und die Roheisenproduktion steigt um mehr als 150%. In dieser ökonomischen Ent-

wicklungsperiode vergrößert sich die industrielle Arbeiterklasse durch

das Hineinziehen von bisherigen Landarbeiterschichten in das städtische Proletariat, wobei es in dieser wachsenden industriellen Arbeiterklasse noch durchaus divergierende Interessen gibt. Denn natürlich hat der gelernte Drucker wenig Ahnung von dem, was ein Hilfsarbeiter in einem Bergwerk in Westfalen oder in Schlesien macht; und natürlich sind die

Interessen eines gelernten Bergmannes noch halb von ständischem Den-

ken beeinflußt, während der polnische Arbeiter, der jetzt in ein Berg-

werk in Schlesien einfährt (die große Zuwanderung polnischer Arbeiter ins Ruhrrevier beginnt erst eine Stufe später, und da wiederholt sich dieses Problem), den eingesessenen Bergmann noch nicht einmal sprachlich 1

Die ersten Kinderschutzgesetze in Preußen wurden

1839 erlassen. Sie bestimmten, daß

Kinder erst ab 9 Jahren in Fabriken und Bergwerken arbeiten durften. Nachtarbeit sowie Sonntags- und Feiertagsarbeit wurden für Kinder verboten, der Arbeitstag wurde bis zum 16. Lebensjahr auf 10 Stunden begrenzt. In der Praxis wurden diese Bestimmungen von vielen Unternehmen umgangen.

80

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

versteht. Trotz all dieser Widersprüche verbreitert sich die Arbeiterklasse. Allerdings hat sie zunächst jedes Kampfdenken in der nachrevolutionären Periode verloren und gerät weitgehend in die Fänge neuer Vereine

für die Arbeiter, nicht der Arbeiter, die jetzt sowohl den Liberalen als

auch den Katholiken und Protestanten erlaubt werden. Denn der Staat hat gegen die Gründung von Arbeiterbildungsvereinen nicht immer etwas einzuwenden. Vom Standpunkt eines großen Teiles der liberalen Bourgeoisie aus sind diese sogar nützlich und notwendig, um die Verwertbarkeit der Arbeiter zu verbessern. In die Organisierung von Arbeiterbildungsvereinen, wie sie am Ende

der 50er Jahre überall teils mit liberalem, teils mit katholischem oder protestantischem Hintergrund entstehen, mischen sich (besonders bei den liberalen Vereinen) die geschlagenen Kräfte der demokratischkleinbürgerlichen Intelligenz und anderer demokratischer Schichten ein,

die hoffen, eine neue Basis finden zu können. Denn inzwischen sind bei vielen, die nach der Revolution von 1848 ins Zuchthaus mußten, die Stra-

fen abgelaufen. Sie mischen sich in diese Arbeiterbildungsbewegung ein,

und die zukunftsträchtigste und

breiteste wird dabei die liberale Strö-

mung der Arbeitervereine. Sie wird es deshalb, weil die fortschrittlicheren Teile der Arbeiterklasse, die jetzt entsteht und die kaum noch Kader

mit Erfahrungen von 1848 hat, lernen wollen — beispielsweise besseres Deutsch lernen wollen, um ın qualifizierteren Arbeiterberufen tätig sein

zu können. Sie gehen lieber in den liberalen Arbeiterbildungsverein als etwa in den katholischen Gesellenverein oder in den Christlichen Verein Junger Männer, wie ihn die protestantische Kirche organisiert. In diesen liberalen Vereinen werden sie auch zu kritischerem Denken angehalten, zwar nicht zu klassenbewußtem Denken hingeführt (das liegt den liberalen Intellektuellen, die dort unterrichten, durchaus fern), aber doch zu

einem Denken in Richtung alter liberal-demokratischer Zielsetzungen z.B. in der Wahlrechtsfrage. Trotz der kritischen Haltung von Marx und Engels zur Überbetonung der Wahlrechtsforderung — sie hatten in Frankreich gesehen, daß Louis Bonaparte mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts an die Macht gekommen war - bleibt diese revolutionärdemokratische Forderung in Deutschland wichtig. Sie vertieft die Differenzierung des demokratischen Flügels in der liberalen Bewegung gegen-

über der Mehrheit der Liberalen, die sich jetzt immer mehr darauf be-

schränkt, allein Zollfragen und Steuerprobleme zu behandeln und den permanenten österreichisch-preußischen Konflikt im Deutschen Bund zum Gegenstand ihrer Stellungnahmen zu machen. Die Arbeiterbewegung, die als Kampfbewegung durch die Illegalisierung zunächst ausgeJöscht ist, schließt sich mit ihren fortschrittlicheren und besser gebildeten

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

81

Teilen an die liberale Arbeiterbildungsvereinsbewegung an, die jetzt vom Staat toleriert wird. Denn insgesamt liegt es auch im Interesse des reaktionären Staates, daß ein gewisses Maß an Bildung in der Arbeiterklasse verbreitet wird, das beispielsweise bei der Rekrutierung der Unteroffiziere aus der Masse

der Soldaten

erforderlich

ist. Denn

Unteroffizier kann

nur jemand werden, der wenigstens richtig lesen und schreiben kann. Da es nicht genügt, was die Schule in dieser Hinsicht vermittelt - warum sollen es nicht solche Vereine leisten? Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß die autonomen Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung, die sich vor und in der 48er Revolution konstituiert hatten, nur noch in der Emigration existieren, und das sind wenige. Und diese wenigen kommen in die Situation einer jeden politischen Emigration, wie wir sie bis in unser Jahrhundert hinein (etwa bei der deut-

schen Emigration nach 1933) verfolgen können: Emigranten, auch politische Emigranten, hängen in dem Land, in das sie ausgewandert sind, zunächst in der Luft. Zum Teil gelingt es ihnen, sich in das Leben des Landes, in dem sie jetzt existieren, hineinzufinden und darın aufzugehen. So

geht es generell denen, die nach Amerika emigriert sind, und einem Teil derer, die nach England und in die Schweiz geflüchtet sind. Die Emigran-

ten, die sich nicht assimilieren, kochen in der eigenen Suppe, das gehört nun einmal zum Leben in einer Emigration. Sie versuchen, ihr politisches Denken von früher aufrechtzuerhalten und quasi als eine Partei von au-

ßen in die deutschen Verhältnisse hineinzuwirken. Dabei steigern sie sich von Illusion zu Illusion in der Hoffnung, daß morgen die neue revolutionäre Welle beginnt und sie dann dabei sein werden; und sie verzanken sich über das, was sie dann tun wollen. Diesen Vorgang können wir bereits beim Kommunistenbund erken-

nen, denn die Auseinandersetzung zwischen der sogenannten Mehrheitsfraktion

(August

Willich/Karl

Schapper)

und

der Minderheitsfraktion

(Marx/Engels) war ja nichts anderes. Marx und Engels hatten begriffen, daß mit einer nahen Revolution in Deutschland nicht zu rechnen war und eine langfristige Strategie durchdacht und wissenschaftlich erarbeitet werden mußte. Willich und Schapper sind die typischen Repräsentanten

der in jeder Emigration weitverbreiteten Stimmung: Wir sind zwar geschlagen, aber nur vorübergehend; die revolutionäre Situation besteht

fort, und wir müssen uns vor allem mit der Gründung immer neuer, auch militärisch konspirativer Vereinigungen beschäftigen. - So entsteht unvermeidlich die Mentalität des Putschismus. Willich und Schapper haben zwar vorübergehend im Kommunistenbund die Mehrheit, verlieren dann aber an Einfluß, weil ihre Prognose ganz offensichtlich nicht

stimmt.

In den kommunistischen

Vereinigungen,

die noch

illegal in

82

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

Deutschland existieren, haben Marx und Engels den größeren Einfluß,

denn sie sind mit ihrer Analyse näher an der Realität, die sie tagtäglich

vor sich haben. Nach dem Kölner Kommunistenprozeß (1852) ist aber dies Problem auch in Deutschland zunächst erledigt. Ein Teil der Emigration versinkt in Sektenstreitigkeiten und stirbt deshalb als politisch wirksame Gruppierung langsam ab. Im Londoner Kommunistischen

Arbeiterbildungsverein haben vorübergehend die Ultralinken die Mehrheit - genau wie im Kommunistenbund - und bestimmen eine Zeitlang das Bild. Deshalb treten Marx und Engels aus, während einer ihrer besten Freunde, Wilhelm Liebknecht, bald wieder in den Verein zurückkehrt. Der Verein findet auch bald wieder zu vernünftigerer Arbeit, aber Marx

und Engels ziehen sich jetzt in wissenschaftliche Arbeit zurück, ohne

weiter an diesen Streitigkeiten teilzunehmen. Sie beobachten dabei sehr

genau die politischen Prozesse in den europäischen Staaten und in der Welt, wie ihr Briefwechsel untereinander und auch mit Lassalle zeigt. Sie leisten Bildungsarbeit für die Kader der Arbeiterbewegung zunächst ohne

eigentliche organisatorische Tätigkeit. Engels und besonders Marx erbringen in dieser Zeit bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen — etwa in der Kritik der politischen Ökonomie —, aber aus dem politischen

Leben sind sie weitgehend ausgeschaltet, selbst wenn sie politische Leitartikel schreiben, die allerdings mehr beobachtend und analysierend sind,

als handlungsanweisend nach Deutschland hinein wirken zu wollen. Sie

schreiben in amerikanischen und englischen Zeitungen, und da die englische Arbeiterbewegung legal fortexistiert, gibt es auch eine eigene Arbeiterbewegungspresse, ın der sie schreiben können.

In Deutschland wird die sich ständig verbreiternde Arbeiterklasse aufgefangen von diesen Vereinigungen für Arbeiterbildung, wie sie von anderen Klassen für sie zu den Zwecken dieser anderen Klassen geschaffen

werden. Dennoch: es ist kein Zufall, daß erst nach Ausbruch der großen

ökonomischen Krise, die 1857 in England beginnt und Anfang der 60er Jahre nach Deutschland hinüberreicht, diese Vereine zur Blüte gelangen. Die Linksliberalen, die die Arbeiterbildungsvereinsbewegung betreiben (Hirsch, Duncker, Sonnemann und andere), bringen - wenn auch sehr vorsichtig - die Arbeiter, die sie ausbilden, auch mit demokratischen

Überlegungen und mit den Konzepten der englischen Gewerkschaftsbe-

wegung in Kontakt, denn sie wissen, daß Berufsgewerkschaften, wie sie in England fortexistieren, auch für den Unternehmer, wenn er langfristig und nicht nur an den unmittelbaren Erfolg denkt, nützlich sein können, wenn sie nicht kämpferisch funktionieren. Denn zur Akkumulation in-

dustrieller Gewinne gehört eben auch eine differenzierte Besserstellung

der produzierenden Arbeiter, um eine dauerhafte Versorgung der wach-

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

83

senden Industrie mit Arbeitskräften zu gewährleisten. Aus den Arbeiterbildungsvereinen heraus wird so die Tendenz zur Rekonstruktion von Berufsgewerkschaften verstärkt, und die Führer der liberalen Arbeiterbildungsvereine fördern zum Teil diese Berufsvereinstendenz. Das Vorbild dazu liefert jener Staat, der ja auch im übrigen das Ideal der Liberalen

in dieser Zeit ist, nämlich England, und deshalb teilweise auch die dortige

Gewerkschaftsbewegung. Allerdings wollen die Linksliberalen von dieser

Gewerkschaftsbewegung

keineswegs

das Kampfmittel

übernehmen,

das

die englischen Arbeiter immer noch gelegentlich gebrauchen und das dort ja auch teilweise immer noch legal ist, den Streik. Sie wollen kein Streikrecht, denn ihr Konzept zielt auf die Verständigung von Arbeitern und liberalen Unternehmern - die zur begrenzten Mitberücksichtigung von Arbeiterinteressen bewegt werden sollen -, und nicht auf den Klassenkampf. Die liberalen Gewerkschaften, die jetzt geschaffen werden, sind zwar Arbeitergewerkschaften, die nur abhängig Arbeitende aufnehmen und nicht die Industriellen, sie sollen aber nicht im Gegensatz, son-

dern in ständigem Zusammenarbeitsverhältnis zu den Industriellen ste-

hen. Mit ihnen verhandeln und nicht kämpfen, ist ihre Losung. Dadurch unterscheiden sie sich prinzipiell von dem, was die Kräfte, die die Gründung der 1. Internationale vorbereiten, denken und was Marx und Engels in ihren wissenschaftlichen Schriften darlegen, etwa in dem 1859 erschienenen Buch »Zur Kritik der Politischen Ökonomie«.” So entstehen neben den Arbeiterbildungsvereinen auch die ersten liberalen Quasi-Ge-

werkschaften. Sie haben als die »Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine« bıs

zum Ende der Weimarer Republik als liberal gebundene Gewerkschaften weiterexistiert. Sie wissen zwar um aktuelle Gegensatzinteressen von Unternehmern und Arbeitern, wollen sie aber lediglich durch Verhandeln

unter Aufrechterhaltung der Theorie bereinigen, daß das langfristige Gesamtinteresse von Kapital und Arbeit doch identisch seı und nur begrenzte und vorübergehende Reibungen um Tagesinteressen entstehen können, die jeweils durch Verhandlungen zu überwinden sind. Die Arbeiterbildungsvereinsbewegung und die Frühformen von liberalen Berufsgewerkschaften geraten nach dem Höhepunkt der ersten Krise in der ökonomischen Wiederaufstiegsphase in schwere innere Widersprüche, die mit einer politischen Krise des preußischen Staates parallellaufen. Jetzt zu Beginn des Wiederaufschwungs in der neu einsetzenden zweiten - ım Vergleich zur vorherigen wesentlich schwächeren - Industrialisierungswelle strebt die liberale Bourgeoisie wieder größere Teilhabe an der politischen Macht an. Sie fühlt sich vor allen Dingen durch die 2

Vgl. Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW, 1990, 5. 7 ff.

Bd. 13, Berlin 11. Aufl.

84

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

preußische Regierung - aber das ist in einigen anderen deutschen Bundesländern gar nicht anders - und durch die Übermacht des den modernen

Gesellschaftsproblemen borniert gegenüberstehenden konservativen Lagers außerordentlich bedrängt, besonders in Fragen der Steuergesetzge-

bung und der Heeresvermehrung, die die Krone ab 1860 betreibt. Auch

wenn die Konservativen in Preußen noch nicht den Krieg mit Österreich wollen, so haben sie doch gesehen, daß es schon vor der Periode der Kri-

se zu kriegerischen Konflikten der großen Mächte in Europa gekommen

war - man erinnere sich nur an den Krieg Englands und Frankreichs ge-

gen Rußland auf der Krim (1853-1856) und an die italienischen Ausein-

andersetzungen mit Österreich 1859, bei denen die Vorformen des italie-

nischen nationalen Staates geschaffen werden. Daher denken der preußische Staatsapparat und auch das preußische Junkertum jetzt an eine Verbesserung und Vergrößerung der Armee durch die Einführung der drei-

jährigen aktiven Wehrzeit, um ihre Interessen in solchen sich wahrscheinlich repetierenden Auseinandersetzungen desto kräftiger wahrnehmen zu können.

Die liberale Bourgeoisie hat nur halb etwas dagegen. Sie will zwar eine

Vergrößerung

der Armee

und

eine Stärkung

der preußischen

Macht,

denn es geht ihr um die Bereinigung der irrationalen Gegensätze im Deutschen Bund dahingehend, daß der Zollverein um die süddeutschen Staaten und die Hansestädte vergrößert wird. Sie will einen nationalen Markt ohne innere Zollschranken, und den erhofft sich die norddeutsche

Bourgeoisie von Preußen. Nur ein Teil der Schwerindustrie denkt nicht freihändlerisch,

sondern

tritt für Schutzzölle

ein,

weil

er, wenn

auch

noch nicht im gleichen Maße wie in den 70er Jahren, Angst vor engli-

schen Importen hat. Er bricht deshalb langsam mit den Liberalen und geht ins konservative Lager über. Aber die liberale industrielle Bourgeoisie will in Preußen eine Kompromißlösung finden, die zwar die Aufrü-

stung begünstigt, aber nicht auf ihre Kosten: Weshalb werden nicht auch die Junker herangezogen? Weshalb haben sie Steuerfreiheit und andere Privilegien mehr? - Und deshalb beginnt die liberale Bourgeoisie in Preußen - aber auch in anderen Ländern - wieder, im Rahmen der Legalität für ihre Rechte zu fechten. Das Abgeordnetenhaus in Preußen weist jetzt wieder Mehrheiten für die liberale Bourgeoisie auf, denn inzwischen sind viele Wahlkreise, die bis dahin voll von den Konservativen beherrscht wurden, durch das Fort-

schreiten der Industrialisierung an die Liberalen gefallen. Das preufßische Wahlrecht hatte bekanntlich drei Klassen, in denen nach Steueraufkom-

men gewählt wurde. Lange Zeit war es in den ostelbischen Gebieten so, daß in der ersten Wahlklasse allein der Großgrundbesitzer abzustimmen

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

85

hatte; in der zweiten Wahlklasse hatten dann die besseren Angestellten des Großgrundbesitzers und der Pfarrer abzustimmen und in der dritten

Wahlklasse das übrige Publikum. Solange der Großgrundbesitzer Alleinherrscher in einem Wahlkreis

war, wurde

natürlich ein konservativer

Teil Sachsens)

industrialisiert oder anindu-

Abgeordneter gewählt, der die Interessen der Junkerklasse auch im Abgeordnetenhaus verfocht. Jetzt aber sind viele Wahlkreise (beispielsweise in Schlesien, im preußischen

strialisiert worden, und das hat zur Folge, daß hier der Großgrundbesit-

zer, der wegen seiner Privilegien weniger Steuern bezahlte, in die zweite Klasse herunterrückte, während der industrielle Bourgeois und der Ban-

kier kraft ihres hohen Steueraufkommens in die erste Klasse kamen. In die zweite Klasse rücken nun neben den Geistlichen und höheren Beamten auch die leitenden Angestellten der Industriellen auf. So entgleitet ein Wahlkreis nach dem anderen der Junkerklasse und gerät in die Hand der Liberalen, so daß das Abgeordnetenhaus eine liberale Mehrheit erhält. Allerdings ist das eine äußerst vielschichtige liberale Mehrheit, denn die

damaligen Parteigruppierungen sind mit den heutigen nicht vergleichbar. Es sind Gruppierungen der »cre&me de la cr&me« der Gesellschaft und keine organisierten Massenparteien; Vereine, in denen man sich trifft und

diskutiert.

In dieser Situation fordert die liberale Bourgeoisie im Gegenzug zur

Bewilligung der Heeresvermehrung vom Staat Konzessionen im Steuerrecht und in anderen Fragen, denn das Abgeordnetenhaus hat ja über den Etat zu entscheiden. Und so beginnt in Preußen 1862 der große Verfas-

sungskonflikt. Die Liberalen, die zunächst halbherzige Kompromisse ge-

sucht hatten, fühlen sich nach Neuwahlen, die der neugegründeten Dent-

schen Fortschrittspartei große Erfolge gebracht hatten, so stark, daß sie ge-

genüber dem Kommando der Regierung nein sagen und die Mittel für das Heer im Abgeordnetenhaus ablehnen. Die Krone und die Junkerklasse nehmen

das nicht hin und wollen zeigen, wer Herr im Hause ist. Die

preußische Krone, die sich nicht zu einer bloßen Bourgeois-Dependance wie das englische Königshaus dieser Zeit entwürdigen lassen will, hat den Staatsapparat hinter sich. So entsteht jener Verfassungskonflikt, in den der Beginn des wiedererwachenden Selbstbewußtseins von Teilen der Arbeiterklasse hineingerät. Denn mit dem Wiederanlaufen der Konjunktur fordern die gelernten

Arbeiterkader die Wiederherstellung des Lebenshaltungsniveaus, das sie vor der Krise hatten. Sie tun es vor allem dort, wo liberale Volksbil-

dungsvereine oder liberale Quasi-Gewerkschaften existieren. In diesen Arbeitervereinen wächst jetzt, gefördert durch den Verfassungskonflikt, das Streben nach dem allgemeinen Wahlrecht. Der neue, im September

86

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

1862 berufene preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck hatte den Konflikt dadurch »gelöst«, daß er erklärte, die Verfassung enthalte keine Vorschrift, wie nach einer Ablehnung des Etats vorzugehen sei, und daher stehe es der Regierung frei, so zu handeln, wie sie wolle. Um den Li-

beralen ihre Mehrheit ım Abgeordnetenhaus streitig zu machen, liebäugelte er mit dem allgemeinen Wahlrecht, das dann nach dem preußischÖösterreichischen Krieg 1866 im Norddeutschen Bund auch eingeführt

wurde. Denn die Konservativen sahen natürlich, daß sie viele Wahlkreise an die Liberalen dadurch verloren, daß sie zwar noch die Wähler der drit-

ten Klasse (die Landarbeiter, die der Großgrundbesitzer kontrollierte)

behielten, aber in der ersten Wahlklasse die Mehrheit nicht mehr hatten,

weil an zu versteuerndem Einkommen der Industrielle und der Bankier dem Großgrundbesitzer überlegen geworden waren. Auch in der zweiten

Klasse waren die Angestellten. dieser Bankiers und Industriellen jetzt an Zahl größer geworden als die Pfarrer und Großgrundbesitzerangestellten. Infolgedessen überstimmten die Wahlmänner der ersten und der zweiten

Klasse zusammen die Wahlmänner der dritten Klasse, die als Abhängige der Großgrundbesitzer noch von den Konservativen kommandiert werden konnten, und ein liberaler Abgeordneter wurde dann gewählt. So

entsteht das wunderliche Resultat, daß die liberale Mehrheitsführung im Abgeordnetenhaus sich im Dreiklassenwahlrecht ganz wohl fühlt und keine demokratische Wahlrechtsrevision anstrebt. Nur eine kleine liberale Minderheit,

die in der demokratisch-revolutionären

Tradition

steht,

denkt anders. In manchen Teilen der konservativen Gruppierungen (Großgrundbesitzer plus staatliche Bürokratie) rechnete man sich dage-

gen aus, daß man bei demokratischem Wahlrecht eigentlich besser fahren müßte, denn da könnte man große Teile des Staatsgebietes gegen die Li-

beralen im Griff behalten. Weshalb - so fragten sie sich - sollen wir uns nicht den Jux machen, einmal die Demokraten zu spielen, um die Liberalen schlagen zu können? Dann konnte es nicht zu einem Verfassungskon-

flikt zwischen Parlament und Regierung kommen, wie es ihn nun in Preußen in der Militärfrage - in Wirklichkeit in der Eratfrage - gibt. Diesen Verfassungskonflikt hat die preußische Regierung sehr rasch

für sich entschieden, weil die Liberalen nicht kampfwillig waren, denn

sie fürchteten, daß doch wieder eine könnte. So belassen es die Liberalen preußischen Abgeordnetenhauses, streichspolitik Bismarcks ernstlich

demokratische Bewegung entstehen bei bloßen Protesterklärungen des ohne gegen die faktische StaatsWiderstand zu leisten. Welches

Kampfmittel sollten die Liberalen auch anwenden? Sollten sie an die de-

mokratischen Kräfte und jetzt an die Arbeiterklasse appellieren, um eine demokratische Revolution vorzubereiten? Da steckten ihnen die Erfah-

Reaktionsperiode und preußischer Verfassungskonflikt (1849-1863)

87

rungen von 1848 noch zu sehr in den Knochen, zumal sie wußten, daß in

der Arbeiterklasse das Selbstbewußtsein wieder stieg und die Tendenz anwuchs, durch Streiks und Arbeitskämpfe bessere Entlohnung zu erzwingen. In diesem Zwiespalt mußte die liberale Bewegung auf die Verteidigung des preußischen Verfassungsrechts verzichten.

88

9. Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

In dieser Situation, die durch den preußischen Verfassungskonflikt geprägt ist, entwickelt sich die nächste Phase der Regeneration der deutschen

Arbeiterbewegung. Dieser Aufschwung gilt jedoch nicht nur für die deutsche Arbeiterbewegung, denn - mit Modifikationen - steht das Proleta-

riat in allen europäischen Ländern vor den gleichen Problemen. Alle die-

se Länder hatten in den 50er Jahren eine Konjunktur- und Industrialisierungsphase, alle hatten dann die Krise. Diese Krise hat das bonapartistische Regime in Frankreich dadurch überstanden, daß es sie zu diversen

außenpolitischen Abenteuern benutzt hat, weitgehend auch durch die extreme Ausweitung des französischen Kolonialreiches. In England führt die Entwicklung zu einer Wiederbelebung alter, überkommener Ansätze der Arbeiterbewegung. Die Trade Unions, die in der Reaktionsperiode zwangsweise entpolitisiert worden waren, werden wieder aktiv, die char-

tistischen Tendenzen mit dem Ziel des gleichen Wahlrechts — all das taucht wieder auf, Streikbereitschaft und Kampflust werden überall größer, und vor allen Dingen wird der Gedanke wieder lebendig, daß neben

den gelernten Berufen - die meisten Trade Unions, die die Niederlagen

der 40er Jahre überstanden hatten, organisierten nur die gelernten Berufe- auch die nur angelernten oder ungelernten Arbeiter in den Trade Unions erfaßt werden müssen. So beginnt eine neue, breite Diskussions-

welle in der englischen Arbeiterbewegung. Auch in Frankreich beginnen

sich am Ende des ersten Jahrzehnts der Herrschaft Napoleons III. Arbeitergruppierungen wieder lebendiger zu äußern. Das waren zumeist

Gruppierungen - abgesehen von den Resten der blanquistischen Organi-

sationen, die nach 1848 furchtbar dezimiert worden waren -, die begonnen hatten, Proudhon zu lesen und dessen Gedanken zu rezipieren. Sie

dachten im Grunde ähnlich wie dann in Deutschland Lassalle: Wir müssen Arbeitergenossenschaften mit staatlicher Tolerierung und Subventionierung aufbauen, um damit gegen die kapitalistischen Industrieunternehmungen konkurrieren zu können! - Napoleon II sieht diese Grup-

pen gar nicht so ungern, weil er hofft, damit seine Liberalen, die auch in

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

89

‘Frankreich das Parlament zunehmend beherrschen, bei seinen außenpoli-

tischen Abenteuern etwas in Schach halten zu können.

So besteht zu Beginn der 60er Jahre eine generell ähnliche - wenn auch in den einzelnen Nationen modifizierte - Situation in allen europäi-

schen Ländern, was sich auch in .der Einladung englischer Gewerkschaf-

ten an demokratische und Arbeitervereine aller Länder, zu einer internationalen Konferenz zusammenzukommen, widerspiegelt. Auf diese Konferenz, die 1864 zur Gründung der I. Internationale führt, werden wir noch zurückkommen. Aus Deutschland war da zunächst noch wenig zu

erwarten, wenn man die Emigrationsreste, die vor allem in London exi-

stieren, außer acht läßt. Was sich in dieser Phase an selbständiger deut-

scher Arbeiterbewegung konstituiert und sich relativ bewußt ist, daß sie - auch in politischen Fragen - eigene Arbeiterinteressen zu vertreten

hat, das war die lassalleanische Bewegung. Als Ferdinand Lassalle am 12. April 1862 vor Berliner Metallarbeitern

seinen ersten Vortrag hält, knüpft er an das an, was er in den Revoluti-

onsjahren 1848/49 vom Bund der Kommunisten gelernt hatte. Sein Ziel ist die Wiederherstellung einer eigenen Bewegung der Arbeiterklasse mit demokratisch-revolutionärer Grundtendenz. Lassalle will die Widersprüche des Verfassungskonfliktes zwischen den Liberalen und der Krone in Preußen dazu ausnutzen (er denkt dabei zurück an die Zielserzung von 1848), zunächst einmal das demokratische Wahlrecht zu erkämpfen und

von da aus Macht im Staate zu gewinnen. Allerdings redet er mit dieser

Zielsetzung an den spezifischen Interessen der Arbeiter, die gleichzeitig die gewerkschaftliche Frage im Vordergrund sehen wollen, vorbei, teils weil er sie nicht erkennt, teils weil er sie im Interesse des unmittelbaren

politischen Kampfes um das Wahlrecht umleiten will. Zu diesem Zweck trägt er jene merkwürdige Theorie in die Arbeiterbewegung hinein, die als Dogma der Lassalleaner die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung (nicht die der Arbeiterbewegung in anderen Ländern) für eine längere Zeit erschwert: die Theorie vom »ehernen Lohngesetz«, die behauptet, daß Lohnkämpfe im Grunde sinnlos seien. Nur eine demokratische Transformation des Staates und von da aus eine sozialistische Transformation der Gesellschaft könne die Arbeiterklasse besserstellen, also sei eine Gewerkschaftsbewegung im‘ Grunde überflüssig. Daß er in dieser Weise dachte, ist aus mehreren Gründen durchaus zu verstehen. Im preußischen Verfassungskampf mußte es Lassalle, weil die Deutsche Fortschrittspartei und die Liberalen auf eine ernstliche Verteidigung des konstitutionellen Denkens und der Rechte des Parlaments verzichteten und sich mit bloßen Phrasen begnügten, darauf ankommen, die Arbeiterbewegung gerade deshalb von den Liberalen politisch zu lösen - mit

90

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

dem Nahziel der Erkämpfung des demokratischen Wahlrechts, um mittels der Gesetzgebung zur Umwandlung der Gesellschaft durch Produktionswerkstätten mit staatlicher Hilfe zu gelangen. Deshalb ist seine Rede vom April 1862 über das Arbeiterprogramm‘ vor Berliner Maschinenbauarbeitern in dieser Frontstellung gegen die Liberalen verständlich. Er konnte

in ökonomischer

Hinsicht

an dem

Erfahrungsstand

an-

knüpfen, wie ihn auch Marx und Engels einst vor 1848 gehabt hatten. Denn damals hatten auch Marx und Engels aufgrund der Erfahrungen der englischen Arbeiterbewegung dieser Jahre und des damaligen Standes der liberalen englischen Nationalökonomie z.B. bei Ricardo noch geglaubt, daß man innerhalb der kapitalistischen Ordnung außer mit staatlicher Hilfe, mit Sozialgesetzen, sehr wenig an der Lage der Arbeiterklasse insgesamt ändern könne. Unklare Formulierungen hierzu finden sich noch in den »Grundsätzen des Kommunismus« von Friedrich Engels und

im »Kommunistischen Manifest«, dem Programm des Kommunistenbundes, Auch Lassalle war von dem Stand liberaler ökonomischer Wis-

senschaft ausgegangen, wie er damals vorlag und wie er ihm vermittelt worden war. Er hatte die ökonomische Arbeit von Marx und Engels in

den 50er Jahren kaum rezipiert, und so kombiniert er die Theorien von

Ricardo und Malthus zu seiner These vom »ehernen Lohngesetz«, das in

einer kapitalistisch-liberalen Gesellschaftsordnung generell gelte. Diesem Gesetz zufolge sei es zwar vielleicht möglich, in Konjunkturperioden

vorübergehende Verbesserungen der Lage der Arbeiter durch Arbeitskämpfe unmittelbar gegen die Unternehmer durchzusetzen, aber diese Verbesserungen verschwinden sofort, wenn Krisenperioden kommen, weil dann der Druck der Arbeitslosen die Arbeiter in eine solche Konkurrenzsituation untereinander bringe, daß sie Lohnminderungen hinnehmen müßten. Eine weitere Grundlage für diese These Lassalles war die Theorie von Malthus, nach der, wenn der Lebensstandard der Masse

der Bevölkerung steige, automatisch eine entsprechende Kinderprodukti-

on einsetzte, so daß sich ein Bevölkerungsüberschuß ergebe, der eben die-

se Konkurrenzsituation immer wieder herbeiführe. Somit wird nach Lassalle das »eherne Lohngesetz« ständig reproduziert, das die objektive Schranke für die stets nur vorübergehende Möglichkeit von Einkommensverbesserungen der abhängig arbeitenden Klasse aufzeige.

Das war für ihn die eine Seite der Dinge. Die andere Seite war die

Notwendigkeit der Loslösung der Arbeiterklasse von den Liberalen. Lassalle 1

Vgl. Ferdinand Lassalle: Arbeiterprogramm. Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes, in: Ferdinand Lassalle: Reden und Schriften, hg. von Friedrich Jenaczek, München 1970, S. 22 ff,

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

91

war — und das durchaus im Gegensatz zu den älteren Überzeugungen, die er einst durch den Kommunistenbund

während seiner Annäherung

an

ihn 1848 gelernt hatte - der Meinung, daß ein Bündnis zwischen politisch verselbständigter Arbeiterklasse und bürgerlich-liberalen Kräften unzu-

lässig und sinnlos sei. In Wirklichkeit sei erwiesen (und diese Auffassung tritt in aller Schärfe 1863 im »Offenen Antwortschreiben« an jenen kleinen Teil der Leipziger Arbeiterbildungsvereine hervor, der damals schon nach einer Loslösung vom Liberalismus und einer selbständigen Konstituierung der Arbeiterklasse als Partei suchte), daß Unternehmerklasse,

feudale Klasse und staatlich-bürokratischer Hoheitsapparat zusammen »eine (im Prinzip einheitliche) reaktionäre Masse« bilden. Das sei dadurch erwiesen,

daß die Liberalen

immer

wieder vor dem

Obrigkeitsstaat und

dem anti-proletarischen Wahlrecht kapitulieren. Da es Lassalle darum ging, gegen die Kapitulation der Liberalen in Preußen eine Gegenkraft

aus der Arbeiterklasse zu gewinnen und sie insofern politisch zu verselbständigen, kommt sein Hauptakzent gegen die Liberalen zustande. Wohlgemerkt, der alte Kommunistenbund war vor 1848 durchaus der

Meinung, daß die Arbeiterklasse, erzeugt durch den industriellen Kapitalismus,

selbständige

Klasseninteressen

zu

entwickeln

und

zu

vertreten

habe - mit dem Ziel der Eroberung der politischen Macht und der Um-

gestaltung der kapitalistischen Ökonomie in eine kommunistische Oko-

nomie. Aber er war gleichzeitig der Meinung, daß er vor einer demokra-

tischen Revolution in Europa stehe und zuerst diese zum Sieg führen müsse. Hierzu sei jedoch das Bündnis mit demokratischen Kleinbürgern notwendig, die durchaus nicht zur Arbeiterklasse gehören, aber damals

eine sehr breite Masse darstellen (wie auch noch in den 60er Jahren).

Darüber hinaus sei das Bündnis mit den Liberalen, den industriellen Ka-

pitalisten nötig, um sie im Kampf gegen den reaktionären monarchischen Staat voranzutreiben.

Nun steht Lassalle aber in einer Situation, in der gerade diese Libera-

len ganz offensichtlich keinen ernstlichen Kampf, sondern bloße Schein-

gefechte gegen diese Staatsgewalt führten, und in der es augenscheinlich

darauf ankam, die Arbeiterklasse politisch zu verselbständigen. Daher kommt er zu der verfehlten These von der »einen reaktionären Masse«,

die besagt, daß es gar keine unüberbrückbaren Differenzen zwischen feudalen und bürgerlichen Oberschichten gibt, weil sie im Grunde immer

wieder zusammenwirken, und daß man daher auch keine derartigen Differenzen auszunutzen habe. Das war eine ın der Situation der Abspaltung

der proletarischen von der bürgerlichen Linken psychologisch verständliche, wenn auch völlig überzogene Position, die nun im »Offenen Antwortschreiben an das Central-Comite zur Berufung eines Allgemeinen

92

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

Deutschen Arbeitercongresses zu Leipzig«” vom 1. März 1863 eindeutig formuliert wurde. So entwickelte

sich im Lassalleanismus

noch

eine

dritte, zunächst

nicht offen praktisch, aber doch theoretisch vorangetriebene Variante irrigen Denkens,

welche

die Arbeiterbewegung

in einer späteren Phase

schwer belasten konnte. Denn wenn man zu der Theorie von der »einen

reaktionären Masse« gelangte, dann liegt angesichts der sozial-konservativen Tendenzen in der Bürokratie, die es immer wieder gab (man denke nur an bestimmte Arbeitsschutzgesetze, wie etwa das Kinderschutzge-

setz), eine andere trifft. Sie lag für Fortentwicklung Emigration nicht scher Philosophie

These nahe, die die Einschätzung des Staates selbst beihn deshalb nahe, weil Lassalle in seinem Denken die der Marx-Engelsschen ökonomischen Theorien in der mitvollzogen hatte. Auch die Entwicklung idealistium die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und im

ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von Kant über Fichte zu Hegel hatte

Lassalle nur teilweise nachvollzogen und war im wesentlichen bei den Fichteschen Positionen stehengeblieben. Das wurde 1848 noch nicht so

deutlich; damals hatte er die jung-hegelianischen Resultate, wie sie bei

Marx und Engels vorlagen, im wesentlichen geteilt, auch den Begriff der Dialektik grundsätzlich übernommen. Aber in der Zwischenzeit hatte er sich in seinen philosophischen Arbeiten vornehmlich mit Fichte und dessen rechtsphilosophischen Anschauungen sowie mit einer bestimmten Periode des Hegelschen Denkens auseinandergesetzt. Von da aus war er

zu der Überzeugung gelangt, daß es eine stetig wirkende »Staatsidee« geben könne, die den Staat und seinen Apparat beherrsche und in der Existenz eines sich immer weiter verselbständigenden Staates notwendig enthalten sei. So hatte einst auch Fichte gedacht, und das war in einer be-

stimmten Periode der bürgerlich-revolutionären Entwicklung, besonders nachdem sich der Widerspruch zwischen Napoleonischer Monarchie und den Ansätzen zur Liberalisierung des preußischen aufgeklärten Absolutismus unter Stein und Hardenberg ergeben hatte, durchaus der Lage adäquat. Aber bei Lassalle verselbständigt sich in seinem »Arbeiterprogramm« diese Anschauung zum Versuch, die philosophische »Staats-

idee« mit den Interessen der Arbeiterklasse und ihrer Idee vom Staat zu identifizieren. Rein ideologisch ließ sich diese Verknüpfung durchaus konstruieren. Liberales Denken in bezug auf den Staat, das Denken der 2

Vgl. Ferdinand Lassalle: Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, in: Ferdinand Lassalle: Re-

den und Schriften, a. a. O., S. 170 ff.; auch abgedruckt in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach:

Programmatische Dokumente der Deutschen Sozialdemokratie, Bonn 3. Aufl.

S

111

1990,

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

93

industriellen Bourgeoisie und des Bankkapitals, läuft immer — so glaubte

nun Lassalle - in die Richtung, daß man die Gesamtgesellschaft von der Kontrolle des Staates befreien will, daß man den Staat auf eine bloße

Nachtwächterrolle gegenüber der Gesellschaft reduziert, besonders natürlich

in den

gesamten

ökonomischen

Zusammenhängen.

Staatliches

Handeln kann also nach klassisch-liberalem Denken nur darauf hinaus-

laufen, daß der Staat die Funktion der Polizei im engsten Sinne übernimmt, die Garantie gegen Gesetzesüberschreitung einerseits durch Ver-

brechen, andererseits durch Organe der Staatsgewalt selbst gegenüber der Gesellschaft. Aber im übrigen kommt

es für diesen extremen Liberalis-

mus auf ein Zurückziehen der staatlichen Tätigkeit aus der Gesellschaft

an und auf die Beseitigung aller Schranken für die freie Konkurrenz in der Gesellschaft, etwa in Form des Zunftwesens. Diese Reduzierung des

staatlichen Einflusses und die Befreiung des Wirtschaftslebens von staatli-

chen Zwängen hatte der »Code Civil« in Frankreich unter Napoleon geleistet. Aber, so sagt nun Lassalle, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus gesehen muß das völlig anders sein (und damit hat er natürlich recht): Wir brauchen

Eingriffe der öffentlichen

Gewalt in die Gesellschaft, wie

als praktisches Beispiel bereits die Arbeiterschutzgesetze zeigen. Darüber

hinaus - so Lassalle - brauchen wir zur Überwindung der liberalen Ökonomie mit ihren Konkurrenzverhältnissen, die zum »ehernen Lohnge-

setz« und damit zur ständig extrem niedrigen Lebenshaltung der Arbeiter

führen, das Eingreifen der Staatsgewalt auch in den ökonomischen Pro-

zeß selbst. Dieses Eingreifen sollte nach Lassalles Auffassung dadurch geschehen, daß der Staat Produktionsgenossenschaften der Arbeiter finanziert und durch diese Produktionsgenossenschaften — bei ständig gesteigerten

Staatseingriffen zu ihren Gunsten und Staatshilfen — die liberale Okonomie der Unternehmer totkonkurrieren läßt. Für Lassalle gibt es also eine »Idee« des Arbeiterstandes über den Staat. Interessant ist dabei auch dieser Rückgriff auf den Begriff des »Standes« für die Arbeiterklasse, denn das entsprach durchaus der Gesamtphilosophie Lassalles. »Stand« ist der Herkunft nach ein Begriff aus der Ordnung des spätabsolutistischen Regimes beim Ausgang des Feudalismus. Da hat es drei Stände in der Gesellschaft gegeben: den Stand des Klerus, den Stand des Adels mit seinen Vorrechten und den bürgerlichen Stand als dritten Stand - den Stand der gehobenen Kleinbürger und der werdenden industriellen und Bankbourgeoisie. Die Arbeiterklasse hatte in dieser Ordnung noch keine Rolle gespielt und hatte auch keine Rechte. Auf diesen Begriff der »Stände« greift nun Lassalle zurück und proklamiert die Arbeiterklasse als vierten »Stand«, der aber mit seinem Standesdenken

mit der Idee des Staates als abstrakt den Ständen übergeordnetem Gebilde

94

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

verbunden ist und sich daher auch mit ihm verbunden weiß. Dieses Denken brachte eine Gefahr mit sich, die damals Marx und Engels im fernen London durchaus gesehen haben, die Gefahr nämlich, daß man mit dieser Umschreibung

»Arbeiterprogramm«

Bewahrung

mancher

des »Kommunistischen

und im »Offenen

Einzelüberlegungen

Manifests«, wie sie ım

Antwortschreiben«

des »Manifests«),

vorlag

(bei

eine halb

bonapartistische Entwicklung der Arbeiterbewegung möglich machrte: ein Bündnis der werdenden Arbeiterbewegung mit dem Staatsapparat gegen die liberalen bürgerlichen Klassen. In einer solchen Konstellation

wähnte sich Lassalle dann in einer halb bonapartistischen Führerrolle — einer Führerrolle, die er in der Arbeiterklasse

damals tatsächlich vor-

übergehend sehr schnell gewann; denn er war ein blendender Redner und

ein schneller Denker. Ohne Zweifel war er ein Volkstribun, der die Mas-

sen begeistern und sich treue Anhänger verschaffen konnte, die bald dogmatisch auf seine Thesen eingeschworen waren. Weil Lassalle bei der

Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) als politischer Partei in der Satzung die diktatorische Rolle des Führers, der über die Politik der ganzen Partei allein entscheiden kann, festlegte, begab er sich in eine Position, die durchaus bonapartistisch ausarten konnte.

Marx und Engels hatten bereits damals vermutet, was wir aber erst sehr viel später in Aufarbeitung von Akten des preußischen Staates erfahren haben,

daß Lassalle auch

geheime

Gespräche

mit Bismarck,

dem

preußischen Ministerpräsidenten, gesucht und einmal sogar geführt hat — in der Hoffnung, ein Bündnis mit Bismarck und der Krone gegen die Liberalen bei gleichzeitiger Gewährung des gleichen Wahlrechts schließen

zu können. Das war eine Illusion, denn die im Verfassungskonflikt wieder erstarkte preußische Bürokratie mit ihrer Junkerklasse im Hinter-

grund dachte zu diesem Zeitpunkt gar nicht daran, solche Bündnisse zu

suchen und demokratischem Denken unnötige Konzessionen zu machen. Aber Lassalle hat tatsächlich Versuche in dieser Richtung unternommen, was zu schweren Zerwürfnissen zwischen ihm und Marx und Engels führte. Der Korrespondenz zwischen Marx und Engels können wir entnehmen, daß sie die Politik Lassalles äußerst heftig kritisiert haben. Die positiven Seiten der Lassalleschen Parteigründung waren gleichwohl viel wichtiger als die latenten Gefahren, die darin aufgrund seiner falschen programmatischen Positionen enthalten waren. Nur wirkten diese positiven Seiten nicht so rasch und stark, wie Lassalle zunächst geglaubrt hatte, Lassalle zog im Deutschen Bund von Ort zu Ort, wo immer

Ansätze

von

Industrie

vorhanden

waren,

und

hielt

Vorträge,

um

den

ADAYV aufbauen zu können. Seine Gründung 1863 in Leipzig war objektiv eine Verletzung des Gesetzes des Deutschen Bundes von 1854 gegen

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

95

die Arbeitervereine, aber Sachsen nahm dieses Gesetz schon nicht mehr

ernst; kurze Zeit danach wurde es generell im Deutschen Bund aufgehoben. Durch die Verbreiterung der Arbeiterklasse war ein Verbot aller selbständigen Arbeitervereine nicht mehr durchführbar.

Aber nach der Gründung des ADAV erweist sich trotz großer Erfolge

Lassalles in Massenversammlungen in Industriegebieten, daß die Mitglie-

derzahl sehr gering blieb. 1864 zählt der ADAV nicht mehr als erwa 3 000 Mitglieder, die hauptsächlich im Rheinland, im Wuppertal, in Hamburg und Harburg

sowie

in Sachsen

arbeiteten. Aber immerhin

gelang die

Neuentwicklung einer klassenbewußten Kaderschicht in der werdenden

Arbeiterklasse und unter den Handwerksgesellen, wie sie schon einmal im Kommunistenbund existiert hatte, aber in der Reaktionsperiode ver-

schwunden oder in die Emigration gedrängt worden war. Diese Entwicklung führte dazu, daß diese ideologischen und torischen Beschränktheiten im ADAV nie ganz unumstritten denn bald begannen Diskussionen, in denen einzelne Mitglieder Wenn wir schon demokratisches Wahlrecht und demokratische

organisablieben, meinten: Struktu-

ren des Staates fordern, dann müssen wir auch eine demokratische Struktur des eigenen Verbandes haben! — Einzelne Arbeiter, durchaus noch nicht die Mehrheit der Mitglieder, zogen ferner aus ihren Erfahrungen den Schluß, daß die gewerkschaftsfeindliche Haltung des ADAV (Lassalle

behielt sie bis zu seinem Tode) angesichts der Erfolge der Gewerkschafts-

bewegung in England doch vielleicht falsch sein könnte. Als Wilhelm Liebknecht aus der Londoner Emigration zurückkehrte, wurden die Er-

folge der englischen Gewerkschaftsbewegung und die bis dahin lediglich akademisch gebliebene theoretische Entfaltung der ökonomischen Theorien von Marx und Engels nach Deutschland vermittelt. Denn was Marx

und Engels an ökonomischen

Schriften in Deutschland publiziert hatten,

etwa die »Kritik der Politischen Ökonomie« von 1859, war so komprimiert und kompliziert gewesen, daß Arbeiter das meist nicht haben verstehen können, und so hatten diese Schriften in der Arbeiterklasse keinen

Widerhall gefunden. Das wurde jetzt langsam auch im ADAV

anders,

und zwar in ersten Ansätzen schon vor dem Tode Lassalles. Lassalle, der faszinierende Redner und erfolgreiche Anwalt, der zwei-

fellos auch eine philosophisch außerordentlich begabte Persönlichkeit

war, war über den mitgliedermäßig geringen Erfolg seines ADAV

- und

wohl auch über den Fehlschlag seiner machtpolitischen Ambitionen in Hinblick auf ein Bündnis mit der Krone gegen liberale Bourgeoisie und Adel zugunsten des demokratischen Wahlrechts — enttäuscht und läßt sich nun in alle möglichen persönlichen Abenteuer verstricken. Dazu hatte er immer geneigt, er war eben der Typ des eleganten Intellektuel-

96

Lassalle und die Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung

len. Solche Persönlichkeiten hat es immer in der Arbeiterbewegung gegeben. Lassalle verwickelt sich in ein Liebesabenteuer und in einen Ehrenhandel. Er fällt am 31. August 1864 in diesem Duell. Aber was er geleistet hat, geht schon daraus hervor, daß der ADAV nach dem Tod seines Präsidenten keineswegs von der Bildfläche verschwindet, sondern stabil bleibt und noch nicht einmal viele Mitglieder verliert. Es gibt über die Nachfolgerschaft in der Führungsposition große Auseinandersetzungen. Nach vielen Kontroversen steigt zuletzt der Frankfurter Journalist Johann Baptist von Schweitzer als neuer Präsident auf.

97

10. Die Internationale Arbeiter-Assoziation,

die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71

Der lassalleanische Ansatz führt in dieser Phase der Entwicklung zur politischen Verselbständigung der deutschen Arbeiterbewegung. Er vollzieht diesen Schritt auf der gleichen sozialen Grundlage und in der gleichen Zeit, in der sich in allen europäischen Ländern ähnliche Prozesse entwickeln. Am stärksten entfalten sie sich in dem Land, in dem die In-

dustrialisierung so weit gegangen war, daß eine Totalvernichtung der Arbeiterbewegung — wohl

der politischen, aber nicht der gewerkschaftli-

chen - auch in der Reaktionsperiode nach 1848 nicht möglich gewesen

war, nämlich

in England.

Marx

und Engels haben niemals ihre ständige

geistige Verbindung zu diesen Resten der englischen Arbeiterbewegung

aufgegeben, obwohl sich Marx nun zur ökonomischen Aufarbeitung der

Entwicklung des Kapitalismus fast ausschließlich auf die wissenschaftli-

che Produktion zurückzieht. Am Ende dieser Zeit veröffentlicht er den ersten Band des »Kapital« (1867),' aber damals sind auch die meisten Manuskripte für die weiteren Bände des »Kapital« schon vorbereitet, und auch die erst sehr viel später publizierten »Grundrisse der Kritik der poli-

tischen Ökonomie«” sind längst geschrieben. Engels ist ständig an diesen

wissenschaftlichen Analysen durch Diskussion und Briefwechsel beteiligt. Aber beide hatten gleichwohl daneben immer Kontakt zu den englischen Trade Unions gehalten, deren Erfahrungen studiert und vermittelt

und in ihre wissenschaftliche Arbeit einbezogen. Nach der Krise, die in

England 1857 beginnt, bis 1859 anhält und dann von einem erneuten industriellen Aufschwung abgelöst wird, beginnen die demokratischsten und rationalsten Elemente dieser Gewerkschaften darüber nachzuden1

Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in: MEW,

2

Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-

Bd. 23, Berlin 18. Aufl. 1993, S. 11 ff. 1858, Berlin 1974.

98

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

ken, daß Klassenkämpfe

(und sie wissen, anders

als die Mehrheit

der

deutschen Arbeiter, damals bereits, daß sie Klassenkämpfe führen) nicht

natijonal isoliert stattfinden, sondern auch in anderen Ländern geführt werden. Dauerhafte Erfolge können nur erreicht werden, wenn auch in den anderen Ländern des kapitalistischen Weltmarktes Arbeiterbewe-

gungen mit Klassenkampfcharakter entstehen und wenn deren Aktivität

kombiniert wird - so denken sie und laden zu einem großen internatio-

nalen Arbeiter-Meeting nach London ein. Sie hatten schon öfter interna-

tionale Meetings veranstaltet, ecwa zur Unterstützung polnischer und italienischer Revolutionsbewegungen. Aber jetzt denken diese englischen Gewerkschaftsführer bereits darüber hinaus; sie wollen nicht nur gele-

gentliche Versammlungen aller politischen Emigranten veranstalten (die

Emigranten aus allen europäischen Ländern saßen ja damals wegen der

besseren Fremdengesetzgebung und der liberaleren Züge im britischen Verfassungswesen in England), sondern sie wollen jetzt über eine dauernde, gleichsam institutionalisierte, Zusammenarbeit radikaldemokrati-

scher und proletarischer Bewegungen in allen industrialisierten Ländern nachdenken. Mit dem Ziel, das Organ für eine dauernde Kommunikation zu schaffen, findet am 28. September 1864 - kurz nach dem Tode von Lassalle - dieses Meeting in London (St. Martins Hall) statt. Von den Deutschen waren Marx und Engels und die Reste des Kommunistenbundes, des kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London eingeladen. Eine andere Verbindung

zur deutschen Arbeiterbewe-

gung stand zunächst nicht zur Verfügung. Es kam auch eine französische Delegation, die meist proudhonistisch dachte und der die Ausreise durch Napoleon IIL. erlaubt worden war, weil er hoffte, die proudhonistischen Arbeiter als Druckmittel gegen seine liberale Bourgeoisie ausspielen zu

können. Auf dieser Konferenz, auf der neben den Engländern, die sie einberufen hatten, den Franzosen und den deutschen Emigranten auch Vertreter der italienischen, polnischen und schweizerischen Arbeiter

teilnehmen, wird eine ständige organisierte Verbindung zwischen den werdenden Arbeiterbewegungen der europäischen Länder geschaffen, die Internationale Arbeiter-Assoziation (LAA). Ihr Ziel ist es, die selbständige Tätigkeit der Arbeiterklasse in allen europäischen Ländern zu organisieren und die Zusammenarbeit - auch bei ideologischen Differenzen - zwischen den Arbeitern in ganz Europa herbeizuführen. Die Ansicht, daß eine solche permanente internationale Verbindung hergestellt werden müßte, wurde theoretisch von Marx und Engels am klarsten formuliert, denn sie waren der Meinung, daß sich in allen euro-

päischen Ländern (und auch in den Vereinigten Staaten), in denen sich der industrielle Kapitalismus entfaltete, auch die selbständige Rolle der

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

99

Arbeiterklasse entwickeln müsse und zwar mit grundsätzlich identischen Interessen. Sie formulierten ferner die Überzeugung, daß die Arbeiter in den verschiedenen Ländern nicht daran interessiert sein können, daß der eine bürgerliche Staat gegen den anderen gewaltsam und kriegerisch seine Sonderinteressen durchkämpft. Anders als die liberalen Bewegungen in den europäischen Ländern, die längst ihren internationalen Charakter verloren hatten, müsse die Arbeiterklasse eine gemeinsame internationale

Gruppierung auf der Grundlage ihrer in allen wesentlichen Fragen iden-

tischen Klasseninteressen bilden. Das nächste Ziel dieser Internationale

müsse sein, in allen Ländern die Verselbständigung der Arbeiterklasse

und ihre Entwicklung zu gemeinsamem Klassenbewußtsein durchzuset-

zen.

Auf der Marx und Delegierten rem Maße.

Gründungskonferenz der IAA sind diese Engels zwar den Engländern unmittelbar der anderen europäischen Staaten aber in Die französischen Vertreter sind - wie

meist Anhänger proudhonistischen

Denkens.

Überlegungen von verständlich, den erheblich geringebereits erwähnt -

Sie streben zwar gesell-

schaftspolitische Lösungen zugunsten der Arbeiterklasse an (allerdings auf genossenschaftlichem Wege), haben aber zum Beispiel in der Frage der Erreichbarkeit von Lohnverbesserungen innerhalb der existenten kapitalistischen Gesellschaft genauso verfehlte Ansichten wie etwa Lassalle in Deutschland. Die Blanquisten bleiben fern, weil sie mit allem, was sie für reformerisches Denken halten (das bei den Trade Unions ja dominiert), zunächst nichts zu tun haben wollen. Wenn man sich die Italiener ansieht — in Italien bestanden partielle Ansätze zur Industrialisierung vor allem im Norden —, so sind sie zum großen Teil noch vom bürgerlich-revolutionären, demokratischen Denken stark beeinflußt, das zwar Sonderinteressen der Arbeiterklasse auch innerhalb der demokratisch-revolutionären Bewegung anerkennt, aber es als sein nächstes Ziel ansieht, durch gewaltsame Kämpfe gegenüber der österreichisch-ungarischen Monarchie und den Einzelstaaten Italiens die Demokratie und die nationalstaatliche Einigung zu erreichen. Insofern war bei der Gründung der Internationale von vornherein

klar, daß die strategischen Auffassungen wegen der unterschiedlichen na-

tionalen Bedingungen

in den Ländern,

deren Arbeitervertreter sich in

London zusammenfanden, partiell nicht übereinstimmen konnten. Trotzdem sind Marx und Engels wie die englischen Gewerkschaftsführer der Meinung, daß die gemeinsamen Interessen überwiegen und darum die IAA zu einer permanenten Organisation werden muß. Auf der ersten Tagung in London gelingt es, Marx mit der Formulierung des Entwurfs der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-

100

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

Assoztation” beauftragen zu lassen, Sie bedeutet für die damalige internationale Arbeiterbewegung einen gewaltigen programmatischen Fortschritt. Marx gelingt es, die verschiedenen Richtungen der werdenden Arbeiterbewegungen in den einzelnen Ländern programmatisch zu einen. Allerdings muß er dafür in vielen Fragen auf klare Formulierungen verzichten. Durch die Internationale Assoziation und durch die Inaugu-

raladresse, die jetzt in allen Ländern teils legal, teils illegal verbreitet wer-

den sollte, war ein Ansatzpunkt zur kombinierten Verselbständigung der

Arbeiterbewegung in allen europäischen Ländern geschaffen. Diese Internationale konnte praktisch bis zum Jahre 1871 erhalten bleiben. Nach der Niederlage der Commune und nach den internen Auseinanderset-

zungen mit den Bakunisten zerfällt sie jedoch nach ihrem Haager Kongreß 1872 und wird schließlich 1876 auch formell aufgelöst. Aber zunächst bietet sie in allen europäischen Ländern die Ansatzstelle dafür, daß sich auch in den Ländern, in denen nicht wie in England bereits eine Gewerkschaftsbewegung als selbständige Klassenbewegung existiert oder

in denen nicht wie in England klare, generell verständliche politische Zielsetzungen der Arbeiterbewegung bestehen (Demokratisierung des Wahlrechts, chartistische Tradition), die gewerkschaftliche wie die politische Arbeiterbewegung konstituiert und gesamtgesellschaftliche Forderungen zu erarbeiten beginnt. Der Grundgedanke

der Inauguraladresse,

daß in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, gleich in welchem Lande, nur die Arbeiterklasse selbst die volle demokratische Gleichberechti-

gung für die Gesamtbevölkerung erstreiten kann und daß sie diese Auf-

gabe nur kombiniert und durch selbständige Organisationen lösen kann, wird nach der Gründung der I. Internationale von allen Delegierten akzeptiert. Das hatte auch für die deutsche Arbeiterbewegung Konsequenzen.

Denn die wenigen früheren Angehörigen des Kommunistenbundes

in

Deutschland, der in der Illegalität untergegangen war, die noch lebten

und nicht völlig resigniert waren, konnten jetzt individuelle Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation werden. Zwar versuchen einzelne dieser Mitglieder, wie etwa der nach Deutschland zurückgekehrte Wilhelm

Liebknecht,

in der Partei

gleichzeitiger Kritik an glied des ADAV), aber che nicht linientreuen geht nach Leipzig und 3

der

Lassalleaner

mitzuarbeiten

bei

ihrer Ideologie (Liebknecht wird in Berlin Mitdie ADAV-Führung bemüht sich schleunigst, solKräfte aus der Partei auszuscheiden. Liebknecht spielt von nun an in der Vorbereitung der Ent-

Vegl. Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin's Hall, Long Acre, in London, in: MEW, Bd. 16, Berlin 8. Aufl. 1989, S. 5 ff.

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

101

wicklung zur Eisenacher Partei an der Seite August Bebels eine entschei-

dende Rolle. In vielen deutschen Orten gibt es solche persönlichen Mitglieder der IAA; im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen ganze Or-

ganisationen Mitglieder der Internationale waren, bestanden in Deutschland nur solche individuellen Mitgliedschaften.

Jedes Jahr findet künftig ein Weltkongreß der Internationalen Arbeiter-Assoziation statt, und auf dem Genfer Kongreßf 1866 steht das Gewerkschaftsproblem, vorher von den Franzosen noch nicht begriffen, ım

Mittelpunkt der Auseinandersetzung.

