Einführung in das Werk Thomas Manns 9783534248056, 3534248058

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German Pages [133] Year 2013

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
I. Der Mythos Thomas Mann
II. Die Thomas-Mann-Forschung
III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext
1. Leben und Schreiben im Wilhelminischen Kaiserreich
2. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik
3. Exil in der Schweiz und den USA
4. Nachkriegszeit und Rückkehr nach Europa
IV. Themen und Schreibverfahren
1. Politik, Bürgerlichkeit und Künstlertum
2. Mythos, Psychologie und Religion
3. Körper, Geschlecht und Krankheit
4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt
V. Textanalysen
1. Buddenbrooks
2. Der Tod in Venedig
3. Der Zauberberg
4. Mario und der Zauberer
5. Doktor Faustus
6. Politische Essayistik: Betrachtungen eines Unpolitischen, Deutsche Hörer! (BBC-Radioansprachen)
VI. Rezeptionsgeschichte
Zeittafel
Kommentierte Bibliografie
Personenregister
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Einführung in das Werk Thomas Manns
 9783534248056, 3534248058

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Julia Schöll

Einführung in das Werk Thomas Manns

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24805-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73141-1 eBook (epub): 978-3-534-73142-8

Inhalt I. Der Mythos Thomas Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die Thomas-Mann-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext . . . . . . . . 1. Leben und Schreiben im Wilhelminischen Kaiserreich 2. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik . . . . . . . 3. Exil in der Schweiz und den USA . . . . . . . . . . . 4. Nachkriegszeit und Rückkehr nach Europa . . . . . .

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IV. Themen und Schreibverfahren . . . . . . . 1. Politik, Bürgerlichkeit und Künstlertum 2. Mythos, Psychologie und Religion . . . 3. Körper, Geschlecht und Krankheit . . . 4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt

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V. Textanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Buddenbrooks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Tod in Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Zauberberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mario und der Zauberer . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Politische Essayistik: Betrachtungen eines Unpolitischen, Deutsche Hörer! (BBC-Radioansprachen) . . . . . . . .

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VI. Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zeittafel

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Kommentierte Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der Mythos Thomas Mann Thomas Mann ist ein Mythos, als Mensch wie als Autor. Die Anekdoten über seine Person und die Pauschalurteile über sein Werk, die immer und immer wieder kolportiert werden, sind vom realen Autor oder der tatsächlichen Gestalt seiner Texte längst abgekoppelt. Der Mythos beruht auf Wiederholung, doch er verändert sich auch im jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext. Es gab Zeiten, in denen es kaum möglich war, in Deutschland als Kulturschaffender keine Meinung zu Thomas Mann zu haben. Man verehrte ihn, betrachtete ihn als Vorbild – oder suchte sich so weit und so öffentlich wie möglich von ihm zu distanzieren. Mittlerweile, da Thomas Mann und seine Texte im kulturellen Gedächtnis der Deutschen fest verankert sind (Marx 2007, 114), hat sich die Lage entspannt. Doch bis heute geraten Menschen, nicht zuletzt Autoren, in Rage oder ins Schwärmen, spricht man sie auf Thomas Mann an. Es sind verschiedene Faktoren, die zur Mythenbildung um Autor und Werk beitragen: angefangen bei dem Umstand, dass Thomas Mann mit seinem ersten Roman Buddenbrooks (1901) einen Text von solch kompositorischer Raffinesse und sprachlicher Kraft vorlegt, dass man ihn einem 25-jährigen Autor nicht zutrauen würde, über die Verleihung des Nobelpreises im Jahr 1929 – der Nobelpreis selbst ist ein Mythos – bis hin zu späten Texten wie dem Roman Doktor Faustus, der den Deutschen im Bezug auf die Naziherrschaft den Spiegel vorhält. Die Tatsache, dass Thomas Mann selbst sich ab 1933 im Exil befindet und dort zu einem der wichtigsten Sprecher der deutschen Emigranten, zum Repräsentanten eines anderen, besseren Deutschlands avanciert, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass die Deutschen sich gegenüber ihrem ,Nationalschriftsteller‘ immer wieder positionieren müssen. In den 1920er Jahren hatte bereits Thomas Manns Abwendung vom Konservatismus und seine explizite Befürwortung der Weimarer Republik die Gemüter erregt. Später, im Goethejahr 1949, wird die Tatsache, dass Thomas Mann seinen Festvortrag sowohl in der BRD als auch in der DDR hält, zu Debatten und Anfeindungen führen. Auch wegen seiner Weigerung, nach 1945 nach Deutschland zurückzukehren, werden dem Exilanten Ressentiments entgegengebracht. Es sind immer wieder die „politischen Gesten“ Thomas Manns, so Hans Rudolf Vaget, welche die Deutschen zur Auseinandersetzung mit ihrer ,Ikone‘ Thomas Mann nötigen (Vaget 2007, 151). Die These, Thomas Mann sei letztlich zeit seines Lebens ein ,Unpolitischer‘ geblieben – auch das ein Teil des Mythos –, erscheint heute unhaltbar. Gerade Hans Rudolf Vagets Forschung hat in jüngerer Zeit immer wieder deutlich gemacht, in welch hohem Maß auch die kulturtheoretischen Äußerungen Thomas Manns politisch kodiert sind (u.a. Vaget 2006, 2007). Inzwischen begeht man in Deutschland Thomas-Mann-Gedenkjahre. Das Jahr 2005, zum Anlass des 50. Todestages, bot Gelegenheit, sich mit den Vorurteilen und Urteilen über Thomas Mann ausführlich auseinanderzuset-

Der Autor als Mythos

Prozess der Mythenbildung

Projektionen

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I. Der Mythos Thomas Mann

Selbstinszenierungen

Jenseits der Masken

zen. Manfred Dierks etwa erinnerte sich daran, dass der Autor bereits in den 1950er Jahren „ein Standbild – ein Denkmal“ gewesen sei: „als der Antifaschist, der Demokrat, vor allem aber der Bewahrer, Aufbewahrer der deutschen Kultur in der Fremde. Als Schriftsteller: der letzte deutsche Autor, der sich noch auf ein geschlossenes Werk verstanden hat.“ (Dierks 2007, 77) Auch dieses Bild vom „geschlossenen Werk“ hat inzwischen, nicht zuletzt durch die Dekonstruktion, Risse bekommen. Hermann Kurzke bringt den ,Mythos Thomas Mann‘ 1977 auf die Formel: „der letzte Deutsche, der letzte Bürger und der letzte Universalschriftsteller.“ (Kurzke 1977, 13) Sowohl Dierks als auch der spätere Biograph Thomas Manns, Hermann Kurzke, sind sich bei ihren Aussagen natürlich bewusst, dass dieser Mythos auf Projektion beruht – dass die Deutschen in Thomas Mann sehen, was sie jeweils sehen wollen. Die aktuelle Thomas-Mann-Forschung zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie diese Projektionen nicht nur in ihre Überlegungen einbezieht, sondern sie explizit zu ihrem Gegenstand macht. Auffallend ist, dass bei der Verklärung oder Verteufelung Thomas Manns zumeist er selbst, nicht seine Literatur im Vordergrund steht. An dieser Fixierung auf seine Person ist Thomas Mann nicht ganz unschuldig, hat er doch in zahlreichen autobiographischen Essays immer wieder die eigene Existenz – als Autor, aber auch als Bürger, Lübecker, Bruder, Ehemann, Familienvater, Exilant, politischer Repräsentant etc. – in den Fokus gerückt (siehe v.a. GW XI). Diese Texte sind Zeugnisse der Selbststilisierung wie der Selbstkritik, sie dokumentieren das ironische Spielen mit der eigenen Rolle ebenso wie das ernsthafte Bemühen, das eigene Dasein im Kontext der Zeitgeschichte zu verstehen. In dem frühen autobiographischen Text Im Spiegel (1907) etwa findet sich die viel zitierte Selbsteinschätzung des jungen Autors, der Dichter sei „ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan“, ein „anrüchiger Charlatan, der von der Gesellschaft nichts anderes sollte zu gewärtigen haben […] als stille Verachtung.“ (GKFA 14.1, 184) Das ist Spiel, Selbstironie, posing, auch wenn die Verachtung des Bürgers für den Künstler, die hier referiert wird, wohl auch die eigene Selbstverachtung kaschieren soll. Ganz anders liest sich die Autoreflexion des Autors in einem späten Essay wie Meine Zeit (1950), in dem er von seiner Person abstrahiert und das eigene Leben bewusst im Spiegel der Geschichte betrachtet. Die Selbstskepsis wird hier nicht mehr ironisch kommuniziert, sie gibt sich demütig: „[…] selten wohl ist die Hervorbringung eines Lebens – auch wenn sie spielerisch, skeptisch, artistisch und humoristisch schien – so ganz und gar, vom Anfang bis zum sich nähernden Ende, eben diesem bangen Bedürfnis nach Gutmachung, Reinigung und Rechtfertigung entsprungen, wie mein persönlicher und so wenig vorbildlicher Versuch, die Kunst zu üben.“ (GW XI, 302) Die Bilder Thomas Manns sind so verschieden wie seine Selbstbilder. Was ,authentisch‘, was Stilisierung ist, lässt sich nicht auseinander dividieren. Theodor W. Adorno, der Berater Thomas Manns in musikalischen Fragen während der Arbeit am Roman Doktor Faustus, hat schon 1962 davor gewarnt, den Autor Thomas Mann mit dem Nimbus seiner Texte oder seinen öffentlichen Masken zu verwechseln: „Das Verständnis Thomas Manns: die wahre Entfaltung seines Werkes wird erst anfangen, sobald man um das

I. Der Mythos Thomas Mann

sich kümmert, was nicht im Baedeker steht.“ (Adorno 1973, 20) Eine Einführung in das Werk Thomas Manns kann hierzu allenfalls einen kleinen Beitrag leisten.

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II. Die Thomas-Mann-Forschung Reges Forschungsinteresse

Forschung zu Lebzeiten

Selbstdeutungen

Das wohl Erstaunlichste, was es von der Thomas-Mann-Forschung zu berichten gibt, ist die Tatsache, dass das wissenschaftliche Interesse an den Texten des Autors nicht nachlässt; im Gegenteil. Heute, fast sechzig Jahre nach seinem Tod, ist diese Forschung lebendiger denn je. Die Texte haben von ihrer Faszinationskraft nichts verloren. Jede neue Generation von Wissenschaftlern entdeckt neue Lesarten und neue theoretische Zugänge – und schafft sich auf diese Weise auch ein je neues Bild des Autors Thomas Mann. Die Forschungsliteratur ist bis heute in einem Maße angewachsen, dass sie überblicken zu wollen, ein vermessenes Ziel wäre. Hermann Kurzke spricht bereits 1977 von der „kaum noch überschaubaren Literatur zu Thomas Mann“ (Kurzke 1977, 23). Was den Umfang des wissenschaftlichen Outputs betrifft, ist die Thomas-Mann-Forschung allenfalls mit der GoetheForschung vergleichbar. Vielen Doktorarbeiten zu Thomas Mann ist die Verzweiflung über die schier unbewältigbare Flut an Sekundärtexten anzumerken, die sich nur schwer in Forschungsberichten zusammenfassen lässt. Dennoch sind in der Thomas-Mann-Forschung natürlich Tendenzen auszumachen, die im Folgenden umrissen werden sollen. Die Forschung zur Literatur und Person Thomas Manns beginnt schon zu Lebzeiten. Zu vielen Texten erscheinen bereits kurze Zeit nach ihrem Erscheinen wissenschaftliche Beiträge, die Thomas Mann – davon zeugen seine Korrespondenz sowie die Tagebücher – jeweils aufmerksam zur Kenntnis nimmt, oft auch brieflich kommentiert. Fast keine dieser Interpretationen spielt im aktuellen Forschungszusammenhang noch eine Rolle. Dieser Umstand ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass diese Arbeiten den jeweiligen Text noch nicht im Kontext des Gesamtwerks beleuchten konnten, zum anderen war vielfach die Nähe zum Autor noch zu groß. Der erste Biograph etwa, Peter de Mendelssohn, ist ein enger Freund der Familie Mann. Seine Biographie erscheint zwar erst 1975, zwanzig Jahre nach dem Tod Thomas Manns (und umfasst dann nur die Jahre bis 1918; siehe Kapitel III.), doch ist ihr die große Verehrung, die Mendelssohn dem Autor entgegenbrachte, noch deutlich anzumerken. Für die Forschung bis 1975 stellt Hans Wißkirchen fest, sie habe sich weitgehend in den „Spuren der Selbststilisierung Thomas Manns“ bewegt (Wißkirchen 2005, 23). Solche „Spuren“ hat der Autor sehr zahlreich gelegt. Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Thomas Mann das eigene Werk immer wieder selbst interpretiert und seine eigene Lesart auch anderen angetragen. Schon bei seinem ersten Roman Buddenbrooks gibt er seinem Freund Otto Grautoff detaillierte Anweisungen für zu schreibende Rezensionen. Selbst den Grundtenor der Besprechung versucht er dem Rezensenten vorzugeben: „Ein paar Winke noch, Buddenbrooks betreffend. Im Lootsen sowohl wie in den Neuesten betone, bitte, den deutschen Charakter des Buches. […] Tadle ein wenig (wenn es Dir recht ist) die Hoffnungslosigkeit und Melancholie des Ausganges.“ Und er schließt seinen Brief vom 26. No-

II. Die Thomas-Mann-Forschung

vember 1901 an den Freund: „Damit genug! Mach Deine Sache recht gut und verschiebe sie nicht zu lange.“ (SK BB, 20) Thomas Manns Deutungen des eigenen Werks lassen sich komprimiert in den Bänden der Reihe Thomas Mann Selbstkommentare nachlesen, die im Fischer Taschenbuchverlag erscheinen. Die frühe Thomas-Mann-Forschung folgt den Vorgaben des Autors zwar nicht ausschließlich, allerdings bezieht sie ihre Quellenforschung und Archivarbeit doch auffallend auf die von Mann eingespurten Themen (Wißkirchen 2005, 24). Doch muss man diesen Arbeiten zugutehalten, dass sie eine solide Basis für die weitere Forschung erarbeiteten und sich auch der Themen annahmen, die heute kaum noch behandelt werden, zum Beispiel der dezidierten Sprachanalysen der literarischen Texte Manns. Mit der antiautoritären Bewegung der späten 60er Jahre, die deutlich in die Germanistik hineinwirkte, hätte sich auch die Thomas-Mann-Forschung von der Ikone des Autors emanzipieren können. Doch der als bürgerlich deklarierte Thomas Mann trifft auf nicht allzu viel Interesse bei den jungen Vertretern der Studentenbewegung. Gleichwohl lässt sich ein verstärktes Interesse an der politischen Rolle Thomas Manns für diese Zeit konstatieren (Kurzke 1977, 10). Das Jahr 1975 stellt insofern eine Zäsur innerhalb der Thomas-Mann-Forschung dar, als sich mit der Öffnung der Tagebücher zwanzig Jahre nach dem Tod des Autors neue Perspektiven eröffneten (siehe Kapitel III.). Auch die Tatsache, dass immer weniger der forschenden Wissenschaftler Thomas Mann persönlich gekannt hatten, vergrößerte die sachliche Distanz zum Gegenstand. Im Jahr 1977 kritisierte Hermann Kurzke, dass die Thomas-Mann-Forschung bei hoher Detailverliebtheit zu wenig Gesamtdeutungen und Kontextanalysen liefere (Kurzke 1977, 18f.). Dieses Urteil trifft auf die aktuelle Forschung nicht mehr zu. Die Forschungsergebnisse für den Zeitraum 1976 bis 1983 fasst erneut Hermann Kurzke in einem Überblicksband zusammen (Kurzke 1985). Ein 2008 erschienener Band von Heinrich Detering und Stephan Stachorski stellt „neue Wege der Forschung“ für den Zeitraum 1977 bis 2004 vor (Detering/Stachorski 2008). Die jährlichen Herbsttagungen der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft (sowie die alle zwei Jahre stattfindenden Davoser Literaturtage) haben mittlerweile zahlreiche Verbindungen zwischen Thomas Manns Literatur und den Diskursen der Zeit sowie den Texten anderer Autoren erschlossen. Zu nennen wären hier etwa die Tagungsthemen „Thomas Mann und das Judentum“ (2002), „Thomas Mann und das Theater“ (2007), „Thomas Mann und die Medien“ (2009), „Der Zauberer und die Phantastik“ (2010) oder „Thomas Mann und das Mittelalter“ (2011). Die Ergebnisse der Tagungen werden jeweils im Thomas Mann Jahrbuch publiziert. Die jüngste Forschung widmet sich neuen Aspekten im Werk Thomas Manns, analysiert dessen Texte auf der Grundlage aktueller Literatur- und Kulturtheorien und stellt sie in historische, gesellschaftliche, politische, kulturelle und dezidiert literarische Zusammenhänge, die bislang wenig oder nicht erschlossen wurden. Es werden etwa die Körper- und Geschlechterbilder der Literatur Thomas Manns ergründet, der Bezug zu den Naturwissenschaften und der Medizin hergestellt, die politischen und kulturtheoretischen Texte in den Fokus gerückt, moderne Text-und Bildtheorien auf das Werk angewandt oder Neuinterpretationen aus der Perspektive der Dekonstruktion unternommen.

Geschichte der Thomas-MannForschung

Forschung seit 1975

Aktuelle Tendenzen

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II. Die Thomas-Mann-Forschung Institutionen der Thomas-MannForschung

Große kommentierte Ausgabe

Zentrale Bedeutung für die Erforschung des Werks Thomas Manns kommt bis heute den Archiven und Gesellschaften zu. Bereits ein Jahr nach Manns Tod entstand die erste literarische Gesellschaft, die sich seines Werks annahm: die bis heute bestehende Thomas Mann Gesellschaft Zürich. 1965 wurde die Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft gegründet, die ihren Sitz in Lübeck hat und seit 2008 bzw. 2012 Ortsvereine in Bonn und Berlin unterhält. 1999 wurde außerdem der Thomas-Mann-Förderkreis München gegründet. Das Herz der Thomas-Mann-Forschung bildet nach wie vor das Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich, das den Nachlass Thomas Manns hütet. Neben rund 30.000 Seiten an Manuskripten, Briefen, unveröffentlichten Notizen etc. finden sich hier auch Sekundärliteratur, Werkausgaben aus aller Welt und Presseausschnitte. Zudem ist in den Räumen des Züricher Thomas-Mann-Archivs die Ausstattung des letzten Arbeitszimmers des Autors ausgestellt, so auch die Nachlassbibliothek, in der man die Anstreichungen und Notizen einsehen kann, die Thomas Mann in seinen Büchern vornahm. Neben Zürich gibt es in Düsseldorf mit der Sammlung Dr. HansOtto Mayer und in Augsburg mit der Sammlung Jonas umfangreiche Bestände mit Publikationen von und zu Thomas Mann. Ein Ort der Forschung und des Austauschs ist auch das Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum des Buddenbrookhauses in Lübeck, das zudem den Sitz der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft beherbergt. Außerdem finden sich Manuskripte und Autographen in den USA, wo Thomas Mann lange lebte, so etwa in der Beinecke Rare Book & Manuscript Library an der Yale University. Seit dem Jahr 2000 erscheint die neue und maßgebliche Große kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA), die sukzessive die Gesammelten Werke als zitierfähige Ausgabe ablöst. Sie wird – wie alle Texte Thomas Manns – im Frankfurter S. Fischer Verlag publiziert, der seit 1897 der Verlag des Autors ist und über die Publikationsrechte wacht. Die GKFA, die von einem Konsortium internationaler Forscher ediert wird, ist auf 38 Bände angelegt, die jeweils aus einem Text- und einem umfangreichen Kommentarband bestehen. Sie folgt modernen Editionsprinzipien, ist aber keine historisch-kritische Ausgabe, da die meisten Texte zweifelsfrei überliefert sind und man sich auf Handschriften und autorisierte Erstausgaben stützen kann.

III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext Die biographische Aufarbeitung des Lebens Thomas Manns teilt sich in ein ,Vor‘ und ein ,Nach‘ der Publikation seiner Tagebücher. Der Autor hatte seine „daily notes“, wie er das Paket beschriftete, vor seinem Tod verpackt, versiegelt und mit einer Sperrfrist sowie dem Vermerk „Without any literary value“ versehen. Das Paket wurde erst zwanzig Jahre nach seinem Tod, am 12. August 1975, geöffnet und sein Inhalt für die Forschung ausgewertet. Es enthielt, in Form dicker Wachstuchhefte, die Tagebücher ab dem Jahr 1933 bis zu Thomas Manns Tod sowie drei Hefte aus den Jahren 1918 bis 1921. Alle anderen Tagebücher hat der Autor selbst zu verschiedenen Zeitpunkten in seinem Leben vernichtet. Der Publizist, Autor und Freund der Familie Mann, Peter de Mendelssohn (1908–1982), publizierte 1975 seine Biographie Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, die nur die Jahre 1875 bis 1918 behandelt und dennoch bereits fast zweitausend Seiten umfasst; es erschienen später zudem einige Kapitel zu den Jahren 1919 und 1933 aus Mendelssohns Nachlass. Es ist die letzte „naive“ Biographie, wie Klaus Harpprecht anmerkt (Harpprecht 1995, 18), denn nur wenig später ist es Mendelssohn selbst, der die Publikation der Mann’schen Tagebücher beginnt (nach Mendelssohns Tod wird die zehnbändige Edition der Tagebücher Thomas Manns ab 1986 von Inge Jens weitergeführt und 1995 zu Ende gebracht). Mit dieser Einsicht in die persönlichen Aufzeichnungen des Autors begann ein Prozess der „Entmythologisierung“ der Ikone Thomas Mann, der nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass nach der Lektüre der Tagebücher an der Homosexualität Thomas Manns kein Zweifel mehr bestand – für einige immer noch ein Skandal, obwohl der aufmerksame Rezipient aus den literarischen und essayistischen Texten Manns auch zuvor bereits unschwer seine Schlüsse hatte ziehen können. Neben der Tatsache, dass Mendelssohns Biographie die Tagebücher noch nicht berücksichtigen konnte und zudem unvollendet blieb – die weiteren Notizen zeugen davon, dass es ein ausuferndes Unternehmen geworden wäre –, krankt seine Darstellung an der zu großen Nähe zum verehrten Objekt seiner Forschung. Der Journalist und Publizist Klaus Harpprecht (geb. 1927) legt 1995 die mit mehr als 2000 Textseiten bislang umfangreichste abgeschlossene Biographie vor, die noch Teil jenes Prozesses der „Entmythologisierung“ ist, von dem Harpprecht eingangs selbst berichtet. Dies äußert sich vor allem in der Tatsache, dass sich Harpprecht mit suggestiven Anmerkungen und persönlichen Wertungen nicht zurückhält und vielfach seine triumphierenden Überlegenheitsgefühle nicht verbergen kann, es besser zu wissen als Thomas Mann (z.B.: „Er hatte nichts von der neuen Realität verstanden, die Europa zu formen begann.“ Harpprecht 1995, 1813). Ärgerlich ist neben der Tatsache, dass sich der Leser seiner Biographie kein eigenes Bild machen kann, der eklatante Mangel an Belegen. Zu viel wird berichtet, dessen Quelle völlig offen bleibt. Ebenfalls 1995 erscheint das Buch

Tagebücher

Entmythologisierung

Biographien

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

Aktuelle biographische Forschung

Thomas Mann. A Life des englischen Literaturwissenschaftlers und Diplomaten Donald A. Prater (1918–2001). Der deutsche Untertitel: Deutscher und Weltbürger gibt sich etwas weniger bescheiden als das britische Original. Wie Harpprecht versteht sich auch Prater als Erzähler eines Lebens, doch bringt er seinem Gegenstand mehr Gelassenheit und Sympathie entgegen. Die erste Biographie, die aktuellen wissenschaftlichen Standards entspricht und sich auch im Hinblick auf die Werkbiographie auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung befindet, liefert erst 1999 der Mainzer Germanistikprofessor Hermann Kurzke mit Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Wie Praters Biographie ist auch sein Text unübersehbar von einem großen Wohlwollen gegenüber Thomas Mann und der Bewunderung für dessen Lebenswerk geprägt. Deutlich wird dies vor allem dort, wo er Thomas Mann gegen Vorwürfe, etwa den des Antisemitismus, in Schutz nimmt. Mit dem Fokus auf dem „Kunstbau“ dieses Lebens misst Kurzkes biographische Darstellung der Frage nach Sexualität und Homoerotik sehr viel Gewicht bei. An manchen Stellen konstruiert er einen unmittelbaren Kontext zwischen Leben und Werk, der bewusst und explizit auch auf Spekulationen setzt. Gleichwohl bildet Kurzkes Buch als maßgebliche wissenschaftliche Biographie neben den Selbstzeugnissen, Briefen und Tagebüchern Thomas Manns die Hauptquelle der folgenden kurzen Übersicht über Leben und Arbeiten des Autors. Jüngst wurde die Reihe der Biographien durch Hans Rudolf Vagets versierte und umfangreiche Darstellung der Zeit Thomas Manns in den USA ergänzt (2011), die eine wichtige Lücke in der biographischen ThomasMann-Forschung schließt. Einen zuverlässigen tabellarischen Überblick über Lebens- und Werkdaten bietet zudem die Thomas Mann Chronik (2004) von Gert Heine und Paul Schommer. Das ausgeprägte biographische Interesse an der Person Thomas Manns umfasst gerade in jüngerer Zeit auch die Familie des Autors – zumal, seit „die Manns“ mit der Ausstrahlung von Heinrich Breloers gleichnamiger Docufiction im deutschen Fernsehen (2001) zu den „deutschen Windsors“ avancierten. So wurden die Biographien des Vaters durch eine ganze Reihe an Darstellungen über die Familie ergänzt (u.a. Wißkirchen 1999, Jens/Jens 2003, Kuschel/Mann/Soethe 2009, Wüstner 2010).

1. Leben und Schreiben im Wilhelminischen Kaiserreich Quellenlage zum Frühwerk

Da die frühen Tagebücher Thomas Manns nicht erhalten sind, stellt sich die Quellenlage für diese Zeit anders dar als für die späteren Schaffensjahre. Nur die Hefte von September 1918 bis Dezember 1921 nimmt Thomas Mann von der Vernichtung aus, weil er sie noch als Inspiration für den Roman Doktor Faustus braucht (Mendelssohn 1979, Vff.). Zudem stellt sich die biographische Quellenlage für die frühen Jahre anders dar, weil Thomas Mann in dieser Zeit erst berühmt wird und noch nicht den Status eines deutschen ,Nationalschriftstellers‘ innehat, der später die Grundlage dafür sein wird, dass alles von ihm Geschriebene akribisch gesammelt und kommentiert wird.

