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German Pages [157] Year 2010
Sonja Fielitz
Einführung in die anglistisch-amerikanistische Dramenanalyse
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2010 by WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23393-9
Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Interpretatorischer Ansatz: Performance Criticism . . . 3. Formalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Das Wesen des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theater als Medium öffentlicher kollektiver Kommunikation 2. Das Wesen des Theaterspiels . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gesamtaufführung als Zeichensystem . . . . . . . . . . 4. Die Zeichensysteme des Theaters . . . . . . . . . . . . . .
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III. Das Wesen des Dramas . . . . . . . . 1. Redekriterium . . . . . . . . . . . 2. Haupt- und Nebentext . . . . . . . 3. Sukzession, Selektion, Transparenz
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IV. Informationsvergabe . . . . . . . . . . . . . 1. Die Doppelnatur des Dramas . . . . . . 2. Relationen der Informiertheit . . . . . . 3. Dramatische Ironie . . . . . . . . . . . . 4. Perspektivenstruktur . . . . . . . . . . . 5. Techniken epischer Informationsvergabe 6. Expositorische Informationsvergabe . . .
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V. Dramatische Sprache . . . . . . . . . . . . 1. Literarische Sprache und Normalsprache 2. Funktionen der Sprache . . . . . . . . . 3. Sprache und Handlung . . . . . . . . . . 4. Sprache und Figur . . . . . . . . . . . .
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VI. Figurenanalyse . . . . . . . . . 1. Figur und Handlung . . . . 2. Personal . . . . . . . . . . . 3. Figurenkonzeption . . . . . 4. Charakterisierungstechniken
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VII. Handlungsentwürfe . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsabgrenzungen . . . . . . . . . 2. Präsentation der Geschichte . . . . . . 3. Kombination von Sequenzen . . . . . 4. Segmentierung . . . . . . . . . . . . . 5. Komposition der Dramenhandlung . . 6. Untergattungen: Tragödie und Komödie
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Inhalt
VIII. Raumentwürfe . . . . . . . . . 1. Die zwei Räume des Dramas 2. Offene Raumstruktur . . . . 3. Geschlossene Raumstruktur 4. Lokalisierungstechniken . .
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IX. Zeitentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spielzeit und gespielte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitliche Relationen im inneren Kommunikationssystem 3. Finalität vs. offenes Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Semantisierung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mystery play . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Morality play . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interlude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. History play . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Melodrama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Well-made play . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. A-historische Sonderform I: Das epische Drama . 8. A-historische Sonderform II: Das absurde Drama
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XI. Filmanalyse . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung des Gegenstandes 2. Methoden der Filmanalyse . . 3. Beschreibungsrepertoire . . . 4. Funktionalisierung . . . . . .
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Glossar (deutsch/englisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Beispielanalyse/Practical
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Literaturverzeichnis
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I. Einleitung 1. Zielsetzung Ziel dieser Publikation ist es, ein möglichst umfassendes Beschreibungsrepertoire für die Gattung ,Drama‘ zu erarbeiten, welches den Zugang zu dieser Form der Literatur erleichtern und zu eigener Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den angesprochenen Texten und über diese hinaus anregen soll. Dieses Buch versteht sich als Einführung in die Dramenanalyse im Rahmen des Grund- und Hauptstudiums der ,alten‘ Studiengänge (Lehramt und Magister) sowie des gesamten Verlaufs der ,neuen‘ modularisierten Studiengänge (Lehramt, Bachelor, Master) in der Anglistik, dürfte jedoch aufgrund seiner Ausrichtung auf Text und Theater (s. u.) auch für Studierende anderer Fächer, wie der Komparatistik oder der Theaterwissenschaften, geeignet sein. Studierenden in den Anfangssemestern kann diese Publikation sowohl bei einer ersten intensiveren Beschäftigung mit dem Bereich ,Drama‘ zur Orientierung dienen, als auch bei weiterführender Auseinandersetzung mit dieser Gattung Perspektiven aufzeigen. Studierenden in höheren Semestern und in der Phase der Examensvorbereitung dürfte sie als Repetitorium und ,Sturmgepäck‘ nützlich sein.
2. Interpretatorischer Ansatz: Performance Criticism ,Drama‘ als Textvorlage wird in diesem Buch in enger Verbindung mit deren praktischer Umsetzung auf dem Theater behandelt und entspricht damit dem gegenwärtigen Lehr- und Forschungsinteresse. In den meisten akademischen Einrichtungen wurde Drama bis zum Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts noch als Zweig literarischer Studien unterrichtet und damit abgesondert von seiner Vermittlung auf dem Theater. Ein Drama wurde demnach nicht sehr viel anders als ein Gedicht oder ein narrativer (erzählender) Text wie Roman oder short story behandelt. Im Vordergrund der Analyse und Interpretation stand allein der gedruckte Text, den es nach den verschiedensten Kriterien zu untersuchen galt. Diese Kriterien der Textanalyse, mit dem Literaturwissenschaftler und auch Studierende der Philologien an der Universität üblicherweise zunächst konfrontiert werden, sind selbstverständlich bis heute noch unverzichtbar, und sie werden in diesem Buch in den Kapiteln 3 bis 10 behandelt. Zusätzlich zu diesen Analysekriterien des gedruckten Textes kommt aber seit etwa den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch die in dieser Zeit aufkommenden literaturtheoretischen Ansätze (diese verstehen – stark vereinfachend gesagt – einen Text stets als Produkt eines Kollektivs) eine
Intendierte Leser: Studierende im Grund- und Hauptstudium
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I. Einleitung
Gedruckter Text und Spielvorlage
Analyse
zweite Analyseebene für das Drama hinzu. Man untersucht heute beim Drama nicht mehr nur den literarischen Text, sondern fragt auch nach der Vermittlung dieser Textvorlage auf dem Theater und damit nach dem Potenzial, welches der literarische Text für eine Umsetzung auf der Bühne bereitstellt. Welche spezifischen Mittel (Zeichensysteme; vgl. Kap. II) hat das Theater, um dieses Potenzial umzusetzen? In welcher Weise können die Zeichensysteme des Theaters die Interpretation des Textes prägen? Durch Fragen wie diese wurde die akademische Dramenforschung, welche bis dahin Dramen nur als Lesetexte wahrgenommen hatte, hin auf die künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Textmaterial auf der Bühne erweitert. Diese ganz neue Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Drama verdankt ihre Impulse in England vor allem dem Shakespeare Institute der University of Birmingham in Stratford-upon-Avon unter Leitung von Prof. Dr. Stanley Wells CBE. Prof. Wells begann bereits in den 70er Jahren damit, Dramen nicht nur als Texte zu verstehen, die mit literarhistorischen Methoden zu erschließen sind, sondern er setzte sich mit den Dramen Shakespeares auch unter dem Aspekt auseinander, wie diese auf den Bühnen aufgeführt, verfilmt und in den modernen Medien präsentiert werden. So bildete sich gegen Ende der 70er Jahre in England der Performance Criticism heraus, in dem „das Theatralische nicht länger als negatives Komplement zum Dramatischen, sondern als dessen Bestimmung erkannt wird“. (Höfele, S. 2). So geht man heute also von zwei unterschiedlichen Präsentationsformen des Dramas aus: a) Als gedruckter Text ist Drama – ähnlich einer Erzählung – eine fiktionale Gattung, die vom Leser fordert, sich eine erfundene Wirklichkeit als etwas tatsächlich Gegebenes vorzustellen. Dabei sind der Fiktion keinerlei Grenzen gesetzt, weil sie in der Phantasie jedes einzelnen entworfen wird. b) Sobald ein Drama auf einer Theaterbühne gespielt wird, verändert es seinen Gattungscharakter. Da das Geschehen dann gegenwärtig dargeboten wird, fordert es vom Zuschauer keine eigene Fiktion mehr. Die Fiktion wird auf der Bühne erstellt und sie wird zu gegenwärtiger Simulation. Entsprechend dieser beiden Präsentationsformen fordert die Analyse eines dramatischen Textes heute zwei Untersuchungsgegenstände: sie verlangt neben der Untersuchung des literarischen Textsubstrats (,Drama‘) auch die der szenischen Präsentation dieses Sprachmaterials auf der Bühne (,Theater‘): „Drama, … , having one foot in the theatre, is only half a literary form…“ (Nicoll, S. 199). Bei der Analyse eines Dramas wird also immer danach zu fragen sein, ob diese – einen Text, – eine Aufführung oder – die Beziehung von Text und Aufführung
Lehrsituation in Deutschland
zum Gegenstand hat. Die entsprechenden Kriterien für diese Analyseansätze gilt es in diesem Buch zu erarbeiten. Auch wenn es in Deutschland noch immer Universitäten geben soll, an denen Dramenanalyse vor allem textimmanent betrieben wird, wollen wir uns am etablierten Ansatz des Performance Criticism orientieren. Studierende, die an einem solchen anglistischen Seminar eingeschrieben sind, mögen versichert sein, dass der größte Teil dieses Buches (die Kapitel III–X) die rele-
2. Interpretatorischer Ansatz: Performance Criticism
vanten Analysekriterien für eine rein textimmanente Dramenanalyse liefert, und sie die Kap. II und XI gewissermaßen noch ,zusätzlich‘ bekommen. Die Methoden und Kriterien, welche den Ansatz des Performance Criticism auszeichnen, eröffnen gerade in unserer medienorientierten Zeit neue Perspektiven für die Dramenanalyse und -interpretation, was durch einige Beispiele exemplifiziert werden soll. Es ist anzunehmen, dass dem Großteil der Studienanfänger Shakespeares Macbeth aus der Schule vertraut sein wird. Sicherlich wurden dort die Charaktere des Macbeth und der Lady Macbeth aus dem Text heraus analysiert: wie äußern sie sich die beiden Figuren jeweils sprachlich (wie viele Monologe, wie viele Dialoge haben sie?), wie charakterisieren sie sich selbst, und wie werden sie von anderen Figuren charakterisiert, welches Verhältnis der Ehepartner zueinander lässt sich daran ablesen etc. Versucht man nun, mit dem Ansatz des Performance Criticism das Potenzial des Textes für die Umsetzung auf dem Theater zu erhellen, so ergeben sich ganz neue Aspekte. Wir wollen hier nur einen Aspekt herausgreifen (vgl. dazu genauer Kap. II): das Stück bekommt eine ganz andere Bedeutung, je nachdem, welches Alter die Darsteller des Macbeth und der Lady Macbeth in einer Bühneninszenierung haben (der Text gibt hierüber keinerlei Aufschluss, die Entscheidung über die Besetzung liegt allein beim Regisseur). Ein großer Altersunterschied der Schauspieler wird die Beziehung der beiden Figuren ganz anders erscheinen lassen, als wenn beide etwa gleichen Alters sind. So könnte das Handeln einer jungen Lady Macbeth und eines wesentlich älteren Macbeth durch das Geltungsbewusstsein und das Machtstreben der jungen Frau bedingt sein, die ihren Mann als Mittel zur Durchsetzung ihrer eigenen ehrgeizigen Ziele instrumentalisiert. Auch könnte ein solches Verhältnis von sexueller Abhängigkeit des Mannes geprägt sein. Bei einem umgekehrten Altersverhältnis könnte ein junger Macbeth der älteren Frau hörig sein. Gleichaltrigkeit der Schauspieler dagegen könnte die Beziehung der Eheleute als eine ,gleichwertige‘ und gleich gesinnte Partnerschaft mit gemeinsamen Handlungsinteressen zeigen. So wird bereits nur aus diesem einen Aspekt des Alters der Schauspieler deutlich, welch unterschiedliche Deutungen der gedruckte Text durch die spezifischen Möglichkeiten des Theaters erfahren kann. Wie unendlich komplex und vielfältig diese Zeichensysteme des Theaters sind, wird in Kap. II genauer erläutert werden. Auch wenn Shakespeares Kaufmann von Venedig nicht ganz so populär als Schullektüre ist wie Macbeth, mag er uns als weiteres Beispiel für die Bedeutung des Performance Criticism dienen. Das Drama endet damit, dass in der letzten Szene zwei Liebespaare (Bassanio/Portia und Graziano/Nerissa) endgültig zueinander finden, und der Kaufmann Antonio durch einen Brief erfährt, dass seine verloren geglaubten Schiffe entgegen der bisherigen Befürchtungen doch sicher in den Hafen zurückgekehrt sind. Es befinden sich also zum Ende der Handlung fünf Figuren auf der Bühne. Wenn nun Portia sagt, „Let us go in“ (5.1.297) und Graziano bestätigt „Let it be so“ (5.1.300), so ist das für den Text ein ,runder‘ Abschluss: die Handlungsverwicklungen sind aufgelöst, die Figuren ziehen sich zurück. Was aber macht das Theater mit dieser Figurenkonstellation? Es gilt für den Regisseur, fünf Figuren von der Bühne abtreten zu lassen, und die Bühnenanweisung „exeunt“ lässt offen, wie dies geschehen soll. Gleichgültig, welche Entschei-
Beispiel 1: William Shakespeare, Macbeth
Beispiel 2: William Shakespeare, The Merchant of Venice
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I. Einleitung
Beispiel 3: Caryl Churchill, Top Girls
Kapitelinhalte
dung der Regisseur trifft, jede wird eine andere Interpretation des Dramas mit sich bringen: Gehen die beiden Liebespaare zur gleichen Zeit gemeinsam ab? Gehen sie zeitlich nacheinander ab? Gehen sie in die gleiche Richtung oder in verschiedene Richtungen? Gehen die Partner jeweils gemeinsam, oder geht einer voraus? Und was wird aus Antonio, dem Kaufmann? Bleibt er allein auf der Bühne zurück? Geht er zusammen mit einem Paar ab? Kommt eine/r der jungen Leute noch einmal zurück, um Antonio ,nachzuholen‘? Wie reagiert die/der Partner/in darauf („He will be there for breakfast!“)? Eine Stelle, die dem Leser eines Dramas unbedeutend und selbstverständlich vorkommen wird, da am Ende eines Dramas natürlich alle Figuren von der Bühne abtreten, ist für den Zuschauer im Theater von entscheidender Bedeutung. Je nachdem, wie dieser letzte Abgang der Figuren inszeniert wird, wird das Drama eine ganz andere Deutung erfahren: eine allumfassende Harmonie, in der alle Konflikte gelöst sind (alle Figuren gehen gemeinsam in die gleiche Richtung ab), eine noch instabile oder bereits wieder brüchig werdende Harmonie (die Figuren gehen einzeln ab), die Verlorenheit und das Ausgeschlossensein (eine Figur bleibt allein auf der Bühne zurück) etc., etc. Da die Dramen Shakespeares bekanntlich nicht viele Bühnenanweisungen aufweisen und somit vermeintlich mehr Möglichkeiten für eine Umsetzung auf dem Theater bieten, da sie weniger ,festgelegt‘ erscheinen, sei noch ein Beispiel aus einem modernen Drama gewählt. Schon eine einzige Bühnenanweisung etwa aus Caryl Churchills Top Girls (1982), über die man bei der Lektüre geradezu hinweg liest, kann in einer Aufführung von signifikanter Bedeutung sein. Das folgende Beispiel zeigt, wie wenig ,festgelegt‘ ein Drama auch mit Bühnenanweisungen sein kann: eine scheinbar nebensächliche Angabe wie „Marlene sits wrapped in a blanket and has another drink. Angie comes in“ muss auf dem Theater praktisch umgesetzt werden und trägt damit zur Figurenkonzeption und ,Gesamtaussage‘ des Stücks in dieser Inszenierung bei: Wie sitzt Marlene? Entspannt? Verkrampft? Krank? Wie sieht die Decke, in die Marlene gehüllt ist, aus? Entstammt sie einer bestimmten historischen Periode? Ist sie schäbig oder prächtig? Welche Farbe(n) hat sie? Sind diese Farben mit anderen Personen oder deren Kostümen assoziativ verbunden? Was trinkt Marlene? Trinkt sie tatsächlich, oder hält sie nur ein Glas in der Hand? Wenn sie trinkt, trinkt sie hastig oder gelassen? Woher kommt Angie auf die Bühne? Kommt sie von hinten, von rechts, von links oder aus dem Zuschauerraum? Etc., etc. – es könnten sich noch viele solcher Fragen anschließen, die alle die Charakterisierung der Figuren und die Beziehung der Figuren untereinander in immer wieder anderer Weise deuten würden. Aus diesen drei Beispielen dürfte deutlich geworden sein, welche Bedeutung die Vermittlungsebene ,Theater‘ für die Interpretation eines literarischen Textes ,Drama‘ hat. Wie komplex diese bisher nur exemplarisch angerissenen Möglichkeiten (Zeichensysteme) des Theaters sind, wird in Kap. II zu erläutern sein. Kap. III bis IX werden Analysekriterien für den Text bieten, in Kap. X werden verschiedene historische Sonderformen des englischen Dramas sowie die a-historischen Sonderformen des absurden und des epischen Dramas besprochen. In Kap. XI wird auf die filmische Umsetzung von Dramentexten einzugehen sein.
3. Formalia
3. Formalia Im Verlauf des Buches werden so oft wie möglich erläuternde Beispiele aus verschiedenen englischsprachigen Literaturen (Großbritannien, USA, New English Literatures), ,Klassikern‘ und modernen Autoren gegeben. Wenn häufiger Beispiele aus den Dramen William Shakespeares zitiert werden, so begründet sich dies zunächst mit dem Rang, den dieser Autor in der Weltliteratur einnimmt. Shakespeare ist nicht nur ein Autor von Weltgeltung, er ist auch der meistgespielte Autor auf deutschen (!) Bühnen, gilt als ,deutscher Klassiker‘ und wird häufig in den Leistungskursen der Schulen und auch im Studium der Anglistik behandelt. Auch sind Ausgaben seiner Dramen oft preisgünstig zu erwerben. Beispiele aus der Primärliteratur werden generell mit der Angabe von Autor und Dramentitel zitiert. Falls im Textverlauf vor Dramentiteln kein Autorenname genannt ist, handelt es sich durchwegs um William Shakespeare. Alle zitierten Primärtexte sind im Buchhandel erhältlich und können entsprechend selbst nachgearbeitet werden. Zitatnachweise aus der Sekundärliteratur werden im Textverlauf in Klammern mit dem Namen des Verfassers und der betreffenden Seitenzahl gegeben. Die vollständigen Literaturangaben finden sich in der Bibliographie am Ende des Buches. Es erübrigt sich zu sagen, dass Manfred Pfisters Studie Das Drama (UTB Taschenbuch 580) als das unverzichtbare Standardwerk zur Theorie der Gattung Drama grundlegend für jede Beschäftigung mit dieser Textsorte ist und jedem Leser – trotz der nicht ganz leicht verständlichen Terminologie – sehr zum eigenen Durcharbeiten empfohlen sei. Pfister behandelt, dem Erkenntnisinteresse der 70er Jahre, in denen sein Buch entstanden ist, gemäß, den Text und nicht die Umsetzung dessen auf der Bühne (Kap. II) oder im Film (Kap. XI). Generell mag jeder Leserin und jedem Leser ans Herz gelegt sein, dass ein solches Studienbuch nie die eigene Lektüre der Primärtexte ersetzen kann! Es kann nur Wege in die und dann in der Vielfalt der englischsprachigen dramatischen Literatur aufzuzeigen. Von den Interessen einer jeden Leserin und eines jeden Lesers wird es abhängig sein, durch entsprechende Eigenlektüre das zu vertiefen und zu erweitern, was in dem hier vorgegebenen Rahmen erläutert werden kann. Eine weitere Vorbemerkung sei hier noch (nicht nur) für potenzielle Rezensenten erlaubt: Die Verfasserin ist sich bewusst, dass seit der grundlegenden Neubestimmung der Literaturwissenschaft in den 1980er Jahren, die durch Namen wie Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Michail Bachtin und andere vollzogen wurde, Begriffe wie ,Autor‘, ,Text‘ oder ,Lesen‘ problematisiert und neu definiert wurden. Wir wissen, dass jeder, der am Kommunikationsprozess ,Drama‘ oder ,Theater‘ teilhat, vom Leser bis zum Zuschauer, vom Regisseur bis zum Schauspieler, seinen eigenen ,Text‘ kreiert, der letztendlich seine eigene, individuelle ,Lesart‘ ist und zahllosen individuellen anderen Lesarten offensteht. Dennoch sind wir der Auffassung, dass ein Buch, welches in die Dramenanalyse einführen soll, nicht auf die oben genannten Termini verzichten kann. Abschließend sei noch gesagt, dass die maskuline Form jedes Substantivs (,der Zuschauer‘, ,der Schauspieler‘) stets als genus neutrale zu lesen ist und
Beispiele und Zitate
Manfred Pfister, Das Drama
Eigene Lektüre der Primärtexte ist unabdingbar
Textbegriff
genus neutrale
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I. Einleitung
Danksagung
entsprechend immer auch die feminine Form (,die Zuschauerin‘, ,die Schauspielerin‘) impliziert. Mein Dank gilt an dieser Stelle vor allem Frau Jasmine Stern, die dieses Buch für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft annahm und dieses von den ersten Gesprächen bis zur Fertigstellung mit großem Engagement, Geduld, Freundlichkeit und Tatkraft betreute. Dank sagen möchte ich ferner meiner Kollegin Carmen Birkle und meinem Kollegen Martin Kuester, die mir wertvolle Textbeispiele aus der Amerikanistik, Kanadistik und den Neuen Englischen Literaturen empfohlen haben. Meiner Mitarbeiterin, Frau Imke Kimpel M. A., möchte ich herzlich danken für ihre Unterstützung in vielen Bereichen, die mit dieser Publikation verbunden waren. Anerkennung und Dank für die Beispielanalyse am Ende dieses Buches gebührt Frau Cornelia Bremer M. A. Last but not least danke ich meinen zahlreichen Studierenden an den Universitäten München, Göttingen, Münster und Marburg, die mich in vielen Kursen und bei unseren Exkursionen nach London und Stratford-upon-Avon immer wieder in der Freude an der Gattung ,Drama‘ bestätigt haben. Widmen möchte ich dieses Buch Richard.
II. Das Wesen des Theaters Gemäß der heute üblichen Trennung von Theater und Drama wird in diesem Kapitel das Theater als die szenische Präsentationsform des Sprachmaterials ,Drama‘ besprochen: Im Gegensatz zum Lesen eines Buches ist jede Theateraufführung ein öffentliches, gesellschaftliches Ereignis, bei dem Schauspieler einem Publikum etwas darbieten, und ein Publikum wiederum hierauf reagiert. Dabei befinden sich Schauspieler und Publikum immer in verschiedenen räumlichen Zuordnungen, was zu Theaterbauten verschiedener Art geführt hat (Kap. II.1). Kap. II.2 erläutert die Minimalsituation des Theaters und dessen drei Konstanten Schauspieler, Rolle und Publikum. Das Theater als Ort der Umsetzung des geschriebenen Dramentexts erfordert ein ganz bestimmtes Beschreibungsrepertoire zur Analyse. Die Basis für die Komplexität der ,Sprachen‘ des Theaters bilden das Kommunikationsmodell und die Lehre von den Zeichen (Semiotik), welche Gegenstand von Kap. II.3 sein werden. Da in einer Inszenierung jedes Detail Bedeutung tragend ist, gilt es zudem, die Zeichensysteme, über die das Theater kommuniziert, kennen zu lernen (Kap. II.4).
1. Theater als Medium öffentlicher Kommunikation Wieso gehen Menschen ins Theater? Wieso setzten sich die Zuschauer im antiken Griechenland stundenlang in die Sonne auf die Steinstufen ihres Amphitheaters, um etwa Aischylos‘ Trilogie Oristeia – drei Stücke voller Leid und Trauer – anzusehen? Wieso machte sich ein Handwerker im frühneuzeitlichen London auf, um in den ,Unterhaltungsbezirk‘ am Südufer der Themse zum Globe Theatre zu gelangen, um ein Stück wie Hamlet anzusehen? Wieso kämpfen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts Leute nach einem anstrengenden Tag voller Stress und Hektik durch Verkehrsstaus ohne Abendessen in ein Theater, um sich auf teuren Plätzen in einem abgedunkelten Raum ein Drama eines zeitgenössischen Dramatikers oder einen ,Klassiker‘ anzusehen? Weshalb lässt man sich dort ein auf einen durch mehr oder weniger zahlreiche Kulissen und Requisiten dargestellten Ort, der bevölkert wird von diversen Personen, die vorgeben, jemand anderes zu sein und dabei eine erfundene Handlung absolvieren? Statt sich im Zuge der Universalisierung elektronischer Medien zur Digitalisierung und Vernetzung von Datenautobahnen von den neuesten Errungenschaften in der postmodernen Kommunikationsgesellschaft gänzlich vereinnahmen zu lassen, gibt es immer noch Individuen, die sich authentischer face-to-face-Kommunikation zuwenden, welche exemplarisch in einem Medium repräsentative Wirklichkeit erlangt, das es seit Menschengedenken gibt: dem Theater. Das Theater scheint als eine Form der kulturellen Kommunikation auch noch in einer Zeit zunehmender Technisierung und Anonymisierung den Prozess gesellschaftlich notwendiger Selbstverständigung weiterzuführen.
Inhalt des Kapitels
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II. Das Wesen des Theaters Funktionen von Drama und Theater Poetik des Aristoteles
Wirkung von Literatur
Normative Funktion
Gesellschaftliche Funktion
Beispiel: As You Like It
Dieser Prozess hat seinen Ursprung bereits in der Antike. „Allgemein“, so heißt es schon in der Poetik des Aristoteles (384–321 v. Chr.), „scheinen zwei Ursachen die Dichtung hervorgebracht zu haben, beide in der Natur begründet. Denn erstens ist das Nachahmen den Menschen von Kindheit angeboren; darin unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen, dass er am meisten zur Nachahmung befähigt ist und das Lernen sich bei ihm am Anfang durch Nachahmung vollzieht; und außerdem freuen sich alle Menschen an den Nachahmungen. Ein Beweis dafür ist das, was wir bei Kunstwerken erleben. Was wir nämlich in der Wirklichkeit nur mit Unbehagen anschauen, das betrachten wir mit Vergnügen, wenn wir möglichst getreue Abbildungen vor uns haben. …“ (S. 26 f.). Nachahmung ist also dem Menschen zum einen angeboren und zum anderen auch von ihm erlernt. Dieses doppelte Verhältnis drückt sich in der Begegnung mit dem Nachgeahmten selbst aus, d. h. im Vergnügen am dramatischen Geschehen im Theater: hier kann man die eigene Wirklichkeit wiedererkennen, und dieses Wiedererkennen führt wiederum zur Erkenntnis von Ziel und Wirkung der menschlichen Handlungen. Auch heute noch gehören Drama und Theater zu den Möglichkeiten, über das Leben und seine eigene Situation nachzudenken. Da die fiktionalen Weltentwürfe im Drama und auf dem Theater als Form öffentlicher Kommunikation stets aus der lebensweltlichen Realität stammen, stehen sie zu deren Normen und Konventionen in Bezug. „Drama liefert einige der hauptsächlichen Rollenmuster, nach denen einzelne ihre Identität und ihre Ideale formen. Es setzt Muster für Gemeinschaftsverhalten, formt Werte und Ziele und ist Teil der kollektiven Phantasievorstellungen geworden.“ (Esslin, S. 13 f.). Über einen dramatischen Text und dessen Vermittlung auf dem Theater können Werte, Haltungen und Einsichten kommuniziert werden, die für die geistige und moralische Existenz des Menschen wichtig sind. Leitbilder rufen zu Identifikation auf, Zerrbilder dieser Verhaltensweisen zur Abkehr (vgl. Weiß, Studium, S. 29). Vor allem aber bietet der fiktionale Entwurf eines dramatischen Textes die Möglichkeit der Eigenerfahrung durch die Fremderfahrung. Das Theatergleichnis (über dem Globe Theatre stand totus mundus agit histrionem) verweist letztlich auf die Rollenhaftigkeit konventionalisierter Verhaltensweisen und Momente scheinhafter Verstellung im Leben, was wohl am nachdrücklichsten in Shakespeares As You Like It zum Ausdruck gebracht wird: Duke Senior: Thou seest we are not all alone unhappy. This wide and universal theatre Presents more woeful pageants than the scene Wherein we play in. Jaques: All the world’s a stage And all the men und women merely players. Their have their exits and their entrances, And one man in his time plays many parts, His acts being seven ages. … (2.7.136–143)
Theater als öffentliches Ereignis
Da diese gesellschaftliche Verständigung beim Drama – im Gegensatz zum Lesen eines Romans – bei einer Theateraufführung in Form eines öffentli-
1. Theater als Medium öffentlicher Kommunikation
chen, gesellschaftlichen Ereignisses erfolgt, wobei sich Schauspieler und Publikum immer in verschiedenen räumlichen Zuordnungen befinden, haben sich im Laufe der Zeit Theaterbauten verschiedenster Art entwickelt. Typen des Theaterbaus Im Gefolge der kulturellen, sozialen, und finanziellen Entwicklungen des Theaters haben sich von der Antike bis heute verschiedene Typen des Theaterbaus herausgebildet. Gemeinsam ist allen Formen die grundsätzliche Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum. Unterschiede lassen sich feststellen im Hinblick auf die Schärfe dieser Trennung, die Größe, die Erfordernisse der Hör- und Sichtbarkeit, die Hierarchisierung des Publikums, den Bezug der Zuschauer untereinander sowie die Abhängigkeit der Handlung und deren Illusionswirkung von der Bühnenform. Obwohl nicht unmittelbar zum englischen Drama gehörig, sollten hier zunächst kurz die Theaterbauten der Antike, die in späteren Bühnenformen wie etwa der modernen Arenabühne wieder aufgegriffen wurden, kurz vorgestellt werden. Im altgriechischen Freilichttheater bildete ein kreisrunder orchestra-Platz (Erdboden, ca. 20 Meter Durchmesser, oft mit Altar in der Mitte) zwischen skenè (Bühnenhaus) und ansteigendem, fast ringförmigem Zuschauerraum die Hauptspielfläche für Chor und Schauspieler. Zur orchestra führten Gänge (paradoi), die Auftritte durch das Publikum hindurch ermöglichten. Als später der Chor (s. u.) als aktiver Handlungsteilnehmer zurücktrat, verlagerte sich das Spiel der Akteure mehr zu skenè hin (Vor-skenè). Endpunkt dieser Entwicklung waren die römischen Amphitheater. Auf der skenè erfolgten das Auf- und Abtreten der Schauspieler, der Kostüm- und Maskenwechsel, Chorlieder, das Innenraumgeschehen, sowie verdeckte Handlungen. Der Zuschauerraum, das theatron, war mit zirka 80 Sitzreihen (erst mit Holzund dann mit Steinbänken) im Halbkreis um die orchestra gruppiert. Dabei fasste das Theater in Epidauros 14.000, das in Ephesus 24.000 Zuschauer (zum Vergleich: ein ,normales‘ Theater heute wie etwa im Barbican Centre in London fasst etwa 1.200 Zuschauer). Das Publikum war also im griechischen Theater in einem Überhalbrund um die Bühne gruppiert, es bestanden keine festen Grenzen zwischen Schauspielern und Zuschauern, was ein Gefühl engen Kontakts vermittelte. Ein illusionistisches Bühnenbild war dadurch freilich unmöglich, denn die Größe des Theaters und die Distanz zwischen den Zuschauen und den Schauspielern erforderte große, stilisierende Gesten, sowie von Masken und symbolische Kostüme. Die Akustik in diesen Theatern galt als sehr gut. Die Einheit des Ortes (die Aristoteles’ Poetik übrigens nicht thematisiert, vgl. Kap. VIII) war für das griechische Drama zwangsläufig gegeben, da dieses Theater dem Dramatiker nur die Darstellung von Geschehen im Freien, nie aber in geschlossenen Räumen gestattete. Auch die ständige Anwesenheit des Chores auf der Bühne, der durch seine Gesänge (stasima) zwischen den einzelnen Handlungsabschnitten (epeisodia) gleichzeitig die Einheit des der äußeren Handlung gewährleistete, trug zur Geschlossenheit der Darbietung bei. Die Form der griechischen Bühne bedingte so auch indirekt die Einheit der Zeit im griechischen Drama, da sie eine stark auf die Endphase des Geschehens konzentrierte Handlungskonzeption förderte.
Antike Orchestrabühne
Stilisierung
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II. Das Wesen des Theaters Mittelalterliche Bühnenformen
pageants
Mittelalterliche Simultanbühne
Im Mittelalter ,entstand‘ das Drama gleichsam ein zweites Mal, waren doch Inhalte und Darbietungsformen so ganz verschieden von dem der Antike. Zur Darbietung seiner religiösen Spiele (mystery plays, morality plays; vgl. Kap. X.1 und X.2) entwickelten sich im Mittelalter, das keine festen Theaterbauten kannte, zwei Aufführungsformen: a) So genannte pageants: Wagen, auf denen Episoden der Heilsgeschichte dargestellt werden, fahren durch die Stadt und führen jeweils einzelne Szenen der Geschichte vor wechselnden Zuschauergruppen auf. Die Schauspieler werden von Handwerkszünften gestellt, deren Beruf in Beziehung zur jeweiligen Episode der Heilsgeschichte steht (so wurde z. B. die Episode der Arche Noah von Schiffsbauern aufgeführt). Die Zuschauer bleiben dabei an ihrem Platz und lassen die Einzelbilder der Handlung auf diesen Wagen an sich vorüberziehen. b) Die mittelalterliche Simultanbühne: Auf einer größeren freien Fläche, wie z. B. dem Marktplatz, sind einzelne Spielstätten (lat.: loca, sedes, mansiones) gleichzeitig aufgebaut und von allen Seiten einsehbar. Zwischen diesen Spielstätten befindet sich eine neutrale Spielfläche (platea). Auf dieser bewegt sich eine Figur – wie in den morality plays (vgl. hierzu genauer Kap. X.2) der Everyman – auf seinem Weg vom Zustand der Gnade in den Zustand der Sünde und zurück zum Zustand der Gnade. Dabei begegnet er einer Reihe von Figuren, bis er letztlich stirbt und in die ewige Seligkeit eingeht. Ganz anders als im griechischen Theater bestand bei dieser Darbietungsweise also ein räumlich enger Kontakt zwischen dem Publikum und den Darstellern.
Abb. 1: The Globe Playhouse (1599–1613)
1. Theater als Medium öffentlicher Kommunikation
Abb. 2: The New Globe Theatre London (1999)
Die öffentlichen Theater der frühen Neuzeit, deren bedeutendster Autor William Shakespeare gewesen ist, wie etwa das Globe Theatre, hatten eine Bühne von ca. 13 Metern Breite und 10 Metern Tiefe. Sie ragte weit in den offenen Hof des polygonalen Baus mit überdachten Zuschauergalerien hinein, die Spielfläche, die so genannte apron stage, war nach drei Seiten hin offen und nur teilweise überdacht. Die überdachte Hinterbühne befand sich an der Bühnenrückseite. Als Andeutung von Innenräumen konnte durch Ziehen eines Vorhangs (discovery space) ein Tableau enthüllt werden. Hier muss man sich Szenen wie im Hamlet die Ermordung des Polonius „behind the arras“ oder die Enthüllung der Statue der tot geglaubten Hermione in The Winter’s Tale durch Paulina („draws a curtain“) vorstellen. Den Bühnenhintergrund bildete eine gleich bleibende Fassade mit zwei Türen, die noch eine Galerie als Oberbühne (balkonartige Spielfläche) umfasste. Hier spielten etwa die Balkonszenen in Romeo and Juliet, die Belagerung der Stadt Harfleur in Henry V, oder die Oberbühne stellte die Mauern von Flint Castle in Richard II dar: Northumberland: My Lord, in the base court he doth attend To speak with you. May it please you to come down? King Richard: Down, down I come, like glist’ring Phaeton,
Das Theater der Frühen Neuzeit: public theatres
Beispiel: Richard II
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II. Das Wesen des Theaters
Wanting the menace of unruly jades. In the base court: Base court, where kings grow base To come at traitors’ cells, and do them grace! In the base court, come down: down, court! down king, For night-owls shriek where mounting larks should sing. (3.3.175–182)
Zuschauer
Illusionsarmut
The New Globe
Die festen Bühneneinrichtungen wurden damit also zu ständig wechselnden dramatischen Räumen. Die Zuschauer (das Globe fasste etwa 2.000) kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, vom Handwerker bis zur Königin bzw. zum König. Die groundlings auf den billigsten Plätzen standen um die Bühne herum und mischten sich gern mit Kommentaren ins Bühnengeschehen ein. Gespielt wurde bei Tageslicht mit wenig Szenerie und in zeitgenössischen Kostümen. Da Requisiten und Kulissen kaum vorhanden waren, lässt sich dieses Theater als illusionsarm beschreiben: die Illusion eines fremden Schauplatzes wie z. B. einer fernen Insel musste durch andere Mittel, d. h. etwa mit Hilfe von Wortkulissen, also in Repliken der Dramenfiguren, näher beschrieben und damit in der Phantasie der Zuschauer hervorgerufen werden (vgl. hierzu auch Kap. IX). Durch die Illusionsarmut waren in diesem Theater auch mühelos Schauplatzwechsel zu vollziehen, welche wiederum den kontinuierlichen Fluss der Szenen förderten. Gliederungsprinzip der elisabethanischen Dramen ist die Szene, nicht der Akt (vgl. Kap. VI.4), weshalb die häufig anzutreffende Mehrsträngigkeit der Handlung, Kurzszenentechnik, oder schnelle Szenenwechsel möglich waren. Die beste Möglichkeit zur Veranschaulichung des Theaterwesens der Frühen Neuzeit bietet heute das neue Globe Theatre am Südufer der Themse in London. Das ursprüngliche Globe Theatre war 1599 erbaut worden, brannte aber im Jahr 1613 bei der Uraufführung von Henry VIII durch das Abfeuern einer Kanone ab, die das „house with the thatched roof“ und damit den gesamten Holzbau in Brand setzte. Das Second Globe wurde auf den Grundmauern des First Globe zwar – mit einem Ziegeldach – wieder aufgebaut, jedoch im 17. Jahrhundert während der Zeit des Commonwealth, der Regierungszeit Oliver Cromwells, endgültig zerstört. Es war eine archäologische Sensation, als im Jahr 1989 bei Aushubarbeiten für einen Bürokomplex die Überreste des dem Globe benachbarten Rose Theatre im Norden der Park Street am Südufer der Themse entdeckt wurden. Etwa drei Fünftel der originalen Grundmauern konnten freigelegt werden und bestätigen somit die Annahme der Forscher, dass die elisabethanischen Theater polygonale Bauten gewesen waren. Motiviert durch den Fund des Rose versuchten Forscher die Stelle des Globe zu finden, und bereits im Oktober des gleichen Jahres konnten zirka 5% von dessen Grundmauern entdeckt und freigelegt werden. Freilich war es nicht möglich, die Ausgrabungen weiter fortzusetzen, da ein Teil des Globe unter der Southwark Bridge Road, und der größte Teil unter Anchor Terrace, einem denkmalgeschützten Gebäude des 19. Jahrhunderts, liegt. Mit Hilfe von modernsten Techniken konnten Forscher wie Prof. Andrew Gurr freilich weitere Erkenntnisse über das Globe gewinnen, die für die Rekonstruktion und die Erbauung des The New Globe herangezogen werden konnten. Die Initiative des amerikanischen Schauspielers und Regisseurs Sam Wannama-
1. Theater als Medium öffentlicher Kommunikation
ker (1919–1993), einen Nachbau des elisabethanischen Globe zu erstellen, wurde (für Wannamaker posthum) nach fast 30 Jahren engagierter Arbeit, finanziert zum allergrößten Teil aus privaten Geldern, Wirklichkeit, als Königin Elisabeth II. im Juni 1997 das New Globe eröffnete. Inwieweit der Anspruch, das damalige Theaterwesen und -spiel so originalgetreu wie möglich wieder zu errichten geglückt ist, mag vom interessierten Theatergänger am besten selbst am Südufer der Themse nahe der Southwark Bridge überprüft werden. Das New Globe ermöglicht es, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Inszenierung und Schauspielstil zur Zeit Shakespeares besser zu studieren, und jeder interessierte Zuschauer wird selbst beobachten, wie ,anders‘ die Dramen Shakespeares und seiner Zeitgenossen auf dieser Bühne wirken und funktionieren. Im Unterschied zu den public theatres wie dem Globe wurden die private theatres der Zeit in bereits existierenden Gebäuden eingerichtet. „Die Bezeichnung private kam um 1600 auf, weil sie in der Form den Bühnen ähnlich waren, die in privaten Häusern zu gelegentlichen Aufführungen aufgeschlagen wurden.“ (Weiß, Drama, S. 33). Die private theatres befanden sich nicht – wie die public theatres – außerhalb der Jurisdiktion der City, sondern im Zentrum der Stadt, wenn auch auf Gelände, das der städtischen Rechtsprechung nicht unterlag. So lag etwa das Blackfriar’s Theatre, welches Shakespeares Schauspieltruppe The King’s Men 1608 als erste Erwachsenentruppe übernahm, auf dem Grund des Blackfriar’s Konvents. Über diese private theatres wissen wir nur wenig. Sie scheinen in große rechteckige Hallen eingebaut gewesen zu sein, an deren einer Stirnseite sich die Bühne befand. Vor dieser standen Bänke für die Zuschauer. Die private theatres unterschieden sich vor allem von den public theatres durch ihre Größe und die geschlossenen Räume, in denen bei künstlichem Licht gespielt werden konnte. Da diese Theater nur etwa 400 bis 500 Zuschauer fassten, waren die Eintrittspreise höher, und das Publikum rekrutierte sich entsprechend eher aus den wohlhabenden Schichten (vgl. Weiß, Drama, S. 34). Im Repräsentationstheater seit der Restauration 1660 erfolgte eine allmähliche Verlagerung des Bühnengeschehens von der Vorderbühne zurück auf die dahinter liegende Spielfläche, was letztlich eine frontale Anordnung von Bühne und Zuschauern zur Folge hatte. In geschlossenen Räumen schaffen nun gestaffelte Seitenkulissen Tiefenwirkung und konzentrieren den Blick auf die Hintergrundkulissen. Das Bühnenbild erhebt noch nicht den Anspruch von realistischer Repräsentation, ist aber dekorativ. Perspektivische Bühnenbilder vermitteln den Eindruck großer räumlicher Tiefe. Einen Vorhang gibt es noch nicht, er taucht in England erst im späten 18. Jahrhundert auf; die Trennung von Bühne und Publikum ist also vollends noch nicht vollzogen. Aus den Theateraufführungen in geschlossenen Räumen bei künstlichem Licht und unter Verwendung von Kulissen entwickelt sich die so genannte Guckkastenbühne. Die Zuschauer sitzen frontal zur Bühne, die sich hinter einem fest gefügten schließbaren Rahmen (Rampe oder Bühnenportal mit Vorhang) befindet, und dazu oft vom Zuschauerraum durch den Orchestergraben getrennt ist (Konfrontationstheater). Der Bühnenraum präsentiert sich als auf drei Seiten abgeschlossener Kasten, dessen ,vierte Seite‘ als imaginäre ,vierte Wand‘ dem Streben nach größtmöglicher Illusion die architektoni-
Das Theater der Frühen Neuzeit: private theatres
Proszenium-Bühne
Guckkastenbühne
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II. Das Wesen des Theaters
Moderne Bühnenformen Kabuki-Theater
Arenabühne
schen Voraussetzungen bietet. Diese Bühnenform wird daher auch Illusionsbühne genannt, da dem Zuschauer die Illusion gegeben wird, als ,zufälliger‘ Zeuge an einem realen Geschehen teilzuhaben. Die Schauspieler geben dabei vor, die Anwesenheit des Publikums zu vergessen. Die Guckkastenbühne als die noch heute am häufigsten anzutreffende Form in westlichen Theatern dürfte jedem Leser aus Stadt- und Staatstheatern vertraut sein. Vor allem seit dem zweiten Weltkrieg lassen sich Tendenzen zur Abwendung von der Guckkastenbühne feststellen, was etwa in der thrust stage, einer ins Publikum vorspringenden Bühne (ähnlich wieder der elisabethanischen Bühne) seine Ausprägung findet. Eine besondere Form der Bühne stellt das japanische Kabuki-Theater (vgl. Balme, S. 138) mit seinem so genannten ,Blumenweg‘ (hanamichi) dar. Dieses verläuft durch das ganze Theater und ermöglicht ein Spiel der Darsteller mitten im Zuschauerraum. Auch wenn diese Verlängerung der Hauptbühne in den Zuschauerraum hinein seit seiner Einführung im 18. Jahrhundert einigen architektonischen Veränderungen unterlag, blieb das Grundprinzip, nämlich die Überwindung der Rampe, erhalten. Auch Arenabühnen, bei denen sich der SpielPlatz inmitten der Zuschauer befindet (einen Vorhang gibt es nicht) in Anlehnung an die Theater der Antike sind hier zu nennen. Eine Kombination dieser Bühnenformen bietet zum Beispiel das National Theatre in London (eröffnet 1976). The Olivier (benannt nach Sir Laurence Olivier, dem höchstdekorierten englischen Schauspieler des 20. Jahrhunderts) hat eine ausladende offene thrust stage in einem Auditorium mit zwei Balkonen, das 1.160 Zuschauer fasst. The Lyttelton mit proscenium arch (und Vorhang) und konventionellem Sitzplan für 895 Zuschauer präsentiert sich eher traditionell. The Cottesloe ist ein Studiotheater für 200–400 Zuschauer, ein kleiner, frei gestaltbarer Raum, der es im äußersten Fall erlaubt, die Distanz zwischen Bühne und Auditorium ganz aufzuheben. Neben ausdrücklichen Theaterbauten gab es freilich seit jeher auch nur vorübergehend für Theater genutzte Bauten wie Gasthäuser oder Sporthallen. Vor allem im experimentellen Theater werden andere Räume mit bewusster Bedeutung tragender Absicht für Dramenaufführungen verwendet. Als Beispiel sei erwähnt Peter Brooks Inszenierung von Shakespeares Timon of Athens im Théâtre des Bouffes du Nord in Paris (1975), einem ehemaligen Bahnhof, oder Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil, das in einer aufgelassenen Pappe-Fabrik spielte.
2. Das Wesen des Theaterspiels
Thornton Wilder, Thoughts on Playwriting
Der Unterschied zwischen einem erzählenden und einem dramatischen Text liegt vor allem auf der Vermittlungsebene. Wo dem Leser in einem Roman oder einer Kurzgeschichte über eine vergangene Geschichte berichtet wird, vollzieht sich im Theater das Geschehen in der Gegenwart, vor den Augen des Zuschauers. Im Drama wird ohne zeitliche Verschiebung eine fiktive Welt mit spezifischen Handlungs-, Figuren-, Raum- und Zeitebenen vor den Zuschauern entfaltet. Handlung findet also im Theater immer gegenwärtig statt, wie Thornton Wilder in Thoughts on Playwriting veranschaulicht: „The novel is past reported in the present. On the stage it is always now. This con-
2. Das Wesen des Theaterspiels
fers upon the action an increased vitality which the novelist longs in vain to incorporate in his work. This condition in the theatre brings with it another important element: In the theatre we are not aware of the intervening storyteller. The speeches arise from the characters in an apparently pure spontaneity. A play is what takes place. A novel is what one tells us took place.“ Ein Roman ist dagegen immer abgeschlossen, wenn er dem Lesepublikum übergeben wird. Auch ein Gemälde ist stets fertig, gerahmt und mit Firnis versehen, wenn es ausgestellt wird. Dagegen ist ein Drama ein ,Kunstobjekt‘, das stets im Prozess seiner Entstehung wahrgenommen wird. Drei Konstituenten sind für das Theater unabdingbar: erstens, der Schauspieler, zweitens, die Figur, welche ein Schauspieler darstellt, und, drittens, der Zuschauer: „The theatrical situation, reduced to a minimum, is that A impersonates B while C looks on.“ (Bentley, S. 50). Ein Rollen- bzw. Schauspieler (A) stellt eine andere Person (B) dar, während ein Publikum (C) zusieht. Drama ist somit stets ein gegenwärtiges Spiel, ein Rollen-Spiel (vgl. dt. „Schau-Spiel“; engl. play), es simuliert oder spielt Ereignisse nach, die in einer als ,wirklich‘ konzipierten oder erfundenen Welt stattgefunden haben oder stattgefunden haben könnten. Damit ist ein Drama eine Nachahmung menschlicher Interaktionen „mittels ihrer Verkörperung durch Menschen, die die Identität von (erfundenen oder wirklichen, aber ,historischen‘) Menschen angenommen haben und diese Interaktion einem Publikum zeigen, als würde sie gerade in diesem Moment vor seinen Augen stattfinden“. (Esslin, S. 34). Das Verhältnis von Schauspieler und Figur In diesem gegenwärtigen Rollenspiel verkörpern also Menschen als SchauSpieler die Identität anderer Menschen vor einem Publikum. Ein Schauspieler hat somit eine Doppelfunktion: er präsentiert – mit all seinen persönlichen Eigenschaften, Erfahrungen und Prägungen – zunächst sich selbst (A), und er spielt zudem eine Rolle (B). Jede Dramenaufführung ist zunächst fundamental abhängig von der physischen Präsenz des Schauspielers (A). Er füllt die Theaterbühne mit seiner körperlichen Erscheinung und seiner Körpersprache und interpretiert so den seiner Figur (B) zugewiesenen Text nicht nur in den gesprochenen Repliken, sondern füllt auch den von der Textvorlage offen gelassenen Bereich aus: er repräsentiert seine Figur auch dann, wenn andere Figuren sprechen. Gerade die Passagen längerer, stummer Präsenz auf der Bühne, für die der Text keine Regieanweisungen gibt, stellen ihn gewöhnlich vor Aufgaben, für deren Lösung er ganz besonders auf seine Begabungen angewiesen ist. Auch erreicht das Schauspiel in den Passagen des Schweigens oft seine höchste Intensität, die das gestische und mimische Können des Darstellers umso mehr herausfordern. Diese wird besonders offenbar im absurden Theater wie etwa Becketts Waiting for Godot (vgl. Kap. X.8), doch auch in den ganz auf Sprache angelegten Dramen Shakespeares gibt es solche Momente: wenn beispielsweise in Coriolanus der Titelheld auf Bitten seiner Mutter sich zum für ihn verhängnisvollen Verrat an den Volskern entschließt, drückt er – bevor er mit „Oh mother, mother! What have you done?“ (5.3.183) antworten kann – seine Gefühle umso eindruckvoller aus in der ganz seltenen gestischen Spielanweisung: Holds her by the hand, silent.
Schauspieler, Figur, Zuschauer
Theater ist gegenwärtige Simulation
Der Schauspieler
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II. Das Wesen des Theaters Die Figur
Wechselwirkung von Zuschauer und Schauspieler
Theater als kybernetische Maschine
Einfluss der Theaterbauten auf die Rezeption durch das Publikum
Die Verkörperung einer Dramenfigur (B) durch einen Schauspieler (A) kann auf der Bühne explizit verdeutlicht werden z. B. in Verkleidungskomödien mit dem bewusst demonstrierten Rollenspiel. Hier stellt der Schauspieler eine Figur dar, die ihrerseits in der fiktiven Welt des Stücks eine andere Identität angenommen hat, wie z. B. Viola in Twelfth Night, Rosalind in As You Like It, oder Portia in The Merchant of Venice, die sich alle als Männer verkleiden. Als Symbol der Verwandlung dient häufig die Maske, die von jeher zum Schauspiel gehörte und bis heute die ursprüngliche Faszination der Verwandlung und die Freude am Rollenspiel als wesentliche Triebkraft des Theaters symbolisiert. Publikum Auch wenn nicht unbedingt damit zu rechnen ist, dass die Namen von Zuschauern einmal auf einem Broadway- oder West-End-Plakat stehen werden, macht das Publikum neben dem Schauspieler, der, wie oben dargelegt, eine Figur verkörpert, die dritte unverzichtbare Kommunikationsinstanz des Theaters aus: ein Autor schreibt für ein Publikum, und nur vor einem Publikum wird eine Theateraufführung überhaupt möglich. Auch beeinflusst umgekehrt das Publikum (vor allem im nicht-subventionierten Theater) das, was auf der Bühne gezeigt wird, denn der Erfolg am box office kann durchaus Wirkung haben auf das, was Autoren schreiben oder (nicht-subventionierte) Theater zur Aufführung bringen. Wie problematisch diese Abhängigkeit sein kann, zeigt, dass viele Dramen, die sich außerordentlich gut verkaufen, von ihrer Handlung her etwas ,dünn‘ erscheinen mögen, dagegen ,Klassiker‘ der Dramenliteratur sich manchmal nicht gerade als Bestseller am box office erweisen. Wie die Besetzung der einzelnen Rollen durch verschiedene Schauspieler den Kommunikationsprozess im Theater grundlegend prägt, beeinflusst auch die Zusammensetzung des Publikums eine Aufführung in erheblichem Maß, da zwischen diesen beiden Gruppen eine kommunikative Rückkopplung besteht, welche das Theater als ,kybernetische Maschine‘ charakterisieren lässt. Das spezifische Merkmal des Live-Theaters ist die unmittelbare Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum, ein kontinuierliches feedback. Da sich die Aufführung in der Gegenwart des Publikums entwickelt, und sich auch auf der Bühne zwischen den agierenden Figuren unvorhergesehene Improvisation ergeben kann, wird die Spannung für Darsteller und Zuschauer gesteigert. Noch wichtiger ist, dass sich die Reaktionen des Publikums den Darstellern sofort mitteilen. Reaktionen des Publikums können Schauspieler beflügeln oder verunsichern und hemmen: durch Gelächter, angehaltenen Atem, Schweigen, Missfallskundgebungen, Zwischenrufe oder spontanen Applaus kann das Publikum die Schauspieler indirekt beeinflussen. Auch können Zuschauer Tragödien ,kaputtlachen‘ oder auf eine Komödie nur mit Schweigen reagieren oder mit Mühe zum Lachen zu bewegen sein. Eine Nachmittagsvorstellung mit Kindern und Jugendlichen wird beispielsweise ganz anders verlaufen als eine Abendvorstellung vor Teilnehmern eines wissenschaftlichen Kongresses. Diese Reaktionen des Publikums werden auch zu einem nicht unerheblichen Teil dadurch beeinflusst, wie sich Zuschauerraum und Bühnenraum zueinander verhalten. Deren räumliche Zuordnung, und damit verbunden die
2. Das Wesen des Theaterspiels
Entfernung von Zuschauern und Bühne, ferner die Zuordnung der Zuschauer untereinander (nebeneinander, einander gegenübersitzend) und deren Abstand zueinander (einzelne Stühle, feste Sitzreihen, räumliche Enge) wird die Aufnahme eines Dramas ebenso prägen wie ein festlicher oder ein schlichter Gesamtrahmen. Es ist ferner bedeutsam, ob der Zuschauerraum während der Aufführung verdunkelt ist oder nicht, und damit die Schauspieler die Zuschauer, und die Zuschauer sich untereinander sehen. Doch nicht nur die Theaterbauten, auch die Zusammensetzung des Publikums kann ein Theatererlebnis maßgeblich beeinflussen. Einen Dramentext oder einen Roman kann man für sich allein lesen, durch eine Gemäldegalerie kann man nach eigenem Tempo und Rezeptionsvermögen gehen. Einzelne Bilder kann man hier so lange ansehen wie man will, andere ganz unberücksichtigt lassen. Beim Lesen eines Romans kann man das eigene individuelle Lesetempo selbst bestimmen und auch einmal ein paar Seiten zurückblättern. Eine Theateraufführung ist dagegen ein soziales Ereignis, welches sich kaum individuell gestalten lässt: man sitzt in einem mehr oder weniger abgedunkelten Raum mit hunderten von Fremden, die man noch nie gesehen hat und auch höchstwahrscheinlich nie wieder sehen wird. Die Zusammensetzung dieser Menge ist vollkommen zufällig und unterschiedlich. Sie kommt nur zusammen in der einen Hoffnung, einen wie immer bedeutungsvollen Theaterabend zu verbringen. In dieser Menge der Zuschauer ist jeder Einzelne ein Teil des Kollektivs Publikum und unterliegt damit dessen Gesetzmäßigkeiten. Zuschauer reagieren – als Phänomen der kollektiven Masse – auf die Reaktionen der anderen Zuschauer. Obwohl vor Beginn der Vorstellung nur Individuen in das Theater kamen, wird das Publikum im Theater schnell zu einer Gruppe, zu einer Einheit. Durch die „willing suspension of disbelief“ (S. T. Coleridge, Biographia Literaria, Chapter 14) lösen sich die Individuen gleichsam auf, werden zur Masse, die sich in ihren Reaktionen einander angleicht. Eine Gruppe reagiert auf Stimuli, die einen einzelnen unberührt lassen würden, durch den Druck der Konformität. Lachen ist gemeinhin ansteckend, kann aber auch – wie jedes von der Masse abweichendes Verhalten – an unpassenden Stellen als störend empfunden werden. Umgekehrt steigert die kollektive Rezeption wiederum die Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit des einzelnen. So wirkt etwa die gleiche Szene bei stark unterbesetztem Zuschauerraum weniger intensiv als bei voll besetztem Haus. Über dem Publikum wird in jeder Inszenierung bzw. jeder Aufführung ein wahres Füllhorn von Zeichensystemen ausgeschüttet, die es zu erkennen, zu kombinieren und zu deuten gilt (vgl. Kap. II.3). Was eine Aufführung einem jedem Zuschauer ,sagt‘, ist nicht nur von dessen Fähigkeit des Entschlüsselns all dieser Zeichen abhängig, Fehlinterpretationen können auch durch einen Mangel an Aufmerksamkeit entstehen. Da der Zuschauer die Fülle der ihm über einen Zeitraum von etwa drei Stunden simultan dargebotenen Zeichen auf der Bühne ständig entschlüsseln und hierarchisieren muss (ihm hilft nicht wie im Film eine Kamera, eine Perspektive einzunehmen; vgl. Kap. XI), muss die Aufmerksamkeit des Publikums immer wieder neu geweckt werden, wie es in der deutschen Literatur Johann Wolfgang von Goethe im Vorspiel auf dem Theater zu Faust so anschaulich zum Ausdruck gebracht hat:
Kollektivität der Rezeption
The willing suspension of disbelief
Aufmerksamkeit
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II. Das Wesen des Theaters Beispiel: Johann Wolfgang von Goethe, Faust I
Kulturelle Kompetenz des Publikums
Kulturelle Verhaltenskonventionen
Direktor: Und seht nur hin, für wen ihr schreibt! Wenn diesen Langeweile treibt, Kommt jener satt vom übertischten Mahle, Und was das allerschlimmste bleibt, Gar mancher kommt vom Lesen der Journale. Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten, Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt. Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten Und spielen ohne Gage mit … (112–120) Der, nach dem Schauspiel, hofft ein Kartenspiel, Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen. Was plagt ihr armen Toren viel, Zu solchem Zweck die holden Musen? (125–128) Auf der Bühne müssen sich alle Beteiligten durchwegs bemühen, aufkommende Langeweile immer wieder durch neue Gruppierungen der Charaktere, lebendige Anordnungen des Bühnenbildes und der Requisiten oder visuelle Effekte zu durchbrechen, ferner durch Tempowechsel, unterschiedliche Stimmhöhen und Sprechrhythmen und ständige Veränderungen auf der Bühne das unterschiedlich stark interessierte Publikum in ihrem Bann zu halten. Unter kultureller Kompetenz versteht man den adäquaten Umgang mit kulturellen Einrichtungen und Institutionen, sowie das ,richtige‘ Decodieren kultureller Zeichen. So wird ein Zuschauer eine Theaterinszenierung, einen Film oder auch eine Fernsehsendung immer nach seiner Vertrautheit mit den Normen und Konventionen der betreffenden Kultur, Zivilisation oder Gesellschaft bewerten, zu der Darsteller und Zuschauer gehören (kulturelle Verhaltenskonventionen), sowie zudem nach den Konventionen, welche die Darbietung der dramatischen Aufführung bestimmen (dramatische oder Aufführungskonventionen). Diese zwei Formen gilt es kurz zu erläutern. Die meisten Signale, mit denen wir im täglichen Leben umgehen, sind kulturell determiniert. Dies betrifft auch die physische Erscheinung eines Schauspielers. Was in einer Kultur oder Epoche dem Schönheitsideal entspricht, muss nicht notwendigerweise mit den Idealen einer anderen Kultur oder Epoche übereinstimmen. So wirken oft im Film Schauspielerinnen, die vor fünfzig Jahren als glamouröse Schönheiten bewundert wurden, auf ein heutiges Publikum eher ein wenig lächerlich. Auch können innerhalb des gleichen Kulturraums einzelne Gruppen nicht in gleicher Weise wie andere mit bestimmten Aspekten dieser (gleichen) Kultur vertraut sein. So wird etwa ein Landarbeiter im 18. Jahrhundert die Feinheiten des aristokratischen Sittenkodex kaum bemerkt haben, auf denen das Verständnis für den Witz einer Restaurationskomödie von Congreve oder Vanbrugh basiert. Auch wäre das Vokabular des Landarbeiters wahrscheinlich nicht ausreichend gewesen, um den sprachlich ausgefeilten Dialogen zu folgen. Um daher einen Aufführungstext möglichst vollkommen verstehen zu können, bedarf es auch einer Kompetenz in spezifischen subkulturellen Konventionen.