Obwohl

Marx nicht nach Genf

fährt, hat er vorher in einem durch die Zentralbehörde der IAA versand-

ten Rundschreiben dies Problem theoretisch angesprochen und auch die Resolution über die Gewerkschaften entworfen,‘ die in ihren wesentli-

chen Punkten 1866 von der IAA zusätzlich zur Inauguraladresse ange-

nommen

wird und

den Mitgliedern

auferlegt,

die Gewerkschaften

zu

stärken und sie programmatisch auf den Kampf um die Beseitigung des Systems der Lohnarbeit vorzubereiten.

Der Einfluß der Internationale breitet sich jedoch auch in Deutsch-

land

aus,

besonders

in den

liberal-demokratisch

geführten

Arbeiterbil-

dungsvereinen. Wir haben gesehen, daß Teile dieser Arbeiterbildungsvereine bereits den Anknüpfungspunkt für Lassalles Parteigründung 1863

bildeten. In dem (weit größeren) Rest der unter liberaler Führung verbliebenen Vereine werden jetzt die Widersprüche immer größer, und von Kongreß zu Kongreß wächst in den bis dahin antigewerkschaftlich geschulten Arbeitervereinen die Diskussion. Die Genfer Gewerkschaftsresolution der IAA von 1866 findet auch bei ihnen einen immer stärkeren Anklang, auch innerhalb der Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereine, die

die Linksliberalen auf die Grundüberlegung festgelegt hatten, daß es keine tiefgreifenden Klassenwidersprüche zwischen Kapitalisten und Arbeitern gebe (und daher z.B. das Streikrecht unnötig sei) und daß das gemeinsame Interesse von Unternehmern und Arbeitern gegen die feudalen Klassen allein im Vordergrund stehe. Diese Auseinandersetzung, gefördert von Mitgliedern der IAA in den Arbeitervereinen, führt bald dazu, daß August Bebel und

Wilhelm Lieb-

knecht auf dem Nürnberger Vereinstag des Verbandes Deutscher Arbeiter-

wvereine im September 1868 eine Resolution” zur Unterstützung der Inter-

nationalen Arbeiter-Assoziation und auch ihrer Genfer Gewerkschafts4

5

Vegl. Karl Marx: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen, in: ebd., S. 190 ff.

Vgl. Programm des Vereinstages der Deutschen Arbeitervereine, beschlossen in Nürn-

berg 1868, in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach deutschen Sozialdemokratie, a. a. O., S. 169 £.

(Hg.):

Programmatische

Dokumente

der

102

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

beschlüsse

durchsetzen

konnten.

Durch

diese programmatischen

Be-

schlüsse war aber langfristig die organisatorische Vereinbarkeit zwischen linkem Liberalismus und der Majorität der Arbeitervereine aufgehoben. Der Bruch mit dem liberalen Führer der Arbeitervereine, dem gewiß in vielen Fragen verdienten demokratischen Journalisten Leopold Sonnemann, dem Chef der »Frankfurter Zeitung«, wird nun unvermeidlich

und damit der Bruch mit dem demokratischen Flügel des Liberalismus.

Der Nürnberger Vereinstag leiter den Übergang zur Gründung einer besonderen sozialistischen Arbeiterpartei ein, die in den Kategorien des Klassenkampfes denkt und eine eigene klare Gewerkschaftskonzeption hat. August Bebel, einer der Führer der Arbeitervereine bei diesem Prozeß der Loslösung vom Liberalismus und ihr bester Redner, verfaßte im

Auftrag des Nürnberger Vereinstages einen Programmentwurf (»Musterstatuten«)® für die Bildung selbständiger Gewerkschaftsorganisationen, der von den Arbeitervereinen als Grundsatzentwurf angenommen wird, So beginnen sich jetzt Gewerkschaften mit Kampfbewußtsein und der eindeutigen Option

für das Streikrecht zu bilden; Organisationen,

die

sich nicht mehr wie die vorherigen liberalen Gewerkschaften nur als Berufsvereine verstehen, die keine Kämpfe gegen die Arbeitgeber zu führen

haben, sondern lediglich ihre »Partner« sind. Durch das, was bei den Arbeitervereinen, bei der sich vorbereitenden Eisenacher Partei geschieht,

sind nun auch die Lassalleaner gezwungen, ihre antigewerkschaftliche

Doktrin preiszugeben und eigene Gewerkschaftsorganisationen zu grün-

den, die »Arbeiterschaften« unter von Schweitzers Führung. Jetzt sind auch die Lassalleaner plötzlich der Meinung, daß aktive Arbeitergewerk-

schaften notwendig sind, die bereit sind, gegen die Unternehmer zu kämpfen und dadurch Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durchzusetzen, und daß nicht - wie es bis dahin die Theorie der Lassalleaner gewesen war - die politische Verselbständigung der Arbeiterbewegung zwecks Druck auf die staatliche Gesetzgebung als einziges Kampfmittel ausreiche. Die Arbeitervereine konstituieren sich formell im August 1869 in Ezsenach zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Praktisch sind sie schon seit dem Nürnberger Vereinstag 1868 Partei geworden. Von nun an haben wir in Deutschland also zwei Arbeiterparteien, die miteinander konkurrieren. Wir können seitdem zuweilen all die fraktionellen Übersteigerungen verfolgen, die nun einmal zur Konkurrenz von einander 6

Vgl. August Bebel: Musterstatuten für deutsche Gewerksgenossenschaften (vom 28. November 1868), in: August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1: 1863 bis 1878,

Berlin 3. Aufl. 1983, S. 603 ff.; sowie ders.: Vereinzelt seid ihr nichts, vereinigt seid ihr al-

Jes! Aufruf zur Gründung von Gewerksgenossenschaften, in: ebd., S. 38 f.

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

103

sich im übrigen nahestehenden Organisationen gehören. Die Eisenacher

sind haßerfüllte Gegner der Lassalleaner (und umgekehrt), denn die sind

ja Konkurrenten um die Gunst des gleichen sozialen Potentials. Sie kritisieren zum Teil zu Recht, zum Teil zu Unrecht manche ihrer Theorien;

andererseits übernehmen die Eisenacher dabei oft genug Denkformen der

Lassalleaner in der eigenen Propaganda. Auch die Gewerkschaftsorganisationen — einerseits die iın Kombination mit den Eisenachern aufgrund

des Bebelschen

stimmungen

Katalogs von Forderungen

gegründeten

Gewerkvereine

und organisatorischen Be-

und andererseits die von den

Lassalleanern gegründeten Arbeiterschaften - stehen mit unterschiedli-

cher Verankerung in den einzelnen Berufszweigen in Konkurrenz nebeneinander. Die neue Partei der Eisenacher unter Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die im allgemeinen tendenziell marxistisch

denkt und in Verbindung mit der Internationalen Arbeiter-Assoziation

steht, hofft noch auf eine großdeutsche Lösung der nationalen Frage und

glaubt, daß bei der Auseinandersetzung um die deutsche Einigung minde-

stens teilweise: demokratische

Zustände

durchgesetzt werden können.

Die Lassalleaner hingegen denken quasi in großpreußischen Gleisen und streben die kleindeutsche Lösung an, wenn natürlich auch nicht mit der undemokratischen innenpolitischen Konsequenz, wie sie dann im Gefolge des Deutsch-Französischen Krieges mit der Gründung eines Deutschen

Reiches unter preußischer Führung 1871 erzielt wird.

In der neuen Periode der industriellen Entwicklung ist allen fortschrittlichen Klassen im deutschen Gebiet klar, daß es einer Lösung der deutschen Frage in Richtung auf einen einheitlichen Nationalstaat unbedingt bedarf. Diese Lösung entspricht natürlich in erster Linie den öko-

nomischen Interessen der Bourgeoisie. Die preußische Regierung unter Bismarck nimmt Kurs auf eine gewaltsame Einigung Deutschlands — einerseits aus preußischem Vormachtinteresse, andererseits, um dem Bürgertum Zugeständnisse in der nationalen Frage zu machen, die sie ihm in bezug auf eine Demokratisierung verweigert. Dieser Kurs führt erst zum

Dänischen Krieg 1864, dann zum Krieg gegen Österreich 1866 (im Anschluß daran zur Gründung des Norddeutschen Bundes als der Vorstufe

des Deutschen Reiches) und im dritten Schritt zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Die Lassalleaner plädieren im Grunde für die preußische Lösung der deutschen Frage, während die Eisenacher Gegner dieser kleindeutschen Lösung sind. Die Geschichte entscheidet sich dann aber nicht durch das Eingreifen der Arbeiterklasse oder aufgrund der Intervention bürgerlicher demokratischer Gruppierungen, sondern aufgrund der preußischen militärischen Überlegenheit über Österreich, und es kommt 1866 zur Gründung des Norddeutschen Bundes. Im Parlament

104

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

dieses Bundes sitzen nun, so klein beide Arbeiterparteien noch sind, be-

reits sowohl Lassalleaner (von Schweitzer) als auch Bebel und Liebknecht

für die werdende und dann für die bald auch formell konstituierte Eisenacher Partei. Das bedeutet, daß die Vertreter der Arbeiterparteien im

Parlament zum nächsten Kriege Stellung nehmen müssen. Beim Beginn des Deutsch-Französischen Krieges 1870 überschlägt sich die gesamte deutsche Bourgeoisie, das gesamte deutsche Kleinbürgertum vor Begeisterung (wie fast das ganze deutsche Volk auch 1914 zuerst vor Begeisterung jede Spur von Rationalität verloren hatte). Auch die vorher demokratischen Kleinbürgermassen werden jetzt zu überwiegenden Teilen in diesem Taumel mitgerissen, denn mit diesem Krieg steht ja, wenn

erst die Vorherrschaft Napoleons HI. in Europa gebrochen ist, die Gründung eines einheitlichen Deutschen Reiches unmittelbar auf der Tagesordnung.

Wie stand es bei den Arbeitern? Die nicht-organisierten Arbeiter waren zum großen Teil ebenfalls von der allgemeinen Hektik mitgerissen —

was soll es für einen Sinn haben, das zu bezweifeln? —, so wie sie es 1914 noch einmal gewesen sind. Sie begriffen nicht, daß der Krieg gegen

Frankreich mit der Nebenabsicht der Eroberung französischen Gebietes,

nämlich Elsaß-Lothringens, geführt wurde, wodurch dieser Krieg zum dauernden Gegensatz zwischen den beiden Staaten überleitet und dabei

dann nicht nur die Regierungen, sondern auch die Völker in Feindschaft geraten. Das klar gesehen zu haben, war einerseits das Verdienst der IAA

(und das heißt von Marx und Engels, denn sie haben im Generalrat der Internationale den maßgeblichen Einfluß) und andererseits von Bebel und Liebknecht (nicht aber der gesamten Eisenacher Partei). Liebknecht

und Bebel sehen durchaus die historischen Folgen. Sie wissen, daß ein so gegründetes Deutsches Reich eine Konstruktion noch nicht einmal auf

fortschrittlich-großbürgerlicher Basis werden würde; sie wissen, daß die

Interessen der Arbeiterklasse, die nach Demokratie streben muß, im Ge-

gensatz zu den Interessen der preußischen Regierung in diesem Krieg stehen; sie meinen allerdings auch (es gibt darüber zwischen ihnen sogar eine heftige Kontroverse), daß eine Niederlage des Bonapartismus, den sie noch für den Aggressor halten, in Frankreich nürzlich sei, weil sie dort

wieder zur Errichtung einer Republik führen müßte. So kommen die beiden Abgeordneten der Eisenacher im Norddeutschen Reichstag zu

dem Resultat: Wir können den Kriegskrediten niıcht zustimmen, wir werden uns der Stimme enthalten. — Sie tun das, obwohl sie wissen, daß

die Mehrzahl auch ihrer Genossen an der Basis noch in Hlusionen über den Charakter dieses Krieges lebt. Sie haben das bald erfahren in den Auseinandersetzungen mit dem Braunschweiger Ausschuß (dem Partei-

Die Internationale Arbeiter-Assoziation und die Eisenacher

105

vorstand der SDAP), der zunächst den Krieg öffentlich unterstützt und erst nach der Niederlage Napoleons III. auf Bebels Position einschwenkt. Die Lassalleaner unter von Schweitzer haben bei der ersten Abstimmung

noch für die Kriegskredite gestimmt. Bei der zweiten Abstimmung, nach

der Kapitulation Napoleons III., tun sie es aber nicht mehr, denn auch sie kommen jetzt zu der Einsicht, daß sie die Fortführung des Krieges gegen

das republikanische Frankreich nicht billigen können: Nun ist es ein

Krieg gegen die französische Republik (der Kapitulation Napoleons II.

war die Ausrufung der Republik in Frankreich gefolgt), also ein Kampf gegen die Demokratie,

der außerdem

das Ziel der Annexion

französi-

schen Gebiets hat. So stehen von dieser zweiten Abstimmung an die lassalleanische und die Eisenacher Richtung mit der Position des klaren Nein gegen die Kriegskredite und mit ihrer Propaganda gegen den Krieg auf einer Seite, was eine entsprechende Mobilisierung des polizeilichen Kampfes und ein lautes Geschrei der gesamten bürgerlichen und feudalen öffentlichen Meinung gegen beide zur Konsequenz hat. So führt dieser Krieg dazu, daß bei den beiden zunächst gegeneinanderstehenden sozialdemokratischen Parteien der Ansatz zur gemeinsamen Entwicklung in der nächsten Stufe geboren wird.

106

11. Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha 1875 und das Sozialistengesetz (1878-1890)

Die lassalleanische Partei (der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein) und die Eisenacher Partei (die Sozialdemokratische Arbeiterpartei) näherten

sich nach der Reichsgründung in der Praxis stark aneinander an. Das

wurde einerseits dadurch bewirkt, daß nun auch die Lassalleaner - im

Grunde im Gegensatz zu ihrer Theorie - gezwungen waren, sich des Gewerkschaftsproblems anzunehmen, weil ihre Mitglieder dahin drängten. Nach der lassalleanischen Theorie galt ja ursprünglich das »eherne Lohngesetz«, das den gewerkschaftlichen Kampf um Verbesserungen des

Lohnniveaus und der Arbeitsbedingungen angeblich unmöglich machte

und die Arbeiterklasse allein darauf verwies, durch Einflußnahme auf die

Staatsgewalt Kredite für Produktionsgenossenschaften zu erhalten. Das

war eine Überzeugung, die offensichtlich der Realität nicht standhielt. Denn natürlich erwies es sich bei jeder Extension der kapitalistischen

Produktionsweise

und

des Industrialismus,

in jeder konjunkturellen

Aufwärtswelle also, daß die Arbeiter (wenn auch noch so geringfügige) Verbesserungen durchsetzen konnten. Und in der Krise wollten sie natürlich das, was sie vorher erstritten hatten, verteidigen. Auch dazu benötigten sie Gewerkschaften. Unter von Schweitzers Führung hatte die las-

salleanische Partei durch die Gründung ihrer Gewerkschaften (den Arbeiterschaften) in der Praxis das bereinigt, was sie vorher durch eine verfehlte Theorie Lassalles angerichtet hatte, ohne allerdings diese Theorie deshalb zu korrigieren. Nur hatten die Lassalleaner versucht, ihre Ge-

werkschaftsgründungen in Konkurrenz zu den Hirsch-Dunckerschen liberalen Quasi-Gewerkschaften völlig parteipolitisch kontrolliert und zentralistisch aufzuziehen, und sich dadurch selbst behindert. Aber der Gegensatz zu den Eisenachern in dieser Frage - August Bebel hatte schon

1868 eine realistische Gewerkschaftstheorie entwickelt - war nun gemil-

dert. Und andererseits sah es bei den Eisenachern so aus, daß ein großer

Teil von ihnen ehemalige Lassalleaner waren, die durchaus auch mit Schriften Lassalles und Bestandteilen seiner Theorie agitierten. So klang der Gegensatz »unten«, so groß er früher gewesen war, immer mehr ab. Dann war der Deutsch-Französische Krieg dazugekommen, wobei zwar die Lassalleaner anfangs nicht gewagt hatten, gegen ihn zu opponie-

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

ren, wohl

aber die Eisenacher.

(Wenn

man

allerdings genau

107

hinsieht,

standen nur die Abgeordneten der Eisenacher im Norddeutschen Reichstag, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, von Anfang an in Opposition gegen den Krieg. Unten, bei den Mitgliedern, war die Stellung zum Krieg zunächst nicht so klar; dort zeitigte zum Teil die kriegshysterische

Agitation der Liberalen Wirkung. Die Führer der Eisenacher hatten Jedoch Charakter gezeigt und von vornherein den Kriegskrediten im Parlament nicht zugestimmt.) Als dann, nach der Kapitulation Napoleons II. in Sedan, der Krieg offen in einen Eroberungskrieg, ın einen Machtkrieg des werdenden Wilhelminischen Reiches gegen Frankreich umschlug, stellten sich beide Gruppierungen - auch die Lassalleaner - im

Norddeutschen Reichstag gegen den Krieg. Sie bewiesen weit mehr Intelligenz und Mut als die Reichstagsfraktion der Sozialdemokratie im Au-

gust 1914. Sie standen als einzige gegen den Krieg. Denn die Liberalen machten bis auf wenige Linksliberale, wie Johann Jacoby (der dann - allerdings erst Jahre später - zur Sozialdemokratie übertrat), in der ganzen

Kriegshysterie und auch beim Annexionsgeschrei sogar als Antreiber mit.

Beide, Lassalleaner wie Eisenacher, galten deshalb in der normalen »Öffentlichen Meinung« als »Landesverräter«, weil sie nicht Elsaß-Lothringen erobern und unterjochen wollten. Sie galten als »Landesverräter«, weil sie den Krieg Bismarcks nicht unterstützten. In den Augen der Poli-

zei und der öffentlichen Meinung wurde es nun gleichgültig, ob es sich

um einen Lassalleaner oder einen Eisenacher handelte.

Und dann kam das Problem der Pariser Commune. August Bebel hat-

te sich in einer tapferen Parlamentsrede, bei Raserei des ganzen Reichstags, an die Seite der Kommunarden gestellt und dieselbe Position eingenommen, wie sie in London Marx und Engels in den Adressen des Generalrats' der Internationale formulierten. Und wieder tobte die »öffentli-

che Meinung« —- und jetzt sogar noch heftiger als in der Kriegsfrage - gegen beide sozialdemokratischen

Parteien.

Diese »Landesverräter«,

diese

»Unterstützer von Verbrechern« (die Kommunarden galten - wie seit Oktober 1917 die Bolschewiki — auch in liberalen Zeitungen als Verbrecher) müßten bis aufs Messer bekämpft werden. Selbst die einzige große

deutsche Tageszeitung, die noch in der Elsaß-Lothringen-Frage relativ vernünftig agiert hatte, die linksliberale »Frankfurter Zeitung«, stieß in 1

Vegl. Karl Marx: Zweite -Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: MEW, Bd. 17, Berlin 9. Aufl. 1991, S. 271 £ff.; sowie August Bebel: Gegen den Erobe-

rungskrieg, gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen. Rede und Antrag im Norddeut-

schen Reichstag zum Gesetzentwurf über weitere Gelder für die Kriegsausgaben, 26. November 1870, in: August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, a.a. O., S 118 ff.

108

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

dasselbe Horn. Lassalleaner und Eisenacher wurden von der öffentlichen

Meinung und von der Polizei gleich scharf bedrängt. Gegen drei Eisenacher, August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Adolf Hepner, wurde nach der Auflösung des Reichstags (denn jetzt mußte der Reichstag des Deutschen Reiches, das am 18. Januar 1871 proklamiert worden war, gewählt werden, und der des Norddeutschen Bundes ver-

schwinden) eine Hochverratsanklage erhoben. In einem Prozeß, der ın mancher Hinsicht einen Vorgeschmack auf spätere Zeiten, die Zeiten der Weimarer Republik und des »Dritten Reichs« bot, wurden die drei Ei-

senacher auch wegen »Hochverrats« verurteilt und eingesperrt. »Hochverrat«, das war in der bisherigen Rechtsprechung und nach dem Gesetzestext des Strafgesetzbuches allein die unmittelbare Aufforderung und

der Versuch zur gewaltsamen Beseitigung der Verfassung und des Staatsoberhauptes, also des Königs oder des Kaisers, gewesen. Der Tatbestand

des »Hochverrats« wurde jetzt durch die Rechtsprechung in offenkundi-

ger Verletzung der strafrechtlichen Norm durch »extensive Interpretati-

on« auf die »Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens« aus-

gedehnt. Und das hieß: »vorbereitet« wird ein hochverräterisches Unternehmen bereits dadurch, daß man generell, und sei es in noch so ferner

Zukunft, eine Revolution —- eventuell auch eine gewaltsame - für möglich oder gar notwendig hält. August Bebel und Wilhelm Liebknecht konnten

natürlich nicht bestreiten, daß sie das dachten. Sie waren nun einmal Republikaner

und

nicht Monarchisten.

Sie waren

der Meinung,

daß

eine

demokratische Republik auf Grund des legalen Druckes der Massen entstehen könnte, wenn nämlich die Massen stark genug wären, um die Entscheidung der Behörden für gewaltsame Gegenwehr der monarchischen Staatsgewalt auszuschließen. Aber sie waren natürlich auch der Ansicht,

daß niemand genau voraussagen kann, wie und wann sich dies Problem entwickeln wird; es handele sich um keine aktuelle Frage. Beide kamen

nach dem Leipziger Hochverratsprozeß vom März 1872 jedoch — so anständig war damals noch die bürgerliche Rechtsordnung - nicht ins Zuchthaus, wie wir es im »Dritten Reich« getan haben, wie es zahllose

kommunistische Arbeiter auch während der Weimarer Republik getan haben, sondern in eine »ehrenvolle« Festungshaft. Aber sie waren

da-

durch eine Zeitlang aus dem politischen Leben ausgeschaltet. Das hatte sogar, vom Standpunkt der Arbeiterbewegung aus gesehen, den Vorteil,

daß z.B. August Bebel, von Beruf Drechsler, nun endlich Zeit hatte, sy-

stematisch theoretische Schriften aufzuarbeiten. Er schildert in seinen Erinnerungen,“ daß er in dieser Zeit in der Festung den ersten Band des 2

Vgl. August Bebel: Aus meinem Leben, in: August Bebel: Ausgewählte Reden und Schrif-

ten, Bd. 6, Berlin 3. Aufl. 1983.

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

109

»Kapital« endlich durcharbeiten konnte. Denn in der Festungshaft bestand keine Arbeitspflicht, wie wir sie im Zuchthaus kannten, sondern

sie konnten lesen. Aber das war natürlich nur ein Nebenaspekt, der den Nachteil nicht ausglich, daß Bebel und Liebknecht für einige Zeit weitgehend aus der Politik ausgeschaltet waren. Der gemeinsame

Druck

auf Lassalleaner und Eisenacher

(allerdings

Vereinigungsverhandlungen durch Druck

von unten

weit stärker auf die Eisenacher Funktionäre »unten« zusammen Sektenstreitigkeiten heraus, der war es kein Wunder, daß gerade der Eisenacher die

als auf ihre Konkurrenten) rückte die und führte sie aus der Mentalität der sie sich vorher unterworfen hatten. So während dieser Festungshaft der Führer

immer stärker in Gang gebracht wurden. Wilhelm Liebknecht kam, weil

August Bebel auch noch eine presserechtliche Nachstrafe zu verbüßen

hatte, etwas früher frei und hat dann das Gothaer Programm* von 1875 mit ausgehandelt. In ihm stehen noch alle möglichen dogmatischen lassalleanischen Reste, auch das »eherne Lohngesetz«, über das die Lassalleaner

in der praktischen Gewerkschaftspolitik bereits hinaus waren. Darüber waren Marx und Engels verständlicherweise erbost, und sie haben zur Kritik des Gothaer Programms Rundbriefe an die Führer der Eisenacher

geschickt, die bis zum heutigen Tage theoretisch außerordentlich interes-

sant sind.* Sie äußern sich darin zum

»ehernen Lohngesetz« mit der

These, daß es »heilloser Unsinn« sei, da es durchaus möglich sei, ınner-

halb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch gewerkschaftliche Kämpfe die Lage der Arbeiterklasse zu verbessern und dabei gleichzeitig in diesen Kämpfen Klassenbewußtsein aufzubauen; weiter gehen sie auf die Rolle der Staatsgewalt und die Frage der Zwischenstufen

auf dem

Wege zu einer kommunistischen Gesellschaftsordnung ein. Eine wirklich kommunistische

Gesellschaft, schreibt Marx, steht erst am Ende

eines

langen historischen Prozesses, und dazwischen liegt eine relativ lange Übergangsperiode, in der die Arbeiterklasse über die politische Macht verfügt und nun langsam die Gesellschaft und Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage weiterentwickeln muß. Aber so theoretisch richtig die Marxsche Kritik am Programmentwurf war, so blieb sie doch zunächst folgenlos. Die Arbeiter drängten unten auf eine Vereinigung der Parteien. Die Marxsche Position war ihnen im 3 4

Vgl. Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (beschlossen in Gotha 1875), in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.): Programmatische Dokumente ..., a.a. O., S. 177 f.

Vgl. Karl Marx: Briefe an Wilhelm Bracke vom 5. Mai 1875, in: MEW, Bd. 19, Berlin 9, Aufl. 1987, S. 13 f.; ders.: Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: ebd., S. 15 £f.

110

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

übrigen unbekannt und auch unverständlich. Die Programmkritik wurde erst 15 Jahre später veröffentlicht. Da August Bebel noch hinter Gittern saß, führte Wilhelm Liebknecht die Vereinigungsverhandlungen, und er ließ sich vor allem von der Überlegung leiten: Wenn die Lassalleaner auf dieser oder jener Formulierung bestehen, sollen sie sie haben; die Hauptsache ist, daß die Vereinigung zustandekommt. - Als August Bebel unmittelbar vor dem Vereinigungsparteitag von Gotha 1875 aus der Haft entlassen wurde, waren die Dinge bereits gelaufen. So enthält das Gothaer Programm tatsächlich eine ganze Reihe verfehlter Formulierungen,

gerade auch in der Gewerkschaftsfrage, da das »eherne Lohngesetz« in

ihm fortgeschrieben wurde. Doch in der Praxis der vereinigten Partei hat sich niemand mehr darum gekümmert, und insofern war die Vereinigung

gleichwohl die richtige Lösung. (Zum Zeitpunkt der Vereinigung hatte der ADAV etwa 15300 und die SDAP rund.9 100 Mitglieder.)

Jetzt wurden auch die Gewerkschaftsansätze beider Seiten rasch verei-

nigt. Es erwies

sich übrigens,

daß es sehr viel leichter war, qualifizierte

Arbeiter mit ursprünglich handwerklicher Tradition in Berufsverbänden zusammenzufassen (wenn auch zunächst nur in kleinen Kadern) als etwa

ungelernte Arbeiter oder jene Arbeiter, die in dieser Zeit in Scharen aus

dem Osten Deutschlands und teilweise auch aus preußisch- und russischpolnischen Gebieten ins Ruhrgebiet strömten, um dort Bergarbeiter oder Stahlarbeiter zu werden. Es handelt sich ja damals um die Periode der raschen Extension des Bergbaus und der Stahlproduktion im Ruhrgebiet. Diese Zuwanderer ließen sich schon aus einem Grunde nicht leicht organisieren: sie sprachen, obwohl sie meist die preußische Staatsangehörig-

keit besaßen

(Schlesien, die Provinz Posen und

Westpreußen

waren

preußische Gebiete), oft kein Wort deutsch. Sie sprachen nur polnisch,

und ihr Bildungsniveau war außerordentlich gering, denn das Schulwesen in den Ostprovinzen war extrem niedrig entwickelt. Hinzu kamen, wir würden

heute sagen: Gastarbeiter mit anderer Staatsangehörigkeit, näm-

lich aus dem russischen Teil Polens. Diese Polen mit preußischer oder russischer Staatsangehörigkeit fühlten sich natürlich einander viel näher als der übrigen Bevölkerung der Gebiete, in die sie übersiedelten. Infolge-

dessen war es für die deutschen Gewerkschaften außerordentlich schwer,

diese Schichten zu organisieren. Später entwickeln sich große polnische

Gewerkschaftsverbände in Deutschland (vornehmlich im Ruhrgebiet), in

denen polnisch gesprochen wurde. So bereitet sich die nationale Spaltung - ein Problem, das eine lange Zeit für die deutsche Arbeiterbewegung eine schwierige Hypothek war - der gewerkschaftlichen Organisation im Ruhrgebiet vor, die nach dem großen Bergarbeiterstreik von 1889 mit aller Virulenz hervorbricht. Aber gleichwohl nimmt das Gewerk-

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

111

schaftswesen nach der Vereinigung lassalleanischer und Eisenacher Ver-

bände einen raschen Aufschwung: 1877 gibt es 27 zentrale Verbände mit

etwa 50000 Mitgliedern. Allerdings waren damals nur etwas mehr als 2% aller Arbeiter Mitglied einer Gewerkschaft. 1891 - ein Jahr nach der Überwindung des Sozialistengesetzes - haben die Gewerkschaften bereits

etwa 300 000 Mitglieder.

Auch der politische Einfluß der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (so der Name der vereinigten Partei) wächst beträchtlich. In der Reichstagswahl von 1877 kann sie etwa 9% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Sie erhält 40% mehr Stimmen, als im Jahr 1874 ADAV und SDAP zusammen errungen hatten. Um so stärker wird die Neigung der konservativen Reichsführung unter Bismarck, nun end-

lich mit diesem revolutionären Gesindel Schluß zu machen und ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie, ein Verbotsgesetz zu schaffen, das sowohl die Partei als auch die klassenkämpferische Gewerkschafts-

bewegung treffen soll. Bismarck bereitet dieses Gesetz - auch durch Verhandlungen mit ausländischen Mächten, die er zu gleichzeitigen Ausnahmegeserzen gegen die wachsende Arbeiterbewegung in ihren Ländern zu drängen sucht - systematisch vor. Zunächst scheitert er dabei, denn

der bürgerliche Rechtsstaat war ja das einzige, was die liberale Bourgeoisie nach der Revolution von 1848 hatte durchsetzen und im wesentlichen behaupten

können.

mit Schranken;

Bürgerliche Freiheitsrechte

(Presserecht, wenn

auch

bürgerliche Freiheitsrechte gegenüber der Polizei; das

Recht der freien Meinungsäußerung) galten der liberalen Bourgeoisie ın dieser Zeit (keineswegs nur im Deutschen Reich) noch sehr viel. Machte man aber ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie, so bedeutete das einen Einbruch in diese verbrieften Freiheitsrechte. Daher ist selbst

die Nationalliberale Partei, die größte liberale Partei der damaligen Zeit, bei allem Haß gegen die Sozialdemokratie für ein solches Ausnahmege-

setz zunächst nicht zu haben, weil sie die Verteidigung bürgerlicher Frei-

heitsrechte - auch in ihrem eigenen Interesse - noch ernst nimmt. In dieser Situation kamen Bismarck 1878 zwei Attentate auf Wilhelm IL,

König von Preußen und Kaiser des Deutschen Reichs, zu Hilfe und außerordentlich gelegen. Um den Hintergrund dieser Attentate zu untersu-

chen, muß man sich die damalige Zeit vergegenwärtigen. Es handelt sich um eine Periode, in der im russischen Zarenreich Teile der opponieren-

den studierenden Jugend aus dem Bürgertum und selbst aus den adeligen Oberklassen begonnen hatten, gegen den Zarismus und für bürgerliche Freiheitsrechte zu kämpfen. Sie hatten nach langen Auseinandersetzungen zu der Überzeugung gefunden, daß sie die Massen nur aufrütteln könnten, wenn

sie Attentate auf führende zaristische Funktionäre und

112

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

auf den Zaren selbst organisieren. So waren derartige Denkweisen des

Terrorismus in Teile der bürgerlichen Jugend Rußlands eingedrungen, wie auch in Teile der anarchistischen Jugend Österreichs und (nach dem

Terror-gegen die Kommunarden) Frankreichs. Solche Wellen des Denkens in den Kategorien des individuellen Terrors gibt es weniger bei der Vorbereitung proletarischer, als vor allem bei der Vorbereitung bürgerlicher Revolutionen. Man erinnere sich daran, daß wir sie nach dem Umschlag aller Hoffnungen des deutschen Volkes auf eine Liberalisierung

nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon auch einmal in Deutschland

erlebt haben. Man denke nur an die Ermordung August von Kotzebues durch den Studenten Karl Ludwig Sand im Jahre 1819.

Nun verübt am 11. Mai

1878 ein wegen Unterschlagungen schon

längst aus der Sozialdemokratie ausgeschlossener Mann, Emil Hödel, ein

Attentat auf Wilhelm I. Er wird gefaßt und hingerichtet, obwohl das Attentat nicht tödlich ist. Und kaum ist das geschehen, legt Bismarck dem Reichstag einen Antrag vor, gegen die »gemeingefährlichen Bestrebungen« der Sozialdemokratie ein Ausnahmegesetz zu verabschieden, obwohl er sehr genau weiß, daß die Sozialdemokratie (wie auch international die Arbeiterbewegung) sich stets gegen die bürgerliche Taktik individuellen Terrors gewandt hat.” Aber Bismarck ficht das natürlich nicht an, und in der generellen Stimmung für Wilhelm I. nach dem Attentat hat er bald große Teile der öffentlichen Meinung auf seiner Seite. Gleichwohl gelingt ihm im ersten

Anlauf die Durchsetzung des Ausnahmegesetzes nicht, denn noch sind

selbst die Nationalliberalen prinzipientreu genug, ihre Zustimmung zu verweigern. Dann kam am 2. Juni 1878 das zweite Attentat, verübt von einem bürgerlichen Mann, Karl Eduard Nobiling, der nie Mitglied der Sozialdemokratie war. Es folgt sofort die Auflösung des Reichstags, um die Massenstimmung zugunsten des Ausnahmegesetzes mobilisieren zu können, und prompt fallen die Nationalliberalen um. So wird im Okto-

ber 1878 das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie beschlossen.

Immerhin setzten die Liberalen noch zwei Dinge durch. Erstens, daß den Sozialdemokraten, obwohl sie illegalisiert wurden, weder das aktive

noch das passive Wahlrecht abgesprochen wurde; sie durften weiter zu *

Wir kennen ähnliche Vorgänge in der Bundesrepublik Deutschland: Die Forderung nach Berufsverboten wurde nach oben gespült und zum Erfolg geführt, nachdem winzige Teile aus der ehemaligen Studentenbewegung auf den Gedanken des individuellen Terrors verfallen waren. Obwohl die Bundes- und Landesregierungen wie alle politischen Parteien genau wußten, daß alle Marxisten immer gegen den individuellen Terror eingetreten waren, wurden die 1972 erlassenen Ausnahmebestimmungen der Berufsverbote vor allen Dingen gegen Marxisten und Kommunisten angewendet,

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotrha und das Sozialistengesetz

113

den Parlamenten kandidieren. Zweitens, daß das Gesetz zunächst nur für zweieinhalb Jahre gelten sollte - dann mußte es verlängert werden. Gleichwohl, das Ausnahmegesetz war da, und es wurde so oft verlängert,

daß es am Ende zwölf Jahre bestanden hat. Während 1878 beim ersten Erlaß des Gesetzes nur die Nationalliberalen umgefallen waren, fielen wenn auch nur einmal (1884) - dann bei der Verlängerung auch die Linksliberalen um, zeigt,

daß

man

und zwar in einer geradezu klassischen Weise,

heutige

parlamentarische

Geschäftsweisen

auch

die

damals

schon praktiziert hat: Zwar sprach ıhr Führer offiziell dagegen, aber um

eine Parlamentsauflösung zu vermeiden, kommandierte er gleichzeitig die Hälfte seiner Fraktion ab, dafür zu stimmen, damit das Gesetz auch angenommen und das Parlament nicht aufgelöst werde. So wurde das Ge-

setz, das zunächst zweieinhalb Jahre gedauert hat, immer wieder für jeweils rund zwei Jahre verlängert. Wie sah dieses Gesetz aus? Man darf sich die Verfolgungen während des Sozialistengesetzes keinesfalls so vorstellen wie die Verfolgungen der Ar-

beiterbewegung während des »Dritten Reiches«. Das Sozialistengesetz

war zwar eine Durchbrechung des bürgerlichen Rechtsstaates, aber der

bürgerliche Rechtsstaat existierte in seinen Grundzügen doch weiter und ebenso das Denken in bürgerlichen Individualrechten. Insofern war während des Sozialistengesetzes die Lage der verfolgten Sozialdemokraten doch wesentlich günstiger als die Lage der verfolgten Kommunisten während bestimmter Perioden der Weimarer Republik und schließlich der

verfolgten Angehörigen der gesamten Arbeiterbewegung während des »Dritten Reiches«. Sie war auch viel günstiger als die Lage der Kommunisten während der Verbotsperiode der Kommunistischen Partei Deutsch-

lands in der Bundesrepublik und ihrer Vorbereitung durch das erste Strafrechtsänderungsgesetz der Bundesrepublik. Man muß den Verfall des bürgerlichen Rechtsbewußtseins, der sich hier vollzogen hat, sehr genau erkennen. Das Verfolgungsgesetz war barbarisch, wer will es bestreiten,

aber vergleicht man etwa die Strafmaße, so sieht man die Differenz zu den späteren Verfolgungsperioden. Man kann daran erkennen, wieweit das, was noch am Ende des vorigen und zu Beginn dieses Jahrhunderts

selbstverständliches Denk- und Rechtsgut eines jeden bürgerlichen Staates war (und dazu gehörte auch das monarchische Deutsche Reich) in den

Erschütterungen der Zeit der Weltkriege zurückgegangen und in Verfall geraten ist. Man konnte zwar unter dem Sozialistengesetz in Schutzhaft genommen werden, aber nur für ganz kurze Zeit, und dann konnte man nur aus einem begrenzten Teil des Reichsgebiets ausgewiesen werden. Wie anders sah das etwa 1919 oder - noch schlimmer - 1933 aus! Man konnte unter dem Sozialistengesetz zu maximal drei Jahren Gefängnis

114

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

verurteilt werden. Man riskierte Haussuchungen, und die illegalen Zeitungen wurden dann beschlagnahmt. Wurde eine illegale Zeitung gefun-

den (der »Sozialdemokrat« war das illegale Zentralorgan der Partei), dann war das noch kein Verurteilungsgrund. Nur dann, wenn nachgewiesen

wurde, daß man die illegalen Schriften verbreitet hatte, wurde man ver-

urteilt. Der »Ausnahmezustand« war qualitativ erwas gänzlich anderes als das, was dann später kam. Sicherlich, es sind Tausende von Sozialdemokraten ausgewandert (meist in die USA) aus Angst vor der Verfolgung durch das Sozialistengesetz; viele von ihnen standen unmittelbar vor der

Verhaftung. Die Verfolgungen waren schwer genug. Gleichwohl hatten sie eine andere Qualität als später. Die Überwachungsmöglichkeiten der Staatsgewalt gegenüber den Organisationen der Bevölkerung waren we-

sentlich geringer, als sie es später waren, wenngleich auch die damalige Staatsmacht schon mit korrupten Mitteln arbeitete. Sie setzte Spitzel ein, auch schon in Form von Lockspitzeln, denn die Reichsregierung des

Herrn von Bismarck brauchte, um die Stimmung für die Verlängerungen

des Gesetzes in Gang zu halten, anarchistische Arttentäter. Aber so übel diese Methoden waren, so stark die Repression war, es konnte nicht verhindert werden, daß die Sozialdemokratie als Ganzes sehr rasch einen

neuen organisatorischen Zusammenhang aufbaute, so vor allem den Verbreitungsapparat für die illegale Wochenzeitung, den »Sozialdemokrat«,

Dessen Verbreitung konnte zwar hier und da gestört werden - ernsthaft verhindert wurde sie im Deutschen Reich nie. Die Auflage des »Sozial-

demokrat« stieg von 2700 Exemplaren (Oktober 1879) auf über 4000 Exemplare (1884) und 10600 Exemplare (1887). Allerdings brachte das Ausnahmegesetz bestimmte Schwankungen in das Denken der Sozialdemo-

kraten und der Arbeiterbewegung, die wir näher analysieren müssen. Das Ausnahmegesetz, das in verschiedenen Wellen sehr scharf oder

weniger scharf zur Anwendung gebracht wurde, traf auf eine Partei, die im Aufschwung war, deren Gewerkschaftsorganisationen wuchsen, die

aber gleichzeitig ideologisch in ihrem inneren Gefüge noch keineswegs gefestigt war. Denn Gotha liegt ja erst drei Jahre zurück, als die Verbotszeit beginnt. Und auch nach Gotha hat es noch alle möglichen Einwirkungen von Stimmungen der bürgerlichen Intelligenz auf die Sozialdemokratie gegeben, denn diese stand ja keineswegs außerhalb der Gesellschaft. Weil die bürgerlichen Parteien sich immer stärker von demokratischem und dann auch von rechtsstaatlichem Denken wegbewegten, hat es immer Randschichten der bürgerlichen Intelligenz gegeben, die zur Sozialdemokratie neigten, ohne in Wirklichkeit deren Denken und deren Grundtendenz verstanden zu haben. Das hatte sich schon vor dem Gesetz in dem großen Einfluß gezeigt, den ein Berliner Privatdozent, Eugen

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

115

Dühring, vorübergehend auf die Berliner Partei gewonnen hatte. Übrigens stand vorübergehend auch Eduard Bernstein in dessen Bann. Eugen

Dühring hatte sehr merkwürdige und verworrene Entwicklungstheorien zu begründen versucht, die teilweise auch in Richtung auf Demokratie

und auf soziale Rechte der Arbeiter zielten. Dabei wollte er den monar-

chischen Staat in liberalisierter Form erhalten. Weil sein Einfluß durch Bildungskurse auf gelernte Arbeiter und auf Studenten übergriff, die sich der Partei angeschlossen hatten, war Friedrich Engels zu der Überzeugung gelangt, daß man diesem Einfluß durch eine systematische Darstel-

lung des Denkens der Arbeiterbewegung entgegentreten müsse. So ist die Aufsatzreihe »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft«,”

die er 1877/78 noch zur Zeit der Legalität im »Vorwärts« veröffentlichte, entstanden, die als »Anti-Dühring« eines der berühmtesten und wichtigsten Bücher von Engels geworden ist. In der Partei - auch das war typisch - waren manche der Führer gar nicht einverstanden damit, daß diese Aufsätze in der Parteizeitung erschienen. Sie wollten sie aus der Partei-

zeitung verbannen, es ließ sich dann aber auf einem Parteitag lediglich durchsetzen, daß sie in die wissenschaftliche Beilage der Zeitung verbannt

wurden. Sie sind - im Grunde bis heute - zum wichtigsten Lehrbuch des Marxismus für die Arbeiterbewegung geworden. Das war vor dem

Sozialistengesetz. Jetzt, nach

diesem

Gesetz, veröf-

fentlichten einige bürgerliche Intellektuelle, die sich der Partei genähert hatten, im Sommer 1879 unter Führung von Karl Höchberg (auch Eduard Bernstein hatte sich ihnen vorübergehend angeschlossen) in Zürich eine Sonderzeitschrift, tik«, mit dem

das »Jahrbuch

für Sozialwissenschaft

Ziel, die Sozialdemokratie

und Sozialpoli-

den Bedingungen

des Gesetzes

anzupassen und von ihrer Meinung nach allzu revolutionären Forderun-

gen des Gothaer Programms wieder wegzubringen.“ Es wäre falsch, zu Jleugnen, daß diese Bestrebungen in Randschichten der Partei, aber auch

bei Teilen ihrer Funktionäre Einfluß gewonnen hätten. Daher wurde es zur wesentlichen Aufgabe der engeren Parteiführung (Wilhelm Liebknecht, August Bebel), diesen Entgleisungen entgegenzutreten, die Partei zu festigen und für gemeinsame Arbeit zu sammeln. Sie kommt zu der Überzeugung, es sei notwendig, eine Wochenzeitung der illegalen Partei zu begründen. So entsteht der schon erwähnte, zunächst in Zürich, dann 5

Vgl. Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: MEW,

6

Vgl. Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland, von *** (= Karl Höchberg, Eduard Bernstein, Carl August Schramm), in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, hg. von Ludwig Richter (= Karl Höchberg), Bd. 1, Zürich 1879.

Bd. 20, Berlin 9. Aufl. 1986, 5. 5 f.

116

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

in London herausgegebene »Sozialdemokrat«, der regelmäßig illegal in allen Teilen des Reiches

Kern der Partei zu schaffen.

verbreitet werden

soll, um

einen

gefestigten

Auf-der anderen Seite, neben diesen Entgleisungen nach rechts, die in

Richtung auf Anpassung an das bürgerliche Denken, an das bürgerliche Regime zielten (Höchberg, die sogenannte Drei-Sterne-Gruppe), haben mit dem Sozialistengesetz und der Illegalisierung der bisherigen Parteiarbeit bei Teilen der Parteiarbeiter auch anarchistische Stimmungen eindringen können. Sie vertraten die Ansicht: Wenn wir illegal sind, dann können wir auch zur »Propaganda der Tat« übergehen. Wenn wir schon wegen der Attentate auf Wilhelm I. verfolgt werden, mit denen wir nichts

zu tun hatten, dann

machen

wir auch Attentate,

zumindestens

gegen

Spitzel und Polizeiagenten und bei spektakulären Aktionen des kaiserlichen Regimes, wie zum Beispiel bei der Enthüllung des Niederwalddenkmals (bei dem ein Sprengstoffanschlag auf den Kaiser knapp schei-

terte). - Auch frühere sozialdemokratische Abgeordnete waren zu einem

solchen Johann hatten London

abenteuerlichen Kurs übergeschwenkt: der ehemalige Eisenacher Most und der ehemalige Lassalleaner Wilhelm Hasselmann. Sie im Januar 1879, noch bevor der »Sozialdemokrat« erschien, ın eine Zeitschrift zur Verbreitung in Deutschland, die »Freiheit«,

gegründet, um die »Propaganda der Tat« ideologisch zu begründen. Auch

diese anarchistische Strömung wurde eine ernsthafte Gefährdung für die

Einheit der Partei wie für ihre Verankerung unter den Arbeitern. Um so wichtiger wurde die Herausgabe des »Sozialdemokrat«, wobei es schwierig war, für ihn die richtige Redaktion zu finden. Die sozialdemokratischen Abgeordneten waren ja Abgeordnete geblieben. Bei den ersten

Wahlen unter dem Sozialistengesetz war die Zahl ihrer Mandate erheblich weniger gesunken, als Bismarck und die bürgerlichen Parteien erhofft hatten. Der Einfluß der nun verbotenen Partei war recht stabil geblieben. Aber wer sollte den »Sozialdemokrat« redigieren? Die Besten, die Führer der Partei, auf die sich das Parteivolk und die Parteiaktiven in der illegalen Arbeit orientierten, August Bebel und Wilhelm Liebknecht,

waren in der inneren Arbeit im Reich unentbehrlich und konnten daher die Redaktion nicht übernehmen. Auch der bayrische Parteiführer Georg

von Vollmar, der damals durchaus auf ihrer Seite stand, konnte ihn nur

vorübergehend betreuen. So verfiel man auf Eduard Bernstein als Redakteur und hatte damit einen guten Griff getan, denn Bernstein redigierte die Zeitung durchaus im Marxschen Sinne und ließ sich in seiner Arbeit durch Briefe von Engels und Marx beraten und beeinflussen. Es stellte sich bald heraus, daß die Redaktion und der politische Kurs dieser Zeitung der Stimmung der in Deutschland aktiv für die Partei Arbeitenden

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

117

durchaus entsprachen, auch und gerade während mancher Schwankungen in der Reichstagsfraktion. In der Reichstagsfraktion kam es zu Widersprüchen. Denn auch manche Abgeordnete der Partei ließen sich, weil ja ihre Abgeordnetentätig-

keit an sich legal war, sowohl von der Hoffnung auf Legalisierung durch

Anpassung als auch von Gelegenheitsstimmungen in Anpassung an un-

mittelbare Interessen einzelner besonderer Arbeitergruppen treiben. Denn diese Interessen waren untereinander des öfteren widersprüchlich, wenn

man sie allein an den nächsten Tageschancen bemessen will. Das

zeigte sich schon unmittelbar nach dem Beginn des Sozialistengesetzes in der Schutzzoll-Frage. Bismarck hatte gleichzeitig mit dem Sozialistenge-

setz den Kompromiß mit einem Teil der industriellen Bourgeoisie (vor allen Dingen der Produzenten von Kohle und Stahl) kombiniert, indem er Schutzzölle für Getreide — zum Schutz der Großgrundbesitzer gegen das billige englische Getreide und eventuell den im Hintergrund drohen-

den russischen Agrar-Export - mit Schutzzöllen für einen Teil der indu-

striellen Produktion verband, die die deutsche Schwerindustrie ebenfalls gegenüber englischen Importen schützen sollte. Auch dabei hatten die Nationalliberalen (bis auf eine Minderheit, die sich dann absonderte) entgegen ihrer alten Freihandelstheorie mitgespielt. Aber es waren auch ein-

zelne Teile der Arbeiterklasse der Meinung, daß derartige Schutzzölle, die die einheimische

Produktion

gegen

ausländische Konkurrenz

absi-

chern, auch in ihrem nächsten Interesse liegen könnten. Darüber gab es Debatten in der Partei, die allerdings zunächst noch nicht zu größeren

Schwierigkeiten führten. Wenig später kommt es in einer anderen Frage zu schärferen Gegen-

sätzen. Als Mitte der 80er Jahre das Reich beginnt, Kolonialpolitik zu be-

treiben, um sich (wenn auch verspätet) in den Reigen der anderen imperialistisch werdenden

Staaten einzureihen,

richtet es zu diesem Zweck

Postdampferlinien zu den neuen Kolonialgebieten ein. Für den Bau und die Betreibung der Dampfer subventioniert die Reichsregierung Schifffahrtslinien und Werftindustrie. Ein Teil der betroffenen Werftarbeiter

glaubt nun, daß dies seinen unmittelbaren Interessen entspricht, und be-

greift nicht, daß diese Subventionierung eine Unterstützung der imperialistisch werdenden und auf schärfere außenpolitische Konflikte hinsteuernden Reichspolitik bedeutet, von der Unterdrückung der Eingeborenen ganz abgesehen. Die Frage, ob man diese Dampfersubventionen ım

Reichstag bewilligen soll, führt 1884 zu einer schweren Auseinanderset-

zung in der Sozialdemokratie. Die Befürworter der Subventionen in der sozialdemokratischen Fraktion denken natürlich nicht nur an die unmittelbarsten Tagesinteressen weniger Arbeitergruppen, die tatsächlich — al-

118

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesertz

lerdings im Gegensatz zum Gesamtinteresse der Arbeiterklasse — bestan.

den, sondern sie hoffen auch, dadurch Bismarck und die Reichsregierung zur Lockerung des Sozialistengesetzes zu bewegen, indem sie sich in sol.

chen »nationalen« Fragen an Bismarcks Politik anpassen. Es kommt zu scharfen Auseinandersetzungen in der Reichstagsfraktion, die nach wie

vor legal ist und in der die Befürworter dieses Anpassungskurses in der Mehrheit sind, und in der illegalen Partei. Der »Sozialdemokrat« unter

Bernsteins Führung nimmt mit Argumenten von Marx und Engels ein. deutig Stellung gegen diesen prinzipienlosen Opportunismus., Die Kader der illegalen Partei teilen diese Auffassung ihrer Zeitung, und so kommt

es zur klaren Ablehnung dieser Dampfersubventionspolitik durch die Gesamtheit der Parteimitgliedschaft, der sich schließlich die Reichstags.

fraktion fügen mußte. Bei allen diesen Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei unter dem

Sozialistengesetz

mußte

die Führung

immer

sorgfältig

abwägen,

welche Formen illegaler Arbeit sie zu empfehlen hatte. Die wichtigsten Aufgaben in dieser illegalen Arbeit waren erstens der Aufbau des Vertejlungsapparates

für die illegale Parteizeitung,

den »Sozialdemokrat«,

und

damit der Aufbau des Kaderapparates der Partei; zweitens die Aufrechterhaltung gewerkschaftlichen Denkens

gewerkschaftliche Organisationen

und der immer erneute Versuch,

zu schaffen.

Wurden

gewerkschaftli-

che Organisationen verboten, wie es immer wieder geschah, dann mußte

man neue in neuer Form auferstehen lassen; allerdings ging das nur auf lokaler Ebene, denn ihre Kombination zu großen Verbänden erwies sich immer wieder infolge des Gesetzes und seiner Anwendungsformen in

den wichtigsten Mitgliederstaaten des Reichs als unmöglich. Es kam alles darauf an, die Parteizirkel ständig zu ergänzen und zu erweitern und das Parteidenken systematisch zu vereinheitlichen. Das wurde durch Anleitung in der Wochenzeitung, dem »Sozialdemokrat«, und durch das Überdenken des bisherigen programmatischen Materials der Partei geleistet, Daher klang das Thema der Revision des Gothaer Programms auf allen drei illegalen Parteitagen immer wieder an, wie sie in der Schweiz und in Dänemark abgehalten wurden. Drei Parteikongresse haben als illegale Konferenzen im Ausland während des Sozialistengesetzes stattgefunden. Der erste, 1880 auf Schloß Wyden in der Schweiz, traf die Entscheidung über den Ausschluß der an-

archistischen Gruppen. Dieser Beschluß war notwendig, denn wäre die

Partei in deren Attentatsstrategie verwickelt worden, so wäre die Auf-

rechterhaltung ihres illegalen Apparates ebenso unmöglich geworden wie

die Ausbreitung ihres Einflusses in der Arbeiterklasse; sie wäre als anar-

chistische Sekte untergegangen. Most und Hasselmann wurden also auf

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

119

dem Wydener Kongreß ausgeschlossen. Ferner wurde beschlossen, den Satz, daß die Sozialdemokratie ihre Ziele »mit allen gesetzlichen Mitteln« anstrebt, aus dem Gothaer Programm zu streichen. Denn nachdem das Sozialistengesetz erlassen war, mußte die Partei betonen, daß sie natürlich gleichwohl, nun also illegal, weiterarbeiten wollte. Die Streichung

des Wortes »gesetzlich« richtete sich gegen die Anpassungstendenzen in der Partei, wie sie die Drei-Sterne-Gruppe vorher artikuliert hatte (aus der Bernstein inzwischen bereits ausgeschieden war). Von nun an dringt marxistisches Denken - besonders durch den »Sozialdemokrat« verbreitet - in der Partei immer stärker vor. Dieser Prozeß verläuft über den Kopenhagener Kongreß von 1883 und den St. Gallener Parteitag von

1887 bis zum Ende des Sozialistengesetzes und manifestiert sich in einem

neuen Programm,

geworden ist.

das beschlossen wird, sobald die Partei wieder legal

Davon, daß das Sozialistengesetz überwunden

werden würde, ist die

Partei sehr bald und mit Grund überzeugt. Es hatte sich in jeder neuen Wahl nach dem kleinen Rückschlag bei den ersten Wahlen unter dem Ausnahmegesetz 1881 gezeigt, daß die Stimmenzahlen für sozialdemokra-

tische Kandidaten ständig zunahmen. Bereits in der zweiten Wahl (1884)

wurde

das letzte Wahlergebnis vor dem Sozialistengesetz übertroffen,

und von nun an rannten die Wahlziffern nach oben, ebenso die Verbrei-

tungszahlen der illegalen Parteizeitung. Das Gesetz war also sichtlich wirkungslos, und deshalb griff Bismarck Mitte der 80er Jahre zu einer modifizierten Taktik und probierte eine etwas liberalere Politik gegenüber Gewerkschaftsgründungen aus, um den Einfluß der Sozialdemokra-

ten zu schwächen. (Zu diesem Zwecke erfolgte auch die Einführung der Sozialversicherung: Krankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884, Alters- und Invalidenrente 1889). Doch es erwies sich rasch, daß dies nicht gelang, weil sich diese Gewerkschaften nicht gegen die Partei mißbrauchen ließen. Ende der 80er Jahre kommt es mit dem großen Bergarbeiterstreik von 1889 zum ersten Mal zu einem wirklichen Massenstreik, der rund 150000 Bergarbeiter in allen Revieren erfaßte. Der Streik war nicht gewerk-

schaftlich vorbereitet (eine breite Bergarbeitergewerkschaft besteht noch gar nicht), und die sozialdemokratischen Gewerkschafter sind zunächst zum Teil der Meinung, man solle sich auf dieses utopisch scheinende Experiment nicht einlassen. Aber die Streikbewegung wird bald so stark, daß die Parteiführung‘ einsieht, daß ihre »zuständigen« Gewerkschafter irren und die Massen recht haben, wie das die Aktion beweist. Die Bergarbeiter können sogar Seine Majestät Wilhelm II. zur Verhandlung zwingen (»Kaiserdeputation«), wenngleich der Streik nur sehr geringe materi-

120

Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien in Gotha und das Sozialistengesetz

elle Erfolge zeitigt. Aber nach diesem Streik werden die Gewerkschaften zu Massenorganisationen, und auch im Bergbau bildet sich eine rasch

wachsende sozialdemokratisch geführte Gewerkschaft. Daneben werden von nun an ein christlicher und ein polnischer Bergarbeiterverband zu

Massengewerkschaften. Was hat demgegenüber noch das Ausnahmegesetz zu besagen? So sinkt

der Murt in den liberalen Parteien, das Gesetz weiter zu verlängern. Bismarck will zwar die Verlängerung und das Gesetz sogar noch verschärft haben. Die Nationalliberalen, die bisher immer mitgespielt hatten, wol-

len einer Verlängerung nur bei Abschwächung einer ganzen Reihe von Gesetzesnormen

zustimmen.

So kommt

ein Kompromiß

der bürgerli-

chen Parteien nicht mehr zustande, und 1890 wird die Verlängerung des

Gesetzes abgelehnt. Die Wahlen vom Februar 1890 werden zum großen Triumph der Sozialdemokratie, die stimmenmäfßig (1,4 Mio. Stimmen, 19,7% der Wähler), wenn auch noch nicht nach Parlamentsmandaten, zur stärksten Partei des Deutschen Reiches aufsteigt. Die Wahlen haben

noch unter dem Gesetz stattgefunden; das Gesetz hat aber keinerlei Wir-

kung mehr gehabrt, und so wird es im letzten halben Jahr seiner Existenz

praktisch nicht mehr angewandt.

121

12. Das Erfurter Programm (1891)

Unmittelbar nach dem Ende, dem »Auslaufen« des Sozialistengesetzes

kann im Oktober 1890 der erste Parteitag der wieder legalen Partei in Halle zusammentreten. Er beschließt, eine Kommission zur Revision des Programms einzusetzen. Die Partei ändert ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Die Partei und damit die deutsche Arbeiterbewegung hatte über das Ausnahmegesetz triumphiert. Die Verhältnisse hatten sich im Deutschen

Reich während des Sozialistengesetzes völlig verändert. Nicht nur die Industrialisierung war vorangeschritten, sondern auch die Entwicklung des

Selbstbewußtseins der Arbeiterklasse. Die Sozialdemokratie war zu einer unverhüllt demokratisch-republikanischen wie klassenkämpferischen Partei

mit

marxistischem

Denken

geworden.

Bernsteins

»Sozialdemo-

krat« war der Transformator dieser ideologischen Veränderung der Partei gewesen. Diese deutsche Sozialdemokratie war gleichzeitig eine Partei geworden,

die

die

bürgerlichen

Parteien

nicht

mehr

voll

zu verbieten

wagten — das Sozialistengesetz war gestorben. Die beiden marxistisch denkenden Führer der Partei, August Bebel und Wilhelm Liebknecht,

waren — darüber gab es auch in der gesamten bürgerlichen Presse keinen Streit mehr - zu den bedeutendsten parlamentarischen Rednern des deutschen Reichstages aufgestiegen. Beide wurden noch des öfteren wegen Pressedelikten

strafrechtlich

verfolgt,

aber niemand

bezweifelte

mehr,

daß sie die von den Massen bejubelten großen Redner nicht nur des Parlaments,

sondern

auch

der Volksversammlungen

geworden

waren.