1. Leben und Schreiben im Wilhelminischen Kaiserreich

Thomas Mann wird am 6. Juni 1875 in Lübeck als zweiter Sohn einer wohlhabenden und angesehenen protestantischen Kaufmannsfamilie geboren. Sein Bruder Heinrich wird 1871, die Schwestern Julia 1877 und Carla 1881, der Nachzügler Viktor 1890 geboren. Der Vater, Thomas Johann Heinrich Mann, ist Inhaber der Getreidefirma „Johann Siegmund Mann“, außerdem Niederländischer Konsul und später Steuersenator der Stadt Lübeck. Vom Vater übernimmt Thomas Mann offenbar den Ehrgeiz und den bürgerlichen Habitus, jene für ihn so typische Mischung aus Fleiß und Eleganz (Kurzke 1999, 25). In der symbolischen Topographie, die bereits im Frühwerk virulent ist und auf die Thomas Mann zeit seines Lebens zurückkommen wird, repräsentiert der Vater den Norden. Die Mutter hingegen steht für den Süden. Julia Mann, geborene da Silva-Bruhns, bildet als Kind einer reichen deutsch-brasilianischen Kaufmannsfamilie das exotische Element der Familie Mann, sie ist zudem für die musikalische (zur musikalischen Bildung und Praxis im Hause Mann: siehe Schröter 2005, 18ff.) und literarische Ausbildung der Kinder zuständig. Trotz ihrer Affinität zum Süden wird die eigentümliche „Kälte“, die viele der literarischen Figuren Manns auszeichnet und die auch ihm selbst von Zeitgenossen attestiert wird, der Seite der Mutter zugeschrieben (Kurzke 1999, 26). Die Atmosphäre in der Handelsstadt Lübeck, die mit der ganzen Welt Geschäfte macht und zugleich – nicht nur architektonisch – eine beklemmende Enge vermittelt, sowie der Habitus der Kaufmanns- und Senatorenfamilie, der er entstammt, prägen Thomas Mann. Die bürgerliche Erziehung des Wilhelminischen Kaiserreichs setzt auf die Perfektionierung der Rollen, die der Mensch in Gesellschaft und Familie übernimmt; mit dem modernen Schlagwort ,Authentizität‘ hätte man im Lübeck des späten 19. Jahrhunderts wohl wenig anfangen können. Erziehung und Umgebung vermitteln dem jungen Thomas Mann früh ein Bewusstsein des eigenen Status (Kurzke 1999, 22), das später auch sein Selbstbewusstsein als Schriftsteller und als patriarchalisches Oberhaupt einer großen Familie prägen wird. Den ersten überlieferten Brief vom Oktober 1889 unterzeichnet er bereits selbstsicher mit „Lyrisch-dramatischer Dichter“ (Prater 1998, 19). Der schulischen Ausbildung ist Thomas Manns Selbstbewusstsein indes nicht geschuldet. Der junge Kaufmannssohn besucht eine Privatschule, später mit mäßigem Erfolg das Gymnasium, wo er mehrere Klassen wiederholen muss. Er verlässt es 1894 ohne Abitur, lediglich im Besitz des so genannten „Einjährigen“, also der Berechtigung zum einjährigen freiwilligen Militärdienst. Die Schulszenen aus dem Roman Buddenbrooks (Kurzke 1999, 33f.) zeugen vom Klima der pädagogischen Disziplinierungsmethoden des Kaiserreichs ebenso wie die Episode der Musterung aus Felix Krull oder die Atmosphäre, die Heinrich Manns berühmter Roman Der Untertan (1914, Buchausgabe 1918) vermittelt. Die umfangreiche Bildung, von der Thomas Manns Texte zeugen, wird sich der Autor im Laufe der Jahre weitgehend autodidaktisch aneignen. Wichtig sind jedoch die zwischenmenschlichen Begegnungen der Schulzeit: die enge Freundschaft mit Otto Grautoff, der wir einen umfangreichen Briefwechsel (ab 1894) verdanken, sowie die Verliebtheit in die Kameraden Armin Martens und Williram Timpe, die Objekte früher sehnsuchtsvoller Gedichte werden (Kurzke 1999, 40ff.). Thomas Mann wird, wie so oft, diese pubertären Leidenschaften später als Inspiration für

Kindheit

Lübecker Erbe

Schulzeit

15

16

III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

München und Italien

Erste Publikationen

Vater- und Mutterwelt

Hochzeit und Ehe

seine Literatur nutzen, so weist etwa die Figur des Pribislav Hippe im Zauberberg Züge von Williram Timpe auf. Traumatische Spuren hinterlässt der Spott des Bruders Heinrich für diese homosexuellen Schwärmereien (Kurzke 1999, 48f.) und belastet das ohnehin zeitlebens schwierige Verhältnis der Brüder. Als der Vater 1891 mit nur 51 Jahren stirbt, verfügt er testamentarisch die Auflösung der Firma – in dem Wissen, dass keiner der Söhne zu seinem Nachfolger berufen ist (Kurzke 1999, 31). Kurz darauf siedelt die Mutter mit den jüngeren Kindern nach München über, wohin ihr Sohn Thomas 1894 nach einiger Zeit in Lübecker Pensionaten folgt. Zwar hatte der Vater im Testament die Hoffnung geäußert, sein Zweitältester habe „ein gutes Gemüth“ und werde sich „in einen praktischen Beruf hineinfinden“ (Prater 1998, 25). Doch nach einer kurzen Zeit als Volontär bei einer Feuerversicherung konzentriert sich Thomas Mann, wie sein Bruder Heinrich, auf die literarischen Interessen, die er bereits während seiner Schülerzeit entwickelte und pflegte. Die Publikation seiner Erzählung Gefallen (1894) in der naturalistischen Zeitschrift Die Gesellschaft öffnet dem jungen Autor die Türen der Münchner Literaturszene (Kurzke 1999, 66). Er verkehrt in Schwabings Boheme und im Künstlercafé Central, besucht als Gasthörer Vorlesungen an der Technischen Hochschule, hört viel und ausdauernd Wagner an der Münchner Oper und verlässt sich bei all dem auf das Einkommen, das ihm aus dem Nachlass des Vaters und der Liquidation des Lübecker Familienunternehmens zufließt. In den Jahren 1895 sowie 1896 bis 1898 unternimmt er zusammen mit Heinrich ausgedehnte Reisen nach Italien, die ihn u.a. nach Venedig, Palestrina, Rom und Neapel führen. Eine kurze Episode beim Militär 1900 endet nach nur wenigen Wochen mit Thomas Manns vorzeitiger Entlassung. Die frühen Erzählungen erscheinen in verschiedenen Zeitschriften, u.a. in der nationalkonservativen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert, für die Heinrich Mann als Redakteur arbeitet, sowie im berühmten Simplicissimus (Kurzke 1999, 66). Der künstlerische Durchbruch gelingt schließlich mit der Erzählung Der kleine Herr Friedemann (abgeschlossen im Herbst 1896), die auch den Titel des 1898 erschienenen Novellenbandes liefert. Während des zweiten langen Italienaufenthalts beginnt Thomas Mann im Oktober 1897 in Rom mit der Niederschrift des Romans Buddenbrooks, der 1901 im Berliner Verlag Samuel Fischer erscheinen und den Ruf Thomas Manns als junges literarisches Genie festigen wird. Nach der Logik der Gegensätzlichkeit von Vater- und Mutterwelt – die Sphäre der bürgerlichen Vernunft und des Geschäftssinns versus die Welt von Kunst, Musik und Literatur –, die Thomas Manns Texte, vor allem aber das Frühwerk leitmotivisch durchzieht, entscheidet er sich mit dem Schriftstellerdasein zunächst für die Mutterwelt. Erst durch die Distanz zur Sphäre des Vaters, zu Lübeck, zum bürgerlichen Habitus, wird ein Roman wie Buddenbrooks möglich: „Erst das Herausfallen aus der Bürgerwelt machte Thomas Mann zum Künstler“, schreibt Hermann Kurzke (Kurzke 1999, 71). Der Biograph präsentiert Manns Leben und Arbeiten als ein immerwährendes Austarieren der beiden entgegengesetzten Pole von Vater- und Mutterwelt. Auf die Seite der Mutterwelt gehört in dieser Logik unter anderem die Beziehung zum Maler Paul Ehrenberg, den Thomas Mann 1899 kennenlernt

1. Leben und Schreiben im Wilhelminischen Kaiserreich

und mit dem er bis 1903 eine homoerotisch geprägte Freundschaft, wenn auch keine Liebesbeziehung pflegt. Das Leben des jungen Bohemien neigt sich jedoch bald wieder in die andere Richtung: 1903 macht Thomas Mann die Bekanntschaft von Katia Pringsheim, der Tochter einer ebenso gebildeten wie wohlhabenden jüdischen Münchner Familie. Es folgen die Verlobung im Oktober 1904 sowie am 11. Februar 1905 die Hochzeit. Die Ehe mit Katia, die ein Leben lang bestehen wird und aus der sechs Kinder hervorgehen werden, bedeutet einen wichtigen Schritt in Richtung eines gesicherten bürgerlichen Daseins im Sinne der Vorstellungen des Vaters. Durch den ökonomischen Ertrag seiner schriftstellerischen Tätigkeit wird Thomas Mann zeit seines Lebens die wachsende Familie nicht nur ernähren, sondern ihr selbst in den schweren Zeiten von Krieg und Exil einen gehobenen bürgerlichen Lebensstandard bieten können. Die eigene ,Verbürgerlichung‘ weckt zugleich immer wieder Zweifel. An seinen Bruder Heinrich schreibt Thomas Mann im Januar 1906: „Ein Gefühl der Unfreiheit werde ich freilich seither [seit der Hochzeit] nicht los, und Du nennst mich gewiß einen feigen Bürger. Aber Du hast leicht reden. Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben.“ (Kurzke 1999, 129) Dieser Begriff der „Verfassung“ bezieht sich auch auf die eigenen homoerotischen Neigungen, die durch das heterosexuelle Bündnis der bürgerlichen Ehe natürlich nicht beendet, denen damit jedoch auf der Ebene des öffentlichen gesellschaftlichen Auftretens eine endgültige Absage erteilt wird. Der Umgang des Bürgers mit den Trieben und das Zweischneidige sexueller Leidenschaft sind zu dieser Zeit zentrale Themen des literarischen Schreibens und werden es zeitlebens bleiben – wenn sich auch über die Jahre die dringliche Dramatik des Themas ins Ironische wendet. Thomas Manns Ehe- und Familienglück ist ein „strenges Glück“, ein als Arbeit und Pflicht wahrgenommenes Glück (Kurzke 1999, 169). Dem entsprechen auf der Ebene des Schaffens ein ausgeprägter Ehrgeiz sowie eine gewissenhafte Selbstdisziplin, die das Zustandekommen dieses umfangreichen literarischen Lebenswerks erklären. „Bisweilen“, so schreibt der junge Autor schon 1901 an Otto Grautoff, „kehrt sich mir vor Ehrgeiz der Magen um.“ (Kurzke 1999, 177) Neben kleineren Prosastücken arbeitet Thomas Mann nach Abschluss des Buddenbrooks-Projekts unter anderem an den Erzählungen Tonio Kröger (1900–1902), Tristan (1901), Ein Glück (1903), Beim Propheten (1904), Schwere Stunde (1905) und Wälsungenblut (1905) sowie am Drama Fiorenza (1900–1905). Später folgen der Roman Königliche Hoheit (1909) und die umfangreiche Erzählung Der Tod in Venedig (1912), außerdem beschäftigt sich Thomas Mann mit Romanprojekten über Friedrich den Großen und die Idee der „Maja“; beide bleiben allerdings Fragment. Es entstehen die wichtigen Essays Bilse und ich (1906), Versuch über das Theater (1907), Süßer Schlaf! (1909) und Auseinandersetzung mit Wagner (1911). 1910 beginnt Mann die Arbeit am Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, ab 1913 an Der Zauberberg. Privat bringt diese Zeit die Geburt der Kinder: Erika 1905, Klaus 1906, Golo 1909, Monika 1910, Elisabeth 1918 und Michael 1919. 1908 lässt Thomas Mann in Bad Tölz ein stattliches Sommerhaus für die Familie bauen, 1914 folgt der Bau der Villa in der Poschingerstraße 1 in München-Bo-

Bürgerliche „Verfassung“

Frühwerk

Familie

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

genhausen, in der die Familie bis zu ihrer Exilierung 1933 wohnen wird. Auch traurige Familienereignisse fallen in diese Zeit: 1910 nimmt sich die Schwester Carla das Leben; auch die ältere Schwester Julia wird 1927 ihrem Leben durch Suizid ein Ende setzen. Nach einer Zeit großer Nähe zum Bruder durch die Italienreisen und die beiderseitige Entscheidung für ein Leben als Autor folgt die Distanzierung: Nach einem heftigen Streit, ausgelöst durch Thomas Manns Kritik an Heinrichs Roman Die Jagd von 1903 (Kurzke 1999, 112), bleibt das Verhältnis der Brüder angespannt. 1914 wird es beim Kriegsausbruch wegen der grundlegend verschiedenen politischen Haltung zum Bruch zwischen den Brüdern kommen, der erst nach Jahren wieder gekittet werden kann.

2. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Zustimmung zum Ersten Weltkrieg

Politische Konfrontation mit Heinrich

Schaffen nach 1918

Thomas Mann selbst leistet im Jahr 1900 nur wenige Wochen Wehrdienst und wird dann wegen einer Sehnenscheidenentzündung aus der Armee entlassen, auch am Ersten Weltkrieg wird er nicht als Soldat teilnehmen. Umso enthusiastischer stimmt er vom Schreibtisch aus in die allgemeine Kriegsbegeisterung ein, um als Ausgemusterter wenigstens einen geistigen Beitrag zu leisten. Ab 1914 entstehen die Aufsätze Gedanken im Kriege und Gute Feldpost sowie eine Reihe weiterer essayistischer Schriften, in denen sich der Autor für den Krieg ausspricht, ihn gar zum heiligen Mittel der Reinigung und Befreiung der Nation stilisiert und als Versöhnung von Geist und Leben feiert – eine aus heutiger Perspektive ebenso kurzsichtige wie irritierende Position (Kurzke 1999, 236ff.). Zwar hatten die Brüder um 1900 nationalkonservative Ansichten geteilt – beide hatten in Das Zwanzigste Jahrhundert publiziert –, doch nun erkennt Heinrich, was dem Bruder im kriegstreiberischen Pathos entgeht: die Gefährlichkeit der Geisteshaltung, die diesem Krieg zugrunde liegt und die sich bis zum Beginn des Dritten Reiches radikalisieren wird. Im Gegensatz zu seinem Bruder spricht sich Heinrich Mann explizit und deutlich gegen Krieg und Nationalismus aus. Eine erneute Konfrontation der Brüder ist somit vorprogrammiert, zumal die Rolle als dichterischer ,Soldat‘ Thomas Mann die Möglichkeit gibt, sich als deutscher Nationalschriftsteller in Stellung zu bringen. Der Aufsatz Betrachtungen eines Unpolitischen, an dem Thomas Mann von Herbst 1915 bis Frühjahr 1918 arbeitet und für den er die Arbeit am Zauberberg unterbricht, wächst sich zu einem Monumentalessay und zur großen Abrechnung mit Heinrich, dem „Zivilisationsliteraten“, aus. Der Text ist, so Hermann Kurzke, das Zeugnis eines „Bruderkriegs“ (Kurzke 1999, 252). Ein Versuch der Annäherung 1917 scheitert. Erst 1922, nach Thomas Manns Bekenntnis zur Weimarer Republik, erfolgt die Versöhnung. Auf Seiten der literarischen Arbeit entstehen 1918/19 die Idylle Herr und Hund sowie der lyrische Text Gesang vom Kindchen. Im April 1919 nimmt Thomas Mann nach vierjähriger Unterbrechung die Arbeit am Zauberberg wieder auf. Außerdem entstehen 1921 der Vortrag Goethe und Tolstoi und der Aufsatz Zur jüdischen Frage. Bis zum Herbst 1924 arbeitet Thomas Mann am Roman Der Zauberberg, der noch im gleichen Jahr erscheint; es

3. Exil in der Schweiz und den USA

folgen 1925 die Erzählungen Unordnung und frühes Leid und 1929 Mario und der Zauberer. Nach einer Ägyptenreise 1925 – eine weitere unternimmt er 1930 – beginnt Thomas Mann 1926 mit den Vorbereitungen zum Roman Joseph und seine Brüder, der ihn viele Jahre begleiten wird. Während 1918 und 1919 die Kinder Elisabeth und Michael geboren werden, sind die älteren Kinder schon fast flügge. Erika arbeitet in der Zeit der Weimarer Republik als Schauspielerin, Autorin und Journalistin und gründet kurz vor dem Exil das Kabarett Die Pfeffermühle. Klaus Mann wird ebenfalls Autor und Publizist, Golo Wissenschaftler und später Professor. Auch Monika Mann wird sich, wenn auch wenig erfolgreich, als Schriftstellerin versuchen; Elisabeth wird Meeresbiologin, der Jüngste, Michael, als Musiker arbeiten. Die Bekanntschaft Thomas Manns im Jahr 1927 mit dem jungen Klaus Heuser mündet in eine neue homoerotische Leidenschaft; auch sie beschränkt sich auf die Phantasie. 1923 stirbt Thomas Manns Mutter, 1927 Schwester Julia. Thomas Mann selbst avanciert in dieser Zeit tatsächlich zum ,Nationalschriftsteller‘: 1919 verleiht die Universität Bonn ihm, dem Autodidakten ohne Abitur, die Ehrendoktorwürde. 1925 begeht Thomas Mann, begleitet von privaten wie öffentlichen Ehrungen, seinen 50. Geburtstag. Im Dezember 1929 wird ihm in Stockholm die höchste literarische Auszeichnung, der Nobelpreis für Literatur verliehen. Hermann Kurzke weist darauf hin, dass Thomas Manns Bekenntnis zur Weimarer Republik und der damit verbundene Abschied von der nationalkonservativen Haltung natürlich nicht über Nacht erfolgen, sondern das Ergebnis eines langwierigen und schwierigen Prozesses darstellen (Kurzke 1999, 272). Spätestens mit dem Essay Kultur und Sozialismus von 1927 tut Thomas Mann seine neue Haltung auch öffentlich kund. Es folgen wichtige politische Auftritte, in denen er sich für Demokratie und republikanische Vernunft einsetzt, unter anderem im Vortrag Deutsche Ansprache (1930), Rede vor Arbeitern in Wien (1932) und Bekenntnis zum Sozialismus (1933). Die polemische Gegenreaktion der ,Völkischen‘, die Thomas Mann in seinen Texten scharf angreift, erfolgt prompt (Kurzke 1999, 362f.). Am 17. Oktober 1930 hält er im Berliner Beethovensaal die Rede mit dem Titel Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, in der er zu einer Vereinigung sozialdemokratischer und konservativer Kräfte aufruft, um den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Ein Trupp von intellektuellen (u.a. Arnolt Bronnen und Ernst Jünger) und paramilitärischen Störern evoziert daraufhin einen Eklat und erzwingt das vorzeitige Ende des Vortrags (Prater 1995, 256f.). Trotz dieser bedrohlichen Zeichen hält Thomas Mann den Nationalsozialismus zu diesem Zeitpunkt noch für ein vorübergehendes, wenn auch gefährliches Phänomen; wenig später wird ihn Hitlers Regime um Heimat und Besitz bringen.

Karrieren der Kinder

Aufstieg zum ,Nationalschriftsteller‘

Bekenntnis zur Weimarer Republik

Warnungen vor dem Nationalsozialismus

3. Exil in der Schweiz und den USA Hitler wird am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Am 10. Februar 1933 hält Thomas Mann in der Münchner Universität zum 50. Todestag Wagners den Vortrag Leiden und Größe Richard Wagners. Am folgenden

Beginn des Dritten Reichs

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

Exil

Protest der Richard-WagnerStadt München

Schutzhaftbefehl und Enteignung

Tag verlässt er Deutschland, um den Vortrag in Amsterdam, Brüssel und Paris zu widerholen. Es schließt sich ein bereits zuvor geplanter Urlaubsaufenthalt in der Schweiz an. Am 15. März 1933 beginnt er in Arosa die privaten Aufzeichnungen, die wir heute als sein Exiltagebuch kennen. Gewarnt von seinen erwachsenen Kindern kehrt Thomas Mann mit Ehefrau Katia und den jüngeren Kindern nicht nach München zurück – unversehens und ungeplant verwandelt sich der Urlaubsaufenthalt in ein Exil. Nach mehreren Reisen und einem langen Sommeraufenthalt im französischen Sanary-sur-mer, wo sich bereits eine ganze Reihe exilierter deutscher Intellektueller versammelt hat, kehrt die Familie im September 1933 in die Schweiz zurück und lässt sich – nun im Bewusstsein, dass die Abwesenheit aus Deutschland länger währen wird – in einem Haus in Küsnacht bei Zürich nieder, wo sie bis zu ihrer Übersiedlung in die USA im Herbst 1938 wohnen wird. Bereits im März 1933 tritt Thomas Mann aus der gleichgeschalteten Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste aus, am 4. April 1933 wird er aus dem Rotary Club ausgeschlossen. Viele Einträge im Tagebuch zeugen von der anfänglichen Unfähigkeit Manns, die neue Situation und den Status des Exilanten zu akzeptieren. Noch im März 1934 notiert er: „Daß ich aus dieser Existenz hinausgedrängt worden, ist ein schwerer Stil- und Schicksalsfehler meines Lebens, mit dem ich, wie es scheint, umsonst fertig zu werden suche, und die Unmöglichkeit seiner Berichtigung und Wiederherstellung, die sich immer wieder aufdrängt, das Ergebnis jeder Prüfung ist, frißt mir am Herzen.“ (TB 1933–1934, 356) Am 16. April 1933 erscheint in den Münchner Neusten Nachrichten der zuvor bereits über Radio München verbreitete Protest der Richard-WagnerStadt München gegen Thomas Manns Wagner-Vortrag, in dem er – das löste den Skandal vor allem aus – Wagners Schaffen, in Anlehnung an Nietzsche, als einen genialen „Dilettantismus“ bezeichnet hatte (GW IX, 375f.). Der gegen Thomas Mann gerichtete Protest wird von fünfundvierzig Personen des Münchner öffentlichen Lebens unterzeichnet, darunter viele Intellektuelle und Kunstschaffende, die ihr Einverständnis mit den neuen nationalsozialistischen Machthabern offenbar auch öffentlich bekunden wollen (Schirnding 2008, 83f.). Selbst vermeintlich befreundete Kollegen Thomas Manns aus den Münchner Künstlerkreisen sind beteiligt, so setzen unter anderem die Komponisten Hans Pfitzner und Richard Strauss, der Münchner Generalmusikdirektor und Initiator der Aktion Hans Knappertsbusch sowie der Maler und Karikaturist Olaf Gulbransson ihre Namen unter den Protest. Das Pamphlet kommt einer „nationalen Exkommunikation“ gleich (Abel 2003, 43). In der Poschingerstraße wird das Haus der Familie durchsucht, zunächst das Auto, später auch das Haus beschlagnahmt und weitervermietet. Der SS-General (und spätere zentrale Organisator des Holocaust) Reinhard Heydrich lässt Ende Mai die in Deutschland verbliebenen Vermögenswerte der Familie einziehen und erwirkt einen sogenannten „Schutzhaftbefehl“ gegen Thomas Mann; bei einer Rückkehr nach Deutschland wäre der Autor umgehend verhaftet worden (Kurzke 1999, 392). Alle Verhandlungen über die Rückgabe der in Deutschland verbliebenen Habe und Vermögenswerte, die die Familie mit Hilfe eines Anwalts anstrengt, scheitern an der Intervention Heydrichs. Woher dessen Hass auf Thomas Mann stammt, ist unbekannt (Kurzke 1999, 402). Insgesamt büßt Thomas Mann durch die Emi-

3. Exil in der Schweiz und den USA

gration etwa die Hälfte seines Vermögens ein, darunter auch die Hälfte des Nobelpreisgeldes; ein Teil war bereits zuvor in der Schweiz deponiert worden (Kurzke 1999, 400f.). Dennoch werden Thomas Mann und seine Familie niemals ernsthafte finanzielle Probleme im Exil haben – ganz anders als der Großteil der europäischen Emigranten. Obwohl Thomas Mann nicht zurückkehrt, bleibt sein Verhältnis zu Deutschland zunächst in einer Art Schwebezustand. Die ersten beiden Bände der Romantetralogie Joseph und seine Brüder können noch in Berlin erscheinen (Die Geschichten Jaakobs 1933, Der junge Joseph 1934). Und lange hofft Thomas Mann auch noch auf die Rückgabe seines Hab und Gut. Die ersten drei Jahre des Exils sind von Depressionen, Zögern und Zweifeln geprägt, wie an den Tagebüchern und Briefen deutlich wird – und vom politischen Schweigen Thomas Manns. Der Autor, der sich in der Weimarer Republik bereits früh und explizit gegen den Nationalsozialismus positioniert hatte und der sich nun im Tagebuch und in privaten Briefen immer wieder deutlich ablehnend über die NS-Machthaber äußert, enthält sich in den Jahren 1933 bis 1935 jeglicher öffentlichen politischen Äußerung gegen das Hitlerregime; über die Gründe ist damals wie heute viel spekuliert worden (Schöll 2004, 43ff.). „Heute ist um ihn ein Raum des Schweigens“, so äußert sich 1935 Theodor Heuss zu Thomas Manns Verhalten (Schröter 1969, 251). Mit diesem Schweigen stößt Mann nicht nur die eigene Familie vor den Kopf, vor allem Erika und Klaus, die sich im Exil politisch engagieren, sondern auch die Exilgemeinschaft der Künstler und Intellektuellen, die aus Deutschland fliehen mussten. Erst zum Jahresbeginn 1936 wird sich Thomas Mann öffentlich gegen das Dritte Reich äußern. Am 3. Februar 1936 publiziert er einen offenen Brief in der Neuen Zürcher Zeitung, in dem er sich klar und deutlich auf die Seite des politischen wie literarischen Exils stellt (Schöll 2004, 49ff.). Der Staatenlosigkeit durch die Ausbürgerung aus Deutschland, die daraufhin im Dezember 1936 erfolgt, kommt Thomas Mann zuvor, indem er im November 1936 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft annimmt. Er wird tschechoslowakischer Staatsbürger bleiben, bis er am 23. Juni 1944 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Zu Thomas Manns Erleichterung emigriert im Frühjahr 1936 endlich auch sein Verleger Gottfried Bermann Fischer mit Teilen des Verlags aus Deutschland. Thomas Manns Exilromane Joseph in Ägypten (1936) und Lotte in Weimar (1939) erscheinen im S. Fischer Verlag in Wien, Joseph, der Ernährer schließlich 1943 in Stockholm, wohin Bermann Fischer zu diesem Zeitpunkt den Verlag transferieren musste. Die ersten beiden Bände des Romans Joseph und seine Brüder sind bereits abgeschlossen, den dritten Band hat Thomas Mann gerade begonnen, als er Deutschland verlassen muss. Der Horizont des Textes ändert sich mit den neuen privaten und politischen Verhältnissen. Vor allem wird der Roman nun, angesichts der Judenverfolgung in Deutschland, als pro-jüdische Deklaration und Verbeugung vor der jüdischen Kulturgeschichte wahrgenommen. Nach Abschluss des dritten Bandes unterbricht Thomas Mann die Arbeit an dem Projekt, um sich seinem zweiten großen Exilroman Lotte in Weimar zu widmen, an dem er von 1936 bis 1939 schreibt. Auch die Bewertung der Figur Goethes – der hier explizit als europäischer, nicht so sehr als deut-