2. Das Wesen des Theaterspiels
Für die Vertrautheit mit den Aufführungskonventionen ist es grundlegend, dass das Publikum weiß, dass die auf der Bühne gezeigten Ereignisse gespielt und nicht real sind. Alles, was wir üblicherweise als Zuschauer im Theater erwarten, ist, getäuscht zu werden. Wir wissen eigentlich, dass die Wände des Zimmers auf der Bühne aus Spanplatten sind, dass die Pistolen nur mit Platzpatronen geladen sind und dass der Schauspieler des ermordeten Opfers am Schluss lächelnd auf der Bühne stehen und sich verbeugen wird (der Schlussapplaus gibt gemeinhin darüber Aufschluss, wie erfolgreich diese Täuschung war). Entsprechend dieser Kenntnis der dramatischen Konventionen wird sich der Zuschauer üblicherweise nicht mit Kommentaren ins Bühnengeschehen einmischen und die ,vierte Wand‘ der Bühne als gegeben anerkennen. Zu seiner dramatischen Kompetenz gehört es auch, Störungen wie zu spät Kommende, Papierrascheln, Husten oder ständig kichernde, pubertierende Jugendliche zu ignorieren. Auch gilt es, Zwischenfälle auf der Bühne (verpasster Einsatz, lange Pausen, wacklige Requisiten, ein schiefes Bild, spiegelnde Oberflächen) geistig auszublenden, zu überhören oder zu übersehen. Die Akzeptanz sprachlicher Abweichungen von der Norm wie das Sprechen in Versen oder Selbstgespräche von Figuren (vgl. Kap. V) sind hier ebenso zu nennen wie die spezifischen und jeweils unterschiedlichen Konventionen, die bestimmte Variationen, Gattungen oder Subgattungen des Dramas beinhalten. Dies betrifft etwa die unendlichen Varianten im traditionellen japanischen Theater (Nô, Kiyogen, Kabuki) oder das hoch formalisierte klassische chinesische Theater. Oft gibt es Probleme, wenn Dramen dieser Kulturen bzw. Epochen mit den heute üblichen Inszenierungsgewohnheiten unseres westlichen Theaters mit seiner Guckkastenbühne und der Ausrichtung auf verbale Kommunikation aufgeführt werden, da das Publikum mit diesen Konventionen gemeinhin nicht vertraut ist. Zusätzlich zu diesen Konventionen bestimmen Weltsicht, kulturelle Vorbildung, Lebenserfahrung und soziale Position jedes einzelnen Zuschauers den jeweils ganz individuellen Rezeptionsprozess. Seine Erwartungen sind bereits vorbestimmt durch so genannte ,rahmende Systeme‘ wie Vorankündigungen (Plakate, Anzeigen, spots in den Medien), den Veranstaltungsort (Provinz- oder Staatstheater), Zeitungskritiken oder Urteile von Bekannten, die die Inszenierung bereits gesehen haben. Daneben wird jeder Zuschauer noch eine Fülle von persönlichen Voraussetzungen und Vorstellungen, Erinnerungen – wie etwa an frühere Inszenierungen mit anderen Schauspielern – Erwartungen und Spezialkenntnisse verschiedenster Art mitbringen. Der persönliche Geschmack eines jeden hinsichtlich Kostümen, Möbeln, Farbverteilung etc. wird die Rezeption ebenso mitbestimmen wie eine bestimmte selektive Wahrnehmungsfähigkeit. So kursiert die Anekdote von dem Theaterenthusiasten, der seinen Vater, einen Zahnarzt, in eine Aufführung von Romeo und Julia mitnahm und von diesem nach der Vorstellung nur den Kommentar bekam, sein hauptsächlicher Eindruck von dem Stück sei, dass die Darstellerin der Julia als Kind eine kieferorthopädische Behandlung gebraucht hätte. Auch soll ein Vertreter Arthur Millers Death of a Salesman damit kommentiert haben, dass er schon immer wusste, dass Neuengland ein schwieriger Bezirk für einen Vertreter sei.
Dramatische Konventionen
Dramatische Kompetenz des Publikums
Individuelle Rezeptionshaltungen
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II. Das Wesen des Theaters
3. Die Gesamtaufführung als Zeichensystem
Drama ist überall
Vielfalt der Zeichen im Theater
Nachdem wir uns bisher die medialen Bedingungen des Theaters und die notwendigerweise zum Theaterspiel gehörenden Instanzen vor Augen geführt haben, gilt es im Folgenden, die spezifischen Kriterien für eine Aufführungsanalyse zu erhellen. Ebenso wie es für eine Untersuchung des literarischen Textsubstrats (Drama) bestimmte Fragenbereiche gibt (vgl. Kap. III– IX), arbeitet auch das Theater mit ganz eigenen Mitteln und Techniken, die wir uns als Beschreibungsrepertoire aneignen müssen, um den reinen „Impressionismus“ („Ich weiß nicht recht, irgendwie…“) des Theatererlebnisses zu ersetzen. Mit welchen Mitteln und Techniken transportiert also das Theater seine Informationen an sein Publikum? Wir machen uns gemeinhin kaum bewusst, dass wir auch im täglichen Leben von Inszenierungen ,dramatischer‘ Texte umgeben sind: so ist bereits jeder Werbespot (und erst recht jeder Wahlwerbespot) ein ,dramatischer‘ Text, der ganz bewusst inszeniert wird. Wie komplex eine Inszenierung ist, lässt sich schon zeigen am ganz einfachen Beispiel des scheinbar sachlichen Wetterberichts. „Morgen wird die Sonne scheinen“ ist, gelesen in einer Zeitung, noch Information, nichts weiter. Wenn diese Nachricht im auditiven Medium ,Radio‘ vorgelesen wird, kommt bereits die Stimmqualität und der Tonfall des Ansagers hinzu, welche der Nachricht eine Zusatzbedeutung geben. Wird diese Äußerung dann im visuellen Medium des Fernsehens gesendet, kommen unzählige weitere Details hinzu. Wir registrieren als Zuschauer zusätzlich zur Stimmqualität des Ansagers die Tatsache, wie dieser gekleidet ist (modisch, farblich auffällig etc.), welche Frisur oder Brille er trägt, wie das Studio dekoriert ist, welche Gestik und Mimik der Ansager macht usw., usw. Viele, viele Einzelinformationen werden in der ,Inszenierung‘ des Wetterberichts die Aussage „Morgen wird die Sonne scheinen“ begleiten und vom Zuschauer meist spontan und nicht bewusst aufgenommen werden. Nun dauert der oben zitierte Satz nur 1–2 Sekunden, eine gesamte Wetteransage auch nur wenige Minuten, ein Drama dagegen mehrere Stunden. Im Drama gibt es im Unterschied zum Wetterbericht auch üblicherweise nicht nur einen Sprecher, sondern deren viele. Sie alle äußern sich – und das auch noch größtenteils gleichzeitig – sprachlich, gestisch und mimisch. Dabei stehen all diese Sprecher in ganz bestimmten Beziehungen zueinander, tragen spezifische Kostüme und Masken, bewegen sich alle im Raum. Im Vergleich mit dem Wetterbericht ist die Potenzierung der Detailinformationen im Theater also immens. Aufgabe des Literaturwissenschaftlers ist es daher, mit Hilfe eines genauen Beschreibungsrepertoires diese Vielfalt der Informationen zu differenzieren und entsprechend zu deuten. Um die Vergegenwärtigung und Umsetzung der Spielvorlage Drama auf dem Theater analysieren zu können, genügt es nicht nur festzustellen, was subjektiv gefallen hat und was nicht, sondern zu fragen, welchen Sinn das, was man auf der Bühne gesehen hat, wohl haben soll. Zunächst ist alles, was man auf der Bühne zunächst beobachtet, also Menschen, Vorgänge, Handlungen, Gebärden, Gesten, Kostüme etc., auch aus dem wirklichen Leben vertraut. Doch im Unterschied zur lebensweltlichen Realität, in der diese Vorgänge Bedeutung tragend sein können, d. h. Zeichencharakter haben können, ist dies im Theater immer und ausschließlich der Fall. Auf einer
3. Die Gesamtaufführung als Zeichensystem
Bühne passiert nichts zufällig, jedes Detail hat im Theater seine Bedeutung. Um daher die rein subjektiven Eindrücke bei der Analyse einer Dramenaufführung zu ersetzen, muss man die Regeln des Theaterspiels, d. h. die Zeichensysteme, über die das Theater kommuniziert, kennen. Um uns der ,Bedeutung‘ des Gebrauchs dieser Zeichen und Zeichnsysteme und deren Rolle im Theater zumindest anzunähern, müssen wir ein wenig weiter ausholen. Hintergrund: Grundlagen der Kommunikation Die Vermittlung der Textvorlage Drama im Theater rückt die Gattung in einen kommunikativen Zusammenhang – und jede Kommunikation erfolgt mittels bestimmter Zeichen. Nach der Zeichentheorie von Ferdinand de Saussure (1857–1913) gilt ein Zeichen als aus drei Komponenten bestehend. Das Signal, ein bestimmter Zeichenkörper (Signifikant von lat. significans = bezeichnend) als wahrnehmbarer Träger der zu vermittelnden Bedeutung (z. B. die Buchstaben d, o, g auf einem Papier oder die entsprechende Lautfolge) ist im Bewusstsein eines Zeichenbenutzers mit einer bestimmten, auf Konventionen beruhenden Vorstellung (Signifikat von lat. significatum = das Bezeichnete) verknüpft, also in unserem Beispiel ein Wesen mit vier Beinen, Schnauze, Schwanz, Fell etc.). Die dritte Komponente, der Referent (von lat. referens = sich beziehend), bezeichnet die außersprachlichen Objekte, welche durch das Zeichen faktisch oder potenziell bezeichnet werden, vertritt also den Bezug zur empirischen Wirklichkeit (in diesem Beispiel: ein Schäferhund, ein Dackel etc.). Der Unterschied zwischen Signifikat und Referent ist notwendig, da erstens ein Signifikant ein Signifikat, aber keinen Referenten haben kann; z.B: ein Einhorn, eine Fee, ein außerirdisches Wesen; da zweitens verschiedene Signifikate den gleichen Referenten haben können: z.B: Morgenstern/Abendstern (Referent ist hierbei jeweils der Planet Venus), und da drittens ein Signifikat je nach kultureller oder religiöser Zugehörigkeit des Zeichenbenutzers verschiedene Referenten oder überhaupt keinen haben kann, z. B. „Gott“ für einen Christen, Moslem, Heiden oder Atheisten. Mittels dieser in sich bereits dreigeteilten Zeichen funktioniert Kommunikation nach dem folgenden Schema:
Abb. 3: Allgemeines Kommunikationsmodell (Weiß, Einführung, S. 87)
Auf der Bühne ist alles Bedeutung tragend
Signifikat, Signifikant, Referent
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II. Das Wesen des Theaters Sender
Empfänger
Ikonische Zeichen
Deiktische Zeichen
Zur Übermittlung einer von ihm intendierten Nachricht wählt ein Sender aus den Zeichenfeldern (Paradigmen) des ihm zur Verfügung stehenden Zeichenvorrats (Code, Repertoire, langue), d. h. in diesem Fall, der deutschen Sprache, diejenigen Zeichen aus, die ihm zum Gelingen seiner Kommunikationsabsicht notwendig und erforderlich erscheinen (message, parole) und setzt diese nach den Regeln des Syntagmas, d. h. grammatikalisch korrekten und inhaltlich logischen Aneinanderreihungen von Zeichen nach festen Regeln, zusammen. So könnte er für das Paradigma „Behausung“ etwa Palast/Burg/Schloss/Haus/Hütte/Loch etc. auswählen. Nicht-sprachliche Paradigmen wie etwa der Begrüßungsgestik wären Händeschütteln, Handkuss, Knicks, Hackenschluss, Verbeugung, Heben des rechten Unterarms, Verbeugung, Aufstehen etc. Der Empfänger dieser so codierten, also durch Zeichen verschlüsselten, Nachricht geht seinerseits mit dem ihm zur Verfügung stehenden Zeichenvorrat daran, diese Nachricht zu decodieren, also zu entschlüsseln, wobei eine zumindest partielle Überschneidung der Codes von Sender und Empfänger unabdingbare Voraussetzung ist, um Kommunikation überhaupt zu ermöglichen. Wenn der Sender nur deutsch spricht, der Empfänger nur englisch, ist kein gemeinsamer sprachlicher Code vorhanden, und die sprachliche Kommunikation wird nicht gelingen. Der Übertragungskanal der Nachricht kann ganz verschiedenartig sein und reicht von Ruf- bzw. Sichtweite bis hin zum Brief oder Buch oder eben zur Theateraufführung. Störungen (so genanntes ,Rauschen‘) im Übertragungskanal können den Erfolg der Kommunikation beeinträchtigen bzw. ganz unmöglich machen. Grundlagen der Semiotik Der Wissenschaftszweig, der sich mit den Zeichen und deren Verwendung in der Kommunikation zwischen Menschen beschäftigt, ist die Semiotik. Bezogen auf das Theater untersucht der semiotische Ansatz, mit welchen Mitteln und Zeichen die Informationen transportiert werden, mit deren Hilfe die dramatische Fiktion auf der Bühne aufgebaut wird. Dabei lassen sich generell drei verschiedene Arten von Zeichen unterscheiden: Ein ikonisches Zeichen (von griechisch: ikon, „Bild“) wird sofort erkannt, da es auf der Ähnlichkeit zu seinem Objekt beruht, es also mit einem eindeutigen Bild des Objekts, welches es darstellt, verbunden ist. Das Prinzip, nach dem ikonische Zeichen gebraucht und gebildet werden, ist somit die Ähnlichkeit zwischen Signifikant und Signifikat. Als Beispiele wären hier vor allem Fotografien oder Piktogramme, d. h. stilisierte Zeichnungen etwa für verschiedene Sportarten oder für Ladies und Gentlemen an Toilettentüren, zu nennen. Auch sind alle dramatischen Aufführungen im wesentlichen ikonisch, d. h. sie funktionieren über das Prinzip der Ähnlichkeit mit der Lebensrealität: auf der Bühne treten Menschen auf und werden Handlungen gezeigt, die denen der Wirklichkeit ähnlich und allen Beteiligten grundsätzlich vertraut sind. Das ikonische Zeichen par excellence ist der Schauspieler, ein wirklicher Mensch, der ein Zeichen für einen Menschen geworden ist. Deiktische oder indexikalische Zeichen stehen zu ihren Gegenständen in einer kausalen oder hinweisenden Beziehung. Sie leiten ihre Bedeutung von einer nahen Beziehung zu dem Objekt ab, das sie darstellen. So kann etwa ein schwankender Gang auf einen Seemann oder einen Betrunkenen
3. Die Gesamtaufführung als Zeichensystem
verweisen. Deiktische Zeichen sind ferner ein deutender Zeichenfinger, Pfeile auf Verkehrsschildern, in der Sprache Personal- und Demonstrativpronomina, Ortsangaben wie „dort“ oder „hier“. Insbesondere die Sprache des Dramas ist von deiktischen Zeichen bestimmt. Ein einprägsames Beispiel hierfür bietet die Äußerung des Polonius in Hamlet, 2.2.: „Take this from these if this be otherwise.“ Ohne die entsprechende Gestik auf der Bühne würde wohl kaum ersichtlich werden, was mit den drei Demonstrativpronomina gemeint ist: „Nimm meinen Kopf von den Schultern, wenn sich der Sachverhalt anders darstellt.“ Symbolische Zeichen haben keine sofort erkennbare organische Beziehung zu ihren Signifikanten, ihre Bedeutung leitet sich ausschließlich aus der Übereinkunft her. Nur Personen, die diese Vereinbarung kennen, werden die Bedeutung dieser willkürlichen Kombination von Buchstaben (Graphemen) oder Tönen (Phonemen) verstehen. Es besteht also bei den symbolischen Zeichen weder die Beziehung der Ähnlichkeit (ikonische Zeichen) noch der kausalen oder physischen Beziehung (deiktische Zeichen). Der größte Teil der Sprache besteht aus symbolischen Zeichen. Zeichen können generell einer dieser drei Gruppen, aber auch mehreren angehören: so kann ein weißer Bart ikonisches Zeichen von Alter, aber auch symbolisches Zeichen von Weisheit sein. Eine auffallende Perücke kann ein Ikon eines eitlen Charakters sein, aber auch deiktische Funktion haben, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf diese Figur zu lenken, sie in einer Gruppe hervorzuheben. Komplexität des theatralischen Zeichensystems In einer Theateraufführung tragen nun alle verwendeten Zeichensysteme dazu bei, eine gewisse ,Gesamtaussage‘ zu schaffen. Schwierigkeiten für die Analyse bereitet dabei die Tatsache, dass jede Einzelheit, jedes Zeichen wiederum ein Bestandteil einer Gesamtbedeutung ist, da der Aufführungstext sich als „a network of meanings“ (Elam, S. 12) präsentiert. Der ,Text‘ einer dramatischen Aufführung ist somit viel reicher und vielschichtiger als ein literarischer Text und öffnet sich seinen Rezipienten daher für eine viel größere Zahl von möglichen Interpretationen. Dramatische Aufführungen bestehen aus einer großen Anzahl von ,Nachrichten‘, die von vielen Sendern ausgehen und aus vielen einzelnen Zeichen und Bedeutungsstrukturen bestehen. Theater funktioniert über eine Fülle von Übermittlungskanälen und Zeichensystemen, die nicht nacheinander (linear), sondern gleichzeitig (simultan) operieren und so ein komplexes Netzwerk von Bezügen aufbauen. Dabei ist alles, was dem Zuschauer innerhalb des Bühnenrahmens präsentiert wird, ein Zeichen, alles hat Bedeutung. Durch ihre bloße Existenz rufen die Bühne des Theaters, die Filmleinwand des Kinos oder auch der Bildschirm des Fernsehers bereits Bedeutung hervor. Innerhalb eines Rahmens wird alles bedeutsam: hängt man in einem Raum einen leeren Rahmen an die Wand, erhält die Beschaffenheit der Wand (Flecken, Farbe) bereits Zeichencharakter. Bühne, Filmleinwand und Fernsehschirm sind ebenfalls solche Rahmen; was auf diesen wahrgenommen wird, gilt als ausgestellt und bedeutsam. Theater produziert über Zeichen und Bilder beständig Bedeutung. Im täglichen Leben, in dem wir auch beständig Zeichen ,lesen‘, indem wir die
Symbolische Zeichen
Jedes Zeichen ist im Theater Bedeutung tragend
Bedeutsamkeit aller Zeichen im Rahmen der Bühne
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II. Das Wesen des Theaters
Theater ist ein System von Systemen
Austauschbarkeit der Zeichenträger
Synomynie/ Polysemie
Denotation/ Konnotation
Welt um uns herum einordnen und bewerten, wenn wir etwa Leute, denen wir auf der Straße begegnen, nach ihrem Erscheinungsbild, ihren Bewegungen, ihrer Kleidung, ihrer Frisur etc. ,lesen‘, wissen wir in diesem Fall nicht, ob diese Zeichen auch tatsächlich Bedeutung haben sollen. Dagegen hat im Theater alles, was innerhalb des theatralischen Rahmens gezeigt wird, eine bestimmte Bedeutung. Das geht sogar so weit, dass auch die Indifferenz auf der Bühne gespielt werden muss. Außerhalb des Theaters, im täglichen Leben, kommt es vor, dass Personen keine Notiz voneinander nehmen, sie im wahrsten Sinne des Wortes ,Luft‘ füreinander sind. In einer Aufführung gibt es so etwas nicht, weil auf der Bühne eben alles, auch die Indifferenz, gespielt werden muss, und sich aus dem Spiel des Einzelnen stets ein Zusammenspiel aller ergibt. Jeder ist für jeden auf der Bühne in jeder Sekunde gegenwärtig, und unmerklich, wenn nicht offen, tritt jeder Mitspieler mit dem anderen Mitspieler in Kontakt. Die Analyse der Zeichensysteme in einer Theateraufführung ist deshalb so schwierig, da zum einen alle Zeichensysteme synchron vorhanden sind und gleichzeitig auf den Zuschauer einstürzen. Dazu kommt auf der diachronen Achse durch den zeitlichen Verlauf des Stücks hindurch eine gewisse Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen, welche die Information nur stückchenweise verteilt. So können manche Signifikanten nur einen kurzen Moment auf der Bühne vorhanden sein (ein kurzes Lächeln oder Stirnrunzeln, eine kleine Handbewegung), andere dagegen können über mehr oder weniger lange Zeiträume konstant bleiben (Bühnenbild, Kostüme, Farbschemata). Alle eingesetzten Zeichen tragen in jedem Moment der Aufführung zum Ganzen bei. Dazu kommt, dass einzelne Zeichenträger durch andere ausgetauscht werden können. So kann ein Signifikat (ein Beispiel auf dem lebensweltlichen Bereich: die Aufforderung an einen Verkehrsteilnehmer zum Halten) durch mehrere Signifikanten (in diesem Fall: Rote Ampel, Stopp-Schild, Handzeichen eines Polizisten) ausgedrückt werden: in einem solchen Fall spricht man von Synonymie. Die umgekehrte Erscheinung wird als Homonymie oder Polysemie bezeichnet. In diesem Fall werden einem Signifikanten zwei oder mehrere Signifikate zugeordnet. So kann ein schwarzer Anzug die Signifikate der Trauer oder Freude (Staatsempfang, Hochzeit) haben, bzw. können in der Sprache die Worte (Lexeme) Schloss/ Ball/Bank je zwei unterschiedliche Signifikate vertreten. Eine weitere Differenzierung des Signifikats kann durch Denotation (von lat. denotatum = festgeschrieben) und Konnotation (von lat. connotatum = mitnotiert) erfolgen. Signifikate sind denotativ, wenn ihre semantischen (Bedeutung tragenden) Merkmale allgemein gültig sind, und konnotativ, wenn sie bestimmte semantische Merkmale nur für bestimmte Zeichenbenutzer in bestimmten Situationen haben (etwa die Taube denotativ als Vogel mit spezifischen Merkmalen und konnotativ heute als Zeichen für den Frieden). Auch auf dem Theater können die verschiedensten Zeichensysteme gegeneinander ausgetauscht werden. So kann etwa ein Tisch auf der Bühne sowohl durch einen konkreten Tisch, einen gemalten Tisch, durch einen Schauspieler auf allen Vieren oder durch Sprache dargestellt werden. In Shakespeares Two Gentlemen of Verona stellt Launce mit zwei Schuhen, einem Stock und einem Hut seine Familie dar und demonstriert damit diese Austauschbarkeit der Zeichenträger:
4. Die Zeichensysteme des Theaters
Launce: Nay, ‘twill be this hour ere I have done weeping. All the kind of the Launces have this very fault. I have received my proportion, like the prodigious son, and am going with Sir Proteus to the Imperial’s court. I think Crab my dog be the sourest-natured dog that lives: my mother weeping; my father wailing; my sister crying; our maid howling; our cat wringing her hands, and all our house in a great perplexity; yet did not this cruel-hearted cur shed one tear. He is a stone, a very pebble stone, and has no more pity in him than a dog. A Jew would have wept to have seen our parting. Why, my grandam, having no eyes, look you, wept herself blind at my parting. Nay, I’ll show you the manner of it. This shoe is my father. No, this left shoe is my father; no, no, this left shoe is my mother; nay, that cannot be so neither. Yes, it is so, it is so: it hath the worser sole. This shoe with the hole in it is my mother; and this my father: A vengeance on’t, there ‘tis. Now, sir, this staff is my sister; for, look you, she is as white as a lily, and as small as a wand. This hat is Nan our maid. I am the dog. No, the dog is himself, and I am the dog. O, the dog is me, and I am myself. Ay; so, so. Now come I to my father: ‘Father, your blessing.’ Now should not the shoe speak a word for weeping; now should I kiss my father; well, he weeps on; now come I to my mother. O that she could speak now, like a moved woman! Well, I kiss her. Why, there ‘tis: here’s my mother’s breath up and down. Now come I to my sister: mark the moan she makes. Now the dog all this while sheds not a tear; nor speaks a word; but see how I lay the dust with my tears. (2.3.1–32)
Beispiel: The Two Gentlemen of Verona
Im Theater wird also ständig – synchron und diachron – eine unendliche Vielzahl an Zeichen von der Bühne an das Publikum gesandt. Um dieses Chaos ordnen zu können, gilt es, die verschiedenen Mittel und Techniken, über die das Theater seine Informationen transportiert, voneinander abzugrenzen. Nur so ist es möglich, eine möglichst objektive Analyse der praktischen Umsetzung der Spielvorlage Drama auf dem Theater vorzunehmen.
4. Die Zeichensysteme des Theaters Der Schauspieler als Zeichen Jede Inszenierung wird in erster Linie durch die Besetzung der einzelnen Rollen durch die Schauspieler geprägt und erhält dadurch bereits eine bestimmte ,Richtung‘. So wird sich die Liebesbeziehung von Romeo und Julia anders entfalten, wenn ein Latin lover oder ein hellhäutiger Nordländer den Romeo spielt. Auch wird eine kleine dickliche Schauspielerin – sofern ihr
natürliche Zeichen des Schauspielers
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II. Das Wesen des Theaters
Akustische Zeichen: Linguistik, Paralinguistik
Kinesische Zeichen: Mimik, Gestik, Proxemik
Mimische Zeichen
Gestische Zeichen
die Rolle übertragen wird – die Figur der Julia anders anlegen als eine groß gewachsene, dem westlichen Schönheitsideal entsprechende Akteurin. Noch extremer wirkt sich die Frage der Besetzung aus, wenn eine Frau eine Männerrolle spielt. Ein Schauspieler als „multi-chanelled transmitter-in-chief“ (Elam, S. 85) wirkt zunächst durch seine körperlichen Merkmale wie Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Statur, Größe, Gesicht, Haare, Körperhaltung, Gang, Bewegung, sowie durch seine Persönlichkeit, d. h. die undefinierbare Einzigartigkeit eines einzelnen Menschen, die persönliche Anziehungskraft, die von ihm ausgeht. „Dies unterstreicht das hoch erotische Wesen des Dramas. Die reine Anziehungskraft menschlicher Persönlichkeit ist selbst ein starker Erzeuger von Aussage. … Und es haben nicht nur die Attraktivität oder die Anziehungskraft einzelner Darsteller semiotisches Gewicht, sondern die Interaktion zwischen ihnen.“ (Esslin, S. 61). Durch seine linguistischen (sprachlichen) Zeichen und paralinguistischen Zeichen wie z. B. Stimme (Monotonie, Reichweite, Tonhöhe, Tonstärke, Artikulation, Rhythmus, Tempo, Timbre), nicht verbale Äußerungen wie „mmm“/„schsch“, Lachen, Weinen, Schreien, sowie die Fähigkeit des Schauspielers, Töne hervorzubringen (er kann ein Instrument spielen, Tierstimmen nachahmen, klopfen, stampfen etc.) vermittelt jeder Schauspieler jeweils ganz unterschiedliche Bedeutungen einer Äußerung wie Wut, Verzweiflung, Freude etc. Dies kann jeder Leser für sich ausprobieren: Schon der Versuch, eine ganz einfache Formulierung wie „Heute gehe ich ins Theater“ immer wieder anders zu betonen, dabei die Stimme zu heben oder zu senken, mit einer ausrufenden oder fragenden Betonung zu versehen, mit leiser oder lauter Stimme, schnell oder langsam, demütig oder herrisch, mit oder ohne Pause vorzutragen, wird deutlich machen, dass sogar die einfachste Formulierung eine große Skala verschiedenster Bedeutungen hervorbringen kann. Für den Vortrag eines ganzen Textes potenzieren sich diese Möglichkeiten natürlich ins Unendliche. Zu den kinesischen Zeichen, also den Zeichen der Bewegung, gehören posture als Standort einer Figur an einem Ort oder mit Ortswechsel; mit Objekten oder ohne. Ferner gehören zu diesem Bereich mimische Zeichen, innerhalb derer dem Gesicht (Lächeln, Stirnrunzeln) als komplexer Informationsquelle, die ununterbrochen Zeichen hervorbringt und alle Gemütsregungen zeigt, besondere Bedeutung zukommt. Im Gesicht können auch unbeabsichtigte, d. h., nicht-intentionale, Zeichen wie Erröten oder Erblassen auftreten. In großen Räumen sind mimetische Zeichen kaum einzusetzen oder sie werden nur von dem Teil des Publikums wahrgenommen, welches nahe genug an der Bühne sitzt. Gestische Zeichen erstrecken sich auf den übrigen Körper und reichen von der spektakulärsten Pose wie dem Hinhalten der – männlichen – Brust als Zeichen der Todesbereitschaft; Ziehen des Schwertes als Zeichen der Kampfbereitschaft; Knien als Zeichen der Demut und des Bittens bis zum kleinsten Zucken der Augenlider als Zeichen aufsteigender Tränen. Gestische Zeichen sind häufig kulturell gebunden. Sie können sprachbegleitend sein, wenn sie die Rede gliedern und illustrieren, oder – für Gehörlose – auch sprachersetzend sein. Gestische Zeichen sind ferner oft konventionalisiert: Achselzucken signalisiert in den westlichen Kulturen Ratlosigkeit oder
4. Die Zeichensysteme des Theaters
Gleichgültigkeit, Hinken eine Verletzung. Sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe zu tippen signalisiert, dass man den anderen für einen Dummkopf hält. In der Pantomime als nicht-sprachlicher Form des Theaters können Gesten auch Requisiten ersetzen. Als dritte Variante der kinesischen Zeichen realisieren proxemische Zeichen den Abstand zwischen den Interaktionspartnern. Sie werden erzeugt durch Bewegung durch den Raum (vgl. hierzu auch Kap. VIII) und sind auch beeinflusst durch die Größe des Theaters und die Größe und Form der Bühne. Proxemische Zeichen betreffen den Abstand von Bühne und Publikum, sowie den Abstand der Figuren untereinander, wobei der Abstand zwischen Personen, z. B. auf der Vertikalebene zwischen Über- und Untergeordnetem, kulturell festgelegt ist. Hierher gehören auch Stehen, Hinsetzen, Aufstehen, tableau vivant, Richtungen, aus denen Figuren einander und auch dem Publikum gegenübertreten (aus der Diagonalen, im rechten Winkel, frontal zum Publikum). So lässt sich etwa danach fragen, ob bestimmte Figuren(gruppen) vorwiegend oder ausschließlich auf einer Seite der Bühne stehen. Stehen sich Figuren oder Figurengruppen in Distanz oder Nähe gegenüber? Bewegen sie sich aufeinander zu oder voneinander weg? Eine ,Weg‘-Bewegung kann Abscheu, Verachtung, oder Abschied signalisieren, eine ,Hin‘-Bewegung Zuneigung, Verlangen oder Begrüßung. Ein Auf und Ab signalisiert Zögern, Unsicherheit, Verzweiflung. Auch jedes Aufund Abtreten gehört zu den proxemischen Zeichen. Treten die Figuren immer wieder von der gleichen Seite her auf? Nicht zuletzt werden proxemische Zeichen auch bestimmt vom Bühnenbild, welches Treppen, Innenund Außenräume und einen ebenen oder hügeligen Bühnenboden beinhalten kann. Das Kostüm mit seinem spezifischen Material, seiner Farbe und Form, einem bestimmten künstlerischen Stil wie elisabethanisch, viktorianisch, futuristisch etc. dominiert stets die Wahrnehmung. Die erste Identifizierung einer Rollenfigur erfolgt in der Regel durch das Kostüm, welches damit oft ein wesentliches Element der Exposition (vgl. Kap. IV) darstellt. Wie im täglichen Leben signalisiert ein weißer Kittel auch auf der Bühne oftmals einen Arzt, oder eine Hornbrille oft noch einen Gelehrten. Kleidung informiert andere relativ schnell und umfassend über die Rolle, die ihr Träger spielen will und weckt auf diese Weise bestimmte Erwartungen, die dessen zukünftiges Verhalten betrifft. Kleidung kann verweisen auf Alter, Geschlecht, Nationalität, regionale oder religiöse Zugehörigkeit, soziale Klasse, Beruf, oder auch die Situation eines Handlungsabschnitts wie z. B. ein Fest oder ein Begräbnis. Oft übernimmt das Kostüm auch historische Funktion, indem es ein Stück einer bestimmten historischen Epoche zuordnet. Kleidung hat auf der Bühne immer symbolische und kaum praktische Funktion wie etwa den Schutz vor Kälte. Vom Kostüm abhängig sind wiederum Gestik und Proxemik. So kann beispielsweise das Kostüm einer römischen Toga einen Schauspieler zwingen, sich gestisch einzuschränken oder langsam über die Bühne zu schreiten. In den meisten Kulturen werden bestimmte körperliche Merkmale spezifischen sozialen Gruppen zugeordnet: In der westlichen Kultur denotiert beispielsweise ,schlank, gestählt, und braungebrannt‘ einen sportlichen Typ, eine hohe Stirn und blasse Gesichtsfarbe eher einen Denker. Bei der Frisur,
Proxemische Zeichen
Vestimentärer Code
Kosmetischer Code: Maske und Frisur
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II. Das Wesen des Theaters
einschließlich eines Barts oder einer Perücke, ist das Haar wie das Gesicht ein natürliches Zeichen für Alter, Geschlecht, ethnische und regionale Zugehörigkeit und kann sogar eine bestimmte Figur ausweisen, wie etwa Newton in Dürrenmatts Die Physiker oder Lenin und James Joyce in Tom Stoppards Drama Travesties.
Requisiten
Beleuchtung
Musik
Visuelle Zeichen Grundlegend für die Analyse der visuellen Zeichen auf der Bühne ist zunächst die räumliche Gestaltung wie Form und Größe der Bühne (vgl. Kap. II.1). Die bildliche Darstellung des Schauplatzes durch Farbskalen, Bodenbelag, Ausstattung von Innen- und Außenräumen kann während einer Inszenierung konstant bleiben oder sich (stets Bedeutung tragend = semiotisch beladen) verändern. Zu den visuellen Zeichen gehören auf der Bühne zunächst die Requisiten. Bedeutung tragend ist schon die Anordnung dieser zueinander oder ihre Funktion als bloße Dekoration. Gegenstände können durchaus wichtige symbolische Bedeutung haben, wie etwa die Krone für das von Gott gegebene Königtum in Richard II oder der Totenschädel Yorricks im Hamlet, dessen symbolische Bedeutung nur zu offensichtlich ist. Im Melodrama (vgl. Kap. X.5) dreht sich ein Großteil der Handlung um solche mit symbolischer Bedeutung besetzten Gegenstände. Requisiten können auch auf Handlungsabschnitte hinweisen: so zeigt etwa der Koffer von Willi Loman in Arthur Millers Death of a Salesman Willis Ankunft bzw. Abreise an. Requisiten sind oft auch Bestandteil von Frisur (Haarnadel) oder Kostüm (Degen, oder – wichtig bei allegorischen Figuren – [Justitia mit] Augenbinde). Nicht nur die Requisiten, sondern auch die Beleuchtung wird im Theater bewusst und semiotisch aufgeladen eingesetzt. Intensität, Farbe oder Verteilung des Lichts haben ikonische Funktion, wenn sie etwa die Tageszeit angeben, doch auch symbolische Funktion, wenn ein Abdunkeln der Scheinwerfer Unglück oder Tod signalisieren soll. Ein Spot kann die Aufmerksamkeit auf die Hauptperson lenken oder einen wichtigen Gegenstand hervorheben. Non-verbale akustische Zeichen Non-verbale akustische Zeichensysteme können generell den Fluss der Handlung unterbrechen und Momente besonderer Bedeutung oder Intensität betonen, das rhythmische Skelett für reine Bewegung in Tanzszenen liefern oder auch den Hintergrund bilden, der oft nicht ins Bewusstsein des Publikums dringt, aber genau deshalb noch wirkungsvoller die Stimmung und Aussage der Handlung festlegt. Nicht-musikalische Töne wie Naturlaute (Meeresrauschen) oder Maschinengeräusche können auch Raum konstituierend eingesetzt werden. Sie können zudem, etwa wie ein Gewitter oder Säbelklirren, bestimmte Handlungskontexte etablieren oder Zeichen für bestimmte Stimmungen sein (locus amoenus). Das nicht intendierte Knacken des Bühnenbodens andererseits muss vom Zuschauer im Rahmen seiner theatralisch-kulturellen Kompetenz überhört werden. Musik findet häufig in bestimmten sozialen Situationen wie Geburtstag, Feiern, sakralen Handlungen oder Tanz Verwendung und kann durch Schauspieler oder ein Orchester erzeugt werden.
4. Die Zeichensysteme des Theaters
Neben all diesen bewusst hervorgebrachten Zeichen gibt es noch den Typus des natürlichen Zeichens, der naturgesetzlichen Ursprungs ist, wie etwa – bei einer Freiluftaufführung zum Tragen kommend – Sonnenauf- oder -untergang, Blitz und Donner, Sturm und fallende Blätter. Diese können generell vom Menschen als ein Zeichen gedeutet werden, ohne dass eine bewusste Kommunikationsabsicht dahinter steht; jedes Ereignis kann für den, der es wahrnimmt, zum Zeichen werden. So können fallende Blätter im Herbst symbolisch als Zeichen der Vergänglichkeit gedeutet werden. „Diese allgegenwärtigen Zeichen, die keinen bewussten Urheber haben, aber von denen, die sie ,lesen‘, durchaus als bedeutsam wahrgenommen werden, nennt Umberto Eco in seinem Entwurf einer Theorie der Zeichen [S. 39–41] ,natürliche Zeichen‘…“ (Esslin, S. 45). Diese sind nicht beabsichtigt und können daher nicht als System analysiert werden. Für die Analyse der Vermittlungsebene (Theater) des literarischen Textsubstrats (Drama) ist es für einen Literaturwissenschaftler zunächst unabdingbar, diese verschiedenen Zeichensysteme des Theaters zu kennen und im Bewusstsein zu verankern. Durch stetes Training und häufige Theaterbesuche wird es dann möglich werden, deren Zusammenspiel mehr und mehr zu durchschauen und somit zu einer fundierten Analyse und Gesamtschau des Dargestellten zu gelangen. Zudem wird diese Schulung am Theater die akademische Textlektüre zusehends beeinflussen. Man beginnt, einen Text mit diesen Kriterien des Theaters im Hinterkopf zu lesen und dabei bestimmte Textstellen mit verschiedenen Zeichensystemen durchzuspielen, wodurch man dem Text immer andere Bedeutungen abgewinnen wird. So können, um, ein letztes Beispiel zu geben, in den Sturmszenen des King Lear wogende Bäume, ein von Blitz (visuelle Zeichen, Beleuchtung) und Donner und prasselnder Regen (non-verbale akustische Zeichen) in einem Außenraum ,Heide‘ (Requisiten), das ehemals herrschaftliche und jetzt zerrissene Kostüm (vestimentäre Zeichen), die wehenden weißen Haare (kosmetische Zeichen) des Königs (natürliche Zeichen), die poetische Ausdruckskraft seiner durch die Stimme (linguistische und paralinguistische Zeichen) produzierten Blankverse (Text) und die zusammengekauerten Gestalten, die ihn begleiten (kinesischer Code), durch ihr gleichzeitiges Auftreten die Wirkung dieser Szene in ganz spezifischer Weise vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen lassen.
Natürliche Zeichen
Zusammenfassung und Beispiel aus King Lear
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III. Das Wesen des Dramas
Inhalt des Kapitels
Auch wenn ,Drama‘ immer geschichtlich in Erscheinung tritt, ist es – im Sinne des Allgemeinbegriffs als Summe seiner wesentlichen Merkmale – zeitlos und in seiner grundlegenden Eigenart an keine bestimmte Epoche gebunden. Unter ,Drama‘ verstehen wir den schriftlich fixierten Text als Spielvorlage für das Theater (vgl. Kap. II). Bei dessen Lektüre und Analyse richtet der Leser sein Interesse auf die Sprache, sowie Figuren, Handlungen und Raum- und Zeitentwürfe. Er wird er sich bei der Lektüre idealerweise eine vollständige fiktionale Welt mit Figuren und Handlungen zu erstellen suchen. Mit welchen Mitteln diese fiktionale Welt erschaffen wird, ist Gegenstand dieses und der folgenden Kapitel. In Kap. III.1 wird das so genannte Redekriterium vorgestellt, da sich narrative und dramatische Texte vor allem in deren jeweiliger Vermittlungsebene unterscheiden. Im Drama wird zudem zwischen Haupt- und Nebentext differenziert (Kap. III.2). Da der dramatische Text auf dem Theater vermittelt wird, unterliegt dieser den Restriktionen der Sukzession, Selektion und Transparenz (Kap. III.3).
1. Redekriterium
Dichtungstheorie der Antike Aristoteles
Das europäische Theater entstand gewissermaßen zwei Mal, und das jeweils aus religiösem Kult: zunächst aus dem Dionysos-Kult der Antike und später aus der kirchlichen Liturgie des Mittelalters. Im klassischen Griechenland gilt Thespis als der erste Schauspieler, da er sich vom Chorus als Einzelperson ablöste und die Geschichte eines Helden nicht nur als einfacher Geschichtenerzähler (Rhapsode) erzählte, sondern vielmehr diesen Helden als Person der Vergangenheit in der Gegenwart verkörperte. Der Chorus reagiert nur noch auf sein Agieren. Thespis trug bei den ersten Festspielen zugunsten des Gottes Dionysos, des Gottes des Weins, der Vegetation und der Fruchtbarkeit, 534 v. Chr. den Sieg davon. Er war also der Erste, der den Schritt vom Erzählen zur Verkörperung einer Rolle vollzog und den Vortragenden zum Charakter machte. In der Literatur wird im dritten Buch von Platons Politeia (3. Jhd. v. Chr.) zwischen Bericht und Darstellung unterschieden, je nachdem, ob der Dichter spricht oder ob er seine Figuren selbst zu Wort kommen lässt. Die dichtungstheoretische Schrift der Antike, Aristoteles’ Poetik, definiert im ersten Kapitel u. a. Epos, Tragödie und Komödie als „Nachahmungen“ (vgl. auch Kap. II.1), die sich in drei Aspekten voneinander unterschieden: „sie ahmen nach entweder in verschiedenem Material oder verschiedene Gegenstände oder auf verschiedene Art und Weise.“ (S. 23). Das letztgenannte Unterscheidungsmerkmal, wie man nachahmt, kann danach entweder so geschehen, „daß man berichtet (sei es in der Gestalt einer dritten Person, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar selber der Berichterstatter bleibt), oder so, daß man die nachgeahmten Gestalten selbst als handelnd
1. Redekriterium
tätig auftreten läßt“. (S. 25). Dieses so genannte ,Redekriterium‘ legt damit fest, dass in dramatischen Texten – anders als in narrativen Texten! – nicht der Dichter selbst spricht, sondern in diesen die Handlung unmittelbar dargestellt wird. Den Erzähler als vermittelnde Kommunikationsinstanz des Romans gibt es im Drama also üblicherweise nicht. (Die Ausnahme bildet das epische Drama; vgl. Kap. X.7). Graphisch veranschaulichen lässt sich dieser fundamentale Unterschied von dramatischen und narrativen Texten auf der Vermittlungsebene durch folgendes Schema:
ST: Kommunikationsmodell im Drama
Abb. 4: Modell der dramatischen Schreibweise (Weiß, Studium, S. 131)
Mit Autor wird die historische Person des Verfassers bezeichnet (William Shakespeare, Samuel Beckett, Arthur Miller etc.), mit dem Konstrukt Autor’ der Autor, „insofern dieser als gestaltendes Subjekt mit seinen Perspektiven, Interessen und Fähigkeiten in das Werk eingegangen ist“. (Weiß, Einführung, S. 131). Der schraffierte Bereich markiert die Handlungs- oder Geschehnisebene, d. h., die Handlung zwischen den Figuren in ihren wechselnden Konstellationen. Auf der Vermittlungs- oder Diskursebene (äußerer Rahmen) repräsentiert das Konstrukt Zuschauer’ diejenigen Charakteristika des Textes, die im Hinblick auf die Rezeption durch Zuschauer in das Werk eingegangen sind. Mit Zuschauer ist der tatsächliche Rezipient in der empirischen Wirklichkeit gemeint. Natürlich lässt sich dieses Schema nicht exakt so auf jedes Drama anwenden, sondern stellt, wie jedes Modell, eine idealtypische Sichtweise dar. Wegen des Fehlens des vermittelnden Kommunikationssystems bei dramatischen Texten spricht man von deren Absolutheit, welche in der ,vierten Wand‘ der modernen Guckkastenbühne (vgl. Kap. II.1) ihre konsequenteste Realisierung gefunden hat. Im Gegensatz zum Roman wird die Handlung im Drama nicht durch einen Erzähler, der schildern, begründen, kommentieren und portraitieren kann, vermittelt, sondern in Bühnenaktion umgesetzt (vgl. Kap. II). Während der Epiker ausnahmslos alles, was er vermitteln möchte, erzählen muss, kann der Dramatiker zeigen, was er mitteilen will. Auf der Bühne kann innerhalb von kürzester Zeit ein Vielfaches von dem an Information vermittelt werden, was in derselben Zeitspanne in einem Roman wiedergegeben werden könnte. Will der Romanautor das Aussehen einer Person wiedergeben, so muss er sie in vielen Einzelheiten über Seiten hinweg beschreiben, ohne jeweils Vollständigkeit erreichen zu können. Im Theater wird das Äußere der Person augenblicklich in seiner Gesamtheit durch die Gestalt des Schauspielers und alle Zeichensysteme, die ihm zur Verfügung stehen, gegenwärtig. Insbesondere aber übertrifft – was das Spiel zwischen den Personen angeht – die szenische Präsentation in mancher Hinsicht den epischen Bericht. Was zwei gute Schauspieler in
Absolutheit dramatischer Texte
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III. Das Wesen des Dramas
einer Begegnung und in einem Dialog an zwischenmenschlicher Spannung aufzubauen vermögen, und welchen Veränderungen oder oft auch nur atmosphärischen Schwankungen die Interaktion unterliegt, wird auch der wortreichste Epiker nur einen verhältnismäßig geringen Teil vermitteln können. Wenn ihm dies überhaupt gelingt, dann wird er hierzu ungleich mehr Zeit benötigen. In dem Augenblick, in dem ein Zuschauer den ersten Aufzug eines Dramas sieht, erfasst er die Figuren mit all ihren Details ebenso wie den Raum und die Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist. Auch können im Drama zwei oder noch mehr verschiedene Handlungen gleichzeitig ablaufen. Während auf dem einen Teil der Bühne etwas geschieht, kann auf dem anderen Teil etwas ganz anderes passieren. Der Epiker könnte all diese Informationen nur nacheinander vermitteln; er kann zu einem bestimmten Augenblick nur eine Information geben. Freilich kann – wie der Erzähler im Roman mehr oder weniger manifest werden kann – auch im Drama das Kommunikationssystem durch ,episierende Tendenzen‘ eingeschränkt bzw. modifiziert werden. Dies kann manifest werden etwa im Chor in der antiken Tragödie oder in allegorischen Figuren der mittelalterlichen Moralitätenspiele (vgl. Kap. X.7), die ihre Identität direkt dem Publikum verbal vermitteln („Ich bin der böse König Herodes“). Episieren kann auch im Drama durch Nebentexte in Form von Einleitungen, Vorwörtern, ausgedehnten Bühnenanweisungen, Regie- oder Kommentatorfiguren erfolgen, was im Folgenden genauer zu erläutern sein wird.
2. Haupt und Nebentext
Haupttext
Nebentext
Bereits durch ihre äußere Form unterscheiden sich dramatische Texte von erzählenden Texten, d. h., durch ihre Unterteilung in Haupt- und Nebentext. Ersterer besteht aus den sprachlichen Repliken der Figuren, der so genannten Figurenrede (vgl. Kap. V). Dialog im Drama findet – anders als im täglichen Leben in organisierter Form – zwischen den Figuren statt. Die Figuren stellen sich also als Redende selbst dar. Diese dramatische Rede ist immer von der jeweiligen Situation in der Dramenhandlung abhängig; sie kann nur in Ausnahmefällen wie dem epischen Theater durch einen Erzählerbericht ersetzt werden. Zum Nebentext gehören so genannte paratextuelle Textsegmente, die auf der Bühne nicht manifest werden, wie z. B. Titel, Motto, Widmung, Vorwort, Personenverzeichnis, Akt- und Szenenangaben, die Sprecherangaben der Figuren zu Beginn einer Replik, und vor allem die in die Figurenreden eingebetteten Bühnenanweisungen zum gestischen Verhalten der Charaktere. Erfordert es die Informationsvergabe durch die spezifische Vermittlungsform der Theateraufführung, können etwa Sprecherangaben durch bearbeitende Eingriffe des Regisseurs auch in den Text integriert werden, wie das folgende Beispiel zeigt: Im prompt book zu Shakespeares Henry VIII in der Aufführung der Royal Shakespeare Company in Stratfordupon-Avon 1997 zeigt sich folgender Eingriff im promptbook. Im Text heißt es:
2. Haupt und Nebentext
Act 1 Scene 1 (Enter the Duke of Norfolk at one door; at the other enter the Duke of Buckingham and the Earl of Surrey). Buckingham (to Norfolk): Good morrow, and well met. How have ye done / Since last we were in France?
Beispiel: Henry VIII
Das promptbook ändert ab zu: Act 1 … [wie oben] Buckingham: Well met, my Lord of Norfolk. How have ye done / Since last we saw in France?“ Durch diese Veränderung wird dem Zuschauer im Theater – besonders wichtig zu Beginn des Dramas – eine leichtere Zuordnung der Charaktere, welche sich nicht eindeutig durch ihr Kostüm ausweisen, ermöglicht. Im weiteren Verlauf des Dramas (1.4.) trifft König Heinrich VIII zum ersten Mal Anne Boleyn, eine der Hofdamen von Queen Katherine, welche er zu seiner zweiten Frau machen wird. Im Text heißt es: King Henry: My Lord Chamberlain, / Prithee, come hither. (Gesturing towards Anne) What fair Lady is that? Lord Chamberlain: An’t please your grace, Sir Thomas Boleyn’s daughter – / The Viscount Rochford – one of her highness’ women. Das promptbook ändert ab zu: King Henry … [wie oben] Lord Chamberlain: An’t please your grace, Sir Thomas Bullen’s daughter – / Lady Anne – one of her highness’ women. Die Information über die Titel des Vaters von Lady Anne („The Viscount Rochford“) sind in diesem Fall für den Fortgang der dramatischen Handlung und als Information für den Zuschauer im Theater unbedeutend. Viel wichtiger ist für diesen die sofortige Prominenz dieser neu im Kreise anderer Hofdamen auftretenden Figur, von denen sie sich durch ihr Äußeres kaum unterscheidet. Bereits Titel und Untertitel eines Dramas rufen beim Zuschauer stets bestimmte Erwartungshaltungen und Vorstellungen hervor. Häufig Titel gebend sind in Dramen Handlungsschemata, v. a. in Komödien (The Taming of the Shrew); Teilereignisse (The Tempest; Arthur Miller: Death of a Salesman); Personennamen (Hamlet, Macbeth, King Lear, Othello, Henry V, Richard III; Peter Shaffer: Amadeus), soziale Rollenbezeichnungen (The Merchant of Venice, Harold Pinter: The Caretaker), Charaktereigenschaften (Ben Jonson: Volpone, or the Fox). Auch können Ortsangaben in Verbindung mit sozialen Rollenbezeichnungen (Othello, the Moor of Venice) gegeben, Dinge von materiellem oder ideellem Wert (August Wilson: Fences) in den Mittelpunkt gestellt, oder Tiere als Symbolträger (Peter Shaffer: Equus) verwendet werden. Auch Sentenzen (William Faulkner: The Sound and the Fury; ein Zitat aus Macbeth) oder fragmentarische Redensarten (Alan Ayckbourn: Season’s Greetings) können als Titel fungieren. Oft verbirgt sich in Dramen hinter scheinbar angenehmen oder ,neutralen‘ Situationsbezeichnungen ein kei-
Titel
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III. Das Wesen des Dramas
Personenverzeichnis
Bühnenanweisungen
Beispiel: The Winter’s Tale
nesfalls so angenehmes Geschehen (Pinter: The Birthday Party; Edward Bond: Saved; Tony Kushner: Angels in America). Phonetische Mittel (Alliteration wie in Love’s Labour’s Lost oder eine hohe Rhythmisierung wie in Peter Shaffers Lettice and Lovage) erhöhen die Einprägsamkeit des Titels. Auch weisen zahlreiche Dramen neben dem Titel einen Untertitel auf, welcher die Gattung des Dramas näher bestimmen kann. So trägt beispielsweise Oscar Wildes Drama The Importance of Being Earnest den Untertitel A Trivial Comedy for Serious People. Untertitel können nicht zuletzt auf bestimmte Darbietungsarten, wie radio play, verweisen. Die Liste der dramatis personae zu Beginn eines Dramas charakterisiert die auf der Handlungsebene agierenden Figuren in einer sehr kurzen Typologie, welche gemeinhin nur Elementares wie Geschlecht, soziale Stellung, Verwandtschaftsgrade, und eventuell Alter vermittelt. Genauere Details wie deren Aussehen, Charaktereigenschaften, Vorgeschichte, (welche im Roman durch eine ausführliche Schilderung eines Erzählers übernommen werden können) bleiben im Drama für die Informationsvergabe auf der Theaterbühne offen (vgl. Kap. II). Dies gilt ebenso für Raum- und Zeitangaben (vgl. Kap. VIII und IX). Sie geben – dem Drama vorgeschaltet – lediglich eine erste Orientierung. So heißt es etwa zu Beginn des Hamlet: „Elsinore: the Court and its environs.“ Bühnenanweisungen haben besonderes Gewicht unter den verschiedenen Arten des Nebentextes. Sie sind im gedruckten Text meist gegenüber der Figurenrede etwa durch Kursivdruck, Fettdruck, Einklammerung, Sperrung graphisch hervorgehoben. Bühnenanweisungen sind immer Vorschläge des Autors oder späterer Herausgeber, die Handlung im Theater umzusetzen. Bei genauer Analyse einer Aufführung ist zu beobachten, inwieweit diese von Schauspielern und dem Regisseur erfüllt oder auch ersetzt werden. Bühnenanweisungen sind generell in weltlichen Dramen vor 1750 und dann wieder im absurden Drama ab der Mitte des 20. Jahrhunderts nur spärlich vorhanden. Die Dramen der Antike und des Mittelalters waren vor allem von rhetorischer Deklamation geprägt. Auch die Dramen der englischen Frühen Neuzeit (Shakespeare und Zeitgenossen) beinhalten nur sehr wenige Angaben zu Figuren-, Raum- oder Zeitentwurf, da Dramentexte in dieser Zeit nicht als literarisch wertvoll galten, und der gedruckte Text bestenfalls erinnernden Bezug zur erfolgten Aufführung hatte. Die Bühnenanweisungen, die sich in modernen Shakespeare-Ausgaben finden, stammen größtenteils von Editoren seit dem 18. Jahrhundert. Der Schwerpunkt der Information liegt bei diesen frühen Dramen im Haupttext, da dessen implizite Regieanweisungen den eigentlichen Nebentext ersetzen. Eine der eindrucksvollsten Wiedererkennungsszenen voller indirekter Regieanweisungen im Haupttext bietet The Winter’s Tale. Leontes wird am Ende des Dramas der Statue seiner seit über 16 Jahren tot geglaubten Frau Hermione gegenübergestellt und er erkennt plötzlich, dass es sich gar nicht um eine Statue, sondern um die lebendige Hermione selbst handelt, die nur so lange vor ihm verborgen gehalten wurde. Dies stellt sich im Text wie folgt dar (die indirekten Regieanweisungen sind hier durch Unterstreichungen gekennzeichnet):
2. Haupt und Nebentext
Paulina (To Leontes): You perceive she stirs. (Hermione slowly descends). Start not. Her actions may be holy as You hear my spell is lawful. Do not shun her Until you see her die again, for then You kill her double. Nay, present you hand. When she was young, you woo’d her. Now, in age, Is she become the suitor? Leontes: Oh, she’s warm! If this be magic, let it be an art Lawful as eating. Polixenes: She embraces him. Camillo: She hangs about his neck. (5.3.103–113) Manchmal können solche implizit im Haupttext enthaltenen Regieanweisungen die Verantwortlichen im Theater vor größere Herausforderungen stellen, etwa wenn Queen Gertrud mit ihren Worten die Haare Hamlets zu Berge stehen lässt:
Beispiel: Hamlet
Queen Gertrud: Alas, how is’t with you, That you do bend your eye on vacancy, And with th’incorporal eye do hold discourse? Forth at your eyes your spirits wildly peep, And, as the sleeping soldiers in th’alarm, Your bedded hair, like life in excrements, Start up and stand on end. (3.4.107–113) In Dramen des 20./21. Jahrhunderts kann der Haupttext auch noch durch den Nebentext in den Bühnenanweisungen verdoppelt werden. Man spricht dann von Identität. Ein geradezu ideales Beispiel hierfür bietet Samuel Becketts Happy Days: „Winnie: (Pause. She takes up a mirror): I take this little glass, I shiver it on a stone – (does so) – I throw it away (does so far behind her) … .“ Wenn der Haupttext als sprachlich vermittelte Information durch den Nebentext als außersprachlich vermittelte Information ergänzt wird, spricht man von Komplementarität. Dies geschieht vor allem da, wo der Haupttext nur wenige implizite Bühnenanweisungen enthält, der Nebentext dafür entsprechend ausführlich ist, wie insbesondere in den Dramen George Bernard Shaws. In diesen übertrifft der Umfang der stage directions oft den Umfang des Haupttextes. So finden sich etwa in Man and Superman Bühnenanweisungen, die sich über mehr als vier Seiten erstrecken und kaum mehr auf dem Theater umgesetzt werden können. Als Beispiel soll uns der Anfang von Arthur Millers Death of a Salesman dienen, der die Stimmung durch Musik, eine genaue Beschreibung des Ortes sowie der auftretenden Charaktere und deren Tätigkeiten etabliert: (A melody is heard, played upon a flute. It is small and fine, telling of grass and trees and the horizon. The curtain rises.