Sie

waren das Rückgrat des sich rasch entwickelnden Bewußtseins der Arbei-

terklasse. Die theoretische Zeitschrift der Partei, die ab Januar 1883 legal

hatte erscheinen können (Marx hat nicht mehr darin mitarbeiten kön-

nen, wohl aber Engels), die »Neue Zeit«, die von einem österreichischen

Intellektuellen, Karl Kautsky, redigiert wurde, war — obgleich sie formell nicht Zeitschrift der Partei, sondern selbständige Zeitschrift des DietzVerlages war - zur bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands überhaupt geworden. Sie war eine Zeitschrift des Marxismus, denn Karl Kautsky, der sie redigierte, fühlte sich als konsequenter Marxist. Das ging so weit, daß zum Beispiel in der »Neuen Zeit« auch solche Marx-Engels-Manuskripte jetzt publiziert wurden, deren Veröffentlichung vorher aus Legalitätsgründen niemand gewagt hatte.

122

Das Erfurter Programm (1891)

Die reichsdeutsche Welt war also dank des Sieges der Partei über das So. zialistengesetz erheblich verändert. Dazu hatte noch während des Soziali.

stengesetzes ein Buch wesentlich beigetragen - ich meine jetzt nicht den

»Anti-Dühring«, so wichtig er auch war -, das von einem Nicht-Intel-

lektuellen geschrieben worden war: August Bebels »Die Frau und der So-

zialismus«.* Bebel hatte während seiner Festungshaft Zeit gehabt, sich in-

tensiv ın die theoretischen Grundlagen des Marxismus einzuarbeiten. Na-

türlich hat er nicht jede Feinheit dialektischen Denkens verstanden, wie sollte er? Er hatte keine Gelegenheit, Hegel im Detail zu studieren. Aber er hatte das »Kapital« - den ersten Band noch in der Haft und dann auch den zweiten, der 1885 von Engels aus dem Nachlaß herausgegeben wur-

de - gründlich rezipiert. Bebel hatte begonnen, ein Problem auszuarbei-

ten, vor dem

sich die ganze

bürgerliche Sozialwissenschaft

drückte:

das

Problem der Rolle der Frau in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung

und der Veränderung ihrer Stellung; ein Problem, das er unter Verwer-. tung eines außerordentlich umfangreichen Tatsachenmaterials und bei

sinnvoller und durchdachter Verwendung marxistischer Denkmethoden

untersuchte. Damit setzte er eine Wendung der Partei in der Frauenfrage

durch, die er bereits vorher eingeleitet hatte. In der Sozialdemokratie har

es, wie auch ben, ob die prozeß und oder nicht.

in bürgerlichen Parteien, vorher Streitigkeiten darüber gegePartei für die volle Gleichberechtigung der Frau im Arbeitsfür ihre volle politische Gleichberechtigung eintreten solle Bis zur Verkündung des Frauenwahlrechts im November

1918 durch den Rat der Volksbeauftragten hat es keine bürgerliche Partei

gegeben, die gewagt hätte, sich programmatisch auch nur zum Wahlrecht

der Frauen zu bekennen. In Bebels Werk wurde in sorgfältiger empirischer und theoretischer Untersuchung dargelegt, daß die Arbeiterpartei in ihrem eigenen Interesse selbstverständlich auch für die volle politische Gleichberechtigung der Frauen eintreten muß. Die Arbeiterpartei müsse immer wieder darauf hinweisen, daß die kapitalistische Gesellschaftsord-

nung die Frauen in besonderem Maße ausbeutet, sobald sie in den Arbeitsprozeß eintreten, da sie geringer entlohnt werden als die Männer. Für die gesamte Arbeiterklasse und für die Gewerkschaftsbewegung sei es deshalb aus Solidaritätsgründen erforderlich, stets für die volle Gleichberechtigung der Frauen zu kämpfen, aber natürlich auch für ihre besonde1

Vgl. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus (Neusatz der Jubiläumsausgabe von

1929, Vorwort von Eduard Bernstein), Bonn 3. Aufl. 1994. Das Buch erschien in der er-

sten Auflage 1879 in Zürich, ab der zweiten Auflage (zunächst illegal) im J. H. W. Dietz Verlag in Stuttgart. Zu Bebels Lebzeiten wurden 53 deutschsprachige Auflagen sowie Übersetzungen in 20 Sprachen veröffentlicht. - Zum Gesamtwerk August Bebels siehe

nun auch: ders.: Ausgewählte Reden und Schriften, 10 Bde., München 1995 £f.

Das Erfurter Programm (1891)

123

re Berücksichtigung in Gesundheitsgesetzen, die der vollen Gleichberechtigung auch im Arbeitsprozeß keinen Abbruch tun dürfe. Dieses Bebel-

sche Buch, 1879 — ein Jahr nach der Verkündigung des Ausnahmegesetzes — zum ersten Mal in der Schweiz erschienen und illegal in Deutschland verbreitet, war während

des Sozialistengesetzes zu dem

zentralen

Schulungsbuch der Partei geworden. Es erschien in immer neuen Aufla-

gen, und es gab keinen sozialdemokratischen Funktionär, der es nicht genauestens studiert hätte. So war es ganz erklärlich, daß die Partei aus

dem Sozialistengesetz herauskam als die Partei, die für die Gleichberech-

tigung der Frauen eintrat. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes und der Rückkehr zu legalem

Wirken war gleichwohl klar, daß sich die Partei eine bestimmte Zurück-

haltung in den Formen ihres Auftretens auferlegen mußte, um nicht so-

fort wieder in die Illegalität zurückgedrängt zu werden. Teile derjenigen

Gruppen, die den illegalen Kampf mitgetragen hatten, besonders jüngere Intellektuelle, waren allerdings der Meinung, man müsse die Mentalitäten

und Verhaltensformen der illegalen Periode unverändert und unkritisch

fortführen. waren zum meyer etwa demokratie

So entsteht die Diskussion um die sogenannten »/ungen«. Sie größeren Teil jungintellektuelle Funktionäre - Paul Kampff—, zum kleineren Teil auch jüngere Funktionäre der Sozialaus den Betrieben, die der Meinung waren, die Partei habe ın

der illegalen Periode die parlamentarische Arbeit allzu groß geschrieben

und den Einfluß der Parlamentsfraktion in der Partei allzu groß werden lassen. Sie dürfe ferner in ihren programmatischen Äußerungen nicht

durch Verschweigen bestimmter Probleme Illusionen aufkommen lassen. Zu diesen Problemen gehörte beispielsweise die Formulierung vom

Kampf um eine demokratische Republik. Diese Formulierung konnte die Partei im legalen Kampf

natürlich nicht wörtlich

hätte den sofortigen Rückfall in nur sinngleiche Umschreibungen sofort Auseinandersetzungen. Die gust Bebel, Wilhelm Liebknecht Volkstribunen

anerkannten

verwenden,

denn

das

die Illegalität bedeutet; sie konnte hier gebrauchen. Um diese Fragen gibt es »Jungen« sind der Auffassung, daß Auund Paul Singer, die als die großen

Parteiführer,

für die Legalität

allzu große

Konzessionen in der Ausdrucksweise machten. Man benötige demgegenüber eine Parteispitze, die das Problem der Beteiligung an Wahlkämpfen - auf die es nicht so sehr ankomme - kleinschreibt und mehr oder minder offen den unmittelbaren Kampf für die unmittelbare Vorbereitung einer Revolution aufnimmt. Für eine solche Strategie reichte der

Einfluß der Partei in den Massen natürlich keineswegs; zudem war trotz

des Sieges über das Sozialistengesetz auch die Verankerung bürgerlichen Denkens in weiten Teilen der Arbeiterklasse noch viel zu groß. So

124

kommt

Das Erfurter Programm (1891)

es zur Fraktionsauseinandersetzung mit den »Jungen«, die sich

über zwei Parteitage (Halle 1890 und Erfurt 1891) hinzieht, bei der die ultralinke Strömung der »Jungen« sich immer stärker isoliert und am Ende aus der Partei verschwindet. Ähnliche Probleme ergaben sich beim Wiederaufbau der Gewerk-

schaftsbewegung. Während des Sozialistengesetzes war es zwar in der letzten Phase gelungen, wieder einige Zentralverbände meist gelernter Arbeiter aufzubauen und trotz aller Verbote immer wieder herzustellen. Die

ungelernten Arbeiter, überwiegend im 1890 gegründeten Fabrikarbeiter-

verband und im Holzarbeiterverband (1893) zusammengefaßt, spielten in

der gewerkschaftlichen Organisation eine viel geringere Rolle. Aber die Beschränkung auf die lokalen Organisationen war während des Sozialistengesetzes

die zum

Teil

angemessenere

Organisationsform

gewesen.

Lokalorganisationen, die sich nicht Zentralverbänden anschlossen, waren konspirativ leichter zu handhaben. Daher beginnt bereits vor dem Halberstädter Kongreß

vom

März

1892, der ersten

Zusammenkunft

von

Vertretern der Gewerkschaften aller Berufsrichtungen nach dem Sozialistengesetz, die Auseinandersetzung um die Organisationsform. Wer im Bann der Erscheinungen vor der Überwindung des Sozialistengesetzes

steht und nicht begreift, daß man jetzt die Legalität handhaben und aus-

nutzen und damit größere Organisationserfolge erzielen kann, der ist häufig »Lokalist«, d.h. Gegner zentralverbandlicher Organisation. Dieje-

nigen Gruppen - und das war die große Mehrheit —, die wissen, daß sie mit der Überwindung des Sozialistengesetzes größeren Spielraum für ihre Arbeit

erstritten hatten,

den

man

jetzt durch

geschicktes

Manövrieren

ausnutzen muß, sind für die Organisationsform der Zentralverbände.

Diese Auseinandersetzung

zieht sich über die ersten Vorstandszusam-

menkünfte hin, in denen sich bereits Carl Legien als der künftige Leiter der Gesamtorganisation in den Vordergrund spielt. Auf dem Halberstädter Kongreß, der zur Gründung der Generalkommission der Gewerkschaften

Deutschlands führt, zu einer föderativen Dachorganisation der freien Ge-

werkschaften also, sind diese Anhänger der Zentralverbände so sehr in der Mehrheit - von insgesamt etwa 300000 vertretenen

Organisierten

sind weit über zwei Drittel für die Schaffung von Zentralverbänden und für die Generalkommission als der Zusammenfassung aller zentralen Berufsverbände —, daß das Orpganisationsprinzip der Zentralverbände

fast

überall eingeführt wird. Die »Lokalisten«, die lediglich lokale gewerkschaftliche Organisationen wünschen und glauben, dadurch bessere Verbindung zu spontanen Wellenbewegungen proletarischer Aktivitäten finden zu können, bleiben draußen. Sie verlieren immer mehr an Einfluß,

weil sich die Organisationsform des Zentralverbandes praktisch deutlich

Das Erfurter Programm (1891)

125

bewährt. Der Zentralverband tritt jedoch noch generell in Form der Berufsgewerkschaft und noch nicht in Form des Industrieverbandes auf (mit Ausnahme des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, der schon bald

industriegewerkschaftlich organisiert ist). Aber er umfaßt ausschließlich Arbeiter und noch keine Angestellten. Allerdings beginnt die zahlenmäßige Ausweitung der Angestellten erst in diesen Jahrzehnten. Bis dahin ist, wer abhängig arbeitet, normalerweise gewerblicher Arbeiter, nicht Angestellter. Die Bürokratisierung der Riesenunternehmungen, wie wir sie heute kennen, existiert noch nicht.

Es gibt zwar breite Angestelltenschichten in Kleinstunternehmen - man denke an den ganzen Bereich des Distributionswesens, der Läden und dergleichen, und der Dienstleistungen —, aber diese Angestellten haben

noch immer eine ganz andere Mentalität und meist noch nicht die Spur von Klassenbewußtsein und Einsicht in ihre reale gesellschaftliche Lage.

Infolgedessen reagieren sie nicht auf der Seite der Gewerkschaftsbewegungen.

Der

erste große

Angestelltenverband,

der rasch

aufsteigt, der

Deutschnationale Handlungsgehilfenverband, ist vielmehr extrem antisemitisch, weil er sich gegen die jüdischen Konkurrenten in Kleinunter-

nehmungen wendet und hofft, sie verdrängen zu können. Er betont diesen

Antisemitismus

besonders

stark

in jeder

Krisensituation,

weil

ein

stets wachsender Teil bisher selbständiger armer jüdischer Händler dann versucht, Angestelltenpositionen zu bekommen. Dieser Verband ist entsprechend reaktionär und sieht nicht in der Betonung seiner Gegensätze

zu seinen Arbeitgebern seine wichtigste Aufgabe, sondern erstrebt im Gegenteil ein gutes, wir würden heute sagen: ein »sozialpartnerschaftliches« Verhältnis zu ihnen, weil er glaubt, sich durch Anpassen nach oben

desto besser verkaufen zu können. Die meisten gewerkschaftlich Organisierten sind also in dieser Periode — im letzten Jahrzehnt des vorigen

Jahrhunderts

- Arbeiter, nicht Angestellte. Der »normale« Angestellte

dieser Zeit steht noch völlig im Bann »ständischen« Denkens und hält sich für den Arbeitern weit überlegen. Das ändert sich erst nach Beginn

unseres Jahrhunderts, als die Konzentration und Zentralisation des Kapitals rasch voranschreitet. Dieser Prozeß erfaßt die Grundstoffindustrien wie die - damals — »neuen« Industrien (Chemie- und Elektroindustrie). Der kleinere Betrieb wird in den größeren häufig eingegliedert oder von ihm geschluckt. Diese Entwicklung bestätigte handgreiflich alles — und damit kehren wir zur Sozialdemokratischen Partei zurück -, was im Eingangsteil des Erfurter Programms steht. Denn das Programm, das die Partei nach dem 2

Vgl. Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (beschlossen auf dem Par-

126

Das Erfurter Programm (1891)

Hallenser Parteitag erarbeitet und das nach manchem Hin und Her, einem Entwurf Kautskys folgend, dem Erfurter Parteitag vorgelegt wird,

enthält ein breites Eingangskapitel theoretischer Art, das die sozioökonomische Lage der kapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet. Dieser

erste, theoretische Teil des Erfurter Programms ist bis heute eines der nicht nur historisch, sondern auch wissenschaftlich interessantesten Dokumente der Parteigeschichte. Das gilt ebenso für seine Verschränkung mit dem

zweiten Teil des Programms,

mit den Übergangslosungen

praktisch-

politischer Art für die damalige Zeit. Im ersten Teil wird in kurzen Formeln, in wenigen Sätzen ım Grunde der ganze Inhalt Marxscher und En-

gelsscher Kapitalismusanalyse zusammengedrängt. Er enthält deshalb Aussagen hinsichtlich der Entwicklungstendenzen der industriellen kapitalistischen Gesellschaft, in der deren technische Weiterentwicklung sich mit einer steigenden Konzentration des Kapitals. kombiniert. In diesem theoretischen Teil wird - und das schon zu Beginn dieses realen Prozesses in der kapitalistischen Entwicklung Deutschlands —- sehr eingehend darge-

legt, daß das Kleinunternehmen durch das Großunternehmen und durch

die Zusammenfassung von Großunternehmen verdrängt (oder unterwor-

fen) werden wird und daß dadurch die Klassengegensätze zunehmen. Es wird dargestellt, daß der Anteil der abhängig arbeitenden Bevölkerung an

der Gesamtbevölkerung ständig wächst, wie andererseits der Anteil der städtischen und ländlichen selbständigen Mittelschichten an der Gesamtbevölkerung ständig abnimmt. Wenn das Klassenbewußtsein dieser ab-

hängig arbeitenden Bevölkerung sich entwickelt und mit Hilfe dieses

Klassenbewußtseins Klassenkämpfe nen Punkt, an dem die industrielle samtnation übernehmen könne und sche Produktionsweise durch eine

geführt werden, gelange man an eiArbeiterklasse die Führung der Gemüsse - mit dem Ziel, die kapitalistisozialistische zu ersetzen, in der die

Produktionsmittel nicht mehr im Eigentum privater Unternehmer und Kapitalgesellschaften liegen, sondern in der Hand der arbeitenden Bevölkerung, die sie nicht mehr für die Profite einzelner, sondern für den Wohlstand der Gesamtgesellschaft zielbewußt und geplant einsetzen

werde,

Am ersten vom Parteivorstand vorgelegten Entwurf des Programms hat Friedrich Engels eine ausführliche Kritik geübt,’ in der einige Punkte

wiederholt wurden, die einst Marx gegen Lassalle vorgebracht hatte. Las-

salle war ja der Ansicht gewesen, das »eherne Lohngesetz« verhindere,

teitag in Erfurt 1891), in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.): Programmatische Doku3

mente ..., a.a.O., S. 187 ff.

Vgl. Friedrich Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW, Bd. 22, Berlin 7. Aufl 1990, S. 225 ff.

Das Erfurter Programm (1891)

127

daß die Lebenshaltung der Arbeiterklasse jemals über das Existenzmini-

mum hinauswachsen könne. Denn - so hatte Lassalle geglaubt - wenn die Arbeiter sich irgendwann einen etwas besseren Lebensstandard erstritten haben, wächst die Bevölkerung, und dadurch entsteht ein solches Überangebot an Arbeitskräften, daß der Lebensstandard sofort wieder absinkt.

Marx und Engels hatten immer gegen diese Meinung angekämpft. Die Beschlüsse des Genfer Kongresses der Internationalen Arbeiter-Assozia-

tion 1866, von Marx entworfen, waren zum großen Teil auch als Polemik gegen diese Lassallesche Illusion gedacht gewesen. Trotzdem steck-

ten diese lassalleanischen Auffassungen noch in der Arbeiterbewegung

und griffen während des Sozialistengesetzes wieder um sich. Nicht aus Zufall,

denn

dem

kurzfristigen

ökonomischen

Aufschwung

nach

dem

Deutsch-Französischen Krieg war eine lange Rückschlags- und Stagnationskrise gefolgt - denken wir an die Gründerkrise 1873 als ihrem Aus-

gangspunkt —, in deren Verlauf tatsächlich die Lebenshaltung der Arbeiterklasse zum Teil zurückgeworfen wurde. Daher hatte sich diese lassalleanische Vorstellung, die im Prinzip jeder-gewerkschaftlichen Aktivität entgegenstand, festsetzen und verbreiten können. Es war viel von diesen

Anschauungen auch in den Köpfen der Parteiführer hängengeblieben, die sich im übrigen bereits als Marxisten verstanden. So findet sich im ersten Programmentwurf zwar nicht die Formel des »ehernen Lohngesetzes« (so beschränkt waren die Autoren des Entwurfs nun wirklich nicht mehr), aber die von der Verelendungstendenz der Arbeiterklasse und zwar im Sin-

ne einer absoluten Verelendungstendenz, die innerhalb der kapitalisti-

schen Gesellschaft unaufhebbar sei. Engels hat sofort in energischen Briefen an die Vorstandsmitglieder gegen diese Formulierung protestiert und ihre Änderung noch vor der Vorlage an den Parteitag verlangt. Er verwies darauf, daß durch Gewerkschaftskämpfe zwar nicht die Ausbeutung

der Arbeiterklasse durch die Kapitalisten abgeschafft werden könne — das ist nur

durch

Veränderung

der

Grundstruktur

der Gesellschaft

mög-

lich —, aber doch immer wieder Verbesserungen für die Arbeiterklasse

erkämpft werden könnten — Verbesserungen sowohl lohnpolitischer und

arbeitszeitmäßiger Art unmittelbar im Kampf mit dem Unternehmer als auch in sozialpolitischer Richtung durch Arbeiterschutzgesetze, Versicherungsgesetze etc. Diese Verbesserungen sind immer Zugeständnisse der herrschenden Klassen und der Staatsgewalt an die Arbeiterklasse infolge ihres Wachstums und ihrer Kämpfe. Sie sind Ergebnisse des Klassenkampfes, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erstritten werden können. Zwar war auch Engels der Meinung, daß alle diese erkämpfen Vorteile, die natürlich im Widerspruch zu einer angeblich absoluten, unaufhebbaren Verelendungstendenz stehen, immer gefährdet

128

Das Erfurter Programm (1891)

sind. In jeder großen kapitalistischen Krise können sowohl die sozialpoli-

tischen wie die lohnpolitischen Verbesserungen zurückgenommen

wer-

den, wenn die Arbeiterklasse nicht kämpft. Infolgedessen gibt es natür-

lich Tendenzen, die Arbeiterklasse in schlechteren Zeiten wieder auf ihren früheren Lebensstandard zurückzudrängen, aber andererseits besteht

die Möglichkeit, durch Klassenkampf den Lebensstandard nicht nur zu erhalten, sondern auch zu verbessern.

Es ist Ja gerade Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaftsbewegung, so argumentierte Engels, den Arbeitern immer wieder klar zu machen: Was ihr erreicht und was ihr verbessert habt in dieser Gesellschaft, das habt ihr selbst erstritten, das ist euch nicht durch eine automatische Tendenz der kapitalistischen Geseilschaftsordnung zu-

gefallen, sondern durch euren eigenen Kampf herbeigeführt worden; und was ihr habt, das ist nicht für immer garantiert, sondern kann ständig gefährdet werden aus den Gesetzmäßigkeiten dieser Gesellschaftsordnung heraus, wenn ihr nicht kämpft und euer Gewicht als Klasse nicht einbringt. Wenn ihr kämpft, könnt ihr solche Positionen erhalten und sie auch verbessern - trotz des ständigen und unaufhebbaren Rhythmus zwi-

schen Krise und Konjunktur im Kapitalismus. Solche widersprüchlichen Tendenzen wird es in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung immer geben, solange sie als solche besteht; ihr könnt ihnen nicht ausweichen,

ihr müßt euch in ihnen kämpfend bewegen. Vor allem um diese Frage und um einige weitere zweifelhafte Formulierungen im ersten Programmentwurf gab es zwischen Engels und dem

Parteivorstand eine scharfe briefliche Auseinandersetzung, die das Ergebnis hatte, daß die Formulierung über die absolute Verelendungstheorie

modifiziert wurde zugunsten der Aussage, daß es in dieser Gesellschaftsordnung immer Tendenzen in Richtung des Zurückwerfens der Arbeiterklasse geben wird - aber eben nur Tendenzen —- und daß die Unsicherheit ihrer Existenzbedingungen wächst. Das ist sowohl eine Folge der Konzentration des Kapitals und damit der Reduktion der Mittelschichten (sowohl in der industriellen Produktion wie im Verteilungsapparat und in der agrarischen Produktion) als auch des ständigen Schwankens zwischen Krisen- und Konjunkturperioden, die es im Kapitalismus immer geben wird, mag er noch so »organisiert« sein. Somit wird immer wieder die Reproduktion einer industriellen Reservearmee von Arbeitslosen bewirkt, die natürlich auch zur Bedrohung des Lebensstandards der gesamten Arbeiterklasse wird, wenn diese nicht lernt, zu kämpfen und die Integration der Arbeitslosen iın den Wirtschaftsprozeß durchzusetzen. Ziel dieses Kampfes - so heißt es dann im Erfurter Programm - muß letztlich die Eroberung der politischen Macht und deren Verwendung zur Trans-

Das Erfurter Programm (1891)

129

formation der kapitalistischen in eine sozialistische Gesellschafts- und Eigentumsordnung gramms,

der

sein. Soweit

dann

in

der

der theoretische

Formulierung

Teil des Erfurter Pro-

Kautskys,

der

einen

zweiten

Entwurf geschrieben hatte, auf dem Parteitag einstimmig angenommen

worden ist.

Im praktischen Teil des Programms stand die Partei wiederum vor Schwierigkeiten. Sie mußte Übergangsforderungen praktisch-politischer Art formulieren, die gleichzeitig die Legalität der Partei nicht gefährden durften.

Das

bedeutete,

daß

wiederum

- wie

einst im

gramm, wie vorher schon im Eisenacher Programm

Gothaer

Pro-

- eine Formel nicht

im Programm stehen durfte, an die jeder der Parteiführer und der aktiven

Parteifunktionäre glaubte, daß nämlich das Ziel der politischen Arbeit der Sozialdemokratischen Partei die Errichtung der demokratischen Republik und die Vernichtung der Monarchie sein müsse. Über dieses Ziel wa-

ren sich damals noch alle einig, aber sie konnten es so nicht in das Pro-

gramm schreiben. Denn hätte man es so in die praktisch-politischen Übergangslosungen hineingenommen, so wäre die gerade erreichte Lega-

lität der Partei sofort wieder verloren gegangen. Diese Zurückhaltung ärgerte die »Jungen«, aber es war richtig, daß die Partei ihnen hier keine Konzessionen gemacht hat; das wäre politischer Selbstmord gewesen.

Trotz des großen Wahlerfolges von 1890 mit über 1,4 Millionen Stimmen

für die Sozialdemokratie und ihrer Rolle als der Stimmenzahl nach (nicht

der Mandatszahl nach) stärkster politischer Partei im Deutschen Reich

war in der Praxis

noch keineswegs

an einen revolutionären

Sturz der

Monarchie zu denken. Ein solches Ziel als Tagesaufgabe kann man nur formulieren,

wenn

man

es auch

praktisch

erreichen

kann.

Formuliert

man es vorher in dieser Weise, erzielt man nur Rückschläge. Also mußte die Sozialdemokratie dieses Ziel so ausdrücken, daß es nicht unmittelbar für den Staatsanwalt greifbar war. Sie umschrieb es, indem sie erstens ein

demokratisches Wahlrecht für alle, also auch — das ist ein ganz entscheidender Fortschritt im Erfurter Programm - für die Frauen forderte. Das war eine Kampfparole, die allen bürgerlichen Parteien, auch den Liberalen und der katholischen Zentrumspartei, entgegengestellt wurde. Zwei-

tens forderte sie die Ausweitung der Rechte des Parlaments bis hin zum parlamentarischen Regierungssystem und zur vollen Ausdehnung des Gesetzgebungsrechts in allen Bereichen. Diese Forderungen beinhalteten nichts anderes als das Ziel der demokratischen Republik, denn jedermann wußte, daß diese Forderungen in der Monarchie nicht zu verwirklichen

waren. Zu ihrer Erreichung mußte die Monarchie beseitigt werden. Der weitere Geschichtsverlauf hat dies bestätigt. Es ist kein Zufall — ich will es an der Frage des Frauenwahlrechts verdeutlichen —, daß selbst

130

Das Erfurter Programm (1891)

am Ende des Ersten Weltkrieges, als die bereits völlig geschlagene monar. chische Staatsgewalt und die Oberste Heeresleitung Konzessionen in

Richtung mokratie recht im dert, das

einer Parlamentarisierung machen und die Mehrheitssozialde. in ihr Regierungssystem einbeziehen will, als man das Wahl. August 1918 in Richtung auf bessere Mandatsverteilung verän. Frauenwahlrecht gleichwohl nicht gewährt worden ist. Als die

Unabhängigen Sozialdemokraten im August

1918 das Frauenwahlrecht

beantragen, stimmen noch alle bürgerlichen Parteien ausnahmslos dage.

gen, und das Frauenwahlrecht wird abgelehnt. Erst die Novemberrevolu.

tion 1918 hat diese Demokratisierung des Wahlrechts gebracht. Es war

schon damals, 1891, klar, daß nur eine Revolution das Frauenwahlrecht erreichen konnte. Der praktische Teil des Erfurter Programms war keineswegs als Gegensatz zum theoretischen gedacht, sondern als ein Teil, der in politischen Übergangsforderungen das formuliert, was aus dem theoretischen Teil folgt. Das läßt sich an den einzelnen Forderungen nachvollziehen, Bleiben wir bei der Frauenfrage. Zunächst wurde die Forderung des Frauenwahlrechts, des aktiven wie des passiven, erhoben (wohlgemerkt 1891, in einer Zeit, in der auch die bürgerliche Frauenbewegung bis auf

eine ganz kleine Gruppe diese Forderung noch nicht erhoben oder wieder aufgegeben hatte). Aber die Partei blieb nicht bei dieser Forderung stehen. In Konsequenz von Bebels Buch über die Frau fordert sie, daß

keineswegs nur in öffentlich-rechtlichen Fragen — also beim Wahlrecht — die Frau gleichgestellt werden müsse, sondern daß ihr auch in allen pri-

vatrechtlichen Beziehungen, auch in arbeitsrechtlichen Beziehungen (das Arbeitsrecht gehört damals noch eindeutig zum Privatrecht) die gleichen

Rechtspositionen

und die gleichen faktischen

werden müssen wie den Männern.

Positionen

eingeräumt

Derartigen Überlegungen in bezug auf praktische Gesetzgebungsprobleme folgt dann eine ganze Reihe weiterer — auch hinsichtlich der sozialpolitischen Probleme. Während des Sozialistengesetzes hatte ja die Re-

gierung die ersten Schritte zu einer sozialpolitischen Gesetzgebung, vor allem in Form der Sozialversicherungsgesetzgebung, eingeleitet. Die Sozialdemokratie hatte im Reichstag jeweils Gegenentwürfe eingebracht, die bessere Rechtspositionen für die Arbeiter enthielten und bezüglich der Beiträge eine größere Belastung der Arbeitgeber vorsahen. Im Programm werden nun ähnliche Formulierungen festgelegt. Die Sozialdemokratie war keineswegs der Meinung, man dürfe von diesem bürgerlichen Staat

keine sozialpolitischen Rechte verlangen. Im Gegenteil, die Partei war sich durchaus darüber klar - und das keineswegs im Gegensatz zum theo-

retischen Teil des Programms, sondern in Übereinstimmung mit ihm —,

Das Erfurter Programm (1891)

131

daß auch in sozialpolitischen Fragen (vor allen Dingen bei der Sozialversicherung, aber auch in Fragen des Arbeitsschutzes, des Sonderschutzes

für einzelne Arbeitergruppen z.B. für Jungarbeiter, des absoluten Verbots der Kinderarbeit, vor allem auch der Gleichstellung der Landarbeiter mit den industriellen Arbeitern) sehr konkrete Forderungen im Programm aufgestellt werden mußten. Anhand solcher Forderungen ließen sich die Arbeitermassen mobilisieren.

So ist das Erfurter Programm eine durchdachte Kombination von beidem gewesen: von theoretischer Analyse der Position und der geschicht-

lichen Aufgaben der Arbeiterbewegung auf der einen Seite und von unmittelbaren Kampflosungen politischer und sozialer Art, einschließlich der unbedingten Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung, auf der an-

deren Seite. In dieser Form ist das Erfurter Programm während mehr als zwei Jahrzehnten das wichtigste kratischen Partei geworden.

Schulungsinstrument

der Sozialdemo-

Das Programm wurde auf dem Parteitag einstimmig angenommen, und auch diejenigen stimmten zu, die - wie etwa Georg von Vollmar langsam begonnen hatten, in reformistischer Richtung auszubrechen. Einen geschlossenen Flügel anpasserischer Art gibt es auf diesem Erfurter Parteitag noch keineswegs. Noch ist die Autorität des Führungsgremiums

(August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Paul Singer) völlig unangefochten,

und

gleichzeitig

läuft

der

Vormarsch

der

Partei

von

Wahlkampf

zu

Wahlkampf weiter. Das bedeutete allerdings auch in diesen 90er Jahren

nicht, daß es in der Partei - ebenso wie in den Gewerkschaften - keine

Auseinandersetzungen in praktischen Fragen gegeben hätte. Es gab sie ständig, und die Diskussionsbreite und Diskussionsoffenheit in der Partei

waren sehr groß. Sie waren größer als in allen bürgerlichen Parteien dieser Zeit und größer - auch hinsichtlich der Schärfe der Diskussion —, als man sie sich heute in irgendeiner politischen Partei vorstellen könnte.

132

13. Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

Nach der Rückkehr zur Legalität baut die Partei einen breiten, legalen

Presseapparat auf. Es gibt schon Mitte der 90er Jahre und erst recht Ende der 90er Jahre kaum eine deutsche Großstadt ohne sozialdemokratische Tageszeitung, die neben der bürgerlichen Presse steht und die ständig das

Denken der Sozialdemokratischen Partei in die arbeitende Bevölkerung

hineinträgt. In allen diesen Tageszeitungen wird auch ausführlich über die inneren Diskussionen der sozialdemokratischen Organisationen be-

richtet. Es wird in ihnen durch den Abdruck von Artikeln des einen ge-

gen den anderen Genossen zu dieser oder jener Frage diskutiert. Soll man

sich beispielsweise an den Sozialversicherungswahlen beteiligen oder nicht? Das ist eine am Anfang auch in der Gewerkschaftsbewegung sehr

umstrittene Frage, in der am Ende der realistische Standpunkt siegt, daß man es tatsächlich muß. Nur die »Jungen« in der SPD und die »Lokali-

sten« in der Gewerkschaftsbewegung sind dagegen. Obwohl die Generalkommission

der

Gewerkschaften

die

»Lokalisten«

nicht

einbezieht,

schließt die Sozialdemokratische Partei sie zunächst noch keineswegs aus.

Es dauert noch über ein Jahrzehnt, bis das geschieht, als siıch nämlich die-

se »Lokalisten« (damals sind sie, von wenigen Orten abgesehen, schon zur kleinen Sekte abgesunken) eindeutig für den Standpunkt der Anarcho-Syndikalisten entschieden

haben. Da war es natürlich

nicht mehr

möglich, daß man sie in der Sozialdemokratischen Partei beließ. In diesem Anfangsjahrzehnt läßt man sie in der Partei und zwar ganz bewußt, obwohl die Parteileitung auf seiten der Generalkommission steht und gegen die »Lokalisten« optiert, weil die Parteiführung der Auffassung ist, daß die Meinungsbreite und die Diskussionsmöglichkeit in der Partei un-

ter allen Umständen

erhalten werden müßten, denn diese Partei könne

nur durch ein ständiges diskutantes inneres Parteileben politisch lernen und ihren Einfluß ausweiten. Tatsächlich hat dieser Kurs die Partei auch von Erfolg zu Erfolg in den Wahlen geführt. Eine der heftigst umstrittenen Fragen blieb dabei das Problem, ob man sich in den Gebieten, in denen kein gleiches (Männer-) Wahlrecht herrschte - und das war bei den Landtagen fast aller Mitgliedsstaaten des Deutschen Reiches der Fall, übrigens auch im kommu-

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

133

nalen Wahlrecht -, an den Parlamentswahlen beteiligen solle. Das war

eine schwierige Frage nicht nur deshalb, weil die Partei grundsätzlich das

Klassenwahlrecht (erwa das preußische Dreiklassenwahlrecht) ablehnte, das ja die Vorherrschaft des Großgrundbesitzes und der Großbourgeoisie im Parlament gesetzlich abgesichert hatte. Es war auch deshalb ein schwieriges Problem, weil eine Wahlbeteiligung erhebliche Sanktionen für die Wähler der Partei nach sich ziehen konnte; denn die Wahlen z.B.

zum preußischen Landtag wie die Wahlen zu den Kommunalvertretungen in den größten Teilen Preußens waren öffentliche, nicht geheime Wahlen. Der Wähler mußte also zum Wahlvorstand gehen und öffentlich sagen, für wen er abstimmt. Da konnten sich natürlich viele Anhänger der Sozialdemokratischen Partei gar nicht leisten, für sie zu stimmen,

weil sie dann die Arbeit verloren. In dieser Zeit spielt das Problem der Berufsverbote eine große Rolle.

Die Praxis der Berufsverbote ist tatsächlich bis zum Ende des Wilhelminischen Reiches im öffentlichen Dienst der meisten deutschen Staaten

niemals abgeklungen. Es gab nur einen einzigen Gliedstaat des Deutschen

Reiches, nämlich die Freie Hansestadt Bremen, in dem Sozialdemokraten Beamte werden konnten. In allen anderen Teilen Deutschlands konnte

man, obwohl das Sozialistengesetz längst aufgehoben war, noch nicht einmal Eisenbahner oder Postbeamter werden, geschweige denn Lehrer, wenn man sich offen zur Sozialdemokratischen Partei bekannte. An den Universitäten sah es nicht besser aus. Es gab zwar noch Reste bürgerlichliberalen Wissenschaftsbewußtseins, das auch demokratischen Elementen den Weg zum Hochschullehreramt freilassen wollte, wenn auch nicht

durch die Berufung zum Professor - der war ja Beamter -, aber wenigstens durch die Habilitation zum Privatdozenten, der nicht verbeamtet

war. Aber Privatdozent konnte man nur sein, wenn man »privat« leben

konnte, also Vermögen hatte, denn man bekam für diese Tätigkeit kein

Geld. Damit war diese Möglichkeit ohnehin schon für die meisten, die nach links neigten, erledigt. Hinzu kam, daß entschiedene Demokraten

von den meisten Fakultäten nicht habilitiert, also nicht als Privatdozent zugelassen wurden, mochten sie wissenschaftlich noch so viel leisten. Je-

dermann wußte zum Beispiel, daß die wissenschaftlichen Leistungen eines Karl Marx oder Friedrich Engels weit über denen der ganzen bürgerlichen Ökonomie und Soziologie ihrer Zeit lagen. Das wußten auch die bürgerlichen Professoren, die es indirekt dadurch zugaben, daß sie am

laufenden Band Widerlegungsschriften gegen den Marxismus produzierten, die heute längst samt und sonders Makulatur geworden sind. In diesen Schriften versuchten sie beispielsweise nachzuweisen, daß es überhaupt keinen ständigen Prozeß der Industrialisierung und Rationalisie-

134

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

rung, keinen Prozeß zum Großunternehmen hin gebe und dergleichen

Dinge mehr. Jeder honorable bürgerliche Nationalökonom mußte irgend

ein Lehrbuch dieser Art produziert haben, und im Grunde erkannte er dadurch schon an, daß in Wirklichkeit diejenigen, die das sozialwissen. schaftliche Denken ihrer Zeit beherrschten, Marx und Engels und nicht

die bürgerlichen Wissenschaftler waren. Man wußte auch, daß von den Jungen Marxisten, wie sie jetzt in der Sozialdemokratie aufstiegen, viele mehr leisteten als die bürgerlichen Professoren. Man denke nur an einen Karl Kautsky und beispielsweise seine großen historischen Untersuchungen,' die weit über dem Niveau der damaligen bürgerlichen Geschichtswissenschaft liegen; an einen Franz Mehring,

der als Historiker noch

er-

heblich über Kautskys Niveau stand;* an eine Rosa Luxemburg, deren nationalökonomische, aber auch gesellschaftshistorische Publikationsarbeit in dieser Zeit einsetzte.” Es gab kein großes bürgerliches wissenschaftliches Institut, in dem nicht unter der Hand die »Neue Zeit«, das theoretische Organ der Sozialdemokratischen Partei, eine marxistische Zeitschrift, gelesen und heimlich als eine Zeitschrift von höchstem Niveau

anerkannt worden

wäre. Und

so sehr die Bürgerlichen

auch Bebels

»Frau« als bloße Agitationsschrift schmähten, so wußten sie doch, daß es

zur Frauenfrage eben kein besseres Buch mit Verwertung so großen em-

pirischen Materials gab - und das hatte ein früherer Arbeiter geschrieben!

Jedermann wußte, daß eine Clara Zetkin, die jetzt die sozialdemokrati-

sche Frauenzeitschrift »Die Gleichheit« redigierte, zur Frauenfrage mehr

zu sagen hatte als die ganze bürgerliche Wissenschaft. Aber einen Sozialdemokraten auch nur zu habilitieren, wer wollte das schon wagen? Ende der 90er Jahre entschloß sich die Berliner Universität zwar, einen sozialdemokratischen Physiker, Dr. Leo Arons, zu habilitieren, weil seine Lei-

stungen überragend waren. Prompt machte nun 1898 das Land Preußen ein Sondergesetz — als »Lex Arons« bekannt —, das auch die Habilitation 1

Vegl. Karl Kautsky: Karl Marx’ ökonomische Lehren. Gemeinverständlich dargestellt und erläutert, Stuttgart 1887; ders.: Thomas

More und seine Utopie. Mit einer historischen

Einleitung, Stuttgart 1888; ders.: Das Erfurter Programm. In seinen Grundsätzen erläutert, Stuttgart 1892 (Neudruck Hannover 1964); ders.: Bernstein und das sozialdemokratiscbe Programm.

2 3

Eine Antikritik, Stuttgart

1899 (Neudruck

Berlin/Bonn-Bad

Godes-

berg 1976); ders.: Die soziale Revolution, Berlin 1902; ders.: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 1909 (Neudruck der 2. Aufl. von 1910, hg. und eingel. von Georg Fülberth, Frankfurt a.M. 1972). Eine Auswahlbibliographie des umfangreichen Werkes Kautskys findet sich bei: Reinhold Hünlich: Karl Kautsky und der Marxismus der IL Internationale, Marburg (Lahn) 1981, S. 296 ff. Vel. Franz Mehring: Gesammelte Schriften, hg. von Thomas Höhle/Hans Koch/Josef

Schleifstein, 15 Bde., Berlin 1960 ff. Vgl. Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, 5 Bde., Berlin 1974 ff.

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

135

von Sozialdemokraten, also nicht nur ihre Einstellung als Beamte, generell verbot und diese Habilitation in Berlin widerrief. Arons mußte im Januar 1900 die Berliner Universität verlassen. Die Berufsverbote sind also keine neue Erfindung der Bundesrepublik Deutschland. Es hat sie immer gegeben, solange es einen bürgerlichen Staat gibt, und sie müssen

immer wieder bekämpft werden, bis man sie beseitigt.

Wegen dieser Praktiken war es also äußerst riskant, bei öffentlicher Wahl seine Stimme für die Sozialdemokratische Partei abzugeben. Es hat langer Parteitagsauseinandersetzungen ın der Sozialdemokratischen Partei bedurft, bis man sich entschloß, doch an Kommunalwahlen mit solchem Wahlrecht und dann auch an den preußischen Landtagswahlen teilzunehmen, um auch in diesen Parlamenten Fuß fassen zu können. Die

Diskussionen über diese Fragen waren noch keine Fraktionskämpfe, etwa von Marxisten gegen Reformisten, sondern es waren praktische Auseinandersetzungen um die jeweils konkret bessere Lösung.

Nicht anders war es in der Gewerkschaftsbewegung. Die »Lokalisten« waren längst bedeutungslos geworden. Als kleine Restgruppe haben sie weiterexistiert und schwollen nur einmal nach der Revolution von 1918 in der syndikalistischen Unionsbewegung wieder an, um dann ebenso rasch noch Mitte der 20er Jahre wieder ins Nichts zurückzusinken. Über

sie brauchte also in der Gewerkschaftsbewegung nicht mehr debattiert zu

werden. Aber es wurden sehr viele praktische Fragen hart erörtert. Beispielsweise das lange umstrittene Problem, ob man mit den Unternehmern bzw. den Arbeitgeberverbänden, die sich nun allenthalben bildeten, um die Gewerkschaften zu bekämpfen, Tarifverträge abschließen sollte

oder nicht. Auch das war keine Auseinandersetzung zwischen Marxisten

und Reformisten, sondern ein Problem des praktischen Kampfes. Am Ende hat dann - nicht in allen Verbänden, aber in den meisten - die

praktisch richtige Folgerung gesiegt, daß dort, wo die Gewerkschaften stark genug sind, Tarifverträge durchzusetzen, diese auch abgeschlossen werden sollen, um die Rechte der Arbeiter zu sichern. Das hatte damals

allerdings noch nicht die gleiche Bedeutung wie heute. Tarifverträge waren noch nicht im Arbeitsgerichtsverfahren durchsetzbare Rechtsansprüche, sondern begründeten nur privatrechtliche Ansprüche zwischen Ge-

werkschaften und Unternehmerverbänden, nicht mehr. Aber die Unter-

nehmerverbände pflegten sich meist doch an einen erstrittenen Tarıfvertrag zu halten, weil sie Angst vor der Streikdrohung der Gewerkschaften hatten. Da die freien Gewerkschaften rasch sehr viel stärker wurden und immer weiter anwuchsen (vor dem Ersten Weltkrieg war die Zweimillionen-Grenze überschritten), hatten sie längst die christlichen Gewerkschaften mitgliedermäßig wie einflußmäßig - von einigen katholischen

136

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

Gebieten in Deutschland abgesehen - bei weitem überflügelt und die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine fast zur Bedeutungslosigkeit absinken lassen. Daher mußten sich auch bei Tarifvertragsabschlüssen die christlichen und die Hirsch-Dunckerschen Verbände den freien Gewerkschaften jeweils anpassen. Aber weil sich jetzt - mit Rückschlägen in jeder Krisenperiode, in der die Zahl der Arbeitslosen wuchs und damit die Macht der Gewerk-

schaftsbewegung sank - doch ein einigermaßen gefestigter Lebensstan-

dard der Arbeiter (wenn auch auf einem im Vergleich zu heute sehr niedrigen Niveau) erhalten und langsam verbessern ließ und weil infolgedes-

sen Macht und Kasse der Gewerkschaften ständig wuchsen, entwickelte sich in den Gewerkschaften parallel dazu auch eine andere Tendenz: den

Legalitätstrieb bis ins Extrem zu übertreiben. Das Legalitätsstreben war ım Prinzip richtig, denn man konnte die gewerkschaftlichen Kassen und damit die Streikunterstützung für den Fall des Arbeitskampfes (und Sozialunterstützungen anderer Art) nur halten, wenn man vorsichtig prozedierte und keine Chancen bot, die Gewerkschaften erneut in die Illega-

lität zu drücken oder Schadensersatz-Ansprüchen auszusetzen. Auch die Zusatzversicherungen zum Öffentlich-rechtlichen Versicherungswesen, die die Gewerkschaften damals boten, konnte man nur erhalten, wenn

man so verfuhr; anderenfalls wären die Kassen dem Zugriff der öffentli-

chen Gewalt zum Opfer gefallen. Diese Zusatzversicherungen hatten z. B.

bei Arbeitslosigkeit eine sehr große Bedeutung, denn es gab keine öffentlich-rechtliche Arbeitslosenversicherung — sie ist erst spät während der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik entstanden. Daher hatten die Gewerkschaften eine ergänzende sozialpolitische Funktion, und darin lag eine ihrer Stärken. Aber das bedeutete auch, daß die Gewerkschaften

noch eher als die politische Partei einen großen, gewerkschaftsinternen Verwaltungsapparat schaffen mußten. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig (und daher ist das kein Vorwurf), als eine »Gewerkschaftsbürokratie«

zu errichten, wie es die »Lokalisten« nicht ganz zu Unrecht nannten und wie es später eine große soziologische Arbeit eines ursprünglich sozial-

demokratischen »ultralinken«, aber am Ende faschistisch gewordenen In-

tellektuellen, Robert Michels, beschrieben hat.‘ Eine Gewerkschaftsbü-

rokratie mußte entstehen, denn sie konnten nicht ohne eine hauptberufliche Verwaltung dieser Gewerkschaftsvermögen und auch vieler anderer gewerkschaftlicher Tätigkeiten, z.B. der arbeitsrechtlichen Beratung der Mitglieder, leben. Aber das alles hieß, daß eine Schicht von hauptamtli4

Vgl. Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Neudruck der 2. Aufl., hg. von Werner Conze, Stuttgart 1957 (Erstauflage 1911).

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

137

chen Funktionären in den Gewerkschaften neben den Mitgliedern tätig wurde, die sich für die legale Existenz der Organisation verantwortlich fühlte und daher immer mehr zu Hypervorsicht neigte. Zur Übervorsicht neigte sie auch im Verhalten zu und in der Sozialdemokratischen Partei, der diese Gewerkschaftsbürokraten angehörten. So begann sich ihr Denken zum Teil langsam der realen Machtlage anzupassen, statt in

Erinnerung zu behalten, daß dieser ganze Apparat der Arbeiterbewegung, die nun auch infolge ihrer organisatorischen Stärke immer mehr anschwoll, gerade der Veränderung der Realität dienen sollte. Das behiel-

ten sie zwar als theoretisches Endziel halbwegs im Kopf,-aber da sie sich

in der Praxis ihrer Arbeit immer in den bestehenden Verhältnissen bewegen mußten, begannen sie, diese Realität in ihr Denken aufzunehmen und am Ende nicht mehr über diese Tagesrealität hinauszusehen. Schließlich neigten sie genau wie etwa die bürgerliche Nationalökonomie zu der Annahme, daß eine Konjunktur- und Extensionsperiode der kapitalisti-

schen Produktion, in der sie jeweils tätig waren, endlich die Zeit einleite, in der es keine Krisen mehr geben werde. Wie die meisten bürgerlichen Nationalökonomen begann jetzt ein Teil der gewerkschaftlichen Berufsfunktionäre - auch wenn sie im übrigen noch so sozial handelten —, in dieser Weise zu denken und die marxistische Theorie, die in das Erfurter Programm eingeschrieben war, für antiquiert zu halten, wenn nur gerade

für mehrere Jahre eine Konjunkturperiode existierte. Bewußtseinsmäßig nicht viel anders stand es auch teilweise bei den

frisch organisierten und auf Erfolge zurückblickenden Teilen der Arbeiterschaft selbst, wenn sie nicht genügend ın den politischen Erziehungsprozeß der Partei einbezogen worden waren. Daher mußten sich in der

Partei wie in der Gewerkschaftsbewegung jetzt doch dauernde Rich-

tungsgegensätze entwickeln, wie sie in dieser Schärfe auf dem Erfurter

Kongreß noch nicht bestanden hatten. Dieser Prozeß wurde dadurch gefördert, daß die Partei und die Gewerkschaften immer wieder - und das

war ihre Aufgabe - neue Arbeitergruppen organisierten, die noch keineswegs auf der Höhe des Klassenbewußtseins und des theoretischen Denkens standen, wie sie jene Parteikader erreicht hatten, die einst aus

der Illegalität des Sozialistengesetzes aufgestiegen waren. Im Grunde war

dieser Prozeß also ein unvermeidlicher Vorgang, sowohl in der Sozial-

demokratischen Partei selbst wie in der Gewerkschaftsbewegung. Es war wohl auch unvermeidlich, daß dieser Prozeß in der Gewerkschaftsbewe-

gung, mindestens unter ihren hauptberuflichen Funktionären, schnelleren und größeren Rückhalt fand als in der Parteiorganisation. Das zeigt sich dramatisch, als 1905 sich das wiederholt, was wir 1889

bereits gesehen haben: ein spontan ausgebrochener Massenstreik der Berg-

138

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

arbeiter. Die Bergarbeiter, bedrängt durch den Übergang von einer Konjunktur zur Krise, kämpften um bessere Arbeitsbedingungen. Die Arbeitermassen kämpften spontan, gleichgültig, ob es sich um polnische oder deutsche, um »christlich« organisierte katholische oder um »freigewerkschaftlich« organisierte sozialdemokratische

Arbeiter handelte.

Damals

ist immer noch ein großer Prozentsatz der Bergarbeiter des Ruhrgebiets polnischer Sprache und in polnischen Vereinen organisiert. Die Spitze des freigewerkschaftlichen Bergarbeiterverbandes steht anfänglich passiv neben dem Streik und fürchtet, daß dieser Kampf nicht zum Erfolg führen kann. Sie nimmt deshalb gegen den Streik Stellung. So wird der eige-

ne Verband, den die Arbeiter geschaffen haben, um für ihre Interessen zu

kämpfen, jetzt zum Hemmnis. Die Sozialdemokratische Partei hat sich bei diesem Streik besser verhalten, denn sie ist damals von solchen Angst-

und Anpassungstendenzen noch nicht in dem Maße erfaßt wie manche Spitze in den Gewerkschaftsverbänden.

Die Sozialdemokratische Partei

und ihre Presse nehmen eindeutig für den Streik Stellung. Der Streik,'der nur zu geringen Teilerfolgen führte, wurde von der Gewerkschaftsführung nach vierwöchigem Kampf abgebrochen. Dieser Konflikt war ein typischer Vorgang, der - wenn leicht zu begreifen ist.

man

ihn sozialhistorisch

analysiert —

In der Partei selbst war in einer theoretischen Diskussion dieser glei-

che Gegensatz schon vorher voll ausgebrochen. In ihr hatte sich ein Flügel unter theoretischer Anleitung Eduard Bernsteins gebildet, der sein

Marx-Engelssches Denken eingebüßt hatte und nach Engels Tod unter den Einfluß der Fabian Society in England geriet. Bernstein meinte, daß

das Erfurter Programm in vielem antiquiert sei, z. B. hinsichtlich der Krisenprognosen. Wir sind in eine Periode der Entwicklung des Kapitalis-

mus eingetreten — erklärte Bernstein in seinen 1896/97 veröffentlichten

Artikeln, und er fand damit Rückhalt bei einem Teil der mittleren Funktionärsschichten der Partei -, in der Krisen immer unwahrscheinlicher

werden und kaum noch ausbrechen werden (tatsächlich herrschte nach dem Ende der Großen Depression 1896 eine längere Aufschwungsperiode), in der deshalb ein kontinuierlicher, langsamer Entwicklungsprozeß

zum Sozialismus einsetzt, in der es der Eroberung der politischen Macht

zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in revolutionärer Form gar nicht mehr bedarf. Wir brauchen daher ständige Reformen, aber nicht mehr die revolutionäre Transformation der einen Ge-

sellschaftsordnung in die andere, Wir sind in eine Periode eingetreten, in der sich die künftige weitere Entwicklung der kapitalistischen Produkti-

onsweise ohne Katastrophen und im langsamen Aufwärtsgang vollziehen

wird, der die Demokratisierung der politischen Verhältnisse und die ste-

Die deutsche Arbeiterbewegung 1891-1900 und die Entstehung des Revisionismus

139

tige Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklas-

se ermöglicht. Daher ist die Bewegung auf Reformen hin alles; das Ziel,

die sozialistische Gesellschaftsweise, ist demgegenüber bedeutungslos geworden. Also muß das Erfurter Programm revidiert werden. - Das sind — in grober Zusammenfassung - die Grundgedanken Eduard Bernsteins, wie er sie zunächst in einer Artikelserie und dann 1899 in seinem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokra-

tie« vortrug und mit denen er seinen Versuch begründete, die Strategie

der Partei zu revidieren.

Das kam den Hoffnungen mancher Teile der Sozialdemokratie entge-

gen, die sich in der Legalität einzurichten hofften. Das kam auch dem Denken vieler Spitzenfunktionäre der Gewerkschaftsbürokratie entgegen, die natürlich eine bequemere Entwicklung lieber erwarteten als das,

was das Erfurter Programm als unvermeidlich in der Fortentwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vorausgesagt hatte, nämlich ei-

ne Zuspitzung der Klassengegensätze und der Krisen, für die die Arbeiterklasse vorbereitet und zum revolutionären Handeln erzogen werden müsse. So entwickelte sich in der Sozialdemokratischen Partei seit Ende

der 90er Jahre eine Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Revi-

sionisten um Eduard Bernstein - sie schufen sich bald in den »Sozialisti-

schen Monatsheften« (allerdings ohne die Beteiligung Eduard Bernsteins)

gegen die »Neue Zeit« eine eigene theoretische Zeitschrift - und den Revolutionären um August Bebel, Paul Singer und Wilhelm Liebknecht (die

beiden letztgenannten starben allerdings bald), in der bald ein Teil der

jüngeren Parteiintelligenz an die Seite des revolutionären Flügels trat den Revisionismus theoretisch widerlegte — man denke etwa an Rosa xemburg, Clara Zetkin und Franz Mehring, an August Thalheimer viele mehr. Die Prognosen der Revisionisten wurden durch die Realität selbst

und Luund

wi-

derlegt. Weder die vorhergesagte krisenfreie Entwicklung noch etwa die Stabilisierung des selbständigen Mittelstandes traten ein, sondern das Gegenteil. In allen Auseinandersetzungen in der Partei, auf allen Parteitagen

ab 1899 wurden die Revisionisten scharf zurückgewiesen und mit großer Mehrheit geschlagen. Trotzdem entwickelte sich der Reformismus immer mehr aus einem theoretischen zu einem praktischen Problem.

5

Vegl. Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Berlin 1991 (Erstauflage 1899).

140

14. Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg (1900-1914)

Wir hatten die Periode berrachtet, in der in Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung die Diskussion zwischen Revisionisten und Marxisten das Bild bestimmt, während die Partei insgesamt in ihrem Einfluß, vor allem bei Wahlen, kontinuierlich weiterwächst. Die Gewerkschaften wachsen ebenso kontinuierlich, auch in ihren Aktionsmöglichkeiten; bei

ihnen setzt sich die Tendenz durch, Tarifverträge anzustreben.

Aber sie war gleichzeitig die Periode, in der sich eine grundsätzliche

Veränderung keineswegs nur für die deutsche, sondern für die internationale Arbeiterbewegung dadurch ergibt, daß nun der Umschlag der Großmächte zu aggressiver imperialistischer Politik erfolgt, der zur ständigen Ausdehnung der Kolonialpolitik und zur Gruppierung von zwei gegeneinander gerichteten Großmachtbündnissen

in Europa überleitet.

Es wird immer deutlicher, daß diese neue Phase der kapitalistischen Entwicklung, der Imperialismus, in einem imperialistischen Weltkrieg enden wird und enden muß, zumal das Wettrüsten immer gröbere Züge annimmt. Das hat für die Arbeiterbewegung zunächst die Folge, daß sie zu dem Phänomen der Kolonialpolitik und der kolonialen Unterdrükkungsaktionen der kapitalistischen Mächte Stellung nehmen muß. Denn in dem gleichen Maße, in dem die imperialistischen Großmächte alle außereuropäischen Gebiete untereinander aufteilen und kolonial unterwerfen, gibt es in den verschiedenen Kolonialgebieten Widerstand der eingesessenen Bevölkerung, allerdings in Formen, die noch völlig anderer Art sind als die, die wir erwa nach dem Ersten Weltkrieg in den Kolonien be-

obachten können. Denn nach dem Ersten Welrtkrieg, in der Zeit zwischen den beiden großen imperialistischen Kriegen, orientieren sich in den schon stärker in die kapitalistische Weltproduktion eingeordneten Kolonialgebieten fortgeschrittene Gruppen dahin, moderne Gesellschaftsformen zu erstreben und sich von den Kolonialstaaten durch nationale Revolutionen zu befreien. In der Periode vor dem Ersten Weltkrieg sind derartige Bestrebungen in den meisten Kolonialgebieten noch schwach und meist auf nicht durchdachte, traditionalistische Bestrebun-

gen einzelner Stammesgruppen beschränkt. Die Kolonialbevölkerung wehrt sich, indem sie versucht, mit ungeplanten und gegenüber moder-

Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg (1900-1914)

141

nen Armeen natürlich aussichtslosen Selbstverteidigungsformen ihre verschiedenen vorindustriellen Gesellschafts- und Produktionsformen zu verteidigen. Das hatte in allen afrikanischen Kolonialreichen schon im

vorigen Jahrhundert begonnen, und alle imperialistischen Staaten hatten auf derartige Selbstverteidigungsaktionen der Kolonialbevölkerung mit barbarischen Massenvernichtungsaktionen geantwortet. Ich erinnere an Belgien, das im Kongo Millionen Menschen ermorden ließ, als klassisches Beispiel. Dagegen hatten sich natürlich schon aus humanitären Gründen alle Arbeiterparteien in den industriellen Ländern gewandt.

Nun beginnen solche Probleme, auch für das Deutsche Reich, das verschiedene Kolonialkriege in seinen Kolonien in Ostafrika, in Kamerun,

in Togo und dann am barbarischsten in Deutsch-Südwestafrika, dem heu-

tigen Namibia, geführt hat, an Bedeutung zu gewinnen. In allen diesen

Fällen ist die Führungsgruppe der Sozialdemokratie - weil sie für humanitäre Politik eintritt und als prinzipiell systemoppositionelle Partei agiert - im Reichstag als einzige Partei entschieden gegen die Kolonialpo-

litik aufgetreten. Während der langen südwestafrikanischen Kolonialkriege (1904-1907) gibt es große Reden von August Bebel im Deutschen

Reichstag, in denen er Material über die Morde, die von der kaiserlichen Armee organisiert wurden, veröffentlicht und diese Untaten anprangert.