Anfängliches Schweigen im Exil

Politisches Bekenntnis 1936

Exilromane

Das andere Deutschland

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

Politisches Engagement im Exil

Auswanderung in die USA

US-amerikanisches Publikum

scher Autor präsentiert wird – ist deutlich durch das Exil geprägt. So lässt Thomas Mann seine Goethefigur im Roman über die Deutschen sagen: „[…] ihre Besten lebten immer bei ihnen im Exil […].“ (GKFA 9.1, 335) Diese Bemerkung ergibt wenig Sinn, wenn man sie aus der Perspektive des Jahrs 1816 rezipiert, in dem der Roman spielt. Sie werden indes verständlich, wenn man sie als Deklaration eines Exilautors in der Zeit des Dritten Reichs liest. Thomas Manns öffentliches Bekenntnis zum Exil vom Februar 1936 wirkt wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur betrachtet sich der Autor von da an als Teil der deutschen Exilgemeinde, er proklamiert auch immer wieder öffentlich, dass sich mit den Emigranten der bessere Teil der deutschen Nation, das eigentliche Deutschland im Exil befinde. Er selbst inszeniert sich immer wieder, vor allem in den USA, als Gegenspieler Hitlers – nicht zuletzt im Essay Bruder Hitler vom April 1938, in dem er neben der vermeintlichen Nähe auch die größtmögliche Distanz zu Hitler konstruiert. Mit dem Bekenntnis zum Exil beginnt die umfangreiche politische Tätigkeit Thomas Manns, sein Kampf in Reden, Vorträgen und Aufsätzen gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime. Hermann Kurzke zählt von 1937 bis 1945 über dreihundert nicht-dichterische Beiträge aus der Feder des Exilanten und konstatiert: „Kein deutscher Autor im Exil hat auch nur annähernd eine so ausgedehnte publizistische Tätigkeit entfaltet.“ (Kurzke 1999, 445) Im Mai 1936 hält Thomas Mann in Wien die Festrede Freud und die Zukunft; 1937 publiziert er unter dem Titel Ein Briefwechsel seine Antwort auf die Aberkennung der Bonner Ehrendoktorwürde, ein Text, der zu einem zentralen politischen Statement des Exils avanciert. Von 1937 bis 1940 erscheint in Zürich im Verlag Emil Oprecht Thomas Manns Exilzeitschrift Mass und Wert, außerdem entstehen die Texte Dieser Friede (1938) und Dieser Krieg (1939) sowie die wichtigen Vorträge Schicksal und Aufgabe (1943), Deutschland und die Deutschen (1945) und Die Lager (1945). Von Oktober 1940 bis Ende 1945 schreibt Thomas Mann für die BBC insgesamt 58 Reden, die – zunächst von einem Sprecher verlesen, später vom Autor selbst gesprochen – per Rundfunk in Deutschland verbreitet werden. Nach Reisen in die USA in den Jahren 1934, 1935 – während der ihm die Ehrendoktorwürde der Harvard University verliehen wird –, 1937 und im Frühjahr 1938 siedelt Thomas Mann mit Frau und Kindern im Herbst 1938 ganz in die USA über, wo ihm eine Stelle an der Universität Princeton angeboten wurde. Das Angebot kam durch die Vermittlung seiner amerikanischen Gönnerin Agnes E. Meyer zustande, Ehefrau eines großen Zeitungsmagnaten und glühenden Bewunderin Thomas Manns, die ihm während seiner Exiljahre in den USA zahlreiche Türen öffnen und sein Leben und Arbeiten finanziell großzügig unterstützen wird. Obwohl Thomas Mann sich im Tagebuch oft genervt äußert ob der Ansprüche, die ihm aus dieser Freundschaft entstehen, nimmt er Agnes Meyers Großzügigkeit immer wieder selbstverständlich in Anspruch. Neben der politischen Tätigkeit unternimmt Thomas Mann zahlreiche Lesereisen durch seine neue Heimat. Sein Werk wird in den USA in Übersetzung publiziert und öffentlich wahrgenommen, wenn es auch nie die Popularität erlangt, die etwa die Romane Vicki Baums, Franz Werfels oder Lion Feuchtwangers in den USA genießen. Im Vergleich zum Großteil der anderen Exilautoren, die in den USA kein Publikum finden, sieht sich Thomas

3. Exil in der Schweiz und den USA

Mann somit immer in der komfortablen Lage, sein Einkommen durch das Schreiben sichern zu können. Auch die Honorare für die politische Vortragstätigkeit tragen nicht unwesentlich zum Einkommen der Familie bei – auf das sich auch die erwachsenen Kinder immer wieder verlassen. Den größten Ruhm erntet Thomas Mann in den USA nicht als literarischer Autor, sondern als politischer Repräsentant des deutschen Exils. Umgekehrt identifiziert sich Thomas Mann vor allem auf politischer Ebene mit seinem neuen Gastland, nicht zuletzt aufgrund seiner tiefen Bewunderung für den amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt (1882–1945), von dem er sich ein entschlossenes Vorgehen gegen Hitler-Deutschland erhofft. Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg im Dezember 1941 wird von Thomas Mann entsprechend begrüßt, an einen schnellen Erfolg der Alliierten glaubt er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr (Schöll 2004, 137ff.). Nach Abschluss der Arbeit an Lotte in Weimar entsteht 1940 die Erzählung Die vertauschten Köpfe. Im August 1940 greift Thomas Mann den Stoff des Josephsromans wieder auf und beginnt mit der Arbeit am vierten und letzten Band, Joseph, der Ernährer, den er im Januar 1943 abschließt. Nach einem kurzen Einschub durch die Erzählung Das Gesetz folgt das nächste große Romanprojekt, die Arbeit an Doktor Faustus (1943–1947). Im Frühjahr 1941 verlegt die Familie Mann ihren Wohnsitz von der Ostküste an die Westküste der USA. Sie lässt sich im kalifornischen Pacific Palisades nahe Los Angeles nieder, wo sie eine nach ihren Vorstellungen entworfene Villa im Stil des amerikanischen Bauhaus bezieht, deren Errichtung durch die finanziellen Unterstützung von Agnes Meyer möglich wird. Thomas Mann verfolgt das europäische Kriegsgeschehen sehr genau. Keine Person des US-amerikanischen öffentlichen Lebens verkörpert für Thomas Mann so sehr die Hoffnung eines baldigen Endes des Naziregimes wie Präsident Roosevelt (zu Manns Verhältnis zu Roosevelt siehe ausführlich Vaget 2011, 67ff.). Nach seiner zweiten Einladung ins Weiße Haus 1941 – die erste war 1935 nach der Verleihung des Ehrendoktors von Harvard erfolgt – schreibt Thomas Mann an Agnes Meyer: „Diese Mischung von Schlauheit, Sonnigkeit, Verwöhntheit, Gefalllustigkeit und ehrlichem Glauben ist schwer zu charakterisieren, aber etwas wie Segen ist auf ihm, und ich bin ihm zugetan als dem, wie mir scheint, geborenen Gegenspieler gegen Das, was fallen muss.“ (Brief vom 24. Januar 1941; Mann/Meyer 1992, 254) Während des Wahlkampfes 1944 setzt sich Thomas Mann öffentlich für Roosevelts Wiederwahl ein. Dessen Tod am 12. April 1945 erschüttert ihn, wie der Eintrag im Tagebuch offenbart: „Empfingen nachmittags mit tiefer Bewegung die Nachricht vom /Tode Franklin Roosevelts. / […] Hörten im Lauf des Abends viel dem Radio zu, ergriffen von Huldigungen und Trauerkundgebungen aus aller Welt. / Die Erschütterung ist groß.“ (TB 1944–1.4.1946, 187f.) In der Forschung wurde und wird immer wieder angezweifelt, dass das antifaschistische Engagement Thomas Manns ,authentisch‘ gewesen sei; auch Hermann Kurzke geht in seiner Biographie davon aus, dass dem Autor ein innerer Vorbehalt gegen die eigene politische Tätigkeit geblieben sei (Kurzke 1999, 449). Tatsächlich bietet das Tagebuch einige Hinweise darauf, dass Thomas Mann sich zum politischen Engagement immer wieder selbst motivieren muss, vor allem angesichts des zeitlichen Aufwands –

Leben und Schaffen ab 1940

Präsident Roosevelt

Politische Rolle in der Öffentlichkeit

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

Hilfe für die Flüchtlinge

Zeit, die ihm für das literarische Arbeiten fehlt. Trotz dieser Zweifel findet sich jedoch kein ernsthafter Hinweis dafür, dass Thomas Mann zeitlebens ein ,Unpolitischer‘ geblieben sei. Er übernimmt im Exil eine neue, öffentliche politische Rolle, die ihm im Verlauf der Jahre immer vertrauter wird und die nicht mehr oder weniger ,authentisch‘ ist als die anderen Rollen, die Thomas Mann im Lauf seines Lebens erfüllt. In den Jahren des Exils entwickelt sich das Heim der Familie Mann zu einer Art Exil-Büro, das zahlreichen Flüchtlingen aus Europa als erste Anlaufstelle dient. Thomas, Katia, Erika und später auch Golo Mann beantworten unzählige Hilfsgesuche und stellen logistische wie finanzielle Hilfe zur Verfügung. „Thomas Mann“, so schreibt Hermann Kurzke, das sei in dieser Zeit „ein Kollektiv“ gewesen (Kurzke 1999, 472). Der prominente Exilant unterstützt verschiedene Hilfsorganisationen, sammelt Spenden, vermittelt Jobs und nutzt seine Stellung in der amerikanischen Öffentlichkeit immer wieder, um auf die Not der Geflüchteten aufmerksam zu machen. Er interveniert bei den amerikanischen Behörden, als die deutschen Emigranten durch den Kriegseintritt der USA über Nacht zu enemy aliens werden – ein Umstand, der ihn als tschechoslowakischen Staatsbürger nicht selbst betrifft. Hinzu kommt die Sorge um Golo und Heinrich Mann, die nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich festsitzen und erst nach einer spektakulären Flucht in die USA entkommen. Heinrich Mann lässt sich mit seiner Frau in der Nähe in Los Angeles nieder. Der räumlichen Nähe entspricht jedoch keine persönliche; bis zum Tod Heinrich Manns im Jahr 1950 bleibt das Verhältnis der Brüder freundlich, aber distanziert.

4. Nachkriegszeit und Rückkehr nach Europa Kriegsende

Kontroverse mit Walter von Molo

Am 7. Mai 1945 erfolgt die Kapitulation Deutschlands. Thomas Manns Freude ist jedoch verhalten. Im Tagebuch notiert er an diesem Tag: „Ist dies nun der Tag, korrespondierend mit dem 15. März 1933, als ich diese Serie von täglichen Aufzeichnungen begann, – also ein Tag feierlichster Art? / Es ist nicht gerade Hochstimmung, was ich empfinde. Natürlich ist die gegenwärtige deutsche Regierung nur episodisch, Instrument der Kapitulation […]. Übrigens aber / wird dies oder das mit Deutschland, aber nichts in Deutschland geschehen, / und bis jetzt fehlt es an jeder Verleugnung des Nazitums, jedem Wort, daß die ,Machtergreifung‘ ein fürchterliches Unglück, ihre Zulassung, Begünstigung ein Verbrechen ersten Ranges war.“ (TB 1944–1.4.1946, 200) Thomas Mann war von einer Schuld aller Deutschen an den nationalsozialistischen Verbrechen überzeugt – eine Haltung, die bereits zuvor in den Debatten mit anderen Exilanten zu Konflikten geführt hatte. Die Distanz zu Deutschland blieb entsprechend groß, wie an Thomas Manns Brief nach Deutschland vom September 1945 deutlich wird, der unter dem Titel Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe bekannt wurde. Mit diesem Text antwortete Mann auf einen offenen Brief Walter von Molos, in dem dieser ihn zur Rückkehr aufgefordert hatte. Das „Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit“, so Thomas Manns Erwiderung, hätten die zuhause Gebliebenen nicht gekannt (GKFA

4. Nachkriegszeit und Rückkehr nach Europa

19.1, 73). Der Brief enthält, neben dem Bild des „Herzasthmas“, noch eine weitere berühmt gewordene Aussage Thomas Manns, nämlich die Äußerung seines Abscheus gegenüber der während des Dritten Reichs in Deutschland erschienenen Literatur: „Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen [diesen Büchern] an; sie sollten alle eingestampft werden.“ (GKFA 19.1, 76) Der Exilant traf auf wenig Verständnis auf Seiten der Beschuldigten, vielmehr erklärten sich bald die Autoren der so genannten „Inneren Emigration“ gegenüber den Emigrierten zu den ,besseren Deutschen‘. Auch Molos offener Brief an Thomas Mann, so die These von Hans Rudolf Vaget, war von Anfang an mit dem Ziel verfasst und publiziert worden, die in Deutschland Verbliebenen vom Vorwurf der Kollektivschuld frei zu sprechen (Vaget 2011, 484ff.). Nach schwerer Krankheit und einer Lungenkrebsoperation im Jahr 1946 schließt Thomas Mann im Januar 1947 die Arbeit an Doktor Faustus ab. Im gleichen Jahr unternimmt er eine erste Reise nach Europa, wobei er Deutschland allerdings nicht besucht. Erst im Goethejahr 1949 reist er in die alte Heimat und hält den Vortrag Ansprache im Goethejahr 1949 zunächst in Frankfurt am Main, anschließend in Weimar, wobei die Tatsache, dass er auch die Sowjetische Besatzungszone besucht, zum Anlass neuer Anfeindungen gegen den vermeintlichen „Deutschenhasser“ (GKFA 19.2, 765) wird (Kurzke 1999, 541ff.). Neben der Rede zu Goethes zweihundertstem Geburtstag entsteht 1949 auch der Essay Goethe und die Demokratie. Bereits seit Anfang 1948 arbeitet Thomas Mann zudem am Roman Der Erwählte, den er im Oktober 1950 abschließt. Im Dezember 1950 greift er den Stoff des Felix Krull wieder auf und schreibt den Roman ab Januar 1951 weiter. Der erste Teil war 1922 erschienen, die Fortsetzung wird 1954 veröffentlicht. 1952 erscheint neben dem Essayband Altes und Neues der Aufsatz Der Künstler und die Gesellschaft, ab August 1954 arbeitet Mann an dem umfangreichen Essay Versuch über Schiller. Ab dem Jahresbeginn 1955 beschäftigt er sich mit den Vorarbeiten zu einem geplanten Drama mit dem Titel Luthers Hochzeit, das nicht mehr vollendet wird. In den Jahren 1950 und 1951 reist Thomas Mann wieder nach Europa; nach einer erneuten Reise 1952 entschließen sich Thomas und Katia Mann spontan, in Zürich zu bleiben. Zu unwirtlich war das politische Klima in den seit 1950 vom McCarthyism geprägten Vereinigten Staaten geworden. Unter anderem hatte sich Thomas Mann mit dem Besuch der Goethe-Feier in Weimar einer zu großen Nähe zum Kommunismus verdächtig gemacht. Das FBI lässt ihn, wie fast alle prominenten Emigranten, akribisch überwachen (Vaget 2011, 391ff.). Schließlich verweigert ihm sogar die Library of Congress, an der Thomas Mann seit 1941 den von Agnes Meyer gesponserten Ehrenposten eines Beraters versah, seinen jährlichen Vortrag zu halten. Zu diesen politischen Gründen, der Angst vor einem amerikanischen Faschismus, kommen persönliche, vor allem der Wunsch Thomas Manns, sein Leben in Europa zu beenden und auch dort begraben zu werden. Das Thema Tod rückt ihm näher: 1949 hatte sich Sohn Klaus das Leben genommen, ebenfalls 1949 stirbt der Bruder Viktor, 1950 Heinrich Mann. 1954 bezieht das Ehepaar Mann sein letztes Wohnhaus in Kilchberg bei Zürich. Eine Niederlassung in Deutschland kommt für die Familie nicht in

Goethejahr 1949

Spätwerk

Rückkehr in die Schweiz

Tod am 12. August 1955

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III. Thomas Mann im zeithistorischen Kontext

Frage. Neben den Ehrungen zum achtzigsten Geburtstag begehen Katia und Thomas Mann 1955 auch ihre Goldene Hochzeit. Am 12. August stirbt Thomas Mann im Züricher Kantonsspital nach kurzer Krankheit an den Folgen einer Thrombose. Entsprechend seinem Wunsch wird er auf dem Kilchberger Friedhof bestattet.

IV. Themen und Schreibverfahren 1. Politik, Bürgerlichkeit und Künstlertum Thomas Manns Texte sind auffallend dicht bevölkert von Künstlerfiguren verschiedener Couleur: Neben den antibürgerlichen Dilettanten (der Bajazzo, Tonio Kröger, Detlev Spinell) stehen im Frühwerk die ,echten‘ Künstler, die an ihrem Werk und dessen Entstehung leiden (Schiller, Aschenbach). Die Brücke zwischen Früh- und Spätwerk bilden die ,Lebenskünstler‘-Figuren (Felix Krull, Joseph) sowie die gelassen-heitere Größe Goethes (Lotte in Weimar). Darüber hinaus setzt sich Mann in literarischen wie essayistischen Texten immer wieder auf theoretischer Ebene kritisch mit den Künstlerkonzepten seiner Zeit sowie seiner eigenen Position als Autor auseinander. Mit dem fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn (Doktor Faustus) kulminieren Thomas Manns literarische Entwürfe des Künstlers schließlich in einem deutlich politisch kodierten Konzept. Die Dominanz des Themas in Thomas Manns Werk veranlasst Peter Pütz zu der These, dass alle literarischen Helden Thomas Manns letztlich Künstler seien oder doch wesentliche Merkmale des künstlerischen Daseins aufwiesen (Pütz 1975, 59). In der Erzählung Der Bajazzo (1897) berichtet der sich selbst nur als „Bajazzo“ titulierende Ich-Erzähler von seinem Leben. Die Bilanz lautet: In seinem dreißigsten Lebensjahr stehend, hat er noch nichts Wesentliches oder Bedeutsames erreicht. Aufgewachsen in gut bürgerlichem Hause, zeigt er gegenüber der Welt seiner Herkunft nichts als Verachtung. Nähe empfindet er nur zu seiner zarten, melancholischen und musikalisch begabten Mutter, der er ergeben lauscht, wenn sie auf dem alten und nicht mehr ganz wohlklingenden Flügel Chopins schwermütige Notturnos spielt. Seinen Vater beschreibt er explizit als Gegensatz zum empfindsamen Mutter-Sohn-Duo: „Mein Vater aber war ein großer und breiter Herr in feinem schwarzen Tuchrock und weißer Weste, auf der ein goldenes Binocel hing. […] Es war ein mächtiger Mann von großem Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten; ich habe Menschen ihn mit fliegendem Atem und leuchtenden Augen verlassen sehen und andere, die gebrochen und ganz verzweifelt waren. Denn es geschah zuweilen, daß ich und auch wohl meine Mutter und meine beiden älteren Schwestern solchen Scenen beiwohnten; vielleicht, weil mein Vater mir Ehrgeiz einflößen wollte, es so weit in der Welt zu bringen wie er; vielleicht auch, wie ich argwöhne, weil er eines Publikums bedurfte.“ (GKFA 2.1, 122) Das gediegene Bürgertum des Vaters ist eine theatralische Inszenierung in „Scenen“, die Publikum braucht, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Dieses Bürgertum beruht auf Schein und verliert bereits den Kontakt zur Realität. Weder fruchtet die kommunizierte pädagogische Botschaft – der Sohn steigt zwar als Lehrling in ein Holzgeschäft ein, entwickelt aber keinerlei Interesse für wirtschaftliche Belange –, noch gelingt das eigene Unternehmen. Das väterliche Geschäft geht bankrott, kurz darauf sterben beide

Thomas Manns Künstlerfiguren

Der Bajazzo

Bürger und Künstler

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IV. Themen und Schreibverfahren

Sehnsucht nach der bürgerlichen Ordnung

Tonio Kröger

Eltern. Das durch den Vater vertretene Bürgertum dient dem Bajazzo als Objekt der Abgrenzung, zugleich pflegt er selbst einen durchaus bürgerlichen Habitus: Er kleidet sich gut und genießt die Annehmlichkeiten des Kulturlebens. Das vom Vater ererbte Vermögen ermöglicht ihm ein arbeitsfreies, wenn auch bescheidenes Leben. Doch diesem vermeintlich sorgenfreien Dasein fehlt der Sinn, den ein ernsthaft betriebenes Künstlertum in seinem Leben stiften würde. Doch der Bajazzo ist eben kein veritabler Künstler, sondern ein Dilettant, wenn es ihm auch nicht an Begabung mangelt. Schon als Kind improvisiert er auf dem Flügel der Mutter, doch für die Ausbildung seines Talents fehlt es ihm an Fleiß, Ehrgeiz und Ernsthaftigkeit. Den Klavierunterricht gibt er bald wieder auf: „denn ich war wirklich nicht dazu angethan, den gehörigen Fingersatz und Takt zu erlernen.“ (GKFA 2.1, 126) Die Chance auf eine seriöse künstlerische Ausbildung vertut er, sein Talent bleibt, mit den Worten des Vaters, eine „Bajazzobegabung“ (GKFA 2.1, 127). Das Urteil des Vaters, das zunächst als ignorante Reaktion eines bürgerlichen Kunstverächters erscheint, trifft ins Schwarze. Die künstlerische Betätigung seines Sohnes ist lächerlich, zumal er als Dreißigjähriger immer noch genauso stümperhaft auf dem Klavier klimpern wird wie als Kind; so mutiert die Fremdzuschreibung des Vaters („Bajazzo“) allmählich zum Selbstbild. Als Erwachsener erregt der Bajazzo mit dem Dilettantismus, der alle Facetten seines Lebens prägt, die Verachtung der Bürger. Auf deren geordnetes Dasein blickt er snobistisch herab, gleichzeitig sehnt er sich verzweifelt nach ihrer Anerkennung und fürchtet den Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft – zu den Deklassierten will er keinesfalls gehören (Kurzke 2010, 62). Verkörpert wird die Welt der bürgerlichen Ordnung etwa durch die junge Frau aus gutem Hause, Tochter eines Justizrats, in die sich der Bajazzo verliebt. Den wohlsituierten und ehrgeizigen Verlobten des Mädchens bezeichnet er in Gedanken als „Nichtswürdigen“ – allein, sein überheblicher Habitus nützt ihm wenig gegen das eigene Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Bürger: „Ausgeschlossen, unbeachtet, unberechtigt, fremd, hors ligne, deklassiert, Paria, erbärmlich vor mir selbst …“ (GKFA 2.1, 151). Der Selbstmord scheint dem Ich-Erzähler die einzig plausible Antwort auf seinen Selbstekel, doch selbst dafür fehlt dem Dilettanten jene im Text männlich kodierte Entschlossenheit, über die die Bürger verfügen. Die unerreichbare Bürgerstochter als Objekt des Begehrens taucht in der Erzählung Tonio Kröger (1903) in der Gestalt der blonden und blauäugigen Ingeborg Holm wieder auf. In diesem Text wird das Gefühl der Exklusion des ,Künstlers‘ zudem potenziert durch die ungleiche Freundschaft des empfindsamen und kunstverliebten Tonio Kröger mit dem naturverbundenen und bodenständigen Hans Hansen. Tonios Liebe bleibt jedoch unerwidert: „Die Sache war die, daß Tonio Hans Hansen liebte und schon Vieles um ihn gelitten hatte. […] er begehrte schmerzlich, so, wie er war, von ihm geliebt zu werden“ (GKFA 2.1, 245f., 249). Später ist es Inge Holm, auf die sich Tonios vergebliches Begehren richtet: „Ich liebe dich, liebe, süße Inge, sagte er innerlich, und er legte in diese Worte seinen ganzen Schmerz darüber, daß sie so eifrig und lustig bei der Sache war und sein nicht achtete.“ (GKFA 2.1, 259) Wie der Bajazzo sehnt sich Kröger nach einer eindeutigen Zugehörigkeit, wie dieser verachtet er das Bürgertum seiner Herkunft, nach dessen Anerkennung er insgeheim strebt. In einem Brief an eine Künstler-

1. Politik, Bürgerlichkeit und Künstlertum

freundin offenbart Tonio Kröger dieses Grunddilemma seines Daseins: „Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolge dessen ein wenig schwer. Ihr Künstler nennt mich einen Bürger, und die Bürger sind versucht, mich zu verhaften … ich weiß nicht, was von beidem mich bitterer kränkt. […] Aber meine tiefste und verstohlenste Liebe gehört den Blonden und Blauäugigen, den hellen Lebendigen, den Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen.“ (GKFA 2.1, 317f.) Die beiden dilettierenden ,Künstler‘ Bajazzo und Tonio Kröger sind melancholische, jedoch keine tragischen Figuren. In der Erzählung Tristan (1903) schließlich erscheint der dilettierende Künstler, Detlev Spinell, nicht einmal mehr bemitleidenswert, sondern nur noch lächerlich. Anders stellt sich das Bild im Fall des „kleinen Herrn Friedemann“ aus der gleichnamigen Erzählung (1897) dar, die Thomas Mann später als seinen eigentlichen literarischen Durchbruch deklarieren wird (GW VIII, 135). Von Kindesbeinen an körperlich behindert, versucht Johannes Friedemann dennoch, dem Dasein etwas Lebenswertes abzuringen. Auch er betreibt seine Kunst, das Violinspiel, nicht professionell, sondern nur als Dilettant. Doch ist für ihn die Liebe zur Musik Ausdruck einer tiefen Liebe zum Leben, die er trotz jener körperlichen Verwachsenheit empfindet, durch die er zum Objekt des Mitleids seiner Mitmenschen degradiert wird. Herr Friedemann besteht, nicht zuletzt durch seine Affinität zur Kunst, auf dem eigenen Status als Subjekt. In der Einsicht, dass Bildung die Genussfähigkeit steigert, sucht er das „stille und zarte Glück“ (GKFA 2.1, 92) seines Lebens durch Selbstkultivierung zu pflegen: „Er liebte die Musik und besuchte alle Konzerte, die etwa in der Stadt veranstaltet wurden. Er selbst spielte allmählich, obgleich er sich ungemein merkwürdig dabei ausnahm, die Geige nicht übel und freute sich an jedem schönen und weichen Ton, der ihm gelang. Auch hatte er sich durch viel Lektüre mit der Zeit einen litterarischen [sic] Geschmack angeeignet, den er wohl in der Stadt mit niemandem teilte.“ (GKFA 2.1, 92) Geschmacksausbildung und künstlerische Tätigkeit sind für Herrn Friedemann Quellen eines bescheidenen Glücks, mit dem er die aus der Behinderung resultierende gesellschaftliche Isolation und das Nichtvorhandensein eines Liebes- und Sexuallebens kompensiert. Da seine Wünsche und Triebe wegen seines körperlichen Zustands nicht erfüllbar sind, verhilft ihm nur die Kunst zu jenem geistigen Frieden, auf den sein Name verweist (Buttry 2011, 6). Seine Isolation wird dadurch allerdings nicht wirklich aufgehoben, denn niemand in seiner Umgebung teilt seine Liebe zur Kunst. Erst mit Gerda von Rinnlingen, der Frau des neuen Bezirkskommandanten des Ortes, tritt eine vermeintliche Seelenverwandte in Herrn Friedemanns Leben; beide sind sie Künstlernaturen in „a prosaic environment“ (Buttry 2011, 7). Zunächst meidet Herr Friedemann die Nähe der beeindruckenden Frau instinktiv, denn er fürchtet ihre Anziehungskraft. Doch während eines Opernabends kommt er, ausgerechnet während Wagners romantisch-tragischer Oper Lohengrin, neben Frau von Rinnlingen zu sitzen – und es ist um ihn geschehen. Wagners Musik bricht den Panzer der lang sublimierten Triebe auf. Frau von Rinnlingens Einladung zum gemeinsamen Musizieren macht die Sache nicht besser. Die Leidenschaft ist in Herrn Friedemanns Leben getreten, und er kann sich dieser „Heimsuchung“ nicht entziehen, obwohl er die Folgen nicht nur ahnt, sondern kennt: „Da war diese Frau gekommen,