Identität von Hauptund Nebentext Beispiel: Beckett, Happy Days Komplimentarität von Haupt- und Nebentext
Beispiel 1: Arthur Miller, Death of a Salesman
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III. Das Wesen des Dramas
Before us is the Salesman’s house. We are aware of towering, angular shapes behind it, surrounding it on all sides. Only the blue light of the sky falls upon the house and forestage; the surrounding area shows an angry glow of orange. As more light appears, we see a solid vault of apartment houses around the small, fragile-seeming home. An air of the dream clings to the place, a dream rising out of reality. From the right, Willy Loman, the Salesman, enters, carrying two large sample cases. The flute plays on. He hears but is not aware of it. He is past sixty years of age, dressed quietly. Even as he crosses the stage to the doorway of the house, his exhaustion is apparent. He unlocks the door, comes into the kitchen, and thankfully lets his burden down, feeling the soreness of his palms. A wordsigh excapes his lips – it might be ,Oh, boy, oh boy.’ He closes the door, then carries his cases out into the living-room, through the draped kitchen doorway. Linda, his wife, has stirred in her bed at the right. She gets out and puts on a robe, listening). Linda: (Hearing Willy outside the bedroom, calls with some trepidation) Willy! Willy: It’s all right. I came back. Linda: Why? What happened? (Slight pause) Did something happen, Willy? Willy: No, nothing happened. Linda: You didn’t smash the car, did you? Willy: (with casual irritation) I said nothing happened. Didn’t you hear me? Linda: Don’t you feel well? Willy: I’m tired to death (The flute has faded away. He sits on the bed beside her, a little numb.) I couldn’t make it. I just couldn’t make it, Linda. Beispiel 2: Oscar Wilde, The Importance of Being Earnest
Weniger deskriptiv als vielmehr pointiert ist der Nebentext bei der Schilderung des sozialen Milieus der bürgerlichen Mittelklasse in Oscar Wildes The Importance of Being Earnest. In einer repräsentativen Replikenfolge aus dem 2. Akt stellt die Gastgeberin Cecily eine Reihe ,höflicher‘ Fragen im Einklang mit der sozialen Etikette an ihr Gegenüber Gwendolen. Ihre Fragen würden nur einfache „ja/nein“ Antworten erfordern, doch formuliert Gwendolen ihre Antwort jeweils als Beleidigung der Gastgeberin. Diese antwortet ihrerseits wieder mit einer ähnlichen Beleidigung. Der Nebentext hilft dabei, den Ton zu etablieren und die Bühnenhandlung zu dirigieren. C: May I offer you some tea, Miss Fairfax? G: (with elaborate politeness). Thank you. (Aside). Detestable girl. But I require tea. C: Sugar? G: (superciliously). No, thank you. Sugar is not fashionable any more. Cecily looks angrily at her, takes up the tongs and puts four lumps of sugar into the cup. C: (severely) Cake or bread and butter? G: (in a bored manner) Bread and butter, please. Cake is rarely seen at the best houses nowadays. C: (cuts a very large slice of cake, and puts it on the tray). Hand that to Miss Fairfax.
2. Haupt und Nebentext
Außer der Identität und der Komplimentarität kann das Verhältnis von Haupt- und der Nebentext auch durch eine unauflösbare Diskrepanz geprägt sein. Dies ist insbesondere in den absurden Dramen der Fall (vgl. Kap. X.8). Betrachten wir als Beispiel einen Ausschnitt aus Becketts Waiting for Godot. [Vor dem folgenden Dialog hat Lucky Estragon gegen das Schienbein getreten]: Estragon: Nothing happens, nobody comes, nobody goes, it’s awful! Vladimir (to Pozzo): Tell him to think. Pozzo: Give him his hat. Vladimir: His hat? Pozzo: He can’t think without his hat. Vladimir (to Estragon): Give him his hat. Estragon: Me! After what he did to me! Never! Vladimir: I’ll give it to him. (He does not move). (S. 41)
Diskrepanz von Haupt- und Nebentext Beispiel: Samuel Beckett, Waiting for Godot
Ein Widerspruch zeigt sich schon darin, dass „Nothing happens“ sich kaum mit der Empörung Estragons nach dem Tritt („I’ll never walk again“ S. 32) vereinbaren lässt, und „nobody comes“ ist nachweislich falsch: Lucky ist gerade erst angekommen. Vladimir geht auf Estragons Ausruf nicht ein und wechselt das Thema, indem er den sinnlosen Vorschlag macht, jemanden zum Denken zu veranlassen. Pozzo macht hierzu einen ebenso unsinnigen Lösungsvorschlag. Vladimirs Äußerung im Haupttext, er werde Estragon den Hut geben, steht im offensichtlichen Widerspruch zum Nebentext He does not move. Diese Diskrepanz wiederholt sich am Ende des gesamten Dramas, wenn sich der Schluss des ersten und zweiten Aktes nur durch das erste Fragezeichen unterscheiden: Vladimir: Well? Shall we go? Estragon: Yes, let’s go. (They do not move. Curtain.) Neben dieser Diskrepanz von Haupt- und Nebentext lassen sich in modernen Dramen auch intertextuelle Formen des Umgangs mit den Konventionen der Bühnenanweisungen finden. So wird in Tom Stoppards The Real Inspector Hound (1968) die Zuschauererwartung durchbrochen, wenn der Nebentext plötzlich zum Haupttext wird: Gleich zu Beginn des Dramas klingelt das Telefon: (Mrs. Drudge seems to have been waiting for it to do so and for the last two seconds has been dusting it with an intense concentration. She snatches it up.) Mrs. Drudge (into phone): Hello, the drawing-room of Lady Muldonn’s country residence one morning in early spring? … Hello! – the drawWho? Who did you wish to speak to? Konventionellerweise würden vorab im Nebentext die Angaben zum Ort des Geschehens mit „Lady Muldonn’s country residence. The drawing room“ und zur Zeit „One morning in early spring“ stehen. Im Theater müssten diese üblicherweise durch Bühnenbild, Requisiten und Kostüm vermit-
Intertextualität im Umgang mit Bühnenanweisungen
Beispiel: Tom Stoppard, The Real Inspector Hound
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III. Das Wesen des Dramas
telt werden. Diese Erwartung des Zuschauers eben hierauf wird durch Stoppard dadurch durchkreuzt, dass diese Information in der Replik einer Figur, und damit im Haupttext, gegeben wird. Dies hat natürlich einen komischen Effekt.
3. Sukzession, Selektion, Transparenz Sukzession
Selektion
Henry James
Transparenz
Der Unterschied auf der Vermittlungsebene narrativer und dramatischer Texte hat neben der Existenz von Haupt- und Nebentext im Drama auch unterschiedliche Voraussetzungen für die Rezeption zur Folge. Im Drama kann – bedingt durch dessen kollektive Rezeption in einem Theater und nicht im stillen Kämmerlein – nicht jeder einzelne den Rezeptionsprozess individuell bestimmen, er kann ihn nicht unterbrechen oder bei Verständnisschwierigkeiten teilweise wiederholen. Ein Romanleser kann sein Lesetempo frei bestimmen, er kann seinen Text jederzeit aus der Hand legen, neu wieder aufnehmen und darin nach Bedarf zurückblättern oder sogar die Lektüre mit dem Schlusskapitel beginnen. Eine Dramenaufführung läuft dagegen ab ohne die Möglichkeit für den Zuschauer, diese hinsichtlich ihres Tempos zu beeinflussen – was als Sukzession bezeichnet wird. Was den Umfang betrifft, so kann ein narrativer Text von einer Anekdote mit wenigen Zeilen bis zum Roman mit hunderten von Seiten variieren, nach oben und unten ist beinahe keine Grenze gesetzt. Das Drama dagegen ist stärker begrenzt: zum einen durch die psychische und physische Belastbarkeit der Zuschauer, die sich gemeinhin nach 3–4 Stunden einer Theateraufführung nicht mehr konzentrieren können, zum anderen auch durch ein angemessenes Verhältnis von organisatorischem und finanziellem Aufwand und Bühnenpräsentation. Hier spricht man von Selektion. Bereits der Romanautor Henry James hat im 19. Jahrhundert auf die Wichtigkeit der Prinzipien der dramatischen Selektion und Sukzession verwiesen: „The fine thing in a real drama, generally speaking, is that, more than any other work of literary art, it needs a masterly structure. It needs to be fashioned and laid together, and this process makes a demand upon an artist’s rarest gifts. He must combine and arrange, interpolate and eliminate, play the joiner with the most attentive skill; and yet, at the end effectually bury his tools and his saw-dust, and invest his elaborate skeleton with the smoothest and most polished integument. The five-act-drama … is like a box of fixed dimensions and inelastic material into which a mass of precious things are to be packed away. … In a play, certainly, the subject is of more importance than in any other work of art. Infelicity, triviality, vagueness of subject, may be outweighed in a poem, a novel, or a picture, by charm of manner, by ingenuity of execution; but in a drama, the subject is of the essence of the work – it is the work. If it is feeble, the work can have no force; if it is shapeless, the work must be amorphous.“ (In: Galaxy (1875), zitiert bei Patsch, S. 65) Insbesondere wegen der kollektiven Rezeption im Theater, welche das Tempo des Rezeptionsvorgangs vorgibt, und auch wegen der komplexen theatersemiotischen Systeme (vgl. Kap. II), dürfen im Drama Figurenkonzeptionen, Figurenkonstellationen und Handlungsstränge nicht allzu kompliziert bzw. möglichst durchschaubar, sein, da das Funktionieren der Kom-
3. Sukzession, Selektion, Transparenz
munikation über die Aufführung hinweg gewährleistet sein muss. Zu verwickelte plots lassen den Zuschauer früher oder später den Überblick, die Zusammenhänge – und letztlich auch das Interesse verlieren. Der Grad der Komplexität von Dramenhandlungen ist historisch variabel (vgl. Kap. X) und hängt nicht zuletzt vom jeweiligen Bildungsstand des Publikums und der Vertrautheit mit den Dramenkonventionen ab.
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IV. Informationsvergabe Inhalt des Kapitels
Die Gattung Drama arbeitet mit verschiedenen Wegen der Informationsvergabe, und dies sowohl im gedruckten Text wie auch bei der Vermittlung dessen im Theater. Es werden daher in Kap. IV.1 die zwei Ebenen der Informationsvergabe zu unterscheiden sein, nämlich (a) zwischen den handelnden Personen untereinander und (b) zwischen Bühne und Publikum. Bei diesen beiden Möglichkeiten der Zuordnung gilt es wiederum, jeweils die Relationen der Informiertheit zu unterscheiden (Kap. IV.2), wobei ein höherer Informationsstand des Publikums als der Charaktere auf der Bühne dramatische Ironie bedingt (Kap. IV.3). Jede Figur hat eine ganz spezifische Perspektive auf die Dramenhandlung (Kap. IV.4). In Ausnahmefällen kann die Absolutheit der Vermittlung dramatischer Texte durch eine epische Kommunikationsinstanz durchbrochen werden (Kap. IV.5). Nicht zuletzt kann der Zuschauer durch verschiedene Techniken der expositorischen Informationsvergabe mit der Vorgeschichte der Dramenhandlung vertraut gemacht werden (Kap. IV.6).
1. Die Doppelnatur des Dramas Grundlegend für die Analyse der Informationen, die in einem Drama vergeben werden, ist die Unterscheidung von innerem und äußerem Kommunikationssystem (vgl. Kap. III.1). Aufgrund der Doppelnatur des Dramas als literarischem Text und Spielvorlage müssen immer die Informationsvergabe der handelnden Figuren untereinander, sowie die Informationsvergabe zwischen Bühne und Publikum voneinander abgegrenzt werden. Im inneren Kommunikationssystem des Dramas stehen die Schauspieler in ihren Rollen meist in gegenseitiger Interaktion, vermitteln sich also untereinander die verschiedensten Informationen. Zwischen dem inneren und dem äußeren Kommunikationssystem muss für eine gelungene Theateraufführung stets ein Zustand gespannter Erwartung beim Zuschauer aufrechterhalten werden. Dies erfolgt durch die gattungstypischen Gegebenheiten der Sukzession, Selektion und Transparenz (vgl. Kap. III.3.) Der Zuschauer wird vor allem dann besonders stark gefesselt, wenn durch die Vergabe bestimmter Informationen durch eine Figur beim Publikum Erwartungen geweckt werden, ohne dass dabei deutlich wird, ob diese Erwartungen je erfüllt werden. Jede Figur, die die Absicht äußert, einen Plan zu verwirklichen, löst beim Zuschauer Fragen aus wie: Wird sie das Ziel erreichen? Mit welchen Mitteln, unter welchen Umständen wird sie es realisieren? Wird sie scheitern, da andere Figuren diese Pläne vereiteln? Die Inszenierung eines Stücks wird stets dafür sorgen müssen, dass die Handlungen der Dramenfiguren das Publikum auch über die so genannte vierte Wand erreichen, und so die Spannung aufrechterhalten wird. Idealerweise sollte der Zuschauer also immer in einem Zustand gespannter Erwartung verharren – wofür dem Autor
2. Relationen der Informiertheit
zwei Techniken zur Verfügung stehen: er kann dem Zuschauer Wissen vorenthalten oder mehr Wissen verschaffen als die Figuren auf der Spielebene besitzen.
2. Relationen der Informiertheit Da im inneren Kommunikationssystem zwischen den Figuren kontinuierlich neue Informationen vergeben werden, ändert sich der Grad der Informiertheit dem entsprechend. Die handelnden Charaktere bringen zunächst ihr jeweils spezifisches Vorwissen über die Handlungszusammenhänge mit und nehmen im Verlauf der Dramenhandlung zusätzliche Informationen aus Gesprächen mit anderen Figuren oder aus Beobachtungen auf. Die handelnden Figuren bekommen dabei jeweils nur die Informationen mit, die in den Handlungsabschnitten, bei denen sie selbst präsent sind, vergeben werden. Der Zuschauer im äußeren Kommunikationssystem freilich, der die Zusammenschau aller Perspektiven hat, ist Zeuge jeder Information, die auf der Bühne vergeben wird. So gibt es also zum einen einen unterschiedlichen Informationsstand zwischen den handelnden Figuren untereinander wie auch eine Diskrepanz der Informiertheit zwischen Bühne und Publikum, wofür sich seit Bertrand Evans der Begriff der discrepant awareness eingebürgert hat. Aufgrund des unterschiedlichen Grads der Informiertheit zwischen den Figuren muss dieselbe Situation von verschiedenen Figuren unterschiedlich bewertet werden. Aufgrund der discrepant awareness zwischen Figuren und Zuschauern können Letztere entweder einen Informationsvorsprung oder -rückstand haben. Informationsvorsprung des Zuschauers Das Publikum ist Zeuge aller handlungsinternen Situationen und hat allein dadurch einen Informationsvorsprung gegenüber den Figuren. Dieser ist grundlegend vor allem für Verwechslungskomödien und kann eine Hauptquelle der Komik sein, wie etwa in Plautus’ Menaechmi oder Shakespeares Drama The Comedy of Errors, welches auf dieser römischen Komödie beruht. Alle Figuren wissen nicht, dass sich zwei getrennte Zwillingspaare in der Stadt befinden, das Publikum hat davon jedoch bereits ab dem zweiten Akt Kenntnis. Aufgrund dieses Informationsvorsprungs kann das Publikum sich natürlich mehr und mehr an der entstehenden Komik erfreuen, wogegen die Figuren zunehmend verwirrt und verzweifelt sind. Ein besonderes Vergnügen für den Zuschauer stellen im Bereich diskrepanter Informationsvorgaben Belauschungsszenen dar. Dabei sind die Figuren hinsichtlich ihrer Informiertheit einander partiell überlegen. Die Belauschenden, und damit üblicherweise die ,Täter‘, die die Belauschung geplant und inszeniert haben, haben entsprechend mehr Wissen um das Geschehen als die Belauschten, also die Opfer. Zu den bekanntesten Belauschungsszenen der anglistisch-amerikanistischen Literatur dürften die nunnery scene in Hamlet (3.1) oder die ,Taschentuch-Szene‘ in Othello (4.1.) gehören. Ungleich komplizierter ist die Situation noch einmal in Shakespeares Komödie Love’s Labour’s Lost, wo drei Verliebte – Berowne, Longaville und Dumain – jeder für sich ein Liebesgedicht vorlesen und dabei jeweils von den ande-
discrepant awareness
Belauschungsszenen
Beispiel: Love’s Labour’s Lost
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IV. Informationsvergabe
Zusätzliche Vorinformationen des Publikums
Beispiel: Caryl Churchill, Top Girls
ren Charakteren beobachtet werden. Berowne tritt als erster auf und versteckt sich beim Eintreten des Königs. Dieser wiederum verbirgt sich vor Longaville, während Berowne die beiden beobachtet. Longaville verbirgt sich vor Dumain. Somit wird Dumain von Longaville beobachtet, diese beiden vom König, und alle drei von Berowne. Außerhalb des Bühnengeschehens sind dem Zuschauer auch Vorinformationen über die auf der Bühne handelnden Charaktere durch Gattung und Titel des Stücks (vgl. Kap. III.2) gegeben, wodurch dieser über Informationen verfügt, die den Figuren nicht zugänglich sind. So kann eine Gattungsbezeichnung wie The Comedy of Errors bereits ein happy ending signalisieren und den Zuschauer – im Unterschied zu den Figuren – in Sicherheit wiegen, dass die im Stück drohende Todesstrafe für einen Charakter nicht wirklich vollzogen werden wird (vgl. auch Kap. VII.6). Ein Titel wie Liz Lochhead’s Mary Queen of Scots Got her Head Chopped Off (1989) lässt dagegen eher Unangenehmes erwarten. Der Titel kann zudem eine gewisse Atmosphäre vermitteln (A Midsummer Night’s Dream), und nicht zuletzt kann ein literarisch gebildetes Publikum thematische Vorinformationen auch durch die Kenntnis von Mythen (Sophokles, Elektra) oder historischer Ereignisse (Arthur Miller, The Crucible) mitbringen. Informationsrückstand des Zuschauers Vergleichsweise seltener findet sich der Zuschauer in der Position, weniger zu wissen als die auf der Bühne agierenden Figuren. Er ist generell für das Verständnis der Dramenhandlung in erster Linie auf die Informationen angewiesen, die ihm von den handelnden Charakteren übermittelt werden. Dabei kann er bis zum Ende nicht sicher sein, dass ihm auch wirklich alle Informationen gegeben wurden. Wenn eine Information tragende Figur nur im Dialog mit anderen Figuren gezeigt hat, vor denen sie ihre Kenntnisse verbergen möchte, und sie sich nicht in soliloquies oder asides (vgl. Kap. V) dem Publikum gegenüber öffnet, bleibt dem Zuschauer Information verborgen, mit Hilfe derer er die Dramenhandlung besser durchschauen könnte. Typische Beispiele für diese Art der Informationsvergabe im Drama sind Krimis und Thriller, wie etwa Agatha Christies The Mousetrap, in denen der Zuschauer mit dem fiktiven Detektiv in Konkurrenz treten kann. Eine moderne Ausprägung für den Informationsrückstand des Zuschauers zeigt sich beispielsweise durch eine Umstellung der Chronologie der Ereignisse. So treten in Carly Churchills Top Girls (1982) als Figuren eine Weltreisende des 19. Jahrhunderts, eine mittelalterliche japanische Kurtisane, die apokryphe Päpstin Johanna, Chaucers Griselda und die von Pieter Brueghel d. Ä. gemalte Dulle Griet neben Marlene, einer Managerin der Gegenwart, auf. Diese Frauen erzählen alle von sich, reden durcheinander und aneinander vorbei, ohne sich um Anachronismen zu kümmern. Das Publikum erfährt erst am Ende des dritten Aktes von deren eigentlichen Verwandtschaftsverhältnissen, und hat dann erst den gleichen Informationsstand wie die Charaktere. Kongruente Informiertheit Eine Deckung der Informiertheit von Figur und Zuschauer ist häufig am Schluss von Dramen zu verzeichnen. Ein frühes Beispiel lässt sich in The
4. Perspektivenstruktur
Winter’s Tale finden, als Leontes erfährt, dass es sich bei der zu enthüllenden Statue nicht wirklich um eine Statue sondern um seine verstorben geglaubte Frau handelt. Umso stärker ist das Moment, wenn Charakter und Zuschauer erkennen, „Oh, she’s warm“ (vgl. das längere Zitat in Kap. III.2).
3. Dramatische Ironie Im Unterschied zur ,Ironie im Drama‘, die von einer fiktiven Figur selbst intendiert ist, beruht dramatische Ironie auf einem unterschiedlichen Grad der Informiertheit von äußerem und inneren Kommunikationssystem. Dramatische Ironie entsteht immer dann, wenn eine sprachliche Äußerung oder das Verhalten einer Figur auf der Bühne für den Zuschauer aufgrund seiner höheren Informiertheit eine Zusatzbedeutung erhält, die von dieser Figur keinesfalls so beabsichtigt ist. Im Falle einer sprachlichen Äußerung handelt es sich um verbale dramatische Ironie, im Falle des Verhaltens einer Figur sprechen wir von aktionaler dramatischer Ironie. Verbale dramatische Ironie kann sich zum Beispiel zeigen in der falschen Verwendung von Fremdwörtern durch Charaktere niederen sozialen Rangs, wie etwa der diesem Phänomen des Malapropismus den Namen gebenden Mrs. Malaprop in Sheridans Restaurationskomödie The Rivals (1775). Aktionale dramatische Ironie zeigt sich, wenn Figuren Verwechslungen zum Opfer fallen, wie etwa in A Midsummer Night’s Dream, wenn der Kobold Puck dem falschen Opfer einen Zaubersaft in die Augen träufelt, was zu entsprechenden Verwirrungen unter den Charakteren führt. Der Zuschauer weiß, dass es sich um eine Verwechslung handelt und kann das Geschehen daher entspannt verfolgen, den Figuren sind die Vorgänge dagegen gänzlich unerklärlich.
Verbale dramatische Ironie
Aktionale dramatische Ironie
4. Perspektivenstruktur In einem dramatischen Text hat jede Figur eine ihr eigene Perspektive auf die Handlung, welche sich hinsichtlich des Umfangs oder der Gewichtung von der Sichtweise anderer Figuren unterscheiden kann. Jede Figurenperspektive ist bestimmt durch ihre spezifischen Vorinformationen und die Position der Figur innerhalb der Handlungsstruktur. Jede Figur kann nur äußern, was ihrer Situation glaubhaft entspricht. Je nach Anzahl der an der Handlung beteiligten Figuren und der Handlungsstränge wird es zu korrespondierenden oder kontrastierenden Figurenperspektiven kommen, welche den Text als polyperspektivisch charakterisieren lassen. Polyperspektivik Zwischen den an der Handlung beteiligten Figuren können Polaritäten bestehen, welche eine perspektivisch verzerrte Informationsvergabe bedingen, wie etwa in Othello, wenn Jago die Titelfigur noch vor deren erstem Auftreten gegenüber dem Vater der Desdemona wie folgt charakterisiert: „Even now, now, very now, an old black ram / Is tupping your white ewe.“ (1.1.88 f.) „I am one, sir, to tell your daughter / and the Moor are now making the beast with two backs.“ (1.1.117 f.). Neben der Eigencharakteristik
Beispiel: Othello
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IV. Informationsvergabe
Korrespondenz- und Kontrastrelationen
Beispiel: Anon., Everyman
des Sprechers Jago bedingt eine solche perspektivisch verzerrte Informationsvergabe eine negative Voreingenommenheit des Zuschauers gegenüber der so charakterisierten Figur des Othello, welche diese erst durch ihr späteres eigenes Auftreten bestätigen oder widerlegen kann. Werden die einzelnen Figurenperspektiven dem Zuschauer als gleichberechtigt vermittelt, wird es für diesen schwierig, Wertungen vorzunehmen und Stellung zu beziehen. Figurenperspektiven können auch durch Korrespondenz- und Kontrastrelationen kombiniert werden, etwa durch eine symmetrische Gruppierung von mehreren Figurenperspektiven um eine zentrale Figurenperspektive. Alternativ können auch zwei Figurenperspektiven kontrastiert werden, die der Zuschauer als richtig oder falsch orientiert zu bewerten hat. Auch kann der Zuschauer aufgefordert werden, aus zwei fehlorientierten Figurenperspektiven die goldene Mitte als die ,richtige‘ herauszulesen. In Liebesdramen muss der Zuschauer beispielsweise abwägen zwischen den Positionen von Partner und Nebenbuhler wie beispielsweise in Othello oder einer Auseinandersetzung zwischen den Eltern und Kindern wie in Romeo and Juliet. Zur Informationsvergabe gehört nicht zuletzt die gesellschaftliche Rolle, die eine Figur innerhalb eines Dramas einnimmt, da das Handeln einer Figur auf der Bühne auch zu einem Teil auf die Rolle zurückzuführen ist, die diese Figur in einem Stück repräsentiert. Gemeint sind hiermit allgemeine soziale und politische Rollen, die auch in der Lebenswirklichkeit existieren und zwangsläufig ins Spiel kommen, wenn der Autor sein Drama in einen politischen Rahmen stellt. So ist etwa jeder König nicht nur eine Person mit einem body natural, also einem sterblichen biologischen Körper, sondern zudem auch einem body politic, d. h., einem Konstrukt, das aus seiner gesellschaftlichen Rolle als Monarch resultiert. Da in jedem Kulturkreis gewisse gesellschaftliche Erwartungen an gewisse öffentliche Positionen geknüpft sind (ein König hält Hof, führt eine Armee in die Schlacht, empfängt Gesandte, fällt Entscheidungen), wird auch ein König auf der Bühne üblicherweise mit einem rollenbezogenen Verhalten wie würdevollem und gesetztem Schreiten und huldvollem Winken von anderen Charakteren zu unterscheiden sein. Auktoriale Bewertungssignale Wenn es auch eher selten vorkommt, dass eine Autor in den Repliken seiner Dramenfiguren seine eigenen Intentionen artikuliert und die Figuren – in aperspektivischer Informationsvergabe – als dessen Sprachrohr zum Publikum fungieren, gibt es doch Formen abgeschwächter auktorial gesteuerter Informationsvergabe. Eine solche liegt am ehesten vor in den mittelalterlichen Moralitätendramen (vgl. auch Kap. X.2), die den moralischen Lehrgehalt christlicher Heilslehre verbreiten wollen. Im Prolog wird dieser Lehrgehalt angekündigt, im Epilog noch einmal zusammengefasst, wie das folgende Beispiel aus dem im Mittelalter anonym veröffentlichten Everyman zeigt. Zu Beginn des Stücks tritt ein Messenger als Prologsprecher vor das Publikum und kündigt das Stück wie folgt an: I pay you all, give your audience, And hear this matter with reverence,
4. Perspektivenstruktur
By figure a moral play – The summoning of Everyman called it is, That of our lives and ending shows How transitory we be all day… (1–6) The story saith, – Man in the beginning, Look well, and take good heed to the ending, Be you never so gay! (10–12) Und ein Doktor der Theologie fasst am Schluss des Dramas für die Zuschauer zusammen. This moral men may have in mind; Ye hearers, take it of worth, old and young, And forsake pride, for the deceiveth you in the end, And remember Beauty, Five-Wits, Strength, and Discretion, They all at the last do Everyman forsake, Save his Good-Deeds, there doth he take. But beware, and they be small, Before God, he hath no help at all. None excuse may be there for Everyman: Alas, how shall he do then? For after death amends man no man make, For then mercy and pity do him forsake. … And he that hath his account whole and sound, High in heaven he shall be crowned; Unto which place God bring us all thither That we may live body and soul together. Thereto help the Trinity, Amen, say ye, for saint Charity. Thus endeth this morall play of Everyman. Nicht nur die oben genannten Personifikationen wie Beauty und Strength der Spiele des Mittelalters, sondern auch sprechende Namen in Dramen der Neuzeit sind ein auktoriales Bewertungssignal. Besonders typisch sind diese für die Restoration Comedy wie etwas Wycherleys The Country Wife (1675), wenn der junge Lebemann Horner den Bürgern der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes „Hörner aufsetzt“. Er lässt durch seinen Arzt ausgeben, er sei von einer Frankreichreise impotent heimgekehrt, wodurch er sich diversen amourösen Abenteuern ohne Verdacht auf Seiten eifersüchtiger Ehemänner hingeben kann. Im Bereich der Amerikanistik wäre exemplarisch Tennessee Williams Drama A Streetcar named Desire (1947) zu nennen, in dem Blache du Bois („Die Weiße vom Walde“) Reinheit und Unschuld und die französisch geprägte Aristokratie des Südens verkörpert. Ihr gegenübergestellt ist ihr Schwager, der Industriearbeiter Stanley Kowalski, ein Abkömmling polnischer Emigranten, der von grober Derbheit und Gewalttätigkeit gekennzeichnet ist. Blanches Schwester Stella (lat. „Stern“) steht über dem zentralen Konflikt zwischen ihrem Ehemann Stanley und ihrer Schwester Blanche.
Sprechende Namen
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IV. Informationsvergabe
5. Techniken epischer Informationsvergabe Wenngleich im Drama üblicherweise eine vermittelnde Kommunikationsinstanz fehlt, wurden in der Geschichte der Gattung (vgl. auch Kap. X) immer wieder Versuche gemacht, die gattungscharakteristische Absolutheit der Vermittlung aufzuheben. Dies geschieht durch den Aufbau eines vermittelnden Kommunikationssystems, wie es für narrative Texte üblich ist. Dabei wird das innere Kommunikationssystem im Drama durch eine Ebene von Reflexionen und Kommentaren überlagert. Die Illusion des Bühnengeschehens wird auf diese Weise immer wieder durchbrochen, was eine Haltung kritischer Distanz beim Zuschauer auslösen soll. Techniken solcher epischer Kommunikationsstrukturen im Theater sind etwa Spruchbänder, Schautafeln, oder technische Projektionen wie Filmeinblendungen, die sich alle keiner Figur als Aussageobjekt zuordnen lassen.
Prolog
Beispiel: Ben Jonson, The Alchemist
Spielexterne Figuren Zu den Möglichkeiten der epischen Informationsvergabe im Drama gehören zunächst spielexterne Figuren wie Prolog, Epilog, Chor oder Spielleiterfigur (stage manager). Diese Instanzen können punktuell einem aside oder in einem Monolog ad spectatores (vgl. Kap. V) oder kontinuierlich das gesamte Drama hindurch – wie der allwissende Erzähler in einem Roman – Künftiges vorwegnehmen oder einen Überblick geben. Sie können auch – wie der unreliable narrator im Roman – ironisch eingesetzt werden. Prolog-, Epilogsprecher oder Chor wenden sich direkt an das Publikum, um diesem Mitteilungen über Inhalt, Voraussetzungen oder Bewertungen des Spiels zu machen. Ein der Dramenhandlung vorangestellter Prolog durch eine dramenexterne Spielfigur (prologus argumentativus) kann nicht nur die Hintergründe der Handlung vermitteln, sondern auch das Publikum begrüßen. Er führt den Zuschauer langsam in die Welt des Spiels ein und zeigt dessen Fiktionalität auf. Insbesondere entlastet er aber das innere Kommunikationssystem von der Aufgabe expositorischer Informationsvermittlung (vgl. Kap. IV.6). Dies gilt auch für eine spielinterne Figur als Prologsprecher, doch ist dort der Übergang zum dramatischen Spiel fließender gestaltet. Als Beispiel für einen spielexternen Prolog mag hier eben dieser aus Ben Jonsons The Alchemist (1610) zitiert sein: Fortune, that favours fools, these two short hours We wish away; both for your sakes, and ours, Judging spectators: and desire in place, To th’author justice, to ourselves but grace. Our scene is London, ‘cause we would make known, No country’s mirth is better than our own. (1–6) Though this pen Did never aim to grieve, but better men, Howe’er the age, he lives in, doth endure The vices that she breeds, above their cure. But, when the wholesome remedies are sweet, And, in their working gain, and profit meet, He hopes to find no spirit so much diseased,
5. Techniken epischer Informationsvergabe
But will, with such fair correctives be pleased. For here, he doth not fear, who can allpy. If there be any, that will sit so nigh Unto the stream, to look what it doth run, They shall find things, they’d drink, or wish, were done; They are so natural follies, but so shown, As even the doers may see, and yet not own. (11–24) Dieser Prologsprecher verweist also auf die Theatersituation („judging spectators“, „authors“, die Dauer der Aufführung („these two short hours“), sowie den Spielort der Handlung („Our scene is London“). Ferner thematisiert er die didaktische Ausrichtung des Dramas („[to] better men“; „fair correctives“). Ebenso wie der Prolog kann auch der Epilog auf die Theatersituation verweisen und damit den fiktiven Charakter der Handlung betonen, sowie das Publikum direkt ansprechen. Im Unterschied zum Prolog können beim Epilog die Bitte um Schlussapplaus und der Abschied vom Rollenspiel dazukommen. Ein Chor als weitere Möglichkeit epischer Informationsvergabe kann repräsentiert werden durch eine Figur Chorus außerhalb der eigentlichen Handlungsebene wie in Henry V, oder euch einen Chor, der sich aus mehreren Figuren zusammensetzt. Beispiele hierfür liefern die griechischen Tragödien, aber auch etwa in T. S. Eliots Versdrama Murder in the Cathedral (1935). Der Chor der Frauen von Canterbury begleitet mit seinen Reaktionen und seinen Kommentaren durchwegs das Bühnengeschehen. Schon bei einem seiner ersten Auftritte äußert der Chor dumpfe Vorahnungen des Kommenden: Chorus: Here let us stand, close by the cathedral. Here let us wait. Are we drawn by danger? It is the knowledge of safety, That draws our feet Towards the cathedral? What danger can be For us, the poor, the poor women of Canterbury? What tribulation With which we are not already familiar? There is no danger For us, and there is no safety in the cathedral. Some presage of an act Which our eyes are compelled to witness, has forced our feet Towards the cathedral. We are forced to bear witness (S. 37 f.) Im weiteren Verlauf des Dramas durchbricht der Chor noch neun Mal kommentierend oder vorausdeutend die Illusion des Bühnengeschehens und prägt somit die Atmosphäre des Stücks maßgeblich. Auch eine Regie- oder Spielleiterfigur, die kontinuierlich auf der Bühne präsent ist, hat die Funktion der Episierung. So unterbricht der stage manager in Thornton Wilders Our Town (1938) schon auch einmal das Spiel: „All right All right! Thank you, everybody“; S. 32; stellt die Chronologie der Ereignisse um („You see, we want to know how this all began…“; S. 69), überbrückt Zeiträume („Three years have gone by“; S. 56), erläutert die Prinzipien seines eigenen Arrangements der Handlung („You know what’s going to happen afterwards“; S. 114), oder übernimmt auch einmal eine Nebenrolle selbst („In this wedding I play the minister. This gives me the right to say a few more things about it.“ S. 88). Eine Spielleiterfigur kann auch das
Epilog
Chor
Beispiel: T. S. Eliot, Murder in the Cathedral
Spielleiterfigur Beispiel: Thornton Wilder, Our Town
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IV. Informationsvergabe
Theaterspiel als Theateraufführung explizit bewusst machen, wobei in diesem Fall weniger kritische Distanz des Zuschauers intendiert ist, sondern vielmehr die Betonung des spielerischen Elements und der Illusion. So beginnt der stage manager in Our Town z. B. damit, dass er Details, die üblicherweise im Nebentext zu erwarten wären, in Worte fasst: „This play is called ,Our Town‘. It was written by Thornton Wilder; produced and directed by A … The name of the town is Grover’s Corners, New Hampshire, just across the Massachusetts line: longitude 42 degrees 40 minutes; latitude 70 degrees 37 minutes. The first Act shows a day in our town. The day is May 7, 1901. The time is just before dawn.“ (S. 10)
Beispiel: A Midsummer Night’s Dream
Dialog und Monolog
Spielinterne Figuren Auch spielinterne Figuren können im Rahmen der epischen Informationsvergabe im Drama die Rolle eines Prologs oder Epilogs übernehmen, wie z. B. Prospero in The Tempest. Hier ist allerdings genau nach der Identität des Sprechers zu fragen: spricht der Schauspieler noch in seiner Rolle des Stücks (Prospero) oder spricht der Schauspieler, der bisher im inneren Kommunikationssystem des Dramas die Rolle des Prospero innegehabt hat, jetzt als Person und bittet im Namen des gesamten Ensembles um Applaus, wie es am Ende von A Midsummer Night’s Dream geschieht? Enter Puck If we shadows have offended, Think but this and all is mended That you have but slumbered here While these visions did appear. And this weak and idle theme, No more yielding but a dream, Gentles, do not reprehend. If you pardon, we will mend. And as I am an honest Puck, I have had unearned luck, Now to ‘scape the serpent’s tongue, We will make ‘mends ere long. Else the Puck a liar call So, good night unto you all. Give me your hands, if we be friends, And Robin shall restore amends. Aus dem Inhalt dieser Passage wird deutlich, dass hier nicht mehr die Figur des Puck, sondern der Schauspieler, der zuvor die Rolle des Puck verkörpert hatte („we shadows“) direkt zum Publikum („you“; „gentles all“) spricht. Der Schauspieler bittet um Applaus für die gezeigte Leistung und verabschiedet die Zuschauer nach Hause („good night unto you all“). Spielinterne epische Informationsvergabe kann auch nicht so klar markiert sein wie in Prolog oder Epilog, da sie auch im Dialog oder Monolog selbst auftreten kann. Hierzu muss allerdings die theatralische Figur in deutliche Distanz zur Situation treten, diese gewissermaßen aus einer Außenperspektive betrachten und kommentieren. Dies findet sich vor allem – in der Tradition der Vice Figur in den morality plays (vgl. Kap. X.2) stehend –
6. Expositorische Informationsvergabe
bei Schurkenfiguren wie Richard III, aber auch bei Diener- und Parasitenfiguren der Komödien, die eine besonders vertrauensvolle Beziehung zum Publikum aufbauen, in dem sie dieses immer wieder in ihre Pläne einweihen oder diesem ihre wahre Meinung über andere Dramenfiguren, meist ihre Herren, kundtun. Damit wird weniger die dramatische Illusion zerstört als vielmehr die Sympathie auf eben diese Figuren beeinflusst.
6. Expositorische Informationsvergabe Techniken der Episierung können auch in Expositionserzählungen auftreten. Diese gehören eigentlich zum inneren Kommunikationssystem, da sie von handlungsinternen Figuren übernommen werden, doch werden sie dann zum episch vermittelnden System, wenn sie innerhalb der Handlung ohne plausiblen Adressaten bleiben oder so oberflächlich motiviert erscheinen, dass das Publikum als eigentlicher Adressat ersichtlich wird. Hier gilt es, genauer zu differenzieren. Nach Pfister wird die Exposition als „Vergabe von Informationen über die in der Vergangenheit liegenden und die Gegenwart bestimmenden Voraussetzungen und Gegebenheiten der unmittelbar dramatisch präsentierten Situationen“ (S. 124) definiert, woraus deutlich wird, dass sich die Exposition keinesfalls auf die Eingangsphase des Textes beschränken muss. Deshalb muss unterschieden werden zwischen Exposition und dramatischem Auftakt. Erstere hat insbesondere eine informative Funktion, Letzterer hat darüber hinaus die Funktion, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu wecken und ihn atmosphärisch auf die Spielwelt einzustimmen. Dramatischer Auftakt und Exposition können zusammenfallen, was allerdings eher selten passiert. Sie können nacheinander ablaufen wie beispielsweise in The Tempest. In 1.1. erfolgt – als dramatischer Auftakt, eingeleitet mit der lakonischen Bühnenanweisung „Enter mariners wet“ – der Titel gebende Sturm. In 1.2. erfährt der Zuschauer dann durch den langen Expositionsdialog Prosperos mit seiner Tochter Miranda (1.2.1–187) und mit dem Luftgeist Ariel (1.2.261–306) die Vorgeschichte. Diese ist notwenig, um dem Zuschauer Zusammenhänge deutlich zu machen, welche die fiktiven Figuren bereits kennen. Diese Gesprächssituation ist also im inneren Kommunikationssystem unglaubwürdig und muss dort plausibel gemacht werden. Dies geschieht vor allem dadurch, dass Prospero seine unwissende Tochter Miranda als Gesprächspartnerin und damit auch als eine Art ,Publikum‘ zur Seite gestellt wird, die die Erzählung ihres Vaters über die Ereignisse der Vergangenheit durch ihre kurzen Zwischenfragen motiviert. Und wenn dann Prospero dem Luftgeist Ariel das Ausmaß seiner Undankbarkeit bewusst machen möchte („Dost thou forget / From what torment I did free thee?“ 1.2.251 f.), kann sich eine Aufzählung all dessen, was bereits zwischen den beiden geschehen ist, als Information für das Publikum anschließen. Temporale Ausrichtung der Exposition Der Dramatiker entwirft in einem linearen plot eine Reihe von Ereignissen, die die Handlung des Dramas bilden. Dabei bezeichnet der point of attack den Moment, in dem der eigentliche Mechanismus in Gang gesetzt wird.
Exposition versus dramatischer Auftakt
Point of attack
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IV. Informationsvergabe
Dominant vergangenheitsbezogene Exposition
Dominant gegenwartsbezogene Exposition
Dominant zukunftsbezogene Exposition
Fiktionsimmanenter Monolog
Beispielsweise liegt dieser in Romeo and Juliet in der Auseinandersetzung der Diener der Capulets und Montagues gleich zu Beginn des Dramas, in Hamlet ist es die Begegnung der Titelfigur mit dem Geist. In Tennessee Williams’ A Streeetcar Named Desire ist es die Ankunft von Blanche bei ihrer Schwester Stella und ihrem Schwager Stanley in New Orleans, welche die Handlung in Gang setzt. Der point of attack kann zudem als von den Theaterkonventionen der Zeit abhängig gesehen werden: in den mystery plays des Mittelalters (vgl. auch Kap. X.2), welche die christliche Heilsgeschichte darboten, lag dieser entsprechend früh. Historiendramen der Frühen Neuzeit verfuhren ebenso, um einen möglichst breiten Rahmen der Geschichte zu etablieren. Das klassische griechische Drama, welches auf eine geringe Zahl von Schauspielern begrenzt war, bevorzugte dagegen einen späten point of attack. Je nachdem, wo der point of attack in einem Drama liegt, kann die Exposition dominant vergangenheits-, gegenwarts- oder zukunftsbezogen sein. Geht dem auf der Bühne Dargebotenen viel Vorgeschichte voraus, muss entsprechend viel Information expositorisch vermittelt werden. Bei einem frühen point of attack wird die Situationsdefinition nach Personal, Ort und Zeit dem entsprechend reduziert werden. Ein dominanter Vergangenheitsbezug besteht dann, wenn zu Beginn der Dramenhandlung – oft von einer spielexternen Prologfigur – die Hintergründe einer Handlung referiert werden, und erst gegen Ende dieses Prologs in die gegenwärtige Situation übergeleitet wird. Eine solche Exposition ist häufig blockartig dem Text isoliert vorangestellt. Exemplarisch aufzuzeigen ist dies an Troilus and Cressida, wenn der Prolog zunächst die Vorgeschichte des Trojanischen Krieges erzählt und dann mit „Like of find fault; do as your pleasures are / now, good or bad, ‘tis but the chance of war“ (1.1.30 f.) in das gegenwärtige Bühnengeschehen überleitet. Bei einer dominant gegenwartsbezogenen Exposition wird die Vorgeschichte oft nur in Teilen gegeben, die für die bestehende Situation relevant sind, wie etwa in King Lear, wo es im Gespräch zwischen Gloucester und Kent (1.1.) um die Abkunft der Söhne Gloucesters geht, was für die weitere Dramenhandlung entscheidende Bedeutung haben wird. Politische Zusammenhänge werden, da die Reichsteilungsszene (1.2) die einzige bedeutsame politische Handlung des gesamten Dramas ist, zugunsten einer ausführlicheren Exposition der Familienverhältnisse nicht weiter dargelegt. Eine dominant futurisch angelegte Exposition zeigt sich exemplarisch in Macbeth. Der dramatische Auftakt durch die Prophezeiungen der Hexen signalisiert nicht zuletzt durch die Zeitstufe des Futurs („When shall we three meet again?“) die Ausrichtung auf Kommendes. Sprachliche Form der Exposition Bei der Analyse der expositorischen Informationsvergabe ist auch bedeutsam, ob diese monologisch oder dialogisch vergeben wird (vgl. hierzu auch Kap. V). Eine monologische Form der Exposition kann durch eine spielexterne Figur (Prolog, Epilog, Chor, Spielleiter) oder eine spielinterne Figur erfolgen. Vom Expositionsmonolog durch eine spielexterne Figur zu unterscheiden ist der Monolog, welcher von einer spielinternen Figur gesprochen wird, das innere Kommunikationssystem aber nicht mit einer expliziten Ausrich-
6. Expositorische Informationsvergabe
tung ad specatores (vgl. auch Kap. V) durchbricht. Als Beispiel sei der Eingangsmonolog der Titelfigur Richard, Duke of Gloucester, in Richard III genannt:
Beispiel: Richard III
Now is the winter of our discontent Made glorious summer by this son of York; And all the deep clouds that loured upon our house In the deep bosom of the ocean buried. (1.1.1–4) … But I, that am not shaped for sportive tricks Nor made to court an amorous looking-glass, I that am rudely stamped and want love’s majesty To strut before a wanton ambling nymph, That I am curtailed of this fair proportion, Cheated of feature by dissembling nature, Deformed, unfinished, sent before my time Into this breathing world scarce half made up (14–21) … And therefore, since I cannot prove a lover To entertain these fair well-spoken days, I am determined to prove a villain And hate the idle pleasures of these days. Plots have I laid, inductions dangerous, By drunken prophecies, libels and dreams To set my brother Clarence and the King In deadly hate the one against the other. And if King Edward be as true and just As I am subtle false and treacherous, This day should Clarence closely be mewed up About a prophesy which says that ,G’ Of Edward’s heirs the murderer shall be. (28–40) Obwohl diese Informationen zweifellos für das Publikum intendiert sind, spricht Richard, Duke of Gloucester, das Publikum nie direkt an, durchbricht also nie das innere Kommunikationssystem des Dramas explizit. In der dialogischen Exposition wird dem Informationsträger häufig ein Dialogpartner zur Seite gestellt, der nur die Funktion hat, diese expositorische Informationsvergabe durch Fragen und Einwürfe zu motivieren. Nach Erfüllung dieser Funktion kann diese so genannte protatische Figur aus dem Stück verschwinden, sie kann allerdings auch als Figur eines Vertrauten (Confident) die Hauptfigur das ganze Stück hindurch begleiten. Expositorische Informationsvergabe in einem tatsächlich dialogisch angelegten Dialog kann stattfinden durch zwei Hauptfiguren (The Merchant of Venice: Antonio und Bassanio), einer Haupt- und einer Nebenfigur (King Lear: Gloucester und Kent) oder zwei Nebenfiguren (Romeo and Juliet: Samson und Gregory aus dem Hause Capulet). Erstreckung der Exposition Die expositorische Informationsvergabe ist durchaus nicht isoliert auf die Eingangsphase des Dramas beschränkt. Sie kann sich auch sukzessiv bis zum Dramenausgang entwickeln und erstrecken. So kann etwa ein neu aufgedecktes Faktum auch noch am Schluss eines Dramas zu einem Um-
Dialogische Exposition Protatische Figur
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IV. Informationsvergabe
poetic justice
Deus ex machina
schwung im Handlungsverlauf führen, der alle Konflikte löst und ein deutlich markiertes Schlusssignal setzt. Seine konsequenteste Ausprägung findet dieses Schlusssignal in der Konvention der poetic justice, nach dem die ,Guten‘, d. h., die normenkonformen Figuren, belohnt, und die ,Bösen‘, also die Normen verletzenden Figuren, bestraft werden. Das Dramenende entwickelt sich üblicherweise aus den im Dramenverlauf in unterschiedlicher Streuung gegebenen Informationen, doch kann auch noch eine bis dahin unbekannte Figur, wie etwa die Äbtissin in The Comedy of Errors, erscheinen, oder ein deus ex machina (lat: „Gott aus der Maschine“) zur Lösung der Handlungskonflikte beitragen. Ein solches Eingreifen ist stets mit einem Moment der Überraschung sowohl für die handlungsinternen Figuren wie auch für das Publikum verbunden.
V. Dramatische Sprache Die Doppelnatur des Dramas als literarischer Text und als Spielvorlage wird insbesondere im Bereich der Sprache deutlich, denn im Unterschied zu anderen literarischen Gattungen operiert das Drama vor allem mit dem gesprochenen Wort (Figurenrede), mittels dessen Charaktere geformt und Handlungen gestaltet, sowie von der Bühne aus mit dem Zuschauer Kontakt aufgenommen werden kann. Zunächst gilt es hier (Kap. V.1), zwischen literarischer Sprache und Normalsprache zu unterscheiden, da die Sprache im Drama nicht nur auf den unmittelbaren Gesprächspartner, sondern immer auch auf das Publikum hin ausgerichtet ist. Dass Sprache im Drama nicht nur eine Form der Informationsvergabe ist, sondern ganz verschiedene Funktionen haben kann, hat Roman Jakobson gezeigt, der sechs verschiedene Funktionen der Sprache unterscheidet (Kap. V.2). Im Bereich der Sprache müssen im inneren Kommunikationssystem des Dramas bestimmte Techniken angewandt werden, durch die den Zuschauern im äußeren Kommunikationssystem die dargestellten Handlungen vermittelt werden können (Kap. V.3). Nicht zuletzt werden Figuren im Drama durch Sprache monologisch oder dialogisch, explizit oder implizit charakterisiert (Kap. V.4.).
Inhalt des Kapitels
1. Literarische Sprache und Normalsprache Zunächst ist Sprache im Drama (wie im ,normalen‘ Leben) durch das unmittelbare Gegenüber der Gesprächspartner (hic et nunc) charakterisiert. Sie unterscheidet sich jedoch von der Normalsprache dadurch, dass sie zusätzlich immer auch auf ein Publikum als weiteren Kommunikationspartner ausgerichtet ist. Dieser ist also stets – schweigend – anwesend, aber dennoch wichtig, da alles auf ihn fokussiert ist. Auch muss die Sprache im Drama sofort vom Theaterpublikum verstanden werden: man kann im Theater nicht – wie bei der Lektüre eines Romans – eine Seite zurückblättern oder eine Pause machen, um das Gelesene zu überdenken, bevor man weiter liest. Entsprechend muss der Dramatiker anders verfahren als der Romanautor, was der Dramatiker George Bernard Shaw mit Blick auf den großen Romanautor Henry James wie folgt konstatierte: „In preparing a play for publication, the author’s business is to make it intelligible to a reader. In preparing it for performance he has to make it intelligible to a spectator and listener. The last quality is one in which the writer who has always worked for publication alone is likely to fail in direct proportion to his inveterate practice and virtuosity. … There is a literary language which is perfectly intelligible to the eye, yet utterly unintelligible to the ear when it is easily speakable by the mouth. Of that English [Henry] James was master in the library and slave on the stage.“ („On Printed Plays“ S. 164 f.) Aufgrund der Trennung von innerem und äußerem Kommunikationssystem hat Sprache im Drama also immer zwei Aussagesubjekte: die jeweils
George Bernard Shaw, „On Printed Plays“
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V. Dramatische Sprache
sprechende Figur spricht zu einer anderen Figur, und zudem gleichzeitig zum Publikum. Damit diese Kommunikation funktioniert, müssen die Reden der Figuren in bestimmter, von der Normalsprache üblicherweise abweichender, Form gestaltet sein. So ist dramatische Sprache im Gegensatz zur Normalsprache zunächst organisiert, d. h., gewöhnlich reden die Figuren nicht durcheinander, wissen, was sie sagen wollten, verlieren nicht den Zusammenhang usw., wie dies in der alltäglichen Kommunikation außerhalb der Bühne durchaus geschehen kann. Darüber hinaus kann die Sprache im Drama durch veraltete Wortformen (Archaismen) oder auch neue Wortfügungen (Neologismen) geprägt sein, auch kann sie rhetorisch stilisiert oder metrisch gebunden sein. Zu diesen stilistischen Abweichungen kommt noch die Abweichung in Form der etablierten Konventionen der Bühnensprache wie etwa in der witzig pointierten Prosa in den Dramen von George Bernard Shaw oder Oscar Wilde, sowie den Boulevardkomödien von Terence Rattigan oder Noel Coward. Besonders offenbar werden die Besonderheiten der dramatischen Sprache im Versdrama, wie etwa bei T. S. Eliot: Metrum und Reim bedingen hier eine poetische Überhöhung, wobei es zu den Konventionen der Gattung gehört, dass sich die dramatis personae dieser stilisierten Redeweise nicht bewusst sind.