Aber auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie wie auch in der Gewerkschaftsbewegung sammeln sich Kräfte, die in dieser Frage anders auftreten und Kompromisse mit der Kolonialpolitik schließen wollen. So verhält sich ein großer Teil der Revisionisten, auch Eduard Bernstein. Sie sind der Meinung, die Einbeziehung der überseeischen Räume in die kapitalistische Weltproduktion sei nun einmal nicht zu vermeiden, und da-

her könne man auch die Kolonialpolitik des eigenen Staates nicht grund-

sätzlich ablehnen und bekämpfen, sondern müsse nur versuchen, sie et-

was humaner zu gestalten. Mit der Wendung in diese Richtung hatte in England die Fabian Socie-

ty begonnen, die damals der theoretische Club des rechten Flügels der

Labour Party war. Ihr schlossen sich in Deutschland die Revisionisten und der Kreis um die »Sozialistischen Monatshefte« an. Das führte zum Teil zu grotesken opportunistischen Verirrungen - etwa in entsprechenden Reden von Gustav Noske im Deutschen Reichstag. Es war jetzt nicht mehr möglich, diese Anhänger der Kolonialpolitik in den eigenen Reihen aus der Partei auszuschließen, obwohl auf den Parteitagen immer wieder

der revisionistische Flügel mit großer Mehrheit geschlagen wurde, am härtesten auf dem Dresdener Parteitag 1903. Dies Problem der Auseinandersetzung mit der Kolonialpolitik und dem Expansionsstreben der jeweils eigenen imperialistischen Großmacht

142

Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg (1900-1914)

war eng verknüpft mit dem Problem der Rüstungspolitik. Die Rüstungs-

politik war in Deutschland seit Ende der 90er Jahre besonders durch die Aufrüstung der Flotte geprägt; denn in dem Maße, in dem das Deutsche Reich als Großmachrt auftrat, wollte es auch mit der die Weltmeere be-

herrschenden englischen Flotte gleichen Rang gewinnen. Darüber gab es in Partei und Gewerkschaften lange Diskussionen, denn Flottenrüstung schien ja auf der anderen Seite auch Arbeitsplatzsicherung für Teile der

arbeitenden Klasse zu bedeuten. Kleine Gruppierungen innerhalb des

rechten, revisionistischen Flügels der Partei wollten die Flottenrüstungspolitik mindestens halb unterstützen. Die Führer dieser extrem rechten

Gruppierung, Max Maurenbrecher und Gerhard Hildebrand, wurden

1912/13 allerdings aus der Partei gedrängt. Die Führungsgruppe des sogenannten marxistischen Zentrums der Partei um Bebel und Kautsky sah

zwar, daß die gegenseitige Aufrüstung der großen Mächte unvermeidlich

zum Weltkrieg führen werde - wenn auch nicht so deutlich, wie das der linke Flügel der Partei sah, der sich um Rosa Luxemburg, Clara Zetkin,

Franz Mehring und den jungen Abgeordneten Karl Liebknecht (den Sohn von Wilhelm Liebknecht) zu sammeln begann -, aber noch hoffte die Führungsgruppe der Partei um August Bebel, durch ihren Druck den Ausbruch eines Weltkrieges verhindern zu können. Jeder Kongreß der 1889 in Paris gegründeten II Internationale befaßte sich seit der Jahrhundertwende mit diesem Kriegsproblem und versuchte,

kollektive Aktionen der sozialistischen Parteien in allen europäischen Staaten gegen die Kriegsgefahr zu organisieren. Der erste Krieg zwischen

den großen imperialistischen Mächten war der Russisch-Japanische Krieg von 1904/05, der in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung um die Einflußsphären beider Großmächte im nördlichen Teil Chinas war, das ko-

lonialisiert werden sollte und einige Jahre zuvor durch eine Kollektivaktion aller großen Mächte niedergeworfen worden war. Dieser Krieg, in dem Japan siegte und den russischen Imperialismus in die Knie zwang, wurde zum Auslöser der ersten russischen Revolution von 1905. In dieser

Revolution hatte sich - ebenso wie später in der Revolution von 1917 — erwiesen, daß die führende Klasse im Revolutionsprozeß die zahlenmäßig

noch sehr kleine Klasse der Industriearbeiter in den wenigen industriali-

sierten Zentren Rußlands war. Die Bauernschaft, die bei weitem größte Klasse des Landes, war nur zaghaft hinter der Arbeiterklasse hermar-

schiert. Es war zu großen, auch militärischen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterklasse und Zarenmacht gekommen, die nun andererseits beginnen mußte, innenpolitische Konzessionen an die russische Bourgeoisie zu machen. So kommt es zur ersten russischen Verfassung. Diese Kämpfe

der russischen Revolution

haben die Auseinanderset-

Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg (1900-1914)

143

zungen auch in den anderen sozialdemokratischen Parteien beschleunigt, denn sie machten

klar, daß ohne spontane,

große Massenaktionen

der

Arbeiterklasse Demokratisierungsfortschritte nicht zu erzielen waren. So entwickelt sich eine große Debatte über den Massenstreik auch in der deutschen Sozialdemokratie. Sie trifft mit dem schon erwähnten spontanen Massenstreik der deutschen Bergarbeiter von 1905 zusammen, bei dem sich erwies, daß die Gewerkschaftsbürokratie die Massen nicht führte,

sondern den Massenstreik für verfehlt (weil für zu gefährlich) hielt. Diese Ablehnung des Massenstreiks kam auf dem Kölner Gewerkschaftskon-

greß von 1905 zum Ausdruck, während auf dem Jenaer Parteitag der Sozialdemokratie von 1905 noch eine Resolution verabschiedet wurde, ın welcher der Massenstreik zumindest als Abwehrmittel gegen Wahlrechtsverschlechterungen und gegen Angriffe auf das Koalitionsrecht ge-

billigrt wurde. Allerdings setzte sich die Gewerkschaftsführung gegenüber der Partei praktisch durch, indem ihr auf dem Mannheimer Parteitag 1906 ein faktisches Vetorecht vor der Ausrufung eines Massenstreiks zugestanden wurde. Der Aufstieg des Imperialismus und die beginnenden imperialistischen

Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten wirkten verschärfend

auf die inneren Auseinandersetzungen der immer noch gleichmäßig auf-

steigenden Arbeiterbewegung. Die Gegensätze zwischen dem revisioni-

stisch-reformistischen Flügel und dem alten, am Erfurter Parteiprogramm festhaltenden marxistischen Denken der Partei verschärften sich

ständig. Beim marxistischen Flügel wuchs die Überzeugung, daß man auch theoretisch zur klaren Erfassung dieser neuen Periode des Imperia-

lismus, der die Außen- und Rüstungspolitik der großen Staaten nun ein-

deutig bestimmte, gelangen müsse. Über dies Problem des Imperialismus entstand eine ganze Reihe großer und wichtiger theoretischer Arbeiten. Ich erinnere an Rosa Luxemburgs »Akkumulation des Kapitals« (1912)

und an Rudolf Hilferdings Buch »Das Finanzkapital«” (1910), das von außerordentlich hohem wissenschaftlichen Wert war und bewies, daß der

Marxismus als Methode auch diese neue gesellschaftliche Erscheinung zu erfassen in der Lage war, während die bürgerlichen Sozialwissenschaftler und Nationalökonomen - mit ganz wenigen Ausnahmen - dies Problem überhaupt nicht als geschichtliche Veränderung verstanden haben. Es gibt immer schärfere Auseinandersetzungen darüber, in welcher 1

Vgl. Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapirals. Ein Beitrag zur ökonomischen

2

1990 (zuerst erschienen 1913). Vgl. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1968 (Neudruck der Ausgabe von 1910).

Erklärung des Imperialismus, in: dies.: Gesammelte Werke, a.a. O., Bd. 5, Berlin 4. Aufl.

144

Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg

(1900-1914)

Weise und mit welchen Kampfmitteln man der ständig wachsenden Aufrüstungstendenz entgegentreten müsse, wobei der revisionistische Flügel und Teile der Parteibürokratie der Meinung sind, man könne »Kompensationspolitik« (so der Abgeordnete Wolfgang Heine) betreiben, indem

man für die Zustimmung zu Aufrüstungsmaßnahmen im Reichstag kleine Demokratisierungsvorteile einhandelt. Teile der Großbourgeoisie — ich erinnere an den (allerdings sehr kleinen) sozialliberalen Flügel unter

der politischen Führung Friedrich Naumanns - versuchen, der Sozialdemokratie eine solche Wendung schmackhaft zu machen. Nach August Bebels Ausscheiden aus der praktischen Politik (einige Zeit vor seinem Tod 1913) dringen solche Tendenzen auch in der Reichstagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei immer weiter vor. Diese Reichstagsfraktion war - mit Ausnahme des Jahres 1907 — bei allen Wahlen gewachsen. Als die Sozialdemokratie als einzige deutsche Partei in aller Schärfe gegen den organisierten Völkermord durch den deutschen Imperialismus in Südwestafrika auftrat, hatte die Partei bei den Wahlen von 1907 zwar ihre

Stimmenzahlen noch leicht steigern können, aber fast die Hälfte ihrer Mandate verloren. In der »patriotischen« Begeisterung, die die gesamte bürgerliche Presse und öffentliche Meinung erzeugt hatten, war es den bürgerlichen Parteien, die in dieser Situation einig (einschließlich der Linksliberalen!) gegen die SPD standen, durch das Stichwahlsystem möglich, das ständige Wachsen

der sozialdemokratischen Mandate

zu stop-

pen. Doch bei den Reichstagswahlen 1912 (in dem gleichen Jahr, in dem die Internationale in Basel eine Weltkonferenz gegen den drohenden Krieg veranstaltet und auch die deutsche Partei mitreißt) hat die Sozialdemokratie nicht nur diese Schlappe wettgemacht, sondern mit 4,25 Mio. Stimmen und einer Mandatszahl von 110 Abgeordneten

(von insgesamt

397 Reichstagsmitgliedern) eine solche Stärke erlangt, daß die Bourgeoisie vor der vermeintlichen Gefahr einer Wiederholung der russischen Revolution in Deutschland zu zittern begann. Aber gleichzeitig hatte sich die revisionistische Tendenz, die bis dahin schon die Führung der Gewerk-

schaften erobert hatte, auch in großen Teilen der Reichstagsfraktion festsetzen können. Eine Ursache für diese Entwicklung liegt darın, daß inzwischen die Tätigkeit des Reichstagsabgeordneten zu einem echten Beruf geworden

war, wie sie es heute auch ıst. So war in der Reichstagsfraktion eine Paral-

lele zur Gewerkschaftsbürokratie entstanden. Daher war es auch nicht verwunderlich, daß die gleiche Menztalität, wie sie sich bei vielen gewerkschaftlichen Führungen zeigte, auch in der Partei immer stärker wurde. Das wurde deutlich, als es - noch vor dem Ausbruch des Ersten Welt-

krieges - zum ersten Kompromiß mit der Rüstungspolitik der Reichsre-

Vom Übergang zum Imperialismus bis zum Ersten Weltkrieg (1900-1914)

gierung kam. Die

145

Wehrbeitragsvorlage der Reichsregierung wurde

1913

auch von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion nach einer hefti-

gen internen Auseinandersetzung angenommen, die damit zum ersten Mal von ihrem alten Prinzip: »Diesem System keinen Mann und keinen

Groschen« (Bebel) abwich. Bis dahin hatte sich das Deutsche Reich nur

aus indirekten Steuern finanziert. Die direkten Steuern (Einkommenssteuer, Vermögenssteuer) waren Sache der Einzelstaaten (Preußen, Bayern usw.) gewesen, während die Finanzierung der Rüstung, besonders der Flotte, über Zölle und indirekte Reichssteuern erfolgt war. Mit vollem Recht hatte die Sozialdemokratische Partei immer wieder betont, daß je-

de indirekte Steuer (wie jeder Zoll) die Massen, also die ärmeren Schich-

ten, viel stärker belastet als die reichen Schichten (eine Lehre, die heute

die sozialdemokratische Parteiführung längst vergessen zu haben scheint),

und deshalb war die Bekämpfung der indirekten Steuern immer ein besonderes Ziel sozialdemokratischer Politik gewesen. Nun wollte die Reichsregierung die erste direkte Steuer für das Reich, eine Besitzsteuer

einführen, die zur Finanzierung zusätzlicher Rüstungsausgaben dienen sollte. Aber die Einführung direkter Steuern durch das Reich hatten die Sozialdemokraten immer gefordert. Auf dies Geschäft, das gleichzeitig die Sozialdemokratie von dem Odium, nicht patriotisch genug zu sein, befreien sollte, ist die sozialdemokratische Reichstagsfraktion Mitte 1913 eingegangen. Die Mehrheit, die diesen Handel - er diente der unmittelba-

ren Vorbereitung des Weltkrieges - mitgemacht hat, war in der Fraktion

noch relativ gering (52 zu 37 Stimmen,

bei 7 Enthaltungen),

aber die

Minderheit hat sich gefügt und im Parlament »aus Disziplin« für die Wehrvorlage gestimmt. Die Diskussion in der Partei ging weiter, und es schien, als ob die Mehrheit der Parteimitglieder, auch der Gewerkschaftsmitglieder, auf der

Seite des marxistischen Zentrums und der Linken stehen würde, wenn es

zum nächsten Parteitag kam.

146

15. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution ın Rußland

Die antimilitaristischen Positionen des zentristischen und linken Flügels hatten in der Partei - man kann es in den Diskussionen der sozialdemokratischen Tagespresse verfolgen - und auch unter den Gewerkschafts-

mitgliedern zunächst noch die Mehrheit, als der Krieg 1914 durch den serbisch-Ssterreichischen Konflikt unmittelbar bevorzustehen drohte. In dieser Krisensituation war die Parteiführung noch bereit - übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen europäischen Ländern -, zu großen Demonstrationen gegen die Kriegsgefahr aufzurufen. Aber als der Krieg immer näher kam, schlug die Stimmung nicht nur in der Führung, sondern auch in den Massen um. Während in den letzten

Julitagen 1914 die Arbeiter noch überall gegen den Krieg demonstrierten - es gab keine deutsche Großstadt ohne riesige, von der Sozialdemo-

kratischen Partei Deutschlands veranstaltere Kundgebung gegen die Kriegspolitik der Regierung -, verhandelten bereits die Spitzen der Gewerkschaften und des revisionistischen Flügels der Partei mit der Reichsregierung darüber, wie man sich im Faile des Ausbruchs des Krieges verhalten solle. Sie sicherten der Reichsregierung zu, daß sie aus nationaler Disziplin nicht gegen den Krieg auftreten würden.‘ Zu diesem Zeitpunkt handelten so nur Spitzen. Aber als die Kriegserklärungen erfolgten, sind es nicht mehr nur diese Spitzen des rechten Flügels der Partei, die so denken, sondern auch die Massen selbst — die gleichen Massen, die wenige Tage vorher noch demonstriert hatten -, und das, obwohl der deutsche

Einmarsch in das völkerrechtlich neutralisierte Belgien für jeden hätte

deutlich machen können, daß mindestens formell das Deutsche Reich der

Angreifer war. Darüber sollte man sich keine Illusionen machen. Als die Reichstagsfraktion dann nach Kriegsausbruch am 4. August 1914 mit

überwältigender Mehrheit die Zustimmung zu den Kriegskrediten be1

Vgl. den Brief des Reichstagsabgeordneten Albert Südekum an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg vom 29. Juli 1914, in Auszügen abgedruckt in: Christoph Butterwegge/Heinz-Gerd Hofschen: Sozialdemokratie, Krieg und Frieden. Die Stellung der SPD zur Friedensfrage von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine kommentierte Dokumen-

tation, Heilbronn 1984, S. 108 f.

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

147

schließt, hat sie zweifellos die große Majorität der Parteimitglieder auf ihrer Seite. Das war keineswegs nur in Deutschland so; genau derselbe Prozeß hat sich in allen großen europäischen Ländern zugetragen - mit zwei Ausnahmen: Rußland, denn dort hatten ja die Arbeitermassen ihre bitteren Erfahrungen mit dem Krieg von 1904/05 bereits hinter sich gebracht. Im kleinen Serbien —- mit der Erfahrung der Balkankriege - war es nicht anders. Zu erklären ist dieser Vorgang wahrscheinlich relativ einfach: Auch die Arbeiter waren als Kinder in allen Ländern Europas in den Schulen des bürgerlichen Staates mit seinen patriotischen Phrasen großgezogen worden, und so hatte sich überall ein Unterbewußtsein - neben dem kri-

tischen Bewußtsein, das sich in den sozialdemokratischen Organisationen

darüber geschoben hatte — erhalten, das von diesem Phrasengewirr der Kaisertreue und des Patriotismus erfüllt war. Das kam nun explosionsartig zum Ausdruck und hat das Bewußtsein der Massen - wohlgemerkt in

fast allen Ländern Europas - 1914 weggespült.

Es ist typisch, daß in den Ländern, die erst später in den Krieg einge-

treten sind - wie etwa in Italien, das erst 1915 in den Krieg einbezogen wurde

—, sich dieser Vorgang

nicht wiederholt hat, denn hier hatten die

Arbeitermassen das Anschauungsmaterial jenes imperialistischen Welt-

krieges schon vor Augen, der sich im übrigen Europa bereits abspielte. In

Italien hatten sie außerdem die bitteren Erfahrungen des Libyschen Krie-

ges hinter sich; denn Italien hatte 1911 einen imperialistischen Krieg gegen die Türkei geführt, um deren letzte nordafrikanische Besitzung, Libyen, an sich zu reißen. Damals hatte es auch in der italienischen Sozial-

demokratie eine schwere Krise um dies Problem gegeben, da der revisionistische Flügel der Partei für den Krieg Stellung nehmen wollte. Aber die Parteirechte hatte sich in diesem begrenzten imperialistischen Krieg so wenig

durchsetzen

können,

wie in der russischen Sozialdemokratie

1904/05. Denn beim Russisch-Japanischen Krieg war in beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokratie (formell war die Organisation noch

einheitlich), in der bolschewistischen wie in der menschewistischen, die

große Majorität gegen den Krieg gewesen. So war es auch 1911 in Italien. Als Italien 1915 in den Weltkrieg eintritt, gibt es diesen patriotischen Begeisterungsrummel, dem 1914 die englischen, die französischen, die deut-

schen und die österreichischen Arbeiter erlegen sind, nur in den Mittelschichten, nicht aber in der italienischen Arbeiterklasse.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges erlahmt die deutsche Arbeiterbewegung und wird niedergefegt von nationalistischem Unterbewußtsein und angeblichem Verteidigungsbewußtsein für das deutsche Volk. In diesem Sieg des nationalistischen Unterbewußtseins über das sozialistische Be-

148

wußtsein

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

sehe ich die entscheidende

Erklärung

für das Verhalten

der

Massen. Beim Verhalten der Führungen ist das partiell anders, denn bei ihnen haben sich teilweise schon vorher deutliche Anpassungsprozesse

angebahnt, die in dieser Form vor dem Beginn des Krieges bei den Massen nicht vorhanden waren. Für den Stimmungsumschwung der Massen im August 1914 gibt es kaum eine andere Erklärung. Hier geht es um eines der Phänomene, die noch sehr sorgfältig anhand des historischen Ma-

terials - auch unter Zuhilfenahme sozialpsychologischer Kategorien — ausgearbeitet werden müssen. Es ist sicherlich so, daß ein Teil der Füh-

rungen bereits in das normale bürgerliche Bewußtsein integriert ist - aber eben nur ein Teil. Denn die Führungen der Parteien haben noch in allen Ländern Ende Juli zu Antikriegsdemonstrationen aufgerufen. Sie finden

überall statt - und in fast allen Ländern kommrt es dann zu diesem raschen Stimmungswandel. Wir haben einen solchen plötzlichen Stimmungswandel im Deutschen Reich ein zweites Mal kennengelernt — allerdings zunächst nur in den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten —, nämlich 1933 zugunsten der Nazis. In der Sozialdemokratie - auch da ist die deutsche Partei kein Sonderfall, wir können das gleiche bei den Engländern und Franzosen verfol-

gen - haben 1914 nur kleine Gruppen, winzigste Kader diesem Wahn widerstanden. In Deutschland ist es vor allem die Gruppe »Internationale«, Sie hieß so, weil sie 1915 eine Zeitschrift, »Die Internationale«, veröffentlichte, die aber nur in einer Nummer legal erscheinen konnte, dann wur-

de sie verboten. Ihr Kern gab dann illegal die »Spartakusbriefe« heraus, nach denen sie den Namen »Spartakusgruppe« erhielt. Diese Gruppe der äußersten Linken bestand zum großen Teil aus marxistischen intellektuellen Funktionären - man denke an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, August Thalheimer, Franz Mehring, Karl Radek (der zeitweise zur »Bre-

mer Linken« gehört, dann aber wieder nach Rußland zurückgeht) —, aber

auch aus Arbeiterkadern, die aus der Parteischule hervorgegangen waren - auch das kein Zufall -, wie Wilhelm Pieck, Jacob Walcher, August Enderle, Heinrich Brandler. Aber diese Gruppe war zunächst winzigst

und mußte langsam und natürlich illegal und konspirativ ihre Positionen ausbauen. Nur eine große Zeitschrift der Partei blieb zunächst in ihrer

Hand: »Die Gleichheit«, das Blatt der Frauen, das von Clara Zetkin redi-

giert wurde. Aber zunächst blieb diese winzige Gruppe ohne Rückhalt in den Massen. Auch die Gruppierung in der Parteiführung, die weiter Parteidisziplin halten und nicht öffentlich gegen den Krieg auftreten wollte, sondern sich nur innerhalb der Parteiorganisation gegen die Unterstützung des Krieges wandte, hat zunächst kaum Rückhalt in der Organisation und in

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

149

den Massen. Es ist die Gruppe um den Rechtsanwalt Hugo Haase, den zweiten Vorsitzenden der Partei, der aus übersteigerter Parteidisziplin —

obwohl er gegen diese Politik war und auch in der Fraktion dagegen gesprochen hatte - sogar bereit gewesen war, am 4. August 1914 im Reichstag die Erklärung der Fraktion zugunsten des Krieges abzugeben. Zu dieser Gruppe gehören auch einzelne Revisionisten. Die große Mehrheit der

Revisionisten lief hingegen zum extremsten annexionistisch-imperialistischen Wahn über. Wenn man die »Sozialistischen Monatshefte«, die Zeitschrift der Revisionisten, in dieser Zeit liest, fühlt man sich an die ersten

Positionen des »Alldeutschen Verbandes« oder an die Publikationen des

sozialliberalen Führers Friedrich Naumann über Mitteleuropa aus dieser Zeit erinnert, die Gott und die Welt für das siegreiche Deutsche Reich

annektieren oder wenigstens seiner politischen Vorherrschaft unterwer-

fen wollten. Aber Eduard Bernstein, der theoretische Begründer des Re-

visionismus, groß geworden noch in der marxistischen Tradition der Partei und dann in der Tradition der britischen Labour Party und der Fabian

Society, dachte anders. Er war gegen die kriegsunterstützende Politik der Partei, wollte jedoch nur - wie die Zentristen um Haase - innerhalb der Partei gegen diese Politik auftreten, während die Gruppe »Internationale« zwar in der Partei verbleiben, aber doch auch offen gegen den Krieg auftreten wollte, wie es ebenso die Gruppe der »Bremer Linken« tat. So konnte auch der erste Abgeordnete, der im Reichstag offen gegen

den Krieg auftrat und gegen die Kriegskredite stimmte, Karl Liebknecht, sich nur auf die Zustimmung der kleinen Gruppe »Internationale« stützen. Liebknecht hatte sich am 4. August noch gefügt, aber dann am 2. Dezember

1914 stimmte er allein

- unter Bruch der Parteidisziplin —

gegen den Krieg und gab eine entsprechende Erklärung im Reichstag ab. Während des Krieges löste sich der nationalistische Bann, der die Arbeiterklasse 1914 befallen hatte, in mehreren Stufen. Das Wiedererwachen

war jeweils auch durch die Situation in den anderen Ländern beeinflußt (und entwickelt sich mit ihr parallel), die am Weltkrieg teilnahmen. In der Gewerkschaftsführung ist die überwältigende Mehrheit der Spitzen schon Tage vor der Kapitulation der Sozialdemokratischen Partei bereit, einen sozialen »Burgfrieden« mit der Regierung und den Unternehmern zu schließen. In der allerersten Stufe des Krieges muß nicht nur die junge, aktive Generation zu den Fahnen und in die Armee (bis auf diejenigen, die kriegswirtschaftlich unabdingbar waren), sondern beginnt auch durch die ökonomische Verwirrung ein Trend zur Arbeitslosigkeit, die allerdings rasch überwunden wird. Da die Überlegung der Regierung und des Militärs, der Krieg werde durch eine schnelle Entscheidung zu-

gunsten des Deutschen Reiches beendet werden können, sich schon mit

150

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

der Marne-Schlacht im September 1914 als totale Illusion erweist, muß man nun zu kriegswirtschaftlicher Planung und Produktion für einen langfristigen Krieg übergehen. Das bedeutet ökonomisch auch insofern eine Umstrukturierung, als nun die chemische Industrie (die bis dahin

vorwiegend Arzneimittel und Farben hergestellt hat) vorwiegend Kriegsmaterialindustrie wird, wodurch ihre Bedeutung erheblich an-

wächst. Große Arbeitermassen auch aus anderen Bereichen werden in ihr als ungelernte und angelernte Arbeiter tätig. Die Einbeziehung der Frau-

en ın den Arbeitsprozeß wird rasch gesteigert, weil ja die männliche Be-

völkerung zu einem großen Teil in die Armee

eingezogen ist. Die Ar-

beitslosigkeit verschwindet so vollständig. Da die Gewerkschaften den »Burgfrieden« vereinbart haben und der größte Teil der vorher aktiven Gewerkschaftsmitglieder an den Fronten steht, spielen die Gewerkschaf-

ten zunächst kaum noch eine große Rolle. Infolgedessen bedarf es partiell neuer Organisationsformen, wenn man Erfolge im sozialen Kampf erringen will, Durch den Krieg werden die Unternehmergewinne explosionsartig gesteigert. Gleichzeitig wachsen bei den Unternehmern auch die abenteuerlichsten Annexionsforderungen gegenüber den Kriegsgegnern ständig an. Hinsichtlich der Kriegsziele bilden sich in den herrschenden Klassen zwei Flügel: Die Schwerindustrie will im Osten riesige Gebiete, einschließlich der Ukraine, ım Westen Belgien, Nordfrankreich und dazu noch ein großes afrikanisches Kolonialreich gewinnen. Die neuen Industrien sind

etwas vorsichtiger in ihren Annexionsforderungen und setzen in ihrem »Mitteleuropa-Konzept« den Akzent stärker auf wirtschaftliche Durchdringung und politische Hegemoniebildung als auf unmittelbare territoriale Einbeziehung. Diese neuen Industrien (Elektroindustrie — auch durch den Krieg aufs äußerste ausgelastet - und chemische Industrie) versprechen sich mehr von politischer und wirtschaftlicher Penetration der zu beeinflussenden Gebiete vor allem in Mitteleuropa als von formeller Annexion durch das Deutsche Reich, weil sie aufgrund ihres technologischen Vorsprungs mit indirekteren Formen der Beherrschung auskom-

men können. Es existieren also auf seiten der Regierung und der Unternehmer zwei konkurrierende Kriegszielprogramme: einerseits das alldeutsche, extrem annexionistische Programm und andererseits das Mit-

teleuropa-Konzept des liberalen Chefideologen Friedrich Naumann,

das

zwar - in begrenztem Maße —- ebenfalls territoriale Extensionen als Ergebnis des Weltkrieges anstrebt, aber im übrigen ein Mitteleuropa-System unter Führung des Deutschen Reiches und ein einheitliches Zollgebiet aufbauen will, in das Österreich, der Balkan und mindestens das westli-

che Rußland (mit Polen, das ja noch zum zaristischen Reich gehörte) ein-

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

151

bezogen werden sollte. Zwischen diesen beiden Fraktionen der imperiali-

stischen Bourgeoisie gibt es nun auf Jahre hin ein ständiges Ringen und dann doch wieder Koalieren, das siıch auch in der Regierungspolitik und in der Kriegspolitik der Obersten Heeresleitung niederschlägt. Es spiegelt

sich ebenso im Verhalten von großen Teilen der Führungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei, die im allgemeinen auf sei. ten des sogenannten Mitteleuropa-Konzeptes stehen. Unten bei den Massen verändert sich die Situation relativ rasch. Die begeisterte Zustimmung zum Krieg in der Illusion, man verteidige sich gegen das zaristische Rußland, die auch von den sozialdemokratischen

Funktionären zunächst mitgetragen wurde, löst sich bei großen Teilen der ehrenamtlichen Funktionärskader bald wieder auf. Das hat zwei Gründe: Erstens führt der Krieg zu Hungerwellen,

denn das Deutsche

Reich, das nun von Lebensmittelzulieferungen (die vorher zu einem erheblichen Teil aus Rußland kamen) weitgehend abgeschnitten ist, kann sich selbst nicht mehr ernähren und muß daher sehr bald die Lebensmit-

telbewirtschaftung einführen; das Kartensystem trifft natürlich vor allen

Dingen die arbeitende Bevölkerung und nicht die Bourgeoisie - denn die kann weiterhin auf dem Schwarzmarkt alles kaufen. Andererseits steigen

die Profite. Große Teile der Industrie werden zu Rüstungsindustrien umgeformt, und der Staat garantiert deren Absatz zu sehr guten Preisen, was natürlich zu Supergewinnen der Bourgeoisie führt. Im Kriege verschärfen sich also die Gegensätze in den Lebensverhältnissen erheblich: Die Bour-

geoisie lebt gut, das Proletariat immer schlechter. Den Bauern geht es zu-

nächst noch relativ gut, weil sie eine Monopolstellung in der Lebensmit-

telproduktion haben, und bei den selbständigen Mittelschichten ist das

Lebenshaltungsniveau sehr unterschiedlich. So wachsen rasch wieder die sozialen Gegensätze, besonders da die Reallöhne infolge des »Burgfriedens« und der Stillhalteabkommen, die die Gewerkschaften geschlossen haben, stagnieren oder sinken. Daher komm-t es auch innergewerkschaftlich bald zu Reibungen zwischen »unten« und »oben«, am schnellsten in der Metallindustrie, ın der, da sie Kriegsindustrie ist, viele alte Funktionäre »reklamiert« und nicht in die Armee eingezogen sind, sondern als unbe-

dingt kriegsnotwendige Arbeitskräfte in den Betrieben verbleiben, Was sich im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) abspielt, in dem am raschesten von Gewerkschaftstag zu Gewerkschaftstag die Opposition

anwächst und die ersten Kampfbewegungen entstehen, das vollzieht sich

auch in anderen Branchen, allerdings weniger getragen von gewerkschaftlichen Kadern, denn in jenen Betrieben stehen jetzt anstatt der früheren Männer meist unorganisierte Frauen. So wachsen die Widersprüche —

und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen krieg-

152

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

führenden Ländern. Ab 1915 kommt es überall von unten zu den ersten

Aktionen gegen den Krieg. Diese ersten Auseinandersetzungen finden zu-

nächst nicht in der Armee statt, sondern im Hinterland zwischen der Arbeiterklasse, die hungert, und der Bourgeoisie. In Deutschland geht es hierbei zunächst noch vor allem um die Lebensmittelversorgung, die un-

geheuer verlängerte Arbeitszeit und den vergrößerten Ausbeutungsdruck.

Die gewerkschaftlichen wie die sozialdemokratischen Spitzen und die

Reichstagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei schlingern gleichzeitig auf dem Kurs vom August 1914 getrost weiter. Bürokratien lernen gemeinhin sehr spät und nur, wenn man ihnen nachhilft. Die Arbeiter

sind - wenn man von den kleinen Gruppen um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg,

Clara Zetkin und Johann Knief absieht, die schon 1914 in

scharfe Opposition zur Kriegspolitik der Partei geraten - weiterhin führerlos und auf eigene spontane Konzeptionen angewiesen. Diese Oppositionellen sind zunächst sehr isoliert. Erst als sich die Gegensätze weiter zuspitzen, wagen es mehr Abgeordnete, die Fraktionsdis-

ziplin zu brechen und gegen den Krieg aufzutreten. Sie hatten in der

Fraktion gegen die Kredite gestimmt, wollten aber zunächst nicht wie die Spartakusgruppe offen auftreten. Dieser Teil der Partei bekommt jetzt

(durch den abermaligen Stimmungswandel unten) Mut und bricht im

Dezember 1915 - ein Jahr nach Karl Liebknechts Alleingang —- die Frak-

tionsdisziplin, indem 20 Abgeordnete gegen die Kriegskredite votieren.

Damit ist die Spaltung der Partei eingeleitet; denn dieser Teil der Frakti-

on wird im März 1916 aus der Fraktion ausgeschlossen, bildet eine eigene

Fraktion (die »Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft«) und tritt scharf gegen die Mehrheitssozialdemokratie, gegen die Mehrheit der Fraktion auf, die bis zum bitteren Ende an ihrer Kriegspolitik festhält. Im Januar 1917 werden die Oppositionellen auch aus der Partei ausgeschlossen und bilden im April 1917 eine eigene Parteiorganisation: die Unabhängige So-

zialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). In den Führungen der Gewerkschaften sieht es noch negativer aus; denn sie betreiben die »Burgfriedenspolitik« bis zum bitteren Ende und mit den gefährlichsten Konsequenzen.

Die zahlreichen unorganisierten

Arbeiter (deren Prozentsatz deshalb gewaltig zugenommen hat, weil der größte Teil der Gewerkschaftsmitglieder im Feld steht und die in die Fabriken

eingezogenen

Frauen

sich

nicht

darum

bemühen,

Gewerk-

schaftsmitglieder zu werden, da die Gewerkschaften völlig lethargisch sind) schlagen für die innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen nicht zu Buche, so daß der innergewerkschaftliche Druck, vom

DMV

abgesehen, zunächst schwächer ist als der außergewerkschaftliche. In die-

ser Zeit werden die gewerkschaftlichen Spitzen von der eigenen Mitglied-

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

153

schaft wenig gestört und können daher bei der bürokratischen Zusammenarbeit, der faktischen Arbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern zur bloßen Bewahrung vorher erlangter Tarifpositionen bleiben. Diese Politik wirkt natürlich auf die Sozialdemokratie zugunsten ihres rechtesten Flügels zurück. Allerdings ändert sich die Situation seit Mitte 1915 und besonders ab 1916 erheblich. 1915 sind die Anregungen aus dem Ausland zur Reaktivierung der deutschen Arbeiterbewegung noch relativ gering. Natürlich hat die gesamte Opposition in Partei und Gewerkschaften erfreut zur Kenntnis genommen, daß zwei große sozialistische Parteien nach Kriegseintritt ihrer Länder nicht umfallen, sondern gegen den Krieg und gegen die Regierung weiterkämpfen, nämlich die italienische und die bulgari-

sche Partei. Die bulgarische Partei war in einer ähnlichen Lage wie die russische: beide waren illegal. Bei den Russen hatte nur der äußerste rech-

te Flügel der Menschewiki (die russische Partei war seit langem - endgül-

tig seit 1912 - in zwei Richtungen gespalten) kapituliert, nicht die Bolschewiki und nicht der linke Flügel der Menschewiki. Es waren illegale Parteien, die sich noch in einer ähnlichen psychologischen Situation wie die deutsche Sozialdemokratie 1870/71 befanden. Die Haltung dieser Par-

teien wirkt belebend auf Kombinationen, die die Parteien der neutralen Länder und die kriegsgegnerischen Kräfte auch der kriegsbeteiligten Staa-

ten international in Konferenzen ab 1915 vorzunehmen versuchen: Die Konferenzen von Zimmerwald (September 1915) und Kienthal (April 1916) werden illegal in der neutralen Schweiz veranstaltet. An ihnen nehmen aus Deutschland Vertreter der Haase-Gruppe wie Mitglieder der Spartakusgruppe teil. Die Seitenorganisationen

der IL Internationale, die Ju-

gendverbände und die Frauenorganisationen, waren nicht ım gleichen Maße umgefallen und organisierten ebenfalls internationale Konferenzen

gegen den Krieg. Der aktive Flügel der Jugendorganisationen, der um den

in die Schweiz emigrierten Willi Münzenberg gruppiert war, hatte nicht kapituliert und begann bald, eine neue internationale Zeitschrift, die »Jugend-Internationale«, illegal herauszubringen und auch in Deutschland zu verbreiten. In Deutschland ist die Opposition gegen den Krieg aber immer noch bis zur Gründung der USPD eine Kadererscheinung auf illegaler Ebene, nicht mehr. Die Gewerkschaftsspitzen setzten ihre »Burgfriedenspolitik« fort und wurden erst 1916 von den Massen wenigstens zu sozialpolitischen Forderungen gedrängt. Und die sozialdemokratische Parteispitze und die Reichstagsfraktion setzten ebenso ihre bisherige Politik der Unterstützung des Krieges fort, wobei sie allerdings dann begleitend die Forderung nach einem Verständigungsfrieden erhoben. Dabei wußte je-

154

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

der, daß ein solcher Verständigungsfriede eine Illusion war, denn die Entscheidungen in dem Kriege suchten die imperialistischen Mächte eben

zunächst nicht durch Verständigung und Verzicht auf Annexionen; schließlich hatten sie ja gerade den Krieg veranstaltet, um Annexionen zu erlangen. Daher waren die Verständigungsforderungen der SPD-Führung

objektiv reine Beschönigung zugunsten der gemäßigteren imperialisti-

schen Fraktion, der Richtung um Friedrich Naumann mit ihrem Mitteleuropa-Programm. Der rechteste Flügel der Sozialdemokratie (um die Abgeordneten David, Cohen-Reuß, Lensch) näherte sich sogar den

Kriegszielen der Alldeutschen, auch wenn er nach außen die Verständi-

gungsparolen der Parteiführung gerade noch mittrug. Die erste, illegale, 1.-Mai-Demonstration 1915 und dann die des Jahres 1916, auf der Karl Liebknecht in Berlin spricht, sowie die ersten, zu-

nächst lediglich spontanen Streikbewegungen und Hungerdemonstratio-

nen (meist von Frauen) in den gleichen Jahren signalisieren eine Änderung der Situation. Zunächst sind diese Hungerdemonstrationen noch”

ohne klares politisches Konzept. Doch das wird bald anders, weil mit dem Ausbeutungsdruck auch der Widerstand im Lande ständig zunimmt und weil Nachrichten über erste Streikaktionen in anderen Ländern nach Deutschland gelangen. So kommt es ab 1916 zu einer ganzen Reihe von

spontanen Streikaktionen, nicht organisiert oder begleiter von der Ge-

werkschaftsbewegung,

sondern

zunächst

von

den

gewerkschaftlichen

Spitzen gemeinsam mit den Unternehmern bekämpft - zum Teil in den brutalsten Formen. Es gibt sogar Gewerkschaftssekretariate, die bereit

sind, »Aufwiegler« in den Betrieben bei der Polizei und der Kriegsverwal-

tung zu denunzieren, damit sie ihre »Reklamierung« verlieren und zur Armee eingezogen werden. Die Haltung der Gewerkschaftsführung be-

wirkt, daß sich »unten« neue Organisationsformen bilden. Es entstehen

Betriebsvertrauensleute-Kader, die die Streikbewegungen organisieren und nun in manchen Betrieben nicht mehr darauf Rücksicht nehmen, ob die Arbeiter das Gewerkschaftsbuch in der Tasche haben, sondern die

sich als Belegschaftsrepräsentanz auch jenseits der traditionellen Organisationsgrenzen fühlen. Im wirksamsten Fall allerdings, bei den Berliner

Vertrauensleuten, sieht das insofern anders aus, als es hier organisierte

Metallarbeiter mit alter DMV-Tradition und großer Verwurzelung in den Belegschaften sind, die die Streikbewegungen tragen. In den Berliner

Metallbetrieben ist der Organisationsgrad noch höher, weil es sich um

vom

Krieg freigestellte Altbelegschaftler

der mittleren

Generationen

handelt, um Facharbeiter, die nicht ersetzt werden konnten und deshalb

nicht eingezogen wurden. (In England vollzieht sich in der Shop-StewardBewegung ein ähnlicher, in Richtung auf Betriebsräte hinlaufender Pro-

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

155

zeß.) Es ist nicht verwunderlich, daß die deutschen Metallarbeiter eine

Vorreiterrolle spielen, denn der DMV ist der erste große Verband, der sich in Richtung eines wirklichen Industrieverbandes, einer Industriegewerkschaft entwickelt hatte, so daß hier auch die innergewerkschaftli-

chen Kombinationsmöglichkeiten breiter waren. Infolgedessen herrscht —

dies zeigen die Gewerkschaftstags-Protokolle während des Ersten Welt-

krieges - im DMV von vornherein eine andere Situation als in den übrigen Verbänden, in denen meist alles diskussionsfrei verläuft und die Spit-

zen während dieses Krieges machen können, was immer sie wollen. Im DMYV hingegen gibt es auf den beiden großen Gewerkschaftstagen während des Krieges scharfe Auseinandersetzungen zwischen einer breiten

Opposition und dem Vorstand. Und diese Opposition wächst, wenngleich sie erst nach dem Kriege stark genug wird, um den Vorstand abzusetzen und ihren Führer Robert Dißmann als Vorsitzenden wählen zu können.

Gleichzeitig ist die Bourgeoisie gezwungen, das marktwirtschaftliche System durch einen Planungsapparat zu ergänzen, um die Kriegswirt-

schaft effektiv zu organisieren. Es werden zentrale staatliche Amter zur Rohstoffbewirtschaftung, an deren Spitze Walther Rathenau tritt (der Chef des AEG-Konzerns und Anhänger der Friedrich-Naumann-Grup-

pierung, des gemäßigten Flügels der imperialistischen Gruppierung, ist), sowie für die Ernährungswirtschaft und 1916 schließlich mit dem „Kriegsamt« unter General Wilhelm Groener eine Zentralbehörde für die

gesamte Kriegswirtschaft gebildet. In diesen Amtern arbeiten - erstmals

in einer kaiserlichen Regierung —- Sozialdemokraten in ihrer Eigenschaft als Gewerkschafts- und Genossenschaftsvertreter (August Müller, Alex-

ander Schlicke) mit. Da die Ware Arbeitskraft immer knapper wird (der

Krieg frißt immer mehr männliche Arbeitskräfte), muß man auch sie systematisch bewirtschaften, Zu diesem Zweck wird im Dezember 1916 das

Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst geschaffen, das es erlaubt, Arbeitsverpflichtungen und die Fixierung an den konkreten Arbeitsplatz pehördlich auszusprechen. Da man sieht, daß die gewerkschaftlichen Spitzen und die Sozialdemokratische Partei kooperationsbereit sind (das zeigt sich auch an deren Zustimmung zu diesem Hilfsdienstgesetz), und da man spürt, daß sich überall spontane betriebliche Repräsentanzen zu pilden beginnen, setzt man dieses Gesetz gleichzeitig ein, um diese Beweng aufzufangen. Daher werden mit diesem Gesetz auch die ersten

(wenn wir in späteren Begtiffen sprechen) arbeiterratsähnlichen Instituzionen in den Betrieben in Gestalt von Arbeiterausschüssen eingerichtet. Wie die ebenfalls eingeführten Schlichtungsstellen dienen sie sozialpartnerschaftlichen Verständigungszwecken. Hintergedanke.ist, auf diese

156

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußlanqg

Weise mit den Unternehmern verständigungsbereite Hilfskader zu be, kommen, die in die Belegschaft hineinwirken. Auch dabei sind die Ge. werkschaftsspitzen einverstanden, während große Teile der Unterneh. mer - die Bourgeoisie ist nie von besonderer Intelligenz geplagt — diese Ausschüsse zunächst gar nicht wollen, weil sie glauben, daß von hier aus

auch Druck gegen sie selbst entstehen könnte. So bedarf es langer Ver. handlungen, um das Hilfsdienstpflichtgesetz durchzusetzen.

Aber auch dieses Gesetz ändert an dem Gesamttrend nichts, daß die

Opposition ständig wächst und mit jeder Streikbewegung im Ausland parallele Streikbewegungen auch im Inland entstehen. Diese Streikbewe. gungen werden nicht von den Gewerkschaften geführt, sondern von innergewerkschaftlichen Vertrauensleute-Kadern (sie sind die erfolgreich. sten, wie das Beispiel der Berliner Betriebsobleute zeigt) und von instabi. len Vertrauensmänner-Kadern außerhalb der Gewerkschaften, die erst in den jeweiligen Aktionen geboren werden. Als die Bewegungen im Aus-

land wachsen und zu immer größeren Erfolgen führen und als dann im Februar 1917 der erste Stoß der russischen Revolution den Zarismus stürzt und große Hoffnungen wachruft, werden die Antikriegs- und Streikbewegungen in Deutschland und Österreich angeheizt. Die russische Bewegung und ihr Erfolg, den man zunächst überschätzt (man begreift nicht, daß die provisorische Regierung, die sich nach der Februarrevolution bilden kann, eine Regierung zur Fortsetzung des Krieges unter Führung der russischen Bourgeoisie ist), inspiriert die große Streikwelle vom April 1917 in Deutschland mit. In dieser Situation konstituiert sich die Opposition in der Sozialde-

mokratie zur breiten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Aber die Mehrheitssozialdemokratie bleibt fest Bundesgenosse der Regierung.

Sie muß nur ihre Politik jetzt langsam variieren und wenigstens dem Scheine nach auch aktiv für einen Verständigungsfrieden zwischen den großen Mächten eintreten. Sie schließt sich den bürgerlichen Parteien an, die in ähnlicher Richtung tendieren und immerhin begriffen haben, daß

es den totalen Sieg des Deutschen Reiches, von dem die Großbourgeoisie

träumt,

aus

militärischen

Gründen

gar nicht

mehr

geben

kann.

So

kommt es im Juli 1917 zu entsprechenden Resolutionen des Reichstags

und zur Bildung der »Friedensresolutions-Majorität« aus Zentrumspartei,

der liberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der Mehrheitssozialdemokratie im Reichstag, die aber gleichzeitig die Unabhängigen Sozialdemokraten, die grundsätzlich gegen den Krieg sind, als Vaterlandsverräter verketzert. Auch nach diesem Manöver bleibt also die Mehrheitssozialdemokratie der Kriegspolitik Seiner Majestät des Kaisers treu bis zum bitteren Ende.

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

157

Jede dieser Massenstreikbewegungen endet bis zum November 1918 zwar mit gewissen Konzessionen an die Arbeiterklasse, aber im Grunde doch mit dem Sieg der Reaktion. Allerdings stirbt die Oppositionsbewegung nicht ab, sondern

behält ihre Kader. Diese Bewegungsfolge

wird vom

Ausland her stark beeinflußt. Nach der russischen Februarrevolution schwenkt die menschewistische Partei auf die Kriegspolitik ein, weil sie

denkt, daß nun in Rußland die demokratisierende Revolution erreicht sei

und die Hauptfeinde das Deutsche Reich und Österreich - also reaktionäre Monarchien - seien, gegen deren Annexionsgelüste die bürgerliche Revolution in Rußland verteidigt werden müsse. International wird also die Front der Gegner des imperialistischen Krieges durch diese Schwenkung der Menschewiki relativ geschwächt. Nebenbei bemerkt: solche Stimmungen wirkten unmittelbar nach der Februarrevolution zum Teil auch auf die bolschewistische Partei ein, deren Einfluß aber gerade dadurch wächst, daß die Führung der Bolschewiki stabil bleibt und diesen

Stimmungen keine Konzessionen macht. Diese Stimmungen sind abermals sozialpsychologisch verständlich, denn schließlich hat man den Zarismus besiegt, und wenn jetzt auch die Bürgerlichen die Macht über-

nehmen, so haben doch die Arbeiter ihre Räteorganisationen, die die Revolution geboren hat, behalten. Diese Räte stehen - im Rahmen der

»Doppelherrschaft« — neben und teilweise hinter der Regierung und können einiges ausrichten. Wir können hier nicht auf die Geschichte der

russischen Revolution ın dieser Periode eingehen, sondern nur ihre in-

ternationalen Auswirkungen betrachten. Als sich herausstellt, daß die neue republikanische russische Regierung den Krieg an der Seite der Allijerten fortsetzt und keineswegs ernsthaft die Kriegsbeendigung betreibt (wodurch die Gegensätze auch in Rußland wieder wachsen), glauben zum Teil die Führungen der sozialdemokratischen Parteien in allen Ländern, dieses Beispiel nutzen zu können, um die Oppositionsbewegung bei sich zurückwerfen zu können. Das gelingt allerdings nur vorübergehend. Der

Kulminationspunkt

dieser Bemühungen

ist die Stockholmer Konferenz

vom Mai/Juni 1917, zu der alle sozialdemokratischen Parteien der krieg-

führenden Länder eingeladen werden.“ Die meisten Parteien aus den 2

Gemeint ist der Versuch des Sekretärs des Büros der II. Internationale, Huysmanns, eine

Konferenz der Mitgliedsparteien aus den kriegführenden Ländern über Möglichkeiten der Kriegsbeendigung durchzuführen. Die für Mai/Juni 1917 in Stockholm geplante Konferenz kam nicht zustande. Es fanden nur getrennte Sondierungsgespräche statt, an denen USPD und MSPD teilnahmen. Im Seprember 1917 fand in Stockholm hingegen die dritte Zimmerwalder Konferenz der gegen den Kriegsunterstützungskurs opponierenden Parteien und Gruppen statt, an der auch Vertreter der USPD und der Spartakusgruppe teilnahmen und auf der ein Manifest zur Kriegsbeendigung durch einen internationalen Massenstreik beschlossen wurde.

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Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

westlichen Ländern kommen aber nicht zu dieser Konferenz, weil sie Angst haben, daß dadurch der Druck auf ihre Regierungen in Richtung auf eine Kriegsbeendigung zu stark wird, und so scheitert dieses Experi-

ment. Vorübergehend schwächten sich aber die Oppositionsbewegungen

auch in Deutschland in Hoffnung auf diese Konferenz etwas ab, um nach

deren Mißerfolg ebenso rasch wieder anzusteigen. Sie wachsen extrem an, als die russische Oktoberrevolution 1917 das Signal eines riesigen proletarischen Erfolges gibt und in Rußland nun eine Regierung an die Macht kommt, die tatsächlich den Krieg sofort beenden will und der niemand vorwerfen kann, sie wolle ihn mit irgendeiner Begründung fortsetzen. So kulminieren diese Oppositionsströmungen in Deutschland (und auch in den anderen Ländern) in einer neuen Welle von Massenstreiks, Sie erreicht ihren Höhepunkt

in den Januar-Streiks

1918,

der größten

Streikbewegung während des Ersten Weltkrieges, die sich von Berlin in alle größeren deutschen Städte ausbreitet und vor allem von Munitionsarbeitern getragen wird. Organisiert wird sie von den Berliner Vertrauensleuten, den Revolutionären Obleuten, einer Gruppierung, die sich lange vorher gebildet und auch im Vordergrund der Streikbewegungen von

1917 gestanden hatte. Es ist keine Gruppierung außergewerkschaftlicher

Art, sondern sie wirkt innerhalb des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes

(daher auch das immer stärkere Anschwellen der Opposition in diesem Verband). Die Revolutionären Obleute stehen in heftigster Opposition

zur Mehrheitssozialdemokratie und - soweit sie iın der Unabhängigen So-

zialdemokratischen Partei politisch organisiert sind (das sind durchaus nicht alle) - auch in sehr kritischer Opposition zur Führung der USPD,

die vor allem aus Reichstagsabgeordneten besteht und unbedingt die Legalität ihrer Opposition erhalten möchte; daher ist sie generell in den Kampfformen nach Meinung der Betriebsobleute zu legalistisch. Das hatte sich schon vorher in einem anderen Zusammenhang gezeigt. In der Flotte war bereits im Sommer 1917 - das war die erste innermilitä-

rische Massenerhebung dieser Art - eine Bewegung gegen den Krieg entstanden. Sie entzündete sich zunächst an der unzureichenden Versorgung der Mannschaften, die im Kontrast zum Luxusleben der Offiziere stand.

Diese Bewegung endete mit einem Streik der Matrosen, einer innermilitä-

rischen Rebellion. Die politischen Verbindungen dieser Matrosen waren gering, und natürlich konnten sie von keiner Gewerkschaft geführt werden, weil es ja eine innermilitärische Auseinandersetzung war. Die Ma-

trosen aber kamen zu dieser Aktionsform, weil sıe im Zivilberuf zum Teil Metallarbeiter waren. Der Grund dafür ist einfach: Die großen

Kriegsschiffe sind komplizierte technische Apparate, deren Maschinen und Geschütze man regulieren und bedienen können muß. Also zieht

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

159

man für diese Aufgaben gelernte Metallarbeiter ein, die das verstehen. Solche Metallarbeiter mit alter gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Schulung und also auch mit politischem Bewußtsein, die in die übrige Belegschaft der Riesenkriegsschiffe hineinwirken, bilden den Kern, der solche Bewegungen zu leiten weiß, weil er vor 1914 gelernt hat, wie man Streiks organisiert. Diese Matrosenbewegung wurde geschlagen und

endete mit Todesurteilen gegen ihre Anführer, die Matrosen Max Reich-

pietsch und Albin Köbis. Vorher hatten die Matrosen versucht, zur Frak-

tion der USPD Verbindung aufzunehmen - natürlich dachten sie nicht

daran, mit der Mehrheitssozialdemokratischen Partei der Ebert und Scheidemann, die die Kriegspolitik der Regierung durch dick und dünn mittrug, zu reden, denn daß die ihnen nicht helfen würde, war von vornherein klar. Aber auch die USPD hatte gegenüber den Matrosen sehr vorsichtig taktiert. Man kann ihr noch nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn die USPD wollte (und das sogar mit einem gewissen

Recht) die Legalität ihrer Organisation aufrechterhalten. Aufgrund dieser Erfahrungen beim Matrosenstreik waren die Berliner Revolutionären Obleute mißtrauisch auch gegenüber der Unabhängigen

Sozialdemokratischen Partei, obwohl diese die Januar-Streiks stärker un-

terstützte, denn sie waren nicht ganz so heikel und gefährlich wie ein

Streik innerhalb der Kriegsflotte, der nun einmal vom Standpunkt des Kriegsrechts aus Meuterei war und gefährlichste Konsequenzen nach sich zog. Die Januar-Streiks in den Betrieben waren nur arbeitsrechtlich ille-

gal, denn es gab ja die »Burgfriedens«-Abkommen der Gewerkschaften mit den Unternehmern, und es gab das Hilfsdienstpflichtgesetz, aber sie

stellten nicht, wie Landesverrat oder Meuterei, kriegsrechtliche Delikte

schwerster Art dar.

Wie kam es zu den Januar-Streiks? Natürlich einerseits durch den Hunger und durch die Bedrückung in den Betrieben sowie die Kenntnis

des Tatbestandes, daß die Unternehmer Riesenprofite machten, während die Arbeiter bei dauernden Überstunden extremster Art (es herrschte praktisch eine 10- bis 12stündige Arbeitszeit) am Hungertuch nagten. Zwar bekamen sie für die Überstunden etwas mehr Geld, aber damit konnten sie nichts anfangen, denn Lebensmittel, Kleidung und Heizstoffe waren rationiert.

Hinzu kam jetzt ein heftiger politischer Konflikt. Die russische Räteregierung hatte sofort Frieden angeboten auf der Grundlage der Forde-

rung: »Frieden ohne jede Annexion«. Die deutsche Regierung hat diese

Wendung in Rußland zunächst dazu benutzt, noch schnell riesige Gebiete zusätzlich zu okkupieren, denn die russische Armee begann sich aufzulösen. Zwar wirkte der russische Umschwung

auch in die deutsche Ar-

160

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußlang

mee partiell hinein,

und

es kam

zwischen

deutschen

und

russischen

Truppen zu Verbrüderungen, aber die wurden durch den Austausch der

betreffenden Fronttruppen rasch beendet. Die deutsche Regierung be. ginnt mit der Sowjetregierung in Brest-Litowsk Friedensverhandlungen,

Die westlichen Alliierten, von der russischen Regierung ebenfalls einge.

laden, weigern

sich teilzunehmen,

weil

sie immer

noch

hoffen,

den

Totalsieg zu erfechten, um dann dem Deutschen Reich ihre imperialisti. schen Bedingungen aufdiktieren zu können (wie es umgekehrt das

Deutsche Reich auch will). So kommt es zu isolierten Verhandlungen zwischen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik

(RSFSR), den Sonderstaaten anderer Nationalität, die sich auf dem Terri-

torium des früheren zaristischen Reiches gebildet hatten, und der deut.

schen Regierung, die nun mit den unverschämtesten annexionistischen

Forderungen auftritt. Sie will halb Rußland schlucken, teilweise durch

unverhüllte Annexionen und teilweise durch die Errichtung vom Deutschen Reich abhängiger Kleinstaaten. Man proklamiert unter deutscher Vorherrschaft einen polnischen Staat, die baltischen Staaten, die Ukraine

usw. und gründet in ihnen vom Reich abhängige oder doch - soweit sie unabhängig von den »Mittelmächten« entstanden waren - bald vom Reich abhängig gewordene Sonderregierungen,

Deutschen gegen die Sowjets vorgehen sollen.

die gemeinsam

mit den

Der russische Vertreter bei den Brest-Litowsker Verhandlungen ist Leo Trotzki, der im Rat der Volkskommissare — also in der russischen Regierung, die vom Räte-Kongreß ernannt und ihm gegenüber rechen-

schaftspflichtig ist - zunächst das Kommissariat für Äußeres innehat. Die Russen wollen natürlich die deutschen Bedingungen nicht akzeptieren —

wie könnten sie es, denn sie waren für sie erdrückend - und verhandeln und verhandeln. Die deutsche Seite tritt immer unverschämter auf und droht, wie der General Hoffmann, einer der Führer der deutschen Delegation, mit Fortsetzung der Kampfhandlungen. Die sowjetische Seite hat

keine adäquate Gegenmacht mehr. In dieser Situation gibt es in der Sowjetregierung eine lange Auseinandersetzung, und Trotzki kommt auf die Idee, die Verhandlungen für beendet zu erklären und den Krieg ohne Vertrag zu beenden. Diese Verhandlungen werden in der deutschen Bevölkerung natürlich diskutiert, und sogar die mehrheitssozialdemokratische Fraktion ist aufgrund der Stimmung in Deutschland gezwungen, gegen die Art der deutschen Verhandlungsführung aufzutreten. Nun sind die Verhandlungen zunächst durch Trotzki beendet, und ein großer Teil der deutschen Arbeiterklasse will der Sowjetregierung helfen und erzwingen, daß der Krieg endlich beendet wird. Das ist der Hintergrund der Januar-Streik-

Der Erste Welrtkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

161

welle 1918 nach den Verhandlungen von Brest-Litowsk. Aber die Ziele der Arbeiter sind nicht die Ziele der Spitzen der Mehrheitssozialdemo-

kraten und der Generalkommission der Gewerkschaften. Die Arbeiter hegen allerdings Illusionen; denn sind nicht - so hatte es den Anschein während dieser Verhandlungen die Mehrheitssozialdemokraten im Reichstag auch wieder kritisch aufgetreten? Also gründet man Ende Januar eine Streikkommission unter Einschluß der Mehrheitssozialdemokraten und der Generalkommission. Die betrieblichen Obleute, die revolutionären Vertrauensleute, die die Bewegung ausgelöst und weithin ge-

führt haben, müssen um dieser, Massenstimmungen willen nachgeben und der Bildung eines solchen gemischten Aktionsausschusses zustimmen, in der als Vertreter der Mehrheitssozialdemokraten auch Friedrich

Ebert sitzt. Ebert hat später in den Prozessen, die er kurz vor seinem Tode führen muß, um sich gegen den Vorwurf des Landesverrats zu wehren, der ihm wegen seiner Beteiligung an den Januar-Ereignissen von den Ultrarechten gemacht wurde, ausgesagt, daß er nur in diese Kommission gegängen sei, um den Streik abzuwürgen und die Arbeiter eben durch Anknüpfungen an ihre Forderungen über seine wirkliche Absicht hin-

wegzutäuschen. Diese Streikbewegung vom Januar 1918 erreicht nur wenige Konzessionen und wird objektiv geschlagen, aber gleichwohl war sie eine der

größten Streikbewegungen Deutschlands. Da sich die geschlagenen Arbeiter betrogen fühlen — betrogen nicht nur durch die Sozialdemokratische Partei, sondern‘ auch durch die Gewerkschaftsführung, die auch in die Streikleitung eingetreten war - breiten sich nun antigewerkschaftliche

Stimmungen

zum

Teil irrationalster Art auch unter diesen revolutionä-

ren Kadern aus, die nur noch auf das Prinzip der Räte setzen. In Anknüp-

fung an die russische Revolution und an die Shop Stewards in England

hatten sich inzwischen solche Arbeiterkommissionen, die sich ad hoc zur

Streikführung oder zur Aufrechterhaltung des Kampfwillens in den Be-

trieben bilden (wie die Revolutionären Obleute in Berlin), umbenannt und begannen sich als Arbeiterräte zu bezeichnen - im Gegensatz zu den institutionellen Betriebsvertretungen, wie sie aufgrund des Hilfsdienstpflichtgesetzes von 1916 geschaffen worden waren.