Der kleine Herr Friedemann

Gerda von Rinnlingen

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IV. Themen und Schreibverfahren

Selbstekel und Tod

„Heimsuchung“

Die Leistungsethiker

sie mußte kommen, es war sein Schicksal, sie selbst war sein Schicksal, sie allein! Hatte er das nicht gefühlt vom ersten Augenblick an? Sie war gekommen, und ob er auch versucht hatte, seinen Frieden zu verteidigen, – für sie mußte sich alles in ihm empören, was er von Jugend auf in sich unterdrückt hatte, weil er fühlte, daß es für ihn Qual und Untergang bedeutete; es hatte ihn mit furchtbarer, unwiderstehlicher Gewalt ergriffen und richtete ihn zugrunde!“ (GKFA 2.1, 111f.) Herr Friedemann wird tatsächlich zugrunde gehen, der „Einbruch trunken zerstörender und vernichtender Mächte“ in sein Leben, so Thomas Mann 1940 in On Myself über die frühe Novelle (GW XIII, 136), endet tödlich: Von Gerda von Rinnlingen, der er seine Liebe gesteht, mit Verachtung gestraft, ertränkt er sich in einem See – die denkbar passivste Art des Selbstmords: „Er lag am Wasser. […] Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwärts, erhob den Oberkörper und ließ ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.“ (GKFA 2.1, 118f.) Der Verzweifelte ergibt sich ganz dem Schicksal, das in sein friedvolles Dasein eingebrochen ist und gegen das er keinen Widerstand mobilisieren kann oder will. „Was ging eigentlich in ihm vor“, fragt sich die Erzählinstanz, und gelangt zu der erschütternden Antwort: „ein Ekel vielleicht vor sich selbst, der ihn mit einem Durst erfüllte, sich zu vernichten, sich in Stücke zu zerreißen, sich auszulöschen …“ (GKFA 2.1, 118). So drastisch hat Thomas Mann später nur noch selten den Selbsthass des Künstlers inszeniert. Johannes Friedemann, obgleich selbst nur künstlerisch dilettierender Laie, fügt sich in die Reihe jener Künstlerfiguren bei Thomas Mann, die nicht an einem Mangel an Begabung, sondern am eigenen Begehren leiden. Sie leben ein bescheidenes oder gar asketisches Leben und halten mit Vernunft und protestantischem Arbeitsethos gefährliche Versuchungen von sich fern, bis ihre Selbstdisziplin schließlich an einer leidenschaftlichen Liebe scheitert: Herrn Friedemanns Leben gerät durch Frau von Rinnlingen aus den Fugen; Gustav von Aschenbach im Tod in Venedig erfährt den Einbruch des Dionysischen in sein apollinisch geordnetes Literatendasein durch die Leidenschaft für einen Knaben; Adrian Leverkühn, der fiktive Komponist aus dem späten Roman Doktor Faustus, wird schließlich die „Heimsuchung“ bewusst provozieren und sich wissentlich bei der Geliebten mit der Syphilis infizieren, um die eigene Genialität als Künstler zu steigern. Die Folgen ihres dionysischen Begehrens sind zerstörerisch, ja tödlich, doch rücken die Künstlerfiguren dadurch zugleich in die Sphäre der Genialität auf. Die genannten Protagonisten sind dem „,gespannten‘ Heldentypus“ zuzuordnen (Wysling 1995, 370), jener Sorte „Selbstüberwinder“, zu denen auch die Nicht-Künstler Thomas Buddenbrook, Savonarola (Fiorenza), Klaus Heinrich (Königliche Hoheit) oder Joachim Ziemßen (Der Zauberberg) gehören. Ihr „Leistungs-Fanatismus“ wurzelt tief in jener Ethik des Protestantismus, die Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben hat (Wysling 1995, 370). Den Prototypen dieses leistungsethischen, ebenso gequälten wie genialen Künstlers bildet im Frühwerk die Figur Friedrich Schillers, die im Mittelpunkt der kurzen Erzählung Schwere Stunde (1905) steht. Die Erzählung entsteht als Auftragsarbeit zu Schillers hundertstem To-

1. Politik, Bürgerlichkeit und Künstlertum

destag für die Zeitschrift Simplicissimus (GKFA 2.1, 289). Thomas Mann lehnt seine fiktive Schillergestalt nah an die historische Person an, zitiert zentrale Ereignisse und reale Texte aus dem Leben und Schaffen Schillers und übernimmt diverse Formulierungen aus der Sekundärliteratur, die er im Vorfeld der Erzählung studiert (GKFA 2.1, 290). Gleichwohl muss man den Faktengehalt der Novelle deutlich relativieren. Thomas Mann zeichnet in Schwere Stunde kein realistisches, sondern ein fiktionalisiertes Porträt Schillers und benutzt die Figur eher, um ein kulturphilosophisches und poetologisches Problem zu verhandeln: die Frage nach den Grundlagen dichterischer Kreativität. Der Text schildert Schiller aus der Perspektive einer heterodiegetischen Erzählinstanz, die jedoch immer wieder von der Außenperspektive zur Sicht Schillers wechselt. Die Tatsache, dass der Name des Protagonisten in der Erzählung nicht fällt, verweist darauf, dass es mit der Figur Schillers nicht so sehr um die reale Gestalt, sondern vor allem um einen bestimmten Typus geht. Schiller verkörpert das von literarischem Ehrgeiz getriebene Genie, das sein Werk unter Aufwand aller Kräfte dem kranken Körper abringt. Er leidet nicht, wie andere Künstlerfiguren im Werk Thomas Manns, am eigenen Begehren als vielmehr an der Fragilität seiner Gesundheit, die seiner künstlerischen Genialität enge Grenzen setzt. Der antagonistische Kampf zwischen Geist und Natur wird in Schwere Stunde in einer einzelnen Figur auf den Punkt gebracht. Schiller (als Protagonist in Thomas Manns Erzählung) weiß, dass er Raubbau an seinem Körper getrieben hat: „Er hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit denen er sich zur Arbeit gestachelt – das rächte, rächte sich jetzt!“ (GKFA 2.1, 423) Das Sprechen von der „Sünde“ ist nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern durchaus auch religiös: Betrachtet man den Leib, ebenso wie die geistige Genialität, als ein von Gott verliehenes Geschenk, so hat der Mensch sich um beides sorgsam zu kümmern, um den Kopf wie den Körper. Im Fall Schillers triumphiert jedoch der Wille über das Leiden (Koopmann 1999, 120), der Künstler trifft eine klare Entscheidung für den Intellekt und sein schriftstellerisches Talent. Mit dem Habitus eines Prometheus widersetzt er sich der Natur: „Und rächte es sich, so wollte er den Göttern trotzen, die Schuld schickten und dann Strafe verhängten. Er hatte gelebt, wie er leben mußte, er hatte nicht Zeit gehabt, weise, nicht Zeit, bedächtig zu sein.“ (GKFA 2.1, 423) Schillers literarisches Werk basiert nicht auf einem vernünftigen Umgang mit den eigenen Kräften, sondern auf dem „Willen zum Schweren“ (Consbruch 2010). Seine Idee des Genies impliziert ein Leiden am Werk: „Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Damen und Herren dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes […].“ (GKFA 2.1, 424) Der historisierende Ton, den die Novelle anschlägt, wird hier aufgegeben – was den Verdacht nahelegt, dass eher vom Künstlerbild des Autors der Novelle denn von dem des Klassikers die Rede ist. Schillers Unterscheidung

Thomas Manns fiktive Schillerfigur

Der Sieg des Geistes über den Körper

Schiller als Projektionsfläche

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IV. Themen und Schreibverfahren

Goethe

Künstlerbild und Politik

Repräsentation im Exil

zwischen naivem (Goethe) und sentimentalischem Dichter (Schiller selbst), zwischen dem Harmoniemenschen und dem Asketen, dem Lebenszugewandten und dem Geistesfürsten, bietet sich für den jungen Autor Thomas Mann an, um die eigene auktoriale Position zu bestimmen. Das Pathos, mit dem die Qualen des sentimentalischen Dichters geschildert werden, dessen Schaffen alle Leichtigkeit fehlt, spricht dafür, dass es sich bei der Figur Schillers um eine Projektionsfläche handelt. Diese ein wenig mühsam konstruierte Identifikationsfigur scheint indes ihre Attraktivität schnell verloren zu haben. Die Novelle Schwere Stunde von 1905 ist ebenso eine Auftragsarbeit wie Thomas Manns letzte öffentliche Rede, sein Versuch über Schiller aus dem Jahr 1955. Und auch für die Novelle gilt, was Helmut Koopmann über die späte Schillerrede feststellt: „Das alles: nicht falsch, aber reichlich nichtssagend; hin und wieder auch nur ein bißchen festliche Blechmusik.“ (Koopmann 1999, 115) Koopmann stellt sogar die Frage, ob es sich bei Manns Schiller-Bilder nicht um „lebenslange Mißverständnisse“ handelt. Die klassische Dichterfigur, an der sich Thomas Mann länger, ja zeitlebens misst, mit der er sich in zahlreichen Reden und Essays sowie dem großen Exilroman Lotte in Weimar auseinandersetzt, ist nicht Schiller, sondern Goethe. Auch er ist für ihn Projektionsfigur, Gegenstand der Abgrenzung wie der Identifikation. Goethe – in der Wahrnehmung Thomas Manns, denn nur von dieser ist hier die Rede – verkörpert in fast jeder Hinsicht das Gegenteil von Schiller. Goethe ist das geistig wie körperlich robuste Genie, das sinnvoll mit seinen Kräften haushaltet und daher lebenslang kreativ bleibt. Dennoch hat auch sein Schaffen nichts „Leichtes“ und „Tändelndes“, wie es in der Schiller-Novelle heißt. Im Roman Lotte in Weimar assoziiert Goethe das qualitativ Gute mit dem Schweren: „Gestümpert wird in dieser Welt – daß euch der Teufel. Weil sie vom Schweren und Guten nicht wissen und alle sich’s leicht machen.“ (GKFA 9.1, 283) Doch Goethes Kreativität, sein „integratives Künstlertum“ (Feulner 2010, 69), steht im Gegensatz zu Schillers Schaffen nicht unter dem Vorzeichen des Entweder-Oder, sondern vereint die Gegensätze: Lebenssympathie und Geist, Naturverbundenheit und Freiheit, Realismus und Idealismus, Dionysisches und Apollinisches. In diesem Sinne repräsentiert die Hinwendung zu Goethe auch die politische Entwicklung Thomas Manns. Die scharf konturierten weltanschaulichen Gegensätze, die noch die Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) prägten, lösen sich in der Gestalt Goethes auf. Goethe ist Deutscher und Weltbürger zugleich, daher war sein Konservatismus auch in der aufgeheizten Phase der anti-napoleonischen Kriege des frühen 19. Jahrhunderts gegen eine Nationalisierung gefeit, wie Thomas Mann 1932 in seinem Essay Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters konstatiert (GW IX, 315). Das Bürgerliche bildet nun, im Gegensatz zum Frühwerk, für Thomas Mann kein Moment der Abgrenzung mehr, sondern steht für den humanistisch geprägten Kosmopolitismus Goethes, der sich auch in dessen Konzept der „Weltliteratur“ manifestiert (GW IX, 326ff.). Goethe wird in diesem Essay zum Stifter der deutschen Kulturidee stilisiert – einer Idee, die jedoch nicht auf nationalistische Abgrenzung nach außen, sondern auf kulturelle und politische Anerkennung des Fremden zielt. Besonders in den Jahren des Exils nutzt Thomas Mann die Goethefigur für seine eigene politische Positionierung, im Goetheroman Lotte in Weimar

1. Politik, Bürgerlichkeit und Künstlertum

ebenso wie etwa in der Rede Goethe und die Demokratie (1949), in der es heißt: „Die Nachfolge Goethe’s, das Bekenntnis zu ihm, bedeutet […] nicht deutsches Provinzlertum – und überhaupt darf ich sagen, daß, wenn ich viel über Deutsches und wenig über Fremdes geschrieben habe, ich doch im Deutschen immer die Welt, immer Europa gesucht habe und unbefriedigt war, wenn ich es nicht fand.“ (GW IX, 757) Ganz nebenbei ist damit auch ein künstlerischer Anspruch Thomas Manns formuliert: der Anspruch auf die Nachfolge Goethes als deutscher Nationalschriftsteller. Gerade im Exil, nachdem er von den Nationalsozialisten um seine öffentliche Position in der Heimat gebracht wurde, gewinnt das Selbstverständnis Thomas Manns als kultureller Repräsentant Deutschlands an Bedeutung. Bereits im Februar 1938 – während seiner letzten Reise vor der endgültigen Übersiedlung der Familie in die USA im Herbst 1938 – hatte Thomas Mann auf die Frage eines Journalisten der New York Times, ob er das Exil als schwere Last empfinde, geantwortet: „Where I am there is Germany. I carry my German culture in me. I have contact with the world and I do not consider myself fallen.“ (Hansen 1991, 177) Mit dem viel zitierten Diktum proklamiert Thomas Mann nicht nur selbstbewusst seine deutsche Repräsentantenrolle, sondern verknüpft sein kulturelles Deutschtum auch selbstverständlich mit der Idee des Kosmopolitismus (Schöll 2004, 80f.). Goethe wird als politische Figur für Thomas Mann während des Exils so bedeutsam, weil er nicht nur zur „nationalen Kultfigur“ taugt (Lehnert 1999, 137), sondern auch ein humanistisches Europäer- und Weltbürgertum vertritt. Wahres Künstlertum bedeutet für Thomas Mann nun immer auch eine politische Aufgabe. Im vierten Band des Romans Joseph und seine Brüder wird er in der Figur des Lebenskünstlers Joseph nicht nur den Politiker Roosevelt, sondern zugleich auch den Dichter Goethe porträtieren (siehe auch Kapitel IV.2.). Goethe wird hier als Vertreter eines die Gegensätze vereinigenden Mittlertums gezeichnet und auf diese Weise nicht nur ästhetisch, sondern vor allem auch politisch positioniert (Heftrich 1993, 29ff.; Schöll 2004, 308ff.). Umgekehrt wird das Politische von Thomas Mann immer auch ästhetisch kodiert – oder vermeintlich ästhetisch. So charakterisiert er in seinem berühmten Essay Bruder Hitler (1939) den „Führer“ weniger als Machthaber und Diktator denn als gescheiterten „Viertelskünstler“. Hitler erscheint nicht als kreatives Subjekt, sondern als „Phänomen“ und pathologischer Fall: „[…] muß man nicht, ob man will oder nicht, in dem Phänomen [Hitler] eine Erscheinungsform des Künstlertums wiedererkennen? Es ist, auf eine gewisse beschämende Weise, alles da: die ,Schwierigkeit‘, Faulheit und klägliche Undefinierbarkeit der Frühe, das Nichtunterzubringensein, das Was-willst-du-nun-eigentlich?, das halb blöde Hinvegitieren in tiefster sozialer und seelischer Boheme, das im Grunde hochmütige, im Grunde sich für zu gut haltende Abweisen jeder vernünftigen und ehrenwerten Tätigkeit – auf Grund wovon? Auf Grund einer dumpfen Ahnung, vorbehalten zu sein für etwas ganz Unbestimmbares, bei dessen Nennung, wenn es zu nennen wäre, die Menschen in Gelächter ausbrechen würden.“ (GW XII, 848) In dieser wenig freundlichen Charakterisierung des Künstlers liegt einige retrospektive Selbstkritik, zugleich konzentriert sich darin Thomas Manns tiefe Verachtung für Hitler. Dem primitiven, geistlosen und unkreativen Di-

Der Künstler als Mittler

Bruder Hitler

Große Männer

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IV. Themen und Schreibverfahren

Künstlertum als politischer Auftrag

lettanten und verhinderten Künstler Hitler wird im Text die wahre Größe des von Goethe verehrten Napoleon gegenübergestellt. Zu den „großen Männern“ zählt Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt nicht nur Napoleon, Goethe und Roosevelt, sondern durchaus auch sich selbst. So ist in diesem Text Hitler als ,Künstler‘ zwar ein „unangenehmer und beschämender Bruder“, eine „reichlich peinliche Verwandtschaft“ (GW XII, 849). Doch eigentlich weiß sich der exilierte Nationalschriftsteller meilenweit entfernt von diesem „Bruder“. Im Frühwerk Thomas Manns, so wurde zu Beginn dieses Kapitels deutlich, war der Dilettant nur ein verhinderter Künstler, gleichwohl ein schillerndes Subjekt, ein wenig lächerlich vielleicht, doch allenfalls der Gegenstand milder Ironie. Im Exil, als Politik und Ästhetik in Thomas Manns weltanschaulichem Kosmos noch näher zusammen rücken als zuvor, kommt mit Hitler die politische Dimension des Dilettanten ins Spiel und wird das Objekt klarer Abgrenzung. Auch der Gegenspieler des künstlerisch-politischen Dilettanten, der wahre Künstler, ist für den aktiven Antifaschisten Thomas Mann nun nicht mehr nur ästhetisch konnotiert. Genialität ist kein bloß künstlerisches Vermögen, sie bedeutet immer auch politisches Mittlertum.

2. Mythos, Psychologie und Religion Bekenntnis zu Freud

Aschenbachs Distanz zur Psychoanalyse

Im Jahr 1936 legt Thomas Mann anlässlich eines Wien-Besuchs ein Bekenntnis zu Sigmund Freud ab, in dem er erklärt: „Meine Beziehung zur Psychoanalyse stammt eigentlich schon aus dem Beginn meines Schaffens. […] Fast bei jedem meiner Bücher erhielt ich zustimmende Erklärungen und Abhandlungen aus dem Kreise der Analytiker, die bei mir Elemente aus ihrer eigenen Welt wiederfanden.“ (Freud und die Psychoanalyse 1991, 66f.) In diesem im Neuen Wiener Journal erschienenen Text referiert Thomas Mann auch auf seine aus dem Jahr 1933 datierende persönliche Bekanntschaft mit Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, vor dem er sich in den Essays des Exils wiederholt verneigt. Diese Rückschau auf die Nähe des eigenen Werks zur Psychoanalyse scheint auf den ersten Blick mit einer bewussten Distanzierung von der psychoanalytischen Methode im Frühwerk zu kontrastieren. In der Erzählung Der Tod in Venedig lehnt der gereifte Autor Gustav von Aschenbach die Erkenntnis, die aus der psychologischen Durchleuchtung seines Schaffens resultiert, explizit ab: „Aber es scheint, daß gegen nichts ein edler und tüchtiger Geist sich rascher, sich gründlicher abstumpft, als gegen den scharfen und bitteren Reiz der Erkenntnis; und gewiß ist, daß die schwermütig gewissenhafte Gründlichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im Vergleich mit dem tiefen Entschlusse des Meister gewordenen Mannes, das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist.“ (GKFA 2.1, 513) Aschenbach verteidigt sich gegen den „unanständigen Psychologismus der Zeit“, der insofern als „unanständig“ und amoralisch zu betrachten sei, als die psychologische Erklärung des Verhaltens das Subjekt der Ver-

2. Mythos, Psychologie und Religion

antwortung für sein Handeln vermeintlich enthebe; die Offenlegung der psychologischen Ursachen entschuldigt den Handelnden. Die Distanzierung von der Psychoanalyse ist jedoch nur eine scheinbare, tut man doch gut daran, die zitierte Passage als Rollenprosa zu lesen: Sie gibt Aschenbachs Position durch die Brille der Erzählinstanz wieder, nicht die Position des Autors. Thomas Mann zitiert die Stelle aus Der Tod in Venedig selbst in seinem Aufsatz Mein Verhältnis zur Psychoanalyse von 1925. Der Künstler, der sich von der Psychoanalyse als Neurotiker deklariert sieht, so heißt es dort, müsse dieses Wissen bis zu einem gewissen Grad verdrängen, wenn er weiter produktiv und kreativ bleiben wolle. Gleichwohl führe kein Weg mehr an den Erkenntnissen der Psychoanalyse vorbei: „Längst spielt die Psychoanalyse in die Dichtung unseres ganzen Kulturkreises hinein, hat auf sie abgefärbt und wird sie möglicherweise in steigendem Grade beeinflussen.“ (GW XI, 749) Diese Prognose, so lässt sich im Nachhinein feststellen, bewahrheitet sich vor allem im Bezug auf Thomas Manns eigene Texte. Bereits im Frühwerk wird dem Leser zu jeder Figur eine entsprechende psychologische Erklärung mitgeliefert, welche die tiefere Motivation des jeweiligen Handelns offen legt. Wenn Gustav von Aschenbach die Psychoanalyse als „unanständig“ ablehnt, so deshalb, weil er von ihr die Enthüllung seines homoerotischen Begehrens zu fürchten hat. Ebenso ergeht es Hans Castorp im Roman Der Zauberberg, dessen Skepsis gegenüber der „Seelenzergliederung“ von Doktor Krokowski von seiner Übertragung der Liebe zu seinem Mitschüler Hippe auf Clawdia Chauchat herrührt (siehe Kapitel V.3.). Thomas Manns Figuren müssten indes die Psychoanalyse nicht fürchten, hielte ihr Autor diese nicht für eine exzellente Methode, das Geheimste, Verborgenste des Menschen – sein Unterbewusstes – zutage zu fördern. So wurde von der Forschung nicht nur die Nähe dieses literarischen Werks zur Psychoanalyse immer wieder bestätigt, es wurde sogar Thomas Manns Erzählen, seine narrative Strategie selbst als eine Form der Psychoanalyse charakterisiert (Härle 1986, 78). Thomas Manns Interesse an der Psychoanalyse nimmt im Verlauf der Zeit nicht ab, vielmehr tritt diese Komponente seines Schreibens mit dem Wachsen des Werks immer deutlicher und narratologisch verfeinerter zutage. Zwar weist auch das Frühwerk zahlreiche Affinitäten zum zeitaktuellen Diskurs um die Psychoanalyse auf, wie bereits deutlich wurde, doch geht Dierks davon aus, dass Thomas Mann Freud erst ab 1925 genauer studiert hat (Dierks 2004). Zwei entscheidende Allianzen werden im Folgenden im Werk Manns geschmiedet: die zwischen Psychoanalyse und Politik und jene zwischen Psychoanalyse und Mythos/Religion; beide sind wiederum eng miteinander verwoben. In der revidierten Fassung des Essays Der alte Fontane (ursprünglich 1910, überarbeitet 1919) verwendet Thomas Mann erstmals die berühmt gewordene Formel von der Verbindung von „Mythus und Psychologie“ (GW IX, 32), die sein weiteres Werk begleiten und prägen wird (siehe ausführlich Dierks 1972). Vor allem die insgesamt sechzehn Jahre umfassende Arbeit an der Romantetralogie Joseph und seine Brüder lässt sich – wenn überhaupt – unter dieser Formel auf einen Nenner bringen. Auch für mythologische Fragen hatte sich Thomas Mann bereits früher interessiert, nicht zu-

Das Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur

„Seelenzergliederung“

Manns Beschäftigung mit der Psychoanalyse

Psychologie und Mythos

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IV. Themen und Schreibverfahren

Schopenhauer – Wagner – Nietzsche

Freuds Vordenker

letzt, weil seine drei intellektuellen Stichwort-Geber Schopenhauer, Wagner und Nietzsche immer wieder mythische und mythologische Fragen in ihren Texten verhandelten. Für alle drei lässt sich zugleich ein genuin psychologisches Interesse am Mythos konstatieren. In den Betrachtungen eines Unpolitischen proklamiert Thomas Mann, seine Faszination für Pessimismus und Verfall rühre von seiner Beschäftigung mit Schopenhauer und Wagner her, und fügt an: „Wenn aber eben diese Grundstimmung [des Pessimismus] mich zum Verfallspsychologen machte, so war es Nietzsche, auf den ich dabei als Meister blickte; denn nicht so sehr der Prophet irgend eines unanschaulichen ,Übermenschen‘ war er mir von Anfang an […], als vielmehr der unvergleichlich größte und erfahrenste Psychologe der Dekadenz …“ (GKFA 13.1, 87). Nietzsche selbst verwies im Kontext seiner am Mythos orientierten Psychologie immer wieder auf Schopenhauer und hoffte zudem – bevor seine Erwartung in enttäuschte Feindseligkeit umschlug – auf eine Wiedergeburt des deutschen Mythos aus dem Musiktheater Richard Wagners (Jamme 1991, 87; zum Phänomen des mythenträchtigen „Wagnerismus“ im Zeichen eines „welterobernden Künstlertums“ siehe kritisch Vaget 2006, 145ff.). In seiner Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) bezog Nietzsche die Analyse der psychischen Grundkonstellation des Subjekts auf den Mythos der griechischen Antike: Den Gegensatz in der menschlichen Psyche zwischen den beherrschten, vernünftigen, klaren, geistigen auf der einen und den wilden, irrationalen, rauschhaften und lustorientierten Kräften auf der anderen Seite kleidet er hier in jenes berühmte Begriffspaar des „Apollinischen“ und „Dionysischen“, das in Thomas Manns Werk ab dem Tod in Venedig Dauerpräsenz erlangt (siehe u.a. Heftrich 1993, 200ff.). Diesen Dualismus sieht Thomas Mann in der philosophischen Grundthese aus Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) vorgebildet, die Welt bestehe aus dem „Willen“ (ein Begriff, den Schopenhauer nicht im umgangssprachlichen Sinne gebraucht) einerseits und der menschlichen „Vorstellung“ andererseits. Mit „Wille“ ist bei Schopenhauer ein blinder und nicht zielgerichtet wirkender vitaler Drang gemeint, die Grundform aller Lebensenergie, eine Art kosmische Urkraft, die alles Dasein bestimmt (Schopenhauer 1986, 151ff.). Diesem „Willen“ sind bei Schopenhauer das Unbewusste und die gesamte Triebstruktur des Menschen zugeordnet. Der „Wille“ umfasst somit all das, was Nietzsche im Bild des „Dionysischen“ gebündelt hatte: das Lustvolle und Irrationale, den Wahnsinn und die Amoralität. Schopenhauers Begriff der „Vorstellung“ hingegen verweist auf die Möglichkeit des (intellektuellen, vernünftigen) Subjekts, sich ein Bild von der Welt zu machen, auf seine bewussten, gestalterischen, konstruktiven Fähigkeiten, seine vernünftigen und moralischen Geisteskräfte; dem entspräche das Prinzip des „Apollinischen“ bei Nietzsche. Schopenhauers und Nietzsches Begriffspaare lassen sich bei exakter wissenschaftlicher Betrachtung nicht schlicht identisch setzen. Wichtiger als die detaillierte philosophische Abgrenzung ist für Thomas Mann jedoch, die Gemeinsamkeiten zwischen den mythologisch-psychologischen Konzepten Schopenhauers und Nietzsches aufzuzeigen und beide Philosophen in ihrer Funktion als psychologische Analytiker des Unbewussten zu Vorläufern Freuds zu erklären. So etwa im Schopenhauer-Essay von 1938, in dem Tho-