2. Funktionen der Sprache Dass Sprache nicht einfach nur eine Form der Informationsvergabe ist, sondern ganz verschiedene Funktionen haben kann, hat Roman Jakobson gezeigt. Nach Jakobson kann man idealtypisch sechs verschiedene Funktionen der Sprache unterscheiden, welche im Folgenden – bezogen auf das Drama – einzeln erläutert werden, in der Praxis jedoch kombiniert, d. h., in polyfunktionaler Verwendung, vorkommen. Referentielle Funktion In jeder dramatischen Rede lässt sich die referentielle Funktion der Sprache finden, da diese die Darstellung von Vorgängen und Gegenständen umfasst. Sie findet sich häufig im Bericht auch als Teil der Informationsvergabe in der Exposition (vgl. auch Kap. IV.6), wie sich beispielsweise am Bericht des Kapitäns über die Rettung des Bruders der Viola in Twelfth Night zeigen lässt: Beispiel: Twelfth Night
Captain: True, madam, and to comfort you with chance, Assure yourself, after our ship did split, When you and those poor number saved with you Hung on our drivingboat, I saw your brother, Most provident in peril, bind himself – Courage and hope both teaching him the practice – To a strong mast that lived upon the sea, Where, like Arion on the dolphin’s back, I saw him hold acquaintance with the waves So long as I could see. (1.2.7–16) Auch der so genannte Botenbericht und die Mauerschau, in denen Geschehnis- und Handlungsabläufe verbal vergegenwärtigt werden, welche
2. Funktionen der Sprache
aus ökonomischen oder bühnentechnischen Gründen nicht unmittelbar szenisch dargestellt werden können, zählen zu den Beispielen für referentielle Sprachverwendung (vgl. hierzu auch Kap. VIII.5). Expressive Funktion Zu den wichtigsten Sprachfunktionen auf dem Theater gehört die expressive Funktion der dramatischen Sprache. Sie verweist auf den Sprecher einer Aussage selbst, indem sie diesen mit seinem Redegegenstand, seinem sprachlichen Verhalten und seinem Sprachstil charakterisiert. In der expressiven Funktion tritt, häufig stark isoliert aber dominant, der Reflexionsmonolog auf, in dem der Sprecher versucht, sich über sich selbst bewusst zu werden, sich zu rechtfertigen, oder zu einem Entschluss zu kommen. Beispiele sind die Monologe Hamlets, oder auch der Monolog des Brutus in Julius Caesar, in dem Brutus darüber reflektiert, ob es berechtigte Gründe gibt, an der geplanten Verschwörung gegen Caesar teilzunehmen und am Ende dessen er seine Entscheidung trifft: Brutus: It must be by his death. And for my part I know no personal cause to spurn at him, But for the general. He would be crowned. How that might change his nature, there’s the question. It is the bright day that brings forth the adder, And that craves wary walking. Crown him: that! And then I grant we put a sting in him That at his will he may do danger with. Th’ abuse of greatness is when it disjoins Remorse from power. And to speak truth of Caesar, I have not known his affections swayed More than his reason. But ‘tis a common proof That lowliness is young ambition’s ladder, Whereto the climber-upward turns his face. But when he once attains the upmost round, He then unto the ladder turns his back, Looks in the clouds, scorning the base degrees By which he did ascend. So Caesar may. Then, lest he may, prevent. And since the quarrel Will bear no colour for the thing he is, augmented, Would run to these and these extremities; And therefore think him as a serpent’s egg, Which, hatched, would as his kind grow mischievous, And kill him in the shell. (2.1.10–34) Der innere Widerstreit der Argumente in Brutus zeigt sich sprachlich in der häufigen Verwendung von „but“, welches immer wieder ein Gegenargument zum eben Gesagten einleitet, den zahlreichen Möglichkeitsformen wie „would“ und „may“, welche nichts als bisher unbestätigte Vermutungen des Sprechers sind, mit denen er seine Entscheidung selbst zu beeinflussen versucht. Des Weiteren in Sentenzen („Th’ abuse of greatness is…“) und Bildern („ladder“, „a serpent’s egg“), welche dem Gesagten den Anstrich von Allgemeingültigkeit geben sollen.
Reflexionsmonolog
Beispiel: Julius Caesar
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V. Dramatische Sprache
Sonderformen der appellativen Funktion Beispiel: King Lear
Rhetorische Frage
Beispiel: Henry IV
Appellative Funktion Der appellativen Funktion der Sprache kommt besondere Bedeutung im inneren Kommunikationssystem des Dramas zu, da diese von der dialogischen Sprechsituation abhängt und umso stärker ausgeprägt ist, je mehr der Sprecher versucht, seinen Dialogpartner zu beeinflussen. Herausragendes Beispiel ist hierfür die Werbeszene Richards III um Lady Anne in Richard III. Lady Anne war mit Edward Prince of Wales verheiratet, der in der Schlacht von Tewksbury von König Edward IV und seinen Brüdern, unter den sich auch Richard befand, erschlagen wurde. Letzterer, der also Mitschuld trägt am Tod des Gatten Annes, erdreistet sich, an dessen Bahre um die Witwe zu werben (1.2.) – und hat damit letztlich auch Erfolg. Ein weiteres Beispiel für die appellative Funktion der Sprache ist die Überredung des Macbeth zum Mord an Duncan durch Lady Macbeth (1.7.35–82), was zeigt, dass solche Dialoge oft Höhepunkte in Dramentexten markieren. Sonderformen der appellativen Funktion sind Befehle, die stets eine bestimmte Autoritätsrelation zwischen den Partnern voraussetzten, oder die Apostrophen an eine Naturgewalt wie die des König Lear auf der Heide: Lear: Blow, winds, and crack your cheeks! rage! blow! Your cataracts and hurricanoes, spout Till you have drench’d out steeples, drown’d the cocks! You sulph’rous and thought-excuting fires, Vaunt-couriers of oak-cleaving thunderbolts, Singe my white head! And thou, all-shaking thunder, Strike flat the thick rotundity o’ th’ world! Crack nature’s moulds, all germens spill at once That makes ingrateful man! (3.2.1–9) Eine andere Ausprägung der appellativen Funktion dramatischer Rede sind rhetorische Fragen, also Fragen, welche die Antwort bereits selbst vorgeben. Als Beispiel mag hier die folgende Rede Falstaffs dienen, der in Henry IV die Bedeutung von Ehre in Frage stellt: Falstaff: Yea, but what when honour prick me off When I come down? How then? Can honour a-set a leg? No. Or an arm? No. Or take away the grief of a wound? No. Honour hath no skill in surgery then? No. What is honour? A word. What is in that word ,honour‘? What is that ,honour‘? Air. A trim reckoning! Who hath it? He that died o’ Wednesday. Doth he feel it? No. Doth he hear it? No. ‘Tis insensible then? Yea, to the dead. But will it not live with the living? No. Why? Detraction will not suffer it. Therefore I’ll none of it. Honour is a mere scutcheon. And so ends my catechism. (5.1.131–141) Phatische Funktion Wenngleich das Wesen der phatischen Funktion der Sprache jedem Leser vertraut sein dürfte, ist ihm der Terminus vielleicht bisher noch nicht begegnet. In phatischer Funktion dient Sprache der Herstellung und Aufrechterhaltung des Kommunikationskanals zwischen den Gesprächspartnern. Sol-
2. Funktionen der Sprache
che sprachlichen Äußerungen haben keinen eigentlichen Inhalt, keine Information, die einem Partner mitgeteilt werden müssten, sondern dienen allein dazu, die Kommunikation nicht abreißen zu lassen. Ein vertrautes Beispiel aus dem täglichen Leben für diese Funktion der Sprache sind Floskeln über das Wetter. Auch im inneren Kommunikationssystem des Dramas dient diese Funktion etwa durch die Anrede der Herstellung des Partnerbezugs im Dialog, aber auch der ,Kontaktpflege‘ als Anliegen der Kommunikation. Neben den absurden Dramen Becketts bieten die Dramen Harold Pinters geradezu exemplarisch phatische Dialoge, in denen die Figuren nur noch reden, um nicht schweigen zu müssen. Die Kommunikation wird zum Selbstzweck, die Gesprächsteilnehmer haben sich nichts inhaltlich zu sagen. Im ersten Akt von Pinters The Caretaker etwa hat Aston den Landstreicher Davies mit zu sich nach Hause genommen, nachdem er ihn gerade davor bewahrt hat, zusammengeschlagen zu werden. Der folgende Dialog schließt sich an: Davies: … This your room? Aston: Yes. Davies: You got a good bit of stuff here. Aston: Yes. Davies: Must be worth a few bob, this … put it all together. (Pause). There’s enough of it. Aston: There is a good bit of it, all right. Davies: You sleep here, do you? Aston: Yes. Davies: Yes, well, you’d be well out of the draught there. Aston: You don’t get much wind. Davies: You’d be well out of it. It’s different when you’re kipping out. Aston: Would be. Davies: Nothing but wind then. (Pause) Aston: Yes, when the wind gets up it … (Pause) Davies: Yes … Aston: Mmnn … (Pause). Es wird deutlich, dass solche Texte nur im Zusammenhang größerer Passagen sinnvoll zitiert werden können, denn erst in der Abfolge der immer gleichen Leerformeln wird offensichtlich, dass sich diese beiden Gesprächspartner inhaltlich nichts zu sagen haben. So weiß Davies natürlich, dass dies Astons Zimmer sein muss und dass dieser an der bezeichneten Stelle schläft. Die Repliken über „a good bit of stuff“ und die Möglichkeit des Luftzuges am Bett sind in keiner Weise bedeutsam für die weitere Handlung im Drama, die beiden Figuren thematisieren dies nur, um den Kommunikationskanal aufrecht zu halten, das Gespräch nicht abbrechen zu lassen. Dass ihnen dies nur mit Mühe gelingt, deutet nicht zuletzt der Nebentext „Pause“ und die nur noch einsilbigen Repliken der Figuren am Schluss dieser zitierten Passage an.
Beispiel: Harold Pinter, The Caretaker
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V. Dramatische Sprache
Beispiel 1: Richard II
Poetische Funktion Die poetische Funktion dramatischer Sprache ist nur selten für das innere, sondern insbesondere für das äußere Kommunikationssystem von Bedeutung. Charakteristisch für diese Art der Sprachverwendung sind u. a. Bilder, Vergleiche, Variationen im Satzbau (Syntax), wechselseitige Ergänzung von Versmaß und Syntax, oder eine bestimmte rhythmische Gestaltung. Als Beispiel hierfür kann die poetische Dichte der Monologe von Richard II dienen, welche im Drama im Kontrast mit der prosaischen Nüchternheit der Repliken seines Gegenspielers Bolingbroke umso deutlicher hervortreten. Zitiert sei der Monolog Richards, als dieser aus Irland nach England zurückkehrt und seine Heimat von den Truppen Bolingbrokes besetzt weiß: King Richard: I weep for joy, To stand upon my kingdom once again. Dear earth, I do salute thee with my hand, Though rebels wound thee with their horses’ hoofs. As a long-parted mother with her child Plays fondly with her tears, and smiles in meeting, So, weeping, smiling, greet I thee my earth, And do thee favours with my royal hands. Feed not thy sovereign’s foe, my gentle earth, Nor with thy sweets comfort his ravenous sense; But let thy spiders that suck up the venom And heavy-guilted toads lie in their way, Doing annoyance to the treacherous feet With which usurping steps do tremple thee. (3.2.4–17)
Beispiel 2: Benjamin Zephaniah, Job Rocking
Die Häufung sprachlicher Bilder, die Personifikation der Mutter Erde sowie der rhythmische Fluss dieser Passage, der beim lauten Lesen besonders offenbar wird, prägen diesen Monolog. Als weiteres Beispiel mag das Drama Job Rocking (1987) des Westinders Benjamin Zephaniah dienen (vgl. Schnierer, S. 181–186). Zephaniah schreibt in der black oral tradition, also mit sprachlichen Mitteln, welche die zeitgenössische schwarze populäre Lyrik verwendet. Am besten entfalten sich die Rhythmen seiner Verse auch hier, wenn man den Text laut spricht. In der folgenden Stelle preist sich der Manager eines job centre selbst: … the ideas that I get when I’m bathing is amazing I know that when you’re unemployed it can be quite frustrating I’ll make this place a job centre where youths can voice their feelings. Metasprachliche Funktion Wenn die poetische Funktion der Sprache auch im inneren Kommunikationssystem des Dramas implizit oder explizit bewusst gemacht wird, hat eine Äußerung gleichzeitig auch eine metasprachliche Funktion. In dieser wird also die Sprache als solche thematisiert. Im äußeren Kommunikationssystem ist
3. Sprache und Handlung
auf die Thematisierung von Drama und Theater bezogen, im inneren Kommunikationssystem zeigt sich die metasprachliche Funktion im Englischen vor allem in Sprachspielereien (puns), in denen klangähnliche Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung in Zusammenhang gebracht werden (so sole und soul zu Beginn von Julius Caesar). Weitere Möglichkeiten metasprachlicher Sprachfunktion sind, durch den Austausch einzelner Silben sonst gleicher Wörter komische Wirkung zu erzielen wie in A Midsummer Night’s Dream mit „oderous“ und „odious“, oder über die Sprache von Figuren selbst zu sprechen wie in Edward Albees Who’s afraid of Virginia Woolf? : Martha: Have you ever listened to your sentences, George? Have you ever listened to the way you talk? You are so frigging … convoluted … that’s what you are. You talk like you were writing one of your stupid papers.
Beispiel: Edward Albee, Who’s afraid of Virginia Woolf?
Weitere Beispiele wären, wenn in Irwin Shaws Bury the Dead die Frontsoldaten bei der Beerdigung eines Kameraden erklären: „We’d talk in blank verse for you, Sergeant, only we ran out of it in our third day in the front line“, oder Winnie in Becketts Happy Days (1961) mit „Is it not so, Willie, that even words fail at times?“ geradezu exemplarisch das Wesen des Metadramatischen artikuliert.
3. Sprache und Handlung Im inneren Kommunikationssystem des Dramas müssen Techniken angewendet werden, die den Zuschauern im äußeren Kommunikationssystem die dargestellten Handlungen sprachlich vermitteln können. Das Publikum ist gemeinhin mit der Theaterkonvention vertraut, dass Bühnenfiguren erstaunlich viel reden, und das häufig gerade dort, wo im Alltag Schweigen viel passender und natürlicher erschiene. Schmerz, Verzweiflung und die Erfahrung des Todes verschlagen dem Menschen in der Realität eher die Sprache; im Drama dagegen machen sie die Figuren vergleichsweise beredt. Man würde sich über diese Redseligkeit wundern, wenn man eben nicht wüsste, dass sie nötig ist, um sich dem Zuschauer mitzuteilen, auf den die Darstellung ausgerichtet ist. Da dem Zuschauer im Drama jede Handlung sprachlich mitgeteilt werden muss, tragen in der Regel Dialoge die Handlung. Dialoge lassen sich im Drama somit nicht nur als Austausch von Worten und Mitteilungen, sondern auch als Abfolge wechselseitiger Aktionen verstehen: so, wenn in ihnen über bereits geschehene Handlungen gesprochen wird, wenn gegenwärtige Handlungen von Figuren mit Worten kommentiert werden, oder wenn Figuren ankündigen, was sie zu tun gedenken. Wenn mit einer sprachlichen Äußerung zugleich eine Handlung vollzogen wird, nennt dies die Linguistik ,performativ‘. In diesen Fällen geht es nicht darum, was eine Person sagt und welche Bedeutung diese Worte haben, sondern auch darum, was eine Figur der anderen mit Worten ,antut‘. So zeigt sich performatives Sprechen im Drama, wenn eine Figur einen Ausruf oder Befehl, ein Versprechen, eine Frage, Drohung, Erwartung oder Entschuldigung (durchwegs Äußerungen, die im Drama besonders häufig vorkommen) formuliert, und mit diesem Sprechakt eine Handlung vollzieht,
Performatives Sprechen
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V. Dramatische Sprache
durch welche das Verhältnis der Figuren untereinander verändert wird. In phatischer Kommunikation (s. o.) sind dagegen Rede und Handlung nicht aufeinander bezogen.
4. Sprache und Figur
Beispiel: Ann Jellicoe, The Sport of my Mad Mother
Beispiel: Fronteras Americanas
Die Sprache aller Figuren eines Dramas kann homogen sein, vor allem, wenn sie von einer bestimmten poetologischen Konzeption getragen wird. Im Drama der so genannten ,geschlossenen Form‘ (vgl. Kap. VII.5) ist die Sprache häufig einheitlich in der Stillage, Wort- und Satzfolge sind schlüssig und grammatisch stimmig, die Sprachführung zielgerichtet und logisch folgernd. Die poetische Funktion der Sprache überlagert hier oftmals die expressive Funktion. Im Gegensatz dazu herrscht im Drama der so genannten ,offenen Form‘ (vgl. Kap. VII.5) mit seinen oft schichtenspezifischen Soziolekten die expressive Funktion der Sprache vor. Hier variieren die Sprechweisen je nach sozialem Stand und Situation der Charaktere. Wenn die Sprache versagt, wird sie durch Gestik und Mimik ersetzt, was wiederum eine Zunahme des Nebentexts bedingt. Die Satzfolge ist oft sprunghaft, stockend oder brüchig, die Sprache unbeholfen und assoziativ. Neben den Dramen von Eugene O’Neill, Arnold Wesker, John Osborne und Edward Bond soll hier Ann Jellicoes The Sport of My Mad Mother (1958) genannt sein, einer der ersten Versuche, vom rationalen, logisch aufgebauten Sprechtheater wegzukommen – und dies insbesondere durch die semantische Entleerung der Sprache. Dodo ist die erste, die nur noch einzelne Wörter wiederholen kann, Fak folgt ihr darin, und Cone ist auf den Ausruf „My God“ reduziert: Dodo: No! Fak: Eh? Dodo: No! Fak: What! Dodo: No! No! (Fak and Dodo, their joy growing, tussle for the rags) Dodo: No! No! No! No! No! Patty (laughing): Oh silly, silly Faky-Boy. Oh my, isn’t it blarney, girl. Oh horrible, horrible. Cone: My God My God My God My God My God My God My God. Im inneren Kommunikationssystem eines Dramas sind es immer sprachliche Abweichungen und Differenzen zu anderen Figuren, die zu einer individuellen Figurencharakteristik beitragen. Hier sind etwa zu nennen regionale subcodes, wie in Fronteras Americanas (1993), einem Drama des kanadischen Autors Guillermo Verdecchia, in dem die Figur des Wideload mit lateinamerikanischem Akzent spricht: Wideload: I live in de border. … I live in de zone, de barrio and I gotta move ‘cause dat neighbourhood is going to de dogs. ‘Cause dere’s is a lot of yuppies moving in and dey’re wrecking de neighbourhood and making all kinds of noise wif renovating and landscaping and knocking
4. Sprache und Figur
down walls and comparing stained glass. So I gotta move. But first I gotta make some money – I want to cash in on the Latino boom. Ya, dere’s a Latino Boom, and we are a very hot commodity right now.“ (S. 24) Als Beispiel aus der britischen Literatur kann Liz Lochhead’s Drama Mary Queen of Scots Got her Head Chopped Off (1987) dienen, in dem La Corbie mit starkem schottischem Akzent spricht: „Scotland. Whit like is it? / It’s a peatbog, it’s a daurk forest. / It’s a cauldron o’lye, a saltpan or a coal mine. / If you’re gey lucky it’s a bricht bere meadow or a park o’kye. / Or mibbe … it’s a field o’ stanes. / It’s a tenement or a merchant’s ha’. It’s a hure hoose or a humble cot.“ (S. 11). Als besonders markante Form der Charakteristik sind ferner Soziolekte zu nennen. Ein Beispiel hierfür ist Boy Willie in August Wilson’s The Piano Lesson (1987), der sich wie folgt artikuliert: „You gonna come down south and see me? Uncle Boy Willie gonna get him a farm. Gonna get a big old farm. Come down there and I’ll teach you how to ride a mule.“ (S. 20). Die Sprache einer Figur ist freilich auch von der Situation bestimmt, in der sich diese Figur jeweils befindet. Je nach Redesituation werden also Repliken stilistisch variiert und differenziert erscheinen Als Beispiel mögen wieder zwei Stellen aus dem Werk Shakespeares dienen. Othellos Zustand innerer Ruhe drückt sich in der folgenden Stelle im ruhig fließenden Blankvers (fünfhebiger Jambus ohne Reim) wie folgt aus: Othello: It gives me wonder great as my content, To see you here before me. O my soul’s joy! If after every tempest come such calms, May the winds blow, till they have waken’d death, And let the labouring bark climb hills of sea Olympus-high and duck again as low As hell’s from heaven. If it were now to die, ‘Twere now to be most happy; for I fear My soul hath her content so absolute That not another comfort, like to this Succeeds in unknown fate. (2.1.181–191) An dieser Stelle zu Beginn des zweiten Akts begrüßt Othello voller Freude seine Frau Desdemona, die die stürmische Überfahrt der beiden von Venedig nach Zypern auf einem anderen Schiff als er überstanden hat. Ganz anders präsentiert sich Othellos Sprache am Ende des Dramas, wenn er Desdemona getötet hat und sich – ebenfalls im Blankvers – wie folgt artikuliert: Othello: Yes. – ‘Tis Emilia. – By and by. She’s dead. ‘Tis like she comes to speak of Cassio’s death. The noise was high. Ha! No more moving. Still as the grave. Shall she come in? Were’t good? I think she stirs again. No. What’s best to do? If she come in, she’ll sure speak to my wife. My wife, my wife! What wife? I ha’ no wife. O insupportable, O heavy hour! (5.2.100–107)
Beispiel: Liz Lochhead, Mary Queen of Scots Got her Head Chopped Off
Soziolekte Beispiel: August Wilson, The Piano Lesson
Beispiel: Othello
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V. Dramatische Sprache
Kurze Sätze, Satzfragmente, Ausrufe, Ellipsen und rhetorische Fragen charakterisieren den gleichen Sprecher als innerlich äußerst erregt und keinesfalls mehr in der inneren Ausgeglichenheit des zuvor zitierten Monologs.
Figurenperspektivische Färbung
Stilistische Textur
Monologue versus soliloquy
Monolog
Funktionen des Monologs
Sprachliche Konstituierung der Figur Eine Figur kann sich entweder explizit oder implizit selbst darstellen. Bei einer expliziten Selbstdarstellung thematisiert sie bewusst ihr Selbstverständnis in der sprachlichen Form des Monologs oder Dialogs. Eine solche Information an den Zuschauer ist stets subjektiv gebrochen und strategisch gefärbt, da der Sprecher mit seiner Selbstdarstellung etwas bezwecken will. Auf der Bühne können solche Intentionen im paralinguistischen Bereich durch die Stimmqualität des Sprechers umgesetzt werden (vgl. auch Kap. II.5). Dagegen erfolgt eine implizite Selbstdarstellung vom Sprecher aus nicht bewusst und nicht beabsichtigt, und ist demnach auch nicht figurenperspektivisch verzerrt. Grundsätzlich ist die stilistische Textur bereits im Text angelegt. So gilt es bei einer Analyse die folgenden Fragen an den Text zu stellen: Ist die Sprache einer Figur einem regionalen oder sozialen subcode angenähert (s. o.)? Handelt es sich um eine bestimmte Fachsprache? Sind die Repliken einer Figur streng logisch verbunden oder assoziativ gereiht, oder existiert ein unverbundenes Nebeneinander der Repliken? Lassen sich Abweichungen in der Wortwahl, Häufigkeit bestimmter Satzarten, Dominanz von Hypotaxe (Über- und Unterordnung von Haupt- und Nebensätzen) oder Parataxe (Nebenordnung von Hauptsätzen), Parallelismen, Antithesen, Abstrakta, dominierende Wortfelder, klischeehafte Wendungen oder Sentenzen feststellen? Wie lange sind die Repliken einer Figur (lange Repliken verweisen auf eine gewisse Selbstverliebtheit)? Wie weit geht eine Figur auf Repliken anderer Figuren ein, inwieweit zeigt sie egozentrisches Verhalten? Fällt sie anderen häufig ins Wort und zeigt damit Ungeduld oder Dominanz? Wieweit kann sie ihren Sprachduktus dem Dialogpartner anpassen (Partnertaktik)? Monologisches Sprechen Konstitutiv für monologisches Sprechen ist zum einen die Einsamkeit des Sprechers auf der Bühne, da dieser seine Replik als Selbstgespräch an kein Gegenüber auf der Bühne richtet, und zum anderen das Kriterium des Umfangs und des in sich geschlossenen Zusammenhangs einer Replik. Was die Einsamkeit des Sprechers auf der Bühne betrifft, so wird dahingehend differenziert, dass man von soliloquy spricht, wenn eine Figur allein auf der Bühne ist und scheinbar zu sich selbst spricht. Wenn sich eine Figur in ihrem Sprechen an andere Figuren richtet, spricht man von monologue. Der Monolog im Drama beruht auf der Konvention des Theaters, dass dort eine Figur im Gegensatz zum wirklichen Leben laut denken und reden darf. Diese Konvention der Gattung rechtfertigt sich aus den dadurch möglichen Funktionen der Publikumsinformation im Theater. Der Monolog kann zum einen die Funktion haben, dem Zuschauer in ökonomisch geraffter Form Informationen über die Vorgeschichte (vgl. Kap. IV.6) oder über die Handlungsabsichten der Figuren zu vermitteln. Ein Monolog kann ferner Szenen oder Auftritte miteinander verbinden (Brückenmonolog), er kann Auf- oder Abtrittsmonolog sein, oder er kann der Vorbereitung und Zusam-
4. Sprache und Figur
menfassung von Handlungsentwicklungen dienen. Als ,epischer‘ Monolog kann er die Abwesenheit eines Erzählers aufwiegen, oder auch innerhalb des Handlungsfortgangs (als Binnenmonolog) als retardierendes, also verzögerndes, Moment fungieren. Inhaltlich lassen sich nach Pfister subjektiver Bekenntnis- oder Selbstoffenbarungsmonolog, Reflexionsmonolog, aktiver Entschlussmonolog und eher passiver Affektmonolog voneinander abgrenzen. Insbesondere im modernen Drama zeigt sich eine starke Bevorzugung des Monologs bis hin zu so genannten Monodramen, deren Haupttext sich im Monolog einer einzigen Figur erschöpft, um die Isolation und Entfremdung des Individuums zu zeigen, wie beispielsweise in Becketts Krapp’s Last Tape (1958). Dramatische Monologe können klar und geschlossen und nach rhetorischen Prinzipien aufgebaut sein, was üblicherweise auf eine ausgewogene Verfassung des Sprechers hindeutet. Monologe können auch eine eher assoziative Anhäufung von Gedankenfragmenten bieten, was – mit stammelnden Ausrufen oder aneinandergereihten Wortfetzen – eine gewisse Spontaneität des Sprechens, aber auch emotionale Aufgewühltheit des Sprechers signalisieren kann. Monologe können ferner aktional oder nicht-aktional sein, je nachdem, ob sich im Sprechen Handlung als Situationsveränderung vollzieht oder nicht. In aktionalen Monologen sieht sich ein Sprecher mit mehreren Handlungsmöglichkeiten konfrontiert und entscheidet sich letztlich für eine von diesen. Nicht-aktionale Monologe können entweder informierend sein, indem sie Sachverhalte zur Kenntnis bringen oder dem Zuschauer eine bereits bekannte Handlung aus der Perspektive einer betroffenen Figur spiegeln. Damit vermitteln nicht-aktionale Monologe zwar Handlung, doch vollzieht sich das Situation verändernde Handeln nicht in ihnen; sie sind daher eher latent epische Kommunikationsstrukturen. Ein aside (dt.: „Beiseite-Sprechen“) ist wie der Monolog nicht an ein Gegenüber auf der Bühne gerichtet. Anders als im soliloquy allerdings ist hier der Sprecher nicht allein auf der Bühne, noch hat er vergessen, dass er sich in Gegenwart anderer Figuren befindet. Das aside stellt daher eine noch größere Theaterkonvention dar als der monologue, da zur Realitätsfremde des längeren lauten Denkens hier noch ein Verstoß gegen alle Gesetze der Akustik hinzukommt. Wie der Monolog ermöglicht auch das aside eine unmittelbare Darstellung des Bewusstseins einer Figur, die Kommentierung der Spielhandlung, die Enthüllung geheimer Absichten oder die Charakteritik anderer Figuren. Das geradezu ,klassische‘ Drama für asides ist Macbeth, woraus hier nur ein Beispiel zitiert werden kann. Macbeth denkt über die Bedeutung der Hexenprophezeihung nach, ohne dass Banquo, Ross und Angus, die zusammen mit ihm auf der Bühne sind, dies hören: Macbeth (aside): Two truths are told As happy prologues to the swelling act Of the imperial theme. (To Ross and Angus) I thank you, gentlemen. (Aside): This supernatural soliciting Cannot be ill, cannot be good. If ill, Why hath it given me earnest of success Commencing in a truth? I am Thane of Cawdor.
Inhaltliche Differenzierung des Monologs
Aufbau von Monologen
Aside
Beispiel: Macbeth
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V. Dramatische Sprache
If good, why do I yield to that suggestion Whose horrid image doth unfix my hair And make my seated heart knock at my ribs Against the use of nature? (1.3.126–136) … Banquo (to Ross and Angus): Look, how our partner’s rapt. Macbeth (aside): If chance will have me king, why, chance may crown me, without my stir. Banquo (to Ross and Angus): New honours come upon him, Like our strange garments, cleave not to their mould But with the aid of use. Macbeth (aside): Come what come may, Time and the hour run through the roughest day. (1.3.142–146) Beiseite ad spectatores
Dialogisches Beiseite
Beispiel: Alan Bennett, The Madness of King George
Eine Sonderform des monologischen Sprechens stellt das Beiseite ad spectatores dar, wenn eine scheinbare Dialogisierung des aside durch eine Wendung ans Publikum erfolgt, eine Figur also direkt zum Publikum spricht. Diese Technik findet sich insbesondere in der Komödie (vgl. Kap. VII.6) bei den Intriganten- und Dienerfiguren, die vor allem den Kontakt zum Publikum pflegen. Eine weitere Sonderform dessen, dass eine Rede auf der Bühne zwar vom Publikum, nicht aber von bestimmten Figuren auf der Bühne gehört wird, ist das Dialogische Beiseite. Dieses ist oft bedingt durch ein konspiratives Sprechen wie etwa in einer Belauschungssituation. So tritt in Much Ado about Nothing die Verschwörerfigur Don Pedro mit dem aside aus der vorgetäuschten Handlung heraus, wenn sie sich an den zweiten Verschwörer (Claudio) über das Gelingen ihrer gemeinsamen Absicht, nämlich die Täuschung Benedicks, versichern möchte: „Don Pedro (aside): See you where Benedick hath hid himself? / Claudio (aside): Oh, very well my lord.“ (2.3.39 f.). Dialogisches Sprechen Unter dem Gesichtspunkt des Redekriteriums (vgl. Kap. IV.1) ist das wichtigste Element des Dramas der Dialog der Figuren, also die Figurenrede. Im Unterschied zum monologischen Sprechen durchdringen sich im Dialog mit den jeweiligen Standpunkten und Wertmaßstäben der Sprecher mehrere Kontexte. In einem idealtypischen Dialog haben die beiden Gesprächspartner ein gemeinsames Thema, dessen Bewertung von ihren verschiedenen Kontexten abhängt. Da diese Kontexte und Standpunkte der Figuren oft sogar gegensätzlich sind, kommt es an den Übergängen der einzelnen Repliken oft zu Wendungen im Handlungsverlauf. Je lebhafter das Gespräch ist, desto kürzer sind die einzelnen Repliken, und desto deutlicher zeigt sich das Aufeinanderstoßen der Kontexte. So tadelt etwa in Alan Bennetts The Madness of King George (1991) der König seinen Sohn, einen Lebemann, sein Königreich nicht, wie er selbst, in allen Teilen gut genug zu kennen: King: Do you know England, sir? Prince of Wales: I think so, sir. King: You know Brighton, Bath – yes, but do you know its mills and manufacturies? Do you know its farms? Because I do. Do you know what they call me? Prince of Wales: What do they call you, sir?
4. Sprache und Figur
King: Farmer George. Do you know what that is? Prince of Wales: Impertinence, sir? King: No sir, love. (S. 7) Grundlegend für die Bewertung eines Dialogs ist zunächst die Unterscheidung von Duolog (zwei Figuren sprechen) und Polylog (drei oder mehr Figuren sprechen). Letzterer bietet natürlich größere Möglichkeiten des Sprecherwechsels, ist aber auch semantisch komplexer. Die Unterbrechungsfrequenz und Replikenlänge reicht jeweils von der Stichomythie (dt.: Zeilenrede), die impliziert, dass der Sprecher nach jeder Verszeile wechselt, bis zu seitenlangen Repliken einer einzelnen Figur, die an einen dialogisierten Monolog (s. u.) heranreichen. Ein Beispiel für Stichomythie bietet etwa Oleanna (1992), ein Drama von David Mamet, einem außerordentlich kontrovers bewerteten amerikanischen Autor. Es handelt sich um die so genannte „confession scene“ zwischen der Studentin Carol und ihrem Professor John am Ende des 1. Akts: John: What do you feel? Carol: I feel bad. John: I know. It’ all right. Carol: I… (Pause) John: What? Carol: I … John: What? Tell me. Carol: I don’t understand you. John: I know, it’s all right. Carol: I… John: What? (Pause). What? Tell me. Carol: I can’t tell you. John: No, you must. (S. 37) Die durchschnittliche Unterbrechungsfrequenz variiert historisch und von Autor zu Autor erheblich; generell lassen sich Sprecherwechsel in der Komödie häufiger feststellen als in der Tragödie. Die jeweilige Replikenlänge kann auf die Bedeutung einer Figur (Haupt- oder Nebenfigur), aber auch auf Geschwätzigkeit, Beredtheit oder Wortkargheit verweisen. Eine ausgewogene Verteilung der Replikenanteile und ein enger thematischer Bezug der Repliken verweist üblicherweise auf eine Ebenbürtigkeit der Dialogpartner. Umgekehrt zeigt sich bei Dialogen mit langen Repliken die Neigung zu verlangsamtem Tempo und ein monologischer Selbstbezug eines Sprechers. Normalerweise laufen im Drama sprachliche Repliken sukzessive und in linearem Nacheinander ab. Voraussetzung für das Funktionieren eines Dialogs ist dabei zunächst, dass jede Replik eines Sprechers in ihren einzelnen Teilen aufeinander bezogen und in sich schlüssig ist. Repliken stehen außerdem immer in Relation zu vorausgegangenen Repliken derselben Figur (logischer Zusammenhang), wie auch – am wichtigsten für die Analyse des Dialogs – mit den vorausgehenden Repliken anderer Figuren bzw. zur unmittelbar vorausgehenden Replik des Dialogpartners (Partnerbezogenheit). Dabei bietet sich ein weites Spektrum von der Identität der Repliken, wenn
Duologue versus polylogue
Stichomythie
Beispiel: David Mamet, Oleanna
Sukzession von Repliken
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V. Dramatische Sprache
Rhetorik des Dialogs
Beispiel: Julius Caesar
beide Partner über die gleichen relevanten Informationen verfügen und sich ihre Einstellungen hierzu bestmöglich decken, bis zur Beziehungslosigkeit der Repliken, wenn die Figuren über völlig Verschiedenes reden, weil sie kein Kommunikationskanal verbindet oder ihre Codes sich nicht überschneiden (vgl. Kap. IV.1). Zu partiellen Überschneidungen von Repliken kann es kommen, wenn eine Figur einer anderen ins Wort fällt oder wenn in figurenreichen Szenen das Gespräch schon durch die Personenanzahl und -gruppierung in mehrere Einzelgespräche zerfällt. Hier können etwa auch Intriganten in Anwesenheit ihrer Intrigenopfer über diese sprechen ohne dass diese es hören, oder Beobachterfiguren Dialoge anderer Figuren satirisch aus der Distanz kommentieren. Wie jeder Redner will auch ein Sprecher im Drama durch Worte eine gegebene Situation verändern. Die Rhetorik hat bekanntlich als oberstes Ziel die persuasio, also Überredung, Überzeugung. Diese kann durch drei Grundstrategien erreicht werden. Die so genannte Logos-Strategie will durch ein parteiliches Eingehen auf den vorliegenden Sachverhalt (griech.: logos oder auch pragma) überzeugen, die Ethos-Strategie beruht auf dem Herausstellen der Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des Sprechers, der seine eigene moralische Integrität oder seine sachliche Autorität zum Hauptargument für die Richtigkeit seiner Ansichten macht, wie etwa Antonius in Julius Caesar: Antony: I am no orator, as Brutus is, But, as you know me all, a plain blunt man, That love my friend … For I have neither wit, nor words, nor worth, Action, nor utterance, nor the power of speech To stir man’s blood; I can only speak right on. (3.2.212–218) Die Pathos-Strategie schließlich zielt unmittelbar auf die Erregung von Affekten beim Publikums ab: durch das Hervorrufen starker Emotionen soll es zur Identifikation mit der Position des Sprechenden gebracht werden. Dies geschieht vor allem mit hohen Einsatz von rhetorischen Appellfiguren wie Apostrophen, Ausrufen und dem Vorzeigen affekthaltiger Gegenstände, wie beispielsweise in der Forumsszene des Julius Caesar, wenn Antonius Caesars Testament dem Volk präsentiert: Antony: But here’s a parchment with the seal of Caesar. I found it in his closet. ,Tis his will. Let but the commons hear this testament – Which, pardon me, I do not mean to read – (3.2.129–132) Doch nicht nur in der dramatischen Rede hat figuratives, d. h., uneigentliches, Sprechen mittels so genannter Tropen die Funktionen, einen Sachverhalt zu veranschaulichen und zu konkretisieren oder Aufmerksamkeit hervorzurufen. Tropen sind rhetorische Figuren, die durch das Auswechseln des üblichen Wortbestandes erzielt werden und einem Text seine besondere ästhetische und ,bilderreiche‘ Qualität verleihen; so v. a. Periphrase, Synekdoche, Metapher, Allegorie oder Ironie. Tropen können im Drama auch Figuren charakterisierende Funktion haben, wenn etwa durch die Wahl be-
4. Sprache und Figur
stimmter Bildbereiche Kontrastrelationen unter den Figuren geschaffen werden. So stehen z.B Jagos Bilder aus der Tierwelt (Fliegen, Spinnen, Ziegen, Wölfe) und der niederen Körperfunktionen ganz im Gegensatz zu Othellos licht- und farbintensiven Bildern des Anfangs. Bilder können ferner Raum schaffende Funktion haben, wenn sie als so genannte ,Wortkulisse‘ das Bühnenbild ersetzen oder ergänzen (vgl. Kap.VIII). Mischformen Im inneren Kommunikationssystem des Dramas gibt es neben den ,klaren‘ Ausprägungen von Monolog und Dialog auch Mischformen wie die Monologisierung des Dialogs. So führt die Dominanz einer Figur zu einer Monologisierung des Dialogs, wie etwa in den Forumsreden des Brutus und des Antonius in Julius Caesar, wo dem Dialog,partner’, dem römischen Volk, nur ganz wenige Repliken zuteil werden. Im modernen Drama zerfällt häufig, wenn die appellative Funktion des Dialogs nicht mehr gegeben ist, der Dialog in eine Reihe einander ablösender beziehungsloser Repliken, deren Sprecher monologisierend aneinander vorbeireden. Zum umgekehrten Fall, der Dialogisierung des Monologs, zählen die Apostrophe an eine Gottheit, ein Konfliktmonolog, in dem eine Figur zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten schwankt, oder ein ,innerer‘ Dialog. Bei Letzterem spaltet sich eine Figur gewissermaßen in zwei Subjekte auf, die miteinander kommunizieren. Dies geschieht insbesondere im Widerstreit der Gefühle, wenn etwa König Henry V vor der Schlacht bei Agincourt sich Gedanken über seine öffentliche Rolle als Monarch macht (Henry V, 4.1.228–281). Hieraus kann nur ein kleiner Teil zitiert werden:
Monologisierung des Dialogs
Dialogisierung des Monologs
Beispiel: Henry V
King: And what have kings that privates have not too, Save ceremony, save general ceremony? And what art thou, thou idol ceremony? What kind of god art thou, that suffer’st more Of mortal griefs than do thy worshippers? What are thy rents? What are thy comings-in? O ceremony, show me but thy worth. (235–241) Es ,kommuniziert‘ hier der natürliche, sterbliche Körper (body natural), so wie er jedem Menschen gegeben ist, mit dem body politic, der öffentlichen Rolle, die dem Monarchen obliegt. Sie sind beide gleichermaßen Teil der Person Henry V und treten in dieser Passage zueinander in Opposition. Ein König ist gewissermaßen ,geteilt‘ in seinen body natural, wie ihn auch die anderen Soldaten haben, und seinen body politic, der ihm allein die Verantwortung für sein öffentliches Handeln gibt. Zu dem Mischformen dramatischen Sprechens zählen nicht zuletzt Dramen, welche Musik und Tanz neben dem gesprochen Wort zur Charakterisierung der Identität von Figuren verwenden. Diese Texte sind vor allem in den so genannten postcolonial literatures angesiedelt. Als Beispiel mag hier abschließend das Drama For Colored Girls who have considered Suicide When the Rainbow is Enuf (1975) der afro-amerikanischen Autorin Ntozake Shange dienen, dessen Untertitel „A Choreopoem“ bereits die gattungsspezifische Mischform von Gedicht, Tanz und dramatischer Vermittlung impliziert. Das Drama beginnt wie folgt:
Text und Musik
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V. Dramatische Sprache Beispiel: For Colored Girls…
The stage is in darkness. Harsh music is heard as dim blue lights come up. One after another, seven women run onto the stage from each of the exists. They all freeze in postures of distress. The follow spot picks up the lady in brown. She comes to life and looks around at the other ladies. All of the others are still. She walks over to the lady in red and calls to her. The lady in red makes no response. Lady in Brown: dark phrases of womanhood of never havin been a girl half-noted scattered without rhythm / no tune distraught laughter fallin over a black girl’s shoulder it’ funny / it’s hysterical the melody-less-ness of her dance don’t tell nobody don’t tell a soul she’s dancin on her beer cans & shingles … (S. 3) Dieses rhythmische Sprechen prägt das gesamte Drama und verleiht ihm damit seine ganz besondere sprachliche Gestalt.
VI. Figurenanalyse Jede Figur eines Dramas steht mit anderen Figuren in vielfältigen Bezügen der Handlung (Kap. VI.1). Die Summe der auftretenden Figuren in einem Drama nennt man Personal. Dieses kann quantitativ vom Einpersonenstück bis hin zum vielfigurigen Stück mit Massenszenen reichen. Qualitativ müssen die Figuren scharf konturiert und klar funktionalisiert sein, was in Kap. VI.2 zu verfolgen sein wird. Kap. VI.3 erläutert die unterschiedlich großen Merkmalskataloge, mit denen Figuren ausgestattet sein können, und Kap. VI.4 widmet sich den verschiedenen Charakterisierungstechniken im inneren und äußeren Kommunikationssystem, die jeweils im Dramentext vorgenommen werden können.
Inhalt des Kapitels
1. Figur und Handlung Seit der Antike (Aristoteles bezeichnet in seiner Poetik den „Aufbau der Handlungen“ als „das erste und wichtigste Stück der Tragödie“ (S. 33)) stellt sich die Frage, ob die Handlung oder die Figur im Drama von größerer Bedeutung ist. Definiert man Handlung als die Veränderung einer Situation (vgl. Kap. VII), wird evident, dass eine gegenseitige Abhängigkeit der Kategorien ,Handlung‘ und ,Figur‘ besteht, da eine Handlung nicht ohne eine Figur erfolgen kann. Umgekehrt kann eine Situation nicht ohne eine Figur verändert, oder überhaupt eine Figur ohne Handlung entworfen werden. Begriffsabgrenzungen Nach lat. figura („Gebilde“, „Gestalt“) ist eine Figur ein Geschöpf eines Autors, also ein Kunstwesen, etwas Artifizielles, Gemachtes. Sie ist somit – im Gegensatz zu einer lebensweltlichen Person – ein Konstrukt, das innerhalb eines bestimmten Kontextes eine bestimmte Funktion hat. Im Gegensatz zu einer realen Person ist eine dramatische Figur nicht aus ihrem Kontext ablösbar, da sie nur in diesem Kontext existiert und durch eben diesen Kontext in ihren spezifischen Eigenschaften festgelegt wird. Eine Figur wird ausschließlich durch den dramatischen Kontext bestimmt, welcher nicht erweitert werden kann: alle Fragen über den Textentwurf sind nicht legitim. Fragen, wie Romeo und Julia ihre Kindheit verlebt haben, oder was Wladimir und Estragon täten, wenn sie nicht auf Godot warten würden, oder gar was Macbeth in der Situation des Hamlet machen würde, sind nicht zulässig. Diese Begrenztheit der Informationen ausschließlich auf den dramatischen Textentwurf hat wiederum zur Folge, dass jede Information, die der Leser oder Zuschauer eines Dramentextes bekommt, bewusst vom Autor gewählt wurde. Im Gegensatz zur lebensweltlichen Realität hat im Drama jede einzelne Information Zeichencharakter (vgl. Kap. II), ist jede scheinbar noch so nebensächliche Information Bedeutung tragend.
Figur
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VI. Figurenanalyse
Korrespondenz- und Kontrastrelationen
Historische Entwicklung
Beispiel: Everyman
Bedingt durch die gattungsspezifischen Gegebenheiten der Selektion, Sukzession und Transparenz (vgl. Kap. III.3) sind im Drama im Gegensatz zum Roman die Möglichkeiten einer detaillierten Figurendarstellung begrenzt. So lässt das Medium eine Innenschau einer Figur nur in einem gewissen Rahmen zu, und das Bewusstsein derer ist nur so weit darstellbar, wie es in der jeweiligen Situation auch psychologisch glaubhaft gemacht werden kann. Anders als im Roman, wo eine mehr oder weniger manifest werdende Erzählinstanz über Seiten hinweg das Innenleben eines Charakters vermitteln kann, stellt sich eine Figur im Drama immer sprachlich dar, was bestimmte gattungsspezifische Besonderheiten der Figurencharakteristik bedingt. Mit ihren spezifischen Charaktereigenschaften steht eine Dramenfigur im Regelfall (Ausnahme ist das Monodrama; vgl. Kap. VI.2) nie allein in der Dramenhandlung. Wie in einem Schachspiel stehen vielmehr einzelne Figuren immer in Beziehungen zu anderen Figuren des Stücks und definieren sich in ihrer Wertigkeit zu diesen. Jedes Figurenensemble ist damit ein System von Korrespondenz- und Kontrastrelationen, innerhalb dessen jeder einzelnen Figur oder Figurengruppe ganz charakteristische Merkmale zukommen. Dieses System bleibt aber während des Dramenverlaufs nicht konstant, sondern verändert sich kontinuierlich. So definiert sich etwa Hamlet in seinem Verhalten gegenüber den anderen Figuren jeweils in anderer Weise. Er ist Sohn gegenüber seiner Mutter, Liebhaber gegenüber Ophelia, Gastgeber für die Schauspieler, Rächer für seinen Vater bzw. dessen Geist, und legitimer Thronfolger gegenüber seinem Onkel Claudius. Darüber hinaus steht Hamlet in Relationen zu den weiteren beiden Rächerfiguren Laertes und Fortinbras: alle rächen den Tod ihres Vaters und reagieren darauf mit jeweils ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen. Im Laufe der historischen Entwicklung von Dramenfiguren lässt sich eine zunehmende Differenzierung und Individualisierung feststellen. In den morality plays des Mittelalters (vgl. auch Kap. X.2) waren noch Personifikationen von Tugenden und Lastern zu sehen, die sich vom damaligen religiös geprägten Weltbild her erklären lassen. Jede Information, die wir über eine dort auftretende Figur erhalten, ist auf ihre moralische Eigenschaft bezogen. Dies beginnt bereits beim Namen, wie humanum genus für die Zentralfigur, Superbia (Hochmut), Stultitia (Dummheit), doch sind auch Rede und Handlungen darauf ausgerichtet, die jeweilige abstrakte Eigenschaft innerhalb des allegorischen Sinnzusammenhangs zu verdeutlichen. Die Menge von Informationen, die diese Figur jeweils definiert, ist also extrem klein: ihr Aussehen, Verhalten und ihre Repliken sind jeweils ganz von der Funktion bestimmt, das Wesen und die Wirkung einer Sünde, eines Lasters oder einer Tugend darzustellen, wie das folgende Beispiel aus Everyman zeigt: die Figur Goods (dt.: „weltliche Güter“) charakterisiert ihr Wesen (hier: „condition“) wie folgt: Goods: Nay, Everyman, I say no; As for a while I was lent thee, A Season thou hadst me in prosperity; My condition is a man’s soul to kill; If I save one, a thousand do I spoll;
1. Figur und Handlung
Weenest thou that I will follow thee? Nay, from this world, not verily. (S. 47) Innerhalb des Personals der mittelalterlichen morality plays nimmt die Vicefigure (dt.: „Lasterfigur“) die zentrale Stellung ein. Diese kommt aus den mittelalterlichen mystery plays (vgl. auch Kap. X.1.), in welchen der Anführer der bösen Mächte, die um die Seele des Menschen kämpfen, der Teufel gewesen war. Als neben den Mysterienspielen die Moralitätenspiele aufkamen, trat im Zuge der Vereinheitlichung des Figurenbestands innerhalb der Gruppe der negativen Figuren an die Stelle des Teufels das Vice als zentrale personifizierte Lasterfigur, der alle anderen Lasterpersonifikationen untergeordnet wurden. Ihre Aufgabe war es, die Zentralfigur von der christlichen Wertehierarchie weg und zum sinnlichen Lebensgenuss hin zu verführen. Dabei verselbständigte sich diese Figur mehr und mehr und ließ sich bald an ganz bestimmten Verhaltensweisen erkennen. Sie übernahm mehr und mehr die Rolle des Intriganten und Manipulators und trat dabei oft kommentierend aus dem Spielgeschehen heraus, indem sie sich an das Publikum wandte, es in ihre Pläne einweihte und zur Bewunderung der eigenen Schauspielkunst aufforderte. Das Vice wurde auch zum Modell für eine Reihe von Dramenfiguren der Frühen Neuzeit, wie Falstaff, Jago oder Richard III (vgl. Weiß, S. 79 f.). Der Typ ist nicht ganz so eindimensional konzipiert wie die Personifikation. Er ist gekennzeichnet von mehr als einer Eigenschaft und muss verstanden werden als die Verkörperung eben ,typischer‘ Verhaltensweisen des Menschen. Betont wird beim Typ das Allgemein-Repräsentative der Figuren wie beim sozialen Typ (Höfling / Bauer / König) oder dem moralisch-psychologischen Typ (Prahler / Geizhals / Melancholiker). Typenfiguren finden sich bevorzugt im Melodrama (vgl. Kap. X.5) und in der satirischen Komödie. Beispiele für Typen, die aus der zeitgenössischen Charakterologie und Sozialtypologie entwickelt wurden, bieten die Dramen Ben Jonsons, die auf der Grundlage der Humoralpathologie entworfen wurden (vgl. Kap. VII.6). Nicht synchron, sondern diachron durch die Geschichte des Dramas hindurch, sind als besondere Ausprägungen des Typs die so genannten stock figures zu verzeichnen. Zu ihnen gehört etwa der miles gloriosus, der eigentlich feige Soldat, der sich mit seinen angeblichen Heldentaten brüstet. Ferner zählen hierzu der geizige Alte, der eifersüchtige alte Liebhaber oder die geschwätzige Amme. Für die Verwendung des Wortes Charakter (von griech.: charactèr = „Griffel, mit dem man etwas einritzt“) auf die menschliche Lebensart war die literarische Tradition der Schrift Charactères von Theophrast, einem Schüler des Aristoteles, maßgeblich. Das Wort ,Charakter‘ bezeichnet nach Asmuth nicht den ganzen Menschen, sondern nur seine geistige Eigenart und deren konstante Merkmale, d. h., die Summe der moralischen und geistigen Qualitäten, die ein Individuum auszeichnet, und damit nicht den augenblicklichen Gemütszustand, was dem entspricht, das Aristoteles – im Gegensatz zu pathos – ethos nannte (vgl. Kap. VII). Ein Charakter bildet sich im Laufe der Zeit heraus, und dies auch in Abhängigkeit von der Gesellschaft. Wie in der lebensweltlichen Realität bestimmen auch im Drama
Vice-Figur
Typ
Stock figures
Charakter
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VI. Figurenanalyse
geistige Eigenschaften, die sich an den vier Kardinaltugenden Klugheit, Tapferkeit, Maßhalten, Gerechtigkeit orientieren, oder körperliche Eigenschaften wie Schönheit, Stärke, Gesundheit, sowie äußere Umstände wie Herkunft Vermögen, Freunde, die Charaktere.
2. Personal
Struktur des Personals
Haupt- und Nebenfiguren
Unter Personal versteht man die Summe der auftretenden Figuren in einem Drama. Dieses kann hinsichtlich von dessen Umfang vom Einpersonenstück (Monodrama) bis hin zum vielfigurigen Stück mit Massenszenen reichen. Zunächst ist die Struktur des Personals abhängig von den jeweils ökonomischen, organisatorischen und architektonischen Gegebenheiten des Theaterwesens, d. h., den finanziellen Mitteln, der Größe des Schauspielerensembles einschließlich der Möglichkeit des doubling (ein Schauspieler verkörpert zwei Charaktere, die nie zur gleichen Zeit auftreten), sowie der Größe der Bühne. Das Kriterium der Selektion (vgl. Kap. III.3) in dramatischen Texten macht im allgemeinen – anders als im Roman – eine panoramische Figurenfülle unmöglich. Dies lässt sich besonders gut illustrieren an Dramatisierungen von Romanen, wie etwa Charles Dickens’ Nicholas Nickelby (1838/39) durch David Edgar im Jahre 1980 (vgl. Schnierer, S. 115–121). Dass auch ein Dramenautor erst die Ökonomie dramatischer Darstellung lernen muss, zeigt das Werk von keinem geringeren als William Shakespeare. Er stellt in einem seiner frühesten Dramen, nämlich der Trilogie Henry VI (1590–92) nicht weniger als 48 Einzelfiguren auf die Bühne (und dazu noch ungezählte Servants, Commoners, Messengers, Soldiers, Attendents, Guards, Townsmen, Neighbours, Petitioners), was Leser und Theaterpublikum an die Grenzen der Überschaubarkeit der Zusammenhänge führt. Seine späteren Stücke zeigen eine deutliche Reduktion des Figurenbestandes. In The Tempest (1611), dem letzten Drama, welches Shakespeare alleine geschrieben haben dürfte, treten nur noch 15 Einzelfiguren, und dazu nur Mariners, sowie Nymphs und Spirits für das Versatzstück der masque im vierten Akt auf. Quantitative Unterschiede Bedingt durch die Prinzipien der Sukzession, Selektion und Transparenz der dramatischen Gattung (vgl. Kap. III.3) muss sich ein Dramenautor bei seinem Textentwurf hinsichtlich der Figurencharakteristik auf das Wesentliche konzentrieren, d. h., er muss seine Figuren scharf konturieren und klar funktionalisieren, damit eine Anzahl von Figuren während einiger Stunden eine Handlung aufbauen kann, der das Publikum zu folgen vermag. Für die Analyse des Figurenbestands eines Dramas muss danach gefragt werden, wie lange einzelne Figuren auf der Bühne präsent sind, bzw. welche Anteil sie am Haupttext haben. Dem entsprechend lassen sich Hauptund Nebenfiguren voneinander abgrenzen. Nebenfiguren lassen sich weiter in Episodenfiguren wie z. B. Geistliche, Schiffsleute, Gastwirte, und Hilfsfiguren wie Vertraute, Amme, Diener) unterdifferenzieren. Nebenfiguren definieren sich vor allem aus ihrem Verhältnis zur Hauptfigur. Sie zeichnen sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie die einzelnen Aspekte des The-
2. Personal
mas und Konfliktes erhellen oder im äußersten Fall dramentechnische Aufgaben wie die Übermittlung einer Nachricht für den Fortgang der Handlung übernehmen. In Dramen, die intertextuell zu anderen Dramen in Bezug stehen, wie z. B. Tom Stoppards Rosencrantz und Guildenstern are Dead (1967), welche auf Hamlet zurückgreift, können aus Nebenfiguren des älteren Texts Hauptfiguren werden, die dem jüngeren Stück den Titel geben und deren Titelcharaktere die profundesten Monologe haben. Durch den Wechsel einer Teilmenge des Personals, die jeweils an einem bestimmten Punkt des Textverlaufs auf der Bühne präsent ist (Konfiguration), wird jeweils eine neue Szene (vgl. Kap. VII.4) konstruiert. Szenen können sich unterscheiden durch die Zahl der beteiligten Figuren und durch ihre zeitliche Dauer. Letztere kann sich über den gesamten Textverlauf hinweg erstrecken wie in Samuel Becketts Happy Days (1961), in dem die beiden Figuren Winnie und Willie das ganze Drama über ununterbrochen auf der Bühne sind. Die Anzahl der am Bühnengeschehen beteiligten Figuren reicht von der leeren Bühne (Null-Konfiguration) bis zur Ensemble-Konfiguration, die wiederum unterschiedlich viele Figuren umfassen kann. Die eher selten realisierte Null-Konfiguration zeigt sich in Becketts Breath (1969): der Zuschauer hört nur noch zwei kurze Schreie, dazwischen ein Einatmen, und das alles auf fast leerer Bühne. Dem entsprechend kann das Drama Breath hier in seiner gesamten Länge wiedergegeben werden: Curtain. 1. Fain light on stage littered with miscellaneous rubbish. Hold about five seconds. 2. Fain brief cry and immediately inspiration and slow increase of light together reaching maximum together in about ten seconds. Silence and hold about five seconds. 3. Expiration and slow decrease of light together reaching minimum together (light as in 1) in about ten seconds and immediately cry as before. Silence and hold about five seconds. Curtain. Rubbish. No verticals, all scattered and lying. Cry Instant or recorded vagitus. Important that two cries be identical, swithing on and off strictly synchronized light and breath. Breath Amplified recording. Maximum Light: Not bright. If 0 = dark and 10 = bright, light should move from about 3 to 6 and back. Gewissermaßen eine ,Steigerung’ der Null-Konfiguration bietet das Einpersonenstück (Monodrama), welches von einem Charakter getragen wird. Ein komplexe Potenzierung des Monodramas bietet Anna Deavere Smith’s Fires in the Mirror: Crown Heights, Brooklin and Other Identities (1993), in dem die Autorin als Schauspielerin in unterschiedlichen Szenen verschiedene Figuren verkörpert, die wiederum das gleiche Erlebnis aus ihrer jeweils eigenen Perspektive kommentieren. Ein Beispiel für eine weitere ,Steigerung’, d. h., ein Zweipersonenstück, wäre etwa David Mamet’s Oleanna (1992).