Die Streikbewegung ist zunächst geschlagen, und noch einmal lodert

in Deutschland nach dem Raubfrieden von Brest-Litowsk und der großen

Offensive im Westen die patriotische Stimmung hoch, wie das in Kriegs-

verläufen nun einmal ist, wenn die eigene Kriegspartei Erfolge hat. Im Osten

marschierten

die

deutschen

Armeen

nach

der

Schlußerklärung

Trotzkis vom 10. Februar 1918 immer weiter vor, und dadurch veränder-

te sich die Haltung der russischen Regierung.

162

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

Es ist interessant, diesen Positionswandel näher zu betrachten. Bis dahin

war der Rat der Volkskommissare keineswegs, wie man es heute oft annimmt,

ausschließlich

eine Vertretung

der bolschewistischen

Partei.

In

den russischen Räteorganen bestand eine Koalitionsregierung zweier Parteien, der Bolschewiki und der Linken Sozialrevolutionäre. Die Linke Sozialrevolutionäre Partei (eine Partei, die sich auf Bauernkader

gestützt

hatte, aber im wesentlichen aus Intellektuellen bestand, die die analphabetischen Bauern vertraten) war in den Brest-Litowsker Friedensverhand-

lungen wie auch nach deren Unterbrechung der Meinung, daß die russische Regierung den Krieg gegen das Deutsche Reich, dessen Truppen

immer weiter auf sowjetisches Gebiet vordrangen, organisieren müsse, Die Linken Sozialrevolutionäre erklärten, sie hätten bisher die Friedens-

forderungen der Massen vertreten, aber jetzt seı das angesichts des Vor. marsches der deutschen Truppen nicht mehr möglich. Man könne eine derartige

schreiben.

Kapitulation,

In der

wie

sie

die

bolschewistischen

Deutschen

Partei

gab

forderten,

nicht

es durchaus

unter-

parallele

Stimmungen, getragen einerseits von der damaligen Gruppe der »Linken

Kommunisten« um Bucharin, andererseits von Trotzki, der ebenfalls nicht kapitulieren wollte. In der Führung der bolschewistischen Partej war Lenin zweimal mit seiner Ansicht überstimmt worden, daß man die erpresserischen deutschen Forderungen notgedrungen akzeptieren müsse,

weil einem machtpolitisch gar nichts anderes übrig bleibe. Man müsse

den Frieden haben, sonst könne man die Massen in Rußland gar nicht weiter mitreißen und die Revolution nicht stabilisieren. Das Problem wird in der sowjetischen Öffentlichkeit lange kontrovers diskutiert; die

Gegner des Friedensschlusses (auch diejenigen innerhalb der bolschewistischen Partei) haben ihre Argumente in eigenen Publikationsorganen

ausführlich dargelegt. Lenin ist wiederholt überstimmt worden, dann erst

bekommt er in der bolschewistischen Partei eine knappe Mehrheit. Das war objektiv für die Existenz der Sowjertmacht auch die einzige Rettung; denn man konnte de facto gar keinen Krieg mehr führen. Daraufhin traten aber die Linken Sozialrevolutionäre aus der Koalitionsregierung aus und begannen den Kampf gegen die Bolschewiki, die Frieden schließen

wollten. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen wurde sogar ein Atten-

tat auf Lenin verübt. So zerbricht die Koalition, und die Sowjetregierung verwandelt sich - gegen die ursprüngliche Absicht der bolschewistischen

Partei - in eine Einparteienregierung. Es ist eine doppelte Legende, einerseits verbreitet in einer langen Periode der Kommunistischen Internationale von kommunistischen Parteien, andererseits auch heute noch ver-

breitet von Führern der Sozialdemokratie wie von bürgerlichen Histori-

kern, die behauptet, daß die Lehre von der Herrschaft der Räte und der

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

163

Diktatur des Proletariats, daß die Theorie des Leninismus gleichzeitig die

Lehre von einer Einparteienherrschaft zentralistischer Art sei. Wohlgemerkt: Lenin und die Bolschewiki waren bis zum Austritt der Linken Sozialrevolutionäre aus der Sowjetregierung 1918 völlig anderer Meinung. Deshalb ist es schlicht falsch, verfahren behauptet wird, daß man, ninist bezeichnet und erwa Mitglied pluralistischen Parteiensystems sei

wenn etwa heute in Berufsverbotswenn man sich als Marxist und Leder DKP ist, deshalb Todfeind eines und aus dem Dienst gejagt werden

müsse. Das Einparteiensystem in Sowjetrußland bahnt sich erst durch die Notwendigkeit der Unterzeichnung des Brest-Litowsker Friedensvertrages an, durch nichts anderes. Da die Sowjetrepublik durch das imperiali-

stische Deutschland zu diesem Frieden gezwungen wurde, wird sie zum Einparteienstaat. Daß nun die Sowjetregierung am 3. März 1918 den Annexionsfrieden übelster Art unterzeichnet, weil sie ihn angesichts der militärischen Lage unterzeichnen muß, trägt natürlich wiederum zu einer vorübergehenden Entmutigung in Deutschland bei. Die deutschen Arbeiter hatten den Januar-Streik 1918 gegen die hysterisch annexionistischen Forderungen der deutschen Regierung als spontane Massenstreikwelle in Berlin, in allen großen deutschen Städten durchgeführt, und sie waren geschlagen wor-

den. Noch war Deutschland nicht reif zum Sieg der Revolution. Aber

wie sollten sie sich jetzt zum Brest-Litowsker Frieden stellen? Die USPD-

Fraktion stimmte im Deutschen Reichstag gegen diesen Vertrag, weil er ein annexionistischer Frieden war, und am Ende mußte auch ein Teil der Mehrheitssozialdemokratie dagegen stimmen, der andere hat sich enthalten. Gleichwohl unterstützen die Mehrheitssozialdemokraten insgesamt den Krieg weiter, der nun dem sicheren Ende zutaumelt.

Mehrere große Offensiven der deutschen Armee im Westen scheitern, und der Krieg schlägt in die Niederlage für das Deutsche Reich um. Nun beginnt natürlich in Deutschland die revolutionäre Bewegung abermals anzusteigen, die geistig an die Restabilisierung der Räteregierung in Rußland anknüpfen kann. Allerdings steht Sowjetrußland von nun an noch

einige Zeit ständig im Bürgerkriege, der von außen noch geschürt wird.

Der Krieg mit den Deutschen war zwar formell beendet, aber die deut-

sche Satelliten-Regierung in der Ukraine (die von den Arbeitern in der Ukraine bekämpft wird), die Entente (durch Landungen in den russischen Häfen des Nordens, später auch des Schwarzen Meeres) und das Deutsche Reich (trotz des Brester Friedens) organisieren alle einen langfristigen Bürger- und Interventionskrieg gegen die Sowjetmacht. Aber die bolschewistische Regierung kann sich halten, weil sie die Arbeitermassen hinter sich hat (sie hat ja den Frieden gewollt und unterschrieben), und

164

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußlang

reißt einen großen Teil der Bauern mit, die in der Revolution zunächst das Land der Großgrundbesitzer erhielten. Diese Stabilisierung in Rußland belebt auch wieder die Stimmungen in der deutschen Arbeiterbewegung; denn eigentlich ist es im späten Som. mer 1918 jedem, der zählen konnte, klar, daß dieser Krieg für das Deutsche

Reich

und

seine

Verbündeten

Österreich-Ungarn,

Bulgarien

und

Türkei total verloren ist. Am 18. Juli 1918 hatte die französisch-englische

Gegenoffensive eingesetzt, und den Deutschen war die Kraft auch rein materialmäßig ausgegangen. Diese Erkenntnis setzt sich in Wellen sowohl in der deutschen Bevölkerung als auch zum Teil in der Armee durch, und die Anti-Kriegsbewegungen wachsen schnell. Wer in dieser Zeit nicht begreift, daß der Krieg verloren ist, das sind die Spitzen der Generalkommission und der Sozialdemokratischen Partei sowie die übri-

gen Parlamentarier des Deutschen Reichstags. Sie glauben - von Zweckillusionen gesteuert - bis zum Oktober noch an den Sieg, halten entsprechende Reden und veröffentlichen in ihren Zeitungen entsprechende Artikel.

Der militärischen Führung hingegen ist bald klar, daß der Krieg verloren ist, und so fordern Hindenburg und Ludendorff (die die Spitze der

Militärdiktatur bildeten, die de factro nach

1916 entstanden war) die

Reichsregierung unter dem Kanzler Hertling zu Friedensverhandlungen auf, um eine später sonst unvermeidliche Kapitulation zu vermeiden. Ei-

ne Voraussetzung dafür ist die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, um eine den Strukturen der Westmächte parallele politische Struktur zu bekommen, und die Neubildung einer Regierung, die das glaubhaft vertreten kann. Wohlgemerkt, Hindenburg und Ludendorff, bisher die extremsten Annexionisten, drängen die kaiserliche Regierung zur sofortigen Einleitung von Friedensverhandlungen auf der Grundlage des Prinzips: »Keine Annexionen!« Sie glauben, damit durchzukommen, denn

deutsche Truppen halten immer noch Teile Belgiens und Frankreichs besetzt, so daß die Heeresleitung noch einen Verhandlungsgegenstand in der Hand zu haben schien. Die Regierung wird Anfang Oktober 1918 diesen Forderungen entsprechend umgebildet, und in die neue Reichsregierung unter dem Reichskanzler Prinz Max von Baden tritt die Mehrheitssozialdemokratie — wie das Ludendorff gefordert hatte — mit zwei Staatssekretären (Philipp Scheidemann und Gustav Bauer) ein. Die Gewerkschaftsführung verhält sich entsprechend und fühlt sich vor allem durch Gustav Bauer in der Regierung repräsentiert. Die Verbandsführungen der Industriellen - auch diejenigen, die gegenüber den Arbeitern und den Gewerkschaften am wenigsten flexibel waren, wie die Vertreter von Bergbau und Stahl — begreifen jetzt, daß sie Konzessionen machen müs-

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

165

sen. Sie streben ein generelles Arbeitsgemeinschaftsabkommen mit den Gewerkschaften an, um sich durch kleinere Konzessionen vor einer möglichen revolutionären Umwälzung und einer Sozialisierung als deren

möglichem Ergebnis zu schützen. Was dieses Kabinett des Prinz Max von Baden natürlich nicht will — es ist Ja als Kompromißkabinett auf Befehl der Obersten Heeresleitung zum Zweck der Revolutionsverhinderung geschaffen worden -, ist eine ernsthafte innenpolitische Umgestaltung. Was es will, ist die Bewahrung der Gewinne und der Machtstellung für die Unternehmer. Konzessionen an das westliche Ausland muß man notgedrungen ins Auge fassen. Auch Konzessionen in der politischen Struktur des Reiches muß man machen - es bleibt nichts anderes übrig. Aber man will um Gottes willen keine parlamentarische Republik, sondern eine parlamentarische Monarchie, die eine Sicherung gegen eventuell nach links wandernde

Mehrhei-

ten bieten kann. Es wird schon vorher, im August 1918, eine Revision

des Reichstagswahlrechts angeboten in Richtung auf partielle, keineswegs generelle Einführung des Verhältniswahlrechts. Dabei stößt die USPD mit der Frage des Frauenwahlrechts vor (das in Rußland gerade durch die Revolution durchgesetzt worden ist). Alle bürgerlichen Parteien und die Reichsregierung weigern sich. Ihrer Meinung nach gehören die Frauen, die jetzt im Krieg zwar vorübergehend an der Drehbank stehen, danach wieder an den Kochtopf. Ausnahmslos alle bürgerlichen Parteien lehnen das Frauenwahlrecht ab. Nur die MSPD sieht sich unter dem Druck der veränderten Massenstimmungen gezwungen, diesem Antrag der USPD-

Fraktion — den selbst zu stellen, sie vorher in einer Fraktionssitzung abgelehnt hat, weil das ja die Verhandlungen mit der Regierung stören

würde — zuzustimmen.

Das ändert nichts an der Kooperationswilligkeit der MSPD-Führung

in der kaiserlichen Regierung. Dies wird auch daran deutlich, daß sie noch unmittelbar vor der Revolution bei einem Schandstück sondergleichen ihre Mitwirkung nicht verweigert. Da den Behörden bekannt war,

daß die Massen nun das sofortige Ende des Krieges und die Revolution wollen, das Ende des monarchischen Systems und nicht seine Ausstaffierung mit einigen parlamentarisierenden Fassaden, will die Reichsregierung des Prinz Max von Baden die diplomatischen Beziehungen mit So-

wjetrußland abbrechen, deren unterstützenden Einfluß auf die revolutio-

näre Stimmung in Deutschland sie befürchtet. Um dazu einen Vorwand

zu haben, hat noch in den ersten Novembertagen 1918, unmittelbar vor

dem Siege der Revolution, die politische Polizei in das Gepäck eines Kuriers der sowjetischen Botschaft revolutionäre Schriften zur Verteilung in Deutschland hineingeschmuggelt und dann dieses Paket platzen lassen.

166

Wegen

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) und die Revolution in Rußland

»Einmischung

in die inneren

Angelegenheiten

Deutschlands«

wurden die Beziehungen zu Sowjetrußland abgebrochen - mit Zustimmung des damaligen Staatssekretärs Philipp Scheidemann (MSPD). Aber auch das konnte nichts mehr retten und die Revolution nicht mehr verhindern.

167

16.

Die Novemberrevolution

1918

Die Arbeiter sind mit den halben Zugeständnissen der Regierung nicht

zufrieden. Sie wollen den sofortigen Frieden und die sofortige Beseitigung des monarchischen Systems und der Vorherrschaft der Großindustrie, die den Krieg angezettelt haben.

Es wächst die revolutionäre Stim-

mung überall in den Massen. Ab Ende Oktober bricht wieder eine Mas-

senmeuterei

in

der Marine

(in

Kiel

und

Wilhelmshaven)

aus,

die

am

3. November in Kiel in den bewaffneten Aufstand übergeht und der Massenstreikbewegungen folgen. In einer Stadt nach der anderen übernimmt

die Arbeiterklasse, jetzt repräsentiert durch Räte, die Macht — aber zu-

nächst nur auf lokaler Ebene. Überall, wo so etwas geschieht, passen sich die Mehrheitssozialdemokratie und die Gewerkschaftsführung an, und die Arbeiter nehmen sie sofort mit offenen Armen wieder auf. Sie akzeptieren sie trotz der Erfahrungen des Januar 1918, weil sie sich sagen: Die

haben die gleichen Illusionen — nur länger - gehabt, die wir auch im Au-

gust 1914 hatten (und damit hatten ja die Arbeiter recht). Vielleicht bessern sich die Mehrheitssozialdemokraten noch, nehmen wir sie also mit an die Macht. Typisch für das Verhalten der MSPD sind die Ereignisse in München. Da organisiert die USPD unter Kurt Eisner am 7. November eine Massenkundgebung mit dem Zweck, die Monarchie zu stürzen. Die MSPD-

Führung macht eine Parallelkundgebung zu dem Zweck, es nicht zum Sturz der Monarchie

und

etwa zu einer Revolution

kommen

zu lassen,

sondern die Arbeiter auf Reformen zu vertrösten. Die Massen kommen zu beiden Kundgebungen, und trotz aller Reden vorher marschieren sie

dann gemeinsam in die Stadt und stürzen König und Regierung. Sofort ist die Mehrheitssozialdemokratie wieder präsent, verweist auf ihre Mitwir-

kung, tritt in den provisorischen Nationalrat ein und bildet gemeinsam mit der USPD unter Eisner die neue Landesregierung. So läuft das zwischen dem 4. und 9. November in vielen deutschen Städten, schließlich auch in Berlin. Am Morgen des 9. November 1918 —die Revolutionären Obleute hatten mehrmals den Termin verschoben, an dem der Generalstreik ausbrechen sollte, weil sie sicher sein wollten, daß

auch die Garnison sich anschließt und daß es nicht zu einem Kampf zwischen Soldaten und Arbeitermassen kommt - proklamieren die Revolu-

168

Die Novemberrevolution 1918

tionären Obleute und der Spartakusbund gemeinsam den Massenstreik und den Aufstand. Am gleichen Morgen erklärt Friedrich Ebert, der in dieser Situation von Max von Baden als Nachfolger im Reichskanzleramt vorgeschlagen wird (um vielleicht mit Hilfe der Sozialdemokratischen Partei die Revolution noch verhindern und die Monarchie noch retten zu können), im sozialdemokratischen Parteivorstand, daß unter keinen Umständen die Forderung nach der demokratischen Republik gestellt werden dürfe, denn

das bedeute

freie Bahn

für den Bolschewismus.

Die

MSPD bleibe bei der konstitutionellen Monarchie, denn sie wolle legale Bewegungen zur Verbesserung der Lage. Außerdem dürfe man der Entente nicht das Schauspiel innerdeutscher Gegensätze vorspielen. Und am

gleichen 9. November 1918 erscheint morgens noch die Zeitschrift der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands mit einem Arti-

kel gegen revolutionäre Umtriebe — gleichsam ein letzter Versuch, die

beginnende Revolution noch zu stoppen.‘ An diesem 9. November 1918

marschieren nun die Arbeiter aus den Berliner Metallbetrieben ins Stadt-

zentrum, die Garnison schließt sich an - und die Monarchie ist gestürzt.

Unmittelbar vor der Proklamation der Republik und dem Beschluß über die Bildung des »Rats der Volksbeauftragten« war es in der sozial-

demokratischen Führung noch zu einer schweren Auseinandersetzung

gekommen. Friedrich Ebert wollte am illegalen Akt der Proklamation der Republik nicht mitwirken und machte Philipp Scheidemann, der so-

fort umschwenkte, schwerste Vorwürfe — wie wir aus den Erinnerungen

Scheidemanns” wissen.

Die USPD hatte der MSPD-Reichstagsfraktion angeboten, rasch gemeinsam eine Übergangsregierung, gestützt auf die Räte, zu bilden — mit

dem

Ziel, eine Nationalversammlung

wählen

zu lassen, aber vor der

Wahl der Nationalversammlung die entscheidenden Großunternehmen zu sozialisieren. Die Spartakusgruppe, die in bezug auf die Sozialisierung ein ähnliches Ziel verfolgt, will aber nicht in diese Übergangsregierung mit der MSPD eintreten. Friedrich Ebert erklärt noch bei der Beratung

dieses USPD-Vorschlags, daß er das nicht vor seinem Gewissen verant-

worten könne. Erst von der Obersten Heeresleitung - damals unter General Groener, Ludendorff war inzwischen gegangen - läßt er sich umstimmen, Denn zu retten war nun die Monarchie wirklich nicht mehr, und Philipp Scheidemann proklamiert vor den demonstrierenden Massen vom Reichstagsgebäude aus die »freie deutsche Republik«, während Friedrich Ebert drinnen (Scheidemann schildert das in seinen Memoiren 1

2

Vgl. »Zur Sicherung der Demokratie in Deutschland«, in: Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands vom 9. November 1918.

Vel. Philipp Scheidemann: Erinnerungen eines Sozialdemokraten, Dresden 1930.

Die Novemberrevolution 1918

169

aunßerordentlich eindrucksvoll) immer noch jammert: Das darf man doch nicht tun! —- Fast gleichzeitig ruft Karl Liebknecht vom Balkon des Berli-

ner Schlosses die »freie sozialistische Republik Deutschland« aus. Die Novemberrevolution

1918 wurde nur von der deutschen Arbei-

terbewegung getragen und zwar als spontaner Akt, keineswegs als organisationsdirigierte Aktion. Wir haben gesehen, daß die Spitzen sowohl der Gewerkschaftsbewegung als auch der Mehrheitssozialdemokratie sich mit allen Mitteln, solange sie konnten, gegen die Revolution stemmten und erst in den Revolutionsprozeß einstiegen, als die Revolution bereits gesiegt hatte. Ich erinnere daran, daß die Burgfriedensaufrufe weitergin-

gen und die Gewerkschaftsspitzen am 15. November ein Arbeitsgemeinschaftsabkommen mit den Unternehmerverbänden (»Legien-Stinnes-Abkommen«) abschließen und daß die Mehrheitssozialdemokratie noch am Morgen

des 9. November

hofft, die Revolution

abwenden zu können,

dann aber erstaunt feststellt, daß sie plötzlich da ist. Wen hatten die Arbeiter als Repräsentanten? Zunächst die Arbeiterräte, die sie in den großen Betrieben gebildet hatten, und die Soldatenräte, die in den Kasernen gewählt worden waren. An eine Wiedereinberufung

des alten Reichstags war natürlich nicht mehr zu denken, und was kom-

men würde, blieb offen. Nun existierten zwar Betriebsräte und Soldaten-

räte und übten formell die Macht aus (sie fühlten sich auch im Bewußtsein der Macht), und die Berliner Betriebs- und Soldatenräte schufen einen Vollzugsrat - eine Kombination aller Räte des Reichs bestand noch nicht —, aber andererseits hatte die Revolution zwei Dinge unberührt ge-

lassen: das Funktionieren der Beamtenapparate der Monarchie auf der einen Seite, das Funktionieren des Offizierskorps in der Armee (keineswegs

der Armee insgesamt) auf der anderen Seite. Das Hauptquartier, die Oberste Heeresleitung, als Kommandostelle dieser Armee blieb bestehen. Es war vorher insofern transformiert worden, als Ludendorff - durchaus

freiwillig — die Leitung niedergelegt hatte (Hindenburg als Schutzschild und populärster Mann war geblieben) und an Ludendorffs Stelle ein etwas gelenkigerer und innenpolitisch klügerer Offizier, GenerahGroener, getreten war. Dieses Hauptquartier hatte — für die damaligen Verhältnisse typisch — eine telefonische Geheimverbindung zum Reichskanzlerpalais. Dort thronte Friedrich Ebert, und er behielt diese Telefonverbindung bei, von deren Existenz er noch nicht einmal seine Kollegen im Rat der Volksbeauftragten informierte - auch dieser Tatbestand ist erst in den späteren Prozessen Eberts (Ebert wurde in der Weimarer Republik als Reichspräsident von ultrarechter Seite des Landesverrats bezichtigt und klagte dagegen) bekannt geworden. So entstand die groteske Situation ım Rat der Volksbeauftragten, der neuen Regierung (einer Koalitionsregie-

170

Die Novemberrevolution 1918

rung aus MSPD und USPD), daß sich Ebert sozusagen zum Regierungschef machte, der die übrigen Volksbeauftragten noch nicht einmal über das, was er tat, informierte, sondern heimlich mit der Obersten Heeres-

leitung zum Zwecke der Eindämmung der Revolution zusammenarbeitete.

Die Armee mußte zwar demobilisiert werden — die Kapitulationsverhandlungen, die schon vorher eingeleitet worden waren, führten erst am

11. November zum formellen Abschluß des Waffenstillstands (die Ver-

handlungen hatte noch eine Delegation des alten Systems, mit Erzberger

an der Spitze, geführt) -, aber noch bestanden die alten Armee-Einheiten, noch bestand in einem großen Teil der alten Armee die Autorität der Offiziere, vor allen Dingen

der Front-Offiziere.

Die Fronttruppen

mar-

schierten jetzt in das Reich zurück. Nach dem Waffenstillstand begannen sie sich — soweit sie aus eingezogenen Soldaten bestanden — aufzulösen. Die Soldaten gingen nach Hause, sobald sie irgend konnten. Was übrig blieb, waren aber die Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere, die durch-

aus noch im Sinne monarchistischer und reaktionärer Ideologie funktio-

nierten und bereit waren, sıch jederzeit gegen das, was sie für Revolution hielten, einsetzen zu lassen. Das wußte die Oberste Heeresleitung natürlich, und im Besitz dieses Machtinstruments kooperierte sie mit den Führern der Mehrheitssozialdemokratie, die glaubten, sich dieses Instruments bald bedienen zu müssen. Auch der Beamtenapparat blieb unangetastet. Dem Rat der Volksbeauftragten wurde von vornherein ein Ausschuß von früheren Staatssekretären zugeordnet, der an der Spitze der einzelnen Verwaltungsabteilun-

gen stand, so daß die Volksbeauftragten nur als politisches Führungsor-

gan darüber schwebten, ohne die Verwaltung letztlich kontrollieren zu können. Der Beamtenapparat, der bestehen blieb, paßte sich zum kleineren Teil (dies gilt für die unteren Beamten bei der Post, der Eisenbahn, im Schuldienst) an den Tatbestand der Revolution an. Bei den Volks-

schullehrern hatte es eine lange linksliberale Tradition gegeben, und die wirkte sich jetzt zum Teil positiv aus. Anders war es bei den Lehrern der höheren Schulen mit der alten reaktionären Universitätserziehung, die

sich als obere Beamte fühlten und entsprechend reagierten. Sie blieben, was sie immer gewesen waren, Anhänger des Alldeutschen Flügels, des

rechtsradikalsten Flügels innerhalb des imperialistischen Lagers, und Feinde von Revolution und Republik. Und so dachten die meisten höheren Beamten in Justiz und Administration, die auch nach der Revolution

in ihren Funktionen blieben.

Die Arbeiter, unerfahren wie sie waren, jetzt in Arbeiter- und Soldatenräten organisiert, übersahen zum großen Teil solche Probleme, weil

Die Novemberrevolution 1918

171

niemand da war, der sie führen konnte. Sie fühlten sich als Inhaber der

Macht und waren mehrheitlich der Überzeugung, daß unter Beibehaltung der starken Stellung der Arbeiter- und Soldatenräte eine Nationalversammlung gewählt werden sollte, die eine Verfassung ausarbeitet und

ein normales bürgerlich-parlamentarisches Parteienwesen erlaubt, in dem die Arbeitermassen doch die entscheidenden Funktionen behalten würden, um die Entwicklung zu einer fortschrittlichen Demokratie voranzutreiben. Das war auch die Position der Arbeiterparteien: einerseits der MSPD (die bis zuletzt den Krieg unterstützt hatte), andererseits der USPD,

die nun relativ stark war, deren Führung aber glaubte, an solche

Kompromißkonzeptionen (Räte und Nationalversammlung) anknüpfen und die Entwicklung weitertreiben zu können. Leider hatte die Links-

gruppe, die innerhalb dieser Unabhängigen Sozialdemokratie stand und

sich als »Spartakusbund« organisiert hatte (nur eine linke Randgruppe stand außerhalb der USPD, die Bremer Linke), sich von vornherein ent-

schieden, bei der Bildung des Rats der Volksbeauftragten nicht mitzuwirken. Sie verlor dadurch jede Kontrollmöglichkeit in der Regierung. Man mag darüber streiten, ob diese Entscheidung richtig oder falsch war; sie war nun einmal so gefallen.

Die Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Deutschland waren durch eine merkwürdige Zusammensetzung charakterisiert. Die zurückkehrenden Soldaten der sich auflösenden Armee wählten als Mitglieder der Solda-

tenräte meist Mehrheitssozialdemokraten und fühlten sich der Mehrheitssozialdemokratie verpflichtet. Soziologisch läßt sich das relativ einfach erklären: Sie hatten die ganze Zeit an den Fronten gestanden und ınfolgedessen an den inneren Auseinandersetzungen der deutschen Arbeiterbewegung nicht teilgenommen. Sie standen im Banne der Vorstellung, daß sich im August 1914 alle geirrt hatten - die Spitzen der Sozialdemokratie wie

sie selbst auch.

So

dachte

der normale

Arbeitersoldat,

eben

weil er sich im Grunde 1914 genauso verhalten hatte, und er glaubt, daß die Mehrheitssozialdemokraten ebenso hinzugelernt hätten wie er selbst.

Daher die wunderlich widerspruchsvollen Beschlüsse des Ersten Allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, der vom 16.-21. Dezember 1918 in Berlin tagte und die Wahlen zu einer Nationalversammlung

beschloß, die ihn selbst entmachteten. Die Zusammenset-

zung des Kongresses (291 MSPD; 90 USPD, davon 10 in der Spartakusgruppe; insgesamt 489 Delegierte) zeigte, daß die meisten Angehörigen

der Soldatenräte Mehrheitssozialdemokraten wählten und sich als Mehrheitssozialdemokraten fühlten. In den Betrieben war dies teilweise anders. Bei den Arbeiterräten gab es breitere kritische Stimmungen. Dort waren also die Fraktionen der Unabhängigen Sozialdemokraten wesent-

172

Die Novemberrevolution 1918

lich stärker. Aber wegen des Übergewichts der Delegierten der Soldaten-

räte im Reichsrätekongreß war eine sehr starke Majorität der MSPD von

vornherein gesichert. Zu den Organisationen, in die sie zurückkehrten, faßten die Arbeiter wieder Vertrauen. Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften stiegen ge-

waltig an (die freien Gewerkschaften zählen 1919 über 6 Mio. und 1920 fast 8,5 Mio. Mitglieder gegenüber rund 2,5 Mio. 1914), auch die der sozialdemokratischen Parteiorganisationen, denn die Soldaten, die zurück-

kamen, aktivierten ihr politisches Verhalten aus der Vorkriegszeit und traten wieder ihren Organisationen bei, wobei viele der langjährig Organisierten zur USPD gingen.

Auch in den Ländern des Deutschen Reiches hatten sich parallel zu der früheren Verwaltung nach dem Davonjagen der regierenden Fürstenhäuser überall Landesregierungen gebildet, die ebenfalls aıs Koalitio-

nen der MSPD und USPD bestanden, unter ähnlicher Fundierung in Arbeiter- und Soldatenräten, die die politische Macht innezuhaben glaubten,

sie faktisch aber nicht hatten, denn die alte Verwaltung blieb weiter bestehen. Die machte was sie wollte, und weder die Landesregierungen noch die Arbeiter- und Soldatenräte hatten eine ausreichende Kontrolle

über das, was die administrativen Apparate der alten Beamtenschaft taten. Andererseits waren sich die Arbeiter und Soldaten, die in den Arbei-

ter- und Soldatenräten repräsentiert waren, darüber klar, daß erstens

Schluß sein mußte mit der Monarchie. Zweitens mußte Schluß sein mit

den früheren Verwaltungsapparaten, drittens mit der alten Armee. Viertens wollten sie in der übergroßen Mehrheit den Übergang zu einer sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, denn ihnen war durchaus bewußt, daß der imperialistische Krieg durch die Kapitalistenklasse, die großen Konzerne und Banken herbeigeführt worden war und

daß die Annexionsforderungen durch sie getragen worden waren. Aber über die einzelnen Formen des Übergangs zum Sozialismus war man sich

durchaus nicht klar; denn man hatte ja noch keine unmittelbaren Erfahrungen. Man wußte nur, daß zumindest die großen Konzerne, die

Grundstoffindustrien und die Banken enteignet und vergesellschaftet werden müßten. Diese Stimmung war überall verbreitet, sie ergriff damals auch einen großen Teil der ehemaligen unteren Mittelschichten, Über die konkreten Schritte zur Überführung der wichtigsten Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum bestanden allerdings nirgends

klare Vorstellungen. Infolgedessen bestand auch keine klare Vorstellung

darüber, wie denn nun die politische Form des Reiches aussehen solle. Um diesen Mangel zu klären, ist ein kurzer Rückblick auf die politi-

Die Novemberrevolution 1918

173

schen Vorstellungen der verschiedenen Richtungen der sozialdemokratischen

Partei notwendig. Wir dürfen nicht vergessen, daß bei der Kapitulation der Sozialdemokratie vor dem Krieg, im August

1914, die große Mehr-

heit dieser Partei sich noch für durchaus marxistisch gehalten hatte —auch die Mehrheit der Führung. Die führende Gruppe im Parteivorstand

war auch nach Bebels Tod 1913 nicht die Revisionisten-Gruppe um Bern-

stein gewesen. Ebert, Scheidemann und ihre Gesinnungsgenossen, diese neue

Generation

der

Parteibürokraten,

die jetzt

aufgerückt

war,

hatte

auch in der eigenen Vorstellungsweise noch durchaus am Erfurter Programm festhalten wollen und sich dadurch von den Revisionisten unterschieden - mindestens bis 1913/14. Sie hatten sich dann bei ihrer Kapitu-

lation 1914 die merkwürdigsten Rechtfertigungsideologien gebildet. Sie waren darin partiell den Argumentationen des marxistischen Zentrums gefolgt, wie es vor dem Krieg bestanden hatte. Als die Partei das Erfurter Programm formulierte, war sie sich durchaus darüber klar gewesen, daß

man im Parteiprogramm manche Fragen aus Legalitätsgründen nicht klar aussprechen

dürfe,

z.B. den Tatbestand,

daß

man

die Monarchie

nur

durch einen gewaltsamen Akt der Arbeiterklasse, durch eine Revolution

beseitigen könne. Hätte man das deutlich ausgesprochen, so hätte dies die

sofortige Reillegalisierung der Partei bedeutet. Aber man war sich selbst durchaus über diesen Zusammenhang klar. Das zeigte sich übrigens auch in der Theoriebildung der Partei relativ deutlich. Zwar hatte es in allen möglichen Einzelfragen stets gewisse Differenzen unter den marxistischen Theoretikern gegeben, z.B. auch hinsichtlich der Erklärungsmöglichkeiten dafür, wie es eigentlich zu der Transformation des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den monopo-

listischen Kapitalismus gekommen sei, der seit den 90er Jahren immer

stärker hervortrat (auch die neuen Industrien — Elektroindustrie, chemi-

sche Industrie — wurden jetzt allesamt unter der Vorherrschaft großer Konzerne gebildet, also anders, als sich die Industrialisierung etwa noch

in den 70er Jahren vollzogen hatte), aber darüber, welche Bedeutung die-

ser Übergang vom liberalen zum monopolistischen Kapitalismus - ökonomisch und politisch - hatte, gab es nur Ansätze von Vorstellungen.

Untersucht man den zweiten und dritten Band des »Kapital« daraufhin, oder etwa die »Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie« (die

aber nur im Manuskript vorlagen und damals noch nicht veröffentlicht waren), so finden sich durchaus klare Vorstellungen darüber. Aber diese waren im ersten Band des »Kapital« - und nur der war von Teilen der Parteimitgliedschaft voll rezipiert und begriffen worden (weil er ja bereits 1867 publiziert worden war) - nicht weiter ausgeführt worden. Daher gab es über die Einschätzung des Monopolkapitalismus und des Imperialis-

174

Die Novemberrevolution 1918

mus große Debatten zwischen Rosa Luxemburg auf der einen und Rudolf

Hilferding auf der anderen Seite sowie zwischen diesen beiden und dem, was man später marxistisches Zentrum (um Karl Kautsky) nannte. Es gab

unter anderem in der Frage verschiedene Auffassungen, ob dieser Über.

gang zum Monopolkapitalismus die unmittelbare Ursache dafür sei, daß das Reich zu einer imperialistischen Außen- und Aufrüstungspolitik

übergegangen war. Das Reich, das sich 1871 gründete, hatte ja zunächst

noch keine Kolonien und hatte sie auch gar nicht haben wollen, genau-

sowenig wie territoriale Auseinandersetzungen mit anderen Mächten über die Angliederung von Elsaß-Lothringen hinaus. Über all das war in der Sozialdemokratie diskutiert worden. Aber bis die Massenstreikauseinandersetzungen akut werden, bis die Kontroverse um das Begreifen der russischen Revolution von 1905 das Gelände verändert, waren diese Debatten abstrakte wissenschaftliche Diskussionen geblieben. Sie hatten allerdings bewirkt, daßzu all diesen Fragen die marxistische Wissenschaft

und die »Neue Zeit« sehr viel mehr beitrugen als die gesamte bürgerliche Wissenschaft, in der nur der englische Liberale J. A. Hobson Ansätze zur Erklärung der neuen Phänomene formuliert hatte.” Aber aus diesen Diskussionen hatten sich noch keine scharfen politischen Differenzierungen und Gegensätze entwickelt. Das war nach der russischen Revolution von 1905, nach der Massenstreikdebatte und beim

Bergarbeiterstreik von 1905 teilweise anders geworden, denn der Parteiapparat hatte jetzt begonnen, vorsichtiger zu operieren und den Mar-

xismus in eine abstrakte Prognose zu transformieren, ihn aus einer Handlungsanweisung in eine bloße Erwartungsideologie umzuformen. Dieser Wandlung hat sich übrigens Kautsky, der Haupttheoretiker des marxistischen Zentrums, relativ spät, erst evrwa ab 1909/10 angeschlossen. Vorher stimmt er weitgehend mit den Positionen der marxistischen Linken überein. Dies wird nun anders, und Kautsky verwandelt sich, wie vorher

Bernstein, ın jemanden, der im Grunde lediglich auf das Eintreten objektiver historischer Prozesse wartet, wobei er die subjektive Rolle der Ar-

beiterklasse als revolutionär handelnde Klasse nicht mehr als entscheidendes Merkmal berücksichtigt. So war es jetzt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu dem merkwürdigen Phänomen gekommen, daß — weil ja ein Teil des marxistischen Zentrums um Kautsky und ein Teil sogar der Revisionisten, wie Eduard 3

Vgl. John A. Hobson: Der Imperialismus, Köln 1968 (zuerst erschienen 1902). - Auf dieses Werk und auf Hilferdings »Finanzkapital« stützte sich Lenin bei der Entwicklung seiner Imperialismus-Theorie (vgl. W.I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: W.I. Lenin: Werke [künftig zitiert: Lenin-Werke], Bd. 22, Berlin

7. Aufl. 1988).

Die Novemberrevolution 1918

175

Bernstein, die moralische Totalkapitulation des August 1914 nicht gänzlich mitvollzogen hatten - sowohl

in der MSPD

(die immer

noch be-

hauptete, ihre Theorie aus dem Erfurter Programm zu beziehen) als auch in der USPD (der ja jetzt Eduard Bernstein und Karl Kautsky angehören) mehrere Tendenzen nebeneinander liefen: eine bloße Erwartungstendenz

hinsichtlich der Entwicklung zum Sozialismus (schwächer bei Bernstein,

aber stärker bei Kautsky) und eine aktivistische Tendenz, die die Vorstellungsreihe der marxistischen Linken repräsentierte und hervorhob, daß nur durch die Eroberung der politischen Macht seitens der Arbeiterklasse

die Entwicklung zum Sozialismus weitergetrieben werden könne. So waren beide Parteien, die jetzt im Rat der Volksbeauftragten saßen,

auch noch in sich gespalten. Die USPD, die drei Volksbeauftragte stellte, war alles andere als eine einheitliche Partei. Da standen Haase, Bernstein

und Kautsky (Bernstein trat allerdings bald darauf zur Mehrheitssozialdemokratie über) mit der Meinung, daß der Rat der Volksbeauftragten einen langsamen Transformationsprozeß einleiten müsse und auf keinen

Fall irgendwelche aktivistischen Abenteuer machen dürfe. Da standen

auf der anderen Seite die Revolutionären Obleute, der aktivistisch-spon-

taneistische Flügel dieser USPD, der unmittelbar vorher den Revoluti-

onsprozeß gefördert und organisiert hatte und der in den Berliner Betrieben verankert war. Da standen ferner die Spartakus-Leute, die auch immer noch Mitglied der USPD waren, aber klarer sahen und wußten, daß

sie den Sozialismus nicht geschenkt bekamen —- schon gar nicht durch Nationalversammlungswahlen. Sie wollten die politische Macht der Arbeiterklasse, die durch die Revolution erobert worden war, erhalten. Wer hatte denn schließlich die Monarchie gestürzt, und zwar gegen den Wil-

len aller Apparate? Das waren die aktiv handelnden Arbeitermassen, die jetzt zu weiteren offensiven Aktionen organisiert werden müßten — mit

dem unmittelbaren Ziel der Verwandlung des Deutschen Reiches nicht ın

eine parlamentarische Demokratie nach altem Muster (wie sich das die Sozialdemokratie vor 1914 vorgestellt hatte, übrigens auch der revolutio-

näre Flügel der Sozialdemokratie), sondern in eine »Diktatur des Proleta-

riats«, die die Staatsmacht ergreift und transformiert, um möglichst rasch

die großen Industrien und die Banken in öffentliches Eigentum zu überführen und eine sozialistische Planwirtschaft zu organisieren. Das war der Gegensatz in der USPD selbst, der stets deutlich hervortrat, ein Gegensatz, den es in anderen Formen merkwürdigerweise auch in der MSPD gab. Die Arbeitermassen hatten die Monarchie gegen den erklärten Willen der Führung der Mehrheitssozialdemokratie beseitigt und die Republik errichtet; sie hatten die Führung der Mehrheitssozialdemokratie sozusagen gegen deren eigenen Willen gezwungen, im Rat der

176

Die Novemberrevolution 1918

Volksbeauftragten mitzuarbeiten.

Und

nun strömten die Soldaten von

der Front zurück, die vor 1914 gewohnt waren (soweit es sich um Industriearbeiter handelte), für die Sozialdemokratie zu stimmen, zu agieren und

in, ihren

Reihen

schaftsbewegung.

Sie

zu

kämpfen

glauben

an

sowie

einen

für

die

einheitliche

politischen

Gewerk.

Lernprozeß

der

MSPD-Führung, und so kehren sie in die Mehrheitssozialdemokratische Partei zurück. Daher wird, obwohl in Wirklichkeit der Sieg der Revolu-

tion eine totale Niederlage der mehrheitssozialdemokratischen Führung gewesen war, diese MSPD gleichwohl wieder die weitaus stärkste Partei. Die Arbeiter, die den Sozialismus wollen, wollen auch die Einheit der Arbeiterpartei. Also gehen sie zurück in die Mehrheitssozialdemokratie oder versuchen, auch in der USPD dieses Einheitsbewußtsein zu fördern. Trotzdem spitzten sich die Gegensätze zwischen den Arbeitergruppen

bald wieder zu, denn der rechte Flügel der Mehrheitssozialdemokraten

unternahm bereits Vorstöße gegen die Linken. Als die ersten Truppen von der Front nach Berlin zurückkamen, versuchten am 6. Dezember 1918 rechte Unteroffiziere und Offiziere mit Duldung des mehrheitssozialdemokratischen Stadtkommandanten von Berlin, Otto Wels, einen Putsch gegen den Rat der Volksbeauftragten mit dem Ziel, Friedrich Ebert als Reichspräsidenten, sozusagen als Monarchie-Statthalter, einzu-

setzen. Gleichzeitig verhafteten sie den Vollzugsrat der Arbeiter- und

Soldatenräte. Dieser Putsch ging schief, denn so etwas wollten die Arbei-

ter nicht tionären Vorstoß Linken,

dulden. Am gleichen Tag konnten Truppen schon leisten, eine linke des rechten Flügels - die der »Rote dem Revolutionäre Obleute und

es sich aber die konterrevoluDemonstration gegen diesen Soldatenbund« der äußersten Spartakus-Mitglieder angehö-

ren, organisierte - in den Straßen von Berlin zusammenzuschießen, wo-

bei 14 Arbeiter getötet und zahlreiche schwer verletzt wurden. Die relativ starke Stellung der MSPD resultiert auch daraus, daß zu dieser Zeit nur die Mehrheitssozialdemokratie eine einigermaßen einheitliche Organisation zur Verfügung hat. Dies ist bei der USPD nicht der

Fall; sie kann keinen einheitlichen Willen bilden, da sie verschiedene

Richtungen und Strömungen umfaßt. Vor allen Dingen haben die freien Gewerkschaften intakte Apparate zur Verfügung, aber die Spitze dieser Gewerkschaften vertritt durchaus die kompromißhaftesten Vorstellun-

gen und schließt noch nach der Revolution, am 15. November,

das be-

rühmte Arbeitsgemeinschaftsabkommen mit den Unternehmern, dessen

wirklicher Sinn war, die Sozialisierung zu verhindern, die in den Wahl-

programmen für die Nationalversammlungswahlen nicht nur von der USPD, sondern groteskerweise auch von der Mehrheitssozialdemokratie

als sofortiger Akt gefordert wird. Selbst die beiden großen bürgerlichen

Die Novemberrevolution 1918

177

Parteien, die das Ende des Krieges und den Sturz der Monarchie akzeptieren wollen, das katholische Zentrum

und die linksliberale Deutsche

Demokratische Partei, die dann in der Nationalversammlung die stärksten bürgerlichen Fraktionen stellen, fordern in ihren Programmen und

Wahlaufrufen die Vergesellschaftung mindestens des Bergbaus und der Stahlproduktion sowie eines Teils der Banken. So laufen die politischen Vorstellungen in diesen Wochen durcheinander, und es entscheiden die Fakten! Die Fakten werden aber durch die Dezember-Vorstöße geschaffen und durch den Ersten Reichsrätekongreß akklamiert, der sich mit der Datierung der Nationalversammlungswahlen einverstanden erklärt, aber im übrigen doch wichtige Positionen der Räte beibehalten will. Das aber auch in widerspruchsvoller Weise. So soll bei

der Auflösung der Armee die entscheidende Stellung der Soldatenräte gewahrt werden (sie wird dann sofort nach diesem Beschluß durch die Oberste

ebenso

Heeresleitung

im

Zusammenwirken

sollten die kommunalpolitischen

mit

Ebert

Positionen

beseitigt),

und

der Arbeiter- und

Soldatenräte bewahrt werden, ganz abgesehen von der Extension der Be-

triebsräterechte, die der Kongreß forderte. So läuft in der Vorstellungswelt der Massen alles durcheinander. Sie haben zwar Ziele, aber kein handlungsfähiges Zentrum und keine klaren Vorstellungen über die nächsten Schritte des Weges, der zu diesen Zielen führt. Das ist die generelle Situation bis zu den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919.

Übrigens sah das im Verhältnis von Führung und Mitgliedschaft von christlichen Gewerkschaften und katholischer Zentrumspartei ganz ähnlich

aus. Die Arbeiter aus den katholischen Gegenden Deutschlands, die aus dem Felde zurückkehrten, aktivierten wieder ihre Tätigkeit in ihrer früheren christlichen Gewerkschaftsorganisation und stellten sich, obwohl

sie mehrheitlich die Revolution unterstützt hatten, gleichzeitig hinter die

Zentrumspartei — jene Partei, die unter Erzbergers Führung bis 1917 sogar auf seiten des ultra-annexionistischen Flügels des Imperialismus gestanden hatte, dann aber ihre Position wechselte, weil die Zentrumspartei das Glück hatte, daß einer ihrer wichtigsten Führer, Matthias Erzberger eben, doch mehr Verstand besaß als die Regierung und große Teile des

Großkapitals und von 1917 an einen Verständigungsfrieden gefordert hatte. Aber im übrigen hielt die Führung dieser Zentrumspartei an ihren früheren Ideologien fest; nur die Arbeiter, die nun in die christlichen Gewerkschaften zurückströmten, glaubten das nicht, sondern meinten, daß diese Organisationen sich jetzt dem demokratischen Gedanken der Revolution anpassen würden. Nicht viel anders war es bei den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften,

178

Die Novemberrevolution 1918

die nun plötzlich großen Einfluß in der linksliberalen Partei ausüben

konnten und auch zahlenmäßig wieder anstiegen - zwar weniger als Arbeitergewerkschaft denn als Angestelltengewerkschaft. Der normale

kleine Angestellte, der aus der Armee zurückkam, glaubte jetzt, an die Traditionen von 1848 wieder anknüpfen zu können; er war begeistert von Revolution und Demokratie, war auch begeistert davon, seine Interessen gemeinsam mit anderen Gewerkschaften gegen das Großkapital durchzusetzen, denn er wußte ja, wie sich das Großkapital während des Krieges verhalten hatte. Aber indem er in seine Hirsch-Dunckersche

Gewerkschaft zurückging oder als demokratisch denkender Lehrer wie-

der in den Lehrerverband eintrat, unterstützte er - wie es vor 1914 Tradi-

tion gewesen war — die linksliberale Partei und glaubte, daß diese sich

gewandelt habe. Übrigens taten die Parteien auch so, als ob sie sich ge-

wandelt hätten. Sowohl die Zentrumspartei (also die klassische katholi-

sche - nicht etwa linkskatholische — Partei, der traditionellerweise die

Mehrheit der katholischen Bevölkerung ihre Stimme gab) als auch die Deutsche Demokratische Partei (zu der sich die frühere Deutsche Fortschrittspartei und der linke Flügel der ehemaligen Nationalliberalen zu-

sammengeschlossen hatten) forderten Revolutionäres in den Programmen, die sie schleunigst beschlossen, um an den Nationalversammlungswahlen vom 19. Januar 1919 teilnehmen zu können. Denn so rasch ging

das: am 9. November Revolution und am 19. Januar schon Wahlen zur

Nationalversammlung! Beide, Zentrumspartei wie Deutsche Demokraten, schlossen sich den Revolutionsforderungen an, und zwar nicht nur in bezug auf radikale Demokratie in einer Parteienrepublik mit parlamentarischer Verfassung, sondern auch in bezug auf die sozio-Skonomi-

sche Ordnung. Während jetzt die Sozialdemokraten sofort zu ihren radi-

kalen Sozialisierungsforderungen zurückkehren — verbal auch die Füh-

rung der MSPD -, so daß beide sozialdemokratische Parteien, die an den Wahlen teilnahmen, für die Sozialisierung der Grundindustrien und aller

monopolbeherrschter Unternehmen eintraten, sehen wir plötzlich die gleichen Forderungen auch in den Wahlaufrufen der Zentrumspartei wie der Deutschen Demokratischen Partei (jener linksliberalen Partei, in

deren

Spitze

sogar Repräsentanten

riesiger Konzerne

— wie

Walther

Rathenau, der Chef der AEG - saßen). So entstand eine wunderliche Si-

tuation. In Wirklichkeit waren natürlich die Spitzen dieser Parteien ge-

gen das, was sie sagten. In Wirklichkeit war der ganze administrative Apparat ebenso wie der funktionsfähige Rest der Armee (die Offiziere, Unteroffiziere und Berufssoldaten) entschlossen, gerade das, was in den

Wahlprogrammen gefordert wurde, mit allen Mitteln, auch mit aller Bru-

talität zu verhindern!

Die Novemberrevolution 1918

179

Kompliziert wurde diese Situation noch dadurch, daß sich auf der Seite der früheren sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung wie auf seiten der aus der alten Sozialdemokratie hervorgegangenen politischen Parteien rasch weitere Differenzierungen zeigen, die im Grunde bereits im Oktober,

noch

vor

der Revolution,

begonnen

hatten.

Es

waren

ja die

Massen, die auf die Revolution gedrängt hatten — nicht die Parteien, die sie im Grunde nicht wollten —, und so zeigte sich dieser Druck der Massen zugunsten der Revolution auch darin, daß die radikalsten Kader, zusammengeschlossen in der Gruppe Internationale/Spartakusbund, sich ab Oktober, als sie diese Massenstimmung spüren, so bestätigt glauben, daß

sie auf eine rasche eigene Parteigründung zusteuern. Sie glauben, weil die Massen die Revolution wollen, die die anderen Parteien nicht (MSPD)

oder nur halb (USPD) wollen, werden diese Massen den Spartakusbund unterstützen. Diese Kalkulation war allerdings von vornherein falsch:

Die Massen übten zwar Druck aus, aber sie bildeten sich ein, daß die Führungen und Apparate der sozialdemokratischen Parteien und der

Gewerkschaften ihrem Druck folgen und die gleiche Veränderung ıhres Denkens durchmachen würden, die sie selbst durchgemacht haben - und darin irrten die Massen. In Wirklichkeit wäre ein solcher Prozeß bei richtiger wissenschaftlicher Analyse dessen, was in einem solchen spontanen Revolutionsprozeß vorgeht, prognostizierbar gewesen. In der Leitung des Spartakusbundes gab es eine Führerin, die wissenschaftlich auf höchstem Niveau stand und das durchaus sah: Rosa Luxemburg, die durch die Revolution aus der Haft befreit wurde (während Karl Liebknecht schon ein paar Tage vorher freigekommen war). Auch Clara Zetkin erkannte das - nicht aber der normale Funktionär dieser Gruppe, der

nun plötzlich, nachdem er jahrelang verfolgt worden war, die Stimmung der Massen auf seiner Seite wähnt. So strebt diese Gruppe auf eine eigene

Parteigründung los in der Einschätzung, daß sie dann die Massen hinter sich habe. In diese Gruppe strömen nun natürlich auch utopistisch emp-

findende Teile dieser Massen, die gerade erst durch die Revolution politi-

siert worden sind und den Glauben des größeren Teils der Massen an die

revolutionäre Anpassung von MSP und USP nicht teilen. So ergeben sich auch hier die wunderlichsten Gegensätze. An der Jahreswende 1918/19 konstituiert sich die frühere Gruppe Internationale zur Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) bei ungeheuren Bedenken in den Köpfen von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin (die zunächst nicht mitmacht, sondern in der USPD

bleibt und

erst später zur KPD kommı) und bei begeisterter Zustimmung derer, die jetzt zu dem Kongreß zusammenkommen. Die Teilnehmer des Gründungskongresses

der KPD

beschließen

in der entscheidenden

strategi-

180

Die Novemberrevolution 1918

schen Frage schwere Fehler. Das Programm von Rosa Luxemburg neh-

men sie zwar an (denn Rosa Luxemburgs moralische Autorität war ungeheuer), und so ist es eines der gewichtigsten und besten Dokumente

dieser Zeit, aber zu den praktischen Fragen fassen sie durchaus verfehlte

Beschlüsse. Die erste praktische Frage, die hier anstand, war, ob sich die

KPD

an den Wahlen zur Nationalversammlung beteiligen sollte oder

nicht. Die allgemeine

Haltung

der Partei war: Diese Wahlen

so früh

durchzuführen, ist falsch; wir brauchen noch eine längere Periode der Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte und müssen inzwischen die Sozialisierungsforderungen, die wir stellen, auch durchführen! - Das war

eine richtige allgemeine Linie, aber die Delegierten, die gegen so frühe Wahlen der Nationalversammlung sind, beschließen auf diesem Parteitag,

gut zwei Wochen vor der Wahl, an diesen Wahlen überhaupt nicht teil-

zunehmen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Paul Levi, von außen

Clara Zetkin und

Georg

Ledebour

(die, eben weil diese falschen

Be-

schlüsse gefaßt werden, nicht zur KPD kommen), ferner der Abgesandte der russischen Bolschewiki, Karl Radek, fordern die Beteiligung an diesen Wahlen

und die Verankerung

und Mitarbeit

in den

Gewerkschaften.

eigenen Stärke, beschließt er: Die Gewerkschaftsfrage

entscheiden wir

Aber dieser Parteitag beschließt beides nicht. Befangen in der Illusion der später, und an den Wahlen zur Nationalversammlung nehmen wir nicht

teil! — Das bedeutete von vornherein eine Isolierung der Kommunisten. Die Diskussion dieses Gründungsparteitags ist außerordentlich interes-

sant. (Jetzt ist auch das komplette Protokoll des Parteitags veröffentlicht

worden; vorher lag nur der kurze Bericht vor, den man damals in der Eile zusammenstellen konnte. Aber man hat den kompletten Stenogramm-

bericht im Nachlaß Paul Levis gefunden.)‘ Es zeigt sich auf diesem Parteitag ganz deutlich ein Widerspruch zwischen der rationalen Führung um Karl Radek, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Paul Levi und dem spontan-hyperhoffnungsvollen Denken junger Revolutionäre, die aus dem illegalen Kampf während des Krieges stammen, sich nun plötzlich bestätigt glauben und gegen ihre Führung vom Leder ziehen. Sie schlukken zwar das von Rosa Luxemburg verfaßte Programm, aber sie beschließen: Keine Teilnahme an den Wahlen, sofortiger Massenkampf um Verhinderung der Wahlen - und dergleichen undurchdachte Maßnahmen mehr. Nur dazu waren die Massen gar nicht bereit. Denn der Reichskon-

greß der Arbeiter- und Soldatenräte im Dezember hatte mit mehr als Dreiviertelmehrheit die Wahl zur Nationalversammlung beschlossen, 4

Vel.: Der Gründungsparteitag der KPD. Weber, Frankfurt a. M./Wien 1969.

Protokoll und Materialien, hg. von Hermann

Die Novemberrevolution 1918

181

und der rechte Flügel der USPD wie die MSPD Wahlen eingesetzt. Neu war die Zwerteilung

des

hatten sich für rasche

Wahlrechts an die Frauen,

und

damit

kommen wir auch zu einer bitteren Erfahrung dieser Entwicklung. Die Zuerteilung des Wahlrechts an die Frauen war noch in der »Reformperi-

ode« des Kaiserreichs kurz vor Kriegsende von allen bürgerlichen Partei-

en abgelehnt worden und infolgedessen im Reichstag durchgefallen, als

sie von der USPD

beantragt und von den Mehrheitssozialdemokraten

unterstützt worden war. Jetzt konnte

sich auch Friedrich Ebert dieser

Nur

wieder die Rechnung

Wahlrechtserweiterung nicht entziehen, denn sie war ja seit dem Erfurter Programm eine der ältesten Forderungen der Sozialdemokratie gewesen. hatten hier die Arbeiterparteien

ohne

den

Wirt gemacht, denn die Frauen hatten in ihrer großen Majorität noch ein

weitgehend unentwickeltes politisches Bewußtsein. Sie waren Hausfrauen gewesen, die nur vorübergehend während des Krieges in den Arbeits-

prozeß einbezogen worden waren. Jetzt, nach Kriegsende, wurden sie wieder entlassen, denn man wollte »Platz« für die Männer, die aus dem Kriege zurückkamen, schaffen. Diese Frauen waren empört, daß ihnen

die sozialistische Regierung die Arbeitsplätze wegnahm, und reagierten infolgedessen durchaus rechts. Diejenigen Parteien, die sich bei den Nationalversammlungswahlen auf die kirchlichen Apparate verlassen konnten (die Zentrumspartei für die Katholiken; die Deutschnationale Volks-

partei, die ehemals Konservative Partei — die extremst gegenrevolutionäre Partei —, für die Protestanten), erhielten wegen der Propaganda-Aktionen

der Kirchen — zahlreiche Frauen waren damals noch stark kirchlich ge-

bunden — den allergrößten Teil der Frauenstimmen. In dieser spezifischen Situation war also durch die Zuerteilung des Frauenwahlrechts, für die allein die Sozialisten gekämpft hatten, der Sieg der bürgerlichen Par-

teien in den Wahlen vorgezeichnet. Eine paradoxe Situation, die sich üb-

rigens in mancher Beziehung nach 1945 wiederholt hat. Heute bemerken wir allerdings völlig andere Verhältnisse, denn inzwischen haben die Frauen politisch gelernt. Aber zurück zum Beschluß des Arbeiter- und Soldatenrätekongresses

vom Dezember 1918, den Wahlen am 19. Januar 1919 zuzustimmen. Es war Unsinn, dagegen sozusagen zur Rebellion aufrufen zu wollen, wie es übrigens die Zentrale der KPD auch niemals getan hat (denn sie wurde von rationalen Führungskadern gebildet), wie es aber der Parteitag durch seine Beschlüsse nahelegte. Nicht anders stand es mit der Gewerkschaftsfrage. Es war im Grunde notwendig, die freien Gewerkschaften unter die Kontrolle der zurückströmenden Massen zu bringen — der größte Teil dieser Massen kehrte in diese Gewerkschaften zurück - und von innen

182

Die Novemberrevolution 1918

die »Arbeitsgemeinschaftspolitik« ihrer Führung beenden zu lassen. Aber die Jungen Revolutionäre in der KPD,

die gesehen hatten, wie sich die

Spitzen der freien Gewerkschaften in Krieg und Revolution verhalten

hatten, meinten: Wozu brauchen wir denn überhaupt solche Gewerk. schaften, die uns doch nur verkaufen? Wir richten uns nicht auf eine lan-

ge Periode des Kampfes ein, sondern knüpfen an die Räteorganisation, der die Massen folgen, unmittelbar an und gründen von dort aus Arbeiter-Unionen (in Anknüpfung an die frühere Tradition der Syndikalisten,

die in Deutschland aber nie große Bedeutung gehabt hatten). So entstand

diese merkwürdige Selbstisolierung des äußersten linken Flügels der poli-

tischen Arbeiterbewegung auch in der Gewerkschaftsbewegung, die darin die linken Einflüsse weitgehend ausschaltet.