2. Mythos, Psychologie und Religion

mas Mann schreibt: „Schopenhauer, als Psychologe des Willens, ist der Vater aller modernen Seelenkunde: von ihm geht, über den psychologischen Radikalismus Nietzsche’s [sic], eine gerade Linie zu Freud und denen, die seine Tiefenpsychologie ausbauten und auf die Geisteswissenschaften anwandten.“ (GW IX, 577) Schon in der Rede Freud und die Zukunft, die Thomas Mann 1936 zu Freuds 80. Geburtstag in Wien hielt, hatte er Schopenhauer zum direkten Vorläufer Freuds erklärt und dessen Schema von „Es“ und „Ich“ mit Schopenhauers Gegensatz von „Wille“ und „Intellekt“ gleichgesetzt (GW IX, 487). Indirekt formuliert Thomas Mann damit in seiner Rede den Vorwurf, Freud kenne die philosophischen Wurzeln seiner eigenen Theorie nicht (Reents 1998, 201). Er erlaube sich, so Thomas Mann in seiner Rede, „festlicherweise ein wenig gegen Freud zu polemisieren“, da dieser die Philosophie nicht besonders hoch schätze (GW IX, 488). Den Zweifeln Freuds an der rationalen Wirkmächtigkeit der Philosophie hält Thomas Mann entgegen: „Ist je die Welt durch etwas anderes geändert worden als durch den Gedanken und seinen magischen Träger, das Wort?“ Die „Wissenschaft“ – und damit sind auch Medizin und Psychoanalyse, also Freuds Wissenschaften gemeint – habe nie eine Entdeckung gemacht, „zu der sie nicht von der Philosophie autorisiert und angewiesen gewesen wäre.“ (GW IX, 489) Und als wäre dies der ,Geburtstagsgaben‘ noch nicht genug, bezieht sich Thomas Mann in seiner Rede ausgerechnet auf den abtrünnigen FreudSchüler C.G. Jung, der ihn besonders interessiert, weil seine Theorie über das kollektive Unbewusste jene Brücke zwischen Mythos und Psychologie konstruiert, die Thomas Mann sucht. Wie oft in Texten, die eigentlich der Würdigung anderer zugedacht sind, kommt der Autor auch in der FreudRede von 1936 recht schnell auf das eigene Werk zu sprechen, in diesem Fall auf sein vierbändiges Großprojekt Joseph und seine Brüder, dessen dritten Band er zu diesem Zeitpunkt (1936) gerade fertig stellt und das auf eine ganz neue, einzigartige Weise den Zusammenhang zwischen Mythos und Psychologie inszeniert und diesen wiederum auf die Religion bezieht. Nach Vorstudien im Jahr 1925 hatte Thomas Mann die Arbeit am Roman Joseph und seine Brüder im Juni 1926 in München begonnen, wo er die ersten beiden Bände abschließt, die 1933 und 1934 im Berliner S. Fischer Verlag erscheinen. Diese ersten zwei Bände der Tetralogie, Die Geschichten Jaakobs und Der junge Joseph, erzählen die alttestamentarische Geschichte des Patriarchen Jaakob (so Thomas Manns Schreibweise) und die der Jugendjahre seines geliebten und verwöhnten Sohnes Joseph, der wegen seiner selbstgefälligen Arroganz von den Brüdern in einen Brunnen geworfen und anschließend als Sklave nach Ägypten verkauft wird. Gleich zu Beginn des ersten Bandes wird deutlich, dass Thomas Manns literarisches Projekt nicht nur ein mythisches, sondern auch ein mythologisches ist: Sein Roman erzählt nicht nur jüdische, christliche, ägyptische, hellenistische, babylonische und diverse andere mythische Geschichten nach, sondern stellt durch seine ironische und selbstreflexive Erzählerfigur auch das Mythische als Prinzip immer wieder in Frage. Als der zweite Band 1934 in Berlin erscheint, hat der Autor des Buches Deutschland bereits verlassen und befindet sich in der Schweiz im Exil (siehe Kapitel III.3.). Die Verhandlung des Zusammenhangs von Mythos,

Philosophie und Wissenschaft

Joseph und seine Brüder

Mythologie und Mythoskritik

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IV. Themen und Schreibverfahren

Josephs Spiel mit dem Mythos

Die Zeitstruktur des Mythos

Mythos und politischer Fortschritt

Religion und Psychologie erhält – parallel zur Politisierung des Exilanten Thomas Mann – im Folgenden immer deutlicher eine politische Färbung. Schon die Formel „Mythus und Psychologie“ verweist auf eine mythenkritische Haltung Manns: Wo er psychologisch analysiert und durchleuchtet wird, verliert der Mythos seine ursprüngliche Funktion als Erklärungsmuster für die Gegebenheiten der Welt und damit auch seine Wirkmacht über den Menschen. Wo das Subjekt die Konstruktionsmechanismen des mythischen Erzählens durchschaut, ist es der Macht des Mythos nicht mehr ausgeliefert, sondern kann sich dessen Erzählweise kreativ aneignen; von diesem Prozess der Verwandlung eines mythischen in ein mythologisches Bewusstsein berichtet der Josephsroman. Im Gegensatz zu seinen eher naiv dargestellten Brüdern ist Joseph als Intellektueller der Familie in der Lage, das Machtpotential des Mythos zu erkennen und für sich zu nutzen. Während in seiner Familie die mythischen Geschichten immer wieder und wieder erzählt werden, um die kollektive Identität des Clans zu stabilisieren, verwendet Joseph diese Geschichten, um für sich selbst eine neue und eigene Identität zu kreieren, die im traditionellen Rollenrepertoire der Familie noch nicht vorgesehen ist. Während die anderen Mitglieder von Jaakobs Sippe bewusst in die vorgegebenen Spuren treten, sich strikt an die durch den Mythos fixierten sozialen Rollen halten und bemüht sind, diese möglichst traditionsgetreu zu erfüllen, spielt Joseph mit den Rollen und den dazugehörigen Mythen. Anders als die anderen Angehörigen seines Clans hält sich Joseph bei seinen mythischen Spielereien auch nicht an das patriarchalische Schema des Monotheismus mit seiner Alleinstellung des einen, männlich kodierten Gottes, sondern funktionalisiert neben Elohim auch weibliche Gottheiten für seine Selbstinszenierungen und bedient sich zudem unbesorgt aus dem Mythenschatz fremder, polytheistischer Religionen und Ethnien (siehe ausführlich Schöll 2004, u.a. 227ff.). Jan Assmann hat in seiner Monographie über Thomas Manns Josephsroman auf die komplexe Struktur der „mythischen Zeit“ im Text hingewiesen sowie auf den Zusammenhang zwischen Temporalität und Josephs Identitätsentwurf (Assmann 2006, 62ff.). Die Zeitlichkeit des Mythos verläuft ursprünglich zyklisch, nicht linear: Man erzählt immer wieder die gleichen Geschichten, um einen Status Quo zu stabilisieren. Wo der Mensch sich entwickelt, gewinnt die zeitliche Dimension des Mythos hingegen eine lineare Richtung. Der Mythos verändert sich und die mit ihm konnotierten Rituale werden den neuen sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen angepasst. Der Akt des Wiederholens mündet nun in ein Höherschrauben, in die Idee des Fortschritts, wie Kurzke konstatiert: „Aus der Tat wird das Zitat, aus dem Ereignis das Zeichen, aus der Gewalthandlung die bloße Anspielung, aus der wirklichen Aggression die symbolische.“ (Kurzke 1993, 26) Diese Verbindung von Mythos und Fortschritt ist bereits in den ersten beiden Bänden des Josephsromans präsent, denn die mythischen Rituale des Volkes Israel entwickeln sich – wenn auch nur langsam – in die Richtung des symbolischen Opfers, des bewussten In-Spuren-Gehens, kurz: in Richtung Fortschritt. Der jugendliche Joseph ist in diesem Entwicklungsprozess eine treibende Kraft. Schon die ersten beiden Bände kommunizieren somit

2. Mythos, Psychologie und Religion

auch eine politische Botschaft, insofern, als Thomas Mann mit seinem Roman bewusst jenen Denkern des frühen 20. Jahrhunderts widerspricht (u.a. Alfred Rosenberg, Oswald Spengler), welche den Mythos reaktionär oder nationalistisch im Sinne einer „konservativen Revolution“ deuten und deren mythologische Interpretationen das Gedankengut der Nationalsozialisten entscheidend prägen (Kurzke 2010, 255f). Als der zweite Band des Josephsromans 1934 in Deutschland erscheint, befindet sich sein Autor bereits seit Frühjahr 1933 außerhalb Deutschlands – eine zunächst zufällige Abwesenheit, aus der Thomas Mann erst allmählich die Position eines bewusst gewählten Exils aus politischen Gründen entwickelt (siehe Kapitel III.3.). Den dritten Band der Josephstetralogie, Joseph in Ägypten (1936), hat Thomas Mann gerade begonnen, als er Deutschland verlässt. Zeitgleich (wenn auch ungeplant) geht Thomas Mann mit seiner Figur Joseph, der als Sklave nach Ägypten verkauft wird, ins Exil. An der grundsätzlichen Konzeption des Romans ändert sich dadurch nichts, denn die groben Züge der Handlung sind ja durch den Text der Genesis (1. Buch Moses, vor allem 25–50) vorgegeben. Im Detail erhält das Thema Exil allerdings durch die zeitgeschichtlichen Entstehungsbedingungen größere Präsenz: Sowohl privat als auch politisch entwerfen der Autor und seine Figur für sich jeweils neue Identitäten. Thomas Mann inszeniert den Exilanten Joseph in Ägypten als einen Fremden, dem die Assimilation mühelos und vollständig gelingt – was, neben seiner Jugend, auch seinen flexiblen Rollenvorstellungen geschuldet ist: „[…] Joseph wurde zusehends zum Ägypter nach Physiognomie und Gebärde, und das ging rasch, leicht und unmerklich bei ihm, denn er war weltkindlich-schmiegsam von Geist und Stoff, auch sehr jung noch und weich, als er ins Land kam, und desto williger und bequemer vollzog sich die Einformung seiner Person in den Landesstil […].“ (GW V, 960) Stand der Patriarch Jaakob noch allem Fremden und besonders der ägyptischen Kultur mit ihrem Polytheismus äußerst skeptisch gegenüber, so erweist sich Joseph als so interessiert an der fremden Kultur und Religion, als so assimilationswillig und begabt, dass er in seinem Exilland eine steile Karriere macht. Der vierte und letzte Band des Romans, Joseph, der Ernährer, den Thomas Mann erst nach längerer Pause im Exil in Kalifornien schreibt, schildert diesen Aufstieg des ursprünglich Ausgegrenzten zum zweiten Mann im ägyptischen Staate nach Pharao. Joseph wird Ägyptens Wirtschaftsminister und rettet durch eine Reihe strategischer Maßnahmen, die auffällig an Franklin D. Roosevelts Politik des „New Deal“ in den 30er Jahren erinnern, das Land und seine Vasallenstaaten vor einer katastrophalen Hungersnot (Middell 1978; Schöll 2004, 310ff.). Joseph hat sich aus dem mythischen In-Spuren-Gehen und den strengen patriarchalischen Religionsvorstellungen seines Herkunftslandes gelöst. Seine mythologischen Selbstentwürfe erweisen sich als so flexibel und kreativ, dass sie nicht nur das eigene Wohlergehen, sondern auch den sozialen und politischen Frieden seines neuen Heimatlandes sichern. Dieser vierte Band erscheint, wie schon der vorangegangene, nicht mehr in Deutschland, sondern im ebenfalls exilierten S. Fischer Verlag in Schweden. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Dezember 1943 kommuniziert die im Roman entworfene Sicht auf Mythos und Religion eine klare politische Botschaft.

Mythos und Exil

Josephs Karriere im Exil

Der Mythos als politische Botschaft

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IV. Themen und Schreibverfahren

Hermetisches Mittlertum

Joseph als Hermesfigur

Vermittlung zwischen Geist und Leben

Schon die Tatsache, dass Thomas Mann hier ein großes jüdisches Epos erzählt, rückt den Roman angesichts des nationalsozialistischen Antisemitismus in ein eindeutig politisches und philosemitisches Licht. Der in der jüngeren Forschung unternommene Versuch, Thomas Manns Text selbst wiederum antisemitische Tendenzen nachzuweisen (Marquardt 2003), erscheint vor dem zeithistorischen Entstehungskontext wenig überzeugend. Joseph wird im Verlauf der Handlung des vierten Bandes immer deutlicher eine Mittlergestalt: Er vermittelt zwischen der traditionellen Mythenvorstellung des israelischen Patriarchats und dem fortschrittlichen Ägypten, zwischen den sozialen Gesellschaftsklassen, zwischen divergenten religiösen Überzeugungen und – auf einer höheren Ebene – zwischen dem Prinzip des Weltlichen und des Göttlichen an sich. In seiner Funktion als Mittler verweist er auf die mythische Figur Hermes, die im Romantext unablässig präsent ist, ohne jemals beim Namen genannt zu werden. Im Gespräch mit Pharao, das Josephs ägyptische Karriere einläutet, erzählt Ägyptens Herrscher einige der Schelmen-Episoden aus dem Komplex des Hermes-Mythos und bringt Joseph mit deren mythologischer Bedeutung explizit in Verbindung (GW V, 1410ff.). Pharao schildert Hermes als einen doppeldeutigen Gott: „Denn er sei ein Gott des freundlichen Zufalls, sagte er, und des lachenden Fundes, Segen spendend und Wohlstand, so redlich oder ein bißchen auch fälschlich erworben, wie es das Leben erlaube, ein Ordner und Führer, der durch die Windungen führe der Welt, rückwärts lächelnd mit aufgehobenem Stabe. Selbst die Toten führe er, sagte der Mann, in ihr Mondreich, und selbst die Träume noch, denn der Herr des Schlafes sei er zu alldem, der die Augen der Menschen schließe mit jenem Stabe, ein milder Zauberer am Ende gar in aller Schläue.“ (GW V, 1424) Damit sind die zwei zentralen Funktionen dieses Gottes benannt: zum einen die des Hermes Psychopompos, des Totenführers, die im frühen und mittleren Werk Thomas Mann, speziell in Der Tod in Venedig und im Zauberberg eine zentrale Rolle spielt; zum anderen seine Rolle als Schalk und schelmische Künstlernatur, als ein freundlicher, aber zweideutiger Wohltäter, die vor allem in späteren Texten Manns an Bedeutung gewinnt. Die Verbindung zum Totenreich ist im Fall von Josephs Hermesnachfolge nur eine symbolische, hatte sein Vater doch Ägypten mit seinem ausgeprägten Totenkult als eine „Unterwelt“ gekennzeichnet. Joseph selbst aber ist dem Leben zugewandt. Mit der wohlwollenden und ironischen Dimension seines ästhetisch-spielerischen Mittlertums verweist Joseph auf andere Hermes-Figuren in Thomas Manns späterem Werk, etwa auf die fiktive Goethegestalt im Roman Lotte in Weimar (1939) oder auf Felix Krull (1954). Im Essay Bruder Hitler aus der Exilzeit, der im gleichen Jahr wie Lotte in Weimar erscheint, bezieht Thomas Mann das Mittlertum im Zeichen des Hermes, das die Konzeption der Joseph- wie der Goethefigur bestimmt, auf seinen Begriff des Künstlertums: „Kunst ist freilich nicht nur Licht und Geist, aber sie ist auch nicht nur Dunkelgebräu und blinde Ausgeburt der tellurischen Unterwelt, nicht nur ,Leben‘. Deutlicher und glücklicher als bisher wird Künstlertum sich in Zukunft als einen hellen Zauber erkennen und manifestieren: als ein beflügelt-hermetisch-mondverwandtes Mittlertum zwischen Geist und Leben. Aber Mittlertum selbst ist Geist.“ (GW XII, 852) „Mittlertum ist Geist“ – diese Formel findet sich auch im Roman Lotte in

2. Mythos, Psychologie und Religion

Weimar (GKFA 9.1, 334). Der kulturphilosophisch konstruierte Widerstreit zwischen „Geist“ und „Leben“, Vaterwelt und Mutterwelt war in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) noch zugunsten einer Vergötterung des Lebens entschieden worden. Davon kann in der Situation des Exils keine Rede mehr sein: Zwar werden die Künstlerfiguren als Mittler zwischen der Ober- und der Unterwelt, der Sphäre des Vaters und der Mutter, zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen entworfen, doch der Künstler selbst gehört eindeutig auf die Seite des Geistes und der Vernunft („Aber Mittlertum selbst ist Geist“). Nun, da Nietzsches ursprünglich revolutionärer Irrationalismus, sein Enthusiasmus für das Dionysische von der nationalsozialistischen Ideologie vereinnahmt und pervertiert wurde, muss sich der (exilierte) Künstler selbst der Gegenseite zuordnen: Geistiges Mittlertum im Zeichen des Antifaschismus ist das politische Vernunftgebot der Stunde. Beide Hermesfiguren, Joseph wie Goethe, werden von Thomas Mann in eine eindeutige politische Position gerückt. Joseph wird als Porträt des Demokraten und Gegenspieler Hitlers Franklin D. Roosevelts entworfen, der fiktiven Dichtergestalt legt der Autor gar eine unmissverständliche politische Botschaft an die Deutschen in den Mund, wenn er Goethe im Monolog des siebten Kapitels von Lotte in Weimar räsonieren lässt: „Unseliges Volk, es wird nicht gut ausgehen mit ihm, denn es will sich selber nicht verstehen, und jedes Mißverstehen seiner selbst erregt nicht das Gelächter allein, erregt den Haß der Welt und bringt es in äußerste Gefahr. Was gilts, das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind; es wird sie über die Erde zerstreuen wie die Juden, zu Recht, denn ihre Besten lebten immer bei ihnen im Exil, und im Exil erst, in der Zerstreuung werden sie die Masse des Guten, die in ihnen liegt, zum Heile der Nationen entwickeln […].“ (GKFA 9.1, 335) Der Mythos Goethe wird im Roman jeglicher nationalistischer Vereinnahmung entzogen und zur Identifikationsfigur des deutschen Exils aufgebaut (Schöll 2002). Spielerischer, doch immer noch im Rekurs auf den Gott Hermes, wird schließlich Felix Krull inszeniert. Thomas Mann hatte den Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (nach noch weiter zurückreichenden Vorstudien) bereits 1910 begonnen und einen ersten Teil des noch nicht abgeschlossenen Romans 1922 publiziert. Erst 1950 nimmt der Autor die Arbeit an dem Projekt wieder auf und es entsteht eine Fortsetzung der fiktiven Memoiren Krulls, die jedoch wiederum Fragment bleibt (zur Entstehungsgeschichte siehe ausführlich GKFA 12.2, 9ff.). Als sich Thomas Mann 1953 entschließt, diesen zweiten Teil ebenfalls unabgeschlossen in Druck zu geben, scheint er an eine abschließende Fortsetzung des Romans trotz erheblicher Zweifel noch geglaubt zu haben (Heftrich 2005, 91). Ein Jahr nach Erscheinen dieser zweiten Ausgabe des Romans mit dem Untertitel Der Memoiren erster Teil (1954) stirbt Thomas Mann jedoch, der Text blieb unvollendet. Wie Joseph ist auch Felix Krull kein Künstler im engeren Sinne, aber ein Lebenskünstler, dem die ganze Welt zur Bühne wird; hier manifestiert sich wiederum der Einfluss Schopenhauers (Koopmann 1995, 523f.). Krull durchschaut das Treiben der Welt als Schein und nutzt diese Einsicht geschickt für die Inszenierung seiner eigenen Person: Die Welt wird seine Vor-

Politik im Exil

Felix Krull

Autofiktion

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IV. Themen und Schreibverfahren

Krulls Narzissmus

Selbstinszenierungen

Das Ich als performativer Akt

stellung. Er theatralisiert sein Leben – eine Diagnose, die in der älteren Forschungsliteratur auch auf den Autor Thomas Mann bezogen wurde (Wysling 1982, 122). Helmut Koopmann führt gar Manns späten Plan, den Krull-Text nach langer Zeit doch noch fertigzustellen, auf seinen Wunsch nach der Fertigstellung eines Selbstporträts durch diesen Roman zurück (Koopmann 1995, 516). In jüngerer Zeit hat Ruprecht Wimmer diese These noch einmal aufgegriffen und die beiden Krull-Fragmente aus dem Früh- und Spätwerk parallel zum Faustus-Roman als „Masken des Autobiographischen“ gelesen (Wimmer 2005). In ihrer Selbstbezogenheit und Selbstreflexivität bietet sich die Figur als Leinwand für autobiographische Projektionen an. In dieser Dimension verweist Krull, neben Hermes, noch auf eine andere Gestalt aus der Welt des griechischen Mythos: auf Narziss, den schönen und von allen begehrten Jüngling, der sich – je nach Quelle wissentlich oder unwissentlich – in das eigene Spiegelbild verliebt und schließlich stirbt. So tragisch endet Felix Krull nicht, mit Narziss teilt er jedoch die unbedingte Liebe zum eigenen Ich. Schon als Kind imaginiert er sich selbst als Prinz oder gar als Kaiser (GKFA 12.1, 16f.) und beschreibt das eigene Äußere mit den deutlichen Anzeichen der Selbstverliebtheit: „Ich […] besaß seidenweiches Haar, wie man es nur selten beim männlichen Geschlechte findet, und welches, da es blond war, zusammen mit graublauen Augen, einen fesselnden Gegensatz zu der goldigen Bräune meiner Haut bildete: so daß es gewissermaßen unbestimmt blieb, ob ich nun eigentlich blond oder brünett von Erscheinung sei, und man mich mit gleichem Recht für beides ansprechen konnte.“ (GKFA 12.1, 17). Als so zweideutig wie die Haarfarbe erweist sich auch Krulls geschlechtliche Zuordnung: Wie Joseph ist auch dieser selbstverliebte Hermes von androgyner Gestalt und weckt das Begehren der Frauen wie der Männer. Die Grundlage des Erfolges bilden im Fall Krulls weder die Herkunft noch die Intelligenz. Krulls Leben gelingt vielmehr, weil er zum einen der festen Überzeugung ist, ein „Sonntagskind“ zu sein (GKFA 12.1, 15), zum anderen, weil er das eigene Leben wie ein ästhetisches Kunstwerk gestaltet. Er inszeniert sich selbst und vollzieht nun im Rückblick, seine (fiktiven) Memoiren schreibend, diesen Prozess noch einmal nach – und stellt somit den Inszenierungscharakter seines Lebens bewusst aus. Der Narzisst Krull ist kein sich naiv und unwissentlich in das eigene Spiegelbild verliebender Jüngling, wie in der Ovid’schen Version des Mythos (Ovid 1994, 75), vielmehr wie Joseph ein bewusst agierender Schauspieler und Künstler. Krull weiß, dass er die Welt immer nur auf sich selbst bezogen wahrnimmt, doch wie Joseph nutzt er diese narzisstische Ausgangslage, um sich selbst eine Identität zu konstruieren, die sich zwar an (mythischen) Mustern orientiert, zugleich jedoch etwas Neues und Einzigartiges darstellt und entsprechend Aufmerksamkeit erregt. Wenn Freud den Künstler in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1915–1917) in die Nähe des Neurotikers rückt (Freud 1991, 359), so läuft diese ,Entlarvung‘ seines Tuns ins Leere, sobald der Künstler selbst die eigenen Neurosen ausstellt und vorführt. Beiden Figuren Thomas Manns gelingt es, sich in die von ihnen entworfenen Rollen so einzuleben und sich diese in einem Grad einzuverleiben, dass sie als Person ganz zur

2. Mythos, Psychologie und Religion

Rolle werden: Der assimilierte Exilant Joseph wird zum Ägypter; Krull wiederum berichtet, dass die gesellschaftliche Maskierung nicht mehr den Sonder-, sondern den Normalfall in seinem Leben darstellt, so dass von einem Dasein jenseits der Maskierung nicht mehr eigentlich die Rede sein kann: „Es lief […] auf eine Art von Doppelleben hinaus, dessen Anmutigkeit darin bestand, daß es ungewiß blieb, in welcher Gestalt ich eigentlich ich selbst und in welcher ich nur verkleidet war […]. Verkleidet also war ich in jedem Fall, und die unmaskierte Wirklichkeit zwischen den beiden Erscheinungsformen, das Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden.“ (GKFA 12.1, 265). Damit weist das mythologische Schema des „In-Spuren-Gehens“, das beide Romane inszenieren, über das moderne Konzept einer Brüchigkeit und Fragmentarisierung der Identität hinaus. Das Ich verliert hier in fast postmoderner Manier seinen Charakter als etwas fest Umgrenzbares, Stabiles. Identität ist in den mythisch-mythologischen Spielen Josephs wie Krulls keine Substanz, nichts Verlässliches mehr, sondern ein performativer Akt auf der Bühne der Welt, der der unablässigen Gestaltung bedarf (Schöll 2005, 20). Der spielerische Narzissmus, der alle drei Figuren (Joseph, Goethe, Krull) prägt, ist kein naiver, sondern ein bewusster Reflex auf Schopenhauers Erkenntnis vom Subjekt als Zentrum seines je eigenen Universums, als Konstrukteur der Welt als Vorstellung. So spricht der alttestamentarische Hebräer Joseph eigentlich über eine der Grundeinsichten des deutschen Idealismus, wenn er dem Sklavenhändler, der ihn nach Ägypten bringt, erklärt: „Aber siehe, die Welt hat viele Mitten, eine für jedes Wesen, und um ein jedes liegt sie in eigenem Kreise. Du stehst nur eine halbe Elle von mir, aber ein Weltkreis liegt um dich her, deren [sic] Mitte nicht ich bin, sondern du bist’s. Ich aber bin die Mitte von meinem. Darum ist beides wahr, wie man redet, von dir aus oder von mir.“ (GW V, 671) Diese reflektierte Subjektzentrierung jeder Vorstellungswelt bildet bei den Figuren der Exiltexte die Grundlage ihrer Wirkung nach außen. Weil sie sich der „Welt als Vorstellung“ bewusst sind, können sie die Welt gestalten – sei es als überlebenssichernder „Ernährer“ Ägyptens (Joseph), als Identitätsstifter eines europäisch orientierten Deutschtums (Goethe) oder als charmanter Hochstapler (Krull). „Wo Es war, soll Ich werden“, diese Formel Freuds schreibt Thomas Mann seinen Exiltexten als Motto ein, das Unbewusste soll auf der Ebene des Subjekts wie der kulturellen Gemeinschaft bewusst gemacht werden. Der Mythos als Ausdruck des kollektiven Unbewussten wird ernst genommen und zugleich reflektiert und ironisiert. Immer wieder führen Thomas Manns literarische und essayistische Texte diesen Prozess vor, beziehen ihn auf hinduistische (Die vertauschten Köpfe), jüdische (Das Gesetz) und christliche Mythen (u.a. Doktor Faustus, Der Erwählte) – oder, wie im Fall von Joseph und seine Brüder, gar auf eine ethnisch-religiöse Vielfalt mythischer Erzählungen. Wo das Erzählen unter der Formel von „Mythus und Psychologie“ steht, kann der erzählte Mythos seine kulturstiftende Kraft im modernen Sinne entwickeln und als eine Gegenkraft zur rückwärtsgewandten, irrationalistischen Instrumentalisierung des Mythos durch die Nationalsozialisten wirken. In diesem Sinne sind die in mythisch-religiösen Spuren gehenden Protagonisten der Exiltexte Thomas Manns auch politische Figuren.