Beispiel: Samuel Beckett, Breath
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VI. Figurenanalyse
Personal der Restaurationskomödie
Konkomitante Figuren Szenisch alternative Figuren
Szenisch dominante Figuren
Qualitative Unterschiede Die qualitativen Unterschiede des dramatischen Personals sind wiederum abhängig von der Größe des Figurenensembles (s. o.). Bei einem kleinen Figurenensemble sind Unterschiede zwischen Haupt- und Nebenfiguren nicht leicht zu treffen, da hier jeder Figur eine größere Bedeutung zukommt. Eine Differenzierung kann man danach vornehmen, dass eine Hauptfigur häufiger auftritt, eine umfangreichere Rolle hat und zu sehr viel mehr Personen in ein Verhältnis tritt. In figurenreichen Dramen jedoch empfehlen sich die qualitativen Kontrast- und Korrespondenzrelationen, wie es Pfister am Beispiel der englischen Komödie der Restaurationszeit aufzeigt (vgl. S. 227–232). Das Personal eines Dramas lässt sich danach strukturieren durch die überhistorisch relevanten Differenzmerkmale des Geschlechts (gender), der Generationszugehörigkeit oder des sozialen Standes. Dazu kommen Differenzmerkmale von eher historischer Relevanz: so finden sich in der Restaurationskomödie die Differenzkriterien town versus country, nature versus affectation, welches sich im Drama darstellt als Gegensatz von wit und nonwit. Wit hat eine Figur, wenn sie fancy und judgement, also imaginativen Einfallsreichtum und Urteilskraft, verbindet und dabei zudem die flexiblen und komplexen Regeln des urbanen decorum beachtet. Gegen diese positive Norm verstoßen die non-wit-Figuren, die witless sind, oder in ihrer affektierten Pose für witzig gehalten werden wollen (wit-would). In sexuellen Dingen stehen die libertines, die Sexualität als Triebbefriedigung und Gesellschaftsspiel ansehen, in Opposition zu den hypocrites, die ihre Lust heuchlerisch hinter tugendhaften Masken verbergen. Schließlich führt die Opposition von nature und affectation im Bereich der Mode und der Etikette zur Kontrastierung natürlicher und spielerischer Eleganz mit der affektierten Künstlichkeit eines eitlen Modegecks (fop). Innerhalb des dramatischen Figurenpersonals lassen sich einige spezifische qualitative Unterscheidungen festhalten. So gibt es Figuren, die immer gemeinsam auf- und abtreten wie Rosencrantz und Guildenstern in Hamlet. Solche konkomitanten Figuren finden sich auch häufig in absurden Dramen, wie etwas Becketts Happy Days (vgl. auch Kap. X.6). Dagegen sind szenisch alternative Figuren, also Figuren, die immer in unterschiedlichen Szenen auftreten, entsprechend nie gemeinsam an einer Konfiguration beteiligt. Dies spielt bei Verwechslungs- oder Doppelgängerkomödien eine große Rolle. So müssen etwa in The Comedy of Errors zwei Zwillingspaare jeweils szenisch alternativ auftreten, um die Handlung überhaupt zu ermöglichen. Szenisch dominanten Figuren sind nicht nur – wie auch konkomitante Figuren – beteiligt an jeder der Konfigurationen mit einer bestimmten anderen Figur, sondern auch noch an weitern Konfigurationen.
3. Figurenkonzeption Bei der Analyse eines Dramas genügt es auf der Ebene der Figurencharakteristik nicht, Figuren nach quantitativen und qualitativen Merkmalen zu gruppieren, sondern auch, Fragen nach den anthropologischen Modellen, nach denen diese Figuren in den dramatischen Texten entworfen sind, zu
3. Figurenkonzeption
stellen. Eine statisch konzipierte Figur verändert sich aufgrund ihrer biologischen, psychologischen oder sozialen Determination während des ganzen Stücks nicht, was häufiger in Komödien der Fall ist. Dagegen entwickeln sich dynamische Figuren über den Textverlauf hinweg, d. h., die Figuren finden zu neuen Einsichten und Haltungen, was häufiger in Tragödien zu verzeichnen ist. In Anlehnung an E. M. Forsters Definitionen in Aspects of the Novel wird auch im Drama zwischen flat und round characters, also ein- und mehrdimensionalen Charakteren, unterschieden. Erstere sind definiert durch einen kleinen Satz von Merkmalen, im äußersten Fall sind sie reduziert bis zur Karikatur, die auf eine einzige Verhaltensweise festgelegt ist. Eine mehrdimensionale Figur wird dagegen durch einen komplexen Satz von Merkmalen definiert. Dies kann sich auf ihren biographischen Hintergrund oder ihre psychische Disposition erstrecken, oder auch ihr zwischenmenschliches Verhalten unterschiedlichen Figuren gegenüber, sowie ihre Reaktion auf unterschiedlichste Situationen betreffen. Je nach Figurenkonstellation und Handlungszusammenhang lässt eine solche Figur immer wieder neue Facetten ihres Wesens aufscheinen und wird auch von anderen Dramenfiguren unterschiedlich bewertet. So zeigt sich eine komplexe Charakterisierung, wenn eine Person verschiedene Handlungen ausführt, die sich normalerweise ausschließen würden. Wenn Hamlet z. B. im dritten Akt seinen Monolog „to be or not to be“ spricht, würde man kaum erwarten, dass er kurz darauf Ophelia „get thee to a nunnery“ empfiehlt. Etwas später wiederum steht er mit gezücktem Schwert hinter dem betenden Claudius, ohne jedoch zuzustoßen. In der nächsten Szene stößt er freilich sein Schwert gegen den sich bewegenden Vorhang und tötet damit den unschuldigen Polonius. Mit den Totengräbern philosophiert er über den Spaßmacher Yorrick, den Tod von Rosencrantz und Guildenstern nimmt er billigend in Kauf. In der emotionalen Komplexität dieser Figur wird die Mehrdimensionalität der Charakterzeichnung in der Tragödie geradezu exemplarisch offenbar. Die Charakteristik von Figuren im Drama kann auch je nach Handlungsentwurf (vgl. Kap. VII) mehr oder weniger in sich geschlossen sein. Bei einer geschlossenen Figurenkonzeption wird eine Figur durch einen bestimmten Satz explizit gegebener Informationen möglichst umfassend definiert. So werden z. B. in Tennessee Williams’ A Streetcar named Desire die Charaktere von Stanley und Stella in ihren Grundzügen – mit Hilfe des Nebentextes – wie folgt charakterisiert: (Two men come around the corner, Stanley Kowalski and Mitch. They are about twenty-eight or thirty years old, roughly dressed in blue denim work clothes. Stanley carries his bowling jacket and a red-stained packet from the butcher’s. They stop at the foot of the steps.) Stanley (bellowing): Hey there! Stella, baby! (Stella comes out on the first floor landing, a gentle young woman of about twenty-five, and of a background obviously quite different from her husband’s.) Stella (mildly): Don’t holler at me like that. Hi Mitch. Stanley: Catch! Stella: What? Stanley: Meat!
Statisch versus dynamisch
Eindimensional versus mehrdimensional
Beispiel: Hamlet
Geschlossen versus offen
Beispiel: Tennessee Williams, A Streetcar named Desire
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VI. Figurenanalyse
He heaves the package at her. She cries out in protest but manages to catch it; then she laughs breathlessly…)
Beispiel: John Osborne, Look Back in Anger
Offene Figurenkonzeption
Stanley erweist sich mit seinen „working clothes“ dem „bowling jacket“, dem mit Blut befleckten Paket Fleisch, und seiner Art mit seiner Frau zu sprechen („bellowing“) und zu handeln („he heaves the package at her“) als eine eher grobschlächtig angelegte Figur, die schon in den ersten Zeilen so ganz im Gegensatz zu seiner Frau steht („obviously quite different“). Als deren erste Eigenschaft erfährt der Leser „gentle“, sie spricht „mildly“, „cries out in protest“ und „laughs breathlessly“ über das Handeln ihres Mannes. Dieser hier anfangs des Dramas jeweils für die beiden Figuren gegebene Satz an Informationen wird die Handlung des Dramas prägen. Aus der britischen Literatur wäre hier als Beispiel John Osbornes Look Back in Anger (1956) zu nennen, in dem das Ehepaar Alison und Jimmy ebenso zu Beginn des Dramas in ganz unterschiedlicher Weise charakterisiert wird: er als der frustrierte gescheiterte Akademiker, der gegen die Gesellschaft rebelliert, und sie als die ruhige und um Ausgleich bemühte Ehefrau aus besserem Hause, die am Bügelbrett steht: Jimmy: I said do the papers make you feel you’re not so brilliant after all? Alison: Oh, I haven’t read them yet. Jimmy: I didn’t ask you that. I said – Cliff: Leave the poor girlie alone. She’s busy. Jimmy: Well, she can talk, can’t she? You can talk, can’t you? You can express an opinion. Or does the White Woman’s Burden make it impossible to think? Alison: I am sorry, I wasn’t listening properly. Jimmy: I bet you weren’t listening. Old Porter talks, and everyone turns over and goes to sleep. And Mrs Porter gets ’em all going with the first yawn. Cliff: Leave her alone, I said. Jimmy (shouting): All right, dear. Go back to sleep. It was only me talking. You know? Talking? Remember? I’m sorry. Cliff: Stop yelling, I’m trying to read. (S. 6 f.) Bei der offenen Figurenkonzeption dagegen ist eine Dramenfigur für den Rezipienten kaum einheitlich fassbar, da relevante Informationen ausgespart sein, oder auch Widersprüche zwischen den einzelnen Informationen auftreten können. So ist das auffälligste Merkmal der Figuren Harold Pinters, wie etwa Stanley in The Birthday Party (1959), die konsequente Verweigerung jeglicher Auskunft über ihr Vorleben, Herkunft, Vorgeschichte, Motivation, die erklärend wirken könnte für das gegenwärtige Geschehen und die kommenden Ereignisse. Wenn Stanley zu Beginn des Dramas beim Frühstück die Frage stellt: „Tell me, Mrs. Boles, when you address yourself to me, do you ever ask yourself who you exactly you are talking to? Eh?“, bleiben diese hier aufgerufenen Informationserwartungen des Zuschauers unerfüllt. Er erfährt nicht, mit wem sich Mrs. Boles denn eigentlich unterhält. Die gestellte Frage bleibt im Text folgenlos, da Stanley sich nur durch das beschreiben lässt, was er nicht ist.
4. Charakterisierungstechniken
Eine extreme Ausprägung offener Figurencharakteristik zeigt sich in Becketts Play (1962/63). Das Drama beginnt mit folgendem Nebentext:
Beispiel: Samuel Beckett, Play
Front centre, touching one another, three identical grey urns about one yard high. From each a head protrudes, the neck held firm in the urn’s mouth. The heads are those, from left to right, as seen from auditorium, of W2, M and W1. They face undeviatingly front throughout the play. Faces so lost to age and aspect as to seem almost part of urns. But no masks. Their speech is provoked by a spotlight projected on faces alone. The transfer from of light from one face to another is immediate. No blackout, i. e., return to almost complete darkness of opening, except where indicated. The response to light is immediate. Faces impassive throughout. Voices toneless except where an expression is indicated. Rapid tempo throughout. The curtain raises on a stage in almost complete darkness. Urns just discernable. Five seconds. Faint spots simultaneously on three faces. Three seconds. Voices faint, largely unintelligible. Als ,Figuren‘ begegnen uns also hier graue Urnen, aus denen jeweils ein Kopf herausragt, und die nur noch mit den – auch grafisch komplementär – verkürzten Geschlechtsangaben „W“ und „M“ charakterisiert sind. Ihre Gesichter bleiben ausdruckslos das Stück hindurch, ihre Stimmen sind kaum hörbar („toneless voices“). Nur dann, wenn der Scheinwerfer diese Figuren trifft, beginnen sie einzeln oder zusammen zu sprechen. Becketts Play zeigt damit die äußerste Reduktion einer offenen Personencharakteristik. Solche ,Figuren‘ ermöglichen keine Identifizierung mehr. Sie sind namenlos und haben längst die Beweglichkeit, Handlungsfähigkeit und Verständigungsmöglichkeit verloren, die Dramenfiguren üblicherweise auszeichnen. Diese ,Figuren‘ sind reduziert auf erstarrte Köpfe mit tonlosen Stimmen, die nur noch mit ihrem Bewusstsein reagieren. Der Rest ist abgestorben, Urneninhalt.
4. Charakterisierungstechniken Grundsätzlich lassen sich zwei Arten der Figurencharakteristik unterscheiden: im inneren Kommunikationssystem des Dramas charakterisieren die Figuren sich selbst oder einander, im äußeren Kommunikationssystem ist dem Autor die Möglichkeit gegeben, mittels des Nebentextes die Figuren mit bestimmten Charakterzügen auszustatten. Wenn sich im inneren Kommunikationssystem des Dramas die Figuren sprachlich artikulieren, charakterisieren sie sich damit selbst oder auch andere Figuren. Wenn dies dazu für den Zuschauer klar markiert ist, spricht man von explizit-figuralen Charakterisierungstechniken. So charakterisiert sich eine Figur etwa selbst durch einen Eigenkommentar, welcher wiederum monologisch oder dialogisch gegeben werden kann. Bei der Analyse ist bei Eigenkommentar immer zu achten auf
Explizit-figural
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VI. Figurenanalyse
Lob- und Tadelreden
Beispiel: Henry V
den Grad der Objektivität der Eigendarstellung, d. h., auf strategische Absichten oder eine gewisse Partnertaktik, die eine Figur ihrem Dialogpartner gegenüber verfolgt. Eine Figur wird durch andere Figuren charakterisiert, wenn sich letztere über erstere äußern, wobei dieser Fremdkommentar ebenfalls monologisch oder dialogisch erfolgen kann. Bei der Analyse muss darauf geachtet werden, ob die fremdkommentierte Figur in der betreffenden Szene an- oder abwesend ist, da dies wieder partnertaktische Verzerrungen mit sich bringen könnte. Besonders verzerrend wirkt sich aus, wenn der Fremdkommentar vor dem ersten Auftritt der kommentierten Figur erfolgt, wo es dem Zuschauer noch nicht möglich ist, diese Information des Kommentators durch Eigenäußerungen der betroffenen Figur zu relativieren (vgl. das Beispiel aus Othello in Kap. IV). Naturgemäß können Fremdkommentare Lob- oder Tadelreden sein. Ein Beispiel für eine Lobrede wäre die der beiden Prälaten, denen zu Beginn von Shakespeares Henry V die direkte Charakterisierung des Königs zukommt. Der Erzbischof von Canterbury und der Bischof von Ely sprechen – in Abwesenheit des Königs – als Partei in einer Streitsache. Es geht für sie um die Abwendung einer drohenden Einziehung von Kirchengütern. Ihre Zuversicht, dass der König ein gerechtes Urteil fällen und frommes Wohlwollen für die Kirche über materielle Interessen des Hofes stellen wird, gründet auf der Verwandlung des wilden Kronprinzen in einen König „full of grace and fair regard / A true lover of the Holy Church“ (1.1.23 f.): Canterbury: The breath no sooner left his father’s body But that his wilderness, mortified in him, Seem’d to die to; Yea, at that very moment, Consideration like an angel came, And whipp’d th’offending Adam out of him, Leaving his body as a paradise, T’envelop and contain celestial spirits. Never was such a sudden scholar made; Never came reformation in a flood, With such a heady currence scouring faults: Nor never Hydra-headed wilfulness So soon did lose his seat – and all at once – As in this king. Ely: We are blessed in the change. (1.1.26–39)
Beispiel: Twelfth Night
Implizit-figurale Figurencharakteristik
Als Beispiel für eine Tadelrede kann dienen eine Szene aus Twelfth Night, in der die Herrin Olivia ihren Haus- und Hofmeister Malvolio zurechtweist: Olivia: You are sick of self-love, Malvolio, and taste With a distempered appetite. To be generous, guiltless, And of free disposition, it is to take those things for bird-bolts That you deem canon-bullets. (1.1.23–26) Im Unterschied zu den explizit-figuralen Charakterisierungstechniken sind die implizit-figuralen Techniken nur zum Teil verbal, da sich eine Figur ja nicht nur durch die Art und Weise ihres Sprechens, sondern auch außersprachlich durch ihr Verhalten und die ihr auf der Bühne zur Verfügung stehenden Codes (vgl. Kap. II) selbst darstellt. Die implizit-figurale Figurencha-
4. Charakterisierungstechniken
rakteristik erfolgt während des gesamten Dramenverlaufs nicht nur durch Sprechbeiträge, sondern auch durch Handlungen von Figuren, welche sukzessive die Informationen über eine bestimmte – mehrdimensionale – Figur erweitern oder den ersten Eindruck einer – typisierten – Figur verstärken. Neben den handelnden Figuren im inneren Kommunikationssystem des Dramas hat auch der Autor außerhalb dessen die Möglichkeit, im Nebentext eine Reihe von expliziten und impliziten Hilfen zur Figurencharakteristik zu geben, z. B. in einem einführenden Kommentar im Nebentext in der Form eines character sketch, wie es John Osborne in Look Back in Anger (1956) mit seinem Charakter Jimmy vornimmt: Jimmy is a tall, thin, young man about twenty-five, waring a very worn tweed jacket and flannels. Clouds of smoke fill the room from the pipe he is smoking. He is a disconcerting mixture of sincerity and cheerful malice, of tenderness and freebooting cruelty; restless, importunate, full of pride, a combination which alienates the sensitive and insensitive alike. Blistering honesty, like his, makes few friends. To many he may seem sensitive to the point of vulgarity. To others, he is simply a loudmouth. To be as vehement as he is, is to be almost non-committal. Als weitere Technik explizit-auktorialer Figurencharakteristik ist die Verwendung sprechender Namen zu verzeichnen wie in der Restaurationskomödie oder in den Dramen Ben Jonsons (vgl. Kap. IV). Zu den implizit-auktorialen Techniken der Figurencharakteristik gehören zum einen interpretive names, d. h., Namen, die realistisch plausibel sind, aber auch einen charakterisierenden Bezug auf die Figur haben, der dem Rezipienten aber auch entgehen könnte. Als Beispiel bietet sich hier Falstaff an, dessen „fallender Stab“ dem aufmerksamen Zuschauer nicht als Zusatzbedeutung verloren gehen sollte. Implizit-auktoriale Figurencharakteristik wird vor allem dann eingesetzt, um Korrespondenz- und Kontrastrelationen innerhalb der handelnden Figuren eines Dramas aufzuzeigen. So ist beispielsweise in King Lear der Leidensweg des Herzogs von Gloucester mit dem des Königs parallel angelegt. Auch können Figuren entweder gleichzeitig oder nacheinander mit einer ähnlichen Situation konfrontiert werden, um durch ihre unterschiedlichen Reaktionen auf diese miteinander kontrastiert und jeweils individualisiert zu werden. So verhalten sich in Richard II der König und sein Gegenspieler Bolingbroke ganz unterschiedlich, wenn sie beide eine Verschwörung aufdecken (Akte 1 und 4). Da sich König Richard im Umgang mit den Schuldigen als wankelmütig und unentschlossen erweist, zeigt sich sein Gegner Bolingbroke umso offensichtlicher entschlossen und tatkräftig. Wenn in Richard III in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht von Bosworth die beiden Zelte von König Richard und dessen Gegenspieler Richmond gleichzeitig auf der Bühne gezeigt werden, haben beide jeweils eine Traumvision (Korrespondenzrelation). Beiden erscheinen Figuren im Traum, auf welche die Schlafenden ganz unterschiedlich reagieren (Kontrastrelation).
Explizit-auktoriale Figurencharakteristik
Beispiel: John Osborne, Look Back in Anger
Implizit-auktoriale Figurencharakteristik
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VII. Handlungsentwürfe
Inhalt des Kapitels
Handlung im Drama ist ein Kontinuum von Aktionen, dem ein bestimmter Plan zugrunde liegt. Jedes Handeln auf der Bühne ist Ausdruck eines Arrangements, das der Autor in seinem Text entworfen hat und das der Regisseur mit seiner Inszenierung in die Bühnenwirklichkeit umsetzt. Im Bereich der Handlungsentwürfe verwenden Literaturwissenschaftler Termini, welche in der lebensweltlichen Realität gemeinhin eine andere Bedeutung haben, und die daher in Kap. VII.1 für unseren Zusammenhang vorab erhellt werden müssen. Da ein Dramentext für die Präsentation auf der Bühne geschrieben ist, gibt es im Bereich der Handlungsentwürfe einzelne Restriktionen (Kap. VII.2). Die Gesamtheit der Handlung beruht meist auf der Kombination mehrerer Handlungs- und Geschehnissequenzen, die entweder einander beigeordnet oder einander über- und untergeordnet sein können (Kap. VII.3). Im Dramentext ist die Ebene der dargestellten Geschichte nach semantisch-logischen Kriterien gegliedert, auf dem Theater erfolgt die Gliederung durch einen Konfigurationswechsel, ein Durchbrechen der raum- zeitlichen Kontinuität oder durch Signale wie Vorgang oder Pausen. Als die historisch wichtigsten Segmentierungsprinzipien werden zudem Auftritt, Szene und Akt behandelt (Kap. VII.4). Hinsichtlich ihres Handlungsaufbaus lassen sich Dramen der ,geschlossenen‘ oder der ,offenen‘ Form zuordnen, welche es in Kap. VII.5 zu erläutern gilt. Besondere Beachtung verdienen in Kap. VII.6 die Untergattungen ,Tragödie‘ und ,Komödie‘, die Begriffe ,tragisch‘ und ,komisch‘, sowie a-historische und historische Ausprägungen dieser beiden Untergattungen.
1. Begriffsabgrenzungen Geschichte / story
Fabel / plot
Manfred Pfister sieht für die Verwendung des Begriffs ,Geschichte‘ im Zusammenhang mit dem Handlungsentwurf eines Dramas drei Elemente als konstitutiv an: ein menschliches Subjekt, die temporale Dimension der Zeiterstreckung und eine spatiale Dimension der Raumausdehnung (vgl. S. 265). Durch diese Kriterien unterscheiden sich dramatische (und auch narrative) Texte von argumentativen Texten wie Essay, Traktat, oder Predigt und auch von deskriptiven, also beschreibenden, Texten wie einer Topographie. ,Geschichte‘ ereignet sich auf der Handlungsebene eines Dramas, weshalb verschiedenen dramatischen Texten ein und die selbe Geschichte zugrunde liegen oder diese eine Geschichte in verschiedenen Medien präsentiert werden kann (z. B. Drama Taming of the Shrew / Musical Kiss me, Kate; Drama Romeo and Juliet / Musical Westside Story). ,Geschichte‘ ist demnach die stoffliche Gegebenheit der im Drama gestalteten Ereignisse mit einem rein chronologisch geordneten Nacheinander der Ereignisse und Vorgänge. Im Englischen wird dieser allein der time-sequence folgende Ablauf von Vorgängen mit story bezeichnet. Von der ,Geschichte‘ (story) ist die
1. Begriffsabgrenzungen
,Fabel‘ eines dramatischen Handlungsentwurfs abzugrenzen. Anders als bei der ,Geschichte‘, in der es um ein chronologisches Nacheinander der Ereignisse geht, sind für die ,Fabel‘ nach Pfister „kausale und andere sinnstiftende Relationierungen, Phasenbildung, zeitliche und räumliche Umgruppierungen usw.“ (S. 266) konstitutiv. Diesem Terminus entspricht in der angelsächsischen Forschung die Bezeichnung plot. Ein plot wird im Unterschied zur story also zusätzlich von causality bestimmt. Ein anschauliches Beispiel für den Unterschied von story und plot haben wir E. M. Forster in Aspects of the Novel zu verdanken: „,The King died and then the Queen’ is a story. ,The King died and then the Queen died of grief’ is a plot.“ Ein plot kündigt schon von seiner Grundbedeutung „Plan eines Grundstücks“, „Grundriss“, „Diagramm“ her einen Strukturbegriff an und verrät damit ein Gerüst, welches jedem einzelnen Ereignis im Drama seinen Platz im Ablauf des Geschehens zuweist. So ist in dem zitierten Beispiel nach dem Tod des Königs die Trauer der Königin der Grund für deren Tod. Der aristotelische Begriff mythos (vgl. dessen Poetik, Kap. VII) hatte sowohl plot wie auch story umfasst, wenn er die Tragödie als „Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung“ (S. 33) bezeichnet und als „ganz“ definiert, „was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes natürlicherweise wird oder entsteht. Ende umgekehrt ist, was selbst natürlicherweise aus anderem wird oder entsteht, aus Notwendigkeit, oder in der Regel, ohne daß aus ihm etwas weiteres mehr entsteht. Mitte endlich, was nach anderem und vor anderem ist. Es dürfen also Handlungen, die gut aufgebaut sein sollen, weder an einem beliebigen Punkte beginnen noch an einem beliebigen Punkte aufhören, sondern müssen sich an die angegebenen Prinzipien halten.“ (S. 33 f.). Wenn Aristoteles also der Dramenhandlung eine bestimmte Länge mit Anfang und Ende vorschreibt, so verlangt er zum einen, dass sie begrenzt ist. Wenn er zum anderen Anfang, Ende und Mitte als unverrückbare Stellen ansieht, so lässt sich hieraus weiter folgern, dass die Handlung linear in einer Richtung fortzuschreiten hat und dass ihr Verlauf nicht umkehrbar ist (was Forster als story bezeichnet hat). Dass das Verhältnis von Anfang, Mitte und Ende aber nicht nur ein Verhältnis chronologischer Abfolge, sondern auch der Kausalität sein soll (was Forster als plot bezeichnet hat), geht daraus hervor, dass bei Aristoteles alles Folgende „aus dem Voraufgegangenen entweder mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit“, hervorgehen müsse, da es ein großer Unterschied sei, „ob ein Ereignis durch ein anderes erfolgt oder bloß nach einem anderen.“ (S. 38). Von ,Geschichte‘ (story) und ,Fabel‘ (plot) muss zusätzlich noch der Begriff der ,Handlung‘ abgegrenzt werden. Hier muss wiederum unterschieden werden zwischen der Handlung einer einzelnen Figur in einer bestimmten Situation und dem übergreifenden Handlungszusammenhang des ganzen Dramas. Zur besseren Unterscheidung wird nur ersteres als ,Handlung‘, Letzteres als ,Handlungssequenz‘ – welche sich noch weiter in ,Handlungsphasen‘ untergliedern lässt – bezeichnet. Im Unterschied zur ,Geschichte‘ sind für die ,Handlung‘ eine deutlich markierte Ausgangssituation, der Veränderungsversuch und die veränderte Situation konstitutiv. Nach Juri Lotman steht im Zentrum der Dramenhandlung immer ein Subjekt, oft die Titelfigur, welche eine Veränderung der be-
Aristoteles’ mythos
Handlung
Handlungsbegriff Juri Lotmans
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VII. Handlungsentwürfe
stehenden Situation anstrebt, und ihr widersetzt sich ein Opponent. Überschreitet das Subjekt eine semantische Grenze wie etwa die bestehenden moralischen Werte anderer Figuren, so gerät durch diese Tat die bestehende Ordnung in Gefahr. Gelingt letztlich die Handlungsabsicht des Subjekts und die Ordnung wird wiederhergestellt, so handelt es sich um eine Komödie (vgl. Kap. VII.6). Misslingt diese beabsichtigte Situationsveränderung, handelt es sich um eine Tragödie (vgl. Kap. VII.6). ,Handlung‘ unterscheidet sich also durch eine zielgerichtete, absichtsvolle Wahl für eine Situationsveränderung von den Bestandteilen von ,Geschichte‘.
2. Präsentation der Geschichte
Techniken der Präsentation
Botenbericht Mauerschau
Bedingt durch die dramenspezifischen Prinzipien der Sukzession, Selektion und Transparenz (vgl. Kap. III.3) unterliegt die ,Geschichte‘ eines Dramas bestimmten Notwendigkeiten. So verbietet die Präsentation eines Dramas auf der Bühne üblicherweise Rückblenden wie sie in Romanen oder auch in Filmen (vgl. Kap. XI) auftreten können. Wo narrative Texte größere Abschnitte umstellen oder die Geschichte in mehrere Handlungsphasen auffächern und verzweigen können, haben Durchbrechungen der Sukzession stets eine Episierung im Drama (vgl. Kap. IV.5) zur Folge. Weitere Restriktionen erfährt das Drama auf der Bühne noch durch bühnentechnische und gesellschaftliche Restriktionen. So war es bis etwa in die Mitte der 90er Jahre im Rahmen des decorum, der Norm des Schicklichen, üblicherweise kaum möglich, Szenen von außergewöhnlicher Brutalität und Unappetitlichkeit, oder sexuelle Handlungen auf die Bühne zu bringen. Wenn auch heute vieles auf der Bühne möglich ist, so gibt es doch immer noch Einschränkungen dessen, was auf auf der Bühne szenisch präsentiert werden kann und daher narrativ vermittelt werden muss. Diese narrative Präsentation verdeckter Handlung ist ausschließlich sprachlicher Natur und stets figurenperspektivisch gebrochen, da das Denken und Fühlen des Berichterstatters den Bericht prägt. Trotz dieser Einschränkungen stellt sie ein wichtiges Mittel der dramatischen Ökonomie dar, wie etwa bei einer narrativ vermittelten Exposition (vgl. Kap. IV.6). Auch können narrative Passagen einzelne Phasen der Geschichte hervorheben oder Spannung erwecken, indem sie die Phantasie des Zuschauers in Gang setzen, sich das Nicht-Gezeigte bildlich vorzustellen. Eine narrativ vermittelte Phase der Geschichte kann zeitlich versetzt, d. h., noch vor oder nach dem point of attack liegend, oder simultan zur narrativen Vermittlung selbst erfolgen. Als vor dem point of attack liegend wurde bereits auf die Expositionserzählung verwiesen (vgl. Kap. IV.6). Nach dem point of attack liegen die narrativen Techniken des Botenberichts, der den Zuschauer über ausgesparte Zeiträume und Handlungen informiert. Simultan zur vermittelten Phase der Geschichte erfolgt die so genannte Mauerschau (Teichoskopie), bei der das, was berichtet wird, im unmittelbaren off-stage, also dem Bereich hinter der Bühne, den der Zuschauer nicht einsehen kann, angesiedelt ist. Der Sprecher schildert hier ein Ereignis, von dem er vorgibt, dass dieses im Moment seines Sprechens in einem Raum jenseits der Bühne abläuft. Er übernimmt also – ermöglicht etwa durch
2. Präsentation der Geschichte
einen erhöhten Standpunkt – die verbale Vermittlung dessen, was der Zuschauer oder auch andere Figuren auf der Bühne nicht sehen können, wie etwas ein Schlachtgetümmel, eine Hinrichtung, eine Geburt etc. Je nach den Typen des Theaterbaus (vgl. Kap. II.1.) fanden diese Notwendigkeiten narrativer Handlungsvermittlung unterschiedliche Berücksichtigung. In antik-griechischen Tragödien kam der Zuschauer, der auf Sensationen aus war, nicht zuletzt aufgrund der Bühnengegebenheiten am wenigsten auf seine Kosten. Die Texte handeln zwar von einer Fülle von grausamen Taten wie den folgenden: Orest ermordet seine Mutter Klytemnaistra und anschließend ihren Gatten Aigisthos. Der wegen seiner Schuld verzweifelte König Oidipos blendet sich, indem er von Jokastes Kleid die goldenen Spangen abreißt und sich in beide Augen stößt, Jokaste selber erhängt sich über ihrem Bett. All diese Szenen geschehen jedoch hinter der Bühne. Auf der Bühne selbst beherrschen Planung und List, Intrige und Sorge, Diskussion und Verhör die Handlungen. Man bekommt als Zuschauer die Wirkungen, sieht aber nie eine Tat. Man erlebt Reaktionen, wird aber keinesfalls zum Zeugen einer grausamen Handlung. Auch auf der illusionsarmen Bühne der Frühen Neuzeit in England musste vieles, was mit den damaligen technischen Mitteln nicht umgesetzt werden konnte, über das Wort vermittelt werden. Dass die Technik narrativer Vermittlung keine bloße Ersatzfunktion und im Vergleich zur szenischen Präsentation keineswegs einen geringeren Wirkungsgrad besitzt, zeigt z. B. in Antony and Cleopatra Enobarbus’ Beschreibung des ersten Zusammentreffens zwischen den beiden Titelfiguren, was hier seiner Eindrücklichkeit halber in der ganzen Länge zitiert sein soll. Es spricht der Diener des Antonius, Enobarbus, zu Agrippa: Enobarbus: I will tell you. The barge she sat in, like a burnished throne Burned on the water. The poop was beaten gold; Purple the sails, and so perfumed that The winds were love-sick with them. The oars were silver, Which to the tune of flutes kept stroke, and made The water which they beat to follow faster, As amorous of their strokes. She did lie In her pavilion – cloth of gold, of tissue – O’er-picturing that Venus where we see The fancy outwork nature. On each side her, Stood pretty dimpled boys, like smiling Cupids, With divers-coloured fans whose wind did seem To glow the delicate cheeks which they did cool, And what they undid did. Agrippa: O, rare for Antony. Enobarbus: Her gentlewomen, like the Nereides, So many mermaids, tended her i’ th’ eyes, And made their bends adornings. At the helm A seeming mermaid steers. The silken tackle Swell with the touches of those flower-soft hands
Historische Streuung dieser Techniken
ST: Beispiel: Antony and Cleopatra
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VII. Handlungsentwürfe
That yarely frame the office. From the barge A strange invisible perfum hits the sense Of the adjacent wharfs. The city cast Her people out upon her, and Antony, Enthroned i’ th’ market-place, did sit alone, Whistling to th’ air, which but for vacancy Had gone to gaze on Cleopatra too, And made a gap in nature. Agrippa: Rare Egyptian! (2.2.194–225) Auch wenn man sich mit den Mitteln, die das moderne Theater bietet, bemühen würde, in einer szenischen Umsetzung dieser Schilderung auf der Bühne jedes Detail zu berücksichtigen, bliebe immer Shakespeares evokative Sprachkunst der Bühnendarstellung überlegen. Wie etwa könnte man ein „strange invisible perfume“ umsetzen?
3. Kombination von Sequenzen Die Gesamtheit der Handlung beruht meist auf der Kombination mehrerer Handlungs- und Geschehnissequenzen. Diese kombinierten Sequenzen können entweder einander beigeordnet oder einander über- und untergeordnet sein.
Verknüpfung beigeordneter Sequenzen
Beiordnung von Sequenzen Handlungssequenzen können durch das Prinzip des Nebeneinander (Idealform: völlige zeitliche Deckung der kombinierten Sequenzen) oder des Nacheinander (Idealform: völlige zeitliche Versetzung) einander beigeordnet sein. Freilich überwiegen Zwischenformen mit partieller Überschneidung. Ein Nacheinander zeigt sich insbesondere in Romanzenstrukturen mit der Reihung von Abenteuern einer Zentralfigur, wie beispielsweise in Pericles, ein Nebeneinander etwa in King Lear im Lear- und Gloucesterplot. Dabei sind diese Sequenzen entweder quantitativ und funktional gleichwertig (zwei ,Haupthandlungen‘ wie im King Lear) oder hierarchisch abgestuft (,Haupt‘- und ,Nebenhandlung‘, plot und subplot, wobei diese wechselseitige funktionalisiert sind. Als Beispiele für letzteres wären zu nennen in As You Like It die Handlung um Touchstone und Audrey oder die Handlung im Irrenhaus in Thomas Middletons The Changeling (1622). Die häufigste Verknüpfungstechnik beigeordneter Sequenzen ist die so genannte Handlungs- oder Geschehnisinterferenz, d. h., eine Handlung in einer Sequenz löst gleichzeitig eine Handlung in einer anderen Sequenz aus, zwei Sequenzen ,überkreuzen‘ sich gewissermaßen. Eine weitere Verknüpfungstechnik ist die Überschneidung der Figurenkonstellationen: Figuren der einen Sequenz treten auch in der anderen auf. Auch gemeinsame Motive oder übereinstimmende Metaphorik zwischen zwei Handlungssträngen können diese verknüpfen, so im King Lear die Metaphorik von Erkenntnis und Wahnsinn, wenn Lear im Wahnsinn die Erkenntnis über seine Identität erlangt, sowie von Sehen und Blindheit, wenn Gloucester als Blinder die eigentlichen Gegebenheiten zu sehen lernt.
3. Kombination von Sequenzen
Bei der Analyse von Handlungssequenzen gilt es stets danach zu fragen, welche Funktion die jeweilige Beiordnung hat. Sequenzen können einander beigeordnet sein, um Abwechslung und Fülle oder Spannungsintensivierung hervorzurufen, und das vor allem dann, wenn eine Handlungssequenz gerade in einem Moment unterbrochen wird, in dem sie sich auf einen Höhepunkt des Konflikts zu entwickelt. Wenn sich Sequenzen thematisch oder situativ entsprechen, kommt der Beiordnung von Sequenzen eine eher integrative Funktion zu, welche insbesondere die organische Einheit des Kunstwerks mit seiner Bezogenheit aller Teile betont. Auch eine Spiegelung zur wechselseitigen Verdeutlichung der Sequenzen kann intendiert sein, wie etwa die konträren Liebesauffassungen in Romeo und Juliet. Hier sind die schwärmerische Liebe Romeos zu Rosalyd, die Liebe auf den ersten Blick zu Julia, die pragmatische Liebesauffassung der Amme und die stark auf das Sexuelle ausgerichtete Liebesauffassung Mercutios zu unterscheiden. Auch das comic relief als eine emotional befreiende und entspannende Entlastung des Rezipienten nach einer spannungsgeladenen Handlungsphase, wie etwa die porter-scene in Macbeth (2.3), welche unmittelbar folgt auf den Mord an König Duncan, zählt zu den Sequenz verknüpfenden Techniken. Über- und Unterordnung von Sequenzen Eine Über- und Unterordnung von Sequenzen erfolgt bei Traumeinlagen oder dem Spiel im Spiel. Traumeinlagen können narrativ vermittelt oder szenisch präsentiert werden. Ein seltener Grenzfall ist der Traummonolog, in dem die träumende Figur nicht einen vergangenen Traum erzählt, sondern als Träumende spricht (vgl. hierzu Pfister, S. 295–298). Traumeinlagen können Figuren charakterisieren oder auch die Handlung motivieren: so veranlasst der Traum der Gattin Caesars in Julius Caesar diese, ihren Mann an den Iden des März zu bitten, nicht in den Senat zu gehen. Freilich entscheidet sich dieser letztlich gegen sie und wird dann im Senat ermordet. Dass Träume auch zur Figurencharakteristik beitragen können, war in Kap. VI in Zusammenhang mit Richard III erläutert worden. In die Handlung eines Dramas bzw. eines Theaterspiels als primärer Fiktionsebene kann eine sekundäre Fiktionsebene in Form eines zweiten ,kleinen‘ Dramas bzw. Spiels eingelagert werden. Man spricht dann von Spiel im Spiel. Durch diese Einbettung einer zweiten Fiktionsebene wird im inneren Kommunikationssystem zwischen den Figuren auf der Bühne die Aufführungssituation des äußeren Kommunikationssystems zwischen den Figuren auf der Bühne und dem Publikum im Theater wiederholt, und damit die Theaterillusion potenziert. Dabei sind sich die Darsteller und Zuschauer auf der Bühne des fiktiven Charakters des Dargebotenen stets bewusst. In seiner einfachsten Ausprägung ist ein Spiel im Spiel eine einmalige dramenimmanente Aufführung, die auch als solche deutlich gekennzeichnet ist. Das Spiel im Spiel ist in diesem Fall ein in sich abgeschlossenes Versatzstück innerhalb eines größeren Handlungszusammenhangs. Höhere Anforderungen an den Rezipienten stellt häufiges Wechseln zwischen den Fiktionsebenen, zumal dann, wenn ein solcher Wechsel nicht deutlich markiert ist. So situiert der Nebentext zu Beginn von Jitters (1979), einem Drama des kanadischen Autors David French, die Dramenhandlung als ein Spiel im Spiel, was dem Zuschauer allerdings verborgen bleibt: „The set of the play within
Funktionen der Beiordnung von Sequenzen
Comic relief
Traumeinlagen
Spiel im Spiel
Beispiel: David French, Jitters
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VII. Handlungsentwürfe
Beispiel: Tom Stoppard, Dogg’s Hamlet, Cahoot’s Macbeth
Verhältnis von primärem und sekundärem Spiel
Verknüpfung der Fiktionsebenen
the play, although the audience is as yet unaware of this. The set is the living-room of a middle-class home. There is a sofa, armchair, hi-fi, hanging plants and a Christmas tree. In the hallway a staircase leads up to the second floor. The front door is offstage. The time of the play-within the play is winter. This particular scene takes place at night.“ (S. 9). Die Einbettung einer Fiktionsebene in eine andere kann theoretisch ins Unendliche gesteigert werden, indem man eine sekundäre Ebene in eine tertiäre einlagert usw. Freilich setzt praktisch die Belastbarkeit des Publikums, all das noch durchschauen zu können, dem Grenzen. Ein Beispiel für drei Fiktionsebenen bietet Tom Stoppards Dogg’s Hamlet, Cahoot’s Macbeth (1979). Auf der primären Fiktionsebene bereitet eine Schulklasse ein Schulfest vor, auf dem sie Shakespeares Hamlet (sekundäre Fiktionsebene) aufführen möchte. Dazu kommt als tertiäre Fiktionsebene das ohnehin bereits in Hamlet existente Spiel im Spiel „The Murder of Gonzago“. Bei der Analyse des Spiels im Spiel stellt sich immer die Frage nach dem Verhältnis von primärem und sekundärem Spiel. Wieviel Raum nehmen diese jeweils ein? Üblicherweise ist das Spiel im Spiel eine Einlage von begrenztem Umfang (Hamlet, A Midsummer Night’s Dream), seltener werden die übergeordneten Sequenzen auf den Status einer Rahmenhandlung reduziert (The Taming of the Shrew). Im ersten Fall ist das Spiel im Spiel meist handlungsbezogen mit den übergeordneten Sequenzen verknüpft: Hamlet lässt das Spiel „The Murder of Gonzago“ aufführen, um den Mörder seines Vaters zu überführen. Die Handwerker in A Midsummer Night’s Dream führen ihr Spiel von Pyramus und Thisbe anlässlich der Hochzeit des athenischen Herrscherpaares Theseus und Hyppolita auf. Im zweiten Fall der Beiordnung bietet der angelegte Rahmen für dessen Zuschauer auf der Bühne die Möglichkeit, das groß angelegte Spiel im Spiel durchgehend zu kommentieren. So begleitet in The Taming of the Shrew der Kesselflicker Sly das vor seinen Augen dargebotene Stück der Zähmung der widerspenstigen Kate mit Bemerkungen wie: „A good matter, surely. Comes there any more of it? … ,Tis a very excellent piece of work …“ (1.1.249–251). Eine weitere Frage bei der Analyse der Handlungsebenen im Drama gilt der Verknüpfung der Fiktionsebenen. Diese können generell räumlich, wie beispielsweise in Thomas Kyds The Spanish Tragedy, verbunden sein, wo das Spiel im Spiel auf der Unterbühne stattfand. Die Verknüpfung kann auch zeitlicher Natur sein wie in Hamlet, wo, von der ersten Fiktionsebene aus betrachtet, das Spiel im Spiel in der Vergangenheit stattfindet. Sie kann ferner personeller Art sein wie in A Midsummer Night’s Dream, in dem die Figuren der ersten Fiktionsebene auch Teil der sekundären Fiktionsebene sind. Die Verknüpfung ist am lockersten, wenn für das Spiel im Spiel eigenes Personal anreist, wie die players in Hamlet, die zwar von Rosencrantz und Guildenstern als Figuren der ersten Ebene angekündigt werden und sich mit Hamlet unterhalten, deren Funktion jedoch mit ihrer Darbietung erschöpft ist und die somit auch wieder aus dem Spiel der ersten Fiktionsebene verschwinden. Eine Identität des Personals in primärer und sekundärer Fiktionsebene zeigt sich in A Midsummer Night’s Dream: der Weber Bottom spielt nicht nur eine wichtige Rolle in der untergeordneten Sequenz des Handwerkerspiels, sondern auch in den übergeordneten Sequenzen der
3. Kombination von Sequenzen
Handlung, da seine Verwandlung in einen Esel und die Verliebtheit der Elfenkönigin Titania in eben diesen ein Teil des übergeordneten Handlungsstrangs zwischen Oberon und Titania sind. Neben der räumlichen, zeitlichen und personellen Verknüpfung können Fiktionsebenen auch thematisch durch Spiegelung, Kontrast und Vorwegnahme verzahnt sein. So sorgt das Handwerkerspiel im Midsummer Night’s Dream nicht nur aufgrund der Unbeholfenheit der Handwerker für Komik, sondern spiegelt auch den Ausgang der Handlungssequenzen um die zwei Athener Liebespaare in der tragischen Variante. Die fiktiven Zuschauer können das Spiel im Spiel ganz unterschiedlich rezipieren. In der am stärksten reduzierten Form können diese nur auf der Bühne präsent sein ohne sich verbal kommentierend zu äußern. Meist aber wird das fiktive Publikum immer wieder als Kommentator aktiv, wie in Hamlet, wo die Relevanz des gezeigten Spiels „The Murder of Gonzago“ für die übergeordneten Handlungssequenzen erörtert werden, oder auch in A Midsummer Night’s Dream, wenn die Figuren des Hofes das Spiel der Handwerker im letzten Akt bewerten und kommentieren. Ein Höchstmaß an Publikumsaktivität ist dann gegeben, wenn das Publikum nicht nur in einen Dialog mit den Darstellern des Spiels im Spiel tritt, sondern auch noch handelnd eingreift wie in Francis Beaumonts The Knight of the Burning Pestle (1608). Dieses Stück wird geprägt vom illusionsdurchbrechenden Überschreiten der Bühnenrampe und dem daraus resultierenden Spiel mit den verschiedenen Illusionsebenen. Der feierliche Prolog zu dem ,eigentlich‘ geplanten Stück wird bereits nach drei Zeilen durch laute Protestrufe aus dem Publikum unterbrochen, und Citizen George, ein grocer aus der Londoner City, drängt auf die Bühne. Dieser beklagt, dass sein Stand als Gegenstand der Satire fungieren muss, sein Sinn stehe ihm und auch seiner Gattin aber eher nach einer fantastischen Ritterromanze. Das Drama beginnt somit wie folgt: (Enter Prologue) Prologue: From all that’s near the court, from all that’s great, Within the compass of the city walls, We now have brought our scene – (Enter Citizen from audience below) Citizen: Hold your peace, goodman boy. Speaker: What do you mean, sir? Citizen: That you have no good meaning: This seven years there hath been plays at this house, I have observed it, you have still girds at citizens; and now you call your play ,The London Merchant’. Down with your title, boy, down with your title! Prologue: Are you a member of the noble city? Citizen: I am. (1–11) … Prologue: What would you have us to do, Sir? Citizen: Why, present something notably in honour of the commons of the city. Prologue: Why, what do you say to The Life and Death of Fat Drake, or the Repairing of Fleet-privies? Citizen: I do not like that; but I will have a citizen, and he shall be of my own trade. (23–30)
Rolle der Zuschauer im Spiel im Spiel
Beispiel: Francis Beaumont, The Knight of the Burning Pestle
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VII. Handlungsentwürfe
Der Speaker versucht einzulenken: jetzt sei es leider zu spät, um die Wünsche des grocer zu berücksichtigen, da das Drama bereits begonnen habe: Prologue: Oh, you should have told us your mind a month since. Our play is ready to begin now. Citizen: ‘Tis all one for that; I will have a grocer, and he shall do admirable things. … (32–34) Da mischt sich die Gattin ein, welche wiederum vom Lehrling Rafe unterbrochen wird: Wife: Husband! Husband! Rafe: Peace, mistress. Wife: Hold thy peace, Rafe; I know what I do, I warrant’ee. – Husband, husband. Citizen: What sayst thou, cony? Wife: Let him kill a lion with a pestle, husband; let him kill a lion with a pestle. (36–44)
Funktion des Spiels im Spiel
Beispiel: A Midsummer Night’s Dream
Man stelle sich diese turbulente Szene auf der Bühne vor. Citizen George lässt sich im weiteren Verlauf des Dramas mit seiner Frau auf der Bühne nieder, zwingt den Schauspielern seinen Lehrling Ralph als Hauptdarsteller und Titelfigur auf, und greift fortan immer wieder mit Drohungen und Bestechung in das Geschehen ein, sobald ihm etwas an der Handlung nicht behagt und verursacht so ein dramatisches Chaos, was seine höchst publikumswirksame Wirkung auf einer Theaterbühne kaum verfehlt. Die Potenzierung der Fiktionalität im Drama durch ein Spiel im Spiel dient nicht nur, wie im eben zitierten Beispiel, einer gewissen Komik, sondern letztlich auch der verfremdenden Bloßlegung des Mediums Theater an sich. Eine solche Thematisierung des Theaters kann das Publikum verunsichern über die Grenzen von Schein und Sein, was ihm schließlich auch die ganze Welt als Bühne erscheinen lässt. So karikiert etwa die schauspielerische Unbeholfenheit der Handwerker in A Midsummer Night’s Dream zugleich die Unzulänglichkeit aller Bühnendarstellungen, indem sie zeigt, wie notwendig das fantasievolle Mitschaffen des Publikums, die imagination, ist. Durch das ungelenke Spiel der Handwerker wird das Spiel mit der Illusion innerhalb der vier drameninternen Handlungsstränge auf die dramenexterne Lebensweltlichkeit des Zuschauers übertragen, wodurch die Grenzen der Illusionsschaffung des Theaters sichtbar gemacht werden. Für die ständigen Illusionsdurchbrechungen innerhalb des Spiels im Spiel, die die epischen Kommunikationsstrukturen hier geradezu zur Norm und nicht mehr zur Abweichung werden lassen, sei nur ein Beispiel gegeben. Duke Theseus, der sich über das unbeholfene Spiel der Handwerker lustig macht, wird vom Weber Bottom gleich in Kenntnis gesetzt, dass alles wie geplant korrekt verlaufe: Theseus: The wall, methinks, being sensible, should curse again. Bottom (to Theseus): No, in truth, sir, he should not. ,Deceiving me‘ is Thisbe’s cue. She is to enter now, and I am to spy her through the wall. You shall see, it will fall pat as I told you. (5.1.182–185)
4. Segmentierung
Wie dieses Beispiel zeigt, gibt es eine metadramatische Ebene nicht nur im modernen Drama. So treten auch etwa in der Induction zu John Marstons Rachetragödie The Malcontent (1604) die bekanntesten Schauspieler der Truppe The King’s Men unter eigenem Namen auf und diskutieren das nachfolgende Stück. Richard Burbage, der Star der Truppe, verlässt die Bühne als erster, da er, wie Henry Condell verkündet, anschließend als Titelheld des Stückes auftreten muss. Als Beispiel aus der moderneren Literatur sei hier angeführt Michael Frayns Drama Noises Off (1982). Eine Truppe nicht unbedingt erstklassiger Schauspieler spielt eine Farce mit dem Titel Nothing On. Der erste Akt zeigt sie bei der Generalprobe, der zweite einen Monat später auf ihrer Tour durch Provinztheater, der dritte sieben weitere Wochen später gegen Ende der Tournee. Die Probe sehen die Zuschauer von vorne, den zweiten Akt von einem Standpunkt hinter den Kulissen, den dritten Akt wieder von vorne. Durch diese Anlage wird zum einen dramatische Ironie erzeugt (vgl. auch Kap. IV) durch die komische Diskrepanz des Geschehens vor und hinter der Bühne und auch zwischen dem Geschehen, wie es tatsächlich abläuft und wie es eigentlich geplant war: die halbwegs gelungene Aufführung des zweiten Akts wird im dritten zu einem Desaster. Mit dieser Technik legt Frayn mit den Mitteln der Farce eben genau deren Mechanismen bloß und übt somit (metadramatische) Kritik an dem von ihm selbst gewählten Genre. In einem ähnlichen Verfahren führt Tom Stoppards The Real Inspector Hound die Konventionen der Textsorte ,Detektivfiktion‘ ad absurdum.
Beispiel: Michael Frayn, Noises Off
4. Segmentierung Die Ebene der dargestellten Geschichte ist nach semantisch-logischen Kriterien gegliedert, auf der Ebene der Darstellung im Theater erfolgt die Gliederung durch Konfigurationswechsel, Durchbrechen der raum-zeitlichen Kontinuität und durch zusätzliche Signale wie Vorhang oder Pausen. Die historisch wichtigsten Segmentierungsprinzipien sind Auftritt, Szene und Akt. ,Klassische‘ Dramen der so genannten ,geschlossenen‘ Form (vgl. Kap. VII.5) sind in fünf Abschnitte, Akte, eingeteilt, deren Grenzen jeweils durch einen totalen Konfigurationswechsel (d. h., ein Auswechseln des gesamten Personals auf der Bühne), durch Durchbrechung der raum-zeitlichen Kontinuität (Orts- und Zeitwechsel), und durch Vorhang und Pause im Theater deutlich markiert werden. Bei der Analyse stellt sich die Frage, ob diese Akteinschnitte sich mit den Sinneinschnitten in der Geschichte decken, d. h., ob die Handlungsphasen ebenfalls einen ,Schluss‘ an den Aktschlüssen haben. Außer den heute üblichen Kriterien der Segmentierung von Auftritt, Szene und Akt gab es in der Geschichte des Dramas historische Segmentierungssignale wie Chorlieder (stasima) im antiken griechischen Drama oder Zwischenspiele wie die dumb shows im frühneuzeitlichen Drama, wie z. B. in Gorboduc, or Ferrex and Porrex (1562) von Thomas Sackville und Thomas Norton. Auch markierte bei Shakespeare und seinen Zeitgenossen nicht selten ein Reimpaar – im Gegensatz zum sonst verwendeten ungereimten fünfhebigen Jambus, dem Blankvers – den Szenenschluss.
Historische Segmentierungssignale
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VII. Handlungsentwürfe Auftritt
Szene
Als das ,kleinste‘ Segmentierungssignal auf der Handlungsebene des Dramas gilt der Auftritt. Dieser ist gekennzeichnet durch die kleinstmögliche Veränderung in der Figurenkonfiguration d. h., durch das Hinzutreten oder Abgehen einer Dramenfigur. Der Einschnitt zwischen zwei Auftritten ist umso gravierender, je zentraler die auf- bzw. abtretende Figur ist. Deren Auf- und Abtritte können mehr oder weniger motiviert sein: häufig wird der Auftritt einer neuen Figur von den Figuren, die sich bereits auf der Bühne befinden, erwartet und angekündigt, oder die auftretende Figur gibt selbst einen plausiblen Grund für ihr Erscheinen an. Ebenso wird der Abgang häufig durch Pläne, Vorhaben oder Aufträge motiviert und stellt damit – wie der Auftritt – eine wichtige Informationsquelle für die verdeckte Handlung dar. Auch anscheinend ,zufällige‘ Auftritte können sich in einer Dramenhandlung ereignen, wobei diese in öffentlichen Räumen wie etwa dem Marktplatz oder einer Straße eher plausibel gemacht werden können. Die nächsthöhere Segmentierungseinheit nach dem Auftritt ist die Szene. Sie ist gekennzeichnet durch eine Verknüpfung von Auftritten und wird durch den Abgang aller Figuren als totalem Konfigurationswechsel und/oder durch die Unterbrechung der raum-zeitlichen Kontinuität beendet. Im Drama der französischen Klassik hat sich hierfür die Bezeichnung acte eingebürgert; dieser entspricht in Dramen shakespearescher Prägung die scene, da beide durch die Durchbrechung der zeitlichen Kontinuität bestimmt sind, was in der Shakespeare-Tradition noch ergänzt werden kann durch eine Durchbrechung der räumlichen Kontinuität, also einem Schauplatzwechsel. Gilt für die acte-Grenzen in der französischen Tradition zusätzliche die Vorgabe, dass die Figurenkonfiguration zu Ende des vorausgehenden und am Anfang des folgenden Aktes insgesamt wechseln soll, ist dies für aufeinanderfolgende Szenen in der Shakespeare-Tradition nicht gefordert. Der französische acte entspricht nur dem act der Shakespeare-Tradition darin, dass beide die höchste Segmentierungseinheit der Dramenhandlung darstellen und normalerweise den Gesamttext in fünf Teile gliedern. Im Drama Shakespeares stellt also die Szene das dominante Segmentierungsniveau und die entscheidende kompositorische Einheit dar, während in der französischen Tradition, die auch zum Vorbild der deutschen Klassik wurde (vgl. etwa Goethes Iphigenie auf Tauris), der Akt diese Funktion übernimmt.