Vorausgegangen waren diesen Entscheidungen die ersten konterrevolu.

tionären Aktionen.

Nach

dem gescheiterten Putschyersuch vom

6. De-

zember 1918 folgte zu Weihnachten der Angriff auf den einzigen größe-

ren revolutionären Truppenteil in Berlin, auf die Volksmarinedivision, die

ım Schloß und Marstall kampierte. Mit Zustimmung der mehrheitssozialdemokratischen Führer versuchten Offiziere und konterrevolutionäre

Truppen, die Volksmarinedivision gewaltsam aufzulösen. Dieser Angriff auf den Marstall, der zahlreiche Tote forderte, veranlaßte die USPD, sich

aus dem Rat der Volksbeauftragten zurückzuziehen, so daß nun die MSPD allein regierte. Die Massen waren verständlicherweise über diese Umtriebe empört, keineswegs nur die Anhänger des Spartakusbundes, sondern auch diejenigen, die der USPD zuneigten, und zum Teil sogar die Arbeitermassen, die bei Wahlen ihre Stimmen der MSPD gaben, ohne

in ihr organisiert zu sein. Es kommt nun überall zu Demonstrationen gegen solche Akte, die schließlich in die Berliner Januar-Kämpfe übergehen. Die Januar-Kämpfe 1919 schließen diese erste Revolutionswelle ab. Ohne sie wird die ungeheuerliche gegenseitige Verbitterung der Arbeiterparteien, die dann einsetzt, nicht voll verständlich. Diese Verbitterung wurde durch den 6. Dezember (das Zusammenschießen der Demonstration nach dem Putschversuch zugunsten von Ebert) vorbereitet, steigert sich durch den Angriff auf die Volksmarinedivision und erreicht dann einen Höhepunkt, als der Berliner Polizeipräsident, der durch den Arbei-

ter- und Soldatenrat eingesetzt worden war, Emil Eichhorn (ein linker USPD-Mann und ein hochintelligenter Proletarier), plötzlich am 4. Januar 1919 durch den sozialdemokratischen preußischen Innenminister abgesetzt wird und damit sichtbar der erste Eingriff in die Positionen, die durch die Revolution geschaffen worden waren, zugunsten einer vollen Wiederherstellung der alten Staatsgewalt erfolgt. Dagegen empören sich

Die Novemberrevolution 1918

183

die Arbeitermassen in Berlin, und es kommt am 5. Januar zu riesigen Demonstrationen, Zu diesen Demonstrationen hatten USPD und KPD

aufgerufen. Auf der Kundgebung vor dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz sprechen Eichhorn, Ledebour, Däumig und Liebknecht. Nur

war man sich auch in dieser Führung nicht klar darüber, was man eigentlich wollte. Wieder kommt es zu einem spontanen Massenausbruch. Die Arbeitermassen sind wütend und drängen, für Eichhorn zu kämpfen, nicht nur zu demonstrieren. Spontan ergreifen Teile der Arbeiterschaft

die Waffen. Empört über das, was die bürgerlichen Zeitungen (die meisten sind noch in der Hand ihrer alten Besitzer) über diese Demonstration und über Eichhorn zusammengelogen haben, zogen Teile der Demon-

stranten ıns Berliner Zeitungsviertel, besetzten die Zeitungen und wollten sie zu Arbeiterzeitungen machen. den

Gegen dieses spontane Handeln der Arbeiter (das von niemandem in Führungsgremien

der Arbeiterorganisationen

in dieser Form

ge-

wollt, das moralisch und psychologisch zwar verständlich, politisch aber sicherlich falsch war) war auch die Mehrheit der Führung der Spartakusgruppe. Karl Radek gehörte ihr zwar formell nicht an, weil er Vertreter

der Bolschewiki in Berlin war, aber Rosa Luxemburg und Paul Levi waren Mitglieder der Zentrale - sie alle waren dagegen! Sie plädierten ın realistischer Einschätzung der Lage dafür, sich nur mit einer Demonstration zu begnügen. Bei den linken Unabhängigen war die Frage ebenso um-

stritten. Gleichwohl ließen sich Karl Liebknecht und Georg Ledebour

(von den linken Unabhängigen) von den Demonstranten in einen Revolutionsausschuß wählen, der den Kampf für die Wiedereinsetzung Eich-

horns weitertreiben sollte. Die mehrheitssozialdemokratische Regierung, in der jetzt Gustav Noske als Volksbeauftragter den militärischen Oberbefehl hat, ergreift sofort die Chance, den Bürgerkrieg gegen die Berliner Arbeiterklasse zu eröffnen. So kommt es zu den Straßenkämpfen, zum sogenannten Spartakusaufstand in Berlin. Es gibt eine sehr interessante Untersuchung des (übrigens politisch rechtsstehenden) amerikanischen Historikers Eric Waldman über diesen Spartakusaufstand,” eine durchaus bürgerliche Untersuchung, die nachweist, daß eigentlich schon die Bezeichnung »Spartakusaufstand« (obwohl sie damals und auch später von den Massen so gebraucht wurde) falsch ist. Denn wenn einer gegen diese Aktion und gegen die Möglichkeit eines gewaltsamen Zusammenpralls mit der Armee 5

Vel. Eric Waldman: The Spartacist Uprising of 1919 and the crisis of the German Socialist Movement. A study of the relation of political theory and party practice, Milwaukee 1958.

184

Die Novemberrevolution 1918

auch auf den damaligen Massenversammlungen aufgetreten war, dann war es die Führung der KPD (Spartakusbund), die genau wußte: Kommt es jetzt zu bewaffneten Kämpfen, dann werden wir notwendigerweise ge-

schlagen, denn wir haben nicht die Kraft und Organisiertheit, um die Arbeiterklasse zusammenzufassen und in einen erfolgreichen Kampf zu führen. Daher müssen wir in dieser Situation die revolutionären Massen vor utopischem Vorgehen warnen! Aber es kam dennoch zum bewaffneten Kampf, an dem natürlich auch viele Spartakisten teilnahmen. Die Führung der KPD stellt sich nun

hinter die Massen, denn nachdem die Kämpfe bereits im Gange sind, will

sie die Massen

nicht im Stich lassen. Man

kann darüber streiten, ob das

richtig war. Karl Radek hat gewarnt, vor dem utopischen Handeln der Massen zu kapitulieren, denn die Niederlage sei unausweichlich. Aber

Rosa Luxemburg ist anderer Ansicht und macht mit, wie auch Karl Liebknecht, weil sie sich sagen: Wir dürfen niemanden im Stich lassen, der für ein sozialistisches Ziel kämpfrt, auch wenn wir wissen und vorher

gesagt haben, daß die Aktion in der konkreten Situation falsch ist. — Rosa Luxemburg wollte die Revolution weitertreiben (in Wirklichkeit ist ja der Revolutionsprozeß noch gar nicht beendet, sondern nur eingeleitet und hat erst erreicht, daß die Monarchie gegen den Willen Friedrich Eberts weggefegt wurde). Sie erklärt den Massen: Wollen wir diesen Re-

volutionsprozeß weiterführen, so geht das nur durch die Sozialisierung und durch die Umorganisierung des Staatsapparates. Dazu brauchen wir die Räte. Erfolgreich sein können wir aber nur, wenn die Massen wirklich geschlossen und zielbewußt handeln; das unterscheidet die Situation

heute von der des 9. November. Deshalb können wir eigene große Ak-

tionen, die möglicherweise in gewaltsame Auseinandersetzungen überge-

hen, nur unternehmen, nachdem die ungeheure Mehrheit der arbeitenden Klasse wirklich auf unserer Seite steht. - Das war Rosa Luxemburgs Position. Im Januar haben zwar große Teile der Massen in Berlin bei diesem Verteidigungsakt der Revolution auch wieder ohne Parteischranken auf seiten der Demonstrationen gestanden, aber das Übergleiten dieser Massendemonstration in eine gewaltsame Auseinandersetzung um das Zeitungsviertel war von keiner offensiv agierenden Massenstimmung in ganz Deutschland getragen. Gleichzeitig standen auf der anderen Seite die Oberste Heeresleitung und Noske mit intakten Truppenteilen und gut ausgerüsteten Freikorps, denen man militärisch nichts entgegenzusetzen

hatte. Deshalb war Rosa Luxemburg und die ganze Leitung der Sparta-

kusgruppe - bis auf Karl Liebknecht, der schwankte - gegen dieses Wei-

tertreiben der Aktion in Berlin und unterstützte sie erst, nachdem

die

Die Novemberrevolution 1918

185

Kämpfe ausgebrochen waren und geschossen wurde. Möglicherweise blieb in dieser Situation der Führung der KPD tatsächlich nichts anderes übrig, als zu zeigen, daß sie auch dann bei den Massen stand, wenn diese

Fehler begingen, vor denen man sie gewarnt hatte. Das ist der tragische Widerspruch in dieser Situation, der dann Rosa Luxemburg, Karl Lieb-

knecht und hunderte Arbeiter und Arbeiterfunktionäre zum Opfer fallen.

Soweit zum

Verhalten der KPD

chen »Spartakusaufstand«,

(Spartakusbund)

in diesem angebli-

der in Wirklichkeit eine spontane Massen-

rebellion war, an der auch zahlreiche mehrheitssozialdemokratische Arbeiter teilgenommen hatten. Der »Spartakusaufstand« endet mit einer

furchtbaren Niederlage noch vor den Wahlen. Fast die gesamte Führung der KPD

wird von reaktionären Truppen ermordet, und Massenmorde

an linken Arbeitern beginnen in Berlin und anderen Städten. Das, was

hier in Berlin in dieser widersprüchlichen Weise abläuft, wiederholt sich im Deutschen Reich von Stadt zu Stadt. Es wiederholt sich nicht in der Weise, daß etwa ein Aufstand von der KPD, die eine Randpartei ist, or-

ganisiert worden wäre; vielmehr entzünden sich mal an dieser, mal an Je-

ner Frage, erst in Hamburg, dann in Bremen und zuletzt in München ähnliche Widersprüche, wenn gegen etwas, das die Massen bereits errungen hatten, zugegriffen wird, und die Arbeiter dann anfangen, spontan zu kämpfen. Sie wollen sich verteidigen — allerdings mit unklaren Vorstel-

lungen - und führen von den Massen anfangs breit getrragene Kämpfe bis hin zur Errichtung von Räterepubliken (in Bremen, Braunschweig, München). Das gibt dann den Freikorps den Anlaß, einzumarschieren und revolutionäre Arbeiter massenweise zu liquidieren. Typisch dafür ist die Entwicklung in München mit einer ganz ähnli-

chen Abfolge der Ereignisse wie in Berlin. Der bisherige bayrische Ministerpräsident Kurt Eisner - der früher Revisionist, aber dann Mitglied der USPD war - wird von einem reaktionären Offizier am 21. Februar 1919

ermordet. Nun empören sich die Massen - auch jene Massen, die nicht die Partei Eisners gewählt haben, sondern die Mehrheitssozialdemokra-

tie. In Bayern war die USPD

schwach geblieben. Man hatte den sozial-

demokratischen Führern geglaubt und mehrheitlich die Liste der MSPD gewählt. Daher legt Eisner sein Amt nieder, um

die Wahl einer neuen

Regierung zu ermöglichen. Trotzdem wird er vor dem Landtagsgebäude erschossen. Die empörten Münchner Arbeiter — ganz gleichgültig, ob mehrheitssozialdemokratische oder unabhängige oder kommunistische — drängen auf die Errichtung einer Räterepublik (wie sie im Januar/Februar 1919 in Bremen bestanden hatte und von März bis August 1919 in Ungarn existierte). Am 7. April 1919 bilden USPD, Anarchisten und Tei-

186

le der MSPD

Die Novemberrevolution 1918

eine Räteregierung - ohne jede klare Vorstellung, völlig

spontan — und proklamieren die Bayrische Räterepublik. Nun passiert in München genau das gleiche wie im Januar in Berlin. Die Münchner KPD (Spartakusbund) reagiert wie beim Berliner Januar-

Aufstand und erklärt: Prescht nicht zu weit vor, isoliert euch nicht, ihr

werdet geschlagen! - Die Massen

fordern, daß auch die Führer

der

Münchner Kommunisten in diese Regierung gehen, aber die Kommunisten unter Führung Eugen Levines weigern sich, an diesem spontanen und isolierten Akt teilzunehmen, da sie der Auffassung sind, daß ein solcher Schritt erst möglich sei, wenn die Massen gelernt haben, rational

und mit langem Atem zu kämpfen. Der Kampf setzt ein mit ungeheurem Terror der von der rechten MSPD-Führung, die in Bamberg eine Gegenregierung gebildet hatte, herbeigerufenen Weißen Truppen. In dieser Situation des Abwehrkampfes

tritt dann auch die KPD in die Räteregierung ein und organisiert die militärische Verteidigung Münchens mit. Die Räterepublik wird vonm den

Freikorps Anfang Mai brutal niedergeschlagen. Liquidiert werden dann vor allen Dingen die Kommunisten, aber keineswegs nur sie, sondern

auch Hunderte von Arbeitern aus allen Parteien; sogar Zentrumsangehörige, Mitglieder der Kolping-Jugend werden ermordet. Der Anarchistenführer Gustav Landauer wird erschlagen, Eugen Levine verhaftet, zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1919 hingerichtet. Die Kommunistische Partei hatte im Januar zweifellos einen schweren

Fehler gemacht, als sie den Beschluß faßte, nicht an den Nationalversammlungswahlen teilzunehmen. Die Nationalversammlung hätte wahrscheinlich, trotz des reaktionären Votums der Majorität der Frauenstimmen, eine Mehrheit der drei sozialistischen Parteien gehabt — hätten nur die Kommunisten an der Wahl teilgenommen. So wurde bei den Wahlen am 19. Januar 1919 die absolute Mehrheit in der Nationalver-

sammlung knapp verfehlt. Die USPD blieb mit 7,6% der Stimmen relativ

schwach, die Mehrheitssozialdemokraten, die in diesen Wahlen mit einem radikalen Programm auftraten, erhielten 37,9%. Das hat mehrere

Gründe: Zum einen sind die Berliner Ereignisse des 15. Januar, als die

kommunistische Führung ermordet wird, am 19. Januar, als die Wahlen

stattfinden, noch nicht ins Bewußtsein der Wähler gedrungen. Zum anderen nahmen die ganz linken Arbeiter einfach nicht an den Wahlen teil,

und so bekamen die Arbeiterparteien nur etwas über 45% der Stimmen,

wobei die MSPD fast fünfmal stärker als die USPD wurde. Eine Ursache für den Sieg der bürgerlichen Parteien lag darin, daß auch das Zentrum und die Deutschen Demokraten noch mit vorgeblichen Sozialisierungsforderungen in den Wahlkampf gegangen waren — wie beide sozialistische

Die Novemberrevolution 1918

187

Parteien. Die Stärke der Mehrheitssozialdemokratie erklärt sich dadurch,

daß sich die Arbeiter und die zurückgekehrten Soldaten sagten: Wir ha-

ben die Revolution hinter uns, die Republik ist sicher, und alle sind für den Sozialismus.

Diskussion zu einigen Problemen der Novemberrevolution Frage: Die Novemberrevolution ist also mehr oder weniger ein spontaner Prozeß gewesen, der nicht vorher geplant wurde, Offensichtlich haben

sich damals auch die Arbeiter- und Soldatenräte spontan gebildet. Inwieweit wurde von seiten Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs versucht, den Rätegedanken einzubringen? Wie ist es überhaupt dazu gekommen, daß sich die Arbeiter und Soldaten spontan zu Räten zusammengeschlos-

sen haben?

W. A.: Das ist ein sehr interessanter Vorgang, der sich aber nicht allein

kraft der Propaganda des Spartakusbundes vollzieht. Die Spartakusgrup-

pe greift die Räte-Parolen erst Ende Oktober 1918 auf, nicht vorher! Vorher war das Problem auch in der Spartakusgruppe nicht diskutiert

worden. Wenn wir uns der russischen Revolution von 1905 erinnern, so ist es da ganz ähnlich gewesen. Der berühmte Arbeiterrat (Sowjet) von

Petersburg, dann von Trotzki geleitet, entstand spontan durch das Agie-

ren der handelnden Massen, die sich eine Repräsentation schaffen woll-

ten. Er war nicht vorher von einer politischen Partei propagiert worden,

sondern entstand als spontane Form, die einem solchen revolutionären

Vorgang entspricht. Die Parole, daß man dauerhaft den neuen Staat auf die Räte - nicht auf Parlamentswahlen —- gründen solle, ist auch in der

russischen Februarrevolution 1917 zunächst nicht aufgetaucht, obwohl sich sofort wieder Räte bilden. Sie wird von der bolschewistischen Partei erst nach den April-Thesen Lenins® aufgegriffen. Ganz ähnlich ist es in Deutschland gewesen. Wenn die Arbeiter mar-

schieren und streiken und ihre Betriebe besetzen, wie sollen sie sich an-

ders politisch ausdrücken als durch Räte — besonders wenn ihre alten Or-

ganisationen, die Gewerkschaften und die MSPD, sichtlich die Aktionen

nicht tragen? Es gab auch für die Soldaten gar keine andere Chance, sich politisch zu artikulieren, als durch Räte. Deshalb hatten sich bereits Ende

Oktober 1918 in Kiel Räte gebildet, ohne daß da eine klare Konzeption

6

Vgl. W.I. Lenin: Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Aprilthesen), in: Lenin-Werke, Bd. 24, Berlin 6. Aufl. 1989, 5. 1{£.

188

Die Novemberrevolution 1918

vorgelegen hätte. Das Aufnehmen der Parole: »Wir machen aus den Räten eine dauerhafte Staatsform« durch den linken Flügel der USPD und die Spartakusgruppe wird deshalb von den Massen, die diese Räte schaffen,.zunächst gar nicht mitvollzogen. Sie halten die Räte in dieser Form

für eine Übergangserscheinung, die gewiß gewaltige Bedeutung hat und auch dauerhafte Bedeutung in den Betrieben und zur Kontrolle der Parlamente behalten soll, aber für nicht mehr.

Deshalb ist es für die MSPD und den rechten Flügel der USPD so leicht, die Nationalversammlungswahl zu propagieren. Das empfinden die Arbeiter, die die Räte geschaffen haben, keineswegs als Widerspruch,

Auch 1905 hatten sie sich in Rufßland mit der Bildung von Räten keineswegs eingebildet, damit die unmittelbare Staatsform einer »Diktatur des Proletariats« zu schaffen; sie wollten in Wirklichkeit eine russische Republik mit parlamentarischer Struktur erreichen, denn im Grunde ist ihnen nur diese Staatsform bekannt. »Staat und Revolution«,” Lenins Schrift, die das Verhältnis der sozialistischen Revolution zu neuen Formen der Staatlichkeit und die Notwendigkeit der politischen Herrschaft der Räte für die Verwirklichung der Klasseninteressen des Proletariats theoretisch begründet, ist erst nach den April-Thesen 1917 geschrieben worden

(in der finnischen Illegalität, vor dem Sieg der russischen Okto-

berrevolution) und liegt bei der Novemberrevolution in Deutschland noch gar nicht gedruckt vor.

Frage: In dem Buch von Schneider/Kuda über die Arbeiterräte in der

Novemberrevolution® ist ziemlich viel über Richard Müller geschrieben worden, der auch selbst einiges veröffentlicht hat.” Welche Rolle hat er in und nach der Revolution gespielt? W. A.: Richard Müller ist einer der Chefs der Revolutionären Obleute. Er

ist schon beim Januar-Streik 1918 einer ihrer besten Organisatoren und erwirbt sich dadurch eine große Autorität. In der Revolution wird er

Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte. Übrigens bleibt er in der Gewerkschaft und in der USPD. Er ist insofern

ein typischer Vertreter der Revolutionären Obleute, als er, nachdem die

KPD 7 8 9

diesen verhängnisvollen und utopischen Nicht-Wahlbeteiligungs-

Vegl. W.I. Lenin: Staat und Revolution, Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Auf-

gaben des Proletariats in der Revolution, in: Lenin-Werke, Bd. 25, Berlin 7. Aufl. 1990, S. 393 ff. Dieter Schneider/Rudolf Kuda: Arbeiterräte in der Novemberrevolution. Ideen, Wirkungen, Dokumente, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1969. Vgl. Richard Müller: Geschichte der deutschen Revolution, Nachdruck, 3 Bde., Berlin 2. Aufl. 1979.

Die Novemberrevolution 1918

189

Beschluß gefaßt hat, für den Abbruch der Verhandlungen mit der KPD

eintritt und nicht begreift, daß die KPD-Spitze, die gegen diesen Beschluß

war, sich nur einfach der Mehrheit fügt. Müller bleibt also in der USPD und im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV). Er gehört zu denen,

die die Machtübernahme der USPD im DMV, die nach der Revolution zur Übernahme des DMV-Vorsitzes durch Robert Dißmann führte, mit-

organisiert haben. Dann erfolgt 1920 die Spaltung der USPD wegen des

Eintritts in die Kommunistische Internationale (KI), und da steht Richard Müller auf der Seite der Linken und ist der Meinung, daß man in

die KI eintreten muß. Er Partei, die sich aus dem kusbund) bildet. In den nistischen Partei um die

geht.also mit in die Vereinigte Kommunistische linken Flügel der USPD und der KPD (Spartaspäteren Auseinandersetzungen in der KommuMärz-Aktion 1921 teilt Müller die Kritik Paul

Levis und gründet nach seinem Ausschluß aus der KPD mit Levi 1921 die

»Kommunistische Arbeitsgemeinschaft« (KAG). Dann verlieren sich seine Spuren in der Geschichte. Er hat eine Zeitlang eine sehr bedeutsame Rolle gespielt, und seine Erinnerungen sind eines der wichtigsten Bücher über den Revolutionsprozeß. Frage: Um die Weimarer Republik am Leben zu erhalten oder gar eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft durchzuführen, hätte man doch

während

der Novemberrevolution

Maßnahmen

ergreifen

müssen,

die das, was dann 1928-1933 passierte, nicht hätten aufkommen lassen. Dazu wäre es erforderlich gewesen, den großen Grundbesitz zu enteignen, das alte Offizierskorps zu entmachten, den monarchistisch orien-

tierten Verwaltungsapparat zu zerschlagen und die Industrie zu sozialisieren. Alle diese Maßnahmen sind ja während der Novemberrevolution von den traditionellen Organisationen, die an der Spitze des Staates standen, nicht durchgeführt worden. Ist diese Tatsache Ausdruck dafür, daß

es sich hier um ein Versagen handelt, das auf die damalige Situation und den damaligen Zustand der Arbeiterparteien und ihrer Bürokratisierung

zurückgeht,

oder Ausdruck

dafür, daß traditionelle Organisationen

an

sich unfähig sind, eine Umgestaltung der Gesellschaft auf revolutionärem Wege durchzufühen?

W. A.: Ich würde dem letzteren nicht zustimmen. Denn hätte man die demokratische Kommunikation und Willensbildung in den Organisationen der Arbeiterbewegung wiederherstellen können, dann hätte man dabei auch eine Führung bilden können, die einigermaßen klar sieht und handelt. Warum sollte das nicht mit den traditionellen Organisationen möglich gewesen sein? Ein Beispiel: Der Deutsche Metallarbeiter-Ver-

190

Die Novemberrevolution 1918

band ist damals zunächst mehrheitssozialdemokratisch geführt und ver.

sagt in der Spitze vollkommen. Er ist einer der eifrigsten Mitantreiber der Arbeitsgemeinschaftspolitik. Aber im DMV gibt es eine starke Minorität, die ständig opponiert und dann Mitte 1919 den Umschwung erzwingt,

Nur war es leider zu spät, denn zu diesem Zeitpunkt sind alle wichtigen

politischen Entscheidungen längst gefallen. Diese sind im Grunde mit den Berliner Januar-Kämpfen gefallen; alles, was dann folgt, ist nur noch ein Nachvollzug des geschehenen Aktes. Aber warum hätte denn — theoretisch - dieser Umschwung im DMV nicht auch vorher erzwungen

werden können? Daß Bürokratien nicht bewegungslos sind, wenn man nur den demokratischen Kontakt mit den Mitgliedern wiederherstellt, dafür gibt es auch in der neuesten Geschichte Beispiele. Man erinnere

sich, daß während der Politik der Großen Koalition (1966-1969) und im

Übergang zur Politik der Kleinen Koalition die Gewerkschaften sich durch die Bundesregierung äußerst zaghafte, in Wirklichkeit noch nicht

einmal die Inflationsraten kompensierende Lohnforderungen hatterr auf-

drängen lassen. Aber dann kommt die Rebellion, der Druck von unten.

Es entstehen 1969 spontane Streikbewegungen, und die Gewerkschaften

stellen prompt ihre gesamte Lohnpolitik um. Das ist ein Beispiel dafür,

wie Druck von unten die Politik großer Arbeiterorganisationen erfolg-

reich verändern kann.

Damals im Revolutionsprozeß 1918 war im Grunde das Denken unten zwar unbestimmt, aber tendenziell richtig; denn unten wollten alle

die gesellschaftlichen Veränderungen, während sich die Spitzen der Ap-

parate aus ganz bestimmten Gründen, wegen ihrer Identifikation mit der

Politik der herrschenden Klassen in der Kriegszeit, mit dem alten Staats-

apparat verbinden konnten. Weil aber der Druck von unten zu diffus und utopisch blieb und sich nicht zu einzelnen durchdachten Schritten

konkretisierte, konnten sich die Spitzen durchsetzen. Ich würde also nicht sagen, daß die Niederlage der deutschen Revolution eine automatische, unabwendbare Folge der Bürokratisierung von Apparaten ist (Bürokratisierungen von Apparaten gibt es immer), sondern sie ist die Folge des Tatbestandes, daß sich nicht rechtzeitig ein Gegenzentrum gebilder hatte, das rationale Strategien plante. Hätte es ein solches gegeben, dann hätte möglicherweise die Revolution in Deutschland gesiegt und nicht mit einer Niederlage geendet. Frage: Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei durchzieht als eines der wichtigsten politischen Ziele die Forderung nach einem »all-

gemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahlrecht«. Dementsprechend war eine der ersten Maßnahmen, die man nach 1918 einführte, das

Die Novemberrevolution 1918

191

Stimmrecht für die Frauen. Hat man in der damaligen Führung der SPD geglaubt, nur über Stimmzettel und anschließende demokratische, parla-

mentarische Reformen diese Republik so verändern zu können, wie das

sozialdemokratischen Grundsätzen entsprach? Inwieweit war dieser legalistische Anspruch von den führenden Köpfen der SPD so verinnerlicht, daß sie sich gar nicht mehr davon lösen konnten? W

A.: Ja, das war er ohne Zweifel, und zwar in Kombination mit einem

anderen, total verfestigten legalistischen Denken. Daß die Frauen das Wahlrecht bekamen, daß die Nationalversammlung gewählt wurde, daß

die Monarchie jektiv - wenn geht - war die Unternehmen:

fortfiel, das alles war ja ein »illegaler Akt« gewesen. Obman von den damals geltenden Strafrechtsnormen ausNovemberrevolution zweifellos ein hochverräterisches Störung von »Ruhe und Ordnung«, gewaltsame Beseiti-

gung der bis dahin legal bestehenden staatlichen Institutionen. Die SPD

ist aber seit Kriegsbeginn so im Legalismus befangen, daß sie sich nicht einmal klarzumachen wagt, daß die Eroberung des gleichen Wahlrechts

bereits ein »illegaler Akt« war und daß man Voraussetzungen für den richtigen Gebrauch des freien Wahlrechts mitschaffen mußte. Voraussetzungen dazu waren vor allen Dingen die Zerschlagung der alten Apparate, des Staatsapparates, der Meinungsbildungsapparate usw; Das legalistische Denken war also in der MSPD

verinnerlicht und kombiniert mit

dem Glauben an das demokratische Wahlrecht als alleinigem Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele.

192

17. Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

Um die Ausgangslage der Weimarer Republik zu begreifen, müssen wir das Parteienspektrum und die Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 betrachten. Außer den beiden Rechtsparteien,

der Deutschen Volkspartei (DVP) - dem rechten Flügel der früheren Nationalliberalen unter Gustav Stresemann, der diese eigene Partei nur aufgemacht hatte, weil die Deutsche Demokratische Partei nicht bereit war, ihn aufzunehmen, da er zu lange, nämlich noch im September 1918,

Annexionen

gefordert

hatte

- und

der Deutschnationalen

Volkspartei

(DNVP) - in der die früheren Konservativen und die früheren Antisemi-

ten vereinigt waren

—, traten alle Parteien bei den Nationalversamm-

lungswahlen für die Sozialisierung ein. Es zeigt sich, daß die Industriearbeitermassen, wenn sie nicht katholisch waren (dann hatten sie die Zentrumspartei gewählt - der konfessionelle Einfluß auf die Wahlentschei-

dung war damals im katholischen Bereich noch viel größer, als er es heu-

te ist), in der großen Mehrheit MSPD, nicht USPD gewählt hatten. Die USPD hatten die Massen nur da gewählt, wo die Regierung bereits gewaltsam gegen sie zum Kampf angetreten war. Infolgedessen ist das Machtverhältnis auf der Arbeiterseite (die beiden Arbeiterparteien bekommen zusammen rund 45% der Stimmen) nun etwa 5:1 zugunsten der Mehrheitssozialdemokratie. Die XPD war an den Wahlen nicht beteiligt; ein großer Teil der nigen Strategie zu Hause Bei den bürgerlichen die Zentrumspartei mit

radikalen Arbeiter war also wegen dieser unsingeblieben. Parteien waren die Deutschen Demokraten und 18,5 bzw. 19,7% der Stimmen sehr stark gewor-

den. Die Zentrumspartei hatte bei Erhaltung ihrer alten katholischen Basis ihre Position durch das Frauenwahlrecht noch leicht ausgebaut, denn die Frauen waren noch viel stärker konfessionell beeinflußt als die Männer. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) hatte einen großen Teil der Angestelltenstimmen bekommen - ein anderer Teil dieser Stimmen war zur MSPD gegangen. Die beiden bürgerlichen Parteien, die programmatisch für Sozialisierungen angetreten waren, hatten also starke Erfolge, während die beiden Rechtsparteien lächerlich klein blieben. Hätten wir damals die Fünf-Prozent-Klausel gehabt, so wäre der Politiker, der heute

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

von

der Geschichtswissenschaft zum

Genie

193

der Weimarer

Republik

hochstilisiert wird, nämlich Gustav Stresemann, überhaupt nicht ins Par-

lament gelangt - seine Deutsche Volkspartei hatte lediglich 4,4% der Stimmen. Die DNVP erzielte 10,3 %. Zwar

war

durch

diese

Wahlen

zur

Nationalversammlung

erwiesen,

wie die Machtverhältnisse zwischen MSP und USP lagen, aber trotzdem

hörte der Bürgerkrieg nicht auf. Noske läßt die Freikorps und die Reste der Armee gegen die Räterepubliken in Bremen (Februar 1919), Braun-

schweig, Cuxhaven und schließlich in München (Mai 1919) marschieren

und schlägt diese Versuche, die Revolution weiterzutreiben, mit blutigem

Terror nieder, dem natürlich auch Angehörige der eigenen Partei, MSPD, zum Opfer fallen. Wenden wir uns kurz der Lage der Gewerkschaften zu Beginn Weimarer Republik zu: Zur stärksten Gewerkschaftsrichtung — viel ker, als sie es jemals vorher war - werden die freien Gewerkschaften,

der

der stärdie

sich jetzt (1919) unter der Führung der Generalkommission zum Allge-

meinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) vereinen. Daneben bilden

sie einen relativ starken Angestelltenbund, die Arbeitsgemeinschaft freier

Angestelltenverbände (AfA), die sich 1921 in den »Allgemeinen freien Angestelltenbund« umorganisiert, und als Beamtenbund,

vornehmlich

der

unteren Beamten, den Allgemeinen Deutschen Beamtenbund (ADB). Der Ast der freien Gewerkschaften wird zum stärksten in der ganzen Gewerkschaftsbewegung.

Aber auch die christlichen Gewerkschaften wachsen wegen ihres radikalen Auftretens; denn etwa bei den parallel zu den Kämpfen in Berlin

(Januar-Aufstand) stattfindenden Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet

verhalten sich die katholischen Arbeiter gar nicht anders als die Berliner. Auch sie machen bei solchen Kämpfen mit, obwohl sie die Zentrumspartei wählen und in christlichen Gewerkschaften organisiert sind, die sich

dann zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammenschließen (so

hieß damals der christliche Gewerkschaftsbund, in dem neben den Arbeiterverbänden auch die christlichen Angestellten- und Beamtenverbände

zusammengefaßt waren). Auch die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine (die sich mit ihren Angestelltenorganisationen zum Deutschen Gewerkschaftsring zusammenschließen) gewinnen besonders unter den Angestellten erheblich an Einfluß. Neben diesen drei - schon vor dem Weltkrieg existierenden - Gewerkschaftsrichtungen bilden sich Massenorganisationen des utopischen Flügels der Arbeiterbewegung: die Allgemeinen Arbeiter-Unionen,

die regional

unter verschiedenen

Namen

auftauchen.

Sie

werden vornehmlich von jungen Arbeitern gebildet und sind zeitweilig und in einigen Regionen sehr stark. Am stärksten werden sie in den neu-

194

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

en Industrien, wo keine alten gewerkschaftlichen Erfahrungen existieren, also beispielsweise bei den Chemiearbeitern. So bestehen jetzt vier Gewerkschaftsrichtungen nebeneinander. Aber

sobald es zu spontanen Aktionen zu Beginn des Jahres 1919 komm-t, spie-

len die Organisationsgrenzen bei den Abwehrhandlungen der Arbeiter gegen Regierungsmaßnahmen keine Rolle. Sie handeln weitgehend gemeinsam,

wenn

sie bewaffnet

angegriffen werden, wie in Bremen,

im

Ruhrgebiet, in München usw. Sobald eine solche Situation entsteht, ver. folgen diese handelnden Arbeiter dann auch utopische Ziele — nirgends eindeutig geleitet von irgendeiner Partei und mit Funktionären,

die aus

allen Parteien stammen. Aber diese Frühjahrskämpfe 1919 werden als ein gewaltsamer Versuch zur Errichtung der Diktatur des Proletariats — der sie in der Realität gar nicht sind, sie sind eine Folge von Abwehrkämpfen - der Kommunisti-

schen Partei in der »öffentlichen Meinung« gedeutet. Die Kommunistische Partei wird nach den Januar-Kämpfen 1919 in Berlin illegalisiert und

ist nun wieder so illegal, wie der Spartakusbund während des Krieges gewesen ist. In der industriellen Arbeiterklasse, auch unter alt-sozialdemokratischen Funktionären, nimmt die Zustimmung zur MSPD, die noch in den

Nationalversammlungswahlen überwältigend Arbeiter machen jetzt ihre Erfahrungen mit deckten Angriffen auf ihre Positionen. Als schnell zu einer großen Massenpartei an, was ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 in der sentanz niederschlägt. Bei diesen Wahlen hat zwischen MSPD und USPD völlig verändert. 5:1 ist ein Verhältnis von 1,2:1 geworden

USPD

war, erheblich ab, denn die diesen von der MSPD geFolge schwillt die USPD sich allerdings erst bei den parlamentarischen Repräsich das Stimmenverhältnis Aus einem Verhältnis von

(die MSPD

erringt 21,7%, die

17,9% der Stimmen; die KPD 2,1%). Große Teile der Massen ha-

ben inzwischen politisch gelernt und sind in Opposition zur MSPD gegangen. Nur dank dieser Verspätung des Lernprozesses war der Sieg der Konterrevolution möglich, der 1919 erfolgt ist. Und so ist im Juli 1919, als die Weimarer Verfassung verabschiedet wird, machtmäßig bereits alles entschieden. Die Weimarer Verfassung enthielt noch progressive Reste der Wahlprogramme vom Januar 1919 hinsichtlich der politischen Struktur des Reiches. Sie enthielt aber auch schon andere, undemokratische Aspekte, nämlich die starke Stellung des Reichspräsidenten, wie sie von der ganzen Reaktion befürwortet wurde. Die Weimarer Verfassung enthielt zwar noch einen Sozialisierungsartikel, der aber die Sozialisierung nur noch als Möglichkeit und nicht mehr

als Auftrag formulierte. Sie enthielt ferner einen Artikel über die Erhal-

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

195

tung der Räte mindestens in den Betrieben, aber auch in einer Reihe von Organisationen darüber hinaus (Artikel 165). So sollten Bezirks- und Reichsarbeiterräte sowie paritätisch besetzte Wirtschaftsräte eingerichtet werden. Ausgeführt wurde dieser Artikel nur hinsichtlich der Betriebsräte. Der Sozialisierungsartikel wurde nie durchgeführt, obwohl ein Sozialisierungsgesetz und Gesetze zur Sozialisierung der Kohle-, Kali- und

Elektrizitätswirtschaft im Frühjahr 1919 - auf dem Höhepunkt der Kämpfe und Streiks im Ruhrgebiet - verabschiedet worden waren. Die USPD stimmte darum auch in der Schlußabstimmung gegen die

Weimarer Verfassung, mit einer Begründung, wie sie 30 Jahre später die KPD für ihr Verhalten zum Grundgesetz ganz ähnlich abgegeben hat: Wir stimmen gegen die Verfassung, denn sie besiegelt nur das Bestehende.

Aber wir werden morgen die einzigen sein, die für diese Verfassung eintreten. Nach der Verabschiedung der Verfassung macht die MSPD schon eine

weitere Konzession an die Bourgeoisie, die ja auch formell neben ihr in

der Regierung sitzt (die Regierungen sind jetzt Koalıtionsregierungen der sogenannten Weimarer Koalition von MSPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei, wobei die bürgerlichen Parteien nach den Wah-

len von 1919 ihr altes Gesicht wieder offen zeigen). Die MSPD trägt ein sehr reaktionäres Betriebsrätegesetz zur Ausfüllung der Verfassung mit. Die

Betriebsräte

wurden

in diesem

Gesetzentwurf

weitgehend machtlose Institution konzipiert.

der Regierung

Sie wurden

als

bei strikter

Wahltrennung zwischen Arbeitern und Angestellten gewählt (darauf legte wegen des stärker zurückgebliebenen Bewußtseins der Angestellten die Bourgeoisie größten Wert), und sie hatten gewisse Anhörungs- und Kontrollrechte, aber letztendlich hatten sie im Betrieb praktisch nichts zu sagen. Wieder empören sich die Berliner Arbeiter und marschieren, jetzt

auch unter Führung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (in dem inzwischen die USPD gesiegt und die mehrheitssozialdemokratische Führung verdrängt hat) vor das Parlament, wo am 13. Januar 1920 die zweite

Lesung des Betriebsrätegesetzes stattfindet, um die Beratung noch beeinflussen zu können. Prompt läßt die Regierung diese Massendemonstration zusammenschießen, und das Betriebsrätegesetz wird mit ganz gerin-

gen

Veränderungen

angenommen.

Wohlgemerkt:

diese Massendemon-

stration vor dem Reichstag will diesen nicht besetzen und erobern, sie will den Abgeordneten nur zeigen, wie die Arbeiter denken! Aber die mehrheitssozialdemokratisch geführte Regierung weiß nichts Besseres zu tun, als friedlich demonstrierende Arbeiter zusammenknallen zu lassen.

Über 40 Tote und 100 Verwundete sind das Ergebnis des Schießbefehls, den der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske und der

196

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

ebenfalls sozialdemokratische preußische Innenminister Wolfgang Heine zu verantworten haben. Was Wunder, daß sich kurz danach die Konterrevolution stark genug fühlt zu glauben: Nun

können

wir auch den Herren Mehrheitssozialde-

mokraten einen Tritt verabreichen, jetzt brauchen wir sie nicht mehr! — Es kommt der Kapp-Putsch. Der Anlaß dafür ist die Umgestaltung der Armee, weil die Freikorps der Zahl nach reduziert werden mußten, denn

im Versailler Friedensvertrag war.die Reichswehr auf hunderttausend

Mann begrenzt worden. Die Regierung hatte erheblich mehr Truppen unter Waffen stehen. Hinzu waren die Truppen gekommen, die aus dem

Baltikum hatten abziehen müssen. Diese Freikorps hatten sich — unter dem Schutz der deutschen Reichsregierung - vorher eifrigst am Interven. tions- und Konterrevolutionsprozeß. gegen Sowjetrußland beteiligt, Schließlich hatte die Entente sie aber nicht mehr im Baltikum haben wol-

len, weil sie dort selbst allein ihren Einfluß ausüben wollte. So waren die

Baltikum-Freikorps nach Deutschland gekommen und sollten jetzt zum Teil aufgelöst werden, weil, wie gesagt, die Heeresstärke gemäß dem

Friedensvertrag von Versailles auf hunderttausend Mann reduziert wer-

den mußte. Einige Freikorps, darunter die berüchtigte Marinebrigade

Ehrhardt, wehrten sich gegen ihre Auflösung und lösten ım März 1920 den Putsch aus, der vom General von Lüttwitz und dem Generalland-

schaftsdirektor Kapp geführt wird und hinter dem die reaktionären Kreise der Industrie und der Armee stehen. Auch der Teil der Reichswehr unter Führung des Generals von Seeckt, der die Revolte nicht mitmacht,

erklärt der Reichsregierung, als der General von Lüttwitz sie absetzt und Kapp als Regierungschef einsetzt: Wir denken gar nicht daran, Euch zu schützen; Truppe schießt nicht auf Truppe! - So erklärt sich also das, was dann die ganze Weimarer Republik hindurch den Stamm der Reichswehr bildet, noch nicht einmal bereit, gegen putschende Abenteurer die Regierung zu schützen, die sie geschaffen hat. Nicht die Reichswehr, sondern die Arbeiter haben Regierung und Republik geschützt und den Kapp-Putsch niedergeschlagen. Alle Gewerkschaften, an der Spitze der ADGB, die sozialdemokratisch geführten

Gewerkschaften (sie sind zum Teil jetzt schon USPD-geführt, denn im Deutschen Metallarbeiter-Verband hat die Opposition unter Robert Dißmann die Macht übernommen), rufen zum Generalstreik auf, um den Putsch abzuwehren. Der Generalstreik findet statt, und er siegt. Dort,

wo die Putschisten militärisch zu frech waren, ım Ruhrrevier etwa, in

Mitteldeutschland oder in Frankfurt am Main (da waren es allerdings keine Truppen, sondern die kasernierte Polizei, die den Putsch mitgemacht hat), kämpfen die Arbeiter bewaffnet diese Truppen nieder.

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

197

Zum Generalstreik rufen die USPD und die MSPD auf und zum Teil die Hirsch-Dunckerschen und die christlichen Gewerkschaften an ihrer Basis, nicht aber an ihrer Spitze, ferner natürlich die syndikalistischen Ar-

beiter-Unionen: Jetzt ist plötzlich eine Einheitsfront zur Verteidigung gegen den Kapp-Putsch entstanden, trotz der wirren Auseinandersetzun-

gen vorher. Aus der Situation heraus entstand eine Einheitsfront, die allerdings nicht frei war von wunderlichen Schwankungen. Wunderlich verhält sich zunächst wiederum die KPD. Dazu muß man wissen, daß sich die KPD Ende 1919 gespalten hatte. Die KPD war seit dem Frühjahr 1919 illegal geworden und konnte mithin nur illegale Par-

teitage durchführen. Mit einem geschickten Manöver hat die rational denkende Führung die utopistischen Teile der Partei auf dem 2. und 3. Parteitag der KPD im Oktober 1919 und Februar 1920 aus der Partei ausschließen lassen. Diese utopisch-ultralinks denkenden Teile bilden dann die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) und die ArbeiterUnionen. Die kommunistische Führung hatte auf diesen illegalen Parteitagen auch Beschlüsse zur Ablehnung des Syndikalismus und für die Arbeit in den freien Gewerkschaften sowie zur Beteiligung an Parlamentswahlen durchgesetzt. Jetzt gab es also zwei kommunistische

ultralinke Position vertrat, und die KPD

Parteien:

die KAPD,

die eine

(Spartakusbund) mit einer ra-

tionalen Politik. Nach dieser Trennung von den Utopisten ist übrigens

auch Clara Zetkin in die KPD (Spartakusbund) eingetreten, die wie Rosa

Luxemburg immer für eine rationale Politik der Kommunisten gewesen ist. Die KAPD wird geführt von dem alten sozialdemokratischen Theo-

retiker der Pädagogik, einem früheren Lehrer, Otto Rühle, der der erste Reichstagsabgeordnete war, der 1915 mit Karl Liebknecht im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, sowie von Heinrich Laufenberg

und Fritz Wolffheim aus dem alten Stamm der Vorkriegssozialdemokratie. Daneben gab es einige junge Intellektuelle in der Führung, aber die Massengrundlage bildeten utopisch denkenden Arbeiter. Die KAPD hatte zur Zeit dieser Spaltung durchaus eine Massengrundlage, die erst nach

der März-Aktion 1921 und nach dem Zusammenbruch der Unionen bei den Chemiearbeitern schwindet. Ab Ende 1922 spielte die KAPD

keine

Rolle mehr und zerfiel in mehrere untereinander verfeindete winzige Sekten. Als am 13. März 1920 der Kapp-Putsch ausbricht, beschließt die Mehrheit der KPD-Zentrale zunächst, nicht zum Generalstreik aufzurufen, weil sie eine Regierung Bauer-Noske' und die bürgerliche Republik 1

Nachdem die erste Reichsregierung der Weimarer Republik - eine »Weimarer Koalition« aus SPD, DDP

und Zentrum unter Reichskanzler Philipp Scheidemann

- am 20..Juni

198

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

nicht verteidigen will. Wortführer dieser Position ist übrigens der damalige ultralinke KPD-Führer Ernst Reuter, der nach 1945 rechtsso-

zialdemokratischer Bürgermeister von Westberlin wurde. Aber bereits am nächsten Tag korrigiert die KPD diesen Beschluß und ruft ebenfalls

zum Streik auf.

Auch die geflüchtete Regierung muß auf die Seite des überall spontan

einsetzenden Massenstreiks treten. In diesem Massenstreik sind die Arbeiter der verschiedenen Fraktionen vorübergehend wieder versöhnt und

handeln gemeinsam —- voller Hoffnungen auf grundlegende Veränderun-

gen. Der linke Gewerkschaftsflügel macht nun — zunächst unterstützt von USPD und einem Teil der KPD - den einzigen richtigen Vorschlag,

indem er sagt: Wir schlagen den Putsch nieder und bilden eine Arbeiterregierung aus beiden großen Arbeiterparteien.

- Dieser Vorschlag wird,

leicht modifiziert, vorübergehend sogar vom Vorstand des ADGB akzeptiert — während der Kämpfe, die Kapp-Regierung ist noch nicht davongejagt -, denn er entspricht der Stimmung der Massen, die überall gemein-

sam handeln und streiken. Aber während dieser Verhandlungen gerät die USPD wieder unter den Druck utopischer Strömungen und lehnt plötz-

lich die Bildung einer Arbeiterregierung ab, weil sie mit Friedrich Ebert nicht in einer Regierung sitzen könne. Das war ein ultralinker Fehler, denn dieser Friedrich Ebert und seine MSPD fanden ja noch durchaus

Unterstützung bei einem Teil der handelnden Massen. Also kommt die Arbeiterregierung nicht zustande. Die Arbeiter unten, enttäuscht und wütend, kämpfen zum Teil weiter,

vor allen Dingen im Ruhrrevier. Bei den kurz vorher durchgeführten Betriebsrätewahlen im Ruhrgebiet hatten die Unionen, also die Ultralinken,

über 20% der Stimmen erhalten. Die freien Gewerkschaften lagen bei über 40%, der Rest waren Stimmen für die christlichen und die polnischen Gewerkschaften. Diese Betriebsräte, die nun zusammentreten und

gegen den Kapp-Putsch mobilisieren, gehen in die Offensive. Sie wollen ernstlich Schluß machen mit den konterrevolutionären Umtrieben und

die Reichswehrtruppen unter dem General Oskar Freiherr von Watter, die zuerst auf seiten der Putschisten gestanden hatten, aus dem Ruhrrevier hinausjagen. So beginnt der Bürgerkrieg im Ruhrrevier, getragen von

Arbeitern aller Richtungen, die eine Rote Ruhrarmee bilden. Sie erobert 1919 zurückgetreten war, weil Scheidemann den Versailler Vertrag nicht unterzeichnen wollte, wurde am 21. Juni 1919 ein neues Kabinett derselben koalitionsmäßigen Zusammensetzung unter dem ehemaligen 2. Vorsitzenden der General-Kommission der Ge-

werkschaften, Gustav Bauer, gebildet, in dem Gustav Noske Reichswehrminister blieb.

Dieses Kabinett amtierte bis zum 26. März 1920.

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

199

bis zum 23. März das ganze Ruhrgebiet. Aber es gibt weder Klarheit über die weiteren Ziele noch eine einheitliche Leitung. Nun wiederholt sich noch einmal das, was wir im Januar-Aufstand 1919, in der Bremer Rä-

terepublik und in München kennengelernt haben. Die MSPD-geführte

Regierung hat wiederum nichts Eiligeres zu tun, als sofort nach Abbruch

des Generalstreiks (23. März) ihren Kompromiß mit den gerade geschlagenen Kapp-Putsch-Truppen zu machen und sie gegen das Ruhrrevier und Mitteldeutschland marschieren zu lassen. Vorher hatte der sozialdemokratische Reichskommissar für Rheinland-Westfalen,

Carl Severing,

im sogenannten Bielefelder Abkommen einen Waffenstillstand im Ruhr-

gebiet erreicht, der vorsah, daß wichtige Forderungen der Ruhrarbeiter

erfüllt und die Reichswehreinheiten bei gleichzeitiger Auflösung der Arbeitertruppen abgezogen werden sollten. Trotzdem ließ die Regierung Anfang April die Reichswehr in die vorher von der Roten Ruhrarmee befreiten Gebiete einmarschieren, und es folgte - wie immer in solchen Fällen - das entsprechende Blutbad, dem Hunderte von Arbeitern zum

Opfer fielen. Nun fühlt sich das Großkapital völlig in seiner Macht besrtätigt - es hatte vorher zum Teil den Kapp-Putsch finanziert und gefördert, aber dessen Mißerfolg lehrte es, wieder auf die normalen bürgerlichen Partei-

en und auf zeitweilige Kombinationen mit der Mehrheitssozialdemokratie zu setzen. Diese Politik, die es seit November 1918 durchgeführt hat-

te, war nur ganz kurz unterbrochen gewesen. Andererseits ist die Arbeiterbewegung jetzt bei den Mittelschichten kompromittiert, da sie offen-

sichtlich nicht in der Lage gewesen war, etwas aus der Situation des Kapp-Putsches zu machen und grundlegende Veränderungen herbeizu-

führen. Der einzige Erfolg, der der Arbeiterbewegung gelingt, ist der Rücktritt des Wehrministers Gustav Noske. Jetzt trifft eine ungeheuerliche Propagandawelle des Großkapitals, die von fast der gesamten bürgerlichen Presse (mit Ausnahme der linksdemokratischen »Frankfurter Zei-

tung«) unterstützt wird, zusammen mit diesem Enttäuschungszustand in

den Mittelschichten ob der Niederlagen bei der Kapp-Putsch-Abwehr. So erringt bei den /uni-Wahlen 1920 die bürgerliche Seite einen Riesentriumph. Die Wähler laufen von der Deutschen Demokratischen Partei (der liberalen Linkspartei) über zu der Stresemannschen Deutschen Volkspartei (der Partei des rechten Flügels des Großkapitals), die vorher bei den Nationalversammlungswahlen noch einen Stimmenanteil von unter 5% hatte ünd nun auf rund 14% anwächst. Aber nicht nur die Deutsche Volkspartei, die von dem Manne geführt wird, der bis zum Oktober 1918 der wichtigste Führer des extremsten Teils der Annexionisten gewesen

war, nämlich Gustav Stresemann, schwillt an, sondern auch die Rechts-

200

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

extremen, die sich von rund 10% auf annähernd 15% verbessern. Die Zentrumspartei hält sich, denn sie war ja nach jeder Seite hin gelenkig, aber sie hatte sich im Januar 1920 gespalten: ihr rechter Flügel machte sich, um die Gesamtpartei weiter unbeschwert von Sorgen um die Partei-

disziplin nach rechts drücken zu können, als Bayerische Volkspartei (BVP) selbständig (dies war sozusagen eine Vorwegnahme der Differenzierung zwischen CDU und CSU). Der Gesamtstimmenanteil der

Arbeiterparteien

geht

also

zurück,

Zwischen den Arbeiterparteien gibt es - wie bereits erwähnt — eine erhebliche

Umschichtung.

Die

Mehrheitssozialdemokratie

verliert

ihre

vorher erworbenen Randstimmen aus den kleinbürgerlichen Schichten

wieder nach rechts, denn sie wenden sich dahin, wo sich wirklich Macht und Machtwille zeigen, und nicht zu einer Partei, die sich sichtlich nur von den Ereignissen hin und her boxen läßt. Die Mehrheitssozialdemokratie verliert gleichzeitig über die Hälfte ihrer Arbeiterstimmen an die USPD, die jetzt fast ebenso stark wie die MSPD wird, was auch ihtrem

innergewerkschaftlichen Einfluß entspricht (bei den Juni-Wahlen erhält die USPD

17,9 %, die MSPD

21,7% der Stimmen).

1920

Bei den Arbeitern in dieser USPD gibt es nun wiederum starke utopi-

sche Stimmungen: Wir sind zwar geschlagen worden im Ruhrrevier, aber warum wurden wir denn geschlagen? Wir haben den Kapp-Putsch nicht

ausnutzen können, aber warum haben wir ihn nicht ausnutzen können? Weil wir keine straff organisierte Führung haben! —- So lautet nun die

Vorstellungsreihe breiter Funktionärsschichten in der USP, die gleichzei-

tig auch der Mitgliedschaft nach zahlenmäßig anschwillt. Des weiteren glauben sie, daß sie geschlagen wurden, weil sie keine wirklich straffe Militärorganisation hatten. Beide Stimmungen tauchen jetzt in stärkster Weise in der USPD auf, und daher bildet sich in der Partei ein breiter

Flügel, der für den Anschluf der USPD an die Kommunistische Internationale (KI), die im März

1919 in Moskau

gebildet worden war, eintritt.

Dabei vertritt dieser linke USPD-Flügel mit diesen Stimmungen Vorstellungen, die überhaupt nicht denen der Bolschewiki oder der französischen Sozialisten, die auch in der KI waren, entsprachen. An dieser Frage des Anschlusses an die KI spaltet sich die USPD. Auf dem Spaltungsparteitag der USPD im Oktober 1920 in Halle (die formale Frage war: An-

schluß an die Kommunistische Internationale — »ja« oder »nein«?; die inhaltliche Frage war, ob die Partei einen zentralistischen Aufbau braucht,

wie ihn die 21 Bedingungen der KI für den Eintritt forderten‘) hat der 2

Vgl. Bedingungen für die Aufnahme in die Kommunistische Internationale, in: LeninWerke, Bd. 31, Berlin 8. Aufl. 1983, S. 193 ff.

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

201

linke Flügel eine Mehrheit von 237 zu 156 Stimmen und schließt sich mit der KPD im Dezember 1920 zur »Vereinigten Kommunistischen Partei« (VKPD)

zusammen,

die damit

zu einer Massenorganisation

von

über

300000 Mitgliedern wird, während der rechte Flügel der USPD die Selbständigkeit bis 1922 beibehält. Nach dem Kapp-Putsch begann eine Phase der Stabilisierung des neuen Machtsystems der Weimarer Republik. Denn faktisch war trotz der Krise, die dann noch einmal von Ende 1922 bis Ende 1923 durch die Inflation

das politische Gefüge erschütterte, dieser politische Prozeß im wesentlichen Ende

1920/Anfang

1921 abgeschlossen. Der alte Machtapparat ist

restabilisiert; die Bürokratie wie auch nach der Umformung der alten

Armee

die Reichswehr sind wieder als relativ stabile Faktoren vorhan-

den. Die Bourgeoisie ist in ihren ökonomischen Machtpositionen unbe-

helligt; mit dem Betriebsrätegesetz sind die Versuche, ihre Macht einzu-

schränken, im wesentlichen beendet. Der Konzentrationsprozeß des Ka-

pitals läuft gleichzeitig rasant weiter, und dadurch stärkt sich die Macht

des Monopolkapitals ständig. Die Wahlen sind unter diesen Umständen,

im Grunde von der Reichstagswahl 1920 an, nichts anderes als eine Spie-

gelung dieser Lage.

Auf der Seite der Arbeiterbewegung ist die Formierung im Grunde für den ganzen Rest der Weimarer Periode im wesentlichen jetzt ebenso klar.

Die Kommunistische Partei ist nach der Spaltung der USPD Übergang der Majorität dieser Partei zur VKPD

und dem

zu einer Massenpartei

geworden —- zu einer Massenpartei innerhalb der industriellen Arbeiter-

klasse, die darüber hinaus aber kaum Einfluß hat. Auch innerhalb der in-

dustriellen Arbeiterklasse bleibt sie aber die minoritäre Massenpartei. Die

Sozialdemokratische Partei ist nach der Vereinigung der alten Mehrheits-

sozialdemokratie mit der Rest-USPD, also ab Ende 1922, zunächst die majoritäre Partei des industriellen Proletariats mit Randeinflüssen von schwankender Stärke - je nach der politischen Situation und der Kon-

junkturlage - innerhalb der Angestelltenschaft und innerhalb des unteren

und mittleren Beamtentums, aber ohne Einfluß unter den höheren, den

akademisch gebildeten Beamten. Eben um der Niederlage am Ende des Kapp-Putsches willen werden die Auseinandersetzungen zwischen den Richtungen der Arbeiterbewegung immer erbitterter: zwischen denen, die am alten Gebäude der MSPD

und

deren

Ideologie

festhalten,

die formell

zwar immer

noch

marxistisch ist, wenn sie sich auch auf einen angepaßten, inhaltsleeren

Marxismus reduziert, der - wie der alte »Zentrismus« vor 1914 - an den

automatischen Verlauf des geschichtlichen Prozesses, der keines eigenen

Handelns der Arbeiterklasse bedürfe, glaubt und der zudem im Görlitzer

202

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

SPD-Programm von 1921 weitgehend aufgegeben wird,” und andererseits jenen Richtungen der Arbeiterbewegung, die einen revolutionären Weg

propagieren und sehen, daß die Niederlage nach dem Kapp-Putsch der MSPD-Politik zu schulden war. Die Zentrumspartei, die katholische Massenpartei, hat ihren Einfluß in

der industriellen Arbeiterklasse in den mehrheitlich katholischen Gebie-

ten des Deutschen Reiches dadurch behalten, daß ihr linker Flügel zum Teil dem Scheine nach arbeiterfreundlich manövriert (im Revolutionsprozeß tat er es partiell wirklich, aber nachher nicht mehr). Der bürgerliche Parteienapparat hat sich wieder nach rechts gedreht. Vorübergehend, bei den Nationalversammlungswahlen, hatte die Deutsche Demokratische

Partei noch starken Zulauf gehabt; jetzt nach dem Kapp-Putsch fällt die. ser Einfluß der Linksliberalen innerhalb der mittleren und zum Teil auch der oberen Mittelschichten wieder stark zurück, und diese Wählermassen

wandern wieder nach rechts zur Deutschen Volkspartei, der Fortsetzungspartei des annexionistischsten Flügels der früheren Nationalliberalen,

und zum Teil sogar zu den ehemaligen Konservativen, den Deutschnationalen. Daneben stehen je nach Konjunkturlage abnehmende oder wachsende rechtsradikale Flügelparteien der Völkischen bzw. der Nationalsozialisten in Bayern, die Kernparteien des späteren Faschismus. Diese faschistischen Parteiengruppierungen waren, obwohl sie sich darüber selbst noch gar nicht klar waren, ein Novum, ein neuer Tatbestand

im historischen Prozeß der Formierung der politischen Parteien. Im

Grunde hielten sie sich zunächst noch für den äußersten rechten Ausläu-

fer der Konservativen, mit antisemitischer Begleittendenz (der Antisemi-

tismus hatte aber in der Geschichte des Deutschen Reiches immer eine

gewisse Rolle gespielt als Reaktion von aufgeregten Mittelschichten).