Die Welt als Vorstellung

„Wo Es war, soll Ich werden“

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IV. Themen und Schreibverfahren

3. Körper, Geschlecht und Krankheit Homoerotische Camouflage

Bewusste Inszenierung der Homoerotik

Sexualität als Stigma

Frauen, Juden, „Litteraten“

In seiner Studie Das offene Geheimnis (1994) zeigt Heinrich Detering, welch „literarisch produktiven Folgen“ die Tabuisierung homoerotischer Liebe durch die Gesellschaft zeitigte. Was nicht offen dargestellt werden konnte, wurde maskiert, in Form der „Camouflage“ präsentiert. Auf diese Weise entstand eine „kalkulierte Doppelbödigkeit“ in jenen literarischen Texten, in denen es indirekt um das Thema Homosexualität ging – wer offen war für die ,Botschaft‘, konnte das ,eigentlich‘ Gesagte unschwer herauslesen (Detering 1994, 9ff.). Deterings These der „homoerotischen Camouflage“ ist so sympathisch, weil sie nichts Skandalträchtiges in literarischen Texten oder gar in der Vita ihrer Autoren zu enthüllen sucht, was nicht bewusst in diesen Texten angelegt worden wäre. Im Fokus des wissenschaftlichen Interesses steht der Text, nicht das Privatleben des Autors. Dieser Umgang empfiehlt sich auch für das Werk Thomas Manns. Wer den Autor anhand seiner Texte als homosexuell zu ,entlarven‘ sucht, übersieht, dass in dieser Literatur homoerotisches Begehren sowohl offen als auch maskiert, in jedem Fall aber bewusst dargestellt und inszeniert wird. Bereits vor der Publikation der Tagebücher Thomas Manns, die seine Homosexualität offen ausstellen, war das Thema in den literarischen und essayistischen Texten auf eine Weise präsent, die keinen Zweifel an einem speziellen Interesse des Autors an der gleichgeschlechtlichen Liebe und Sexualität ließ. Dass der Begriff der „Homosexualität“ in diesem Kontext zu problematisieren ist – Thomas Mann selbst hätte ihn wohl kaum auf die eigene Person angewandt –, wurde in der Forschung wiederholt diskutiert (u.a. Böhm 1991, 58ff.; Detering 1994, 11ff.). In Deterings Studie bildet Thomas Mann den Schlusspunkt, weil in seinem Werk spätestens mit der Novelle Der Tod in Venedig Homoerotik nicht mehr camoufliert, sondern direkt dargestellt wird: „Der Tod in Venedig ist das coming out der deutschen mainstream-Literatur.“ (Detering 1994, 34) Gustav von Aschenbach begehrt den Jüngling Tadzio, daran gibt es wenig zu deuten, wenn es auch zu einer homosexuellen Handlung im konkreteren Sinne weder hier noch an anderer Stelle in Thomas Manns Literatur kommt (allenfalls wiederum camoufliert im Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull). Das bedeutet nicht, dass homoerotische Sexualität in anderen Texten Manns nicht maskierter, verschlüsselter aufträte. Auffallend ist etwa, dass Sexualität, Geschlecht und Körperlichkeit immer wieder mit dem Außergewöhnlichen, dem Schambesetzten, dem Doppeldeutigen oder Tabuisierten konnotiert werden. Das Stigma Homosexualität (Böhm 1991) wird verschoben auf andere Stigmatisierungen: auf eine als problematisch dargestellte Weiblichkeit etwa, auf das Jüdischsein oder die Existenz des literarischen Autors, wie Heinrich Detering feststellt. Auf diese Weise entsteht eine Poetik des Stigmas im Werk Thomas Manns (Detering 2005, 7). Die merkwürdige Parallele zwischen Weiblichkeit, Judentum und Autorschaft (GKFA 14.2, 501ff., Detering 2005, 21) zieht Thomas Mann selbst in einer später gestrichenen Passage aus den Notizen zum Essay Geist und Kunst (1909–1912): „Ja, der Ekel vor dem, was man ist, diese Untreue und seltsame Unsicherheit des Ichs scheint in der That die gemeinsame Eigenschaft der Juden, Frauen und Litteraten zu sein.“ (GKFA 14.2, 502) Da er

3. Körper, Geschlecht und Krankheit

weder Frau noch Jude ist, kann Thomas Mann nur über den „Litteraten“ aus eigener Anschauung berichten. Das Ambivalente dieser Rolle, die sich in seinen Augen nicht in das Schema der bürgerlichen Ordnung fügt, projiziert er auf andere vermeintliche Außenseiter der Gesellschaft – in seiner Wahrnehmung eben Frauen und Juden. Nun mag man lange über die Absurdität dieser Übertragung diskutieren, was die Entdeckung dieser Parallelisierung durch Kurzke und Detering indes zu Tage gefördert hat, ist nicht zuletzt ein plausibles Erklärungsmuster für die spezielle Art der Personendarstellung in der Literatur Thomas Manns, die dominant über die Darstellung von Körperlichkeit funktioniert. Wenn Frauen in seinen Texten klischeehaft mit einer ambivalenten Sexualität oder Juden mit stereotypen physiognomischen Merkmalen ausgestattet werden, so geschieht dies nicht, weil Thomas Manns misogyn oder antisemitisch eingestellt wäre, sondern weil diese Figuren explizit und mit einer Art Signalwirkung als gesellschaftliche Außenseiter deklariert werden sollen. Das Verhältnis der Geschlechter zu sich selbst und zum jeweils anderen Geschlecht gestaltet sich vor allem im Frühwerk besonders problematisch. Der kleine Herr Friedemann aus der gleichnamigen Erzählung (1897) ist, seit einem Sturz vom Wickeltisch als Säugling, mit einem verwachsenen Körper gehandicapt: „Er war nicht schön, der kleine Johannes, und wie er so, mit seiner spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel zu langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte […], bot er einen höchst seltsamen Anblick.“ (GKFA 2.1, 89) Mit der Verwachsenheit korrespondiert eine empfindsame Seele, die sich wiederum in subtileren und weiblich kodierten körperlichen Merkmalen manifestiert: „Seine Hände und Füße aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte große, rehbraune Augen, einen weichgeschnittenen Mund und feines, lichtbraunes Haar. Obgleich sein Gesicht so jämmerlich zwischen den Schultern saß, war es doch beinahe schön zu nennen.“ (GKFA 2.1, 89) Doch diese zarte Schönheit nützt ihm wenig, da sich niemand die Mühe macht, ihn anders denn als ,Krüppel‘ zu betrachten. Nur kurz keimt in Johannes Friedemann Hoffnung auf, dass sein Begehren als Mann doch einmal erfüllt werden könnte: Verliebt in die ebenso stolze wie schöne Gerda von Rinnlingen, die Frau des Bezirkskommandanten, gewinnt er ihr Vertrauen. Doch als er ihr kniend seine Liebe offenbart, stößt sie ihn „mit einem kurzen, verächtlichen Lachen“ von sich (GKFA 2.1, 118). Erschüttert, am Boden liegend, kriecht Herr Friedemann ins nahe Wasser und lässt sich dort fallen, um zu ertrinken. Unerbittlich wie der kalte Blick Gerda von Rinnlingens mutet auch die psychologische Erklärung der Erzählinstanz an: „Was ging eigentlich in ihm vor, bei dem, was nun geschah? Vielleicht war es dieser wollüstige Haß, den er empfunden hatte, wenn sie ihn mit ihrem Blicke demütigte, der jetzt, wo er, behandelt von ihr wie ein Hund, am Boden lag, in eine irrsinnige Wut ausartete, die er bethätigen mußte, sei es auch gegen sich selbst …. ein Ekel vielleicht vor sich selbst, der ihn mit einem Durst erfüllte, sich zu vernichten, sich in Stücke zu zerreißen, sich auszulöschen …“ (GKFA 2.1, 118). Der Hass des Begehrenden richtet sich in masochistischem Ekel gegen den eigenen Körper, ja die eigenen Existenz als solche (siehe Kapitel IV.1.). Das Subjekt, das seine eigene Lächerlichkeit durch die vergebens geliebte

Außenseitertum

Der kleine Herr Friedemann

Selbstekel

Narrative Fokalisierung

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IV. Themen und Schreibverfahren

Tonio Kröger unter den Damen

Beschädigte Männlichkeit

Der Mensch als Körper

Frau vor Augen geführt bekommen hat, kann mit diesem Bewusstsein nicht weiter leben. Durch die Klarheit, mit der die Erzählinstanz den Vorgang schildert, tritt die Grausamkeit der Frau umso deutlicher zutage. Das Tieftraurige der Situation wird auf diese Weise eindringlicher vermittelt als jedes Werben um Mitleid für den kleinen Herrn Friedemann es vermocht hätte. Gerda von Rinnlingen scheint ihren Verehrer bewusst zu quälen, doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass wir über ihre wahren Beweggründe keinerlei Informationen erhalten. Die Erzählinstanz berichtet detailgenau von Johannes Friedemanns Innenleben, verfügt aber nicht über die Innensicht der weiblichen Figur. Diese Fokalisierung bewirkt, dass wir (ebenso wie der gequälte Mann) über die Motivation der grausamen Frau nur spekulieren können. Ähnliches geschieht in der Erzählung Tonio Kröger (1903): „Glück und Spott“ liegen in den Augen Inge Holms, die der junge Tonio Kröger verehrt (GKFA 2.1, 258). Doch es ist nur der sehnsuchtsvolle Blick des Begehrenden, den dieser – und mit ihm die Erzählinstanz und der Leser – auf Inge Holm richtet. Wie die anderen Jugendlichen lacht auch Inge Holm, als Tonio Kröger in der Tanzstunde während der Quadrille in die Gruppe der Mädchen gerät. Warum sie lacht, erfahren wir allerdings nicht; nur von der Verletzung, die dieses Lachen der jungen Künstlernatur Tonio zufügt. Dieser hat indes den Spott zu ertragen, den der Tanzlehrer mit seiner Bemerkung auslöst: „Halt, halt! Kröger ist unter die Damen geraten! En arrière, Fräulein Kröger, zurück, fi donc! Alle haben es nun verstanden, nur Sie nicht.“ (GKFA 2.1, 259) Szenen des Verlachtwerdens, wie sie auf diese Bemerkung folgen, kehren in Thomas Manns Frühwerk so oft wieder, dass man ihnen durchaus einen „topischen Charakter“ zuschreiben kann (Dedner 1992, 88). Tonio Kröger gerät „unter die Damen“ und führt seine geschlechtliche Ambivalenz somit performativ vor (Detering 1994, 306ff.). Denn bevor er sich in Inge Holms verliebte, galt seine Sehnsucht dem Mitschüler Hans Hansen – der allerdings davon ebenso wenig Kenntnis nahm wie später Inge Holm. Dass „Fräulein Kröger“ sich in der Mädchengruppe wiederfindet, ist somit auch seiner zweideutigen Geschlechtlichkeit geschuldet. „Alle haben es nun verstanden, nur Sie nicht“, lautet der Vorwurf des Tanzlehrers, und dieser Vorwurf meint in der Logik des Textes auch: Alle haben sich nun der heterosexuellen Norm unterworfen und wissen, wie sie funktioniert, nur Du nicht. Damit steht Tonio Kröger am Anfang einer langen Reihe von Künstlerfiguren im Werk Thomas Manns, die, so konstatiert Hermann Kurzke, „immer irgendwie in ihrer Männlichkeit beschädigt“ seien (Kurzke 1999, 378). Es ist grundsätzlich auffallend, wie sehr Thomas Mann seine Figuren über ihre Körperlichkeit und ihre Sexualität definiert. In diesem Punkt ist er ein Kind seiner Zeit, jener Epoche um 1900, in der „der Blick der Dichtung auf den Menschen“ zum „Blick auf den Körper“ und „Blick auf das Geschlecht“ wurde, wie Wolfgang Riedel feststellt (Riedel 1996, 153). Stefan Pegatzky kennzeichnet die anthropologische Wende um 1900 mit einem Begriff Walter Schulzes als „Verleiblichung“ des Denkens, als die „Anerkennung des Leibes als unhintergehbarer Ausgangspunkt der Welterschließung“ (Pegatzky 2002, 23). Bei Schopenhauer, Nietzsche und Wagner, dem „Dreigestirn“, das Thomas Manns Frühwerk maßgeblich beeinflusst, ist dieser Perspektiv-

3. Körper, Geschlecht und Krankheit

wechsel vom aufklärerischen Blick auf den Menschen als rationales Subjekt zum modernen Blick auf den Menschen als leibliches, triebabhängiges Wesen vorgebildet (Pegatzky 2002). Unterzieht man den Körper, wie es in Thomas Manns Literatur geschieht, einer fast mikroskopisch genauen Betrachtungsweise, durchleuchtet man ihn im Wortsinne (mit Röntgenstrahlen im Zauberberg) oder im symbolischen Sinne (psychologisch), so erscheint er früher oder später als defizitär und problematisch. Von der körperlichen Verwachsenheit Johannes Friedemanns war bereits die Rede, auch Prinz Klaus Heinrich aus Thomas Manns zweitem Roman Königliche Hoheit (1909), der einen verkrüppelten Arm hat, reiht sich hier ein. Er ist in zweifacher Hinsicht ein „Außerordentlicher“ und „(Aus-)Gezeichnter“: durch seine Köperbildung wie durch seine hohe Geburt (Detering 2005, 124f.); allerdings endet er im Gegensatz zu Herrn Friedemann nicht tragisch. Selbst das äußerlich unversehrte Personal leidet bei Thomas Mann an der eigenen Körperlichkeit: an einer äußerlich nicht oder kaum wahrnehmbaren Krankheit (Clawdia Chauchat/Der Zauberberg, Rosalie von Tümmler/ Die Betrogene), an einem unerfüllbarem Begehren (Tonio Kröger, Gustav von Aschenbach/Der Tod in Venedig, Mut-em-enet/Joseph und seine Brüder), am Tabu des Inzests (Siegmund und Sieglind/Wälsungenblut, Wiligis und Sibylla/Der Erwählte, Hui und Tui/Joseph und seine Brüder), an Impotenz (Potiphar/Joseph und seine Brüder), an einem übersteigerten Sexualtrieb (Ruben/Joseph und seine Brüder, Mose/Das Gesetz) oder gar an einem völligen Liebesverbot (Adrian Leverkühn/Doktor Faustus). Felix Krull setzt seinen Körper und ein bloß (wenn auch täuschend echt) simuliertes Leiden ein, um dem Militärdienst zu entgehen (GKFA 12.1, 101ff.). Hans Castorp identifiziert sich so ernsthaft mit den Kranken im Sanatorium auf dem Zauberberg, dass er selbst zum medizinischen „Fall“ wird (Härle 1992, 78ff.). Die zahlreichen jüdischen Gestalten Thomas Manns sind, vor allem im Frühwerk, stets durch ihr vermeintlich jüdisches Aussehen identifizierbar, das sich an den rassistischen Körperstereotypen der Zeit orientiert (Elsaghe 2004, 181ff.). Darüber hinaus existieren in den Reihen von Thomas Manns fiktivem Personal noch jene Figuren, die zwar nicht für das Leiden geboren sind, sich gleichwohl jedoch dominant über ihre Körperlichkeit definieren (Joseph/Joseph und seine Brüder, Goethe/Lotte in Weimar). Die inzestuösen Zwillinge Sigmund und Sieglind aus der Erzählung Wälsungenblut (1905) leben in ihrem reichen Elternhaus in einer Atmosphäre, die von überflüssigem Luxus und der Abwesenheit ernsthafter Arbeit geprägt ist. Thomas Mann beschreibt an ihrem Beispiel „die totale Stilisierung des Lebens zum Dekor“ (Curtius 1984, 15). Da die Kinder für den vom Vater erworbenen Reichtum nichts tun müssen und ihnen daher wenig anderes zu tun bleibt, haben sie ihren Intellekt bis zur zersetzenden Spitzfindigkeit und zum bösartigen Sarkasmus entwickelt und frönen einem ausufernden Körperkult („Sigmund machte Toilette für die Oper und zwar seit einer Stunde.“ GKFA 2.1, 440). Sigmunds Vorliebe für „rosaseidene Unterbeinkleider“ und wattierte Hausjacken mit Pelzbesatz rückt ihn in die Nähe eines dekadenten Weiblichkeitskonzepts, das elegant ausstaffierte und in Pelze gehüllte Damen zu femmes fatales stilisiert (zu den „Pelzdamen“ bei Thomas Mann siehe Rudloff 1994). Dieses ästhetizistische Faible wird in der Novel-

Defizitäre Leiblichkeit

Der Körper im Fokus

Wälsungenblut

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IV. Themen und Schreibverfahren

Letzter Akt auf dem Bärenfell

Jüdischer Inzest

Rassistische Kodierungen

Todesverliebter Körperkult

le mit einer betont männlichen Kodierung kontrastiert, die sich in einem überbordenden Bartwuchs äußert, den die Erzählinstanz mehrfach und betont beiläufig erwähnt (GKFA 2.1, u.a. 441, 459). Nach dem abendlichen Besuch der Wagneroper Walküre (die mit einer Inzestszene beginnt) landen die dekadenten Zwillinge auf dem Bärenfell (also wieder einem Pelz) in Sigmunds Schlafzimmer: „Mit einer süßen Sinnlichkeit liebte jedes das andere um seiner verwöhnten und köstlichen Gepflegtheit und seines guten Duftes willen. Sie atmeten diesen Duft mit einer wollüstigen und fahrlässigen Hingabe, pflegten sich damit wie egoistische Kranke, berauschten sich wie Hoffnungslose, verloren sich in Liebkosungen, die übergriffen und ein hastiges Gewimmel wurden und zuletzt nur ein Schluchzen waren – –“ (GKFA 2.1, 463) Den eigentlichen Akt des Inzests spart die Erzählstimme aus. Wie in Kleists Novelle Die Marquise von O. markiert an der Stelle des Vollzugs der Gedankenstrich das Nichterzählte, das Nichterzählbare, da Ungeheuerliche: im Fall der Marquise die Vergewaltigung (Kurzke 1992, 131), bei Thomas Mann den Beischlaf der Geschwister. Thomas Manns Erzähler setzt gleich zwei Gedankenstriche und bringt am Ende das Ungesagte doch noch zur Sprache, wenn er Sigmund sagen lässt: „Beganeft haben wir ihn, – den Goy.“ (GKFA 2.1, 463) Sigmund spricht in (unkorrektem) Jiddisch von ihrem Betrug (GKFA 2.2, 340f.) und bezieht sich mit „Goy“ auf den nicht-jüdischen Verlobten seiner Schwester, den ebenso arbeitsamen wie langweiligen Verwaltungsbeamten Beckerath, den die Zwillinge zu Beginn des Textes beim Familienfrühstück ausführlich und boshaft vorführen. Der amoralisch-rauschhafte und in die Nähe der Krankheit gerückte Inzest wird hier einem jüdischen Geschwisterpaar zugeschrieben – was den Skandal perfekt machte, hatte Thomas Mann doch im gleichen Jahr, in dem die Novelle entstand, mit Katia Pringsheim eine Tochter aus reichem jüdischen Hause geheiratet, die einen Zwillingsbruder hatte (GKFA 2.2, 316ff.). Bereits vor der eindeutigen Markierung durch die jiddischen Begriffe ist für den Leser klar, dass es sich um eine jüdische Familie handelt, da die Erzählinstanz wiederholt, fast penetrant auf die „physiognomischen Eigentümlichkeiten ihrer Art“ verweist (GKFA 2.1, 462) und diese beschreibt: die „ein wenig niedergedrückte Nase“, die „voll und weich aufeinander ruhenden Lippen“, markante Wangenknochen und dunkle Augen (GKFA 2.1, 431). Zwar wird auch das Aussehen des Protestanten Beckerath wenig schmeichelhaft beschrieben („klein, kanariengelb, spitzbärtig“; GKFA 2.1, 431), doch ist das Äußerliche eben nicht zugleich rassistisch kodiert. Durch die spezifische Verbindung aus antisemitischen Klischees, Wagnerismus, dekadentem Ästhetizismus und inzestuösem Begehren avancierte der Text auch jenseits der biographischen Parallele zum Skandal. Die Erzählung stilisiert Sigmund und Siglind überpointiert zu Prototypen jenes unproduktiven und todverliebten Körperkults („wie egoistische Kranke“, „wie Hoffnungslose“), der auch auf dem Zauberberg gepflegt wird. Auch dort läuft das Begehren ins (dekadente) Leere, da es nicht auf das ,Gesunde‘, die Fortpflanzung, zielt. Clawdia Chauchat verzaubert Hans Castorp durch ihre Reize, doch durch die durchscheinende Gaze des Ärmels ihres Kleides schimmert ihr zur Reproduktion nicht ,rüstiger‘ Leib. Die Erzählinstanz schildert ihr Äußeres als verführerisch, aber wenig weiblich, denn die

3. Körper, Geschlecht und Krankheit

im Sinne der Fortpflanzung unproduktive Sexualität ist bei Thomas Mann in der Sphäre des Männlichen und Homoerotischen angesiedelt. Indem der weibliche Körper Madame Chauchats in der Beschreibung vermännlicht wird, rückt Castorps Lust auf ihren Körper in die Nähe der Homosexualität – eine Lust, die durch diese Nähe geeignet ist, die verschüttete homoerotische Liebe zu seinem Mitschüler Hippe wieder zu Tage zu fördern (siehe ausführlich Kapitel V.3.). Im Jahr 1925 publiziert Thomas Mann einen theoretischen Text, der sich als eine Art Grundsatzerklärung zum Geschlechtlichen und seinem Zusammenhang mit dem Ästhetischen lesen lässt: den Essay Die Ehe im Übergang, verfasst für das von Graf Hermann Keyserling initiierte Ehe-Buch. Eine neue Sinngebung im Zusammenklang der Stimmen führender Zeitgenossen. Darin spricht Thomas Mann überraschend ein Thema an, das mit der Ehe auf den ersten Blick wenig zu tun hat: das „homoerotische Phänomen“ (GKFA 15.1, 1031). Ausgehend von einer gegenseitigen Anpassung der Geschlechter im Aussehen (Bubikopf und Kleidung der Frauen, Rasur der Männer), die mit einem kameradschaftlicheren Umgang von Mann und Frau einhergehe, kommt der Autor auf die „ursprüngliche und natürliche Bisexualität“ beider Geschlechter zu sprechen, welche die Psychoanalyse aufgedeckt habe (GKFA 15.1, 1030), und leitet von diesem Punkt aus über zum Thema Homoerotik. In der Argumentation des Textes rückt die gleichgeschlechtliche Liebe der Männer – von der Homosexualität der Frau ist nicht die Rede – in die Nähe der Kunst: Sie existiert, wie die Kunst, nur um ihrer selbst willen, nicht zu „fertilen Zwecken“, da sie nicht dem Erhalt der Gattung und des Gemeinwesens dient. Zugleich wird die Homoerotik mit dem Tod assoziiert, weil sie eben nicht Teil hat am lebensbejahenden Trieb zur Zeugung von Nachwuchs. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben“, zitiert Thomas Mann den Dichter August von Platen (GKFA 15.1, 1032) und gibt damit das Motto aus, unter dem sich Der Tod in Venedig ebenso subsumieren lässt wie Der Zauberberg. Im Ehe-Essay wird die homoerotische Liebe mit klaren Worten als unmoralisch klassifiziert: „Es entsteht nichts aus ihr, sie legt den Grund zu nichts, ist ,l’art pour l’art‘, was ästhetisch recht stolz und frei sein mag, doch ohne Zweifel unmoralisch ist.“ (GKFA 15.1, 1033) Mit dem Bekenntnis zur lebensbejahenden Treue in der Ehe legt Thomas Mann zugleich ein ästhetisches Bekenntnis ab. Er verabschiedet sich vom Ästhetizismus des Frühwerks und bekennt sich zu einem bürgerlichen, ,zeugenden‘, dem Leben zugewandten Lebensstil, als Ehemann wie als Künstler: „Ich habe schon gesagt, wie ich die Idee des Künstlers von Anfang an konzipierte, welches Mittlertum ich ihm zuschrieb: Wir sind Sorgenkinder des Lebens, aber Kinder des Lebens eben doch und im Grunde zur sittlichen Güte bestimmt.“ (GKFA 15.1, 1036) Im mittleren und späteren Werk schließlich tritt das „Ewig-Menschliche“ in den Vordergrund, das Dekadente, Ästhetizistische, Todgeweihte in den Hintergrund. Dieses „Ewig-Menschliche“ umkreist etwa der Roman Joseph und seine Brüder, ein Großprojekt, an dem Thomas Mann (mit Unterbrechungen) zwischen Juni 1926 und Januar 1943 arbeitet. Thomas Mann unternimmt hier nichts Geringeres als die Ausleuchtung der Menschheitsgeschichte über die Rekonstruktion ihrer zeit- und kulturübergreifenden

Die Ehe im Übergang

Heterosexuelle Poetologie

Josephs Androgynie

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IV. Themen und Schreibverfahren