5. Komposition der Dramenhandlung Was die Komposition der Dramenhandlung betrifft, so hat sich seit Volker Klotz die Unterscheidung vom Drama der ,geschlossenen‘ und der ,offenen‘ Form eingebürgert. Wenngleich diese Unterscheidung nicht von allen Theoretikern übernommen wird (Beckerman spricht von ,intensivem‘ und ,extensivem‘ Handlungstyp, Geiger/Haarmann unterscheiden ,Konfliktdrama‘ und ,analytisches‘ Drama), soll sie uns dennoch als etablierte Terminologie zur Grundlage dienen. Geschlossene Form Der Idealtyp des Dramas der geschlossenen Form ist eine völlig in sich geschlossene Geschichte mit einem Beginn, der keine als die in der Dramen-
5. Komposition der Dramenhandlung
handlung selbst zu exponierenden Informationen voraussetzt, und einem Schluss, der alle aufgeworfenen Konflikte und Handlungsstränge zu einem Ende führt. Damit entspricht die Darstellung dieser Geschichte dem aristotelischen Kriterium der Einheit der Handlung. Der aristotelischen ,Einheit‘ entspricht die Einsträngigkeit der Haupthandlung, die linear und kontinuierlich abläuft und in sich kausal motiviert ist: eine Szene geht klar aus der nächsten hervor. Die Handlung weist keine wesentlichen Sprünge und Lücken auf, es handelt sich um eine straffe, eng verkettete, geordnete Komposition mit einer symmetrischen Fügung der fünf Akte mit dem dritten Akt als Mittelachse. Die enge Verzahnung des Geschehens wird erreicht durch das Prinzip der Personenkette, wenn mindestens eine Person bei Szenenwechsel innerhalb des Aktes auf der Bühne bleibt. Die Einheit und Ganzheit der Handlung resultiert vor allem aus der Beschränkung des dramatischen Vorgangs auf eine knappe Raum-, Zeit-, und Geschehnisspanne (vgl. auch Kap. VIII und IX). Ordnung, Proportion und Symmetrie bestimmen die Personengruppierung und die Antithetik von Spiel und Gegenspiel, von Protagonist und Antagonist, von Hauptfigur und Vertrautem ist ausbalanciert (vgl. Kap. VI). Die Handlung des geschlossenen Dramas ist üblicherweise in fünf Akte unterteilt, von denen jedem eine ganz spezifische Funktion zukommt. Die Exposition (Akt 1) vermittelt den notwendigen Hintergrund für das Dramengeschehen, welches auf der Bühne präsentiert wird und macht den Zuschauer mit den Charakteren und ihren Beziehungen und der gegenwärtigen Situation bekannt. So trifft Hamlet den Geist seines Vaters, erfährt die Hintergründe seines Todes und erhält damit seinen Racheauftrag. Die Steigerung (Akt 2) lässt die Handlung durch ein wichtiges Ereignis oder einen Entschluss des Helden gewissermaßen Fahrt aufnehmen mit den entscheidenden Aktivitäten der Pro- und Antagonisten: Hamlet fasst den Plan, seinen Vater zu rächen. In der Klimax (3. Akt) erfolgt der Umschlag (Peripetie), d. h., die bis dahin aufsteigende Handlung fällt von hier an wieder ab, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Hamlets Aufführung des Spiels im Spiel („The Murder of Gonzago“) hat den gewünschten Erfolg, Claudius als den Mörder seines Vaters zu entlarven. In den retardierenden Momenten (Akt 4) keimt noch einmal Hoffnung auf, das allzu gewiss vorausgesehene Ende erscheint noch einmal ungewiss: Hamlet schiebt seine Rachepläne auf und tötet Claudius nicht beim Gebet. In Akt 5 kommt es zur Katastrophe in der Tragödie (Hamlet wird getötet) oder zur Lysis (Lösung), dem guten Ausgang aller Konflikte, in der Komödie.
Aufbau der Handlung
Beispiel: Hamlet
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VII. Handlungsentwürfe
Beispiele für Dramen der geschlossenen Form sind in der englischen Literatur in erster Linie die Dramen des Klassizismus wie Joseph Addisons Cato (1713) sowie das Melodrama und das well made play (vgl. auch Kap. X).
Beispiel: Peter Shaffer, The Royal Hunt of the Sun
Offene Form Im Gegensatz zur geschlossenen Form erfolgen in der so genannten offenen Form des Dramas keine intentionalen Handlungen von Figuren, sondern es widerfährt diesen ein Geschehen, da sie von einem Zustand lähmender Untätigkeit geprägt sind. Die ,Einheit‘ der Handlung kann hier dadurch aufgebrochen werden, dass mehrere relativ autonome Nebenhandlungen, die nicht von einer dominanten Haupthandlung abhängen, einander gleichgeordnet werden (Mehrsträngigkeit). Die Geschichte präsentiert sich damit als Abfolge von eher bruchstückhaften Einzelsequenzen, die in einer offenen und lockeren Komposition mit stationen-, mosaik-, oder kaleidoskopartiger Stationentechnik präsentiert werden. Die Verknüpfung der Handlungsphasen kann sprunghaft sein, sie kann nur durch wiederkehrende Bildbereiche verklammert, oder auch um eine wichtige Figur oder eine Schlüsselstelle zentriert sein. Die Finalstruktur der Handlungsabläufe im Drama der geschlossenen Form (s. o.) wird im Drama der offenen Form ersetzt durch Kreis-, Variations-, Wiederholungs- oder Kontraststrukturen. Im offenen Drama wird die Handlung weder am Anfang ausführlich exponiert (der Rezipient findet sich oft media in re wieder), noch kommt sie am Ende zu einem eindeutigen Abschluss. Die Szene ersetzt hier den Akt und löst damit das Prinzip von wenigen Segmentierungseinheiten etwa gleichen Umfangs, wie sie für das Drama der geschlossenen Form charakteristisch ist, auf. Dem Akt kommt, sofern nicht ganz auf ihn verzichtet wird, allenfalls die Bedeutung der lockeren Szenengruppierung zu, wodurch das Drama der offenen Form zu einem Gefüge zahlreicher kleiner Einheiten variablen Umfangs wird. Verbunden damit ist das Fehlen einer klaren hierarchischen Abstufung in Haupt- und Nebenfiguren und einer individuellen Figurenkonzeption (vgl. Kap. VI). Die Kommunikation zwischen den Figuren ist häufig gestört (vgl. Kap. V), das Sprechen ist eher augenblicks- und situationsverhaftet denn primär von Reflexionen bestimmt. Auch Raum- und Zeitstruktur tendieren zu panoramischer Weite (vgl. Kap. VIII und IX). Beispiele für Dramen der offenen Form sind in der englischen Literatur zu einem gewissen Grad die Dramen Shakespeares, der sich nur selten an die nachträglich von den Klassizisten geforderten ,drei Einheiten‘ des Aristoteles in seinen Dramen hielt, insbesondere aber die Dramen der Moderne und Postmoderne. Als Beispiel sei hier zitiert Peter Shaffers The Royal Hunt of the Sun. A Play Concerning the Conquest of Peru (1964), ein Geschichtsdrama, das zwischen 1529 und 1533 spielt. Der siegreiche Eroberer Pizarro verlangt von seinem Gefangenen, dem Gottkönig Atahualpa, eine gewaltige Menge Gold als Lösegeld, welches dieser herbeischaffen lässt. Doch der Spanier bricht sein Versprechen: Er lässt den Inka hinrichten, dessen Hoffnung auf Auferstehung war vergebens. Ein Protagonist, ein Antagonist, tragischer Irrtum und Katastrophe sind gegeben, doch steht am Schluss nicht die von der klassischen Tragödie geforderte Wiederherstellung der Ordnung, sondern Chaos und Zerstörung, da die die Vernichtung der Inkakultur und der Anfang vom Ende des spanischen Reiches erst noch bevorstehen. Shaf-
6. Untergattungen: Tragödie und Komödie
fer zeigt also keine abgeschlossene Handlung, sondern einen Anfang. „Auf The Royal Hunt of the Sun trifft exemplarisch das zu, was Volker Klotz die ,offene Form‘ genannt hat. Die epische Form des Dramas, seine szenische Struktur und die Gegenwart eines erinnernden und eines erinnerten Erzählers (Old and Young Martin) gehören alle zum etablierten Repertoire des von Brecht beeinflussten Theaters in England.“ (Schnierer, S. 73).
6. Untergattungen: Tragödie und Komödie Die bekanntesten Untergattungen des Dramas sind Komödie und Tragödie, welche seit der Antike als gegensätzlich begriffen werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch (vorausgesetzt man setzt nicht ,Drama‘ mit ,Tragödie‘ gleich, wie dies so häufig geschieht heutzutage!) verbindet man gemeinhin mit der Tragödie ein schlechtes Ende, meist den Tod, weshalb die Tragödie auch durch eine weinende Maske repräsentiert wird. Mit der Komödie wird üblicherweise ein gutes Ende (happy ending) assoziiert, daher wird diese repräsentiert durch eine lachende Maske. Tragödie Der Name leitet sich von griech. tragos: „Ziege“, „Bock“ und odè: „Lied“ ab; am wahrscheinlichsten lässt sich diese Kombination daraus erklären, dass ein Bock im Rahmen des Dionysos-Kults, aus dem das Drama in der Antike entstand, geopfert wurde. Auch wenn der Begriff der Tragik scheinbar jedem Leser vertraut ist, so gilt es doch zwischen Tragik im täglichen Sprachgebrauch und als dramatischer Kategorie zu unterscheiden. Es dürfte unumstritten sein, dass der Begriff ,Tragik‘ grundsätzlich den Untergang – in der Regel den physischen Tod – eines Menschen voraussetzt. Doch welche Formen des Untergangs werden in Drama als tragisch empfunden und wie unterscheiden sich diese von den nicht-tragischen? Zu den nicht-tragischen Arten des Untergangs zählen nach Gelfert (S. 12–14) generell natürlicher Tod durch Alterschwäche, natürlicher Tod durch Krankheit oder unnatürlicher Tod durch sinnlosen Zufall. Ebenso wenig als ,tragisch‘ zu bezeichnen sind ein sinnloser Tod durch Irrtum, unnatürlicher und zufälliger Tod in sinnvollem Kontext (Heldentod), verdienter Tod als Strafe, gewollter Tod durch Selbstmord, Märtyrertod und der Tod im Zweikampf. Wenn man all diese Todesarten als Gegenstand von Tragik also ausschließt, dann bleibt zuletzt eine Form des Untergangs übrig, die folgende Kriterien erfüllt: Der Untergang ist unnatürlich, nicht zufällig, ungewollt, selbstverschuldet und moralisch nicht völlig verdient. Alle diese Kriterien werden auch in der lebensweltlichen Realität mit dem Begriff ,Scheitern‘ in Verbindung gebracht, da dieser impliziert, dass jemand gegen eine Niederlage ankämpft und doch nicht zum Erfolg kommt. Auch im Drama markiert das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit, Sich-Aufbäumen und Erliegen, von Schuld und übermäßigem Leid das Tragische. Dazu kommt noch, dass im tragischen Ablauf ein Wendepunkt eintreten muss, an dem das Zufällige ins Unausweichliche, das Untadelige ins Schuldhafte und das Sich-Aufbäumen ins Erliegen übergeht. Dabei erwartet man unbedingt von einem tragischen
Tragödie versus Tragik
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VII. Handlungsentwürfe
Verschiedene Typen der Tragödie
Schuldtragödie Schicksalstragödie Dialektische Tragödie
Strukturmomente der Tragödie Aristoteles, Poetik
ST: ,Furcht und Mitleid‘ versus ,Schauder und Jammer‘
Opfer im Drama, dass es sich seiner tödlichen Verstrickung vor dem Ende bewusst wird. Die Ursache für den tragischen Untergang eines Menschen darf also weder ganz in ihm selbst, noch außerhalb seiner Person liegen, vielmehr verteilt sie sich auf den tragisch Scheiternden und die Instanz, die den Untergang herbeiführt, also etwa einen persönlichen Widersacher, den Staat, allgemeine Sittengesetze etc. Die ,klassische‘ Situation eines tragischen Konflikts liegt dann vor, wenn der tragisch Scheiternde und sein Gegenspieler in gleichem Maß eine moralische Rechtfertigung für ihr Handeln beanspruchen können. Wenn der Scheiternde einen ungerechtfertigten Anspruch stellt, spricht man von Schuldtragödie. So wird Macbeth wissentlich schuldig, da seine ambition stärker als seine moralische Einsicht ist. Wenn ein Mensch gegen seinen Willen durch ein übermächtiges Schicksal zur Schuld getrieben wird, bezeichnet man dies als Schicksalstragödie. Wenn ein Mensch bei seinem Streben, einen verabsolutierten Wert, wie etwa einen bedingungslosen Liebesanspruch, kompromisslos durchzusetzen, in einen Zustand der Verblendung gerät, so dass sein positives Streben sich ins Gegenteil verkehrt (der Liebesanspruch kann sich zu blinder Raserei gegen die geliebte Person umkehren) spricht man von ,dialektischer‘ Tragödie. Ein tragischer Fall einer Person macht freilich noch keine Tragödie aus; hierzu muss dieser erst in eine bestimmte dramaturgische Form gebracht werden, wie bereits Aristoteles, dem wir in seiner Poetik den ersten überlieferten Versuch zur Systematisierung der Dichtkunst verdanken, ausführt: „Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, daß jede Form solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid [eleos] und Furcht [phobos] eine Reinigung [katharsis] von eben derartigen Affekten [pathemata] bewerkstelligt wird.“ (Poetik, S. 30; meine Ergänzungen in eckigen Klammern). Aristoteles beschreibt also in der zweiten Hälfte dieses Zitats den Reaktionsablauf, der von der Tragödie im Zuschauer ausgelöst wird: eleos, phobos und katharsis, wobei die deutsche Übersetzung dieser Begriffe in zweierlei Weise möglich ist (vgl. hierzu Gelfert, S. 17). Zum einen können eleos und phobos eine Reinigung der Affekte (pathemata als genitivus separativus übersetzt), zum anderen eine Reinigung von den Affekten (pathemata als genitivus objectivus übersetzt) bewirken. Erstere Übertragungsmöglichkeit wählten die Kritiker, die – von der christlichen Ethik geprägt – die Erziehung des Menschen zu Gottesfurcht und selbstloser Nächstenliebe als oberstes Ziel betrachteten. Folglich übersetzten sie phobos und eleos mit ,Furcht‘ und ,Mitleid‘. Der zweiten Übertragungsmöglichkeit folgten die, die eher von der stoischen Philosophie beeinflusst waren und das erstrebenswerte Ziel in größtmöglicher Affektlosigkeit sahen, doch auch sie blieben bei der Übersetzung ,Furcht‘ und ,Mitleid‘. Beide Deutungen haben nun ihre Schwierigkeiten: wie sollten im ersten Fall Affekte durch ihre bloße Erregung gereinigt werden, und weshalb sollte im zweiten Fall eine Reinigung von einem so positiven Gefühl wie Mitleid überhaupt erstrebenswert sein? Eine Lösung dieses Problems wurde möglich, als Jakob Bernays im 19. Jahrhundert nachwies, dass Aristoteles den Begriff Katharsis im medizinischen Sinne als Abreaktion eines Affektstaus verstand, womit auch eine an-
6. Untergattungen: Tragödie und Komödie
gemessenere deutsche Übersetzung von phobos und eleos möglich wurde. Aristoteles meint mit diesen Begriffen nicht die sittlichen Inhalte der Empfindungen von Furcht und Mitleid, sondern die physiologischen Affekte, die sie begleiten. Phobos bewirkt danach eine Anhebung des Erregungsniveaus bis kurz vor den Zustand der Unerträglichkeit, worauf sich diese Spannung durch eleos löst und sich nach Absenken des Erregungsniveaus katharsis im Sinne einer Empfindung von lustvoller Befriedigung einstellt. Damit trifft die von Wolfgang Schadewaldt vorgeschlagene deutsche Übersetzung von phobos und eleos mit ,Schauder‘ und ,Jammer‘ diesen wesentlich besser zu als ,Furcht‘ und ,Mitleid‘, da erstere Begriffe nicht moralisch-ethisch besetzt sind, sondern vielmehr das Physiologisch-Affekthafte betonen. Der Punkt, an dem die phobos-Phase der Tragödie in die eleos-Phase übergeht, wird von Aristoteles Peripetie genannt. Dieses Umschlagen von phobos in eleos muss eine für den Zuschauer nachvollziehbare Motivation haben. Aristoteles sieht diese in einem Fehler (harmatia) des Helden: „… so ist es zuerst klar, daß nicht anständige Leute beim Umschlag von Glück in Unglück gezeigt werden sollen (denn dies erzeugt nicht Furcht oder Mitleid [bzw. Schaudern und Jammer; meine Ergänzung], sondern Widerwillen) und auch nicht der Übergang schlechter Menschen von Unglück zu Glück (denn diese läuft der Tragödie völlig zuwider), da keine der geforderten Wirkungen sich einstellt: es ist weder menschenfreundlich noch mitleiderregend noch erschreckend), noch darf der gar zu Schlechte von Glück in Unglück stürzen (eine solche Empfindung ist zwar menschenfreundlich, enthält aber weder Furcht noch Mitleid; Mitleid entsteht nur, wenn der, der es nicht verdient, ins Unglück gerät, Furcht, wenn es jemand ist, der dem Zuschauer ähnlich ist. Also entsteht in diesem Fall weder das eine noch das andere). Es bleibt also nur der Fall dazwischen übrig. Er tritt ein, wenn einer weder an Tugend und Gerechtigkeit ausgezeichnet ist noch durch Schlechtigkeit und Gemeinheit ins Unglück gerät, sondern dies erleidet durch irgendeinen Fehler. Und zwar muß er zu denjenigen zählen, die großen Ruhm und Glück gehabt haben, wie Oedipus oder Thyestes, oder andere berühmte Männer aus einem solchen Geschlechte.“ (Poetik, S. 40 f.). Danach muss ein Held im Drama also ein so genannter ,mittlerer‘ Held sein, d. h., weder ein Muster an Tugend und Gerechtigkeit, da sein Untergang dann nicht durch eleos in kathartische Befriedigung überführt werden könnte, noch ein Verbrecher, für den man kein phobos aufbringen könnte. Der Held muss vielmehr eine „moralische ,Mittellage‘ einnehmen, durch die er einerseits anfällig für eine schuldhafte Verfehlung ist und andererseits der jammernden Anteilnahme würdig bleibt.“ (Gelfert, S. 18). Als strukturelle Alternative zur Peripetie kann eine dramatische Handlung ihre tragische Wendung auch durch ein plötzliches Offenbarwerden eines verborgenen Zusammenhangs erhalten, was Aristoteles anagnorisis nennt. In der Praxis der Dramenliteratur zeigt sich aber, dass die tragische Wirkung eines Stücks sich vor allem dann entfaltet, wenn die Hauptfiguren spätestens bei der Katastrophe Einsicht in ihre tragische Verstrickung erhalten. So wäre etwa Othellos Selbsttötung für einen Zuschauer nicht befriedigend, wenn Othello nicht zuvor über Desdemonas Unschuld aufgeklärt worden und zu Einsicht über sein Fehlverhalten gelangt wäre. Auch wenn am Schluss eines
Tragischer Held
Anagnorisis
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VII. Handlungsentwürfe
Historischer Abriss des Tragödienbegriffs Tragödienbegriff des Mittelalters: de-casibus-Tragödie
Tragödienverständnis des ,Klassizismus‘: Regelhaftigkeit Ständeklausel, Stilhöhe, Glaubwürdigkeit der Handlung, drei Einheiten
Dramas oft nicht immer alle Verwicklungen der Handlung ganz geklärt werden können, könnte man doch kein Stück als Tragödie bezeichnen, in dem der Held untergeht, ohne das Ausmaß seiner Verfehlung erkannt zu haben. Der aristotelische Tragödienbegriff war nicht von der Antike bis in die heutige Zeit für alle Epochen maßgeblich, vielmehr haben sich in der diachronen Entwicklung des Dramas verschiedene Formen der Tragödie herausgebildet. Fundamental verschieden von den aristotelischen Positionen ist die Tragödienauffassung des Mittelalters. Hier stand ein Mensch im Mittelpunkt, der, wenn er sich auf weltliche Dinge wie Machtstreben etwa eingelassen hatte, auf das Rad der Fortuna gestiegen war. Dieses hob ihn durch unvorhergesehene Drehungen zunächst nach oben, d. h. zu Macht, Ansehen und Reichtum, empor, um ihn dann wieder in die Tiefe, d. h., in Elend und Tod, herabstürzen zu lassen. Diese Form nennt man de-casibus-Tragödie. Die moralisierende Perspektive dominiert deutlich. Dabei kann der Schwerpunkt dieses Handlungsschemas entweder bei der Darstellung des Aufstiegs oder des Falls der Zentralfigur liegen. Im Volkstheater gab es bereits früh Dramen, die den Sturz eines stolzen und grausamen Tyrannen wie König Herodes oder Pilatus darstellten. Solche Tragödien der Macht setzten sich in England vor allem fort in den Dramen Christopher Marlowes (Tamburlaine the Great [1587] und Dr. Faustus [1604]), dessen Leistung es war, anstelle der bloßen Aneinanderreihung des Lasterkatalogs eines Tyrannen in den de-casibus-Tragödien eine komplexere Figurenkonzeption zu entwerfen. Tamburlaine wie Dr. Faustus erweisen sich durch ihre Monologe und durch die indirekte Charakterisierung durch andere Figuren als Zentralfiguren einer differenzierten Konzeption des Tragödienhelden, die dann in den Dramen Shakespeares ihren Höhepunkt erreichen sollte. Die Genauigkeit in der Zeichnung der seelischen Vorgänge und moralischen Entscheidungen seiner Dramenfiguren, sowie die komplexen Beziehungen der Figuren untereinander dürften bis heute unerreicht geblieben sein. Die Beliebtheit der Dramen Shakespeares war freilich nicht immer so groß wie heute: Der englische Klassizismus (spätes 17./18. Jahrhundert) erhob die Überlegungen des Aristoteles in seiner Poetik zur verbindlichen Dichtungsnorm und postulierte deren Einhaltung in den verschiedensten Aspekten: Was den sozialen Stand der Figuren im Drama betraf, so galt nach diesem Tragödienbegriff nur der hohe Stand als Garant für die so genannte ,tragische Fallhöhe‘, weshalb in der Tragödie nur Personen höheren sozialen Rangs, in der Komödie eher niedrigeren Rangs agieren sollten. Daneben wurde eine konsequent einzuhaltende Stilhöhe (in der Tragödie wird ein erhabener, würdevoller Stil erwartet, die Komödie pflegt eher einen ,mittleren‘ Stil, die Sprache des täglichen Umgangs) maßgeblich. Die Wahrscheinlichkeit der Handlung und die Geschichtlichkeit der Stoffe verlangen den Glaubwürdigkeitsanspruch für die Tragödie, in der Komödie dürfen Namen und Stoffe auch frei erfunden sein. Eine strenge Motivierung des dramatischen Geschehens, die Konzentration auf die finale Katastrophe sowie das Zurückdrängen der äußeren Handlung zugunsten der Darstellung seelischer Konflikte oder heroischer Gefühle sind weitere wesentliche Charakteristika dieser Tragödienkonzeption, wie sich aus John Drydens Author’s Preface zu All for Love (1678) ersehen lässt: „The fabric of the play is regular enough, as to the inferior parts of it: and the unities of time, place and ac-
6. Untergattungen: Tragödie und Komödie
tion, more exactly observed, than, perhaps, the English theatre requires. Particularly, the action is so much one, that it is the only of the kind without episode, or underplot; every scene in the tragedy conducting to the main design, and every act concluding with a turn of it.“ (S.10). Die praktische Umsetzung fand diese Konzeption in Drydens Bearbeitung von Shakespeares Antony and Cleopatra, eben All for Love. Statt der rund 40 Charaktere bei Shakespeare gibt es bei Dryden noch 13, die nach der Ständeklausel alle der höheren Gesellschaft angehören. Die Hauptgestalten Mark Anton, Kleopatra, Alexas, Ventidius, Oktavia und Dolabella werden eindimensional charakterisiert, die Nebenfiguren noch weniger differenziert. Während sich bei Shakespeare privater und öffentlicher Bereich als zwei Handlungsstränge unterscheiden lassen, konzentriert sich Dryden fast ausschließlich auf die Liebeshandlung, für welche die Staatsaktion nur den Rahmen schafft. Die gesamte Vorgeschichte der Auseinandersetzung zwischen Octavian und Antonius ist gemäß der ,Einheit der Handlung‘ aus dem Geschehen ausgeklammert. Die Belagerung Alexandrias durch Caesar, Mark Antons erfolgreicher Ausfall gegen dessen Kriegslager und die Seeniederlage werden in All for Love nur erwähnt (1.1.; 3.1) oder in Form eines Botenberichts vorgetragen (5.1). Shakespeares (Bilder)sprache erscheint Dryden „so pestered with figurative expressions, that it is as affected as it is obscure“ (An Essay of Dramatic Poesy, I.239), dem er sein eigenes Stilideal der Klarheit und Verständlichkeit gegenüberstellt. „Terror“ und „pity“ (nach dem aristotelischen phobos und eleos; s. o.) sind für Dryden nur Komponenten einer umfassenderen didaktischen Zielsetzung der Tragödie, „[which is] to reform manners by delightful representation of human life in great persons. … Pity … comprehends … concernment for the good, and terror includes detestation for the bad“. (Of Dramatic Poesy, I, 213). Die so genannte ,Ständeklausel‘ fand im 18. Jahrhundert mit George Lillos The London Merchant (1731), dem ersten bürgerlichen Trauerspiel, seine Aufhebung. Stoff der neuen Tragödie waren hier nicht mehr Haupt- und Staatsaktionen, sondern „a tale of private woe“ (Preface). Private, häuslichfamiliäre Konflikte zwischen Figuren aus dem bürgerlichen Milieu sollen so realistisch wie möglich abgebildet werden, weil dies, wie man meinte, das Interesse des zeitgenössischen Zuschauers wecken könne. Die Wirkung, die man im Zuschauer erwecken will, ist v. a. moralischer Natur. Auch tritt an die Stelle des Verses jetzt die Prosa. Die Tendenz, die sich im bürgerlichen Trauerspiel angedeutet hatte, setzte sich in der Folgezeit fort. Das Theater öffnete sich immer mehr den unteren Gesellschaftsschichten, d. h. der Welt des Kleinbürgertums, der Bauern und der Arbeiterklasse. Die minutiöse Milieuschilderung erstreckt sich nicht nur auf die Szenerie, sondern auch auf die Sprache: man ist bemüht, die Alltagssprache zu kopieren. Unvollständige Sätze, grammatikalische Fehler, Stottern, Stammeln oder auch dialektale Färbung sollen die exakte Reproduktion von Wirklichkeit vervollständigen. Heutzutage Tragödien zu schreiben wird von Dramatikern gemeinhin als schwierig bewertet. Im bürgerlichen Zeitalter sind Helden nicht leicht zu finden, geschweige denn ist es einfach, sich mit diesen zu identifizieren. Eine Veränderung der Werte lässt diese Welt eher absurd als sinnvoll geordnet erscheinen, weshalb moderne Dramatiker oft Personen auf die Bühne stellen, die etwas verloren haben oder einen unerfüllten Traum verfolgen.
John Dryden, All for Love
George Lillo, The London Merchant
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VII. Handlungsentwürfe
Obwohl diesen Figuren die ,tragische Fallhöhe‘ fehlt, empfindet der Zuschauer dennoch Sympathie, da diese Figuren aus der Lebenswirklichkeit vertraut sind und ihre Reaktionen den eigenen ähneln.
Historische Entwicklung
Komödie versus komisch
Sujet-Begriff Juri Lotmans
Komödie Im Kontrast zur Tragödie wurde die Komödie Jahrhunderte lang als weniger anspruchsvolle Untergattung des Dramas angesehen. „Comedy’s denigration in academic study is a product of its populism, its association with the lower bodily stratum, and its problematic resistance to generic definition.“ (Stott, S. 148). Zwar hat die Literaturkritik seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts mit verschiedenen Theorien zum Wesen des Komischen und des Lachens interessante neue Impulse gegeben (vgl. hierzu Stott, S. 21–148) und so die Komödie wieder stärker in den Focus der zeitgenössischen Literaturkritik gerückt, doch bleibt die Komödie insgesamt bis heute ein relativ schwer zu fassendes Phänomen mit diversen Untergattungen und einer gewissen Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen. Ebenso wie die Tragödie hat auch die Komödie religiöse Wurzeln, zunächst im Dionysos-Kult der Antike bzw. ein zweites Mal in den Osterfeierlichkeiten des ausgehenden Mittelalters. Die Komödie geht ursprünglich hervor aus dem komos, einem Umzug zu Ehren des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos. Die ersten noch erhaltenen Komödien sind die elf Komödien des Aristophanes (4. Jhd. v. Chr.). Auch bei der Komödie gilt es zunächst, die dramatische Gattung gegen das Komische als Phänomen der Lebenswelt abzugrenzen. Denn Letzterem fehlt das, was das Komische in der literarischen Gattung ,Komödie‘ ausmacht, nämlich die kommunikative Intention. Komik entsteht in der Lebenswelt, wenn die Erwartung eines Subjekts plötzlich und unerwartet durchkreuzt wird: z. B. geht eine Person (= ein Objekt) auf ein Ziel zu, und ein beobachtendes Subjekt kann erwarten, dass sie dies bis zu dessen Erreichen tun kann. Doch anstelle dieses Ziel zu erreichen, stößt das Objekt auf ein Hindernis (eine Bananenschale, einen Laternenpfahl, etc.), es passiert jedoch keine Katastrophe, denn sie bricht sich nicht das Genick. Eine komische Handlung ist also in der Lebenswirklichkeit eine Situation, welche unerwartet und ungeplant eintritt. Das Komische liegt dabei unfreiwillig auf Seiten des Objekts. Eine solche Wahrnehmung des Komischen konstituiert aber noch keine dramatische Kommunikationssituation. Im Gegensatz zur Realität ist in der Komödie das Komische geplant, da die Gattung ,Komödie‘ – wie jeder literarische Text – eine fundierte Organisationsform des Kommunikationsprozesses ist. Komik wird in der Komödie für einen Adressaten gewissermaßen bewusst ,hergestellt‘. Entsprechend muss für die komische Wirkung erst eine Situation auf der Handlungsebene aufgebaut werden: die Komödie bedarf einer unterspannenden Handlung, auf der sich Komik dann erst entfalten kann. Für eine Analyse der dargestellten Handlung in einer Komödie bietet sich am geeignetsten der Sujet-Begriff Juri Lotmans an: Lotman geht aus von einem bestimmten semantischen Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen (z. B. Vernünftigkeit/Unvernünftigkeit) gegliedert ist. Zwischen diesen Teilmengen besteht eine Grenze, die unter den gegebenen Umständen nicht überschritten werden kann (z. B. zwischen einem jungen Paar und den Opponenten, meistens den Eltern), sich jedoch für einen Helden (den jun-
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gen Liebhaber), der als Handlungsträger von der etablierten Norm abweicht, als überwindbar erweist (am Ende steht die Hochzeit des jungen Paares). Diese Handlung des Helden, welche die gestörte Ordnung wieder ins Lot bringt, kann nun aber nicht verlacht werden. Die eigentlich komische Handlung ist vielmehr die in ihrer ursprünglichen Intention scheiternde Handlung des Opponenten. Der Opponent kann sein Wertesystem nicht durchsetzen, ihm gelingt keine Grenzüberschreitung, welche die Opposition der semantischen Felder in seinem Sinne aufheben würde. Die komisch scheiternde Handlung kann sich dabei immer wieder episodisch wiederholen, wenn der Opponent wiederholt Versuche der Grenzüberschreitung unternimmt, aber ein ums andere Mal scheitert, und sich diese Versuche in ihrer Komik bis zur endgültigen Niederlage des Opponenten steigern. Die Poetik des Aristoteles ist hinsichtlich der Komödie im Vergleich zur Tragödie wenig ergiebig, da der Teil über die Komödie nicht überliefert wurde. Umberto Ecos Roman-Bestseller Der Name der Rose (1983) macht genau diesen Verlust zum Kern der Morde und Handlungen im Kloster, da durch die Unterdrückung der aristotelischen Autorität das Komische aus der Welt gehalten werden soll. „Eco’s conspirators fear that if comedy were rehabilitated within respectable academic contexts, the conceptual order of things would be radically altered, and with it the social fabric that draws on its hierarchies, as on the day when the Philosopher’s word would justify the marginal jests of the debauched imagination, or when what has been marginal would leap to the center, every trace of the center would be lost.“ (Stott, S. 17) Um den status quo zu sichern, ist das Buch mit Gift getränkt, das jeden tötet, der die Seiten umblättert. Aristoteles’ Poetik bezeichnet Komödie als „die Nachahmung von Gemeinerem, aber nicht im Bezug auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur des Lächerlichen, das ein Teil des Häßlichen ist. Das Lächerliche ist nämlich ein Fehler und eine Schande, aber eine solche, die nicht schmerzt und nicht verletzt, wo wie etwa eine lächerliche Maske häßlich ist und verzerrt, aber ohne Schmerz“. (S. 29). Der „Fehler“ fügt also weder ihrem Träger noch dessen Umwelt ernsthaften Schaden zu. Die Lächerlichkeit der Fehlhandlung ist begründet in ihrer Konsequenzlosigkeit. Dem entspricht, dass die Poetik des Aristoteles zwar auch (in Kap. IX) eine Fabel (mythos) für die Komödie voraussetzt, allerdings im Unterschied zur Tragödie die Fehlhandlung der Komödie nicht über den mythos definiert, sondern resultierend aus einem Katalog lächerlicher Normabweichungen. Diese Normabweichungen können im Bereich der Sprache, der Handlungen und der Charaktere angesiedelt sein. Am häufigsten ist die Platzierung eines Charakters in einem unpassenden, für ihn untypischen sozialen Umfeld, was als Inkongruenz (engl.: incongruity) bezeichnet wird. In A Midsummer Night’s Dream entbrennt etwa die Feenkönigin Titania in heftiger Liebe zum Weber Bottom, der in einen Esel verwandelt wurde, in The Taming of the Shrew findet sich ein betrunkener Wirt in der Position eines Lords wieder. Shaws Pygmalion versetzt ein Mädchen vom Land in die feine Londoner Gesellschaft. Inkongruenz kommt auch zum Tragen, wenn ein Charakter bei ungewöhnlichen Tätigkeiten ertappt wird, wie etwa in der Fechtstunde in Jonsons Everyman in his Humour. Neil Simon zeigt in The Odd Couple, wie zwei Männer, die sich von ihren Frauen getrennt haben, versuchen, zusam-
Aristoteles’ Poetik
Normabweichungen Inkongruenz
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VII. Handlungsentwürfe
menzuleben, wobei der eine penibel, der andere ein Chaot ist. Der komische Konflikt ist vorprogrammiert. Komische Normabweichung der incongruity kann bei einem Charakter auch zwischen Erwartung und Realität im Auftreten einer historischen Person liegen. So wird das gängige Bild von Wolfgang Amadeus Mozart in Peter Shaffers Amadeus (1980) heftig erschüttert, wenn der Charakter zum ersten Mal auftritt (Akt 1, Szene 5): Beispiel: Peter Shaffer, Amadeus
Automatismus
Formen der Komödie: a-historische Typen Liebeskomödien
Suddenly a small, palid, lage-eyed man in a showy wig and a showy set of clothes runs after her [Constanze] and freezes – centre – as a cat would freeze, hunting a mouse. This is Wolfgang Amadeus Mozart. As we get to know him through his next scenes, we discover several things about him: he is an extremely restless man, his hands and feet in almost continuous motion; his voice is light and high; and he is possessed of an unforgettable giggle – piercing and infantile. Mozart: Miaouw! Constanze [betraying where she is]: Squeak! Mozart: Miaouw! Miaouw! Miaow! The composer drops on all fours and, wrinkling his face, begins spitting and stalking his prey. The mouse – giggling with excitement – breaks her cover and dashes across the floor. The cat pursues. Almost at the chair where Salieri is concealed, the mouse turns at bay. The cat stalks her – nearer and nearer – in ist knee breeches and elaborate coat. (S. 33 f.) Komik aufgrund von Inkongruenz entsteht ferner dann, wenn das sprachliche Register den entgegen gesetzten Effekt des Gewünschten hat: Mrs. Malaprop in Sheridans The Rivals (1775) gab diesem Phänomen seinen Namen, wenn sie etwa von den „allegories [statt alligators] on the banks of the nile“ spricht. Inkongruenz besteht des Weiteren, wenn die Sprache im Gegensatz zur emotionalen Situation eines Charakters steht, wenn etwa eine freudige Nachricht in einem ganz banalen Gespräch wie beiläufig eingeschoben wird. Auch der Geschlechterwechsel, wenn Männer die Rolle einer Frau einnehmen, wie in Brandon Thomas’ Klassiker Charley’s Aunt (1892), und in den 80er Jahren Dustin Hofman als Tootsie, oder Robin Williams als Mrs. Doubtfire, lebt von den Mechanismen des Komischen. Was eine Gesellschaft für komisch hält, worüber sie lacht, wechselt im Lauf der Geschichte und in verschiedenen Kulturen, da es vom Wandel des sozialen Normenbewusstseins abhängig ist. Neben Inkongruenz ist Automatismus eine der häufigsten Quellen von Komik, und dies vor allem in farcenhaften Dramen. Von Automatismus spricht man, wenn Charaktere die Flexibilität des Handelns verlieren und in immer gleicher Weise reagieren. Geistesabwesenheit oder wenig soziale Kontakte sind Gründe für dieses Verhalten, das sich etwa an Mr. Bean illustrieren lässt. Automatismus kann sich auch im sprachlichen Bereich manifestieren, wenn Charaktere mit den immer gleichen Phrasen antworten. Als a-historische Typen der Komödie lassen sich drei Ausformungen unterscheiden, welche dann jeweils historische Ausprägungen erfahren haben: Liebeskomödien, satirische Komödien und Farcen. Die Liebe ist thematisches Zentrum der so genannten ,romanesken‘ Komödien, deren Handlungsvorlagen der spätmittelalterlichen Romanzenliteratur entnommen sind. Romaneske Komödien sind bestimmt durch Verklei-
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dungen, Verwechslungen, Vertauschungen, das Erleiden von Schiffbruch, oft verbunden mit der Trennung von Familienangehörigen, die sich am Ende des Dramas aber wieder finden. Das happy ending wird häufig durch ein Fest, oft eine Hochzeit oder einen Tanz als Zeichen der Harmonie, betont. Die romaneske Komödie ist ganz auf die Identifikation der Zuschauer mit dem Helden angelegt: der Zuschauer wird dazu aufgefordert, sich für die Perspektive des Helden, dessen Liebe als positiver Wert dargeboten wird, zu engagieren. Die poetologische Position der romanesken Komödie vertritt in England als erster Sir Philip Sidney in seiner Apology for Poetry (zirka 1580). Er folgte Aristoteles’ Feststellung, die Komödie ahme „gemeinere Menschen nach als sie in Wirklichkeit sind“ (s. o.) wie folgt: „ … the comedy is an imitation of the common errors of our life, which he [the poet] representeth in the most ridiculous and scornful sort that may be, so as it is impossible that any beholder can be content to be such a one. Now, as in geometry the oblique must be known as well as the right, and in arithmetic the odd as well as the even, so in the actions of our life who seeth not the filthiness of evil, wanteth a great foil to perceive the beauty of virtue. This doth the comedy handle so in our private and domestical matters, as with hearing it we get, as it were, an experience, what is to be looked for of a niggardly Demea, of a crafty Davus, of a flattering Gnatho, of a vain-glorious Thraso; and not only to know what effects are to be expected, but to know who be such, by the signifying badge given them by the comedian.“ (Zeilen 834–846). Die zitierten Beispiele sind Figuren aus Stücken des römischen Komödiendichters Terenz (ca. 195–159 v. Chr.), die deutlich machen, welche Verhaltensweisen lächerlich gemacht werden: Geiz, Durchtriebenheit, Schmeichelei, Eitelkeit und Prahlsucht. Es handelt sich also um allgemein-menschliche moralische Verhaltensweisen, menschliche Torheiten, keine Verbrechen, die der Lächerlichkeit preisgegeben werden und damit ex negativo auf den positiven Standard verweisen sollen. Dieser Zustand soll für die Zuschauer erkennbar werden und sie an der Nachahmung schlechter Eigenschaften hindern. Um dieses moralische Ziel zu erreichen, fordert Sidney als wirkungsästhetisches Verfahren „that all the end of the comical part be not upon such scornful matters as stir laughter only, but mixed with it that delightful teaching which is the end of poesy“. (Zeilen 1561–1564) Anstelle von Komödien, die nur lautes Gelächter erzeugten, wünschte Sidney also Komödien, die im Zuschauer Entzücken und Heiterkeit hervorrufen und durch die Darstellung des Guten und des Glücks die Menschen auf angenehme Weise belehren und zur Tugend führen können. Als historische Ausprägungen stehen in der Tradition des Sidney’schen Komödienbegriffs Shakespeares happy comedies, im 18. Jahrhundert beispielsweise die Dramen Sheridans (The Rivals; The Duenna) und Goldsmiths (She Stoops to Conquer). Die romaneske Komödie spielt oft in einer Märchenwelt, wie etwa dem Forest of Arden in As You Like It, oder im Wald vor Athen in A Midsummer Night’s Dream. Für gewöhnlich verfolgt man als Zuschauer die Bemühungen eines jungen Paares, sich über den Widerstand der Eltern oder zumindest eines strengen Vaters hinwegzusetzen, um schließlich am Ende des Stücks das Läuten der Hochzeitsglocken zu vernehmen. Anders als in der romanesken Komödie agieren in der satirischen Komödie typisierte Figuren in einem relativ geschlossenen Illusionsraum. Die
Sir Philip Sidney, An Apology for Poetry
Delightful teaching
Historische Ausprägungen der Liebeskomödie
Satirische Komödien
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VII. Handlungsentwürfe
Historische Ausprägung der satirischen Komödie: die Dramen Ben Jonsons
Beispiele
Farce
Dramenfiguren werden karikaturistisch überzeichnet und ,aufgeblasen‘ (inflatio) und oft verzerrend auf einen Charakterzug festgelegt. Die dadurch bedingte ausgesprochen selektive Weltsicht dieser Figuren wird im Laufe der Handlung immer wieder bloßgestellt (deflatio). Die satirische Komödie zielt mit ihrer didaktischen Orientierung auf moralische Belehrung; die intendierte Rezeptionsperspektive ist klar erkennbar: sie wird etwa durch Prologe oder Epiloge vermittelt (vgl. hierzu auch Kap. IV.5). Entsprechend kann sich der Zuschauer kaum mit den Dramenfiguren identifizieren, vielmehr distanziert er sich von diesen. Als historische Ausprägung der satirischen Komödie führt die comedy of humours, wie sie Ben Jonson im 17. Jahrhundert vertrat, in Opposition zum wirkungsästhetischen Verfahren des Mitlachens wie es Sidney postulierte, die korrektive und belehrende Funktion des Verlachens vor. In Jonsons Komödien treten einseitig verzerrte Figuren auf, die in ihrem Verhalten von einem der vier Körpersäfte (humours), also gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Phlegma = Schleim, dominiert werden. Entsprechend der Dominanz eines Körpersaftes können die Figuren auf den Charaktertyp entweder des Cholerikers, Melancholikers, Sanguinikers oder Phlegmatikers festgelegt werden. Im Prolog zu Every Man Out of his Humour gibt der Satiriker Asper die Definition des humour-Begriffs: „As when some peculiar quality / Doth so possess a man, that it doth draw / All his affects, his spirits, and his powers / In their confluctions, all to run away, / This may be truely said a humour.“ (Induction, 105–109). In The Alchemist zeigt Jonson an der Auffassung der Zeit, in der Alchemie einen schnellen Weg zum Reichtum zu sehen, zum einen das menschliche Übel der Habgier auf, zum anderen stellt er auch das Gewinnstreben der Gesellschaft seiner Zeit dar, die im Stadium des beginnenden Kapitalismus große Umschichtungen von Vermögen und immense Profite aus kaufmännischen Unternehmungen verzeichnete. Jonson hält in dieser Komödie dem Publikum einen Spiegel vor, in dem es sich als korrupte Gesellschaft mit einer pervertierten Gesellschaftsordnung erkennen soll, in der Habgier und gesellschaftliches Ansehen die beherrschenden Impulse, und Reichtum der oberste Wert sind. Der alte Morose in Epicoene or The Silent Woman ist besessen vom Verlangen nach Ruhe und Stille, wird dazu gebracht, eine angeblich schweigsame Frau zu heiraten, die sich freilich erstens als überhaupt nicht schweigsam und zweitens als junger Mann entpuppt. Volpone or the Fox zeigt eine Gruppe von Charakteren, die nur noch von Habgier besessen sind. Diese Komödien Ben Jonsons leben also von einem gewissen Automatismus der immer gleichen Verhaltensmuster; die Figuren sind eher ein- als mehrdimensional angelegt und sollen mit ihren Verhaltensweisen zu Spott und Verlachen anregen und den Zuschauer auf diese Weise zu Einsicht und moralisch richtigem Handeln kommen lassen. Die Farce als der dritte a-historische Typ der Komödie genießt gemeinhin eher ästhetische Geringschätzung als kritisches Interesse. Bezeichnend für eine Farce ist in erster Linie die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens; die „unnatural events“ (John Dryden) und eine „monstrous extravagance“ (John Dennis) charakterisieren die englische Farce schon früh. Samuel Taylor Coleridge eröffnete im 19. Jahrhundert in seiner Definition die Möglichkeit, die ,realistische‘ Einbettung der Ereignisse und deren Unwahrscheinlichkeit funktional aufeinander zu beziehen: „A proper farce is mainly distinguished
6. Untergattungen: Tragödie und Komödie
from comedy by the licence allowed, and even required in the fable, in order to produce strange and laughable situations. The story need not be probable, it is enough that it is possible. The definition of a farce is an improbability or even impossibility granted in the outset; see what odd and laughable events will fairly follow from it.“ Die Einbettung des Unwahrscheinlichen oder des Unmöglichen in einen Kontext des Vertrauten steigert demnach noch den Eindruck des Unwahrscheinlichen, ebenso wie umgekehrt durch diese Diskrepanz das Vertraute verfremdet wird. Schon die Ausgangsituation der Farcenhandlung ist höchst unglaubhaft; sie ist jedoch notwendig, um die Figuren in eine Serie von komischen Situationen zu versetzen, die sich dann jeweils in Situationskomik entladen. Eine realistische Milieuschilderung und eine psychologisch glaubwürdige Zeichnung der Figuren kann die komische Wirkung steigern, da durch diese für den Zuschauer eine Diskrepanz zwischen der Unwahrscheinlichkeit der Grundsituation und einem vertrauten Kontext geschaffen wird. Die Figuren in einer Farce müssen also bei aller Handlungs- und Situationsorientiertheit einen gewissen Grad an Plausibilität besitzen, da erst aus der Überschneidung der kontrastierenden Perspektiven die Komik der Missverständnisse und Verwechslungen entsteht. Andererseits dürfen die Charaktere nicht zu stark ausgestaltet sein, um eine Identifikation des Zuschauers zu vermeiden und vielmehr die Distanz zu schaffen, welche die Voraussetzung für farcenhafte Komik ist. Mehr als in anderen Formen komischer Dramatik betrachtet der Zuschauer Figuren und Situationen in einer Farce unter dem Aspekt des Spielcharakters, da das Publikum unausgesprochen etwas Unwahrscheinliches oder Unmögliches als gegeben hinnimmt und sich um des eigenen Vergnügens willen gar nicht erst mit den Figuren identifizieren will. Elemente der Farce finden sich in Shakespeares frühen Dramen The Comedy of Errors, The Taming of the Shrew oder The Merry Wives of Windsor. Moderne Beispiele sind Dramen von Noel Coward (Blithe Spirit) Alayn Ayckburn (The Norman Conquests) oder Michael Frayns Noises Off, welches hier als Beispiel dienen soll. Das Drama, welches im ersten Akt eine Theaterprobe zeigt, beginnt und etabliert damit die Atmosphäre mit der Haushälterin Mrs. Clackett, die einen Teller voller Sardinen trägt und das läutende Telefon bedient. Sie wird – illusionsdurchbrechend – vom Regisseur Lloyd Dallas aus dem fiktiven Zuschauerraum unterbrochen: Lloyd: You leave the sardines, and you put the receiver back. Dotty: Oh, yes, I put the receiver back. (She puts the receiver back and moves off with again with the sardines.) Lloyd: And you leave the sardines. Dotty: And I leave the sardines? Lloyd: You leave the sardines. Dotty: I put the receiver back and I leave the sardines. Lloyd: Right. Dotty: We’ve changed that, have we, love? Lloyd: No, love. Dotty: That’s what I’ve always been doing? Lloyd: I shouldn’t say that, Dotty, my precious. Dotty: How about the words, love? Am I getting some of them right?
Historische Ausprägungen der Farce
Beispiel: Michael Frayn, Noises Off
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VII. Handlungsentwürfe
Lloyd: Some of them have a very familiar ring. Dotty: Only it’s like a fruit machine in there. Lloyd: I know that, Dotty. Dotty: I open my mouth, and I never know if it’s going to come our oranges or two lemons and a banana. Lloyd: Anyway, it’s not midnight yet. We don’t open till tomorrow. Rein historische Ausprägung der Komödie: comedy of manners
Als rein historische Ausprägung der Komödie sei abschließend noch die Gesellschaftskomödie (comedy of manners) erwähnt. Sie spiegelt das Leben einer ganz bestimmten Gesellschaftsschicht wieder, nämlich die höfische Welt der Kavaliere im England der Restaurationszeit. Beispiele sind hierzu die Dramen von Congreve, Etheredge, Farquar, Goldsmith, Sheridan, Vanbrugh und Wycherley. Sie kann ebenso den Lebensstil der upper class im 19. und 20. Jahrhundert zum Gegenstand haben, wofür die Dramen von Noel Coward, Somerset Maugham oder Oscar Wilde exemplarisch zu nennen sind. Bloßgestellt werden hier nicht moralische Schwächen, sondern allenfalls lächerliche Verstöße gegen gesellschaftliche Konventionen und der ungeschriebene Code verfeinerter Lebensart. Das witzig-intellektuelle Spiel in einer Gesellschaftskomödie will die Zuschauer eher amüsieren als moralisch bessern. Der Zuschauer muss die Zusammenhänge durchschauen und kann sich an brillianten Wortgefechten erfreuen. Die Figuren leben weniger in einer wirklichen Welt als in der künstlichen Welt des Spiels, deren wichtigstes Prinzip es ist, nichts ernst zu nehmen: „… life is far too important a thing ever to talk seriously about it.“ (Oscar Wilde, Lady Windermere’s Fan).
VIII. Raumentwürfe Im Gegensatz zu narrativen Texten, in denen topographische Veränderungen und Einengungen oder Erweiterungen des Schauplatzes möglich sind, ist das Drama aufgrund seiner Vermittlung im Theater an ein räumliches Kontinuum gebunden, wobei Raumentwürfe im Drama zum einen verbal im Text und zum anderen konkret auf der Bühne des Theaters erstellt werden (Kap. VIII.1). Drama kann zudem geprägt von einer offenen Raumstruktur, die außerhalb des Illusionstheaters der ,vierten Wand‘ keine absolute Geschlossenheit des Raumentwurfs erwartet (Kap. VIII.2) Eine geschlossene Raumstruktur dagegen zielt – mit Hilfe der ,vierten Wand‘ im Illusionstheater – auf ästhetische Geschlossenheit (Kap. VIII.3). Bedingt durch die Doppelnatur des Dramas können dramatische Räume sowohl sprachlich im Text wie auch außersprachlich auf dem Theater evoziert und realisiert werden (Kap. VIII.4).
Inhalt des Kapitels
1. Die zwei Räume des Dramas Wegen der Doppelnatur des Dramas als literarischem Textsubstrat und als Spielvorlage für das Theater werden Raumentwürfe in dramatischen Texten nicht nur – wie in narrativen Texten – im inneren Kommunikationssystem verbal erstellt, sondern auch im äußeren Kommunikationssystem konkret auf der Bühne (vgl. Kap. II) umgesetzt. Dabei wird dem Zuschauer stets die kreative Rolle auferlegt, die Lücken, die auf der Bühne aufgrund der begrenzten Mittel der Illusion immer entstehen, selbst in seiner Imagination auszufüllen. Dies macht einen Teil des Reizes aus, den das Theater ausübt, denn aus dieser Spannung zwischen dem im literarischen Text entworfenen imaginären Schauplatz und dem realem Bühnenraum ergeben sich in gleichem Maße Chancen und Probleme der szenischen Realisation, welche an prominenter Stelle – oft zitiert – im Prolog zu Henry V thematisiert werden: (Enter Chorus as Prologue). … But pardon, gentles all, The flat unraised spirits that hath dared On this unworthy scaffold to bring forth So great an object. Can this cockpit hold The vasty fields of France? Or may we cram Within this wooden O the very casques That did affright the air at Agincourt? O pardon: since a crocked figure may Attest in little place a million, And let us, ciphers to this great account, On our imaginary forces work … (8–18)
Beispiel: Henry V
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VIII. Raumentwürfe
Dieses vom Zuschauer geforderte Ausfüllen der ,Lücken‘ wird möglich durch die Geschlossenheit, durch die sich das (unvollständige) Drama auf der Bühne auszeichnet. So kann der Raum (und auch die Zeit; vgl. Kap. IX) im Drama über die Begrenzungen der Bühne hinaus in der Vorstellung der Zuschauer in alle Richtungen erweitert werden. Die pseudo-aristotelischen Einheiten Mit der Norm der ,drei Einheiten‘ von Raum, Zeit und Handlung beruft man sich gemeinhin auf Aristoteles’ Poetik, in der jedoch lediglich die Einheit des mythos ausdrücklich verlangt wird (vgl. Kap. VII). Daneben wird nur die ,Einheit‘ der Zeit (vgl. auch Kap. IX) nur knapp als formale Tendenz vorliegender Tragödien erwähnt: „… die Tragödie versucht so weit wie möglich sich in einem einzigen Sonnenumlauf oder doch nur wenig darüber hinaus abzuwickeln.“ (S. 30). Von einer Einheit des Ortes ist bei Aristoteles also gar keine Rede. Die Forderung nach den ,drei Einheiten‘ wurde in England erst im Zuge der klassizistischen Literaturkritik im 17./18. Jahrhundert erhoben (vgl. hierzu auch Kap. VII.6). Begründet wurde deren Legitimität hinsichtlich der Entwürfe von Raum und Zeit mit dem Argument der Glaubwürdigkeit und der Vernunft, da zu häufige Schauplatzwechsel und größere Zeitsprünge die Vorstellungskraft des Publikums überfordern würden. Erst als Dr. Samuel Johnson in seiner Preface zu Shakespeares Werken von 1765 die Fiktionalität als Wesen des Dramas konstatierte und dem Zuschauer eine gewisse kulturelle Kompetenz, mit fiktionalen Texten umzugehen, zutraute („The truth is that the spectators are always in their senses and know, from the first act ot the last, that the stage is only a stage, and that the players are only players“), wurde der weiteren historischen Entwicklung des Dramas ein großer formaler Spielraum eröffnet.
2. Offene Raumstruktur Im antiken Drama genügte es, die Handlung in der Phantasie der Zuschauer einem aus dem Mythos bekannten imaginären Ort zuzuweisen, ohne dass dieser real auf dem Theater gezeigt werden musste. Auf der illusionsarmen Bühne der Frühen Neuzeit, auf der Raum- (und auch Zeit-)entwürfe durch die Techniken der Wortkulisse (vgl. Kap. VIII.4) und der indirekten Charakterisierung (vgl. Kap. VI) problemlos übernommen werden konnten, finden sich beinahe unbegrenzte Raumentwürfe, insbesondere in den frühneuzeitlichen Historiendramen (vgl. auch Kap. X.4). So wird z. B. in der Trilogie Henry VI ein Geschichtspanorama entworfen, welches einen Zeitraum von beinahe 40 Jahren umfasst und eine Schauplatzfülle einbezieht, die über die Grenzen Englands nach Frankreich hinausgreift. In Antony and Cleopatra bemüht Shakespeare in seinen 41 Szenen fünfzehn verschiedene Lokalitäten und schafft damit entsprechende Probleme für das heutige Illusionstheater der ,vierten Wand‘ mit realistischem Bühnenbild. Technisch ist dies heute allenfalls mit Projektionen zu bewerkstelligen, auf der illusionsarmen elisabethanischen Bühne war dies kein Problem. Moderne Bühnenformen wie die Arenabühne (vgl. Kap. II) ermöglichen zunehmend wieder die Umsetzung von Dramen mit offener Raumstruktur.
3. Geschlossene Raumstruktur
Mit dem Aufkommen des Illusionstheaters im 17. Jahrhundert und der Darstellung von Inhalten, die nicht – wie die antiken Mythen – allgemein bekannt waren, oder – wie im Theater der Frühen Neuzeit – durch die Technik der Wortkulisse (s. u.) ausgeglichen werden konnten, musste dem Zuschauer auch der Ort der Handlung in irgendeiner Weise vorgeführt werden, da sonst die Identifikation mit dem Geschehen auf der Bühne beeinträchtigt worden wäre. Die Raumkonstituierung erfolgt bis heute auf den traditionellen Theaterbühnen mit Hilfe von mehr oder weniger aufwändigen Bühnenbildern und mehr oder weniger zahlreichen Requisiten, die beide auf eine in sich abgeschlossene fiktive Welt auf der Bühne verweisen.