Darüber, daß sie eigentlich erwas anderes, nämlich neue, echt faschisti-

sche Parteien waren, werden sie sich erst nach 1922, nach dem Siege des Faschismus in Italien einigermaßen klar. Bald wird die NSDAP ihre wichtigste

Kraft,

die die konkurrierenden

völkischen

Organisationen

aufsaugt. Der ganze Block der bürgerlichen Parteien, der weitgehend über den Meinungsbildungsapparat der Weimarer Republik verfügt (es gibt aber dagegen noch einen parallelen, wenn auch schwächeren Presseapparat der Arbeiterparteien), ist entschlossen, jede praktische Durchsetzung des demokratisch-radikalen und vor allen Dingen des potentiell sozialistischen Teils der Weimarer Verfassung mit allen- Mitteln, auch den gewaltsam3

Vgl. Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Beschlossen auf dem Parteitag in Görlitz 1921), in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.): Programmatische Dokumente ..., a. a. O., S. 203 ff.

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

203

sten, zu verhindern. Sie sind sich untereinander und mit dem oberen Staatsapparat darüber einig, daß, sobald sich die Arbeiterklasse zu sehr

regt, man sie durch Terror einschüchtern muß. Daher die vielen politischen Morde der Weimarer Periode - durchweg politische Morde der Rechten gegen Linke, die von der Justiz abgedeckt werden. Und solange noch der rechte Flügel der Sozialdemokratie an der Regierung beteiligt

ist, deckt dieser rechte Flügel der Sozialdemokratie praktisch und propagandistisch auch diese Mordpolitik ab — ihr linker Flügel jedoch nicht; diese Sozialdemokratie wird also zum Gegenstand der Klassenkämpfe, nicht mehr zum aktiven Faktor in den Klassenkämpfen.

Nachdem die Kommunistische Partei zur Massenpartei geworden ist nicht vorher —, verliert die Randgruppe der KAPD, die äußerste Ultra-

linke mit utopisch spontaneistischen Tendenzen, in dieser Periode rasch jede Bedeutung. Sie war im Revolutionsprozeß noch relativ bedeutsam; jetzt sinkt sie nach dem Beginn der ersten politischen Stabilisierung ins Nichts, sowohl gewerkschaftlich in Form

ihrer »Arbeiter-Unionen«

als

auch politisch. Sie zersetzt sich in zahlreiche Gruppen, die sich untereinander befehden, aber keine Massen mehr hinter sich haben. Die Kommunistische Partei hat, nachdem sie Massenpartei geworden ist - nicht vorher -, mehrere Richtungen in der Partei selbst: eine, wenn

man so will, ultralinke Strömung um Ruth Fischer und Arkadij Maslow,

die mit putschistischen Gedanken spielt (wie sie in der März-Aktion 1921 zum Ausdruck kommen); sie hat aber auch einen strategisch bedachten

Führungsflügel um Paul Levi, Ernst Däumig und Clara Zetkin, der im

Februar 1921 aus der Zentrale wegen Differenzen über die künftige Politik der Kommunistischen Internationale (vor allem gegenüber der italienischen Sozialistischen Partei) zurücktritt. Neuer Parteivorsitzender wurde Heinrich Brandler. Viele der unabhängigsozialdemokratischen Arbeiter waren für die

Spaltung der USPD und für die Vereinigung mit der KPD gewesen, da sie glaubten, daß sie die Revolutionskämpfe verloren hatten, weil sie keine

klare, mit eindeutiger revolutionären Perspektive versehene politische Führung in der Partei gehabt hatten. Jetzt haben sie diese nach ihren Vorstellungen, jetzt haben sie eine Massenpartei, und nun wollen sie auch kämpfen und zwar unmittelbar, ohne Berücksichtigung der Lage in anderen Teilen des Reiches. Das nutzt die Reaktion sofort aus und betreibt in solchen Gebieten, in denen die Vereinigte Kommunistische Partei die weitaus stärkste Arbeiterpartei ist, lokale Provokationen. So kommt es zum sogenannten mitteldeutschen Aufstand im März 1921 und zum Übergang der Vereinigten Kommunistischen Partei zur sogenannten Offensivpolitik, die besagt: Wo wir angegriffen werden, müssen wir sofort und un-

204

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 19191923

ter allen Umständen zur Offensive übergehen, ganz gleich wo! - Das war

in Wirklichkeit eine selbstmörderische Perspektive, wenn man weiß, daß

die Kommunisten nur in manchen Regionen des Reiches die stärkere Arbeiterpartei waren

und

die Massen

hinter sich hatten.

In einer solchen

Lage muß man zäh kämpfen und darf seine Vorhut nicht opfern, sondern man muß in einer überlegten, zielgerechten Politik seine Vorhut sammeln! Als die Vereinigte Kommunistische Partei im Zentralausschuß diese

»Offensivpolitik« einschlägt, die übrigens August Thalheimer theoretisch begründet, beschließt sie - so widerspruchsvoll war das! — gleichzeitig das

unbedingte Festhalten an der sogenannten Einheitsfrontstrategie, an der Strategie also, durch gemeinsame Aktionen selbst mit den Spitzen der mehrheitssozialdemokratischen Organisationen und Arbeiter die Reakt;on aufzuhalten.

In Wirklichkeit

ließ sich beides nicht miteinander

ver-

einbaren, sondern bildete einen Gegensatz. So kommt es zu der wunderlichen Widerspruchssituation,

daß wenige Monate

vor der März-Aktion

die Kommunistische Partei im Januar 1921 in einem »Offenen Brief« an ADGB, AfA-Bund, MSPD, USPD, aber auch an KAPD und ArbeiterUnionen ein Aktionsprogramm vorschlägt, das gemeinsames Handeln in

Lohnkämpfen und zur Entwaffnung der konterrevolutionären Verbände

vorsieht. Schon im Sommer 1920 hatte die KPD im Zuge ihrer Aktions-

einheitspolitik mit Erfolg an die Rest-USPD, aber auch an mehrheitssozialdemokratische Organisationen das Angebot gerichtet, gemeinsame Massenaktionen zur Unterstützung von Sowjetrußland im Polnisch-Russischen Krieg durchzuführen und die französischen Waffentransporte durch Deutschland, die der Unterstützung des polnischen Angriffskrieges gegen die RSFSR dienten, zu verhindern. Sie setzte sich damals zunächst damit durch; es gibt überall im Reich Massendemonstrationen: »Hände

weg von Sowjetrußland!«, Die Regierung mußte zurückweichen: die französischen Waffentransporte durch das Deutsche Reich wurden vorübergehend gestoppt - ein großer Erfolg! Wenige Tage nach dem Offensivaktions-Beschluß der KPD vom März 1921 kommt es zu einer Provokation gegen die Leuna-Werke, weil die

Reaktion natürlich um diesen Beschluß weiß. Es gibt damals noch aus der Zeit der Revolutionskämpfe und der Abwehr des Kapp-Putsches überall

Waffen in den Händen der Arbeiter. USPD und KPD hatten illegale, be-

waffnete war zum gung mit war (das

Nebenorganisationen. Die bewaffnete Organisation der USPD Rückgrat jenes Flügels dieser Partei geworden, der die Vereinider KPD vollzogen hatte und zur III. Internationale gegangen kann man auch lokal sehr genau verfolgen). Wo die Militärorga-

nisation der USPD stark war, da war die Mehrheit für den Anschluß an

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

205

die Kommunistische Internationale - wo sie schwach war, war sie dage-

gen. Die Arbeiter der Leuna-Werke waren zum einen, vor der Spaltung, von der USPD und zum anderen von der KAPD und den Unionen beherrscht. Ursprünglich hielten sie sich fast die Waage, jetzt war aber

die große Majorität in der Vereinigten Kommunistischen Partei. Am 19. März 1921 läßt Otto Hörsing, der sozialdemokratische Oberpräsident der Provinz Sachsen, auf Beschluß der preußischen Regierung (eine sozialdemokratisch geführte Koalitionsregierung, in der Carl Severing Innenminister war) Truppen ins mitteldeutsche Industrierevier einrücken

und

in den

Leuna-Werken

eine

Durchsuchungsaktion

nach

Waffen

durchführen. Das wurde unvermeidlich von den Arbeitern als Provokation begriffen, und sie wehren sich - angeleitet durch den unsinnigen Be-

schluß der VKPD-Zentrale über die Offensivtaktik - in bewaffneter Form. Die Zentrale der VKPD ruft nun auf, im ganzen Reich Parallelak-

tionen durchzuführen und zum Generalstreik überzugehen. Wenn die Abstimmungen

man

in der Zentrale analysiert, so stellt man fest, daß alle,

die im ehemaligen Spartakusbund waren, in der Zentrale gegen diesen Beschluß gestimmt haben. Es sind ehemalige USPD-Linke, die ihn herbeiführen. Einer der Vertreter des westeuropäischen Büros der Kommunistischen Internationale bei der KPD-Zentrale, Bela Kun, einst der Führer

der Ungarischen Räterepublik, ein Intellektueller ohne Erfahrungen mit langjährigen Massenkämpfen, tritt energisch für diesen Beschluß ein. Er tut das in klarer Verletzung seiner Disziplin gegenüber dem Exekutiv-

komitee der Kommunistischen Internationale, das ausdrücklich gegen die

Offensivtheorie aufgetreten war. Auch der III. Weltkongreß der KI, der im Juni/Juli 1921 in Moskau tagte, verurteilte die Offensivtheorie, und Lenin richtete einen scharf formulierten offenen Brief an den nächsten Parteitag der KPD

sinnige Politik.

(der im August 1921 in Jena stattfand) gegen diese un-

Aber es war nun geschehen. Die Arbeiter hatten gekämpft, in Mittel-

deutschland begeistert und isoliert gekämpft, und waren unvermeidlich wieder total geschlagen worden mit allen Folgen, die nun einmal dazu

gehören. Über 100 Arbeiter wurden getötet, über 4000 wurden inhaftiert

und verurteilt. Das war gleichzeitig im Maßstab des ganzen Reiches das

Ende der KAPD, denn sie hatte nun ihre letzte wirkliche Basis verloren. Paul Levi, der ehemalige Führer des Spartakusbundes und Vorsitzende der KPD, trat nun in überzogener Weise gegen diese März-Aktion auf -

in der Sache hatte ausgeschlossen. Er die sich 1922 (kurz kratie) der USPD

er recht - und wird am 15. April 1921 aus der KPD gründete die »Kommunistische Arbeitsgemeinschaft«, vor ihrer Vereinigung mit der Mehrheitssozialdemoanschloß. Mit ihr kommt er dann 'noch im gleichen

206

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

Jahr in die Vereinigte Sozialdemokratische Partei und wird dort bis zu seinem Tode 1930 der bedeutendste und intelligenteste Führer der SPDLinken. Lenin schreibt an den folgenden Parteitag der KPD, daß Levi in der Sache vollkommen recht gehabt habe, in der Form seiner Kritik habe

er jedoch versagt. Lenin verurteilte in diesem »Brief an die deutschen Kommunisten«" vom 14. August 1921 die Offensivtheorie und forderte die Rückkehr zur konsequenten Einheitsfrontpolitik. Auf dem Parteitag in Jena wird dann auch Clara Zetkin, die ebenfalls gegen die MärzAktion aufgetreten war, wieder in die Zentrale der KPD gewählt.

Wenn man eine Niederlage erlitten hat, beginnt man häufig zu lernen. So auch damals die Kommunisten, die von jetzt an eine konsequentere Einheitsfrontpolitik machen. Nach der März-Aktion 1921 wird der ultralinke Flügel mit Unterstützung der Kommunistischen Internationale zunächst zurückgedrängt, aber weiterhin stehen beide Flügel zueinander in Spannung - in stetiger Spannung während der ganzen Weimarer Periode - und kämpfen jeweils in der Partei um die Führung,. Insgesamt ver-

tritt die KPD nun energisch klassenkämpferisches Denken und besinnt

sich sehr rasch dahin, die ultralinken Tendenzen in der Gewerkschaftspolitik, wie sie in den Allgemeinen Arbeiter-Unionen deutlich geworden waren, zu überwinden und zurückzudrängen und in den großen Verbänden der freien Gewerkschaften zu kämpfen. Ihr Einfluß nimmt bald innergewerkschaftlich zu, obwohl sie — da Robert Diftmann, der Vorsitzende des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, mit der Vereinigung von

MSPD und USPD 1922 wieder zur Vereinigten SPD geht - in keinem großen Verband die Führung innehat. Aber auf der mittleren Gewerkschaftsebene hat die KPD nun starke Positionen. Die Kommunistische Internationale (KI), der diese Kommunistische

Partei angeschlossen ist - die Sozialdemokratie schließt sich der 1923 in Hamburg

als Nachfolgerin der II. Internationale gegründeten Sozialisti-

schen Arbeiter-Internationale (SAT) an —, hat sehr viel stärkere Rechte gegenüber ihren Einzelparteien, als es die Sozialistische Internationale hat. Diese Einzelparteien der K] sind jetzt in vielen Ländern Europas Massenparteien geworden: in Frankreich (nach der Spaltung der Sozialistischen Partei auf dem Kongreß in Tours 1921), in Italien (seit der Abspaltung der Kommunisten auf dem Parteitag in Livorno 1921), in Deutschland. Sie stehen neben der russischen Partei, die sozusagen das »finanzierende Gerüst« der Internationale stellt und die gesichert an der Macht ist, nach-

dem der Bürgerkrieg dort endgültig zugunsten der Arbeiterklasse in Rußland entschieden ist. Aber in den ersten Jahren ist dieser Einfluß der KI 4

Vgl. W.I. Lenin: Brief an die deutschen Kommunisten. Werke, Bd. 32, Berlin 8. Aufl. 1988, 5. 537 ff.

14. August 1921, in: Lenin-

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

207

insgesamt ebenso außerordentlich variierend und in sich widersprüchlich wie der der russischen Partei auf die Führung der Internationale. Wir hatten bei der März-Aktion

1921 gesehen, wie Lenin Stellung nahm. Aber

andere Teile der KI und ihres Apparates dachten durchaus in ultralinken

Begriffen und in putschistischen Vorstellungen, wie etwa Bela Kun, der

Führer der inzwischen nach dem Sieg der ungarischen Reaktion über die Räterepublik illegalisierten ungarischen Partei, der in der Kommunisti-

schen Internationale eine erhebliche Rolle spielt. So sind die Stellungnahmen der KI in diesen Jahren keineswegs »russisch diktiert«, sondern

widerspruchsvoll und hin- und herschwankend. Man kann das in den Kongressen und in den Publikationen der Kommunistischen Internationale ebenso verfolgen wie in den Kongressen und Veröffentlichungen der

einzelnen Parteien - auch der deutschen. Von einem einheitlichen Einfluß der Bolschewiki kann also gar nicht die Rede sein, trotz der Statuten dieser Kommunistischen

Internationale,

die die Möglichkeit

eines sol-

chen einheitlichen Einflusses begründen wollen. Übrigens ist die russische Partei in der Internationale schon deshalb nicht diktatorisch füh-

rend, weil es auch in dieser russischen Partei in dieser ganzen Periode zahlreiche Widersprüche gibt und in ihr offen diskutiert wird, wobei jede Gruppierung ihre Meinung sowohl in der Presse der Sowjetunion als

auch in der Presse der Kommunistischen Internationale und in deren Zeitschrift »Die Kommunistische Internationale« ausdrückt. So ist hier in Wirklichkeit in diesen ganzen Jahren zunächst keinerlei einheitlich leitender Wille vorhanden. In dieser ersten Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik bis zum Ende der Inflationskrise 1923 steigt der Einfluß der Kommunisten in der Arbeiterbewegung - wenngleich die KPD nach der gescheiterten März-Aktion 1921 zunächst isoliert war und ein Drittel ihrer Mitglieder verliert (1921: rund 360 000, 1922: erwa 225 000) — wieder relativ rasch an. Dies geschieht einerseits deshalb, weil der Industriearbeiter- und der Angestelltenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung ebenso wie der untere Beamtenapparat ständig zunehmen; andererseits wächst der Einfluß der Kommunisten, weil kämpferisches Eintreten für Arbeiterinteressen bald ihr Monopol wird und von wachsenden Teilen der Arbeiterbewegung deshalb ihr Druck auf die Sozialdemokratische Partei als erforderlich angesehen wird. In der Sozialdemokratischen Partei gibt es nach deren Vereinigung mit der Rest-USPD auf dem Nürnberger Parteitag im September 1922 (Vereinigte Sozialdemokratische Partei Deutschlands) wieder einen relativ starken linken Flügel, der gegen die Kapitulations-, Konzessions- und Koalitionspolitik der Führung ankämpft und vor allen Dingen in Sachsen und

208

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

Thüringen aktiv ist. Vom Regierungsgefüge des Zentralstaates ist die SPD nach den Wahlen 1920 zunächst ausgeschlossen. Bis zum Mai 1921 amtiert eine Bürgerblock-Regierung” (Zentrum, DDP, DVP), dann tritt die SPD in die Koalitionsregierungen des Kanzlers Joseph Wirth gemeinsam

mit DDP und Zentrum mit drei Ministern ein. Im November 1922 wird unter Wilhelm Cuno wiederum eine Bürgerblockregierung ohne Beteiligung der SPD gebildet.

. In der Zentrumspartei versucht der linke Flügel, in den Koalitionen zu

balancieren, um wenigstens den demokratischen Rechtsstaat gegen den

Druck des Monopolkapitals zu erhalten; dies ist zum Teil deren ehrliche Politik, wie erwa die des Reichskanzlers Joseph Wirth, zum Teil eine schwankende, wie die des Führers des christlichen Gewerkschaftsbundes

Adam Stegerwald. Aber zum Teil steht das Zentrum durchaus auch auf der anderen Seite, der der Monopolbourgeoisie und der politischen Reaktion - es ist eine in sich völlig widersprüchliche Partei, eben die katholische Volkspartei, die alle Kräfte vereint, die sich zum katholischen Glau-

ben bekennen. Für die Kommunistische Partei ergibt sich in dieser Situation ganz natürlich die Strategie, der Sozialdemokratie gemeinsames Handeln zum Schutz der Weimarer Reichsverfassung gegen deren Aushöhlung und Abschaffung vorzuschlagen. Es ist die gleiche Weimarer Reichsverfassung, die die Kommunisten ja ursprünglich in dieser Form gar nicht haben wollten. Aber sie erkennen die strategische Lage: jetzt kommt es zunächst darauf an, in einer insgesamt nicht-revolutionären Periode wenigstens das zu verteidigen, was die Arbeiter erlangt haben.

(In gewisser

Weise wiederholt sich diese Haltung der Kommunisten nach dem Zwei-

ten Weltkrieg, als bei der Abstimmung im Parlamentarischen Rat über

das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland der Vertreter der

KPD, Max Reimann, erklärt: Wir sind zwar gegen dieses Grundgesetz und stimmen dagegen, denn werden das Grundgesetz und der westdeutsche Staat realisiert, ist es mit der deutschen Einheit endgültig aus; aber

wir sagen Euch hier und heute, es wird nicht lange dauern, dann werden wir die einzigen sein, die dieses Grundgesetz gegen seine ständige Verschiebung nach rechts verteidigen werden.) Diese Haltung entspricht dem, was die Kommunisten

in dieser Peri-

ode der Weimarer Republik praktisch und mit relativem Erfolg tun, als 5

Abendroth verwendert die Bezeichnung »Bürgerblock-Kabinette« für alle Weimarer Regierungen, die unter Ausschluß der SPD gebildet wurden. Meist werden in der Literatur nur die bürgerlichen Regierungen, die die DNVP einbezogen (1. Regierung Luther Jan. 1925 bis Jan. 1926 und 3. Regierung Marx Jan. 1927 bis Juni 1928), als Bürgerblock-Kabinette bezeichnet.

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise 1919-1923

209

Anfang der 20er Jahre eine neue rechtsradikale Mord- und Terrorwelle die politische Landschaft erschüttert. Im Juni 1921 wird der bayrische USPD-Führer Karl Gareis, ım August der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger

von

rechtsradikalen

Terroristen

ermordet.

Die

Mordwelle

greift durch den Erzberger-Mord zum ersten Mal von der Terrorisierung der Arbeiterbewegung zur Terrorisierung auch der bürgerlichen demokratischen Kräfte über, denen die Rechtskräfte ihre »Erfüllungspolitik« gegenüber den alliierten Reparationsforderungen als »Landesverrat« vorwerfen. Im ganzen Reich kommen jetzt nach einem entsprechenden Einheitsfront-Aufruf der KPD gemeinsame Demonstrationen aller Parteien und

der

Gewerkschaften,

auch

der

katholischen

Gewerkschaften,

zur

Verteidigung der Republik und gegen den Mord zustande. Das wiederholt sich im Juni 1922, als Walther Rathenau, der Chef des AEG-

Konzerns

und Außenminister

der Weimarer

Republik

(der aber reali-

stisch für eine Verständigungspolitik auch gegenüber der Sowjetunion

eintritt), von faschistischen Kräften ermordet wird. Diese Demonstratio-

nen beim Rathenau-Mord 1922 waren wiederum Einheitsfront-Demonstrationen,

nachdem

der Vorstand

der SPD

durch

Einheitsfront-Ange-

bote der KPD gezwungen worden war, gemeinsam mit ihr und mit dem ADGB zu Massenaktionen aufzurufen (viele Untergliederungen der SPD waren

allerdings von vornherein für solche Aktionen

eingetreten). Da

sich stellenweise sogar bürgerliche Demokraten dem gemeinsamen Auf-

ruf anschließen, waren diese Demonstrationen wahrscheinlich die größten, die es bis dahin in der deutschen Geschichte gegeben hatte. Es war

der ADGB, der das Rückgrat dieser Massenaktionen bildet. Dabei unterliefen allerdings auch schwerwiegende Fehler. Die drei Arbeiterparteien — also auch die Kommunisten — forderten in ihrer gemeinsamen Erklärung

»Zur Verteidigung der Republik und der Grundrechte der Arbeitnehmerschaft«“ nach dem Rathenau-Mord vom Reichstag gesetzliche Maßnahmen »zum Schutz der Republik«, ein Ausnahmegesetz gegen den Terror. Dieses Gesetz zum Schutz der Republik wäre eine geeignete Maßnahme gewesen, hätte man Gerichte gehabt, die es auch zum Schutz der Republik angewandt hätten. Man konnte aber nach den Erfahrungen der

Jahre vorher wissen, daß man

sie nicht hatte. So wurde dieses »Gesetz

zum Schutz der Republik«, das im Juli 1922 verabschiedet wurde, kein Ge6

Vegl. »Zur Verteidigung der Republik und der Grundrechte der Arbeitnehmerschaft« (Aufruf des ADGB,

des AfA-Bundes, der SPD, der USPD

und der KPD

vom 27. Juni

1922 mit gemeinsamen Forderungen an die Reichsregierung und den Reichstag als Grundlage für ein Gesetz zum Schutz der Republik [BerlinerAbkommen)), in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VII: Februar 1919-Dezember 1923, 2. Halbbd.: Januar 1922-Dezember 1923, Berlin 1966, S. 103 ff.

210

Die deutsche Arbeiterbewegung in der Nachkriegskrise

setz gegen Faschisten und Monarchisten,

1919-1923

wie es beabsichtigt war, als es

im Reichstag unter dem Druck der Massenaktionen des Proletariats angenommen wurde, sondern es wurde praktisch sehr bald zum Gesetz zur Bedrohung der Linken - nicht nur der Kommunisten,

sondern zur Be-

drohung der gesamten Linken der Arbeiterbewegung. Daß dieses »Gesetz

zum Schutz der Republik« so entfremdet wurde, war kein Wunder. Der exekutive Staatsapparat lag schließlich in der Hand einer bürgerlich dominierten Koalitionsregierung, ab November 1922 herrschte dann eine

rein bürgerliche Regierung (unter Reichskanzler Wilhelm Cuno), und der Unterbau der politischen Verwaltung war sowieso reaktionär. Der Justizapparat lag ausschließlich in der Hand der früheren monarchischen Rich-

ter, die von der Republik übernommen hat bereits

1921

ein sehr

guter,

übrigens

worden waren. Deren Wirken nicht

sozialistischer,

sondern

bürgerlich-demokratischer Hochschullehrer in Heidelberg, Emil J. Gum-

bel (einer der ganz wenigen wirklich demokratisch denkenden Universi-

tätslehrer dieser Zeit — man konnte sie fast an fünf Fingern abzählen) in

einem Buch unter dem Titel »Zwei Jahre Mord«’ mit einer Statistik' dokumentiert, in der die politischen Morde seit 1919 und die Strafen dafür aufgezeichnet waren. Von diesen mehreren hundert politischen Morden waren in den Bürgerkriegskämpfen 16 von links ausgegangen; diese 16 waren

ausnahmslos

bestraft worden,

insgesamt mit

8 Todesurteilen und

239 Jahren Haft. Die 318 von rechts, meist durch die Freikorps begangenen politischen Morde wurden insgesamt nur mit 31 Jahren und 3 Monaten Haft bestraft, das heißt, die meisten sind strafrechtlich überhaupt

nicht verfolgt worden. So sah die Justiz der Weimarer Republik aus, und

ihr ein solches Instrument wie das Republikschutzgesetz in die Hand zu geben, war ein schwerer politischer Fehler, für den beide Parteien der

Arbeiterklasse verantwortlich waren. Denn auch die KPD hatte ihm im

Reichstag zugestimmt.

Die Regierungsmacht im Reich liegt also ab November 1922 in den Händen des Blocks der bürgerlichen Parteien unter dem einstigen HAPAG-Direktor Wilhelm Cuno. Nur die Regierungen in einzelnen Ländern werden noch von sogenannten Weimarer Koalitionen gestellt. Diese hießen so, weil sie einst die Reichsverfassung geschaffen hatten, und umfaßten das Zentrum, die Deutsche Demokratische Partei und die

Sozialdemokratie. Zu diesen Ländern gehörten das große Preußen, der Volksstaat Hessen, die Hansestädte und zeitweilig auch Thüringen und Sachsen.

7

Vgl. Emil J. Gumbel: Zwei Jahre Mord, Berlin 2. Aufl. 1921.

211

18. Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

Währenddessen spitzte sich sowohl der außenpolitische wie der ökonomische Krisenprozeß weiter zu. Frankreich vor allem drängte auf die in Versailles vereinbarten Reparationsleistungen; das deutsche Monopolka-

pital widersetzte sich und will die Reparationen mindern. Es hofft, einen Konflikt mit Frankreich durchstehen und seine Machtposition in Europa

verbessern zu können, indem es sich Rückendeckung durch die USA, die Anleiheinteressen in Deutschland haben, und England verschafft. Die Reichsregierung folgt diesem Kurs, und es kommt ab Januar 1923 zum sogenannten Ruhrkonflikt.

Am 11. Januar 1923 besetzen französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, um Reparationen aus der Produktion der Zechen und Stahl-

werke entnehmen zu können, und trennen es ökonomisch vom Reich ab.

Die Regierung proklamiert den »passiven Widerstand« gegen die Ruhrbe-

setzung und entfacht einen nationalistischen Taumel. In diesem »Ruhrkampf«, der bis zum Herbst 1923 dauert und in Wirklichkeit ein Kampf

zwischen den deutschen und den französischen Konzernen um Rohstoff-, Markt- und Machtpositionen in Westeuropa ist, solidarisiert sich wieder die Mehrheitssozialdemokratie mit der deutschen Bourgeoisie und deren Reichsregierung, die sie sogar ın außenpolitischen Fragen parlamentarisch toleriert.

Wegen der Ruhrbesetzung rast die /n/lation, die rasche Entwertung der

Mark, die bereits seit Mitte 1922 beschleunigt vorangeschritten ist, ımmer

weiter, Beträgt der Dollarkurs im Oktober 1922 schon rund 4000 Mark (1914 lag er bei 4,20 Mark), so steigt er im Januar 1923 auf fast 20000

Mark. Im Sommer und Herbst 1923 erreicht er absurde Höhen: im Juni 100000 Mark, im Juli 1 Million, im September 100 Millionen und im November schließlich über 4 Billionen Mark. Diese Inflation bewirkt, daß der Lohn, wenn er ausbezahlt wird, am Ende praktisch nichts mehr wert ist. Bis die Hausfrauen in die Läden ziehen, sind die Preise schon

wieder ums 1Ofache gestiegen, und so kann man kaum etwas mit den Geldbündeln kaufen. So entsteht die Situation der schweren Krise des Jahres 1923. Eine merkwürdige Krise für unsere heutigen Begriffe. Die Arbeitslosigkeit ist relativ niedrig, denn die deutsche Arbeitskraft ist infolge des Inflationsprozesses die billigste, die es überhaupt gibt, und infol-

212

Die Nieder)age der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

gedessen strömen deutsche Waren auf den Weltmarkt. Die Massen haben zwar Arbeit, aber sie bekommen kein Geld; die Arbeiter hungern.

Die stabilste Währung der Welt ist damals der Dollar. Dollar bleibt

Dollar — das ist eine Erfahrung, die wir ja auch unmittelbar nach dem

Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Das ist natürlich kein Zufall, denn

das amerikanische Kapital ist - zwar nicht so stark wie im Zweiten Welt-

krieg, aber in ähnlicher Weise - der große Verdiener des Ersten Weltkrieges gewesen. Die Gründe dafür sind in beiden Weltkriegen vergleichbar: Die USA sind von den Kriegszerstörungen nicht betroffen; sie beliefern alle ihre Alliierten mit Waffen und bekommen dafür deren. Währungsreserven. Sie saugen also das englische und französische Kapital an und können ihren Produktionsapparat zum modernsten und technisch fortgeschrittensten der ganzen Welt machen. Sie sind die starke Macht nach dem Ersten Weltkrieg - allerdings noch nicht die allein bestimmende Macht, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, denn noch bleiben auch der

französische und englische Imperialismus gewichtig. Aber die USA sind die ökonomisch stärkste Macht geworden, und deshalb ist ihre Währung

nun eine stabile Leitwährung. Während die deutschen Unternehmer für

ihre Exporte stabile Dollars einnehmen (für Produkte, deren Herstellung den Arbeitern mit wertlosem Inflationsgeld bezahlt wird), gelingt es der Arbeiterklasse nicht, die Ausbezahlung ihrer Löhne in Dollars durchzusetzen. Die Arbeiter hungern und begehren also wieder in revolutionärer Richtung auf.

Daher vollzieht sich eine Umorientierung in der Arbeiterklasse, die

sich wehren muß, denn die Krise treibt sie unter das Existenzminimum. Die Kommunisten bieten ihr, verbunden mit einer klugen Einheitsfrontpolitik, reale Lösungen an - den Übergang zu einer sozialistischen Pro-

duktionsweise in durchdachten Übergangsstufen. So wird jetzt, Ende 1922 und erst recht bis zum Sommer 1923, für eine ganz kurze Periode — es ist die einzige Periode in der deutschen Geschichte, in der das so war — die Kommunistische Partei dem Masseneinfluß nach (auch an der Ge-

werkschaftsbasis) die weitaus stärkste Partei der deutschen Industriearbei-

ter, Wir können das nicht an Wahlen nachweisen, weil in dieser Zeit kei-

ne Wahlen stattfanden. Wir können es nur an gewerkschaftlichen Konfe-

renzergebnissen dieser Zeit erkennen. Die Kommunisten machen jetzt —

belehrt durch die Niederlage in der unsinnigen März-Aktion - eine kluge Einheitsfrontpolitik, und bei jeder Aktion ziehen sie die sozialdemokratischen Arbeiter mit. Infolgedessen steigt der Einfluß der Kommunisten wie in der SPD der Einfluß des linken Flügels - und beide operieren zusammen mit dem Fernziel, eine sozialistische Planwirtschaft zu schaffen, um so das Exi-

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

213

stenzniveau der Arbeiterklasse zu retten. Ein Ziel, das nicht nur die Kommunisten haben, sondern auch der linke Flügel der Sozialdemokra-

tie (Max Seydewitz, Erich Zeigner u.a.). Nur geraten dabei diese linken Sozialdemokraten in schweren Konflikt mit ihrer Führung, als in Sachsen und Thüringen Arbeiterregierungen aus SPD und KPD an die Macht gelangen. Zunächst bestanden dort rein 'sozialdemokratische Regierungen, die von der KPD durch Tolerieren gegen die Bürgerlichen ermöglicht werden. Dadurch wird die SPD aus Koalitionen mit den Bürgerlichen herausgehalten. Schließlich tritt die KPD in die Regierungen ein, so daß in zwei Ländern Koalitionsregierungen der beiden Arbeiterparteien zur Verteidigung des Lebensstandards der Arbeiterklasse und der Arbeiterrechte auf Grundlage der Mehrheit im Landtag bestehen. Das geschieht auf dem Höhepunkt der Inflationskrise, die erst mit der Umstellung auf die Rentenmark im November

1923 überwunden wird.

Gleichzeitig macht die deutsche Bourgeoisie ihren Frieden mit der französischen und bricht den Ruhrkampf ab. Das ist das Werk einer neuen Regierung, die seit August 1923 amtiert, denn die äußerst rechte, rein

bürgerliche Koalitionsregierung unter dem Reichskanzler Cuno ist gestürzt worden. Sie ist nicht durch das Parlament gestürzt worden, son-

dern dadurch, daß nach einem Einheitsfrontangebot der KPD an die Sozialdemokratie ein politischer Generalstreik ausbricht, der zum Rücktritt der Regierung Cuno führt, da die SPD-Fraktion ihre Tolerierungspolitik gegenüber der Außenpolitik Cunos unter dem Druck der Massen aufgibt.

In dieser Krisensituation tritt die Sozialdemokratie im Reich jedoch nicht in eine Links-Koalition über, sondern in eine Regierung der Großen Koalition mit der klügsten Partei der Bourgeoisie, nämlich der Deutschen Volkspartei unter dem Reichskanzler Gustav Stresemann

ein, um

den

Frieden mit Frankreich unter Dach und Fach zu bringen und um die innenpolitischen Probleme zu lösen. Vier sozialdemokratische Minister helfen in dieser Regierung aus DVP, DDP, Zentrum und SPD, die Krise

in systemerhaltender Weise zu überwinden. Zur gleichen Zeit ist die Entwicklung in Bayern in faschistischer Richtung weiter fortgeschritten: Die bayrische Reaktion unter Führung der Bayerischen Volkspartei (dem rechtesten Flügel des Zentrums) hat dem Reich den Gehorsam aufgekündigt, einen Staatsstreich durchgeführt, eine Hintergrundkoalition mit den Nationalsozialisten und anderen Völkischen, die in der Krise aufstreben, abgeschlossen und einen Diktator, Gustav von Kahr, für Bayern eingesetzt, der die bayrische Reichswehr dem

Oberkommando des Reiches entzieht und auf sich vereidigt. Dagegen geschieht von der Reichsregierung zunächst überhaupt nichts! So ist die Lage in der Oktober-Krise 1923, der letzten Entscheidungs-

214

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

schlacht in der Nachkriegskrise der Weimarer Republik. Bayern rebel-

liert offen gegen das Reich — ein drastischer Verfassungsbruch -, und die Reichsregierung unternimmt dagegen nichts. Die Kommunistische Par-

tei, die diese Zuspitzung sieht, beschließt jetzt in Thüringen und Sachsen - die Sozialdemokraten wollen es auch -, in die Landesregierungen einzutreten. Es gibt also zwei deutsche Staaten mit Arbeiterregierungen,

die offen ihre Solidarität mit den Programmen einer Einheitsfront für das Reich zur Überwindung der Krise bekunden — aber wohlgemerkt: ohne den Vorschlag irgendeines verfassungswidrigen Aktes.

Diese Arbeiterregierungen in Sachsen und in Thüringen haben das eindeutige Ziel der Verteidigung der Republik gegen den Umsturz in Bayern. Auch das weitergehende Ziel der KPD und der linken Sozialdemokraten, eine sozialistische Wirtschaft, ist nach der Reichsverfassung zuläs-

sig, denn diese hat (wie das Grundgesetz in Artikel 15 heute) einen Sozialisierungsartikel. Die Arbeiterregierungen in Sachsen unter dem sozial-

demokratischen Ministerpräsidenten Erich Zeigner, mit vier weiteren Soer

zialdemokraten und zwei Kommunisten (darunter Fritz Heckert) im Ka-

binett (Heinrich Brandler wird Leiter der sächsischen Staatskanzlei), in Thüringen

unter August Frölich, ebenfalls mit zwei KPD-Ministern

(dar-

unter Karl Korsch als Justizminister), werden Mitte Oktober 1923 gebildet - und sofort schlägt das Großkapital zu. Der Reichspräsident, Fried-

rich Ebert (SPD), beauftragt die Reichswehr, in Sachsen und Thüringen

am 21. Oktober einzumarschieren und erklärt am 29. Oktober die von

sozialdemokratischen Ministerpräsidenten geführten Regierungen auf dem Wege der Reichsexekution für abgesetzt. Gegen Bayern geschieht nach wie vor nichts. Die Kommunistische

Zusammenstößen

Partei hat durchaus vorausgesehen,

kommen

daß es zu

würde. Sie führt ihre Einheitsfrontpolitik

weiter und rät den Sozialdemokraten, jetzt, wie beim Sturz der Cuno-

Regierung durch den Generalstreik, durch Massenaktionen die Demokratie gegen den Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu schützen und gegen den Oberkommandierenden von Seeckt —- den gleichen von Seeckt, der beim Kapp-Putsch, drei Jahre vorher, erklärt hatte: Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr! - Die Strategie der KPD ist also ursprünglich darauf abgestellt, im Einheitsfrontkampf der gesamten Arbeiterbewegung, durch Generalstreik in ganz Deutschland und eventuell durch

Aufstand die Macht zu erobern - eine an sich völlig vernünftige Strategie:

eine Politik der Verteidigung der Reichsverfassung gegen die Reichsregierung. Diese Strategie ist aber, als die Entscheidung fällt, aus mehreren Gründen schon nicht mehr durchführbar. Denn inzwischen hat sich nach den großen Auseinandersetzungen im August 1923 die Streikkraft

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

215

der Arbeiterklasse in den meisten Industriegebieten erschöpft. Im Oktober ist diese Kraft in diesem Ausmaß nicht mehr vorhanden, und daher ist eine militärische Aktion zur Unterstützung dieser Streikkraft sinnlos geworden. Zwar rufen KPD und SPD in Sachsen am 29. Oktober zum

Generalstreik auf, doch kommt es weder in Sachsen noch im übrigen

Reich (sieht man von isolierten Streiks in Bremen, Frankfurt a.M. und

anderen Orten ab) zu größeren Widerstandsaktionen gegen die Reichsexekution. Daher brechen nach der Besetzung zunächst die linken Sozialdemokraten

zusammen

und erklären, daß die Kraft zum Widerstand

nicht ausreiche (was stimmt) und sie sich deshalb der Aktion der Reichsregierung fügen und unter Protest kapitulieren müßten; man könne nur versuchen zu retten, was unter solchen Umständen überhaupt noch zu retten ist. Die Führung der Zentrale der Kommunisten sagt nach dieser Rückzugserklärung der linken Sozialdemokraten das gleiche: Wir kön-

nen die Arbeiter nicht in eine sichere militärische Niederlage hineinfüh-

ren, denn dann wären die Folgen noch schlimmer, als wenn wır uns in

dieser Situation zurückziehen. - Die Militärorganisation der Kommunistischen Partei ist natürlich von dieser Entscheidung extrem enttäuscht,

und ihr Befehlsapparat ist politisch in sich uneinheitlich. In dieser Zeit

haben sowohl der linke Flügel der Sozialdemokratie als auch die Kommunistische Partei eine Militärorganisation. In Sachsen und Thüringen sind sie in den

»Proletarischen

Hundertschaften«

vereint.

Diese

Mili-

tärorganisationen sind erforderlich, um sich gegen die Faschisten wehren

und verteidigen zu können, und auch, um gemeinsame, große Aktionen durchzuführen.

Der Hamburger Aufstand vom 23. Oktober 1923, der jetzt losbricht und

ursprünglich

auf die Verteidigung

der Arbeiterregierungen

in Sachsen

und Thüringen zielt, entsteht durch ein politisches Versehen, wie es zwar in allen Militärorganisationen vorkommt, das aber andererseits auch die Labilität der ganzen Situation zeigt. Der Kurier der Militärorganisation

der KPD, der nach Hamburg fahren und den Aufstand abblasen soll, wird unterwegs »geschnappt« und kommt nicht an. In allen anderen Be-

zirken wird hingegen der Aufstand noch rechtzeitig unterbunden. So

schlägt die KPD

in Hamburg

unter Führung von Hugo

Urbahns

und

Ernst Thälmann isoliert los. Nach anfänglichen Erfolgen - vor allem in Barmbek - werden die Arbeiter (von denen nur etwa 300 bewaffnet waren) von einer großen Übermacht von Polizei und Reichswehr nach

zweitägigen Kämpfen besiegt. Das ist das Schicksal des Aufstands, der als

Teil einer Aufstandsbewegung gedacht war, die die Arbeiterregierungen von Sachsen und Thüringen gegen die verfassungswidrige Absetzung durch Friedrich Ebert und das Reichskabinett schützen sollte.

216

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

Diese

Niederlage

führt verständlicherweise

zu einer schweren

Krise

in

der Kommunistischen Partei wie auch in der Sozialdemokratie. Dem fol.

genden Parteitag der SPD liegt zum Beispiel ein Beschluß der Frankfurter

SPD-Gliederung vor, Friedrich Ebert wegen ehrlosen Verhaltens aus der Partei auszuschließen. Dieser Antrag wird allerdings auf dem Parteitag schon nicht mehr behandelt.

Die Arbeiterklasse ist wieder einmal geschlagen. Ich bin allerdings

nach wie vor der Meinung, daß der Verzicht auf den Kampf, so bitter er

war, notwendig gewesen ist, denn die KPD

- allein gelassen, wie sie nun

war - hätte den Kampf unzweifelhaft verloren. Sie ist nicht stark genug,

und die sozialdemokratischen Arbeiter — so sehr sie die ganze Situation begreifen - haben noch nicht genügend Kampfwillen bis zum äußersten.

Die Herbstereignisse

1923 sind die letzte Entscheidungsschlacht der

Nachkriegskrise der Weimarer Republik. Sie hat noch ein Nachspiel: Auf ultrarechter Seite wollen die Nazis rasch noch die Situation nutzen. Am 8. November organisieren sie in München den Hitler-Putsch gegen ihren

früheren Bundesgenossen von Kahr und verlieren dabei. Denn nachdem

die Großbourgeoisie gesiegt hat, hat sie kein Interesse daran, jetzt noch

dadurch weitere außenpolitische Abenteuer zu riskieren, daß sie Hitler und Ludendorff an die Macht bringt.

|

Die SPD, die man in der Koalitionsregierung Stresemann als Schutzschild gegen die Arbeiterklasse in der Herbstkrise und zur Überwindung der Inflation sowie des Ruhrkonflikts gebraucht hat, ist nun entbehrlich geworden. Die SPD-Minister, die die verfassungswidrigen Maßnahmen

gegen Sachsen und Thüringen (wenn auch passiv) mitgetragen haben, ver-

langen unter dem Druck der SPD-Basis ein ähnliches Vorgehen der Reichsregierung gegen Bayern. Stresemann lehnt ab, und die SPD tritt am 2. November 1923 aus der Regierung aus. Die bürgerliche Republik ist nun für eine lange Periode stabilisiert; aber gleichzeitig ist eindeutig demonstriert worden, daß sie ihren Klassencharakter nicht durch die

Demokratie umgestalten läßt. Mit Hilfe der USA, die ab Frühjahr 1924 im Rahmen des Dawes-Plans

große Anleihen gewähren, um die Währungsumstellung zu garantieren,

tritt nun für einige Jahre eine ökonomische und politische Stabilisierung der Weimarer Republik ein - mit gesicherter bürgerlicher Vorherrschaft und monopolkapitalistisch gewordenen Strukturen (die Inflation hat durch die Ruinierung vieler Mittel- und Kleinunternehmer die Monopolisierung erheblich gefördert) und mit nach rechts gedrehtem Parteiensystem. Nach dem Hitler-Putsch vom 8. November überträgt Reichspräsident Ebert auf Vorschlag der Regierung Stresemann die gesamte vollziehende Gewalt an General von Seeckt. Die Errichtung dieser faktischen Militär-

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

217

diktatur in Form des Ausnahmezustandes richtet sich allerdings fast ausschließlich gegen die Arbeiterbewegung. Bereits am 23. November wird

die KPD verboten, und auch die preußische und die hessische Regierung -

beide unter SPD-Ministerpräsidenten - führen dies Verbot durch. Nur

läßt es sıch auf Dauer nicht aufrechterhalten, denn man kann zwar eine

kleine Partei dauerhaft auch ohne faschistisches Herrschaftssystem ın to-

taler Illegalität halten, nicht aber eine Massenpartei, solange man noch im übrigen an den Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaates festhält. Eine Massenpartei kann man nur mit einem faschistischen System völlig liqui-

dieren. Aber den Faschismus will auch das Monopolkapital zu dieser Zeit nicht, denn das wäre außenpolitisch viel zu abenteuerlich geworden, und für außenpolitische Abenteuer ist das deutsche Kapital damals noch lange nicht stark genug. Infolgedessen hat dieses Verbot der Kommunistischen

Partei nur eine dem Scheine nach groteske, der Sache nach leicht verständliche Nebenwirkung: Die KPD bleibt eine starke Partei, wenngleich mit Verlusten. Sie ist ın der industriellen Arbeiterklasse im Oktober 1923

sicherlich die Mehrheitspartei. Arthur .Rosenberg stellt das nach eingehenden Untersuchungen fest.'

Betrachten wir ein lokales Beispiel. Hier, in Frankfurt am Main, der Stadt, in der ich damals lebte und auch politisch aktiv war, ist sicherlich

die Mitgliederzahl der Sozialdemokratischen Partei auch im Oktober

1923, vor dem Verbot der KPD, immer noch größer als die der Kommunistischen Partei. Aber Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei

bedeutet etwas anderes als Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei.

Die Mitglieder der KPD sind politisch aktive Mitglieder, die Mitglieder der SPD sind hingegen zum großen Teil passiv. Wenn also die Kommu-

nistische Partei 10000 Mitglieder hat und die Sozialdemokratische 15000,

so bedeuten diese 10000 objektiv mehr als die 15000. Auch im Einfluß ist die KPD stark, was man hier in Frankfurt leicht an den Betriebsrätekonferenzen ablesen kann. Damals versammelt der ADGB seine Betriebsräte

zu regelmäßigen Betriebsrätekonferenzen, die ihren eigenen Vorstand wählen, über alle Verbandsgrenzen hinweg. In Frankfurt sind die freien Gewerkschaften eigentlich unter den Arbeitern die einzig bedeutungsvollen, nicht jedoch unter den Angestellten. Bei den Angestelltengewerkschaften haben der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und die Hirsch-Dunckerschen allerdings auch damals erheblichen Einfluß., Bei den Arbeitern haben christliche und Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften kaum Anhänger. In der Inflationskrise 1923 kommen jedoch auch 1

Vgl. Arthur S. 136£.

Rosenberg:

Geschichte der Weimarer

Republik,

Frankfurt

a.M.

1961,

218

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

Angestellten-Betriebsräte

zu den Betriebsrätekonferenzen

des ADGB,

Auf diesen Betriebsrätekonferenzen wird etwa ab Juli 1923 jeder beliebi.

ge Antrag der kommunistischen Fraktion mit großer Mehrheit angenommen,

auch wenn die sozialdemokratische Fraktion zunächst wider.

spricht —- die Stimmenverhältnisse sind gegenüber der Zeit Anfang 1923 auf den Kopf gestellt. Das ist aber keine Besonderheit in Frankfurt, son. dern in sehr vielen Bezirken zu beobachten, in denen vorher traditionel] die SPD die größere Resonanz in der industriellen Arbeiterklasse hatte.

Aber das ändert sich mit einem Schlage nach der Oktober-Niederlage, nach dem Rückzug in der Frage des Kampfes um Sachsen und Thüringen. Jetzt glauben sehr viele Arbeiter außerhalb der KPD, daß auch die Kommunisten sie nicht zum erfolgreichen Kampf geführt haben, und wenden sich von der KPD

ab. Die Arbeiter innerhalb der Partei laufen

auch zum Teil aus solchen Gründen

weg. Die, die es nicht tun, wenden

sich gegen die Parteiführung, die ihnen den Kampf versprochen hatte, Daß

der Rückzug

notwendig

gewesen

ist, können

sie nicht begreifen.

Daher kippen in der Kommunistischen Partei während der Illegalität (die

Illegalität hat das Parteileben aus den oben geschilderten Gründen nicht beenden können) die Mehrheitsverhältnisse extrem um. Noch auf dem

8. Parteitag der KPD (Leipzig, Januar/Februar 1923) hat der sogenannte linke Flügel, der gegen die Einheitsfrontpolitik und das Ziel der Arbeiterregierung als Koalitionsregierung beider Arbeiterparteien aufgetreten

ist, eine klare Niederlage erlebt. Die Flügel treten wie vorher auch in die-

ser Zeit offen gegeneinander auf, es gibt freie Diskussionen in der Kommunistischen wie in der Sozialdemokratischen Partei. (Verhältnisse, wie wir

sie heute

in

der

Bundesrepublik

kennen,

ohne

innerparteiliche

Gruppierungen oder mit eingeschränkter innerparteilicher Opposition, kann man sich damals in der Arbeiterbewegung überhaupt nicht vorstellen.) Die sogenannte ultralinke Gruppe in der KPD wird geführt von

Ruth Fischer, Arkadij Maslow, Arthur Rosenberg (ein Privatdozent in Berlin), Karl Korsch (ein Professor in Jena, der dann sehr bald aus dem

Amt entfernt wird —- der erste bedeutsame Berufsverbotsfall in der Weimarer Republik”) und später auch von Ernst Thälmann, der im Gegen-

satz zu den Genannten, die alle Intellektuelle waren, ein wirklicher Proletarier war. Diese Ultralinken gewinnen jetzt die Führung in der Partei, *

In der Monarchie war es überhaupt nicht möglich gewesen, daß ein Marxist als Lehrer an die Universität gelangte. In der Weimarer Republik war das in Einzelfällen möglich, aber nur in sehr wenigen Einzelfällen. Es gab in der Weimarer Republik drei Marxisten auf Universitätslehrstühlen: Karl Korsch (Arbeitsrechtler, Jurist in Jena), Arthur Rosenberg

(Althistoriker in Berlin) und später Carl Grünberg (in Frankfurt a.M.), ein Austro-

Marxist, dessen Schüler ich wurde.

Die Niederlage der Arbeiterbewegung in der Krise 1923

219

weil die Arbeiter es so wollen, denn sie fühlen sich von der bisherigen

Mehrheitsfraktion, der sie vorher zugestimmt haben (Heinrich Brandler,

August Thalheimer, Ernst Meyer, Paul Frölich) verkauft. Und so hat auf dem Frankfurter Parteitag im April 1924, der diese Periode abschließt, der rechte Flügel der Partei nicht einen einzigen Delegierten von der Parteibasis bekommen (ich selbst war damals ein sogenannter Rechter und wurde entsprechend behandelt); er hat auf dem Parteitag nur noch die Repräsentanten, die als Mitglieder der bisherigen Parteiinstitutionen vom

vorherigen Parteitag gewählt worden sind. Die ultralinke Wende in der Kommunistischen Partei kommt während der Illegalität also nicht dadurch zustande, daß Moskau die alte Leitung abgesetzt hätte, sondern dadurch, daß sich die alte Leitung gegen die Stimmung der Masse der illegalisierten Parteimitglieder nicht mehr halten kann. Sie hat, wie gesagt, für

den Frankfurter Parteitag nicht einen Delegierten in irgendeinem Bezirk

durchbringen können - so ist die Stimmung unter diesen Bedingungen der Illegalität. Nur von den sogenannten Versöhnlern (»Rechte«, die

dann halb Reue getan haben) sind einige gewählt worden. Selbst Clara

Zetkin ist nicht nominiert worden - so stark ist die ultralinke Stimmung an der Basis. Die Kommunistische Internationale paßt sich dieser Ent-

wicklung an und bestätigt die auf dem 9. Parteitag gewählte ultralinke

Zentrale, die immer noch glaubt, die revolutionäre Situation bestehe fort oder werde sich bald wiederholen, wie das im fernen Moskau damals

auch etwa Trotzki und Sinowjew glaubten. In Wirklichkeit ist aber durch die Entscheidung vom Herbst 1923 in

Deutschland die revolutionäre Situation für ganz Europa beendet. Die Periode der revolutionären Nachkriegskrise, die 1917 begonnen hatte, ist

nun endgültig abgeschlossen, revolutionäre Situationen sind nun für einen langen Zeitabschnitt vorbei. Die KPD,

die unter ihrer ultralinken

Führung dies nicht erkennt, isoliert sich jetzt immer mehr aufgrund ihrer völlig falschen Einschätzung der Lage. Auch innergewerkschaftlich macht sie einen Fehler nach dem anderen, und was die KPD

an Positio-

nen erkämpft hatte, geht nach der Herstellung der Legalität zum guten Teil verloren. Im Frühjahr 1924 wird der Ausnahmezustand (und damit die parlamentarisch verbrämte Militärdiktatur) aufgegeben, und die KPD wird wieder legal; die jetzt siegreiche Bourgeoisie hat gar keinen Grund mehr, anders als formal nach der Weimarer Verfassung zu verfahren: sie hatte gesiegt und brauchte politische Strukturen, die sie auch für die westlichen Siegermächte glaubwürdig erscheinen ließ.

220

19. Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

Nach der Regierung Stresemann folgt Ende November 1923 ein Koalitionskabinett aus DVP, DDP, BVP und Zentrum unter Reichskanzler Wil-

helm Marx (Zentrum), das mit Hilfe des Artikels 48, des Notstandsartikels der Weimarer Reichsverfassung regiert, nachdem in der zweiten Novemberhälfte unter der Führung Stresemanns die Inflationskrise durch die

Ausgabe der Rentenmark überwunden und ein Vergleich mit Frankreich erzielt worden war. Bis zum Februar 1924 herrscht der Ausnahmezustand und damit die faktische Militärdiktatur von Seeckts. Die KPD, die

durch dieses Artikel-48-System illegalisiert wird, kann erst ab Frühjahr 1924 wieder legal wirken. Nun ist eine neue Periode, sozusagen die klassische Aufschwungsperi-

ode der Weimarer Republik eingeleitet. Die Stabilisierung der Mark und das Hereinströmen amerikanischer Anleihen (das Reparationsproblem wird mit dem Dawes-Plan vom April 1924 zunächst geregelt) bewirken

einen ökonomischen Aufschwung, der nach einer relativ kurzen schweren Arbeitslosigkeitskrise nach Beendigung der Inflation einsetzt. Diese

Stabilisierung der Verhältnisse schlägt sich auch in den Ergebnissen der Reichstagswahl vom Mai 1924 nieder. Noch ist die aus der Illegalität wieder aufgetauchte Kommunistische Partei, die sich an den Wahlen bereiligt, relativ stark — sie erhält 3,7 Mio. Stimmen (12,6%) —, aber von weni-

gen Bezirken in Mitteldeutschland abgesehen ist überall in der industriellen Arbeiterklasse die Sozialdemokratische Partei wieder eindeutig die Mehrheitspartei. Die SPD erreicht 6 Mio. Stimmen (20,5%). In den Ge-

werkschaften ist der kommunistische Einfluß durch die Oktober-Niederlage 1923 erheblich zurückgegangen. Die Gewerkschaften müssen mühse-

lig versuchen, wieder ein Lohnniveau zu erkämpfen, das dem von 1914

entspricht, denn während der Inflationskrise waren die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse dramatisch verschlechtert worden. An strukturelle Änderungen der deutschen Ökonomie in Richtung auf Sozialisierung und Planwirtschaft ist gar nicht mehr zu denken; denn die Mittelschichten, die Schichten der Angestellten und mittleren Beamten strömen nach der Stabilisierung nach rechts. Der Einfluß der bürgerlichen Parteien steigt, und bei diesen Parteien erhöht sich das Gewicht der äußersten Rechten. Die stärkste bürgerliche Partei wird jetzt die klassische konser-

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

221

vative Rechtspartei der Deutschnationalen: Wer protestantischer Angestellter, mittlerer gilt ebenso für die Stimmen (19,5%). trotz des Verlustes

oder unterer Beamter ist, wählt deutschnational; dies protestantischen Bauern. Die DNVP erhielt 5,7 Mio. Daneben ist die Deutsche Volkspartei Stresemanns von fast 1 Million Stimmen noch relativ stark (9,2%).

Sie’ hat gelernt, auf dem Boden der durch die Entwicklung der Nach-

kriegskrise transformierten Weimarer Reichsverfassung zu operieren. Sie stützt sich auf ähnliche Wählerschichten wie die Deutschnationalen, aber

im Hintergrund und als Finanzier hat sie den größten Teil des Monopolkapitals, während hinter den Deutschnationalen der Großgrundbesitz und nur ein kleiner Teil des Monopolkapitals (der schwerindustrielle Rüstungssektor) steht. Die bisher linke bürgerliche Partei, die DDP, rutscht ebenfalls nach rechts, aber wird abermals kleiner; sie erreicht nur noch

5,7%. Im Kräfteverhältnis des Reichstags sind die Arbeiterparteien ad-

diert also erheblich schwächer geworden. Gegenüber 1920 haben sie fast

8 Prozentpunkte eingebüßt. Das ist die Grundsituation für die gesamte

weitere Entwicklung der Weimarer Republik, bis sie sich in der schweren ökonomischen Krise ab 1929/30 dadurch verändert, daß die faschistische Partei rasant aufsteigt. Die faschistische Partei, die Deutsch-Völkische

Freiheitspartei, hat bei diesen ersten Wahlen nach der Krise 1923 auch

starken Zulauf und erhält 6,5% der Stimmen. Bei den nächsten Reichs-

tagswahlen im Dezember 1924 (Verhandlungen über die Einbeziehung der

DNVP in die Regierung waren gescheitert, und deshalb veranlaßte Reichskanzler Marx die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen)

schrumpfte im Zeichen der anlaufenden Konjunktur die faschistische

Partei zu einer Splittergruppe von 3%, und bei den klassischen Konjunkturwahlen 1928 hat sie — nun in Form der NSDAP —- nur noch 2,6%

(12 Abgeordnete) - dies bei dem damaligen Verhältniswahlrecht, das keine Fünfprozentklausel und dadurch keine erhebliche Beschränkung der Repräsentanzen der Parteien kennt. Die Kommunisten rutschen unter der ultralinken Führung (Fischer, Maslow), die sie durch den Frankfurter Parteitag vom April 1924 als Abschluß der Illegalität bekommen, weiter in sich zusammen und verhärten sich in ihrem ultralinken Kurs. Sie stellen ihren rechten, vorher traditio-

nell führenden Flügel, ihren - ich möchte sagen: die Lage objektiv analysierenden Flügel so an den Rand, daß er eigentlich nur noch in ihren parallelen Massenorganisationen (wie der »Roten Hilfe«, einer Organisation zur Verteidigung und Unterstützung politischer Gefangener, und der

»Internationalen Arbeiterhilfe«, die einst während

der russischen Hun-

gersnot entstand) eine Rolle spielen kann. Diese ultralinke Wendung ge-

schieht - um daran zu erinnern - nicht, weil die Exekutive der Kommu-

222

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

nistischen Internationale

es so wollte, sondern

weil diese Exekutive

ge-

zwungen war, die Bewegung an der Parteibasis hinzunehmen. In dieser

Zeit tritt die kommunistische Fraktion im Reichstag zuweilen wie eine

Gruppe Verrückter auf, sie erscheint mit Kindertrompeten und macht dergleichen Unfug mehr. Die Kommunisten

isolieren sich dadurch

auch

in der Arbeiterklasse immer mehr, wenngleich sie ihren Kern ım wesentlichen behalten. Bei den zweiten Reichstagswahlen 1924 im Dezember er-

halten sie einen neuen Tiefschlag, weil weitere Teile der industriellen Arbeiterklasse sich von ihrem ultralinken Kurs abwenden und jetzt — wenn auch mit Bedenken - sozialdemokratisch wählen. Die KPD verliert 1 Million Stimmen und sinkt auf 9% ab, während die SPD ihre Stim-

menzahl um fast ein Drittel steigern kann und mit 26% wieder die stärk-

ste Partei im Reichstag

wird.