Entsagung als politisches Statement

Goethe als Mann und Mittler

Mythen (siehe Kapitel IV.2). Mit dem zentralen Protagonisten, der alttestamentarischen Josephsfigur, erscheint hier wieder eine nicht klar männlich, sondern explizit androgyn gezeichnete Figur auf der narrativen Bühne, die sich zudem durch eine fast unwirkliche Schönheit auszeichnet. Die ansonsten über den Dingen stehende Erzählinstanz des Romans gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn von der ,mann-weiblichen‘ Anmut des jugendlichen Joseph die Rede ist: „Mit siebzehn, das ist wahr, kann einer schöner sein als Weib und Mann, schön wie Weib und Mann, schön von beiden Seiten her und auf alle Weise, hübsch und schön, daß es zum Gaffen und Sichvergaffen ist für Weib und Mann.“ (GW IV, 395) Joseph ist in seiner Androgynität so bezaubernd, dass sein Vater Jaakob ihn allen seinen Brüdern vorzieht und sogar bereit ist, das patriarchalische Recht der Erstgeburt zu umgehen, um Joseph als Segensträger auszuzeichnen. Das von der Erzählstimme als „Zügellosigkeit“ und „weichlicher Kult“ (GW IV, 83) markierte inzestuöshomoerotische Begehren des Vaters und das bewusste Jonglieren mit der eigenen verführerischen Androgynie des Sohnes wird schließlich mit Josephs Brunnensturz und seinem Verkauf an Sklavenhändler durch die Brüder bestraft. Das patriarchalische Gesetz der Väter verlangt unbedingten Gehorsam, wie Joseph am eigenen Leib erfährt. Als er sich in der Fremde, im ägyptischen Exil, in der Situation wiederfindet, dem sexuellen Werben seiner Herrin Mut-em-enet widerstehen zu müssen, ist es das imaginierte Bild des Vaters, des Patriarchen schlechthin, das ihm die Kraft dazu gibt: „[…] es war kein Bild mit geschlossen-persönlichen Zügen, das er da oder dort gesehen hätte im Raum. Er sah es vielmehr in seinem Geiste und mit dem Geiste: Ein Denk- und Mahnbild war es, das Bild des Vaters in weiterem und allgemeinerem Verstande […].“ (GW V, 1256) Joseph erliegt der Verführung durch das „Weib“ nicht und stellt sich damit, in der Logik des Romans, auf die patriarchalische Seite, die Seite der (eindeutig männlichen) Männer und der Vaterwelt, auf die Seite der Gottestreue und der Vernunft. In der politischen Semantik des Exils, in dem der dritte und vierte Band des Josephsromans (und somit auch die Entsagungsszene in Band III) entstehen, wird die Welt der Väter zudem als die der politischen Ratio deklariert, als die Sphäre der politischen Vernunft, die dem irrationalistischen Politikverständnis der Nationalsozialisten entgegengesetzt wird (siehe Kapitel V.6). Auch eine andere Figur des Exilwerks wird Thomas Manns gemäß dieser dualistischen Logik auf der Seite dieser politisch kodierten Männlichkeit positionieren: seine Goethefigur aus dem Roman Lotte in Weimar (1939). Der fiktive Goethe des Textes wird hier als Gegenfigur zur romantischen Bewegung installiert, die mit ihrem politischen Irrationalismus und nationalistischen Pathos zum gedanklichen Vorboten des Faschismus stilisiert wird; ob diese Sicht historisch haltbar ist, sei dahingestellt. Goethe tritt im Roman als Mittler zwischen der Mutter- und der Vaterwelt auf, der weibliches (Natur) und männliches Prinzip (Geist) – so die gender-Konstruktion des Textes – in sich vereint. Wie der androgyne Joseph steht auch Goethe unter einem „doppelten Segen“, dem männlich kodierten Segen des Himmels und dem als weiblich definierten Segen der Erde. Doch wie Joseph, der sich im Zweifelsfall für die vernünftige Vaterseite entscheidet, wird auch die Goethefigur eindeutig männlich gezeichnet, so dass deutlich wird, dass auch sie fest im

3. Körper, Geschlecht und Krankheit

Grund der Väter verwurzelt ist. Zu Beginn des siebten Kapitels von Lotte in Weimar erwacht der „muntre Greis“ Goethe „in hohen Prächten“ (GKFA 9.1, 283), also mit einer morgendlichen Erektion, die an seiner Männlichkeit keinen Zweifel lässt (zur politischen Kodierung des Geschlechts im Roman siehe Schöll 2002). Im Exil rückt die politische Dimension der Frage nach dem körperlichen (sex) wie kulturellen Geschlecht (gender), wie sie schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen oder im Essay Friedrich und die große Koalition (1914) (siehe Kurzke 1999, 244ff.) aufgeworfen wurde, nun immer deutlicher in den Fokus. Dies wird evident an einem der wichtigsten Essays Thomas Manns aus der Zeit der Emigration, Bruder Hitler (1939). Hitler wird in diesem Text weniger auf politischer, sondern vielmehr auf kultureller Ebene vernichtet; er wird als ein Phänomen, ein „Vorkommnis“ (GW XII, 851) vorgeführt und destruiert. Auf keinem Gebiet habe Hitler etwas zustande gebracht: Als Künstler sei er dilettantisch gescheitert, als Politiker nur ein Komödiant und im Gegensatz zu einem wahrhaft „großen Mann“ wie Napoleon nur ein erbärmlicher Feigling. Hitler wird sowohl die Größe als auch die Männlichkeit abgesprochen, er wird als verweichlicht und effeminiert charakterisiert, zudem als amoralisch; gemäß des im Ehe-Essay konstruierten Dualismus steht er damit auf Seiten der nicht-männlichen Männlichkeit, der Homoerotik. Der „große Mann“ Napoleon sei der verkörperte „Weltgeist zu Pferde“ gewesen, so proklamiert Thomas Mann in seinem Essay, Hitler hingegen könne nicht einmal ein Pferd reiten. Thomas Manns politische Entmännlichungsstrategie gipfelt im Bild des impotenten Hitler, der „[…] auch rein technisch und physisch nichts kann, was Männer können, kein Pferd reiten, kein Automobil oder Flugzeug lenken, nicht einmal ein Kind zeugen […].“ (GW XII, 847) Die Tatsache, dass er selbst weder reiten kann noch über einen Führerschein verfügt, bremst Thomas Mann nicht in seinem politischen Eifer. Goethe und er selbst, die Nationalschriftsteller und Repräsentanten des wahren Deutschland, stehen auf der einen, der ,weibische‘ Dilettant Hitler auf der anderen Seite. Was diese Deklaration der irrationalistischen, faschistischen Weltsicht als ,weiblich‘ über Thomas Manns Frauenbild sagt, wäre zu diskutieren. Im Spätwerk verändert sich der Blick auf die Geschlechterfrage noch einmal, der Zusammenhang von Eros, Krankheit und Künstlertum erscheint in neuem Licht. Adrian Leverkühn infiziert sich durch den geschlechtlichen Akt mit der geliebten Prostituierten wissentlich mit der Syphilis (zur Syphilis als ästhetische und politische Metapher siehe ausführlich Schonlau 2005). Auf diese Weise steigert er seine künstlerische Schaffenskraft ins Geniale, zugleich besiegelt er durch den Sexualakt jedoch den Pakt mit dem Teufel, der ihm ein absolutes Liebesverbot auferlegt. Sei es das homoerotische Begehren Rudi Schwerdtfegers oder die unschuldige Liebe zu seinem Neffen, dem kleinen Nepomuk: Wer auch immer von Leverkühn geliebt wird, muss sterben. Auffallend ist dabei, dass nicht die Frau stirbt, Marie Godeau, die Leverkühn heiraten will – und die er wohl ebenfalls mit der Syphilis infiziert hätte, woran er keinen Gedanken verschwendet (Schonlau 2005, 453) –, sondern eben der Freund Schwerdtfeger, der Marie für Leverkühn als Braut werben soll. Das eigentliche Objekt des Begehrens ist nicht die potentielle

Bruder Hitler

Politische Entmännlichung

Das Liebesverbot des Künstlers

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IV. Themen und Schreibverfahren

Der Gezeichnete als Ausgezeichneter

Ehefrau, sondern der Liebesbote. Leverkühn, der künstlerisch Zeugungskräftige, steht als geschlechtliches Subjekt auf der Seite der Unproduktiven, die dem Tod nahe stehen. Wenig überraschend stirbt er, wie Aschenbach aus Der Tod in Venedig, sehr früh. Mit dem Spätwerk schließt sich insofern der Kreis, als hier erneut die Künstlerfigur als homoerotisch und somit als lebensuntauglich charakterisiert wird. Goethe, der politisch Korrekte, wurde im Exilroman Lotte in Weimar als ein Entsagender gezeichnet (Schöll 2002, 177f.); auch der Lebenskünstler Joseph hatte der Versuchung widerstanden. Sie stellen den Willen des vernunftbegabten Subjekts jener „Heimsuchung“ entgegen, als die der Einbruch der Macht des Eros in ein ansonsten geordnetes Leben bei Thomas Mann erscheint. Leverkühn hingegen gibt sich hin und wird dafür bestraft – und zugleich belohnt mit dem, was jeder Künstler sich wünscht: ein geniales Werk. Der körperlich, geschlechtlich, gesundheitlich oder ethnisch Stigmatisierte ist in Thomas Manns Werk oft der Besondere, der Begehrenswerte, der Umschwärmte. Der Gezeichnete bleibt auch im Spätwerk noch der Ausgezeichnete.

4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt Die Frage nach Thomas Manns Modernität

Moderne als Epoche und Wertesystem

„Klassische Moderne“

Die Frage, ob Thomas Mann ein genuin moderner Schriftsteller sei, wurde – von ihm selbst wie von der Forschung – nicht immer eindeutig beantwortet. Keine Überblicksdarstellung über die deutsche Moderne kommt ohne seinen Namen aus, selten rangiert er dabei jedoch in der ersten Reihe, die von Autoren wie Franz Kafka, Alfred Döblin, Hermann Broch, Gottfried Benn oder Bertolt Brecht besetzt wird. Thomas Mann selbst hat sich mal zur Moderne bekannt, mal sich zum letzten Vertreter einer untergehenden Epoche stilisiert und damit als nicht-modern eingestuft. Die wissenschaftliche Zuordnung des Werks Thomas Manns zur Moderne ist abhängig von deren Definition, insofern, als man „die Moderne“ sowohl als eine Epoche als auch als ein Wertesystem, eine „Ideologie“ betrachten kann (Zima 2001, 23). Der Kompromiss zwischen diesen beiden Lesarten besteht darin, die literarische Moderne als einen eingrenzbaren zeitlichen Rahmen zu verstehen, innerhalb dessen sich ein neues Weltbild und neue Werte etablierten, die Gegenstand der Literatur wurden. Damit einher geht die Herausbildung einer neuen literarischen Ästhetik. Wurde der Begriff der „Moderne“ traditionell auf die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts angewandt, so ist man in jüngerer Zeit in der Forschung eher geneigt, ihren Beginn bereits in der „Sattelzeit“ (Koselleck) um 1800 anzusetzen. Um die ursprünglich gemeinte Epoche von etwa 1890 bis 1933 davon abzugrenzen, bezeichnet man diese Zeit auch als „Klassische Moderne“. Dieser Begriff scheint einen Widerspruch zu eröffnen: Sind das „Moderne“ und das „Klassische“ nicht unvereinbar? Helmut Koopmann hat gezeigt, dass die Bezeichnung „Klassische Moderne“ gerade im Hinblick auf die Texte Thomas Manns durchaus ihre Berechtigung hat. Er stellt Thomas Mann in die Reihe jener modernen Autoren, die innovative Literatur, neue ästhetische Konzepte und avantgardistische Poetiken kreieren und sich zugleich explizit auf das Vergangene und klassische Werte beziehen (Koop-

4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt

mann 1983, 9ff.). „Modern“ zu sein, bedeutet nicht nur eine rigorose Abkehr von der Tradition, dem vermeintlich ,Veralteten‘ (Grimminger 1995, 14f.), sondern durchaus auch die Bezugnahme auf das Klassische und dessen kreative Anverwandlung innerhalb des eigenen Werks. Thomas Mann rekurriert auf das Alte Ägypten, die griechische Antike, das Mittelalter, die Renaissance oder die Goethezeit, doch er tut es auf moderne Weise, indem er anhand der historischen Referenz grundsätzliche Fragen der eigenen Gegenwart verhandelt. Deutlich wird dies etwa an den Romanen Joseph und seine Brüder, Der Erwählte oder Lotte in Weimar. Auffallend ist zudem, dass Thomas Mann immer wieder auf jene Epoche um 1800 Bezug nimmt, die wir als Ausgangspunkt des modernen Denkens und eines modernen Kunstverständnisses deklarieren – die Zeit Goethes, Schillers und der Romantiker. Rechnet man Thomas Mann zu ,den Modernen‘, so folgt daraus die Frage, was seine Texte – in weltanschaulicher, thematischer, ästhetischer Hinsicht – als modern klassifiziert. In mancher Hinsicht erscheint die Abgrenzung zunächst einfacher, allerdings nur auf den ersten Blick. Erklärt man die Naturalisten mit ihrem Interesse für die detailgenaue Darstellung einer oft hässlichen und grausamen Realität zu den Begründern der Klassischen Moderne, so ist der Gegensatz zu Thomas Manns Texten evident. Seine Literatur steht noch den ästhetischen Grundsätzen der poetischen Realisten des 19. Jahrhunderts nahe, ähnelt im Tonfall noch vielfach der Literatur von Theodor Storm und Theodor Fontane. Thomas Manns Texte schildern nicht den technisierten Alltag der modernen Großstadt, das beschleunigte Leben der jungen Industriegesellschaft. Stattdessen erzählt etwa der Roman Der Zauberberg vom gänzlich entschleunigten Dasein der Kurgäste in Davos, einem entlegenen Ort in den Bergen. Deren geruhsam-altmodische Lebensform lässt sich dann allerdings umso gründlicher verwirren, wenn die moderne Technik darin Einzug hält: etwa in Form des Röntgenapparats, der das Innerste durchleuchtet, in Form des Kinos im „Bioskop-Theater“, das die Sinne verwirrt (Hörisch 1995, 790f.; Joseph 1996, 138ff.), oder in Form des Grammophons, das den Helden Hans Castorp in seinen Bann zieht. Der moderne Autor Thomas Mann interessiert sich nicht, wie die Naturalisten, für das Milieu der Weber, der Arbeiter, der proletarischen Klasse; seine Welt ist vielmehr die des gehobenen Bürgertums. Doch anders als etwa Fontane bedenkt er diese in seiner Darstellung nicht mit milde lächelndem Spott, sondern mit einer vielfach kalt und scharf vorgetragenen Ironie (Swales 1998). Gerade weil seine Darstellung noch einem poetischen Realismus verpflichtet ist, erscheint der Einbruch von verzehrender Leidenschaft, Krankheit und Tod in das Dasein seiner Protagonisten umso drastischer. Gerade noch spielte der verwöhnte und etwas verweichlichte Bürgersohn Hanno Buddenbrook eine Phantasie auf dem Klavier, da befällt ihn der Typhus und rafft ihn in kürzester Zeit dahin. Die Erzählinstanz des Romans Buddenbrooks muss dieses Sterben nicht eigens erzählen; viel schockierender auf den Leser wirkt der Einschub eines Kapitels, das sachlich, detailliert und in der unsentimentalen Sprache der Medizin den Verlauf der Krankheit beschreibt. Eingeleitet wird es mit den trockenen Worten: „Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt“, die innerhalb des Kapitels dann noch einmal wiederholt werden (GKFA 1.1, 828, 831) Der Rest des grausamen Sterbens des kleinen Hanno bleibt der Phantasie des Lesers überlassen – ein Umstand,

Moderne Literatur

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IV. Themen und Schreibverfahren

Moderne und Ironie

Der Dualismus von Geist und Leben

Ironie versus Moral in den Betrachtungen

der sich wohl keineswegs mildernd auswirkt. Der trockene Sarkasmus des Kapitels entfaltet seine Wirkung in der Vorstellung des Rezipienten. Ironie ist ein genuines Charakteristikum modernen Denkens und Schreibens. Thomas Mann betrachtet sie, geschult an Friedrich Nietzsche, als ein Medium der „Intellektualisierung, Psychologisierung, Literarisierung und auch Radikalisierung“ des geistigen und künstlerischen Daseins (Behler 1997, 279). Die literarische Ironie schafft Distanz zwischen dem Erzählenden und dem Erzählten, sie ermöglicht einen nüchternen, oft gnadenlosen Blick auf die Welt und ihre Bewohner. Dass dieses ,Durchleuchten‘ der Realität zwar zur Erkenntnis führt, diese dem Menschen aber nicht immer wohl tut, wusste schon Tonio Kröger in der gleichnamigen Erzählung aus dem Jahr 1903. Im Gespräch mit der Malerin Lisaweta bekennt er seinen Überdruss, als Literat immer auf der Seite des kalten, analysierenden Geistes zu stehen: „Ach ja, die Litteratur [sic] macht müde, Lisaweta! In menschlicher Gesellschaft kann es einem, ich versichere Sie, geschehen, daß man vor lauter Skepsis und Meinungsenthaltung für dumm gehalten wird, während man doch nur müde und muthlos ist … Dies zur ,Erkenntnis‘. Was aber das ,Wort‘ betrifft, so handelt es sich da vielleicht weniger um eine Erlösung als um ein Kaltstellen und Aufs-Eis-legen der Empfindung? Im Ernst, es hat eine eisige und empörend anmaßliche Bewandtnis mit dieser prompten und oberflächlichen Erledigung des Gefühls durch die litterarische Sprache. Ist Ihnen das Herz zu voll, fühlen Sie sich von einem süßen oder erhabenen Erlebnis allzu sehr ergriffen: nichts einfacher! Sie gehen zum Litteraten, und Alles wird in kürzester Zeit geregelt sein. Er wird Ihnen Ihre Angelegenheit analysieren und formulieren, bei Namen nennen, aussprechen und zum Reden bringen, wird Ihnen das Ganze für alle Zeit erledigen und gleichgültig machen und keinen Dank dafür nehmen. Sie aber werden erleichtert, gekühlt und geklärt nach Hause gehen und sich wundern, was an der Sache Sie eigentlich soeben noch mit so süßem Tumult verstören konnte.“ (GKFA 2.1, 276f.) Tonio Kröger beschuldigt den Künstler, den „kalten und eitlen Charlatan“ (GKFA 2.1, 277), der Zerstörung aller wahrhaften Empfindung durch die Literatur – der Zerstörung des Lebens durch den Geist. Dabei sehnt sich der geistige Künstler nach nichts mehr als nach dem Leben und seinem authentischen Ausdruck; auch dies bekennt Kröger im Gespräch mit seiner Freundin (GKFA 2.1, 278). Thomas Mann greift den Gedanken, dass Geist und Kunst dem Leben in einem unauflösbaren Dualismus gegenüberstehen, in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) auf. In diesem umfangreichen weltanschaulichen und poetologischen Essay diskutiert er den Gegensatz von Geist und Leben wiederholt und extensiv und stellt ihn in einen Zusammenhang mit der Ironie: „Das Verhältnis von Leben und Geist ist ein äußerst delikates, schwieriges, erregendes, schmerzliches mit Ironie und Erotik geladenes Verhältnis […]. Sehnsucht nämlich geht zwischen Geist und Leben hin und wieder. Auch das Leben verlangt nach dem Geiste. Zwei Welten, deren Beziehung erotisch ist […].“ (GKFA 13.1, 617f.) Der Geist sehnt sich nach dem Leben wie der intellektuelle Tonio Kröger sich nach dem naiven Hans Hansen und der blonden Inge Holm sehnt (siehe Kapitel IV.1.). Doch auch umgekehrt sind die ,blonden‘ Bürger bereit, dem Künstler und Intellektuellen eine besondere Rolle innerhalb der Ge-

4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt

sellschaft zuzuschreiben und ihn mit Ehrungen zu bedenken. Gleichwohl, tatsächlich zueinander finden Geist und Leben nicht, auch wenn die Ironie zwischen ihnen vermittelt – was sie immer in dem Bewusstsein tut, dass eine Überbrückung des Grabens letztlich nicht möglich ist: „Ironie aber ist immer Ironie nach beiden Seiten hin; sie richtet sich gegen das Leben sowohl wie gegen den Geist, und dies nimmt ihr die große Gebärde, dies gibt ihr Melancholie und Bescheidenheit.“ (GKFA 13.1, 622) In den Betrachtungen kennzeichnet Thomas Mann diese melancholische Ironie als ein Medium des Konservatismus. Dem (politisch links stehenden) „Zivilisationslitteraten“ spricht er in seinem Essay die Fähigkeit zur Ironie – und damit zur Kunst an sich – ab. Dessen politisches Moralisieren widerspreche dem feinen Sinn der Ironie. Diese politische Bewertung der Ironie kehrt im Roman Der Zauberberg wieder, an dem Thomas Mann vor und nach den Betrachtungen arbeitet und der 1924 erscheint (siehe Kapitel V.3.). Ironisch agiert die Erzählinstanz dieses Textes gegen beide Seiten, gegen die dem Leben zugeordneten Naiven wie die Intellektuellen. Der Vertreter des vernunftgesteuerten und linksaufgeklärten Humanismus, Lodovico Settembrini, warnt den auf dem Zauberberg gestrandeten und zunächst recht unbedarften Hans Castorp immer wieder vor der verderblichen Dekadenz der Sanatoriumsgesellschaft. Deren Klagen über ihre körperlichen Leiden hält er insofern für zynisch, als ihnen doch gerade die Krankheit erlaube, einen liederlichen und jeder arbeitsamen Moral abholden Lebenswandel zu pflegen: „Glauben Sie ihnen nicht, Ingenieur, glauben sie ihnen niemals, wenn sie schimpfen! Das tun sie alle ohne Ausnahme, obgleich sie sich nur zu sehr zuhause fühlen. Führen ein Lotterleben und erheben auch noch Anspruch auf Mitleid, dünken sich zur Bitterkeit berechtigt, zur Ironie, zum Zynismus! […] Ach ja, die Ironie! Hüten Sie sich vor der hier gedeihenden Ironie, Ingenieur! Hüten Sie sich überhaupt vor dieser geistigen Haltung! Wo sie nicht ein gerades und klassisches Mittel der Redekunst ist, dem gesunden Sinn keinen Augenblick mißverständlich, da wird sie zur Liederlichkeit, zum Hindernis der Zivilisation, zur unsauberen Liebelei mit dem Stillstand, dem Ungeist, dem Laster.“ (GKFA 5.1, 335f.) Settembrinis Sprechen – sein Sprechen über Ironie wie sein eigenes ironisches Sprechen – macht deutlich, dass es verschiedene Arten der Ironie gibt: eine dekadente, larmoyant-spöttische Form, wie sie die Sanatoriumsinsassen pflegen, und eine aufklärerisch-humanistische Ironie mit erzieherischem Impetus, die Settembrini selbst immer wieder benutzt, um seinen pädagogischen Einfluss auf Hans Castorp geltend zu machen. Dieser zeigt sich, wie so oft, nicht recht dankbar für den väterlichen Rat seines Lehrmeisters, im Gegenteil: Castorp revoltiert, wenn auch nur in Gedanken, gegen dessen Auslegung der Ironie. Wäre sie in der von Settembrini vorgeschlagenen Form denn überhaupt noch Ironie? „Aber eine Ironie, die ,keinen Augenblick mißverständlich‘ ist, – was wäre denn das für eine Ironie, frage ich in Gottes Namen […]? Eine Trockenheit und Schulmeisterei wäre sie!“ (GKFA 5.1, 336) Als ein Medium politischer Pädagogik wird die Ironie langweilig und schulmeisternd, diese Haltung teilt Hans Castorp mit dem Autor der Betrachtungen. Doch die Erzählinstanz des Romans lässt Hans Castorps Gedanken nicht einfach stehen, sondern kommentiert sie ihrerseits ironisch:

Formen der Ironie in Der Zauberberg

Settembrinis Aufklärertum

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IV. Themen und Schreibverfahren

Selbstreferentielle Ironie

Ironie der Erzählinstanz

„So undankbar ist Jugend, die sich bildet. Sie läßt sich beschenken, um dann das Geschenk zu bemäkeln.“ (GKFA 5.1, 336) Die Ironie der Erzählinstanz im Zauberberg ist eine „Ironie nach beiden Seiten hin“, wie es in den Betrachtungen hieß. Sie richtet sich gegen die Vertreter des Geistes ebenso wie gegen die des Lebens, doch sie geht einen entscheidenden Schritt weiter: Sie richtet sich auch gegen die narrative Stimme selbst. Immer wieder tritt ,der Erzähler‘ hervor, gibt sich als Erzählmedium zu erkennen und untergräbt die eigene Position und Glaubwürdigkeit. So berichtet er etwa immer wieder aus der Perspektive seiner zentralen Figur, Hans Castorp, und übernimmt dessen Sichtweise, nur um diese im nächsten Satz als naiv zu entlarven. Im Kapitel „Exkurs über den Zeitsinn“ etwa reflektiert die Erzählinstanz ausführlich über Kurz- und Langeweile, warnt vor der gleichförmigen Routine des Lebens auf dem Zauberberg, die den realen Zeitsinn einschläfere, und schreibt am Ende diese Gedanken Hans Castorp zu („Diese Bemerkungen werden hier nur deshalb eingeführt, weil der junge Hans Castorp ähnliches im Sinn hatte“; GKFA 5.1, 161). Ironischerweise werden also die Gedanken über den Zeitsinn ausgerechnet der Figur in den Mund gelegt, die sich von der zeitlosen Langeweile des Zauberberg gerade einlullen lässt. Schon zu Beginn des Romans Der Zauberberg, im „Vorsatz“, hatte sich die Erzählinstanz selbst einen „raunenden Beschwörer des Imperfekts“ genannt, den Gegenstand ihres Erzählens in die Nähe des Märchens gerückt und zudem erklärt, dass der Held des Romans ein eher simples Gemüt sei und an sich wenig Erzählenswertes an sich habe. Am Anfang des Romans steht somit eine Art systematischer Antiwerbung der Erzählstimme für das eigene Unternehmen, indem sie die eigene Zuverlässigkeit dekonstruiert („Märchen“) und die eigene Geschichte als langweilig deklariert. Doch „Langeweile“ ist eine zweideutige zeitliche Kategorie in diesem Text: Sie beschreibt nicht nur die müßige Trägheit und Selbstverdrossenheit der Kurgäste, von der sich Hans Castorp zunehmend anstecken lässt, sondern verweist auch auf die lange Dauer der Geschichte – auf die schier endlosen sieben Jahre der erzählten Zeit wie auf das gemächliche Tempo der Erzählzeit. In seiner Einführung in den ,Zauberberg‘ (1939) für Studenten der Princeton University nennt Thomas Mann seinen Roman einen „Zeitroman im doppelten Sinn“: zum ersten im historischen Sinne, indem er die europäische Vorkriegsgesellschaft satirisch porträtiert; zum zweiten insofern, als er die Zeit selbst zu seinem Gegenstand macht (GW XI, 611f.). Dieser zweite Aspekt bezieht sich nicht nur auf die Tatsache, dass Hans Castorp im Roman wiederholt über die Zeit und ihr Vergehen sinniert, sondern dass auch die Erzählinstanz die zeitliche Dimension ihres eigene Tuns selbstreferentiell betrachtet: „Das Buch ist selbst, wovon es erzählt; denn indem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an […].“ (GW XI, 612) Immer wieder lässt sich auch die Erzählinstanz von der Zeitvergessenheit der Zauberberg-Atmosphäre anstecken: „Tal und Berge im Schnee seit sechs Monaten schon? Seit sieben! Die Zeit schreitet fort, während wir erzählen, – unsere Zeit, die wir dieser Erzählung widmen, aber auch die tief vergangene Zeit Hans Castorps und seiner Schicksalsgenossen dort oben im Schnee […].“ (GKFA 5.1, 524)