3. Geschlossene Raumstruktur Eine geschlossene Raumstruktur im Dramentext hat das Ziel, eine komplette Illusion zu erstellen, Spannung auf das Ende der Handlung hin auszurichten und ästhetische Geschlossenheit zu vermitteln. Die Figuren sind in ihrer Welt gleichsam eingeschlossen. Oft ist der Raum nur ein Zimmer, der einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit darstellt, welcher vom Zuschauer vervollständigt werden kann, wenn er die ihm gegebenen Einblicke in den Nahraum etwa durch Türen, Fenster, Geräusche, Licht, oder in den Fernraum durch Briefe, Telefongespräche oder Berichte in seiner Vorstellung komplettiert. Insbesondere in den Dramen der 1950er und 1960er Jahre werden diese Räume häufig zur Charakterisierung der Figuren und besonders des Milieus funktionalisiert. So sind in diesen Wohnzimmer, Büro oder andere Kernbereiche des Privat- und Arbeitsbereichs populär, da die Autoren im Milieu einen wesentlichen determinierenden Faktor sehen, der auf den Menschen einwirkt. Der Raum kann damit eine auch zusätzliche symbolische Funktion des Ein-, Ab-, oder Ausgeschlossenseins bekommen. So beginnt John Osbornes Drama Look back in Anger (1956) „in a fairly large attic room, at the top of a large Victorian house“, was auf ein Figurenpersonal aus der Mittelklasse verweist. John Ardens Live like Pigs (1958) ist angesiedelt in einem „post-war Council Estate in a north-country industrial town“. In ein Council Estate wurden in England nach dem Zweiten Weltkrieg Slumbewohner in Sozialwohnungen umgesiedelt; wer also dort lebte, gehörte zur alleruntersten sozialen Schicht. Diesem Raum entsprechend rekrutiert sich das Personal in Ardens Drama aus der Arbeiterklasse. Aus jüngerer Zeit bietet Neil LaBute’s The Mercy Seat (2003) ein geradezu ,klassisches’ Beispiel für die geschlossene Raumstruktur. Sein Drama um die Ereignisse des 9. September 2001 spielt – in einem einzigen langen Akt – in einem einzigen Raum („a spacious loft apartment“), an einem ganz bestimmten Tag, dem 12. September, und damit dem Tag nach den Terroranschlägen auf die Zwillingstürme des World Trade Centre in New York. Dass dieser Raum auch eine symbolische Funktion hat, wird deutlich, wenn der Autor selbst sein Stück bezeichnet als „a play about two New Yorkers who face down one another and their own selves on a long, dark morning of the soul. I hold the mirror up higher and try to examine how selfishness can still exist during a moment of national selflessness. … I am trying to examine the ,ground zero’ of our lives, that gaping hole in ourselves that we try to cover
Beispiel: Neil LaBute, The Mercy Seat
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VIII. Raumentwürfe
up with clothes from The Gap, with cologne from Ralph Lauren, with handbags from Kate Spade“. (x) Generell kann ein begrenzter Raum im Drama also auf fehlende Autonomie oder auch auf soziale Determiniertheit des Menschen verweisen, ein entgrenzter Raum dagegen auf den Ort der anonymen Massen, aber auch der ,großen‘ Welt. Was die Umsetzung auf dem Theater betrifft, so trägt die ,vierte Wand‘ der Guckkastenbühne zu dieser Abgeschlossenheit der fiktiven Welt zusätzlich bei.
4. Lokalisierungstechniken
Sprachliche Lokalisierungstechniken
Wortkulisse
Beispiel: Romeo and Juliet
Bedingt durch die Doppelnatur des Dramas können dramatische Räume sowohl sprachlich im Text wie auch außersprachlich auf dem Theater realisiert werden. Bezogen auf das literarische Textsubstrat ,Drama‘ wird bei einer Analyse zunächst die Frage nach der Fiktion oder Realität des Schauplatzes in der Dramenhandlung zu stellen sein: wie ,real‘ ist der Entwurf des Schauplatzes im Text? So spielen Shakespeares heitere Komödien (mit Ausnahme der Merry Wives of Windsor) alle in mehr oder weniger vage bestimmten Gefilden Frankreichs, Italiens, Illyriens oder Griechenlands, die kaum landesspezifische Details erkennen lassen. Mit dieser Zurücknahme des Realitätsanspruchs stehen diese im Gegensatz zu den satirischen Komödien Ben Jonsons (vgl. hierzu auch Kap. VII), die das zeitgenössische England und London zu ihrem Schauplatz machen und damit auf die Gegenwart des Zuschauers verweisen. So legt Ben Jonson im Prolog zu The Alchemist fest „Our scene is London.“ Auch im 20. Jahrhundert legen Dramatiker oft großen Wert auf konkrete Raumentwürfe. Oben wurde bereits auf die Dramen John Ardens und John Osbornes verwiesen, hier sei noch Sarah Daniels’ Gut Girls (1988) genannt, welches in Deptford (nicht gerade der feinsten Adresse) in einem Schlachthof spielt. Wenn eben dieses Stück im Albany Empire Theatre in Deptford aufgeführt wird, bekommt das Publikum geradezu einen Spiegel der eigenen Lebenswirklichkeit vorgehalten. Unter den sprachlichen Lokalisierungstechniken ist insbesondere das Phänomen der Wortkulisse zu nennen. Vor allem in den illusionarmen Formen des Theaters wie in der frühen Neuzeit kompensiert diese die Beschränktheit der szenischen Darstellungsmittel. Als Beispiel mag dienen die Schilderung des Morgens durch Friar Laurence in Romeo and Juliet: Friar: The grey-eyed morn smiles on the frowning night, Check’ring the eastern clouds with streaks of light; And flecked darkness like a drunkard reels From forth day’s path and Titan’s fiery wheels. Now, ere the sun advance his burning eye The day to cheer and night’s dank dew to dry, I must upfill this oisier cage of ours With baleful weeds and precious-juiced flowers. (2.3.1–8) Eine solche ,Kulisse‘ der evokativen Sprachkunst Shakespeares könnte kaum real in ein Bühnenbild übersetzt werden. Durch sie wird der Schau-
4. Lokalisierungstechniken
platz in einer Weise veranschaulicht, wie dies ein konkretes Bühnenbild kaum leisten könnte. Doch die Funktion der Wortkulisse ist es nicht nur, das Bühnenbild zu ersetzen, da sie darüber hinaus auch der Charakterisierung von Figuren (vgl. das Beispiel aus Antony and Cleopatra in Kap. VII) dienen kann. Außersprachliche Lokalisierungstechniken zeigen sich auf der Theaterbühne in Bühnenbild und Requisiten und dem proxemischen Code zwischen den Figuren (vgl. Kap. II). Dass diese Kategorien eng miteinander verbunden sind, zeigt die Tatsache, dass auch Statistenfiguren zum Element des Bühnenbildes werden können, wenn sie sich weder sprachlich noch gestisch-mimisch äußern, und umgekehrt auch Elemente des Bühnenbildes zur ,Figur‘ werden können, wenn sie eine eigenständige Aktivität entfalten. Dies ist insbesondere in absurden Dramen der Fall (vgl. Kap. X.8). Bei der Analyse des Raums als dem Bedingungsrahmen für die Aktion der Figuren im Drama sind schon die Oppositionen der einzelnen Bühnenabschnitte wie rechts/links, oben/unten, vorne/hinten stets Bedeutung tragend. Auch ist die Relation zwischen dem szenisch präsentierten Schauplatz und dem Raum des off stage bedeutungsvoll: aus welchem Außenraum kommen die Figuren auf die Bühne, in welchen Raum gehen sie nach ihrem Abtritt von der Bühne? Auch die verschiedenen im Text präsentierten Schauplätze ermöglichen auf der Bühne signifikante Raumkonstraste. Beispiele wären Shakespeares Komödien mit der Raumopposition einer – oft in Unordnung geratenen – Welt des Hofes und einer – der alltäglichen Wirklichkeit entrückten – green world wie eines Forest of Arden in As You Like It oder eines Waldes bei Athen in A Midsummer Night’s Dream. Ferner ist hier zu nennen die Opposition von zwei Ländern wie etwa Italien und Ägypten in Antony and Cleopatra, oder von Stadt und Insel wie im Falle von Venedig und Zypern in Othello. Ob die Raumkonzeption auf der Bühne konkret, stilisiert oder neutral ist, hängt viel von den Möglichkeiten des jeweiligen Theaters und der Inszenierung ab. Räume, die in hohem Maße konkretisiert und spezifiziert sind, wie die Ausstattungsbühnen des 19. und auch noch der 1. Hälfte es 20. Jahrhunderts können auf spektakuläre Schaueffekte abzielen, oder die Bedingtheit der Figuren durch die äußeren Umstände verdeutlichen. Der Wechsel von einem Raum in einen anderen kann auch als ,Grenzüberschreitung‘ im Sinne Lotmans (vgl. Kap. VII.6) etwa als Durchbrechen sozialer Schranken gesehen werden. Neutrale, weniger konkretisierende und spezifizierende Raumkonzepte verlagern die Darstellung mehr in das Bewusstsein der Figuren und setzen dieses als autonom, als ,un-bedingt‘ im Hinblick auf materielle Gegenstände. So erschöpft sich in Samuel Becketts Waiting for Godot die Schauplatzangabe des Nebentextes in einem lakonischen „A country road. A tree.“ Zudem bleibt der Baum noch so unspezifisch, dass sich Vladimir und Estragon darüber streiten können, ob es sich um einen Baum, ein Bäumchen oder einen Strauch handelt, und ebenso führt die Landstraße von einem undefinierten Irgendwo in ein anderes. Für eine Dramenanalyse ist zunächst offensichtlich, dass dieser Baum einen Schauplatz in einem Außenraum markiert, der ein plausibler Treffpunkt für zwei Landstreicher wäre. Da dieser Baum freilich das einzige Raum konstituierende Requisit ist, verweist diese
Außersprachliche Lokalisierungstechniken
Raumoppositionen auf der Bühne
Raumkonzeption auf der Bühne
Schauplatz und Geschehen Beckett, Waiting for Godot
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VIII. Raumentwürfe
Beispiel: The Merchant of Venice
Beispiel: Macbeth
Leere der Bühne auch auf die innere Leere, die Isoliertheit und die Verlorenheit der auftretenden Figuren. Der Raum spiegelt damit symbolisch deren Bewusstseinslage. Damit erscheint der Raum primär als Projektion von Bewusstseinszuständen und ist nur noch sekundär das Abbild eines realen Raumes. Eine solche semantische Korrespondenz von Raum und Geschehen ist nicht nur im absurden Drama der Gegenwart, sondern auch schon im Drama der Frühen Neuzeit anzutreffen, wenn sich etwa die innere Aufruhr des King Lear in der äußeren Aufruhr der sturmumtosten Heide spiegelt (Akte 3.2 und 4) oder sich innere und äußere Harmonie decken, als sich das Liebespaar Jessica und Lorenzo in The Merchant of Venice im mondbeschienenen Garten von Belmont trifft: Lorenzo: The moon shines bright. In such a night as this, When the sweet wind did gently kiss the trees And they did make no noise. In such a night Troilus, methinks, mounted the Trojan walls And sighed his soul toward the Grecian tents Where Cressid lay that night. (5.1.1–6). In beiden Fällen liegt eine Übereinstimmung zwischen der inneren Gestimmtheit der Figuren und dem äußeren räumlichen Rahmen vor. Eine entgegengesetzte Relation des Kontrasts zwischen Schauplatz und Geschehen bringt dramatische Ironie hervor wie etwa die Ankunft Duncans am Schloss von Macbeth: Duncan: This castle hath a pleasant seat. The air nimbly and sweetly recommends itself Unto our gentle senses. Banquo: This guest of summer, The temple-haunting martlet, does approve By his loved mansionry that the heavens’ breath Smells wooingly here. No jutty, frieze, Buttress, nor coign of vantage but this bird Hath made his pendant bed and procreant cradle. Where they most breed and haunt I have observed The air is delicate. (1.6.1–10) Die positive und freudige Gestimmtheit der am Schloss von Macbeth ankommenden Gäste steht im Widerspruch zu der bevorstehenden dortigen Ermordung Duncans, über deren Plan der Zuschauer bereits informiert ist. Zwischen Dramenfiguren und Zuschauern besteht somit ein unterschiedlicher Stand der Informiertheit (discrepant awareness), welcher die Voraussetzung für dramatische Ironie ist (vgl. auch Kap. IV).
IX. Zeitentwürfe In dramatischen Texten bestimmt ein Kontinuum von Zeit (und Raum; vgl. Kap. VIII) der dargestellten Handlung den Textverlauf. Das Geschehen im Drama verläuft immer gleichzeitig mit dessen Rezeption, woraus als die vorherrschende Zeitstufe im Drama das Präsens resultiert, das hic et nunc der präsentierten Situationen. Ausgehend von diesem hic et nunc erschließt sich dem Rezipienten die Vergangenheitsdimension des Vorher (Analepse) und die Zukunftsdimension des Nachher (Prolepse). Bei der Analyse gilt es zunächst, Spielzeit und gespielte Zeit zu unterscheiden (Kap. IX.1), sowie die zeitliche Relationierungen im inneren Kommunikationssystem des Dramas zu differenzieren (Kap. IX.2). Zeitliche Dimensionen variieren auch abhängig von der Handlungsstruktur von Dramen der ,geschlossenen‘ und der ,offenen‘ Form (Kap. IX.3). Nicht zuletzt muss Zeit im Drama nicht nur dem mimetischen Wirklichkeitsbezug dienen, sondern kann darüber hinaus auch Bedeutung tragend sein (Kap. IX.4).
Inhalt des Kapitels
1. Spielzeit und gespielte Zeit Bedingt durch die Doppelnatur des Dramas müssen Spielzeit und gespielte Zeit unterschieden werden. „Unter der realen Spielzeit wollen wir die Dauer der Aufführung selbst verstehen, den realen Zeitraum vom Beginn bis zum Ende der Aufführung, abzüglich der Pausen. … je nach Inszenierungsstil und -tempo kann die reale Spielzeit eines bestimmten Stückes erheblich variieren. Die fiktive gespielte Zeit dagegen ist bereits im Textsubstrat mehr oder weniger präzise fixiert und braucht im inszenierten Text nur noch verdeutlicht und sinnfällig gemacht zu werden.“ (Pfister, S. 369). Das normalerweise gegebene Defizit der realen Spielzeit gegenüber der fiktiven Zeitdauer der Geschichte wird durch zwei Verfahren überbrückt: „Durch eine außerszenische Raffung, mit der Vor- und Nachgeschichte und die zeitlich verdeckten Geschichtsphasen in der Verkürzung sprachlichen Berichts oder szenischer Andeutung erscheinen, und durch eine innerszenische Zeitraffung, die innerhalb der ununterbrochenen raum-zeitlichen Kontinuität einer Szene die primäre gespielte Zeit gegenüber der realen Spielzeit verkürzt.“ (Pfister, S. 370). Für die innerszenische Raffung wäre als Beispiel – häufig zitiert – der Schlussmonolog des Dr. Faustus (5.2) aus Christopher Marlowes gleichnamigem Drama zu nennen, der die fiktive Chronologie genau fixiert. Zu Beginn des Monologs schlägt die Uhr elfmal („the clock strikes eleven“) und Faustus reagiert darauf mit einem „Now hast thou but one bare hour to live / And then thou must be damned perpetually.“ (Vers 143 f.). Nach dreißig Verszeilen erfolgt der Halbstundenschlag („the clock strikes“) und Faustus’ Ausruf „Ah! half the hour is past / ‘Twill all be past anon.“ (174 f.). Nach weiteren 19 Verszeilen schließlich schlägt es Mitternacht („The clock strikes
Innerszenische Raffung Beispiel: Christopher Marlowe, Dr. Faustus
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IX. Zeitentwürfe
Innerszenische Zeitdehnung
Fiktionale versus reale Gegenwart
twelve“), und Faustus ruft: „Oh, it strikes, it strikes!“ (193). Die Diskrepanz zwischen der fiktiven gespielten Zeit von einer Stunde und der realen Spielzeit von etwa drei Minuten stellt also das subjektive Zeiterleben des Dr. Faustus – hier verstreicht die letzte Stunde seines Lebens, bevor er von Mephistopheles in die Hölle geholt wird – umso eindringlicher dar. Das umgekehrte Verfahren der innerszenischen Zeitdehnung spielt im Drama eine nur untergeordnete Rolle. Lange Dialogpausen im Spiel können zwar den Eindruck der Zeitdehnung erwecken, doch kann von Zeitdehnung im Drama nur dann gesprochen werden, wenn die fiktive Zeitdauer deutlich signalisiert wird und die reale Spielzeit diese deutlich überschreitet. Nicht immer deckt sich die fiktionale Gegenwart des Dargestellten mit der realen Gegenwart des Rezipienten. Es ist ein Unterschied, ob die fiktive Handlung in einer mythischen Vorzeit, einer historisch fassbaren Vergangenheit, in der Jetzt-Zeit des Rezipienten oder in unfixierter a-historischer Überzeitlichkeit angesiedelt ist, denn diese unterschiedliche zeitliche Distanz zum realen zeitlichen Kontext des Zuschauers impliziert einen jeweils verschiedenen Bezug des Textes auf die zeitgenössische Wirklichkeit. So betont die Situierung von Ben Jonsons Komödien, die im zeitgenössischen London spielen („Our scene is London“; Prologue zu The Alchemist), den satirischen Bezug auf die Gegenwart des Rezipienten. Umgekehrt erfolgt im frühneuzeitlichen Historiendrama eine indirekte Thematisierung von durchaus aktuellen dynastischen und konstitutionellen Problemen (vgl. auch Kap. X.4).
2. Zeitliche Relationen im inneren Kommunikationssystem Zeitverhältnisse im inneren Kommunikationssystem des Dramas werden bestimmt durch die ,horizontale‘ Achse des sukzessiven Nacheinander, in dem eine Szene auf die andere und ein Handlungsmoment auf das nächste folgt, sowie eine ,vertikale‘ Achse des Gleichzeitigen, da gleichzeitige Zustände von Handlungs- und Geschehnisabläufen eine momentane Situation konstituieren. Sukzession von Geschehnisabläufen Sukzession erfolgt im Drama sowohl im inneren wie auch im äußeren Kommunikationssystem des Dramas. Beide sind prinzipiell futurisch ausgerichtet, auch wenn auf der Ebene des Dargestellten (Text) Rückblicke möglich sind. So können zwei Szenen, die aufeinander folgen, weit auseinander Liegendes oder Gleichzeitiges zeigen, oder die zweite Szene kann inhaltlich sogar vor der ersten spielen. Auf der Ebene der Darstellung (Theater) verstreicht im Fluss der realen Spielzeit der Aufführung die fiktiv gespielte Zeit, wobei durch Zeitraffung und Zeitdehnung (s. o.) Diskrepanzen im Tempo auftreten können. Gelegentlich findet sich in modernen Dramen ein Aufbrechen der Chronologie auf der Ebene des Textablaufs; bereits verwiesen wurde auf Charyl Churchills Top Girls, in dem der zweite Akt ein Jahr nach dem dritten spielt (vgl. Kap. IV). Eine weitere Durchbrechung des Prinzips, dass
2. Zeitliche Relationen im inneren Kommunikationssystem
der Sukzession der realen Spielzeit eine Sukzession der fiktiven gespielten Zeit entspricht, findet sich dort, wo epische Kommunikationsstrukturen (vgl. Kap. IV.5) zu finden sind. Diese ,verbrauchen‘ zwar reale Spielzeit, heben aber die Sukzession auf der Ebene der fiktiven Zeit auf. So etwa die Figur Time in The Winter’s Tale, welche einen Zeitraum von 16 Jahren überbrückt: (Enter Time, the Chorus) … Impute it not a crime to me or my swift passage that I slide O’ er sixteen years and leave the growth untried Of that wide gap, since it is in my power To o’erthrow law, and in one self-born hour To plant and o’er whelm custom. (4.1.4–9) … … Your patience this allowing, I turn my glass, and give my scene such growing As you had slept between. (4.1.15–17) Auf der Bühne kann die Aufhebung der Sukzession – wie oben zitiert – zu Beginn eines neuen Akts durch eine Form epischer Informationsvergabe wie einem Chorus oder einem Prolog, oder inmitten eines Aktes durch ein ,Einfrieren‘ der Bewegungen der übrigen Figuren auf der Bühne geschehen. Eine vergleichbare Aufhebung der Sukzession kann auch durch Monologe erfolgen, wenn diese Bewusstseinszustände thematisieren, die zwar auch reale Spielzeit ,verbrauchen‘, auf die weitere Entwicklung der Handlung aber keinen Einfluss haben. Dass Dramenhandlungen nicht immer zeitlich ,korrekt‘ ablaufen, wird dem Leser eines Dramentexts eher als unstimmig auffallen als dem Zuschauer auf der Bühne, da dieser in der Regel damit beschäftigt ist, die Vielzahl der im präsentierten Codes und Kanäle zu erfassen (vgl. Kap. II). So setzt etwa die Eröffnungsszene des Hamlet ein mit der Wachablösung um Mitternacht. „‘Tis now struck twelve“ (1.1.5). Nur 133 Verse später vertreibt schon das Morgengrauen den Geist: „on the crowing of the cock“ (1.1.138). Auf dem Papier fällt diese Diskrepanz zwischen Handlungs- und Spielzeit als etwas ungewöhnlich auf, einem Theaterpublikum hingegen wird diese kaum bewusst, da sich zu vieles in diesen 132 Versen ereignet hat, was die Zuschauer in ihren Bann zieht. Auch die so genannte ,dopppelte‘ Handlungszeit in Othello wird dem Zuschauer im Theater kaum bewusst. Folgt man nämlich den expliziten Zeitangaben im Text, so hätte der Ehebruch, den Othello seiner Frau Desdemona mit Cassio vorwirft, gar nicht stattfinden können, da der rasante Gang der Ereignisse weder Zeit noch Gelegenheit dazu gelassen hätte. Der Zuschauer erhält jedoch durch die berichteten Vorgänge den Eindruck, dass eine wesentlich längere Zeitspanne verstrichen sei. Demgegenüber steht wiederum The Tempest, in dem die häufigen Stundenangaben im Text eine genaue Übereinstimmung von Spielzeit und gespielter Zeit markieren. Das Vor- und Nacheinander in einer dramatischen Handlung kann von verschiedenen Sukzessionsmodellen getragen sein, die zum Fortschreiten der Handlung beitragen. Am naheliegendsten sind Angaben von Kalenderund/oder Tageszeit (wie oben zitiert die Eingangsszene des Hamlet oder in
Beispiel: The Winter’s Tale
Mittel der Sukzession
Beispiele: Hamlet und Othello
Sukzessionsmodelle
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IX. Zeitentwürfe
Tempo der Sukzession
,Was‘-Spannung versus ,Wie‘-Spannung
Julius Caesar die „Ides of March“). Eine räumliche Veränderung, wie auf dem Theater eine Veränderung des Schauplatzes durch Veränderung des Bühnenbildes, signalisiert oft auch eine zeitliche Veränderung. Auch regelt das Auf- und Abtreten von Personen die Zeit zwischen den Szenen. Nicht zuletzt entsteht in den unterschiedlichen Formen der Rede wie Monolog, Dialog und Polylog (vgl. Kap. V) Handlung, und damit ein zeitliches Sukzessionsverhältnis. So verweist Richard III in seinem Eingangsmonolog auf die Gegenwart: „Now is the winter of our discontent“ (1.1.1), die Vergangenheit: „Plots have I laid“ (1.1.32) und die Zukunft: „[I] Of Edward’s heirs the murderer shall be“ (1.1.40). Das Tempo der Sukzession kann innerhalb eines Stückes wechseln. Tempo wird auf der Bühne zunächst bestimmt durch die Geschwindigkeit der Bewegungsabläufe, die Häufigkeit von Replikenwechseln, Konfigurationsund Schauplatzwechsel, sowie durch die Häufigkeit der Situationsveränderungen. Das Tempo des Gesamttexts hängt ab von der Zahl der Peripetien (vgl. Kap. VII) und von der zeitlichen Konzentration. Das Tempo verändert sich üblicherweise während des Textverlaufs, wenn etwa lange Dialoge mit Stichomythie abwechseln, hektische Konfigurationswechsel mit Szenen statischer Figurengruppierungen kontrastieren, oder turbulente Szenen die der Ruhe ablösen. Tempovariationen können auch Spannung beeinflussen. Als generelles Beispiel hierzu mögen Verwechslungs- oder Doppelgängerkomödien genannt sein, die – wie manche Boulevardkomödie eines Noel Coward z. B. – von der Bewegung und dem Beinahe-Zusammentreffen von Charakteren leben. Texte wie diese sind oft nicht unbedingt vergnügungsreich zu lesen, aber bei einer temporeichen Inszenierung ein großer (Lach) Erfolg auf der Bühne. Spannung Eine Besonderheit der Zeitstruktur im Drama liegt auch in ihrer Funktion als Träger der dramatischen Spannung. Pütz unterscheidet zwischen subjektiver Spannung des Zuschauers und der objektiven Spannung des Stücks in dem Verhältnis der Zeitmodi: da jeder Augenblick Vergangenes aufgreift und Zukünftiges vorwegnimmt, bedeutet Spannung hier nicht primär Intention auf das Unbekannte, sondern auf die näher rückende Zukunft. Die dramatische Handlung besteht demnach – mit einer im wirklichen Leben unmöglichen Dichte – in der sukzessiven Vergegenwärtigung von vorweggenommener Zukunft und nachgeholter Vergangenheit. Dabei ist die Spannung auf den Ausgang (,Was-Spannung‘) zu unterscheiden von der Spannung auf den Gang der Handlung (,Wie-Spannung‘). Den Grad der Spannung beeinflusst wiederum der Grad der Identifikation des Rezipienten mit der fiktiven Figur. Innerhalb des inneren Kommunikationssystems wächst das Spannungspotenzial mit der Größe des involvierten Risikos: dem Helden in der Tragödie droht, und ihn ereilt schließlich der Tod. In der Komödie ist die drohende Alternative zur erstrebten Hochzeit oft ein gesellschaftliches Scheitern. Die Spannung auf den Ausgang kann erhöht werden durch Mittel der zukunftsorientierten Informationsvergabe wie Planungsreden, Schwüre, Träume oder Vorhersagen. Aufgrund des unterschiedlichen Grads der Informiertheit zwischen den Zuschauern im Theater und den Figuren auf der Bühne (vgl. auch Kap. IV) entsteht aus dem Wissen
2. Zeitliche Relationen im inneren Kommunikationssystem
um Hindernisse, die diesen Plänen entgegenstehen, die dramatische Spannung. Spannung steigernd wirkt dazu die oft begrenzte Zeitspanne, die für die Ausführung des Vorhabens zur Verfügung steht. Auch der Informationswert der folgenden Handlungssequenz bestimmt die Intensität der Spannung. Einem Ereignis kommt umso höherer Informationswert zu, je geringer die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens ist. Die ,Wie‘-Spannung überwiegt eher in absurden Dramen (vgl. Kap. X.8). In Becketts Waiting for Godot etwa fesselt eher die schrittweise Entfaltung einer vorgezeichneten Handlung die Aufmerksamkeit des Zuschauers als die Diskrepanz von Vorgriff und Verwirklichung (die es in diesem Drama kaum gibt). Dadurch, dass der zweite Akt genauso strukturiert ist wie der erste, drückt er die unveränderliche Eintönigkeit der menschlichen Existenz, die Abhängigkeit von Menschen untereinander, das Warten und den Rhythmus von Begegnungen und Abschieden aus. In einem Stück, in dem nichts ,passiert‘, erwächst die Spannung also aus der allmählichen Entfaltung dieses Bildes. Die Frage des Zuschauers ist demnach nicht: „Was passiert als nächstes?“, sondern „Was passiert (überhaupt)?“, „Wie wird die Tatsache, dass nichts geschieht, entfaltet?“ Die häufigste Form der Spannung ist die Erwartung, was wohl als nächstes geschehen wird. Diese beruht nie auf dem gänzlich Unerwarteten, sie muss vielmehr stets eine geschickte Kombination des Erwarteten mit dem Unerwarteten sein. So würde im Kriminalroman etwa eine zu große Zahl möglicher Verdächtiger die Spannung eher vermindern als erhöhen. Das Unerwartete kann also nur seine Wirkung entfalten, wenn es aus dem Bekannten entsteht. Damit wir als Zuschauer überhaupt etwas erwarten können, gibt es verschiedene Techniken des Vorgriffs. Spannung lebt nur im Voranschreiten der Handlung, und paradoxerweise findet Spannung in ihrer Verwirklichung, auf die sie sich ständig zu bewegt, auch zugleich ihr Ende. Dabei werden zwei Arten von Vorgriff grundsätzlich unterschieden: Die Ankündigung wird als direkter Vorgriff direkt ausgesprochen, oder sie bleibt unausgesprochen und wird meist mit anderen Mitteln als der Rede bewirkt. Ankündigende Vorkommnisse können sein eine erwartete Ankunft, die von Hinweisen auf die Eile des Herannahenden, Meldung eines Boten etc., begleitet wird. Unsicher bleibt dabei, ob der Angekündigte auch wirklich kommt. Ferner kann Spannung entstehen durch eine Weissagung, wie etwa die Rede des sterbenden John of Gaunt in Richard II, der die Zukunft Englands entwirft: Gaunt: Methinks I am a prophet new-inspired, And thus, exspiring, do foretell of him. His rash, fierce blaze of riot cannot last, For violent fires soon burn out themselves (2.1.31–34) … This royal throne of kings, this sceptred isle, This earth of majesty, this seat of Mars, This other Eden, demi-Paradise, This fortress built by Nature for herself Against infection and the hand of war (40–44) … … is now bound in with shame, With inky blots and rotten parchement bonds.
Beispiel: Beckett, Waiting for Godot
Erwartung als die häufigste Form der Spannung
Vorgriff
Beispiel: Richard II
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IX. Zeitentwürfe
That England that was wont to conquer others Hath made a shameful conquest of itself. Ah, would the scandal vanish with my life, How happy then were my ensuing death! (63–68).
Intrige
Beispiel: Thomas Middleton, The Changling
Zeitbewusstsein von Figuren
Beispiel: Richard II
Trotz der vorweggenommenen Zukunft bleibt generell immer eine Spannung erzeugende Unsicherheit. Wurde die Weissagung richtig vernommen und gedeutet? Tritt sie in der vorausgesagten Weise ein? Wie die Weissagung lässt auch ein Schwur immer die Spannung darauf, ob das Geschworene wirklich eintritt. Bei einer Probe oder einem Kampf wird die Spannung darauf gerichtet sein, wer als Sieger, wer als Verlierer hervorgehen wird. Bei einer Intrige liegt das Spannungspotenzial in der Frage, ob diese Intrige realisiert werden oder noch abgewendet werden kann. Unsicher ist stets auch, wie die Gegenseite reagieren wird. Die Gefahr, durchschaut zu werden besteht, besteht immer, was wiederum eine Unterstützungsintrige notwendig werden lassen kann. So verstrickt sich etwa Beatrice in Middletons The Changeling (1622) immer mehr in ihre Intrigen und Verbrechen, und muss deshalb ihre Dienerin Diaphanta um eine Unterstützungsintrige bitten: sie soll anstelle von Beatrice die erste Nacht mit deren Gatten Alsemero verbringen und dafür „a thousand ducats“ (4.1.125) erhalten. Diaphanta willigt ein. Die Intrige misslingt jedoch, da Diaphanta zu selbständig wird: sie kehrt nicht wie vereinbart von ihrem Rendezvous zurück: Beatrice: One stuck, and yet she lies by’t. – O my fears! This strumpet serves her own endes, ’tis apparent now, Devours the pleasure with a greedy appetite, And never minds my honour or my peace, Makes havoc of my right. (5.1.1–5) Diaphanta: Pardon, frailty, madam; I troth I was so well I e’en forgot myself. (5.1. 77–78) Eine weitere Technik, Vorkommnisse anzudeuten, ist das Zeitbewusstsein einzelner Figuren, die sich über die Last der Vergangenheit, die Ohnmacht vor der Zukunft, ein unaufhaltsam näher rückendes Ereignis, oder das Problem des richtigen Zeitpunkts zum Handeln bewusst werden wie etwa Richard II in seinem Kerkermonolog: Richard: I wasted time and now doth time waste me, For now hath time made me his numb’ring clock: My thoughts are minutes, and with the sighs they jar Their watches on unto mine eyes, the outward watch, Whereto my finger, like a dial’s point, Is pointed still in cleansing them from tears. Now, sir, the sounds that tell what hour it is Are clamorous groans, that strike upon my heart, Which is the bell. So sighs, and tears, and groans Show minutes, hours, and times; but my time Runs posting on, in Bolingbroke’s proud joy, While I stand fooling here, his Jack o’the clock. (5.1.49–60)
4. Semantisierung der Zeit
Ferner können Stimmungen wie Angst oder Hoffnung Spannungsträger sein, ferner auch Träume, die meist vieldeutig und eher Zukunft verschleiernd als enthüllend sind, Bewusstlosigkeit oder Schlaf (Spannung herrscht im Bezug auf das Erwachen und die damit verbundene Veränderung).
3. Finalität vs. offenes Ende Traditionell findet sich im Drama der ,geschlossenen‘ Form (vgl. Kap. VII) das ,Gefühl eines Endes‘ der Dramenhandlung, welches real im Theater mit dem Ende der Aufführungszeit übereinstimmt. Analog zum sorgfältig exponierten Beginn des Dramas kommt es hier am Ende – idealerweise – zur Beantwortung aller aufgeworfenen Fragen und zur Entwirrung aller Handlungsstränge. Es zieht sich also ein Spannungsbogen von Beginn bis zum Ende des Dramas durch (Finalspannung), der in dessen Handlungsende auch sein eigenes Ende findet. Ebenso wie im Drama der geschlossenen Form die Exposition auf Vergangenes zurückgreifen kann, kann auch am Ende der Ausblick in die Zukunft stehen: Am Ende von Hamlet übernimmt Fortinbras die Herrschaft, am Ende des King Lear liegt die Hoffnung bei Edgar, am Ende des Macbeth lädt Malcolm in seiner Dankesrede seine Helfer zu seiner Krönung ein. In der Komödie ist es gemeinhin die Hochzeit, die ein Ende und einen neuen Anfang signalisiert: das Ende der dramatischen Handlung und den Beginn einer neuen sozialen Ordnung. Wie ein Drama auch media in re beginnen kann, kann auch das Ende den Handlungsfortgang gewissermaßen abschneiden, ohne dass alle Handlungsstränge entwirrt oder vereint worden sind. Offene Fragen bleiben entsprechend unbeantwortet. Im Drama der offenen Form finden sich daher eher Formen der Detailspannung, die nur kürzere Handlungssequenzen umfasst. So tritt hier der Ablauf der Zeit hinter besonderen Augenblicken zurück. Es geht weniger um die Wirkung der Zeit als um subjektive Einstellungen und Zeitüberwindung. Dargestellt wird der Kontrast zwischen der objektiven Zeit, wie sie für einen Außenstehenden abläuft, und der subjektiven Zeit der Innensicht einer Figur. So erweist sich auch die Zeitkonzeption vieler moderner Einakter als eher a-chronologisch: das Andauern einer statischen Situation hat eine sukzessive Situationsveränderung abgelöst. Statt eines linearen Fortschreitens der Handlung dominiert hier eine zyklische Struktur mit zwei parallel gebauten Akten, die sich wiederholen. Im absurden Drama (vgl. Kap. X.8) ist weder die Vergangenheit der dramatischen Gegenwart bedeutungsvoll, noch gibt es ein Gefühl des Fortschreitens der Handlung, welches irgendeinem zukünftigen Ziel entgegen ginge. Die ersten Zeilen von Becketts Endgame (1958) etwa, in denen Clov erklärt: „Finished, it’s finished, nearly finished, it must be nearly finished“ (12) spiegeln die Unsicherheit über ein sicheres Ende, welche das ganze Drama durchzieht.
4. Semantisierung der Zeit Zeitliche Situierungen eines Dramas dienen nicht nur dem mimetischen Wirklichkeitsbezug, sondern können auch noch Zusatzbedeutungen haben.
Finalspannung
Detailspannung
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IX. Zeitentwürfe
Beispiel: A Winter’s Tale
So kann etwa die Situierung eines Dramas in der römischen Antike mit der Tugend (virtus, pietas) in der römischen Republik oder der Schwelgerei (luxuria) der späten römischen Kaiserzeit konnotiert sein. Auch können in Dramen die verschiedenen Jahreszeiten semantisiert sein, wobei sich generell Affinitäten von Tragödie und Herbst/Winter und von Komödie und Frühling/ Sommer feststellen lassen. So meldet sich in The Winter’s Tale aus der völligen Erstarrung – alles ist oder gilt als tot – mit dem Schafschurfest der Frühling und das Leben zurück: (Enter Autolycus singing) When daffodils begin to peer, With heigh, the doxy over the dale, Why then comes in the sweet o’ the year, For the red blood reigns in the winter’s pale. The white sheet bleaching on the hedge, With heigh, the sweet birds, O how they sing! … (4.1.1–6) Auf der Bühne fixieren v. a. Kostüme, Bühnenbild (vgl. Kap. II) die historische Periode, in die ein Drama in einer Inszenierung situiert wird. Oft erlauben Kostüme und Bühnenbild auch eine jahreszeitliche Einordnung. Zu diesen optischen Signalen treten noch akustische Signale wie das Schlagen der Uhr in Marlowes Dr. Faustus (vgl. Kap. IX).
X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England In einem – dem Umfang und der Zielsetzung dieses Buches entsprechenden – sehr stark vereinfachten und selektiven geschichtlichen Überblick werden hier zunächst die historischen Sonderformen des Dramas, die v. a. in England bedeutsam waren, skizziert. Diese sind mystery play (Kap. X.1), morality play (Kap. X.2), interlude (Kap. X.3), history play (Kap. X.4), melodrama (Kap. X.5) und well made play (Kap. X.6). Aus Platzgründen werden für diese Formen keine Textbeispiele gegeben. Sodann sind als a-historische Ausprägungen das epische Drama (Kap. X.7) und das absurde Drama (Kap. X.8) zu erläutern.
Inhalt des Kapitels
1. Mystery play Mystery bzw. miracle plays sind aus der Liturgie entwickelte geistliche Schauspiele des ausgehenden Mittelalters, welche vor allem heilsgeschichtlich entscheidende biblische Episoden wie insbesondere das Passionsspiel gestalten. Im frühen 10. Jahrhundert begann die Kirche, eine rudimentäre Form des Dramas innerhalb ihrer eigenen Liturgie zu etablieren und begründete damit einen ,zweiten Beginn‘ des Dramas nach dessen ,erster‘ Entstehung in der Antike. Das früheste bekannte Beispiel ist die „quem quaeritis“ („wen sucht ihr“)-Episode zu Ostern, eine kurze Dramatisierung der Szene des Dialogs der Engel mit den drei Marien am Grab Christi nach dem Matthäus-Evangelium. Im 14. Jahrhundert bildete sich dann in England und anderen europäischen Ländern eine anspruchsvollere Form des religiösen Dramas heraus, die in prachtvollen Spektakeln und mit großem Personal, welches sich aus den Handwerkergilden rekrutierte, in den Städten Stücke mit heilsgeschichtlich bedeutsamen Stoffen von der Erschaffung der Welt über das letzte Gericht und Stationen im Leben Christi zur Darbietung brachten (vgl. auch Kap. II.1). Wie die erhaltenen Texte zeigen, hatten die Figuren eine doppelte Identität, da sie zum einen Figuren der Heilsgeschichte verkörperten, zum anderen aber auch als Zeitgenossen vorgestellt wurden, die auf die wirtschaftliche Situation des dritten Standes hinweisen konnten. Der Niedergang dieser Dramenform lässt sich wohl erklären aus der Verarmung der Handwerkergilden aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen in der beginnenden Neuzeit, des zunehmenden puritanischen Einflusses, sowie der Opposition der Staatskirche, die in diesen Spielen nur die Reste der katholischen Reaktion zu sehen vermochte, die der Durchsetzung der Reformation im Wege standen.
2. Morality play Neben den Mysterienspielen entstanden die Moralitätendramen. Diese sind – neben ihren geistlichen und später weltlichen Inhalten – insbesondere
Mystery Play
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X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England
charakterisiert durch ihre didaktische Grundkonzeption. In diesen religiösallegorischen Dramen treten personifizierte Tugenden wie Conscience, Good Deeds, Mercy und Laster wie Greed, Envy, Wrath als allegorische Figuren auf und kämpfen um die Seele eines Menschen, dessen inneren Kampf man Psychomachia nennt. Dieser Mensch ist dabei mehr das Objekt dieser Auseinandersetzung als handelndes, individuell charakterisiertes Subjekt, was sich bereits in Namen wie hecastos (griech. ,jeder‘), humanum genus (lat.: ,Menschengeschlecht‘), juventus (lat.: ,Jugend‘), everyman oder mankind andeutet. Diese Zentralfigur befindet sich zu Beginn der Handlung im Zustand der Gnade, wird dann durch Lasterfiguren (am prominentesten unter ihnen: die Vice-Figur, auf der Bühne zu erkennen durch ein Holzschwert; vgl. auch Kap. VI.3) in den Zustand der Sünde verführt, letztlich aber durch Gottes Gnade und seine eigene Reue geläutert und erhält mit seinem Tod die Heilsgewissheit, das ewige Leben, stirbt also wieder im Zustand der Gnade. Erste Belege für diese Dramenform finden sich im späten 14. Jahrhundert, im Humanismus des 16. Jahrhunderts wurde diese Form des Dramas mit pädagogischen und politischen Inhalten gefüllt. Letzte Ausläufer finden sich noch in der Frühen Neuzeit etwa in Christopher Marlowes Dr. Faustus (vgl. auch Kap. VI).
3. Interlude Das interlude ist – nach der heilsgeschichtlichen Erbauung der mystery plays und der didaktischen Ausrichtung der morality plays – die erste Form des rein weltlichen Theaters in England. Sie bezeichnet eine englische Komödiengattung des 15./16. Jahrhunderts, dessen prominentester Autor Thomas Heywood ist. Interludes dienten anfangs besonders als burleske Einlage zur Unterhaltung bei höfischen Banketten und Festen, später fungierten sie dann auch als selbständiger Teil des Festprogramms. Kennzeichen des interlude sind der Rückzug der Handlung gegenüber dem witzig-pointierten Dialog, die Kürze und Einfachheit der Handlung sowie die geringe Anzahl der auftretenden Figuren.
4. History play Die Historien (dt.: „Königsdramen“) als wichtige Dramenform der Frühen Neuzeit stellen ein heutiges Publikum oft vor Probleme, da sie keine eigene Gattungstradition begründeten, und uns diese Form entsprechend wenig vertraut geblieben ist. Die history plays erschließen sich vor allem vor dem Hintergrund der Geschichtsauffassung des ausgehenden 16./beginnenden 17. Jahrhunderts. Geschichte wurde damals insbesondere als Material- und Beispielsammlung gedeutet, aus welcher der Mensch Einsichten und Erkenntnisse für seine eigene Situation gewinnen kann. Entsprechend lassen sich die history plays als Darstellung des Weges der Nation England deuten, welche implizit als politischer Kommentar zu zeitgenössischen Ereignissen
5. Melodrama
dienen sollte. Dies hatte auch nicht selten die Abänderung politischer Fakten in den Dramen zur Folge. Vertrautheit mit den historischen Gegebenheiten der politischen Verhältnisse, vor allem der Thronfolge, zur Entstehungszeit der Dramen sind Voraussetzung für deren Analyse und Verständnis. Auf der Bühne präsentiert werden heute vor allem noch die Historien Shakespeares. Sie spielen in den so genannten Rosenkriegen, d. h., den Auseinandersetzungen der englischen Adelshäuser von York und Lancaster, welche in ihrem Wappen jeweils eine Rose trugen (House of York: weiße Rose, House of Lancaster: rote Rose). Shakespeare verhandelt in diesen Dramen das Thema der Thronnachfolge und stellt die folgende Frage in den Mittelpunkt: Ist die dynastische Thronfolge bedingungslos einzuhalten, oder rechtfertigen außergewöhnliche persönliche Fähigkeiten eines nicht von Gott gesandten Herrschers die Absetzung eines schwachen Königs? Er analysiert zudem, wie sich die Aufgaben und Verpflichtungen eines Herrschers auf dessen Persönlichkeit auswirken.
5. Melodrama Der Begriff Melodrama (von griech. Melos = ,Lied‘ und drama = ,Handlung‘) wird zunächst – was gar nicht so unpassend wäre – vor dem geistigen Auge des Lesers steil abfallende Klippen erscheinen lassen, an denen bedrohte und verfolgte Jungfrauen in letzter Sekunde von einem kraftstrotzenden und moralisch vorbildlichen Helden aus den Klauen rücksichtsloser Bösewichte gerettet werden. Es geht im Melodrama immer um sensationelle Szenen, große Gefühle, Figuren, die bis zum Äußersten und Letzten durchhalten – mit der letzten Kugel, dem letzten Tropfen Wasser, dem letzten Stückchen Brot, der letzten kleinen Münze, dem letzten Hoffnungsschimmer. Das Melodrama ist eine dramatische Mischform, in der sich Elemente aus Komödie, Tragödie, Farce, Pantomime, Gesang und Tanz – ohne jeglichen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit – zusammenfinden. Damit ist das Melodrama eher Unterhaltung für breite Bevölkerungsschichten. Seine Dramaturgie zielt ganz auf Effekte ab: es reiht sich ein emotionaler Höhepunkt an den anderen, wobei komische und pathetische Episoden sich abwechseln. Die Charaktere sind von Anfang an und unwiderruflich in ,gute‘ und ,böse‘ Figuren geschieden, wobei am Ende der Handlung gemäß dem Prinzip der poetic justice die moralisch Guten den Sieg davontragen und die moralisch Verwerflichen untergehen oder ihrer gerechten Strafe überführt werden. Dabei zielt das Melodrama auf die absolute Identifikation der Zuschauer mit den Helden, auf absolutes Mitleiden; die Reaktion darf „ a good cry – the poor man’s catharsis“ (Bentley, S. 198) sein. Der Zuschauer verlässt das Theater mit dem beruhigten Gefühl der Erleichterung, aber ohne Beunruhigung über die Gegebenheiten, die zu diesen Konflikten und Leiden der Figuren führten. Die ,Botschaft‘ dieser Dramen ist stets die Aufforderung zum Wohlverhalten wie es die ,guten‘ Figuren vorführen. Die Sprache weicht kaum ab von der Alltagssprache, die Handlung wird bei Aufführungen insbesondere an wichtigen Stellen durch Musik untermalt. Spektakel ist unabdingbar und stellt entsprechende Anforderungen an Bühnenbildner und
Dramatische Mischform
Klare Sympathieverteilung
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X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England
Figuren
Schauspieler: Klippen, Alpen, Dschungel, ferner Sprünge aus brennenden Gebäuden oder heranbrausende Züge auf der Bühne waren und sind keine Seltenheit. Entsprechend der peripetienreichen Handlung agieren auch die Figuren des Melodramas mehr als dass sie denken oder sich mitteilen. Ihre Opposition kommt eher von äußeren Mächten und Einflüssen als aus ihrem Inneren, doch nehmen die Charaktere ihr Schicksal nicht willenlos hin und widersetzen sich. Die Flucht aus einer Gefahrenlage ist ein typisches Motiv. So charakterisiert Owen Davis, einer der erfolgreichsten Autoren des Melodramas zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit Titeln wie The Lighthouse by the Sea oder The Chinatown Trunk Mystery, sein Personal wie folgt: „There were eight essential characters: the hero, who can be either very poor, which is preferable, or else very young and very drunk (if sober and wealthy it becomes automatically a villain); the heroine, by preference a working girl (cloak model, ,typewriter‘, factory girls, shopgirls, etc.) and practically indestructable; the comic – Irish, Jewish or German – played usually by the highest paid member of the company; the soubrette, ,a working girl with bad manners and a good heart’, devoted to the heroine; the heavy man, identified by a moustache, silk hat, and white gloves; the heavy woman, a haughty society dame or an unfortunate; the light comedy boy; and the second heavy, ,just a bum’, a tool of a villain; it was usual to kill him along toward the middle of the second act.“ (zit. bei Hatlen, S. 102 f.). Besonders populär war das Melodrama im 19. Jahrhundert; als erstes englisches Melodrama gilt Thomas Holcrofts A Tale of Mystery (1802). In Deutschland ist hier vor allem August von Kotzebue zu nennen, dessen Spanier in Peru in England Richard Sheridan 1799 als Pizarro übersetzte und auf die Bühne brachte. Moderne Fortsetzungen des Melodramas sind neben soap operas im Fernsehen die Musicals des West End (u. a. von Andrew Lloyd Webber) mit ihren plots um Liebe und Herrschaft, die klar in Gut und Böse eingeteilte Weltsicht, überwältigende Effekte, die sich auch bei zweiten und dritten Theaterbesuch der Produktion nicht abnutzen. Die Genormtheit dieser ,Großmusicals‘ zeigt sich darin, dass die Theatererfahrung in Wien (Phantom of the Opera), Hamburg (Cats), Stuttgart (Miss Saigon), Bochum (Starlight Express) und London (alle) – bis auf die deutsche Übersetzung – identisch ist, garantiert durch eigens gebaute Theater und aus London angereiste Kontrolleure.
6. Well-made play Das well-made play wurde im 19. Jahrhundert von Eugène Scribe begründet und dominierte unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg. Als ,gut gemacht‘ kann man nur etwas bezeichnen, für das man verbindliche Wertmaßstäbe zu haben glaubt – und diese sind hier die aristotelischen Dramenmodelle. Es handelt sich bei well-made plays um Dramen mit logisch aufgebauter und überschaubarer Handlung, die an einem Ort spielen und meist auf einen Tag oder ein Wochenende begrenzt sind. Sie sind präzise geschichtlich und gesellschaftlich verortet. Das Personal der Stücke entstammt fast
7. A-historische Sonderform I: Das epische Drama
ausnahmslos den gesellschaftlichen Eliten und die dramatischen Verwicklungen entstehen aus den Problemen, die diese Schichten mit sich selbst haben. Hotels in Bournemouth oder drawing-rooms in Belgravia sind häufig die Schauplätze. Oft passiert nur wenig Handlung bei einem späten point of attack, das Personal ist überschaubar, die Handlung ist konzentriert, sie läuft ab ohne viele Ortswechsel und sub-plots innerhalb eines begrenzten zeitlichen Rahmens. Themen sind oft soziale Konflikte oder häusliche Probleme, bei deren Darstellung genau beobachtet und eine detaillierte Analyse der Verhältnisse gegeben wird. Vertreter dieser dramatischen Sonderform waren in Europa Eugène Scribe, dann Emile Augier und Alexandre Dumas, später Hendrik Ibsen, Lev Tolstoi, Anton Chekhov, August Strindberg, Gerhard Hauptmann (,realistisches Drama‘), in England William Somerset Maugham, Terence Rattigan, Noel Coward, und Joseph Boynton Priestley. Dessen An Inspector Calls (1946) hat den sozialen Abstieg eines Individuums zum Thema, und Priestley löst hier das Dilemma, die Unterschicht nicht darstellen zu können, damit, dass die eigentliche Hauptfigur, Eva Smith, alias Daisy Renton, kein einziges Mal auftritt, denn es ist ihr Tod, der das Bühnengeschehen motiviert und vorantreibt. So kann Priestley die Ursachen und Folgen des gesellschaftlichen Abstiegs und der Verarmung analysieren, ohne je den sozialen Rahmen der oberen Mittelklasse verlassen zu müssen. Das Drama spielt an einem einzigen Abend an einem einzigen Ort, dem dining room der Industriellenfamilie Birling. Die Einheiten von Zeit, Ort und Handlung bleiben bis zum Schluss intakt.
Vertreter
7. A-historische Sonderform I: Das epische Drama Spezifische Möglichkeiten des Theaters liegen generell im Wechsel von Illusion und Illusionsdurchbrechung. Die Illusion ist der Eindruck des Zuschauers, das auf der Bühne gespielte Geschehen sei unmittelbar wirklich. Das Mittel, um diese Illusion zu schaffen, ist insbesondere die ,vierte Wand‘ bzw. der Vorhang der Guckkastenbühne, der das Geschehen auf der Bühne als eine gleichsam in sich geschlossene, eigene Welt vom Zuschauerraum abtrennt (vgl. auch Kap. II). Als um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Begriff der Illusion zunehmend negativ konnotiert wurde, da sich die gesellschaftskritische Sicht durchsetzte, dass Illusion nur über die alarmierende Wirklichkeit hinwegtäusche, entwickelte sich eine neue Form des Dramas. Wird ein Drama als ,episch‘ bezeichnet, so impliziert dies gemeinhin auf der Ebene des Textes die ausdrücklichen Äußerungen eines über dem Geschehen oder abseits dessen stehenden ,Erzählers‘, also jede Art von Kommentar (vgl. auch Kap. IV.5). Hierdurch soll beim Publikum eine gewisse Distanz zur dargestellten Bühnenhandlung erzielt werden, und dies speziell im Sinne von Kritik und Belehrung. Wie in Kap. IV.5 erläutert, können als narrativ vermittelnde Instanzen in Dramen Prolog, Epilog, Chor oder auch ein stage manager fungieren. Dazu finden in epischen Dramen auch Szenenüberschriften und knappe Einleitungstexte Verwendung, die – bei der Aufführung auf die Bühne projeziert – die nicht gezeigten Ereignisse mittei-
Epische Vermittlungsinstanzen
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X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England
Episches Drama als Rollenspiel?
Handlung und Figur
Sprache
Vertreter des epischen Dramas
Beispiel: John Arden, Live like Pigs
len oder gleichzeitig über Ort, Zeit und Inhalt der folgenden Szene informieren können. Besonders charakteristisch für das epische Theater sind die den Handlungsfortgang unterbrechenden, publikumsadressierten Songs. Aufgrund dieser Illusion durchbrechenden Verfremdungseffekte (Bertold Brecht nennt diese V-Effekte) stellt sich die Frage, inwieweit das epische Drama überhaupt noch Drama im Sinne von Rollenspiel ist (vgl. Kap. III). Aufgrund des Erzählerkommentars wäre es eher als episch-dramatische Mischform einzuordnen, die Erzählerrede, Figurenrede und szenische Darbietung umfasst. Schwierig ist dabei die Einstufung der Erzählerfigur, da diese einerseits von einem Schauspieler dargestellt wird und damit eine Figur ist, andererseits aber episch nur im Verhältnis zu der von den Figuren verkörperten Spielhandlung in Erscheinung tritt. Somit kann man das epische Drama tatsächlich als Rollenspiel einordnen, wenn man es als ein Spiel sieht, in welches das Rollenspiel der Erzählerfigur wie ein Spiel im Spiel eingebettet ist. Die epischen Elemente gelten damit also nicht als Bestandteil des eigentlichen Dramas, sie begründen vielmehr ein eigenes Rahmenspiel. Epische Dramen sind üblicherweise gekennzeichnet durch eine Fülle von Figuren, die in einer vor allem Ausschnitte zeigenden Handlungsstruktur stehen. Die Handlung ist in einzelne Szenen zerteilt, die durch das Prinzip der Montage, also eine Aneinanderreihung von Szenen verschiedener Orte und Zeiten, Kombination von Erzählerkommentar und szenischem Vorgang, miteinander verbunden sind. Die auftretenden Figuren sind keine ,Helden‘ wie in der geschlossenen Form des Dramas (vgl. Kap. VII.5), sie werden eher vom Zuschauer kritisch betrachtet und sind nicht mehr mit dem Hinweis auf ihre Schicksalhaftigkeit erklärbar. Anstelle von ,Furcht‘ und ,Mitleid‘ (bzw. ,Schauder‘ und ,Jammer‘; vgl. Kap. VII.6) soll beim Zuschauer eher Kritik an den herrschenden Verhältnissen und politisch-historisches Bewusstsein geweckt werden. Der Zuschauer soll das dramatische Geschehen nicht nur miterleben, sondern sich damit auseinandersetzen. Ziel des epischen Theaters ist es, „Lehr- und Publikationsstätte“ (Brecht) zu sein. Ebenso wie sich epische Dramen nicht auf einen durchgängigen Handlungsverlauf festlegen lassen, so sind diese auch nicht geprägt von einem bestimmten Sprachstil. Generell lässt sich eine eher hohe Unterbrechungsfrequenz der Dialoge beobachten, doch fehlen häufig Dialoge, die auf Entscheidungen vorbereiten; es dominiert der unmittelbare Meinungsaustausch. Wichtige Vertreter des epischen Dramas in England sind in der ,ersten Generation‘ Thornton Wilder, Brendan Behan, John Osborne und John Arden. Arden stellt in Live like Pigs (1958) den 17 Szenen dieses Dramas, die nur lose miteinander verknüpft sind, jeweils einen Song voran, welcher die Szene einleitet und keiner Figur des inneren Kommunikationssystems zugeordnet werden kann. So übernimmt der Song der ersten Szene die Funktion des Prologs, indem er die Themen, um die es im Stück gehen wird, ankündigt: O England was a free country So free beyond a doubt That if you had no food to eat You were free to go without.
8. A-historische Sonderform II: Das absurde Drama
But if you want your freedom kept You need to fight and strive Or else they’ll come and catch you, Jack, And bind you up alive. So rob their houses, tumble their girls Break their windows and all, And scrawl your dirty words across The whitewashed prison wall. Der nächsten Generation gehören Autoren an wie Caryl Churchill (Cloud Nine; 1979), Howard Brenton (Plays for the Poor Theatre; 1980, Iranian Nights; 1989), und David Hare. Hare demonstriert in Murmuring Judges (1991) die Unabschließbarkeit der Handlung, indem er sein Justizdrama mit drei offenen Schlüssen enden lässt: es bleibt dem Publikum überlassen, die aufgezeigten Gedankengänge zu vervollständigen.