Die

Sozialdemokratie

bleibt allerdings

in

der Opposition, denn im Januar 1925 wird unter Reichskanzler Hans Luther das erste Bürgerblock-Kabinett gebildet, dem neben den bisherigen Regierungsparteien nun auch die extrem reaktionäre Deutschnationale

Volkspartei (DNVP) angehört.

Der Rechtsruck, der sich in dieser Regierungszusammensetzung zeigt,

sollte sich bei den Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1925 noch verstärken. Friedrich Ebert, dem es ergeht wie dem Mohr, der seine Schul-

digkeit getan hat und nun gehen darf, wird in dieser ganzen Zeit ständig von der Reaktion auf das Schäbigste attackiert. Das erreicht einen Höhe-

punkt, als ihm ein rechtsradikales Blatt vorwirft, er habe im Zusammenhang mit den Januar-Streiks 1918 und der Revolution Landesverrat be-

gangen. Ebert klagt dagegen, was vor den deutschen Gerichten, so wie sie nun einmal waren, aussichtslos war. Tatsächlich erhält er im Magdebur-

ger Prozeß (Dezember 1924) kein Recht. Von der Auseinandersetzung psychisch und physisch angegriffen, stirbt Ebert Ende Februar 1925. Jetzt muß der Reichspräsident neu gewählt werden. Die Rechte sieht nun ihren vollen Triumph nahen. Für den ersten Wahlgang zur Reichsprä-

sidentenwahl, in dem man die absolute Stimmenmehrheit haben mußte,

um gewählt zu sein gen können), bilden schen Verbänden« sters und damaligen

(wobei klar war, daß kein Kandidat sie DNVP und DVP zusammen mit den ein Bündnis zugunsten eines früheren Duisburger Oberbürgermeisters, Karl

würde errin»VaterländiDVP-MiniJarres. SPD,

KPD, Zentrum, DDP, BVP und NSDAP stellen für den ersten Wahlgang

jeweils eigene Kandidaten auf. Der Rechtsblock-Kandidat Jarres erhält 10,4 Mio., Otto Braun, der Kandidat der SPD, 7,8 Mio., Wilhelm Marx (Zentrum) 3,9 Mio. Stimmen, die Kandidaten von DDP und BVP 1,5 und

1 Mio., während Ludendorff (NSDAP) nur 285000 Stimmen erzielt. Aber auch schon im ersten Wahlgang zeigt sich, daß der kommunistische

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

223

Kandidat Ernst Thälmann, ein aufrechter und tapferer Proletarier, mit

1,9 Mio. noch weniger Stimmen erhält, als die Kommunisten selbst in den Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924 noch bekommen hatten sie isolieren sich durch den ultralinken Kurs immer weiter.

Für den zweiten Wahlgang, bei dem die relative Stimmenmehrheit ausreicht, schaltet die Großbourgeoisie um und präsentiert die populärste

Figur, die sie präsentieren konnte, nämlich den senilen, reichlich dum-

men, ultrakonservativen Generalfeldmarschall von Hindenburg, den alten Paradegeneral

der Erfolge während

des verlorenen

Ersten Weltkrieges

(der seine »Erfolge« - nebenbei bemerkt - nur deshalb erzielt hatte, weil er einen wenigstens militärisch halbwegs denkfähigen Generalquartier-

meister hatte, der den Stab leitete, den General Ludendorff, der stets reaktionär war, aber in der Weimarer Republik ein hysterischer Faschist geworden ist). Generalfeldmarschall von Hindenburg glaubte noch immer an Wilhelm II. und an die Monarchie von Gottes Gnaden, wie er es

von Kindesbeinen an und als Offizier des 70er Krieges beigebracht bekommen hatte. Weiter zu denken, hatte er nie gelernt. Er hat selbst einmal in einer Rede erklärt, daß das einzige Buch, das er je, außer militäri-

schen Schriften, gelesen habe, die Bibel gewesen sei. Er war also nun der

Kandidat von Hindenburg, der der geeignete Repräsentant der deutschen

Kultur und nach Meinung des stärksten Flügels des Monopolkapitals und des Grundbesitzes der »fähigste« Reichspräsident werden sollte, den man bekommen

konnte.

Hindenburg

wird zum

Sammelkandidaten

der ge-

samten Rechten, zu denen auch die BVP (der bayerische Ableger des Zentrums) übergeht. Die Mittelparteien einigen sich, weil die Sozialdemokraten vor dem rechten Flügel des Zentrums kapitulieren, auf den

nicht nur in kulturellen, sondern auch in politischen Fragen weit rechtsstehenden früheren Reichskanzler Marx, der extrem katholisch und ein-

geschworener Feind des Gewerkschaftsflügels in der Zentrumspartei ist. Trotzdem unterstützt auch die SPD Wilhelm Marx in der Hoffnung, dadurch die Republik gegen Hindenburg zu schützen (als »kleineres Übel«, wie das so schön hieß: die Theorie vom »kleineren Übel« wurde damals geboren). Die SPD kann die Mehrheit ihrer Arbeiterwähler tatsächlich

dazu bewegen, für Wilhelm Marx zu stimmen, aber ein bedeutender Teil ihrer Arbeiter bleibt bei den Wahlen zu Hause, weil er diesen Marx nun wirklich nicht wählen kann, aber auch angesichts der ultralinken Über-

spitzungen der Kommunisten keine Lust hat, für Thälmann zu stimmen. Ein gemeinsamer Kandidat der beiden Arbeiterparteien, der ein Gegengewicht gegen Hindenburg hätte bilden können, wird nicht aufgestellt. Obwohl die Kommunistische Internationale der KPD ein Wahlbündnis mit SPD

und ADGB

empfohlen hatte, versücht die ultralinke

224

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

KPD-Führung nicht ernsthaft, ein solches Bündnis herzustellen. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie (der linke kämpft gegen diese Entscheidung innerhalb der Partei) erstarrt in Angst vor dem Symbol Hindenburg und tut aus diesem Grunde das Ungeschickteste, was er machen kann - er unterstützt den von iıhr selbst, als er Kanzler war, vorher scharf

bekämpften Zentrumskandidaten. Aus dieser Angst heraus entscheiden

sich die Sozialdemokraten für die Kombination mit Marx, verlieren dadurch zum Teil ihre eigene Kampfbasis und verhelfen dadurch unfreiwil-

lig objektiv Hindenburg zu einem noch überzeugenderen Sieg, obwohl

sie gerade diesen Sieg vermeiden wollten und hofften, Hindenburg auf diese Weise schlagen zu können. Ihr Kandidat Marx erhält 13,8 Mio.

Stimmen

(nur wenig mehr als die Kandidaten von SPD, Zentrum

und

DDP zusammen ım ersten Wahlgang erreicht haben), der KPD-Kandidat

Thälmann bleibt bei 1,9 Mio. und Hindenburg, der über 2,5 Mio. Stimmen mehr als die Kandidaten von DNVP/DVP, BVP und NSDAP im ersten Wahlgang gewinnt, erzielt 14,7 Mio. Stimmen. Also ist Hinden-

burg gewählt, und diese nach rechts transformierte bürgerliche Republik hat nun den geeigneten obersten Repräsentanten, der allerdings nicht nur ein Aushängeschild ist, sondern auch reale Machtpositionen

hat, denn

formell ist der Reichspräsident auch Inhaber der Notstandsrechte nach Artikel 48.

So ist diese Hindenburg-Wahl ein geradezu symbolischer Akt für die kommende Entwicklung. Allerdings treten die Folgen zunächst noch nicht so scharf hervor, denn der ökonomische Aufschwung, der jetzt mit

den amerikanischen Anleihen (initiiert von der Dawes-Anleihe) einsetzt und der dem damaligen Aufschwung der kapitalistischen Weltwirtschaft entspricht, ermöglicht es, diesen Prozeß der Rechtsentwicklung zu verhüllen. Die Kaschierung geschieht dadurch, daß äußerlich alles beim alten zu bleiben scheint: Da bleiben noch die sozialdemokratisch geleiteten

Länder (Preußen, Hessen, Hamburg u. a.); da bleibt die relativ starke parlamentarische Stellung der Sozialdemokratischen Partei und eine parlamentarische Vertretung der KPD (denn sie bleibt ja Massenpartei, wenn auch minoritäre Massenpartei der industriellen Arbeiterklasse); da bleibt

das gesamte Spektrum der bürgerlichen Parteien im Reichstag; man kann formell bürgerlich-parlamentarisch regieren mit den Bürgerblock-Majoritäten. Und das Großkapital hat so erhebliche Gewinne,

daß es auch

Raum für lohn- und auch sozialpolitische Konzessionen an das Proletariat behält. Denn in diesem bald einsetzenden konjunkturellen Aufschwung, der von einer ersten Rationalisierungswelle begleitet wird, kann durch den

Druck der Gewerkschaften und der Opposition (Kommunisten plus So-

Die Periode der Strabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

225

zialdemokraten im Parlament) einiges an Konzessionen für die Arbeiterklasse herausgeholt werden. Das hat auch den grotesk anmutenden Grund, daß die großen Parteien, die von der Großbourgeoisie gefördert werden (Deutschnationale und Zentrum) darauf angewiesen sind, ihre Arbeitnehmerflügel als Stimmenpotentiale zu halten (die Deutschnationalen die protestantischen Angestellten, das Zentrum die katholischen Industriearbeiter). So kann in der Aufschwungsperiode der Jahre 1924 bis 1928 das Lohnniveau beträchtlich erhöht werden (der Reallohn der Arbeiter wächst um fast 40%), doch wird das Vorkriegsniveau erst 1929 knapp übertroffen. Auch kann gegenüber der Bürgerblock-Regierung ein verbessertes System der Arbeitslosenvermittlung und die Arbeitslosenversicherung (1927) durchgesetzt werden, ferner ein verbessertes System des Arbeitsgerichtswesens,

Diese Erfolge sind aber auch Ergebnis einer Neuorientierung, die sich in dieser Periode in der KPD durchsetzt: Die Kommunistische Internationale kritisiert nach der schweren Niederlage der Kommunisten im Reichspräsidenten-Wahlkampf die ultralinke Politik der KPD, die sich auf deren 10. Parteitag im Juli 1925 nochmals durchgesetzt hatte, heftig. Im August 1925 richtet das EKKI (Exekutivkomitee der KI) einen offenen Brief an die deutsche Partei, in dem sie die Ablehnung der Einheitsfrontpolitik und die sektiererische Gewerkschaftspolitik der Ultralinken scharf verurteilt.' Die Kommunistische Internationale kann sich dabei

auf die Rest-Kader der früheren Rechten und der Mittelgruppe in der

KPD sowie auf die kommunistischer, Massenorganisationen stützen, die den ultralinken Kurs nicht mitgemacht hatten (die »Rote Hilfe« und die »Internationale Arbeiterhilfe« [IAH], die von Willi Münzenberg als proletarische Wohlfahrtsorganisation geschaffen worden war). Nach längeren innerparteilichen Auseinandersetzungen kommt es zur Schwenkung in der nun von Ernst Thälmann geführten Kommunistischen Partei, Sie gibt ab Ende 1925 den ultralinken Kurs auf und macht innergewerkschaftlich wieder eine rationale Politik, die auf das Bündnis mit den linken Sozial-

demokraten und auf die Aktivierung der Kampfkraft der Gewerkschaften gerichtet ist. Sie geht über zu einer Politik der Verteidigung aller demokratischen Rechte gegen die Bürgerblock-Regierungen. Diese Politik setzt sich um in jenen Druck, der die Bürgerblock-Regierungen zwingt, große sozialpolitische Konzessionen zu machen, zumal die Kommunisten

ihre jeweiligen Einheitsfrontangebote nicht nur an die Sozialdemokrati1

Vgl. »Offener Brief des EKKI vom August 1925 an alle Organisationen und Mitglieder der KPD«, veröffentlicht in der »Roten Fahne«, Nr. 200 vom 1. Sept. 1925, abgedruckt in: Dokumente und Materialien ..., a.a. O., Bd. VIII: Januar 1924-Oktober

1975, 5. 913 ff.

1929, Berlin

226

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

sche Partei, an ADGB, AfA und ADB, sondern auch an die christlichen Gewerkschaften richten. Dieser Druck der Arbeiterbewegung wird noch durch einen Vorgan

verstärkt, den die bürgerlichen Parteien nicht richtig eingeschätzt haben,

sonst hätten sie diese für das Monopolkapital selbst unsinnige Konzession

an die äußerste Reaktion und die hohe Bürokratie gar nicht machen müs-

sen: die Fürstenabfindung. Die ehemaligen deutschen Fürsten (nicht nur die Hohenzollern, sondern alle Landesherren, die 1918 gestürzt worden

waren) fordern - obgleich ein Teil von ihnen schon beträchtliche Zuwendungen von der Republik erhalten hat - Entschädigungen für entejg.

nete Besitztümer und Fürstenrechte. Viele Gerichte und die Reichsregie. rung stimmen diesen Ansprüchen zu, da andernfalls doch das hehre Ej-

gentumsrecht gefährdet sei. So billigt die preußische Regierung unter

sozialdemokratischer Führung im Oktober 1925 einen Vergleich mir dem ehemaligen preußischen Herrscherhaus, der diesem fast 200 Mio, Reichsmark in der nun stabilisierten Währung einbringt. Im November

wird von der DDP ein Gesetzentwurf über die Entschädigung der Fürsten im Reichstag eingebracht. Daß das den Arbeitern, breiten Schichten

der Angestellten und zahlreichen mobilisierbaren Kleinbürgern nicht paßt, leuchtet ein, denn diese hatten ja ihre Spargelder durch die Inflation

verloren: Weshalb sollen eigentlich den Monarchen die Riesensummen in

den Rachen geworfen werden?

In dieser Situation macht die Kommunistische Partei, die im November 1925 einen Gesetzentwurf zur entschädigungslosen Enteignung der

Fürsten vorgelegt hatte, Anfang Dezember ein weiteres Einheitsfrontangebot an SPD, ADGB, AfA, ADB und »Reichsbanner« (die mehrheitlich

sozialdemokratische republikanische Schutzorganisation), einen gemeinsamen Volksentscheid durchzuführen. Dieses Angebot verändert die po-

litische Lage in der bürgerlichen Republik vorübergehend, denn die Kommunistische Partei und relativ breite Kreise radikaler links-bürgerlicher Demokraten (um zwei Zeitschriften: »Die Weltbühne« Carl von

Ossietzkys und dann auch Kurt Tucholskys sowie »Das Tagebuch«) treten gemeinsam für Fürstenenteignungsgesetze ein und fordern alle republikanisch und demokratisch denkenden Wähler auf, dabei mitzuwirken.

Die erste Reaktion des sozialdemokratischen Parteivorstands ist ablehnend: Wir machen nichts gemeinsam mit Kommunisten, und im übrigen

sind wir zwar nicht für so große Entschädigungen, wie sie die Fürsten fordern, aber doch für einen Kompromiß auf der Basıs des DDP-Gesetzentwurfs. - Aber die Massen auch in der Sozialdemokratischen Partei sind anderer Ansicht, und so bildet sich eine breite Opposition in SPD und »Reichsbanner«. Diese Opposition tritt für die Fürstenenteignung

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

227

ein, denn schließlich ist man doch republikanisch! - Als die Kommuni-

sten und Linksbürgerlichen, die sich unter Vorsitz des Ökonomen und

Statistikers Robert Kuczynski zu einem Ausschuß zusammengeschlossen

hatten, im Januar 1926 ein Volksbegehren einleiten (in der Weimarer

Verfassung gab es die Möglichkeit der Gesetzgebung auch durch Volks-

abstimmung, vorher mußte aber ein Volksbegehren durchgeführt werden), wird es von einem großen Teil der Bevölkerung bis in die mittleren

Funktionäre

der Sozialdemokratischen

Partei

hinein unterstützt. Jetzt

gibt der SPD-Parteivorstand seine ablehnende Haltung wegen des Drucks

von unten auf, und die Einheitsfront ist wieder erstritten im Volksent-

scheidskampf für die Fürstenenteignung. In diesem Volksbegehren mußte jeder Unterstützer unterschreiben, nicht nur zur Urne gehen und die Stimme abgeben! Trotzdem kommen bereits beim Volksbegehren im März 1926 weit mehr Unterschriften zusammen

(12,5 Mio.), als die Kommunistische

und die Sozialdemokrati-

sche Partei in den Reichstagswahlen vorher und in den Präsidentenwahlen gemeinsam erlangt haben. Nun setzt von den bürgerlichen Parteien ein heftiger Gegendruck ein, und weil alle bürgerlichen Parteien zusam-

menhalten, machen auch die kirchlichen Organisationen mit. Es gibt fei-

erliche Erklärungen aller katholischen deutschen Bischöfe und der Kon-

sistorien aller protestantischen Kirchen, daß, wer auch nur zum Volks-

entscheid über die Fürstenenteignung hingehe, sich dadurch versündige, denn die Fürsten seien ja einst von Gottes Gnaden eingesetzt worden. Nach dem erfolgreichen Volksbegehren wird das Gesetz zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten zur Volksabstimmung vorgelegt. Doch diese Urabstimmung ist faktisch eine öffentliche Abstimmung geworden; denn jeder, der zur Urne geht, bekennt sich faktisch öffentlich

als Unterstützer der Fürstenenteignung, da alle bürgerlichen Parteien und die Kirchen dazu aufgerufen hatten, der Abstimmung fernzubleiben. Das konnten sie sich leisten, weil nach der Volksentscheids-Gesetzgebung der Weimarer Republik ein verfassungsänderndes Gesetz nur dann durch Volksentscheid angenommen wurde, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten zugestimmt hatte - nicht die Mehrheit der Abstimmungsteil-

nehmer, sondern die aller Stimmberechtigten! Typisch für die Weimarer Republik war, daß alle hohen Gerichte erklärt hatten, daß dieser Geset-

zesentwurf verfassungsändernd sei. Das war er objektiv nicht, denn es gab keinerlei besondere Eigentumsgarantie für die Fürsten in der Weimarer Reichsverfassung. Obwohl alle bürgerlichen Parteien, die Kirchen und auch der Reichspräsident von Hindenburg, treu seinem in Holland im Exil lebenden Wilhelm II., zum Boykott der Volksabstimmung aufrufen und die Ab-

228

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

stimmung dadurch zu einer öffentlichen machen, gelingt es, die Stimmenzahl beim Volksentscheid am 20. Juni 1926 nochmals gegenüber dem Volksbegehren auf 14,5 Mio. (36,4% aller Wahlberechtigten) zu steigern,

Dabei gibt es eine typische Differenzierung: Auf dem flachen Land, wo

die Leute leichter kontrollierbar sind, hat man beim Volksentscheid die Stimmenzahl des Volksbegehrens nicht mehr erreichen können. Aber in

den Städten, wo die Kontrolle weniger leicht ist, weil die linke Stimmung in der Bevölkerung größer ist, wächst die Stiummenzahl noch derart, daß der Rückgang auf dem Lande mehr als kompensiert wird. So wird zwar der unmittelbare Zweck verfehlt und das Gesetz abgelehnt - nur etwas mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten

hatte den

Volksentscheid unterstützt, über 50% wären notwendig gewesen —, aber die Linke hat eine Machtdemonstration durch gemeinsamen Kampf zustande gebracht, die eine zeitweilige Veränderung der politischen Situation bewirkt. Nun fallen im Parlament auch die Entscheidungen zugun-

sten einer Verbesserung des rechtlichen Schutzes der essen durch das Arbeitsgerichtsgesetz. Diese Änderung des politischen Klimas, wie sie frontbewegung für die Fürstenenteignungen während riode der Weimarer Republik erzeugt wird, geschieht rung verschiedener

Bürgerblock-Kabinette,

Arbeitnehmerinter-

durch die Einheitsder Konjunkturpewährend der Regie-

die teils unter

Einschluß

der

Deutschnationalen (1. Regierung Luther ab Januar 1925, 4. Regierung Marx ab Januar 1927), teils ohne sie (2. Regierung Luther ab Januar 1926, 3. Regierung Marx ab Mai 1926) gebildet werden. Während dieser Periode ist zwar sowohl für das Bewußtsein der Massen wie ın der Realität die bürgerliche Republik als politischer Tatbestand voll stabilisiert. Wäh-

rend dieser Periode verstärkt sich also das Bewußtsein in den Massen, daß vorläufig Strukturveränderungen der Gesellschaft in Richtung auf die Be-

seitigung kapitalistischer Produktionsverhältnisse nicht zu erreichen sei-

en. Es geht jedoch darum, daß die Arbeiterklasse in dieser Situation ihre

Kraft zurückgewinnt, um erstens innerhalb dieses Systems wenigstens al-

le demokratischen Rechte und die Weimarer Verfassung zu schützen gegen deren ständige Unterwanderung vom restaurierten Staatsapparat aus;

zweitens muß sich die Arbeiterklasse einen möglichst großen Anteil am

Produktionsergebnis sichern, den Lebensstandard erhöhen (langsam wird

wieder das Niveau von 1914 erreicht), Anteile an den hohen Gewinnen der monopolistisch gewordenen Unternehmen erstreiten und eine Sicherheit ihrer sozialpolitischen Rechte gewährleisten, wie sie in der Arbeitslosenversicherung und der öffentlich-rechtlichen Arbeitsvermittlung sowie in der Reorganisation des Arbeitsgerichtssystems zum Ausdruck kommt.

Die Periode der Srabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

229

Die Arbeiterbewegung lernt in dieser Situation, wieder einträchtig zu handeln. Dies geschieht auf Druck der Kommunistischen Partei, die zu einer relativ rationalen Politik zurückgefunden hat. Infolgedessen kann

trotz der Hochkonjunktur und des Hochkonjunkturbewußtseins in den Massen das Gesamtklima der Weimarer Republik zugunsten der Arbeiterklasse und der Demokratie verändert werden. Die Volksentscheidsbewegung ist zwar äußerlich insofern gescheitert, als die Fürstenenteig-

nung nicht durchgesetzt werden konnte. Faktisch aber hat sie sich auch für das Bewußtsein der Massen als Erfolg erwiesen, denn trotz der prakti-

schen Verwandlung des geheimen Abstimmungsverfahrens in ein öffent-

liches ist ja die Stimmenzahl, die bei dieser Volksabstimmung herauskommt, wesentlich höher als die für die Arbeiterparteien in den letzten

Reichstagswahlen und erreicht annähernd wieder solche Höhen wie im Jahre 1919. Ein großer Teil der Randschichten der Arbeiter, der neuen Gruppen der abhängigen Arbeit, der Angestellten und unteren Beamten kehrt, nachdem er vorher zur Reaktion abgewandert war, wieder zum

Bewußtsein der Notwendigkeit eines Bündnisses mit der industriellen

Arbeiterklasse zurück. Die Sozialdemokratische Partei, in der sich nach der Rückkehr der rechten USPD im September 1922 wieder ein stärkerer linker Flügel gebilder hatte, gibt sich in dieser Konjunkturperiode ein neues Programm,

das das äußerst rechte Görlitzer Programm von 1921 ablöst. Der Heidel-

berger Parteitag vom September 1925 beschließt ein Programm,* das in sei-

nem systematischen Aufbau insofern an das Erfurter Programm erinnert, als es mit einer Analyse der politisch-sozialen Gesamtsituation beginnt,

die die Klasseninteressen und Klassengegensätze keineswegs ausspart und auch die Verbindung dieser Fragestellung mit der Problematik des Monopolkapitals und des Imperialismus (und der von ihm ausgehenden Gefahren für den Weltfrieden) nicht verschweigt. Was allerdings - und das ist in der Zeit des ökonomischen Aufschwungs nach den Inflationskrisen besonders auffällig - fehlt, ist ein Verweis auf die bevorstehenden schweren ökonomischen Krisen und - von gelegentlichen Seitenbemerkungen abgesehen — des drohenden, zu dieser Zeit in Italien schon seit drei Jahren siegreichen Faschismus. Das Ziel sozialistischer Umgestaltung des ökonomischen Systems ist jedoch keineswegs (auch nicht im Aktionsprogramm) ausgeklammert. Aber die Identifikation mit der der Form nach immer noch erhaltenen Weimarer Verfassung ist in diesem Programm so weit getrieben, daß nicht untersucht wird, wie weit diese Verfassung fak2

Vegl. Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (beschlossen auf dem Parteitag in Heidelberg 1925), in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach (Hg.): Programmatische Dokumente ..., a.a. O., S. 211££.

230

Die Periode der Stabilisierung der Weimarer Republik (1924-1928)

tisch durch die Niederlagen in den Klassenkämpfen seit ihrer Verabschiedung bereits in diejenige eines bürokratischen Obrigkeitsstaates zur Garantie

monopolkapitalistischer

Interessen

transformiert

worden

ist,

Die Forderungen des Aktionsprogramms, so progressiv die meisten von

ihnen im einzelnen auch immer waren, klammern in ähnlicher Weise die Frage aus, wieweit in einer kommenden ökonomischen Krise die Arbei-

terklasse und die demokratischen Kräfte zu eigenem Handeln außerhalb des formell gesetzlichen Rahmens und bloßer parlamentarischer Mehrheitsbildung genötigt sein würden, um sich vor der Gefahr des vollstän-

digen Verlustes ihrer demokratischen und sozialen Rechte, der faschisti-

schen Diktatur und des Krieges zu schützen. Hinsichtlich der internationalen Lage wird auf jede Einschätzung ihrer grundsätzlichen Veränderung durch den Sieg der russischen Oktoberrevolution schlicht verzich-

tet, und die revolutionären Emanzipationskämpfe in den kolonial beherrschten Bereichen der Erde werden nur in einem Satz am Rande erwähnt. Das Vorstellungsbild des Programms geht also wie selbstverständ-

lich von der Erwartung aus, daß die weitere Entwicklung im wesentl;-

chen friedlich und frei von physischer Gewaltanwendung des Staates ge-

gen die Organisationen der Arbeiterbewegung verlaufen werde.

So ist es nicht zu verwundern, daß trotz (nicht wegen) seines Inhalıs

das Programm für das weitere Verhalten der Partei bedeutungslos wird, als die Konjunktur (und damit die Hoffnung auf schrittweise Errichtung einer »Wirtschaftsdemokratie«) der Krise weicht.

231

20. Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

War mit der Dauerhaftigkeit dieser Konjunktur, dieses konjunkturellen Aufschwunges zu rechnen? Die reformistische Richtung der Arbeiterbewegung und auch die breiten Massen sind fast einhellig davon überzeugt. Dies ist schließlich damals die Ansicht der gesamten Volkswirtschaftsleh-

re an den Universitäten, dies ist die Meinung der gesamten, auch der kri-

tischeren, Presse. Zwar gibt es damals noch eine viel liberalere Presse, als

wir sie heute haben - die »Frankfurter Zeitung« als wichtigste linksliberale Zeitung, das »Berliner Tageblatt« und die »Vossische Zeitung« unterscheiden sich durchaus eindeutig von der Presse der Rechten, die sich vor allen Dingen um den Hugenberg-Konzern aufbaut, der gleichzeitig das Filmwesen über die UFA beherrscht. Jene demokratische Presse ist ın

der Tat »kritisch«, aber in diesen sozialökonomischen Fragen ist auch sie

sich mit der »herrschenden Lehre« einig. Die ökonomische Fehlprognose liegt zum Teil an der Borniertheit bürgerlicher Wissenschaft, die sich —das kann man bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurückverfolgen - in Aufschwungs- und Konjunkturperioden immer eingebildet hat, daß diese Konjunktur nun ewig dauern werde

und es keine schweren

Krisen mehr geben könne. Diesem Irrglauben der bürgerlichen Volks-

wirtschaftslehre schließt sich dann um die Jahrhundertwende die revisionistische ökonomische Theorie an — siehe Bernstein —, so daß diese Illu-

sion sich immer wieder reproduziert. Die Massen glauben an diese Illusion - teilweise auch bis in die Reihen der Kommunistischen Partei hinein.

Marxistische Kritiker glauben das natürlich nicht. Und so kommt schon Ende 1927 das »Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik« in

Moskau zu der Erkenntnis, daß diese Konjunktur in spätestens ein bis zwei Jahren zu Ende gehen und dann eine Krise kommen werde. Wegen der Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft, die sich auch

durch die Veränderung der Technologie gesteigert hatten (es gab ja gleichzeitig erste große Rationalisierungswellen), werde sich diese Krise als viel schärfer erweisen als die Krisen vorher. Das Institut in Moskau unter Leitung von Eugen Varga (einem ungarischen Volkswirtschaftler, der nach der Niederwerfung der Räterepublik emigrieren mußte) prognostiziert also schon 1927/28, daß die Konjunkturwende in sehr kurzer Zeit bevorstehe.! 1

Vgl. Eugen Varga: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im IV. Vierteljahr 1927 (Abge-

232

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

Die bürgerliche Wissenschaft und auch die Sozialdemokraten

nehmen

diese Prognose nicht ernst. Aber ein Teil der kommunistischen Führung

zieht nun - noch bevor die Krise da ist - aus dieser Erwägung eine inhalt-

lich allerdings falsche politische Konsequenz.

Ihre Überlegung

lautet:

Wenn eine neue schwere Krise, eine viel schwerere, als wir sie ım Kapita-

lismus je gekannt haben, bevorsteht, dann heißt das quasi automatisch, daß die Massen zu einer revolutionären Veränderung des kapitalistischen Systems drängen werden. - Das war eine Folgerung, die sozialpsychologisch in dieser Form natürlich nicht stimmte, denn die Massen mußten ja während der Krise erst langsam lernen und sich dann möglicherweise radikalisieren. Aus dieser Folgerung wird von einem Teil der KPD-Füh-

rung eine weitere strategisch völlig falsche Überlegung entwickelt, näm-

lich die, daß nun das Bündnis mit den Reformisten, deren Führung in einer solchen revolutionären Situation auf die andere Seite der Barrikade treten werde, in der bisher von der KPD angestrebten Form überflüssig werde. Die Exekutive der KI und die KPD-Führung betreibt also wieder

eine Wendung weg von der Einheitsfrontpolitik hin zur Politik der bloßen

revolutionären Propaganda für den Fall dieser kommenden Krise. Diese Wendung in den Spitzen (jetzt nicht nur der Kommunistischen Interna-

tionale, sondern auch der Kommunistischen

Parteien in fast allen euro-

päischen Ländern) aufgrund einer richtigen ökonomischen Prognose (die sich von den Einschätzungen der bürgerlichen Wissenschaft und der reformistischen Sozialwissenschaft durchaus positiv unterschied) ist für die Massen — besonders vor dem unmittelbar erkennbaren Ausbruch der Krise - zum Teil schwer verständlich. Das ist die Situation, ın der die Reichstagswahlen vom Mai 1928 statt-

finden. Die Konjunktur ist noch im Gange, die Krise steht noch bevor., Die Kommunistische Partei orientiert sich jetzt plötzlich nicht mehr auf eine Einheitsfrontpolitik, die von einer defensiven Strategie ausgeht, um sie dann in eine offensive transformieren zu können, sondern erhebt un-

mittelbare Forderungen zur Durchsetzung des Sozialismus und der Diktatur des Proletariats. Das ist für die Massen nicht verständlich in dieser Situation. Die KPD betreibt nicht mehr Einheitsfrontpolitik im alten

Sinne, sondern sie will die »Aktionseinheit von unten«, das heißt, sie tet jetzt nicht mehr der Führung der SPD die Einheitsfront an (was die Sozialdemokratie bislang erheblichen Druck dahin ausgeübt hatte, Bündnis mitzumachen), sondern nur noch »Einheitsfront von unten«

bieauf im mit

schlossen am 20.Januar 1928), in: Internationale Presse-Korrespondenz, 8. Jg., Nr. 15 vom 15. Februar 1928, 5. 294 ff.; auch abgedruckt in: Eugen Varga: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Vierteljahresberichte 1922-1929, hg. von Jörg Goldberg, Bd. 3: Internationale Presse-Korrespondenz 1925-1928, Berlin 1977.

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

233

den unteren und mittleren Instanzen der Sozialdemokratischen Partei für

unmittelbar revolutionäre Lösungen. Gleichwohl

stehen diese Wahlen von

1928 noch unter dem Vorzei-

chen der vorausgegangenen Erfolge der Einheitsfrontpolitik vorheriger Zeit sowie der lohn- und sozialpolitischen Errungenschaften der Konjunkturperiode, die sichtlich nur durch diesen Druck möglich geworden waren. Daher kommt es bei den Reichstagswahlen von 1928 zu einem bedeutenden Wahlerfolg der Sozialdemokratie, die große Teile der neuen Schichten abhängig Arbeitender (der Angestellten und unteren Beamten)

an sich zieht, und gleichzeitig zu einem großen Wahlerfolg der Kommunisten, die einen Teil des industriellen Proletariats, den sie zu Zeiten ih-

rer alten ultralinken Politik 1924/25 verloren hatten, wiedergewinnen.

Denn die KPD ist im Gedächtnis der industriellen Arbeitermassen noch

die Partei, die den Erfolg der Einheitsfrontpolitik in der Fürstenenteig-

nungskampagne erzwungen hatte. Die neuerliche Wendung zur ultralin-

ken Politik ist noch nicht in die Köpfe gedrungen. Sie ist zwar auf dem IX. Plenum der Exekutive der Kommunistischen Internationale (Februar 1928) und von den Parteispitzen im wesentlichen schon beschlossen

worden und wird in einzelnen Parolen bereits angedeutet, aber öffentlich wird sie erst auf dem im Sommer 1928 in Moskau tagenden VZ. Weltkongreß der KI. Bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928 erntet die KPD hin-

gegen noch die Früchte ihrer vorherigen Einheitsfrontpolitik. So kommt es zum größten Wahlerfolg der Arbeiterbewegung seit 1920.

Die SPD

erringt mit über

9 Mio.

Stimmen

29,8%

(das ist ihr bestes

Wahlergebnis in der Weimarer Republik nach den Wahlen zu deren Na-

tionalversammlung), die KPD mit 3,3 Mio. Stimmen 10,6%. Die Bürgerblock-Parteien verlieren alle erheblich an Stimmen, besonders stark geht

die DNVP zurück (von 20,5% im Dezember 1924 auf nunmehr 14,2%).

Was ist die Folge? Die Bourgeoisie erkennt, daß es mit der alten Bürger-

block-Koalition nicht mehr weitergeht und strebt eine Große Koalition

an. Diese Koalition umfaßt die Parteien von der Deutschen Volkspartei, der zentralen Partei des Monopolkapitals, bis zur Sozialdemokratie. Im

Juni 1928 wird das Kabinett Hermann Müller gebildet, dem neben dem Reichskanzler drei weitere Sozialdemokraten (Rudolf Hilferding, Carl Severing, Rudolf Wissell) sowie Minister der DVP (unter ihnen Gustav Stresemann,

der

seit

1923

ununterbrochen

Außenminister

war),

der

DDP, der BVP und des Zentrums angehören. Es beginnt sofort mit einer Wendung: Die Politik sozialer Reformen, die die Arbeiterbewegung vorher durch die Einheitsfrontpolitik gegen den Bürgerblock erkämpft hatte - ich erinnere an die Arbeitslosenversicherung und die Lohnerhöhungen - schlägt noch vor dem Ausbruch der Krise in das Gegenteil um —-

234

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

und das unter einem sozialdemokratisch geführten Kabinett. Der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller war ja auf seine Koalition angewiesen und mußte

der Deutschen

Volkspartei, seinem Koalitions.

partner, der Partei des Monopolkapitals also, Konzessionen machen. So

beginnt die Regierungstätigkeit der Sozialdemokratie gleich mit einem dramatischen Akt. Die Sozialdemokratie war, noch unter dem Druck der Kommunisten, mit der Parole: »Für Kinderspeisung, gegen Panzerkreuzer!«

in den Reichstagswahlkampf gezogen. Die Parole versprach also die Fort.

setzung des sozialpolitischen Kurses durch Einführung unentgeltlicher Kinderspeisung in den Schulen und die Finanzierung der Sozialpolitik durch Rüstungskürzung. Diese Losung entsprach eindeutig den Reform. interessen der Arbeiterklasse. Ebenso klar richtete sie sich gegen die In-

teressen des Monopolkapitals, das ja an der Aufrüstung verdienen und gleichzeitig die Macht

des deutschen Imperialismus

gegenüber anderen

imperialistischen Mächten deutlich stärken wollte. Zu diesem Zweck war

der Neubau von drei Panzerkreuzern für die Reichsmarine geplant. Zwar

hatte die damalige Aufrüstung keine so umfassende Bedeutung wie heute, aber sie war von großer, fast dramatischer Bedeutung für die Psychologie

der Massen, auf deren Kosten sie bezahlt werden sollte. Der Panzerkreuzerbau war auch von größter politischer Bedeutung, denn weitere Aufrü-

stung hieß ja gleichzeitig Kurs auf den möglichen imperialistischen Krieg! Die Sozialdemokratie hatte ihren Wahlerfolg im Mai 1928 nicht zu-

letzt durch die erwähnte Parole, die sie mit den Kommunisten noch teilte, erkämpft. Der erste Akt des Kabinetts Hermann Müller war nun aber der Beschluß, den Bau des Panzerkreuzers A zu beginnen — also das Gegenteil dessen zu tun, wofür die SPD in den Wahlkampf gezogen war. In

der Sozialdemokratie führt das natürlich zu großen Widersprüchen, denn die Parteilinke um die Zeitschrift »Der Klassenkampf« unter Führung von Paul Levi und Kurt Rosenfeld opponierte heftig gegen diese Politik. Aber diese Widersprüche können sich nicht richtig entfalten und wirksam werden, da gleichzeitig die KPD aus den Gründen, die wir genannt haben, auf einen ultralinken Kurs geschwenkt war. Anstatt die Sozialde-

mokratie zu zwingen, mit ihr gemeinsam zu marschieren, und dazu auch

ihre Positionen in ADGB, AfA, ADB usw. zu nutzen, beginnt die KPD ihre Propaganda mit der Parole des »Sozialfaschismus«, der sich hier im

Verhalten der SPD-geführten Regierung angeblich deutlich zeige. Hätte die KPD die Einheitsfrontpolitik in dieser Situation fortgesetzt, wer

weiß, ob sie nicht die Sozialdemokratie zu einer anderen Politik hätte

zwingen können - wie sie ja 1925/26 die SPD zu einer anderen Politik bei der Fürstenenteignungskampagne gezwungen hatte.

So kann sie es natürlich nicht, denn sie ruft mit der »Sozialfaschismus«-

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

235

These das Identifizierungsbedürfnis der sozialdemokratischen Funktionä-

re mit ihrer in dieser Weise auch theoretisch völlig falsch charakterisier-

ten Führung wach. In Italien gab es zwar den Faschismus seit 1922 an der Macht, und auch in Deutschland droht auf lange Sicht, in einer Krise

nämlich, die faschistische Gefahr (obwohl die Faschisten niemals seit 1924 so schwach in den Wahlen gewesen sind wie 1928), aber die KPD

identifiziert nun einfach jede reaktionäre Schwenkung mit Faschismus, obwohl der ein völlig anderes und das politische System viel tiefer veränderndes Phänomen darstellt. Sie identifiziert die reaktionäre Schwenkung

der Spitze der Sozialdemokratie a) mit der gesamten Sozialdemokratischen Partei - was barer Unsinn war, b) mit dem Faschismus - was noch

größerer Unsinn war, denn ein siegreicher Faschismus vernichtet ja auch die reformistische Arbeiterbewegung. Infolgedessen verkapselt und isoliert sich die KPD noch vor Ausbruch der Krise. Dieser Prozeß verstärkt

sich nach dem langsamen Beginn der Krise, aber dann ist dieser falsche Kurs den Massen eher verständlich. Dabei wird die »Sozialfaschismus«-

These keineswegs einheitlich von der Gesamtheit der KPD vertreten. Es gibt in der Partei durchaus Widerspruch

KPD

dagegen.

Ganze Gruppen

der

unter Führung der »Rechten« (Heinrich Brandler, August Thal-

heimer, Jakob Walcher) und der sogenannten »Versöhnler« (Hugo Eberlein, Ernst Meyer) wenden sich gegen den ultralinken Kurs und haben zunächst sogar mit dieser Opposition innerparteilich relativ große Erfolge; nur wird diese Opposition in der KPD im November 1928 nach dem VI. Weltkongreß der KI total geschlagen. Die Führer der Rechten wer-

den ausgeschlossen und gründen ab Dezember 1928 die »Kommunistische Partei-Opposition« (KPO), die die Wochenschrift »Gegen den Strom« herausgibt.

Endgültig durchsetzen kann sich der ultralinke Kurs in der KPD allerdings erst nach dem »Berliner Blutmai«. Am 1. Mai 1929, knapp ein Jahr nach den Wahlen — die KPD ist inzwischen zu einer völlig verfehlten ge-

werkschaftlichen

Politik,

der RGO-Politik

umgeschwenkt

—, verbietet

die sozialdemokratisch geleitete preußische Regierung unter Otto Braun auf Veranlassung der Reichsregierung mit einem sozialdemokratischen

Innenminister, Carl Severing, unter dem Druck der Rechtskräfte die Mai-

Demonstrationen als Umzüge unter freiem Himmel und gestattet nur noch Kundgebungen in Sälen. Das hatte große symbolische Bedeutung.

Vor der Revolution, ım Kaiserreich, waren die Mai-Demonstrationen vor

allen Dingen in Berlin immer wieder durch die Regierung und den Berliner Polizeipräsidenten verboten worden. Erst nach der Revolution 1918

fielen

diese Verbote

weg

und

bestand volle Demonstrationsfreiheit.

Gleichwohl hatten auch schon im Kaiserreich seit Jahren - etwa seit der

236

Jahrhundertwende

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

— kontinuierlich

die

1.-Mai-Demonstrationen

trotz

der Verbote als öffentliche Demonstrationen stattgefunden. Dabei hatte es meist ein sozusagen übliches Scharmützel gegeben, indem die Polizei erschien und mit den Säbeln herumprügelte. Aber damit begnügte sich noch die Polizei, und die Demonstrationen fanden statt. Nun erließen zum ersten Mal seit dem Sturz der Monarchie ausgerechnet ein sozialde. mokratischer Reichsinnenminister, ein sozialdemokratischer preußischer Innenminister und ein sozialdemokratischer Polizeipräsident von Berlin ein solches Verbot. Natürlich rufen in Repetition dessen, was es vor 1914

immer gegeben hat, die Kommunistische Partei und die RGO gemeinsam

gegen dieses Verbot zur öffentlichen Demonstration unter freiem Himmel auf. Nur reagiert der Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel, wie-

derum auf Weisung des preußischen Innenministers, jetzt nicht wie die

Polizei des Kaisers und läßt ein paar Polizisten mit hauenden Säbeln herumrasen, so daß schlimmstenfalls Hautabschürfungen entstehen (denn die Polizisten hieben ja nicht mit der scharfen Seite des Säbels, sondern

mit der flachen), vielmehr läßt er die Polizei schießen. Nach anschließenden Barrikadenkämpfen im Wedding liegen 30 Tote auf den Pflastern von Berlin; mehrere hundert Arbeiter sind verwundet. Die symbolische

Bedeutung dieses Vorgangs kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Jetzt ist dem Scheine nach für die Massen die »Sozialfaschismus«-These

bestätigt! Wer hat schließlich das Verbot ausgesprochen, wer hat die Polizei schießen lassen? Jetzt ist die Opposition gegen die »Sozialfaschismus«-These in der KPD »unten« einfach zu Ende. Ich gehörte damals zu einer Gruppe in der kommunistischen Bewe-

gung, die heftig gegen die »Sozialfaschismus«-These gekämpft hatte, aber

nun, nach dem Berliner Blutmai, haben mich die kommunistischen Arbeiterfunktionäre, die mir vorher zugestimmt hatten, beinahe verhauen,

als ich weiter gegen die »Sozialfaschismus«-These agitierte. Die Stimmung war radikal umgeschlagen, und die »Sozialfaschismus«-These war jetzt für eine ganze Periode in der KPD unangreifbar; jene, die noch opponierten,

wurden ausgeschlossen. Es waren vorher nur die Führer der Opposition ausgeschlossen worden, aber jetzt fliegt jeder hinaus, der opponiert - und zwar nicht gegen den Willen der Masse der Parteimitglieder, sondern mit deren Einverständnis. Denn dem Scheine nach hatte sich die Einschätzung der Sozialdemokratie, wie sie die Partei (unter Führung Ernst Thälmanns, Heinz Neumanns und Hermann Remmeles) mit der »Sozial-

faschismus«-These vornahm, in den Ergebnissen des 1. Mai

1929 bestä-

tigt. Solche Symbolakte haben nun einmal in der Geschichte größere Bedeutung, als man gemeiniglich denkt. Bereits ein halbes Jahr vorher hatte das Verhalten der sozialdemokra-

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

237

tischen Minister in einem langen und erbitterten Arbeitskampf, der Aussperrung der Ruhrmetallarbeiter Ende 1928, die ultralinken Tendenzen in der KPD und ihrer Gewerkschaftspolitik, der RGO-Politik, gefördert und wiederum diese Politik der KPD dem Scheine nach gerechtfertigt. Die sozialdemokratisch geführte Regierung war von vornherein gezwungen worden, auch arbeitspolitisch immer mehr zurückzuweichen. Die

Deutsche Volkspartei, die Partei des Monopolkapitals - nun nicht mehr von einer Einheitsfront des.gesamten Proletariats in Schach gehalten —, spielte in der Großen Koalition ihre Karten in vollem Maße aus. Der Lohnaufschwung, der vorher gegen Bürgerblock-Koalition und Kapital erkämpft

worden

war,

kam

zum

Stillstand.

Die

sozialdemokratische

Führung übte aus Angst um die Erhaltung der Koalition auf die Gewerk-

schaftsspitzen starken Druck aus, um sie zu nur mäßigen Lohnforderun-

gen zu bewegen - und das, obwohl die Preise permanent stiegen und die

Regierung die Massensteuern erhöhen wollte. Die Gewerkschaftsführung hatte Angst, die Bürgerblock-Regierung könne zurückkehren, und gab

nach. Eine Reihe von Arbeitskämpfen endete 1928 mit der Hinnahme ungünstiger Schlichtungssprüche durch die Gewerkschaftsführungen. Dadurch steigerten sich die Widersprüche in der Gewerkschaftsbewegung, und die Wendung

der Kommunisten

zur »Sozialfaschismus«-These

wurde jetzt durch die Wendung zu schärferer Oppositionspolitik in den

Gewerkschaften, notfalls auch unter Bruch der gewerkschaftlichen Dis-

ziplin, verstärkt. Das war falsch; denn hätte man in den Gewerkschaften klug und mit einer Einheitsfrontstrategie gewerkschaftliche Opposition

entfaltet, so hätte man die Verbände wahrscheinlich zu einer Wendung zwingen können (wie etwa die spontane Streikbewegung von 1969 zu ei-

ner aktiveren Politik der Gewerkschaften geführt hat). Statt dessen verwies damals die Kommunistische Partei wieder auf das »sozialfaschistische« Verhalten der Sozialdemokraten und forderte von den Arbeitern in den Betrieben Einzelstreiks und Einzelkämpfe ohne Rücksicht auf gewerkschaftliche Disziplin auch mit Unorganisierten zusammen. Das bedeutete, daß man solche Kämpfe in vielen Fällen begann und zunächst auch noch in Einzelfällen gewann; aber man konnte etwaige Erfolge dann nicht tarifvertraglich absichern, sondern nur durch Vereinbarungen in einzelnen Betrieben durchsetzen. Andererseits hatte nun die Gewerkschaftsführung die Vorwände und das Recht, eine Gewerkschaftsopposi-

tion, die so verfuhr, wegen Disziplinbruchs auszuschließen. Das traf gerade die aktivsten kommunistischen Funktionäre. Die Kommunisten schlossen die oppositionellen Kräfte in der RGO (der Revolutionären Gewerkschaftsopposition) zusammen, zunächst zwar noch mit der Absicht, auch künftig innergewerkschaftliche Opposition zu entfalten, aber

238

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

gleichzeitig mit dem Ziel, diese RGO, die die innergewerkschaftliche Opposition organisieren soll, zu einer selbständigen Kampforganisation mit eigener Mitgliedschaft und eigenen Gremien zu entwickeln. Das be-

deutete faktisch die Gründung einer Konkurrenzgewerkschaft. Das Ergebnis war, daß ein kommunistischer Betriebsfunktionär nach dem ande-

ren aus dem Betrieb flog, weil er zuvor auch aus der Gewerkschaft ausgeschlossen worden war. So sank der innergewerkschaftliche Einfluß der

Linken auf den schmalen Rest verzweifelt um ihre Position kämpfender

linkssozialdemokratischer Funktionäre zusammen, die ihrerseits von der

KPD und der RGO

aufgrund der »Sozialfaschismus«-These als gefähr-

lichste Gegner eingeschätzt und behandelt wurden. Auch die Linke wurde also durch diesen Kurs lediglich gespalten und verwirrt. Das führte

noch vor dem vollen Ausbruch der Krise von Niederlage zu Niederlage — innergewerkschaftlich wie außergewerkschaftlich. Unter dem Druck der Regierung gab die Gewerkschaft nun selbst tarıfvertragliche Positionen preis. Seit Oktober 1928 Yäuft in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets ein gewerkschaftlicher Kampf für eine Lohnerhöhung von 15 Pf in der Stunde (was nur eine Anpassung des Lohnes an die Preissteigerungen be-

deutet hätte) sowie für die Wiederherstellung des Achtstundentages. In Schlichtungsverhandlungen wird ein Schiedsspruch gefällt, der eine Lohnerhöhung bis zu 6 Pf und keine Arbeitszeitverkürzung vorsieht, Nach dem damaligen Arbeitsrecht kann ein Schiedsspruch durch den Reichsarbeitsminister für verbindlich erklärt werden. So geschieht es: der

sozialdemokratische Reichsarbeitsminister Rudolf Wissell erklärt ihn für verbindlich. Aber die Unternehmer,

die den Gewerkschaften und dem

Schlichtungswesen eine Niederlage beibringen wollen, lehnen den verbindlichen Schiedsspruch ab und sperren sofort mehr als 200000 Arbeiter aus. Das war nach dem damaligen Arbeitsrecht eine ganz klare Rechtsverletzung. Aber anstatt daß die Reichsregierung sich wehrt und die Ge-

werkschaften nun zum äußersten Kampf gegen diese Aushöhlung des Arbeitsrechts aufrufen, verhandelt die Reichsregierung mit den Stahlindustriellen, und der sozialdemokratische Innenminister Severing fällt einen neuen, für die Arbeiter noch ungünstigeren Schiedsspruch, den der DMV unter dem Druck der Sozialdemokraten dann auch akzeptiert. Das bedeutete die prinzipielle Preisgabe des Arbeitsrechts durch die Gewerkschaften,

denn

der zweite

Schiedsspruch

ist durch

eine rechtswidrige

Aussperrung erzwungen worden. Die Gewerkschaften haben die prinzipielle Bedeutung dieser Situation möglicherweise nicht erkannt. Aber solche Manöver mußten die RGO-Stimmung bei den kommunistischen Funktionären steigern. So schaukelt sich die Spaltung der Arbeiterbewe-

Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

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gung gegenseitig immer weiter hoch. Die Auseinandersetzung um die Mertallarbeitertarife im Ruhrgebiet ist ein symbolischer Akt für die Lage im gesamten Reichsgebiet und die Haltung der Spitzenfunktionäre der

dem ADGB dieser Zeit.

zugehörigen Gewerkschaften gegenüber der Regierung in

Natürlich waren die gewerkschaftlichen Spitzen - selbstverständlich

die der christlichen, aber jetzt auch die der freien Gewerkschaften — dar-

an interessiert, diese Regierung zu erhalten, die sie ja im Vergleich zu den vorherigen Bürgerblock-Regierungen zu recht für fortschrittlich hielten. Daher wichen sie Schritt um Schritt unter dem Druck der Regierung zurück in einer Periode, in der nach Ansicht der Gewerkschaftsführung die Konjunktur, wie sie seit Mitte der 20er Jahre im Gange war, noch weiter-

laufen würde. Sie erwartete höchstens geringe und deshalb fast bedeu-

tungslose konjunkturelle Schwankungen und Rückschläge und ging des-

halb davon aus, daß man auch bei gelegentlichen kleinen Zugeständnissen und Niederlagen doch insgesamt die Besserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse dann

sichern könne, wenn

man

die sozialdemokra-

tisch geführte Reichsregierung erhalte. Das war die zentrale Vorstellung

in den gewerkschaftlichen Führungen. Und weil die Kommunisten nun in unpsychologischer Weise auf die wachsende Konjunkturgefährdung hinweisen, auf den kommenden Umschlag in eine Krise, noch bevor dieser Umschlag allen sichtbar 1929 stattfinder, isoliert sich die kommunisti-

sche Propaganda innergewerkschaftlich immer mehr, besonders da die Kommunisten teilweise zu Disziplinverletzungen aufrufen und sich dadurch selbst dem Ausschluß ausliefern. Das hieß aber noch vor dem vollen Ausbruch der Krise, daß sich der kommunistische Arbeiterfunktionär im Betrieb

nicht nur dem

gewerkschaftlichen Ausschluß,

sondern,

weil

er Kleinststreiks selbst organisierte, dem Herauswurf aus dem Betrieb aussetzte. Dadurch vergrößerte sich stetig die Tendenz, daß die KPD eine

Arbeitslosenpartei wurde und die SPD eine Betriebsarbeiterpartei, daß die RGO Arbeitslosenorganisation wurde und die freigewerkschaftlichen Verbände Betriebsorganisationen. Das war eine Tendenz, die sich noch vor dem vollen Ausbruch der Krise durchsetzte. Noch

vor dem

vollen Krisenausbruch,

während

des Abflauens

der

Konjunktur, zeigt sich auch eine andere Gefahr. Die Rationalisierungswelle betrifft damals die Angestelltenschichten erheblich stärker und früher als die industrielle Arbeiterklasse, weil die Büros rationalisiert wer-

den. Aber angesichts des Gegeneinanders und der ständigen Konflikte innerhalb der Arbeiterbewegung lehnt sich der gegen die Rationalisierungsfolgen rebellierende Angestellte nicht mehr an die Arbeiterbewegung an, wie er das noch 1926 und auch noch in den Wahlen von 1928 getan hat,

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Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise (1928/29)

sondern er wendet sich von der gespaltenen Arbeiterbewegung, die im. mer mehr Niederlagen erleidet, ab. Ein großer Teil dieser Angestellten identifiziert sich nun zwar nicht unmittelbar mit dem Großkapital (das tun nur wenige, weil sie in Betrieb und Büro aufsteigen wollen), geht aber

der faschistischen Propaganda auf den Leim, die ja mit einem antikapitalistischen Schein auftritt, wobei der Nationalsozialismus diesem Scheine

eine antisemitische Richtung gibt, die für einen Teil dieser kleinen Angestellten überzeugend ist, weil erwa bei den Banken und Kaufhäusern Ka-

pitalisten jJüdischer Herkunft eine große Rolle spielen. So beginnt bereits

jetzt der rasche Aufstieg faschistischer Organisationen mit starkem Einfluß in den christlichen Gewerkschaften und besonders im Deutschna-

tionalen

Handlungsgehilfenverband,

dem

größten

Angestelltenverband

dieser Zeit, der schon immer eine antisemitische Tendenz vertreten hatte, die in Konjunkturperioden schwach, in Krisenperioden stark war.

Aus einem weiteren Bereich bezogen die faschistischen Organisatio-

nen stetig wachsende Unterstützung: von der akademischen Jugend. Wie

heute, wenn auch nicht im gleichen Maße, hatte nach Beginn der KonJunkturperiode die Zahl der Studenten in allen Studienbereichen erheblich zugenommen, denn zunächst war mit der Stabilisierung die Position

der mittleren Bürgerschichten und der oberen Angestelltengruppe wieder verbessert worden, so daß deren Kinder in verstärktem Maße studieren

konnten. Diese sich verbreiternde Akademikerschicht war der ganzen Tradition der Universitäten nach ohnedies reaktionär-imperialistisch, Die Studenten waren überwiegend in antidemokratischen (zum Teil nach

der Krise um die Jahrhundertwende antisemitischen) Korporationen und

Verbindungen organisiert. Aber es erwies sich sehr rasch, daß mehr Akademiker produziert wurden, als Arbeit finden konnten; dies zeigte sich zuerst bei den Lehrern. Das Problem verschärft sich im Konjunkturabschwung ab 1928 und erst recht nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, Diese arbeitslosen bzw. von der Arbeitslosigkeit bedrohten Akademiker

gehen massenhaft zu den Faschisten über, die ihnen erzählen, daß die Arbeitslosigkeit daran liege, daß das Deutsche Reich durch den Vertrag von Versailles verkleinert worden ist, und daß sich ihre Lage zum Besse-

ren wenden werde, wenn das Reich wieder stark und groß sei und wenn man die Juden aus ihren Stellen jage. So gehen noch vor dem vollen Ausbruch der Krise die Studenten ebenso wie ein Teil der Angestellten ins

Lager des Faschismus über, weil auf der anderen Seite die Arbeiterklasse

keine einheitliche Kraft darstellt, die ihnen einen rationalen Ausweg hätte bieten können.

241

21. Vom Beginn der Weltwirtschaftskrise bis zu den September-Wahlen 1930

Der »schwarze Freitag«, der 29. Oktober 1929, an dem in New York die Börse zusammenbrach, markierte - nach einer längeren Abschwungspha-

se der Konjunktur 1928/29 —- den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die die schwerste internationale zyklische Überproduktionskrise in der bisherigen Geschichte des Kapitalismus wurde und bis 1933 anhielt. Die Arbeitslosigkeit wuchs sprunghaft; bereits im Januar 1930 waren in Deutschland 3,2 Millionen Erwerbslose gemeldet. In den Augen der nun arbeitslos gewordenen Arbeiter schien sich die Richtigkeit der Politik der Kommunistischen Partei zu bestätigen, denn die KPD hatte die schwere Krise vorhergesagt. Die sozialdemokratischen Arbeiter in den Betrieben hofften aber immer noch, daß es sich nur um

kleine Schwankungen handelte, mit denen fertig zu werden war, solange man noch die SPD an der Spitze der Reichsregierung hielt. Die Bourgeoisie, die großen

monopolistischen Unternehmen

begrei-

fen jetzt das Kommen der Krise und sind der Meinung, daß sie ihre Chancen auf dem Weltmarkt, auch gegenüber dem Kapital anderer Län-

der, in der Krise nur wahren können, wenn die Lohnkosten und die So-

zialausgaben drastisch verringert werden. Der »Reichsverband der Deutschen Industrie« (RDI) veröffentlicht Ende 1929 eine Denkschrift (»Aufstieg oder Niedergang?