8. A-historische Sonderform II: Das absurde Drama Das Wesen des absurden Dramas fasst Martin Esslin in einem Satz treffend zusammen: „Wenn zu einem guten Stück eine geschickt konstruierte Handlung gehört – diese Stücke haben keine nennenswerte Handlung oder Intrige; wenn für ein gutes Stück subtile Charakterzeichnung und Motivierung unabdingbar sind – diese Stücke weisen meist keine Figuren auf, die man als Charaktere bezeichnen könnte, sondern stellen dem Zuschauer fast so etwas wie Marionetten vor; wenn ein gutes Stück ein klar umrissenes Problem haben sollte, das eingangs sauber exponiert und am Ende gelöst wird – diese Stücke haben oft weder Anfang noch Ende; wenn es die Aufgabe eines guten Stückes ist, der menschlichen Natur den Spiegel vorzuhalten und in scharf beobachtenden Skizzen ein Bild der Sitten und Moden eines Zeitalters zu entwerfen – diese Stücke scheinen oft nur die Spiegelbilder von Träumen und Angstvorstellungen zu sein; wenn die Wirkung eines guten Stückes auf schlagfertigen Repliken und geschliffenen Dialogen beruht – diese Stücke bestehen oft nur aus zusammenhanglosem Geschwätz.“ (Das Theater des Absurden, S. 14.). Eine solch umfassende Definition bedarf einer erläuternden Differenzierung. Die Themen des Absurden sind Entfremdung von der Welt und von sich selbst, Kommunikationslosigkeit, Isolation, das Bewusstsein der Einsamkeit, der Verlust der Identität und die Sinnlosigkeit des Lebens. Da der Dramatiker des Absurden nicht daran glaubt, dass diese Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins in irgendeiner Weise aufhebbar sein könnte, sondern diese von ihm als permanenter Zustand betrachtet wird, entwirft er die Handlung als statisch: sie bewegt sich nicht linear auf ein Ziel zu, sondern zyklisch; häufig ist die Situation am Ende dieselbe wie am Anfang. Die Einzelhandlungen bleiben ziel- und bedeutungslos, die Handlungsursachen liegen oft im Dunkeln. Entsprechend haben die Figuren kaum mehr Motivationen für ihr Handeln, klare Sinnhorizonte sind verschwunden, Konflikte können nicht klar definiert werden, auch die Identität der Figuren wird in Frage gestellt. So ha-
Handlung
Figuren
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X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England
Beispiel: Harold Pinter, Moonlight
Beispiel: Samuel Beckett, Endgame
Sprache
Beispiel: Samuel Beckett, Waiting for Godot
ben etwa die Protagonisten in Harold Pinters Moonlight (1993) schon zu Beginn des Dramas selbst den Überblick über ihr Leben verloren: Ralph: Tell me. I often think of the past. Do you? Andy: The past? What past? I don’t remember any past. What kind of past did you have in mind? Ralph: Walking down the Balls Pond Road, for example. Andy: I never went anywhere near the Balls Pond Road. I was a civil servant. I had no past. Nothing ever happened. Bel: Yes it did. Maria: Oh it did. Yes it did. Lots of things happened. Ralph: Yes, things happened. Things certainly happened. All sorts of things happened. Bel: All sorts of things happened. Andy: Well, I don’t remember any of these things. I remember none of these things. Wenn diese Figuren auch schemenhaft und eigentlich zueinander beziehungslos bleiben, so werden sie dennoch zueinander in Bezug gesetzt: Vladimir und Estragon in Samuel Becketts Waiting for Godot sind nicht in irgendeiner sinnvollen Tätigkeit miteinander verbunden. Ihr ganz zufällig wirkendes Verhältnis ist denkbar lose und scheint jederzeit kündbar. Und dennoch kommen sie nicht voneinander los. Auch wenn sie sich trennen, kommen sie bald wieder aufeinander zu. Sie sind im Grunde aneinander gefesselt wie auch Pozzo und Lucky. Nicht anders verhält es sich in Becketts Endgame. Das Herr-Knecht-Verhältnis, welches von Pozzo und Lucky in Waiting for Godot demonstriert wird, kehrt in Endgame im Verhältnis zwischen Hamm und Clov wieder. Hamm sitzt im Rollstuhl und ist blind, Clov kann sehen, kann sich aber nicht mehr setzen. Wenn Hamm pfeift, kommt Clov und gehorcht seinen Befehlen. Wie aber Hamm auf Clov angewiesen ist, so ist dies nicht minder Clov im Bezug auf Hamm. Sie ergänzen sich in ihrem Dasein als Krüppel und haben keine Chance, ohne einander auszukommen. Die Figuren haben nicht nur ihre persönliche Identität, sondern auch die Sprache als Kommunikationsmittel verloren. Die Gesprächspartner reden oft aneinander vorbei, haben sich nichts mehr zu sagen. Sie verwenden mechanisch klischeehafte Wendungen, ergehen sich in Sprachspielereien und Wiederholungen, äußern sich in aufgelösten Satzgefügen und unvollständigen Sätzen. Der Zerfall von Wörtern in Silben, Konsonanten und Vokale, dazu Ellipsen, stockende Redeweise, die sich an einzelne Worte klammert, und häufige Pausen charakterisieren den (kritisch vorgeführten) gestörten Dialog und die pessimistische Einstellung gegenüber jeglicher Form menschlicher Kommunikation. Die Gedankenführung wirkt aufgrund überraschender Schlussfolgerungen und Themenwechsel vielfach sprunghaft-assoziativ und nicht logisch (,leeres Geschwätz‘). Das Sprechen hat häufig die Funktion des Zeitvertreibs, wie in Becketts Waiting for Godot: Vladimir: That passed the time. Estragon: It would have passed it in any case. Vladimir: Yes, but not so rapidly. Pause
8. A-historische Sonderform II: Das absurde Drama
Estragon: What do we now? Vladimir: I don’t know. Estragon: Let’s go. Vladimir: We can’t. Estragon: Why not? Vladimir: We’re waiting for Godot. Estragon: (desparingly): Ah! Pause. Im Unterschied zu Samuel Beckett verwendet Harold Pinter, dessen Dramen häufig dem absurden Drama zugerechnet werden, wenngleich die ,Absurdität‘ seiner Dramen weniger durch existenzielle als durch soziokulturelle Faktoren bestimmt ist. Gegenstand seiner Dramen ist häufig das Verhältnis von Außenseiterfiguren zur gesellschaftlichen ,Normalwelt‘. Die Dramen Pinters zeigen zwar zunächst eine individualisierende Figurensprache, die aber dann als unzureichende Reaktion auf die Wirklichkeit und die Unberechenbarkeit jeder Gesprächssituation stilisiert wird. Typisch hierfür ist der folgende Dialog im zweiten Akt von The Caretaker: Aston: You could be … caretaker here, if you like. Davies: What? Aston: You could … look after the place, if you liked … you know, the stars and the landing, the front steps, keep an eye on it. Polish the bells. Davies: Bells? Aston: I’ll be fixing a few, down by the front door. Brass. Davies: Caretaking, eh? Aston: Yes. Davies: Well, I … I never done any caretaking before, you know … I mean to say … I never … what I meant to say is … I never been a caretaker before. (Pause) Aston: How do you feel about being one, then? Davies: Well, I reckon, … Well, I’d have to know … you know … Aston: What sort of … Davies: Yes, what sort of … you know … Mit scheinbarem Nichtverstehen, Eingehen auf nebensächliche Details, und ihren vorsichtig-zurückhaltenden Formulierungen zeigen die beiden Gesprächspartner, wie sie einander abtasten und keiner zu viel von sich preisgeben möchte. Astons Stellenangebot ist in erster Linie durch sein Kommunikationsverlangen motiviert, die Beiläufigkeit, mit der er es vorbringt, durch den Wunsch, kein Risiko einzugehen. Davies’ Reaktion hierauf ist erst einmal eine wiederholende Frage, die eine Ablehnung signalisiert oder zumindest offen lässt. Für den Rezipienten entsteht durch diese Klischeehaftigkeit der Sprache eine gewisse Komik. Anders als im ,traditionellen‘ zielgerichtet angelegten Drama entwickelt sich die Handlung im absurden Drama nicht zwischen den Figuren, sondern zwischen den Figuren und dem Schauplatz oder der Zeit. So ist der gemeinsame Gegenspieler Vladimirs und Estragons in Waiting for Godot der Raum, oder vielmehr: die Leere des Raumes (vgl. auch Kap. IX). Auch die Kräfte der Zeit wirken nicht zielgerichtet, sondern festhaltend: sie hindern
Beispiel: Harold Pinter, The Caretaker
Raum und Zeit
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X. Historische und a-historische Sonderformen des Dramas in England
Vladimir und Estragon daran, irgendwohin zu entfliehen. Mit der Entleerung des Handlungskonzepts ist also auch die Aushöhlung von Ort und Zeit verbunden. Ebenso wie sich den Dramatikern des Absurden die paradoxe Aufgabe stellt, Handlungslosigkeit durch die Sukzession von Einzelhandlungen zu verdeutlichen, muss auch Zeitlosigkeit durch eine Folge zeitlicher Abläufe bewusst gemacht werden. Der Zeitbegriff an sich wird dabei sinnlos, wenn weder Vergangenheit, noch Gegenwart, noch Zukunft genau zu erfassen sind und die Zeit nur als Endzustand erfahrbar ist.
XI. Filmanalyse Da Dramen aus verschiedensten Gründen nicht immer – was natürlich der Normalfall sein sollte – im Theater angesehen werden können, und der Lektürevorgang zu Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend von audio-visuellen Vermittlungsinstanzen wie (eher selten) Hörbeispielen oder üblicherweise DVDs oder Video-Clips aus dem Internet begleitet wird, sollen hier die Kriterien der Filmanalyse skizziert werden, um einigermaßen wissenschaftlich an einen Film herangehen und subjektive Werturteile möglichst in Grenzen halten zu können. Der Film als immer wichtiger werdendes Mittel der Vermittlung dramatischer Texte zeichnet sich im Vergleich zum Theater (vgl. Kap. II) noch durch ein weiteres zusätzliches Zeichenrepertoire aus. Zur Polyfunktionalität der Codes und Kanäle im Theater kommen hier weitere spezifische Techniken der Vermittlung, die es – nach der Abgrenzung des Gegenstands (Kap. XI.1) und den Methoden der Filmanalyse (Kap. XI.2) – zunächst zu beschreiben (Kap. XI.3), und dann jeweils in ihrer Zusammenschau im Hinblick auf die Funktionalität der Teile zueinander (Kap. XI.4) zu bewerten gilt.
Inhalt des Kapitels
1. Abgrenzung des Gegenstandes „Despite the rise of television and the Internet during the later half of the twentieth century, film still remains the most potent medium. Both television (not forgetting radio) and the Internet are media that are channels for extremely diverse texts and / or information. Films, however, are descrete texts, so that a single film can have a worldwide impact. Unlike any other medium, films can communicate to vast swathes of the world, even if it is via television or the Internet.“ (Lacey, S. 1). Hinsichtlich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem populären Phänomen ,Film‘ definiert Helmut Korte Filmanalyse als einen „Versuch, das eigene subjektiv-objektiv determinierte Filmerlebnis durch Untersuchung der rezeptionsleitenden Signale, durch Datensammlung, Datenvergleich am Film und den filmischen Kontextfaktoren, durch Beobachtung und Interpretation schrittweise zu objektivieren“ (Vom Filmprotokoll, S. 27). Auch wenn eine völlige Objektivierung der Aussagen über einen Film – ebenso wie über eine Theateraufführung – kaum je erreicht werden kann, haben sich bestimmte Kategorien als hilfreich für die Filmanalyse erwiesen, die es weiter unten vorzustellen gilt. Es wird uns dem Erkenntnisinteresse dieses Buches entsprechend im Folgenden um narrative Spielfilme gehen, die eine (fiktionale oder nicht-fiktionale) Geschichte mit Anfang, Entwicklung der Handlung und Schluss darbieten, und somit weder um den oft eigenwilligen und exzentrischen Experimentalfilm, noch um den Stummfilm. Literaturverfilmungen basieren üblicherweise auf deren literarischen Vorlagen. Nicht selten kommen freilich Rezipienten zu dem Urteil, dass der
Literaturverfilmungen
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XI. Filmanalyse
Drama und Film
Raum- und Zeitentwurf im Film
Adaptationstypen
Film dem zugrunde liegenden Drama nicht gerecht geworden sei, was allerdings häufig auf einer Unkenntnis der medialen Unterschiede der beiden Gattungen (Drama und Film) basiert. Für einen Wissenschaftler gilt es, dieser Unkenntnis entgegenzutreten. „Grundsätzlich gilt: (1) Literaturverfilmungen sind Analogiebildungen zur literarischen Vorlage. (2) Keine Transformation verläuft ohne Informationsverluste. (3) Bei jeder Transformation ergeben sich Varianten und Invarianten. (4) Adäquatheit ist nur deskriptiv, nicht normativ bestimmbar. Im weiteren ist eine Literaturverfilmung nicht von der Situation zu lösen, in der sie entstand. … “ (Kanzog, S. 17). Literaturverfilmungen sind also immer auch Interpretationen der Vorlage , „und da diese bewusstseinsbildend wirken, ist die Beschäftigung mit Literaturverfilmungen für den Literaturwissenschaftler unumgänglich. Eine Filmanalyse kann dann als ein komplementäres Verfahren zur Textanalyse eingesetzt werden“. (Kanzog. S. 17). Bei Literaturverfilmungen ist die Textvorlage üblicherweise mit dem literarischen Textsubstrat ,Drama‘ – adaptiert natürlich durch das Drehbuch – im Großen und Ganzen identisch. Dem entsprechend sind die Techniken der Informationsvergabe (vgl. Kap. IV) in der Textvorlage für das Theater und den Film ebenso in gleicher Weise anzusetzen wie Sprache (Kap. V), Figurencharakteristik (Kap. VI) und Handlungsentwürfe (Kap. VII). Unterschiede zeigen sich freilich, was die Dimensionen des Raums (Kap. VIII) und der Zeit (Kap. IX) betrifft. Im Unterschied zum Theater hat der Film ganz andere räumliche Möglichkeiten, da er nicht von einer festen Bühne und den Konventionen des Theaters (,vierte Wand‘, Pause etc.) abhängig ist. Der Film kann ein ganzes räumliches Panorama entwerfen und wird dabei gewöhnlich darauf zielen, den Raumentwurf so ,realistisch‘ wie möglich zu gestalten, da technische Anomalien von einem Publikum heutzutage kaum mehr toleriert werden. Durch die Technik der Montage z. B. können im Film auch zwei Orte gleichzeitig präsentiert und damit die zeitliche Dimension verändert werden. So kann generell im Film – im Unterschied zur Theater – das Raum-Zeitkontinuum unterbrochen werden durch Rückblendung, Zeitraffung und -dehnung oder topographische Verschränkungen. Nicht zuletzt ist bei Dramenverfilmungen grundsätzlich zwischen zwei Adaptationstypen zu unterscheiden: zum einen gibt es Filme, die auf einem bestimmten Theaterstück basieren und nicht selten in Personalunion von Theater- und Filmregisseur entstehen. Zum anderen ist das ,gefilmte Theater‘ zu nennen, d. h., das Abfilmen einer erfolgreichen Theaterinszenierung. Letztere wird entsprechend die filmspezifischen Techniken des Zeit- und Raumentwurfs weniger nutzen als erstere, doch ist beiden grundsätzlich das gleiche Medium der Vermittlung zu eigen.
2. Methoden der Filmanalyse Nach Faulstich (Filminterpretation, S. 14) unterscheidet man sechs verschiedene Methoden der Filmanalyse und -interpretation: 1. Der strukturalistische Zugriff, der einen Spielfilm als autonomes Werk versteht. Zentral ist hier der Leitbegriff ,Struktur‘, der das zentrale Gerüst eines
2. Methoden der Filmanalyse
Films bezeichnet. Es geht bei diesem Ansatz um Aufbau, Komposition und spezifische Ordnung des Gezeigten. 2. Die biographische Filminterpretation, der einen Spielfilm als Werk des ,auteurs‘, also eines Regisseurs, der eine persönliche Vision in einem Film umsetzt, sieht. Diese Methode der Interpretation bezieht sich auf das Gesamtwerk eines Regisseurs (,Die Filme von Steven Spielberg‘, ,Die Filme von Alfred Hitchcock‘) und versucht, mit Hilfe von dessen Biographie zu einem besseren Verständnis seines Werks zu gelangen. 3. Die literatur-/filmhistorische Analyse, welche den Film als Traditionsverweis versteht. Das Erkenntnisinteresse zielt hier auf Verständnis des Films im Licht einer literarhistorischen oder filmhistorischen Tradition und das Wissen um Traditionszusammenhänge, die der Film aufgreift und verarbeitet. 4. Die soziologische Filminterpretation, die den Film als Manifestation von Gesellschaft sieht. Hier geht es um den Bezug des Films zur Gesellschaft seiner Zeit. 5. Die psychologisch- psychoanalytische Filminterpretation, die den Spielfilm als Traum interpretiert. Als rezipientenorientiertem Ansatz besteht dessen Erkenntnisinteresse darin, aus den Manifesten eines Films dessen latente Bedeutung für den Zuschauer zu ermitteln. 6. Die genrespezifische Filminterpretation, welche den Film als autonomes Werk im konventionalisierten Muster (z. B. eines Vampirfilms) versteht. Hier geht es darum, einen Film aus dem binnengeschichtlichen Kontext seines Genres zu verstehen, weshalb das Vorwissen um andere Filme diese Genres aus der selben Zeitspanne oder auch aus unterschiedlichen Zeiten und Entwicklungsständen maßgeblich ist. Für unseren Zusammenhang der Dramenanalyse ist vor allem der hier erstgenannte, also der strukturalistische, Zugriff, entscheidend, dessen Techniken wir uns im Folgenden widmen werden. Voraussetzung für die strukturalistische Filmanalyse ist das so genannte Filmprotokoll, welches beschreibt, was – ausgehend vom futurisch ausgerichteten Drehbuch – in der Vergangenheit gedreht wurde. Ein Filmprotokoll kann den Fluss der Bilder gleichsam anhalten und seine einzelnen Stationen rekapitulieren, auch wenn die sinnlich-ästhetische Funktion des Films beim Transkribieren größtenteils verloren geht. Wenngleich der pädagogische Nutzen der Erstellung eines – stets arbeitsintensiven – Filmprotokolls in der Medienwissenschaft nicht unumstritten ist, ist ein Filmprotokoll als Hilfsmittel zur Analyse spezieller Aspekte eines Films sicher sinnvoll und begründet. Ein Filmprotokoll ist die Grundlage wissenschaftlicher Arbeit, exakt zu dokumentieren und zu zitieren. Bewährt haben sich insbesondere das in der Regel sehr umfangreiche Einstellungsprotokoll, welches den ganzen Film erfasst, und das (gröbere) Sequenzprotokoll, das sich an einzelnen Handlungselementen orientiert. „In beiden Fällen wird der Film in eine lineare Form gebracht, der visuelle und auditive Ablauf inhaltlich, in seiner Zeitstruktur, den Kameraaktivitäten und sonstigen Besonderheiten notiert – als Basis für alle folgenden Untersuchungen.“ (Korte, S. 32). Eine dritte Möglichkeit, ein computergestütztes Protokollierungsverfahren, ist sicher Spezialisten vorbehalten.
Filmprotokoll
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XI. Filmanalyse
3. Beschreibungsrepertoire Die strukturalistische Filmanalyse trägt ein Raster von Fragen nach Kompositionsprinzipien an den Film heran, die sich generell als nützlich bewährt haben, auch wenn sie im konkreten Einzelfall nicht immer gleich weit führen können. Je komplexer ein Film, desto schwieriger ist seine Struktur zu ermitteln. Diese Prinzipien sind üblicherweise Fragen zur Handlung, zu den Figuren, den vermittelten Werten und der spezifischen Vermittlungsinstanz des Films, also der Kamera. Da die drei erstgenannten Felder bereits im Zusammenhang mit der Analyse der Textsubstrats ,Drama‘ Behandlung erfahren haben, wird es uns im Folgenden um die besondere Ebene der Erzählweise, also der Kameraeinstellungen und der Bildkomposition, gehen.
Theater versus Kino
film language
Die Kamera als vermittelndes Kommunikationsmedium
Techniken der Vermittlung Wie das Theater, ist auch das Kino als Ort der Vermittlung eines Films ein Ort öffentlicher kollektiver Kommunikation. Wie die Rezeption eines Dramas im Theater, so ist auch die Rezeption eines Films im Kino zeitlich und örtlich weitgehend festgelegt. Ein Film im Kino läuft wie ein Drama im Theater einmalig und ununterbrochen ab. Im Unterschied zum Theater aber charakterisiert den Film der zeitliche Abstand von Produktion und Rezeption, entsprechend fehlt ein Feedback zwischen Zuschauern und Schauspielern, der das Theater als ,kybernetische Maschine‘ (vgl. Kap. II) charakterisieren ließ. Hatte sich bisher schon gezeigt, welch ein komplexes Gebilde ein Drama hinsichtlich seiner Vermittlung auf der Bühne (Kap. II) und des literarischen Textsubstrats selbst (Kap. III–IX) ist, so erfordert die Analyse eines Films noch zusätzlich ein weiteres spezifisches Repertoire von Kenntnissen einer Sprache (film language), die ähnlich zu anderen Sprachen aus dem Zusammenspiel bestimmter Zeichen Bedeutungen erstellt. Film und Theater zeichnen sich beide aus durch plurimediale und kollektive Produktion und Rezeption. Im Unterschied zum Theater ist aber zunächst im Film der ,Sender‘ nicht ein Autor, sondern ein spezifisches Team, bestehend aus Drehbuchautor, Filmdramaturg, Regisseur, Kameramann, Produktionsleiter, Produzent etc. Der ,Empfänger‘ ist im Film wie im Theater ein Publikum. Der filmspezifische Zeichenvorrat besteht aus Kameraeinstellungen, -perspektiven und -bewegungen, die in bestimmter Weise miteinander verbunden werden und durch Geräusche und Musik ergänzt werden können. Vermittelt wird einem Filmpublikum die Handlung eines Films – im grundlegenden Unterschied zur absoluten Vermittlung der Dramenhandlung im Theater – durch eine technische Kommunikationsinstanz: nämlich die Kamera. Diese wirkt, wie auch ein Erzähler im Roman, akzentuierend, perspektivierend, gliedernd oder selektierend auf die Rezeption ein. Im Theater muss bzw. kann der Zuschauer in jeder Phase der Aufführung neu entscheiden, wohin er blicken will: auf die Aktionen des Helden, die Reaktion der anderen Charaktere, die Nebenfigur, die in der Ecke – scheinbar nebenbei – etwas vorbereitet oder entfernt, auf ein Detail des Bühnenbilds oder ein bestimmtes Requisit. Dabei hat er zu allen Details in etwa die gleiche Entfernung der Betrachtung: Großaufnahmen sind im Theater allenfalls mit Operngläsern zu erhalten. Im Film dagegen kann der Zuschauer
3. Beschreibungsrepertoire
keinesfalls entscheiden, wohin er sehen möchte. Hier wird ihm die Perspektive durch die Kamera vorgegeben, hier wird er von einer Kamera geführt und er hat das anzusehen, was der Regisseur ihm als ,wichtig‘ vorsetzt. Dabei können verschiedene Techniken der Kameraführung (s. u.) die Distanz zwischen dem Zuschauer und dem Filmgeschehen ständig verändern, da im Film jede Einstellung variiert werden kann. Analysekriterien Wie für das Theater gilt auch für den Film, dass nichts ,zufällig‘ passiert: jede Einstellung wird vom Regisseur bewusst gewählt. Bei der Interpretation einer Dramenverfilmung kommt es entsprechend darauf an, die spezifischen Möglichkeiten des Mediums der Vermittlung, der Kamera, zunächst zu erkennen (s. u.) und dann in ihrer Bedeutung für den gesamten Film zu deuten. „Die Einstellung bezeichnet die kleinste kontinuierlich belichtete filmische Einheit. Sie besteht in der Regel aus mehreren Phasenbildern und beginnt bzw. endet mit einem Schnitt. Mehrere Einstellungen bilden als kleineres dramaturgisches Element eine Subsequenz, mehrere Subsequenzen eine Sequenz, mehrere Sequenzen ergeben den Film.“ (Korte, S. 25). Die Einstellungsgröße (distance) wird entweder durch die Wahl des Objektivs (Weitwinkel bis Teleobjektiv) oder durch den realen Abstand von Kamera und Aufnahmeobjekt bestimmt. Die Einstellungsgröße steuert Aufmerksamkeit und Identifikationsbereitschaft des Zuschauers in erheblichem Maß. Zu unterscheiden sind die folgenden Einstellungsgrößen: – Detailaufnahme (extreme close-up): z. B. Nase im Gesicht eines Menschen. – Großaufnahme (close-up): z. B. der Arm eines Menschen. – Nahaufnahme (close shot): z. B. Kopf und Oberkörper eines Menschen bis zur Gürtellinie. – Amerikanische Einstellung (medium shot; auch knee-shot): z. B. ein Mensch vom Kopf bis zu den Oberschenkeln (wo bei den Amerikanern angeblich immer der Colt zu hängen pflegte). – Halbnahaufnahme (full shot): z. B. ein Mensch vom Kopf bis zu den Füßen. – Halbtotale (medium long shot): z. B. Teil eines Raumes, in dem sich mehrere Menschen aufhalten. – Totale (long shot): z. B. der gesamte Raum. – Weitaufnahme (extreme long shot): z. B. eine weit ausgedehnte Landschaft, wobei im soft focus nur die Objekte im Vordergrund scharf zu sehen sind, im deep focus dagegen alle Objekte scharf zu erkennen sind. Je nach Nähe oder Ferne des abgefilmten Objekts zum Zuschauer wird diesem eine mehr oder weniger große Bedeutung dieses Objekts signalisiert. Wenn die Kameraeinstellung also mehrfach an eine bestimmte Person heranrückt, kann dies die gezeigte Person oder deren Handlung als bedeutsam erscheinen lassen. Wenn dagegen die panoramische Weite einer Landschaft gezeigt wird, wird dies eher einen zeitlichen und situativen Rahmen für die Filmhandlung schaffen, wie etwa einen Kriegsschauplatz im Winter, eine idyllische Flusslandschaft im Frühling, oder eine Stadt in einer bestimmten historischen Epoche.
Einstellung
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XI. Filmanalyse Einstellungsperspektiven
Durch den Aufnahmewinkel, in dem sich die Kamera zu ihrem Objekt befindet (camera angle), wird dem Betrachter ein bestimmtes Verhältnis zu den abgebildeten Personen oder Gegenständen vermittelt. Im Einzelnen lassen sich unterscheiden: – Untersicht / Froschperspektive (extreme low camera): Blick auf einen Menschen vom Boden aus. Diese Perspektive vermittelt üblicherweise Macht und Stärke. – Bauchsicht (low shot): Blick auf einen Menschen aus Bauchhöhe. – Normalsicht (normal camera height, eye-level shot): Blick aus Augenhöhe des Menschen. – Aufsicht / Vogelperspektive (high shot, bird’s-eye view): Blick von oben auf den Menschen herab. Diese Perspektive vermittelt üblicherweise Unterlegenheit, Einsamkeit und Schwäche. – Subjektive Kamera (point-of-view shot). Hier wird das Geschehen aus Sicht einer beteiligten Figur gezeigt, um deren subjektive Wahrnehmung auf den Zuschauer zu übertragen. Diese Perspektive ist oft unruhig und stark bewegungsorientiert.
Einstellungskonjunktion
Da im Film gemeinhin Kameraeinstellungen nicht abrupt einsetzen und ebenso abrupt abbrechen, ist bei einer Filmanalyse auch auf deren Verbindungen zu achten. Einstellungskonjunktionen (types of edit) sind Formen, in denen Einstellungen begonnen/beendet bzw. verbunden werden. Es stellen sich hier Fragen nach deren Länge, gemessen nach Sekunden und Minuten, und der Abfolge der Kameraeinstellungen. Im Einzelnen werden unterschieden: – Schnitt (cut): eine Einstellung hört schlagartig auf, die nächste Einstellung folgt unmittelbar. Cuts erfolgen häufig bei der Technik der Montage. – Abblende (fade out): eine Einstellung endet mit dem Dunklerwerden. – Aufblende (fade in): eine Einstellung kommt aus dem Dunkel. – Überblende (dissolve): das teilweise Überlappen von Einstellungsende und Anfang der nächsten Einstellung. Diese Art des Übergangs ist besonders ,weich‘ und findet gerne in Hollywood-Filmen Anwendung. – Klappblende (wipe): die nächste Einstellung folgt wie eine Klappe von oben nach unten. – Jalousieblende: der Wechsel der Einstellungen erfolgt in Form von Querstreifen auf dem gesamten Bild. – Schiebeblende: die nächste Einstellung erfolgt wie beim Diawechsel von links nach rechts. – Rauchblende: die erste Einstellung verschwindet im Rauch, aus dem die folgende Einstellung wieder sichtbar wird. – Zerreißblende (split-screen): das Bild der ersten Einstellung ,reißt‘, und dazwischen erscheint das nächste. – Unschärfeblende (focus-through): Diese funktioniert ähnlich wie die Rauchblende, nur dass hier das Element Rauch durch Defokussierung ersetzt wird. – Fettblende: diese macht die erste Einstellung ,schmierig‘, wobei aus dieser Verschwommenheit die nächste Einstellung erwächst. – Cash: Hier wird eine Maske, d. h., ein Aufsatz vor der Linse, eingesetzt, der das Bild z. B. verkleinert oder den Bildrand ausgefranst erscheinen lässt.
4. Funktionalisierung
Je nach Einstellungskonjunktion werden die Verbindungen zwischen den einzelnen Szenen oder auch Handlungssträngen als enger oder entfernter zusammengehörig erscheinen. Verbindungen zwischen einzelnen Szenen können nicht nur durch Einstellungskonjunktionen, sondern auch durch verschiedene Kamerabewegungen (camera movements) erfolgen. Im Einzelnen sind dies: – Schwenk (pan, panning shot, travelling shot): Bewegung der Kamera auf gleicher Ebene nach rechts oder links. Dies ermöglicht ein Panorama. – Parallelfahrt (parallel tracking shot): Bewegung auf gleicher Höhe mit dem sich bewegenden Objekt. – Vertikale Kamerabewegung von einem festen Punkt aus (tilt). – Aufzugsfahrt (crane shot): Die Kamera bewegt sich von einem nach oben, unten und seitlich beweglichen Kran aus. Dies wird üblicherweise in extrem spektakulären Szenen verwendet. – Verfolgungsfahrt (forward tracking shot): Die Kamera fährt dem sich bewegenden Objekt hinterher. – Handkamera (hand-held shot). Diese sind oft charakterisiert durch eine unruhige Bewegung, ermöglichen aber auch flexible Richtungsänderungen. – Luftaufnahmen (aerial shot). – Kamerabewegungsrichtung (zoom): Veränderung der Brennweite bei feststehender Kamera nach vorne oder zurück. Je nach Quantität und Qualität der gewählten Kamerabewegungen werden Tempo und Spannung der Filmhandlung variieren. Die Norm der Bildlaufgeschwindigkeit beträgt 24 Bilder pro Sekunde (frames per second = fps), als Abweichungen davon existieren fast motion (schneller als 24 fps), slow motion (langsamer als 24 fps), reverse motion (Rücklauf) oder das Anhalten der Bewegung (freeze frame).
4. Funktionalisierung Nun genügt es für die Analyse eines Films nicht nur, diese unterschiedlichen Vermittlungstechniken durch die Kamera zu kennen und in ihrer Einzelerscheinung zu deuten, es gilt vielmehr zudem, deren Funktion in der gesamten Filmhandlung zu bestimmen. Da sich aber ein mehrstündiger Film nicht Im ganzen in einem einzigen Arbeitsgang untersuchen lässt, muss man bei einer Analyse zunächst immer einzelne Ausschnitte aus der gesamten Filmhandlung herauslösen (segmentieren), um diese dann in einem zweiten Schritt zueinander in Bezug zu setzten (funktionalisieren). Segmentierungsverfahren Ein Vorteil von digitalen Aufzeichnungen (DVDs) mag hinsichtlich der Analyse vor allem sein, dass der stete Fluss der Bilder unterbrochen werden kann. Bei guter Vorbereitung ist Selektieren und ,Zurückblättern‘ möglich, ebenso das kontrastive Vergleichen verschiedener Szenen innerhalb eines Dramas, oder auch verschiedener Filmversionen einer Szene eines Dramas. Dabei stellen sich die folgenden Fragen der filmspezifischen Segmentierung: Welche Segmente lassen sich unterscheiden, welche Kriterien sind
Kamerabewegung
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XI. Filmanalyse
Kameraeinstellungen
bei der Segmentierung maßgeblich, und welche Unterschiede bzw. Ähnlichkeiten zwischen den Segmenten lassen sich feststellen? Ein wichtiges filmspezifisches Segmentierungsverfahren ist die die Kameraeinstellung (s. o.). Für die funktionale Analyse sind hierfür die folgenden Fragen von Bedeutung: – Wie sind die Durchschnittswerte für die Einstellungsdauer pro Segment bzw. für den ganzen Film? – Welche Segmente weichen von diesem Durchschnittswert auffällig ab, und welche Bedeutung kommt diesen Sonderfällen zu? – Welche Einstellungsgrößen treten wie oft, in welcher Reihenfolge und in welchen Konstellationen auf? Welche Einstellungsgrößen treten in jedem Segment bzw. im gesamten Film auf? – An welchen Stellen werden besondere Einstellungsperspektiven verwendet und welche Funktion haben diese? – Welche Funktion haben die verwendeten Einstellungskonjunktionen? Auch die auftretenden Figuren können durch Kameraeinstellungen implizit charakterisiert werden. Hier gilt es zu fragen: – Werden durch die Dominanz bestimmter Einstellungen Haupt- und Nebenfiguren markiert? – Erfolgt die Charakteristik von Figuren durch das Kameraverhalten (Identifikationsmöglichkeiten)? Welche Einstellungsgrößen und -perspektiven treten wiederholt auf? Wird etwa eine Figur immer nur in Untersicht gezeigt oder immer in Großaufnahme? Handelt es sich bei den Protagonisten um Stars der Filmbranche? – Welche Kamerabewegungen dominieren? – Gibt es Besonderheiten in der Bewegung der Figuren bzw. in deren Bewegungsrichtung? – Vor welchem Hintergrund werden die Figuren beschrieben? Wann, wie und wo treten sie jeweils auf? Gibt es Widersprüche im Verhältnis von setting und Figuren?
Verfremdungseffekte
Ähnlich wie im epischen Theater (vgl. Kap. X.7) kann es auch im Film Verfremdungseffekte im Umgang mit der Kamera geben, die dem Publikum bewusst machen, dass es sich bei diesem Film um eine Projektion und kein ,wirkliches‘ Geschehen handelt. Dies könnten etwa sein: – ein schwarzer Bildschirm, – die Thematisierung der Kamera als vermittelnder Instanz, wenn z. B. in einem Gewitter Regentropfen auf die Kamera fallen und das Bild mehr und mehr verdecken, – das Zeigen der an der Produktion des Films beteiligten Instanzen wie die Interventionen des Regisseurs oder einen Schauspielers beim Maskenbildner.
Bildausschnitt
Bei der Analyse einer Filmsequenz lässt sich jeder einzelne Bildabschnitt nicht nur nach den unterschiedlichen Möglichkeiten der Vermittlung durch die Kamera sondern auch auf die folgenden weiteren Aspekte nach dem Dargestellten befragen: – Was befindet sich im gesamten Bildausschnitt (frame)?
4. Funktionalisierung
– – – – – – –
Handelt es sich dabei um symmetrische Arrangements? Sind Objekte zentriert/dezentriert? Gibt es Teile außerhalb des Rahmens? Gibt es eine auffällige Anordnung von Vorder- und Hintergund? Bewegen sich Figuren im Raum (subject movement)? Finden diese Bewegungen im Vordergrund oder im Hintergrund statt? Welchen Abstand haben die Figuren zueinander (intimate vs. public), wie stehen sie zur Kamera (full front, profile, back to camera)? – Verläuft die Bewegungsrichtung eines Objekts hinaus aus dem Bild, hinein in das Bild oder entlang des Bildes? – Sind wenig Freiräume im Bildausschnitt (tightly framed) oder viele Freiräume im Bildausschnitt (loosely framed) zu sehen? Bild und Ton Anders als ein Hörspiel realisiert ein Film – wie auch eine Theaterinszenierung – Kommunikation auf der visuellen und der auditiven Ebene. Die Synchronisation von Bild und Ton stellt daher einen zentralen Aspekt der Filmsprache dar. Entweder treffen Ton und Bild auf der Leinwand zusammen (Synchronismus), oder Geräusche und Bilder, die in der Realität nicht gleichzeitig vorkommen, werden im Film dennoch zusammengebracht (Asynchronismus). Wenn Wort und Bild annähernd ähnliche Bedeutung haben, spricht man von Parallelismus. Wenn umgekehrt Wort und Bild verschiedene Bedeutungen haben, spricht man von Kontrapunkt. Was die Sprecher betrifft, so ist hinsichtlich des Verhältnisses von Bild und Ton danach zu fragen, ob die Dialoge im On stattfinden (der Sprechende ist im Bild zu sehen) oder aus dem Off kommen. Vernachlässigt wird bei der Filmanalyse manchmal die auditive Dimension, also der Ton. Gleichwohl gilt für den Film ein Satz von James Monaco: „Im Idealfall ist der Ton ebenso wichtig wie das Bild.“ (zitiert bei Hicketier, S. 94). Ein tonloses Geschehen wirkt immer etwas ,tot‘, weshalb im Film im Regelfall eine akustische Atmosphäre erzeugt wird, die den Wirklichkeitsbezug des Visuellen deutlich steigert. Menschen reagieren sensibel auf bestimmte Geräusche, mit denen etwa Gefahren und Bedrohungen assoziiert werden. Stehen Geräusche im Widerspruch zum visuell Dargebotenen, wie etwa das Motorengeräusch eines herannahenden Autos, in einer Liebesszene, kann sich eine Bedrohung ankündigen. Als Soundtrack tritt Musik als selbständiges Zeichensystem zu den vermittelten Bildern. Sie kann, wie Geräusche synchron oder asynchron einsetzend, das Gezeigte mit einer emotionalen Qualität versehen und Akzente setzen: so verstärkt Musik häufig bereits im Film angelegte Stimmungen. Dabei werden drohende Gefahr oder Katastrophen häufig durch dissonante Intervalle, unerbittlich rhythmischen beat oder Crescendi erzeugt. Liebesszenen werden häufig mit Streichinstrumenten unterlegt. Visionen oder Träume werden gerne durch Instrumente mit hallendem Timbre wie Harfe, Glockenspiel oder Klavier begleitet. Unterschieden wird zudem zwischen der Art und Weise des Musikeinsatzes. So lassen sich üblicherweise die eröffnende (spektakuläre) Titelmusik, Titelsong und Schlussmusik voneinander abgrenzen, wobei sich einzelne Themen leitmotivisch durch den gesamten Film ziehen können.
Geräusche
Musik
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XI. Filmanalyse
Bei der Analyse eines Films sind daher auch die folgenden Kriterien von Bedeutung: – Erfolgt die Charakteristik von Figuren durch ein bestimmtes musikalisches Leitmotiv oder durch bestimmte Geräusche (Klopfen, Stampfen etc.)? – Dient Musik als künstlerisches Mittel dazu, Bewusstseinsinhalte von Figuren auszudrücken? Soll Musik zum Ausdruck psychischer Erlebnisse wie Erinnerungen, Phantasievorstellungen oder Träume beitragen? – Dient Musik zur Gefühlseinstellung auf bestimmte Szenen? – Welche Instrumente werden dabei wann eingesetzt? Welche Stimmungen werden an welchen Stellen mit welchen Instrumenten mit welcher Funktion erzeugt (,schluchzende Geigen‘)? Kommen an bestimmten Stellen immer wieder bestimmte Geräusche vor? – Dient der Einsatz von Musik oder Geräuschen zur Spannungssteigerung? – Haben Musik oder Geräusche illustrierenden Charakter, wie etwa die Repräsentation von Innen- oder Außenräumen? – Entspricht die Musik dem Bild oder ist sie kontrapunktierend? – Gibt es Tempo-Änderungen wie Beschleunigungen oder Verlangsamungen? Welche Funktionen haben diese im Bezug zur visuellen Ebene? – Kommen Musik und Geräusche aus dem Off oder passieren sie im On? – Aus welchem Jahr stammt der Film? Welche Art von Filmmusik war zu diesem Zeitpunkt verbreitet? Spiegelt der Film diese Konventionen der Produktionszeit oder bricht er mit ihnen? Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Bedeutung der medialen Umsetzung von Dramentexten im Film auch in Zukunft kaum nachlassen wird: „With its multimedia basis, consisting of sound, music and vision, film, particularly in the coomunal theatre, has the ability to create an indelible experience. Its ubiquity exceeds that of any other medium, and it can be experienced all around the world (unlike dramatic theatre, where every performance is unique). This is not to claim that film is the superior art form, but simply to stress that the richness of the cinema … is such that we could spend a lifetime indulging ourselves in its grasp.“ (Lacey, S. 307).
Glossar (deutsch/englisch) A absurdes Theater an das Publikum gerichtet Antagonist Aristotelische Dramenform Aristotelische Einheiten (Ort, Zeit, Handlung) Aufführung außerszenische Raffung
theatre of the absurd ad spectatores antagonist Aristotelian drama three unitites (place, time, action) performance extrascenic summary
B Beleuchtung Bericht Blankvers Bühnenbild Bürgerliches Trauerspiel
lighting report blank verse setting/stage design domestic tragedy
C Charakterkonfiguration Charakterkonstellation Charakterkonzeption
configuration of characters constellation of characters conception of characters
D decorum deikitische Zeichen Denotation Deus ex machina dialektische Tragödie Dialog Diskrepanz von Haupt- und Nebentext dramatische Ironie dramatische Kommunikation dramatischer Auftakt
decorum deictic signs denotation deus ex machina dialectic tragedy dialogue discrepancy between primary and secondary text dramatic irony dramatic communication point of attack
E eindimensional (Figur) elisabethanische Vorbühne Epilog Episierung in dramatischen Texten Episodenfiguren Erkenntnis experimentelles Theater Exposition externe Kommunikation
flat/static character apron stage epilogue epic drama episodical character recognition experimental theatre exposition external communication
F Freilufttheater
open-air theatre
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Glossar (deutsch/englisch) G Geräusche Geschichte geschlossene Form (Drama) geschlossene Raumstruktur Gesellschaftskomödie Guckkastenbühne
sound effects plot closed form closed spatial structures comedy of manners picture frame stage
H Handlung Haupthandlung heitere Belehrung Hilfsfigur Historie
plot main plot delightful teaching (Sidney) helping character, foil character history play
I Identität von Haupt- und Nebentext ikonische Zeichen illusionistischs Theater illusionsbrechendes Theater innerszenische Raffung interne Kommunikation
identity of primary and secondary text iconic signs illusionist theatre anti-illusionist theatre intrascenic summary internal communication
K Katharsis Komplimentarität von Haupt- und Nebentext komisches Moment Komödie Konnotation kulturelle Kompetenz
catharsis complementarity of primary and secondary text comic relief comedy connotation cultural competence
L Lasterfigur
vice figure
M mehrdimensional (Figur) Monolog
round/dynamic character monologue
N Nebenhandlung Null-Konfiguration
sub-plot zero-configuration (empty stage)
O offene Dramenform offene Raumstruktur
open form of drama open spatial structures
P Paradigma poetische Gerechtigkeit Polylog Prolog Protagonist protatische Figur
paradigm poetic justice polylogue prologue protagonist helping character
Glossar (deutsch/englisch) Psychomachia
psychomachia
R radikales Theater Requisiten romantische Komödie Rückblende
radical theatre properties romantic comedy retrospective
S Satirische Komödie Schauplatz Selbstgespräch Signifikant Signifikat Spannung Spezialeffekte sprechende Namen Stereotyp Stichomythie symbolische Zeichen Syntagma
satiric(al) comedy locale soliloquy signifier signified suspense special effects telling names stock character stichomythia symbolic signs syntagm
T Teichoskopie, Mauerschau theatralische Kompetenz Tölpel Tragödie
teichoscopy theatrical competence dupe tragedy
V Verfremdungseffekt (V-Effekt) Vertraute/r vierte Wand Vorahnung
disillusionary effect confidant/e fourth wall forshadowing
W Wahrscheinlichkeit Witzbold Wortkulisse
versimilitude wit word scenery
Z Zur Seite Sprechen
aside
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Beispielanalyse/Practical Die folgende Beispielklausur kann als Orientierung für die Analyse und Interpretation eines Ausschnitts aus einem Dramentext im Rahmen einer vierstündigen schriftlichen Prüfungsleistung innerhalb des Studiums der Anglistik/Amerikanistik dienen.
Shelagh Delaney, A Taste of Honey (1958) Act One Scene One The stage represents a comfortless flat in Manchester, and the street outside. Jazz music. Enter Helen, a semi-whore, and her daughter, Jo. They are loaded with baggage. Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen
Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo
Well, this is the place. And I don’t like it. When I find somewhere for us to live I have to consider something far more important than your feelings … the rent. It’s all I can afford. You can afford something better than this old ruin. When you start earning you can start moaning. Can’t be soon enough for me. I’m cold and my shoes let water … what a place … and we are supposed to be living off her immoral earnings. I’m careful. Anyway, what’s wrong with this place? Everything in it’s falling apart, it’s true, and we’ve no heating – but there’s a lovely view on the gasworks, we share a bathroom with the community and this wallpaper’s contemporary. What more do you want? Anyway, it’ll do for us. Pass me a glass, Jo. Where are they? I don’t know. You packed ’em. She’d lose her head if it was loose. Here they are. I put ’em in my bag for safety. Pass me that bottle – it’s in the carrier. Why should I run round after you? (Takes whisky bottle from bag) Children owe their parents these little attentions. I don’t owe you a thing. Except respect, and I don’t seem to get any of that. Drink, drink, drink, that’s all you’re fit for. You make me sick. Others may pray for their daily bred, I pray for … Is that the bedroom? It is. Your health, Jo. We’re sharing a bed again, I see. Of course, you know I can’t bear to be parted from you. What I wouldn’t give for a room of my own! God! It’s freezing! Isn’t there any sort of fire anywhere, Helen? Yes, there’s a gas-propelled thing somewhere. Where? Where? What were you given eyes for? Do you want me to carry you about? Don’t stand there shivering; have some of this if you’re so cold. You know I don’t like it. Have you tried it? No.
Beispielanalyse/Practical Helen
Then get it down you! (She wanders around in the room searching for fire) Where!’ she says. She can never see anything ’till she falls over it. Now, where’s it got to? I know I saw it here somewhere … one of those shilling in the slot affairs; the landlady pointed it out to me as part of the furniture and fittings. I don’t know. Oh! It’ll turn up. What’s up with you now? I don’t like the smell of it. You don’t smell it, you drink it! It consoles you. What do you need consoling about? Life! Come on, give it to me if you’ve done with it. I’ll soon put it in a safe place. (Drinks) You’re knocking it back worse than ever. Oh! Well, it’s one way of passing time while I’m waiting for something to turn up. And it usually does if I drink hard enough. Oh my God! I’ve caught a shocking cold from somebody. Have you got a clean hanky, Jo? Mine’s wringing wet with dabbing at my nose all day. Have this, it’s nearly clean. Isn’t that light awful? I do hate to see an unshaded electric light bulb dangling from the ceiling like that. Well, don’t look at it then. Can I have that chair, Helen? I’ll put my scarf round it. ,
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Jo Helen Jo Helen Jo Helen
Jo Helen Jo
(Jo takes chair from Helen, stands on it and wraps her scarf round light bulb – burning herself in the process) Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo Helen Jo
Précis
Wouldn’t she get on your nerves? Just when I was going to take the weight off my feet for five minutes. Oh! My poor old nose. Christ! It’s hot. Why can’t you leave things alone? Oh! She gets me down. I’ll buy a proper shade tomorrow. It’s running like a tap. This is the third hanky today. Tomorrow? What makes you think that we’re going to live that long? The roof’s leaking! Is it? No, it’s not, it’s just condensation. Was it raining when you took the place? It is a bit of a mess, isn’t it. You always have to rush off into things. You never think. Oh well, we can always find something else. But what are you looking for? Every place we find is the same. Oh! Every time I turn my head my eyeballs hurt. Can’t we have a bit of piece for five minutes? I’ll make some coffee. Do what you like. I feel rotten. I’ve no business being out of bed. Where’s the kitchen?
In the text, taken from the exposition of Shelagh Delaney’s drama A Taste of Honey two women have just moved into their new flat in Manchester (see stage direction) and start to settle in. The two women are a mother, Helen, and her daughter, Jo. There is no mentioning of Jo’s father. The relationship between mother and daughter is clearly strained, because both constantly complain about each other, and towards the end of the excerpt Helen asks for “a bit of peace for five minutes.” Nevertheless they are dependent on each other: Helen is an alcoholic and needs to be looked after by Jo, while Jo is not yet financially independent from her mother. The flat they have moved into is described as “falling apart,” yet Helen talks herself into believing that the flat is fine because of a “lovely view on the gasworks,” an indoor bathroom that they share with the “community,” and contemporary wallpaper. Jo, on the other
Beispielanalyse/Practical hand, sees the flat for what it is, and refuses to be taken in by her mother’s defence of it. While Helen drinks whisky, Jo tries to brighten up the flat by tying her scarf around the unshaded light bulb, having first refused to drink the whisky offered to her by her mother. In order to avoid confrontation with reality as it is, Helen starts to lament about her cold, thus avoiding answering Jo’s central question of what she is looking for. The excerpt ends with Jo intending to prepare coffee for them. Coffee will warm them up and will also sober Helen up after having drunk plenty of whisky. The central theme of the excerpt is how to cope with disillusionment in post-war Britain. Britain may have won the war against Germany but they suffered the consequences for a much longer time. At the time the drama was written, Britain still had to ration food, and towns were not rebuilt as quickly as in Germany. Jo represents a (younger) part of society that hopes for a better future. She is willing to fight in order to attain her goal. Helen, in contrast, has given herself up. She is described as a „semi-whore“ which might imply that she has not lost all respect or that she cannot even do this job properly. Apparently, she moves from one ramshackle flat to the next and drinks so much whisky that her daughter is sick of it. The title of the drama, A Taste of Honey, stands in stark contrast to the setting and atmosphere of the excerpt given. The title shows the reader that Helen and Jo will perhaps experience better times, that is, times that are as sweet as honey. The word “taste” in the title may, however, also serve as a warning. Helen and Jo may only catch a glimpse of better times before losing them again therefore getting only a taste of what life can be like. The two characters in the excerpt are very different from each other. Helen refuses to see things the way they are and prefers deluding herself into thinking her situation is better than it actually is. She thus explains to Jo that the roof is not leaking but that it is „condensation“ instead. This, however, does not alter the fact that their room is wet. Helen is an alcoholic, who likes drinking in order to pass the time until something turns up. She is a passive character and reminds a theatre audience of Beckett’s theatre of the absurd. She is waiting for things to come instead of actively seeking work, a nice flat or any other goal in life. She is irritated that Jo does not like the whisky she repeatedly offers her to “console” her about life and to “warm” her up. Helen’s alcoholism is one reason that she has no planned future, and it could also be the reason that she cannot do her job as prostitute properly any more. It seems as if Helen does not particularly care what her situation is, as long as Jo is with her, which makes her a selfish person. Helen is pleased that she and her daughter share a bed because she cannot “bear to be parted” from Jo, although Jo’s wish is a room of her own (an intertextual reference to Virginia Woolf’s famous essay of the same title). Helen thus ignores her daughter’s needs. Furthermore, she is part of an older generation that truly believes that children ought to respect their parents (“Children owe their parents these little attentions”) regardless of any outer circumstances. Disgusted by Jo’s lack of respect, Helen tells her that she prays for something untold, thus resulting in a hypocritical situation because she earns her money as a semi-prostitute. Although Helen is the elder of the pair, she appears to be more dependent on Jo than Jo is on her. This is symbolized by the fact that she needs Jo to give her a clean handkerchief, which is usually a parent’s part. That Jo can only hand her a “nearly clean” one, shows in what poor condition they are. Jo complains that they are supposed to be living off Helen’s earnings, yet they live in poverty. Although Helen is mostly characterised as a ragged character, she says of herself that she is “careful.” This claim could mean that she is trying to save money for hard times of that she does not want to endanger herself while on the street, because if anything happened to her, Jo would be left on her own. Since they move in “loaded with baggage” (see stage direction) they must have seen better times. All character traits considered Helen is a disillusioned character who lives her life according to an avoidance tactic. She refuses to see things as they are and prefers to convince herself that her life is not as hard as it apparently is. This tactic can be seen
Central theme
Title
Characters
151
152
Beispielanalyse/Practical
Language
Time Setting
especially clearly when she ignores Jo’s essential question: “but what are you looking for?” Instead, she talks about her cold. Jo stands in direct opposition to Helen, even though she is part of this family pair. Jo is dependent on her mother, because she is not earning any money of her own. This excerpt does not indicate whether she is still in school or just between jobs. Jo is resentful of having to look after her alcoholic mother as shown when she asks, “why should I run after you?”. She does not respect her mother telling her that she is disgusted by her drinking habits (“Drink, drink, drink. That’s all you are fit for.”). Her lack of respect is also shown when she interrupts her mother in mid-sentence (“I pray for…”). Jo has higher ambitions than living in dismal flats sharing a bed with her mother „again“ (there must have been better times in which they did not have to do so) and being poor. As any teenager she would like to have her own room and to live more comfortably, and thus she tries to decorate their current flat by tying her scarf around the light bulb, even if she burns herself in the process. This means that Jo is willing to give everything she has in her fight for a better life, even if it hurts her and if it requires sacrifices. When she burns herself, she uses blasphemy thus contrasting her mother’s previous statement about praying. Jo does not believe in divine help but rather in self-help. She is a tough girl who refuses to be held back by her mother, which is shown in the fact that she addresses her mother by her proper name, Helen. She is angry that her mother is content to live in poverty, asking her directly what she is looking for. What is more, she has never tried her mother’s whisky – and it would be up to the theatre production whether she does it in this scene. Jo is appalled at the state of the flat, asking ironically whether Helen believes they will survive in it until the morning. This exaggeration is aimed at Helen’s delusion, who does only reluctantly realise that the flat is “a bit of a mess.” The two figures have enough external activity to show their defining characteristics. Helen grumbles about Jo not being able to find the gas fire and wanders around in the room talking to herself about how she should know where the fire is. When she cannot find it, she gives up looking for it passively saying “O, it will turn up.” The difference in temperament of the two characters could also serve as an indication of how the story might continue. The plot of the drama will either unfold by chance if something indeed turns up for Helen, or by action if Jo takes her future into her own hands and actively seeks her fortune. The relationship between the characters is strained, both complain about each other in a way that is audible to the other and the viewers. The apostrophe to the viewer, “wouldn’t she get on your nerves,” stresses the connection to the audience even further and reminds us of epic theatre. Dialogue is the dominating mode of presentation, only interrupted a few times by asides grammatically indicated by third person singular personal pronouns such as: “… to be living off her immoral earnings,” “She’d lose her head if it was loose,” “Oh! She gets me down.” All in all, the two characters talk to each other in a clearly colloquial way, what is indicated by elisions and abbreviated forms such as “em” for “them.” They do not use foreign words and speak in rather short sentences. Helen and Jo do not pretend to be in a higher social position as shown by their use of slang. Helen calls the fire a “gas propelled thing,” while Jo says of Helen that she is “knocking” the whisky back worse than ever. As there is no narrator (as in epic drama) or prologue to set the scene, the drama is dependent on the characters to explain the setting and illustrate their personal traits to the reader. In the chronological order of events there is sufficient talk of the past (analepses) for the audience to realise that Helen and Jo have lived in several sub-standard flats before their current one. The excerpt is set in a dismal flat in Manchester, an industrial town with many small dingy houses which were built in Victorian times as housing for the poor. It is raining during the scene. Outside the flat, there is jazz music playing which could be a foreshadowing of more mellow times to come. It also signifies that there is a world
Beispielanalyse/Practical beyond the restricted space of the flat in which this entire scene is set. As mentioned above, the atmosphere of the scene is strained and aggressive because the characters both expect different things from life. Helen seems content to live in squalor, while Jo wants more from life. All in all, this drama appears to be a warning that disillusionment is a danger to society. Helen stands for the people who have given themselves up in post-war Britain, while Jo represents a new hope and creed of self-help. Jo, as the younger generation, is able to distance herself from the older generation by saying “I don’t owe you a thing.” This means that the generation of post-war children and teenagers do not need to follow in their parent’s footsteps. Instead, they need to rebuild Britain as a hopeful place. Obviously, this does not mean that the older generation should be forgotten about. This is indicated at the end of this excerpt when Jo says that she will make coffee. Coffee will warm both of them and will also sober Helen up after having drunk whisky only a few moments earlier. The drama also illustrates that the younger generation cannot cut themselves off from the older generation when Jo asks Helen where the kitchen is. Both war-time and post-war men and women need to work together to build a better future for themselves. The drama shows that rebuilding the future does not have to be a pretentious act, because the figures presented in it are simple working-class people. To sum up, the central question of the text is “what are you looking for in life?”. This means that people should have an aim in life for themselves and also for the society they live in. Giving one’s self up is not an effective option. Instead, people should fight for their goals and achieve something in life no matter how dismal their chances of success might seem.
Conclusion
153
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