4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt

Auch die Erzählinstanz, so die Ironie des Romans, versinkt in der verschwommenen Zeitlosigkeit der märchenhaft-mythischen Geschichte, die sie erzählt. Was sie dabei als eine moderne Erzählstimme auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie unablässig selbstreferentiell auf das eigene Tun verweist. Diese ironische Selbstbezüglichkeit verbindet sie mit den anderen Erzählstimmen Thomas Manns. Zu Beginn des Romans Der Erwählte (1951) etwa sinniert der Erzähler, der die Geschichte des heiligen Papstes Gregorius berichtet (die schon im Roman Doktor Faustus erwähnt wurde), darüber, dass in Rom plötzlich die Glocken läuten, obwohl kein Glöckner sie in Gang gesetzt habe: „Wer also läutet die Glocken Roms? – Der Geist der Erzählung. […] Er ist luftig, körperlos, allgegenwärtig, nicht unterworfen dem Unterschiede von Hier und Dort. Er ist es, der spricht: ,Alle Glocken läuteten‘, und folglich ist er’s, der sie läutet.“ (GW VII, 10) Der „Geist der Erzählung“ habe sich in seiner Person auf ein „Ich“ zusammengezogen, behalte gleichwohl jedoch viel von seiner Abstraktheit, wisse man zwar, an welchem Ort, doch nicht genau, wann er schreibe: „Fragt man mich neckend oder boshaft, ob ich selbst etwa zwar wisse, wo ich bin, aber nicht wann, so antworte ich freundlich: Da gibt es überhaupt nichts zu wissen, denn als Personifizierung des Geists der Erzählung erfreue ich mich jener Abstraktheit, für die ich nunmehr das zweite Merkmal gebe.“ (GW VII, 14) Mit dem zweiten Merkmal ist die Sprache des Erzählers (des irischen Mönchs Clemens) gemeint, die sich aus vielen Idiomen bediene und in seiner Person zu einer Sprache – der Sprache an sich – zusammenrinne. Die Haltung der als „Ich“ erzählenden Instanz in Der Erwählte ist nur vorgeblich eine bescheidene: Als Personifizierung der Metainstanz „Geist der Erzählung“ nimmt der erzählende Mönch alle Freiheiten für sich in Anspruch, er erzählt die Geschichte Gregors mit großem Sinn für Humor und Ironie in seiner Version. Dabei zieht er sich als Ich-Erzähler immer wieder zurück und berichtet in der Er-Form von Ereignissen und Gesprächen, bei denen er als historischer Erzähler nicht anwesend war. Ja, er erzählt selbst Gedanken und Gefühle, die er eigentlich nicht kennen kann – und spielt auf diese Weise ironisch mit jenem „Geist der Erzählung“, als dessen Verkörperung er sich ausgibt. Die große Erzählforscherin Käte Hamburger nennt die narrative Konstruktion des Romans Der Erwählte „eine der köstlichsten und raffiniertesten Erfindungen moderner Erzählkunst“ und „eine humoristische Persiflage des Erzählproblems“ an sich (Hamburger 1969, 36). Die Erzählinstanzen Thomas Manns sind die wesentlichen Träger und Produzenten jener Ironie im Text, die dadurch entsteht, dass nicht nur die Figuren mit spöttischer Distanz betrachtet werden, sondern auch die Erzählinstanz sich selbst als erzählendes Medium immer wieder humoristisch-kritisch in den Fokus rückt. Peter Gay erklärt in seiner umfangreichen Studie Die Moderne „die Verpflichtung auf eine rückhaltlose Selbsterforschung“ zu einem zentralen Merkmal modernen Denkens und Schreibens (Gay 2008, 25). Im Hinblick auf ihren hohen Grad narrativer Selbstreferentialität sind Thomas Manns Texte somit eindeutig als „modern“ zu deklarieren. Dies setzt sich auf der Ebene der Inszenierung des realen auktorialen Ichs fort. Auch Thomas Mann als Autor weiß sich der „rückhaltlosen Selbsterforschung“ verpflichtet, dafür spricht schon sein intensives Interesse an der

„Der Geist der Erzählung“

Der Erwählte als moderner Roman

Auktoriale Ironie

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IV. Themen und Schreibverfahren

Humor und Ironie

Humor statt Ironie

Joseph und seine Brüder

Psychoanalyse Sigmund Freuds (siehe Kapitel IV.2.). Thomas Mann hat sich immer wieder – und immer wieder mit ironischer Distanz – mit dem eigenen Schreiben und der eigenen Position als Autor auseinandergesetzt. Dabei thematisiert er nicht zuletzt auch seinen Umgang mit Humor und Ironie, so der Titel eines Beitrags Thomas Manns zu einer Rundfunkdebatte aus dem Jahr 1953. In diesem Text zitiert Thomas Mann zunächst ein Bonmot von Goethe, das lautet, Ironie sei „das Körnchen Salz“, durch welches das Aufgetischte überhaupt erst genießbar werde (GW XI, 801f.). Goethe identifiziere die Ironie mit dem künstlerischen Prinzip an sich – eine Ansicht, die Thomas Mann hier mit vorsichtiger Distanz vorträgt: „Man könnte die Ironie gleichsetzen mit dem Kunstprinzip des Apollinischen, wie der ästhetische Terminus lautet, denn Apollo, der Fernhintreffende, ist der Gott der Ferne, der Gott der Distanz, der Objektivität, der Gott der Ironie – Objektivität ist Ironie – und der epische Kunstgeist“ (GW XI, 802). Diese Zuordnung der Ironie zu Apoll bezieht sich auf den von Nietzsche konstruierten Dualismus zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen (siehe Kapitel IV.2.), und sicherlich hätte sich Thomas Mann zu einem früheren Zeitpunkt in seiner Karriere mit diesem apollinisch-ironischen Kunstgeist identifiziert. Nun, in den 50er Jahren, rückt er von dieser Position explizit ab und macht deutlich, dass er sein Werk lieber unter dem Stichwort des „Humors“ als unter dem der „Ironie“ klassifiziert sehen möchte: „Ironie, wie mir scheint, ist der Kunstgeist, der dem Leser oder Lauscher ein Lächeln, ein intellektuelles Lächeln möchte ich sagen, entlockt, während der Humor das herzaufquellende Lachen zeitigt, das ich als Wirkung der Kunst persönlich höher schätze und als Wirkung meiner eigenen Produktion mit mehr Freude begrüße als das erasmische Lächeln, das durch die Ironie erzeugt wird.“ (GW XI, 802) Im Rückblick versucht Thomas Mann in diesem Radiobeitrag zwei Jahre vor seinem Tod sein gesamtes Werk eher humoristisch denn ironisch zu deuten – eine Deklaration, die für das Frühwerk nicht ganz überzeugend ausfällt. So beschreibt er etwa den spöttischen Ton seines Erstlingsromans Buddenbrooks als „pessimistischen Humor“ (GW XI, 803), ohne dass wirklich deutlich würde, was pessimistischen Humor von Ironie unterscheidet. Stimmiger wirkt diese Selbsteinschätzung als humoristischer Autor, wo sie sich auf das mittlere und spätere Werk bezieht, auf die Romane Joseph und seine Brüder, Der Erwählte und die Vollendung des Felix Krull. In diese Reihe passen zudem, auch wenn Thomas Mann sie nicht explizit nennt, die Erzählungen Das Gesetz (1943) und Die Betrogene (1953). Der Roman Joseph und seine Brüder, der zwischen 1933 und 1943 in vier Bänden erscheint, zeichnet sich schon durch seine hybride Kombination verschiedenster Kulte und Mythen sowie sein fast schon postmodernes Spiel mit den Quellen als ein moderner Text aus. Ironie entsteht hier nicht nur durch den freundlich-spöttischen Blick der Erzählinstanz auf die Figuren und sich selbst. Ein humoristischer Effekt ergibt sich auch dadurch, dass Joseph, die zentrale Figur der Handlung, selbst ein Erzähler ist. Während sein Vater, der Patriarch Jaakob, auf Wanderschaft Mythen und Legenden erzählte, um auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hat Joseph, der mit einem üppigen Mundvorrat auf Reisen geht, diese Form des Broterwerbs nicht mehr nötig. Dennoch macht auch er in den Ortschaften unter-

4. Moderne, Ironie und auktoriales Subjekt

wegs Station, um am zentralen Versammlungsort, dem Dorfbrunnen, Geschichten zu erzählen (GW IV, 533f.) – nicht mehr in der Hoffnung auf Brot, sondern um des Erzählens willen. Für Joseph ist das Erzählen Selbstzweck, es ist Teil seines narzisstischen Identitätsentwurfs (Schöll 2004, 235f.). Joseph versteht Gottes Welt mitsamt seinem eigenen Dasein als ein Narrativ, das es besonders elegant auszugestalten gilt, wie er später seinem Freund Mai-Sachme erklärt: „Was für eine Geschichte, Mai, in der wir sind! Es ist eine der besten! Und nun kommt’s darauf an und liegt uns ob, daß wir sie ausgestalten recht und fein und das Ergötzlichste daraus machen und Gott all unseren Witz zur Verfügung stellen. Wie fangen wir’s an, einer solchen Geschichte gerecht zu werden? Das ist’s, was mich so aufregt.“ (GW IV, 1586) Wie der erzählende Mönch in Der Erwählte verlässt sich auch Joseph nicht allein auf den abstrakten „Geist der Erzählung“, nicht auf Gott als eine Art transzendentale Meta-Erzählinstanz, sondern greift selbst gestaltend in die Erzählung ein. Diese Weltsicht, das eigene Dasein als Inszenierung zu betrachten, teilt Joseph mit einem anderen, ebenso narzisstischen wie schelmischen Protagonisten Thomas Manns: Felix Krull. Beide Figuren zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich ihrer gesellschaftlichen Rollen sehr bewusst sind und damit spielen. Sie sind beide moderne literarische Helden, weil sie ihre Identität nicht als Substanz, sondern als Prozess begreifen; ihr Ich ist keine fest gegebene Entität, sondern ein Konstrukt – in dieser Hinsicht weisen die Figuren Joseph und Krull bereits voraus auf die Subjekttheorien der Postmoderne. Beide Protagonisten lassen sich als Künstlergestalten verstehen, insofern, als das eigentliche Produkt ihrer Kunst sie selbst sind. Als Lebenskünstler gestalten sie ihr Dasein wie eine artistische performance und beherrschen die Medien der Selbstinszenierung perfekt. Und beide nutzen Schopenhauers Idee von der Welt als Vorstellung des Subjekts, um ihre Umgebung nach ihren Absichten zu gestalten und ihre Mitmenschen zu manipulieren (Schöll 2005, 28). Die Antwort auf die Frage, warum ihnen die Welt dennoch gewogen ist und sie Erfolg haben, ist in ihrem Charme und ihrem Humor zu suchen. Und diese beiden Eigenschaften hängen wiederum nicht unmaßgeblich mit dem hohen Grad an Selbstreferentialität und Selbstironie zusammen, der für Joseph und Felix Krull charakteristisch ist. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sind fast ein Lebensprojekt Thomas Manns (Sprecher 2005). Die ersten Teile des Romans entstehen zwischen 1910 und 1913, sie erscheinen mit dem Untertitel Buch der Kindheit 1922. In der Zeit von 1951 bis 1954 schreibt Thomas Mann an der Fortsetzung, die unter dem Titel Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil 1954 publiziert wird. Thomas Mann arbeitet also bis kurz vor seinem Tod an diesem Text, der dennoch Fragment bleibt. Felix Krull ist eine der ironischsten Figuren Thomas Manns, nicht nur, weil der Roman mit einigen Höhepunkten humoristisch-kritischer Erzählkunst aufwartet – etwa der berühmten Musterungsszene im zweiten Buch, in der Felix Krull seine Ausmusterung aus dem Militärdienst durch eine meisterhafte Schauspielleistung erwirkt (GKFA 12.1, 101ff.). Eine ironische Steigerung wird auch dadurch bewirkt, dass Felix Krull der Ich-Erzähler seiner eigenen Geschichte ist. Er berichtet seine Lebensgeschichte in Form von „Bekennt-

Meister der eigenen Geschichte

Identität als performance

Felix Krull als Erzähler seiner selbst

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IV. Themen und Schreibverfahren

Die Ironie des Krull-Textes

Humoristische Modernität

nissen“ und reiht sich damit ein in die lange Tradition einer Gattung, die von den Confessiones des Augustinus (um 400 n. Ch.) bis zu den Confessions von Rousseau (1782) reicht und zu der sich auch Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811ff.) zuordnen ließe. Felix Krull aber ist kein Kirchenvater, kein Kulturphilosoph oder deutscher Nationaldichter, sondern ein Hochstapler, ein Schelm und Komödiant. Seine Memoiren sind auch nicht das möglichst schonungslose Bekenntnis eines realen Daseins oder (wie bei Goethe) die spielerische fiktionale Gestaltung einer realen Autobiographie. Felix Krulls Autobiographie ist vollständig fiktiv, und ihr Ich-erzählender Autor legt auch kein Bekenntnis im klassischen moralischen, also selbstkritischen Sinne ab, sondern berichtet mit wenig Skrupeln von seiner manipulativen Gestaltung der Welt. Schon der Titel von Thomas Manns Roman birgt also eine ironische Wendung. Die Ironie des Textes ist vielfach en detail ergründet worden (in jüngerer Zeit z.B.: Grabowsky 2008). Ihr spezifischstes Charakteristikum ist vielleicht in der Tatsache zu finden, dass in diesem Roman auch sehr ernste Themen humoristisch verhandelt werden. Dies geschieht vor allem in den kurz vor Thomas Manns Tod entstandenen Teilen des Felix Krull, die deutlicher philosophisch angelegt sind. Im Gespräch mit Professor Kuckuck etwa, den Felix Krull im Zug nach Lissabon kennenlernt (GKFA 12.1, 299ff.), wird nichts Geringeres als der Ursprung und das Geheimnis des Lebens an sich verhandelt – in einer humoristischen Form, der es nicht an heiligem Ernst fehlt. Käte Hamburger hat in ihrer Studie zum Humor bei Thomas Mann deutlich gemacht, dass sie nicht das Parodistische, Karikaturistische an seinen Texten interessiert, sondern jener ruhige, kluge und immer noch ironisch gefärbte Ton des mittleren und späten Werks. Diese Form der Ironie rückt die Dinge nicht in die Ferne, sondern in die Nähe. Es ist nicht zuletzt dieser Humor des Spätwerks, der Thomas Manns Texte als modern und zugleich als klassisch auszeichnet.

V. Textanalysen 1. Buddenbrooks Thomas Mann beginnt die Arbeit am Roman Buddenbrooks während einer eineinhalbjährigen Italienreise, zu der er 1896 zusammen mit seinem Bruder Heinrich aufgebrochen war – aus der Position der räumlichen Distanz macht er seine Heimatstadt Lübeck zum Schauplatz eines Gesellschaftsromans. Nach Vorarbeiten in Palestrina 1897 beginnt Thomas Mann, nach eigener Auskunft, in Rom mit der Niederschrift (Lübeck als geistige Lebensform 1926, GW XI, 379ff.; zur Entstehungsgeschichte des Romans siehe GKFA 1.2, 14ff.). Der Roman erscheint im Herbst 1901 in zwei Bänden im Verlag Samuel Fischer in Berlin. Sein fulminanter Erfolg und die ungeheure Stofffülle lassen die Tatsache, dass Thomas Mann zum Zeitpunkt der Publikation erst 25 Jahre alt war, umso erstaunlicher erscheinen. Noch der Nobelpreis wird dem Autor 1929 explizit mit dem Verweis auf Buddenbrooks verliehen (Wenzel 1997, 13). Der junge Thomas Mann sammelt eine große Menge an Material für sein Romanprojekt: von historischen Fakten über Informationen zu wirtschaftspolitischen Zusammenhängen und medizinischen Lexikonartikeln bis zum authentischen Rezept für „Plettenpudding“, das seine Tante Elisabeth liefert. Gerade dieser umfangreiche Gehalt des Romans an realen Fakten führte immer wieder zu Fehldeutungen des Textes als „Schlüsselroman“. Thomas Mann zeichnet Stammbäume, notiert die Lebensdaten seiner Figuren, berechnet die Vermögensverhältnisse der fiktiven Familie Buddenbrook und entwirft detaillierte chronologische Pläne für die Romanhandlung – und schreibt sich zugleich in ein Netzwerk bestehender Bilder und Texte mit etwas ganz Eigenem ein (Bohnen 2002). Auf diese Weise entsteht ein enormes Konvolut an Notizen, das die neue kommentierte Frankfurter Ausgabe (GKFA) erstmals fast vollständig abdruckt (GKFA 1.2, 421ff.). Dass sich in die komplizierten Berechnungen Manns zahlreiche Fehler eingeschlichen haben, ist angesichts des Umfangs des zu organisierenden Materials wenig verwunderlich. Der Untertitel des Romans, Verfall einer Familie, macht unmissverständlich deutlich, worum es geht. Schon vor Beginn der Lektüre ist dem Leser somit klar, wohin sich diese Familie entwickeln wird – Abwärts lautet entsprechend Manns ursprüngliche Idee für den Titel, wie er 1897 in einem Brief aus dem italienischen Palestrina an seinen Freund Otto Grautoff berichtet (GKFA 1.2, 14f.). Bereits zuvor, im Jahr 1895, hatte er dem Freund im Bezug auf die eigene Familiengeschichte und die Entwicklungslinie der drei Brüder Heinrich, Thomas und Victor geschrieben: „Das nennt man Degeneration. Aber ich finde es verteufelt nett.“ (GKFA 2.1, 16) Dieses Motto ließe sich auf den Roman übertragen, der zwar die Geschichte des degenerativen Abstiegs einer Familie erzählt, diesen aber mit größtem narrativem Aufwand und in ästhetischer Hinsicht ausgesprochen lustvoll inszeniert.

Entstehungsgeschichte

Stoff und Materialsammlung

Geschichte eines Abstiegs

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V. Textanalysen Generationenroman

Jean Buddenbrook

Generation und Generativität

Thomas Buddenbrook

Zu Beginn des Romans sind im Salon des Hauses der Buddenbrooks in der Mengstraße in Lübeck drei Generationen versammelt: die Großeltern Johann Buddenbrook Senior und seine Frau Antoinette, der amtierende Konsul Johann (Jean) Buddenbrook und seine Frau Elisabeth (geb. Kröger) sowie die Generation der Enkel, vertreten durch die Kinder des Konsuls, Thomas, Antonie (genannt Tony) und Christian. Als die Romanhandlung einsetzt, sagt Tony gerade den Katechismus auf, was sich insofern als symptomatisch erweist, als ihr Vater, Konsul Buddenbrook, ein ausgesprochen frommer Mann ist – die aktuell herrschende Generation orientiert sich an der Religion. Der jahrhundertealte Geschäftssinn der Familie geht in der Person des amtierenden Konsuls eine etwas zweifelhafte Allianz mit Frömmigkeit und Bibelfestigkeit ein, die als ein erstes Indiz dafür gewertet werden kann, dass die Familie des Beistands bedarf, wenn auch zunächst nur des spirituellen. Als der Konsul zweieinhalb Jahre nach jener Eingangsszene die Geburt seiner Tochter Clara in das Stammbuch der Familie, „ein Heft mit gepreßtem Umschlag und Goldschnitt“ (GKFA 1.1, 55), einträgt, vermerkt er: „Ich habe meiner jüngsten Tochter eine Police von 150 Courant-Thalern ausgeschrieben. Führe du sie, ach Herr! auf deinen Wegen, und schenke du ihr ein reines Herz, auf daß sie einstmals eingehe in die Wohnungen des ewigen Friedens.“ (GKFA 1.1, 57) Geschäftssinn und Frömmigkeit, Geld und Gottesglaube gehen für Jean Buddenbrook wie selbstverständlich Hand in Hand. Der Geschäftssinn sorgt dafür, dass man bei der Geburt der Tochter für deren ökonomische Absicherung sorgt, die Frömmigkeit dafür, dass man bereits bei der Geburt eine Art spirituelle Vorsorge für das Ende des irdischen Daseins trifft. Doch dieses solide Gleichgewicht des kaufmännischen Weltbilds hat sich im Fall des Konsuls Buddenbrook bereits subtil verschoben: Der Eintrag ins traditionsreiche, zugleich aber sachlich-nüchterne Familienbuch gerät ihm zum seitenlangen Frömmigkeitstraktat: „allein die Feder glitt weiter, sie glitt mit feinem Geräusch noch über manches Blatt, sie schrieb von der köstlichen Quelle, die den müden Wandersmann labt, von des Seligmachers heiligen, bluttriefenden Wunden, vom engen und vom breiten Wege und von Gottes großer Herrlichkeit.“ (GKFA 1.1, 57) Das Stammbuch erweist sich als Medium des genealogischen Familiengedächtnisses und zugleich als Ort der Festschreibung des gemeinsamen verbindlichen Wertesystems. Es sind zunächst kaum wahrnehmbare Zeichen, an denen sich die genealogische Abwärtsbewegung ablesen lässt, doch sie werden von Generation zu Generation prägnanter. In Thomas Manns Texten wird die geistige Verfassung einer Person stets deren Körper eingeschrieben, so geschieht es auch in der Genea-Logik der Familie Buddenbrook, die der Roman über vier Generationen und den Zeitraum eines halben Jahrhunderts verfolgt (1835–1877). Mit deren Ende in der vierten der Generationen, die Gegenstand des Romans sind, setzt der Roman auch einen Schlussstrich unter jene Prinzipien der Genealogie und der Generativität, die im 19. Jahrhundert noch als tragfähig galten (Parnes/Vedder/Willer 2008, 314). Der amtierende Konsul hat die Augen seines Vaters geerbt, „wenn ihr Ausdruck auch vielleicht träumerischer war“. Seine Gesichtszüge sind ernster und prägnanter, seine Backen „viel weniger voll“ als die seines Vaters (GKFA 1.1, 11). Thomas Buddenbrook wiederum (fiktive Lebensdaten:

1. Buddenbrooks

1826–1875), der Sohn des Konsuls, dessen Entwicklung der Roman den größten Raum einräumt, neigt noch mehr zum Träumen und Grübeln als sein Vater. Zwar ist Thomas Buddenbrook durchaus noch bereit, seine ganze Kraft dem Kaufmannsberuf zu widmen; allein, die Kräfte schwinden. Thomas Mann inszeniert den Abstieg der Familie Buddenbrook auch als ein Schwinden der physischen Kraft, als „große Müdigkeit“ (Friedrich Nietzsche) der Décadence (Wenzel 1997, 33). Die Lebens- und Gedankenwelt des modernen Kapitalismus, in der sich die Buddenbrooks bewegen, gestaltet Thomas Mann als Welt der „Leistungsethiker“ und der „protestantischen Ethik“ der Arbeit, wie sie die Soziologen Werner Sombart und Max Weber um 1900 beschrieben haben (Wenzel 1997, 29; Vogt 1995, 40f.). Jean Buddenbrook entspricht diesem Prinzip noch insofern, als das Rechnen, Kalkulieren und geschäftliche Taktieren die Grundlagen seines Daseins bilden, doch sein ausgeprägter Gottesglaube erweist sich bereits als gelegentlicher Störfaktor. Im Gegensatz zu seinem Vater hat er Skrupel, seinem Stiefbruder Gotthold das ihm zustehende Erbe streitig zu machen, was der Firma Kapital entzöge: „Vater, diese böse Feindschaft mit meinem Bruder, deinem ältesten Sohne … Es sollte kein heimlicher Riß durch das Gebäude laufen, das wir mit Gottes gnädiger Hilfe errichtet haben … Eine Familie muß einig sein, muß zusammenhalten, Vater, sonst klopft das Übel an die Thür …“ (GKFA 1.1, 53). Er rekurriert hier auf das soeben erst bezogene Wohn- und Geschäftshaus der Familie, das die ökonomische wie moralische Gesundheit der Familie repräsentieren und nach innen wie außen kommunizieren soll. Der Vater des Konsuls tut diese Bedenken als „Flausen“ ab und besteht darauf, dass die Bonität des Geschäfts absolute Priorität habe. Und auch sein Sohn kommt schließlich nach ausführlicher Rechnung zu dem Schluss, dass die Auszahlung des Erbes an den Stiefbruder die ökonomische Potenz des Familienunternehmens zu sehr gefährden würde. Noch setzt sich der Geschäftssinn im Hause Buddenbrook durch. Auch als es gilt, das Vermögen der Firma vor den Machenschaften seines bankrotten Schwiegersohns Bendix Grünlich zu retten, wird der Konsul die Scheidung seiner Tochter Tony forcieren, obwohl dies dem christlichen Moralkodex widerspricht. Gleichzeitig werden jedoch erste Zeichen der Schwäche sichtbar. Das Motto über dem neu erworbenen Haus in der Lübecker Mengstraße, „Dominus providebit“ (GKFA 1.1, 47), „Der Herr wird vorsorgen“, verweist bereits auf eine gewisse Passivität und Schicksalsergebenheit, ein Abgeben der Kontrolle, das mit dem Ideal kaufmännischer Tüchtigkeit nicht mehr recht zusammenstimmt. Jean Buddenbrook ist insofern ein ,Zuspätgekommener‘, als seine weltabgewandte Frömmigkeit eher den Idealen eines Pietismus des 18. Jahrhunderts als denen des kapitalistischen 19. Jahrhunderts entspricht, in dem er lebt und sich behaupten muss (Vogt 1995, 42; Kurzke 2010, 75). Sein Sohn, Thomas Buddenbrook, wird Hilfe und Trost in der anstrengenden Welt der „Leistungsethiker“ nicht mehr in erbauender Bibellektüre suchen, sondern die Philosophie Schopenhauers für sich entdecken – ein Gedankengebäude, das nicht gerade für seinen ermutigenden Optimismus und weltzugewandten Pragmatismus berühmt ist. Der fünfte Teil des Romans beginnt mit der Übernahme der Geschäfte durch Thomas Buddenbrook nach dem Tod des Vaters im Jahr 1855. Da-

Geschäftssinn und christliche Moral

„Dominus providebit“

Die Welt der Leistungsethiker

Vermögensverwaltung

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V. Textanalysen

Die Skepsis Thomas Buddenbrooks

Referenz an Theodor Fontane

Die „gute Partie“

durch rückt der Sohn nicht nur zum Familienoberhaupt auf, sondern avanciert auch zur Hauptfigur des Romans. Zu diesem Zeitpunkt steht das Familienunternehmen, trotz erlittener Verluste, noch in voller Blüte, wie sich mit der Testamentseröffnung erweist: „Die Sache war die, daß des Konsuls hinterlassenes Vermögen beträchtlicher war, als irgendein Mensch geglaubt hatte.“ (GKFA 1.1, 279) Thomas Buddenbrook zeigt sich ehrgeizig, dieses Vermögen nicht nur zu schützen, sondern noch zu vermehren. Doch sein entschlossener Wille wird bereits relativiert durch die testamentarische Verfügung des Vaters, der ihm den langjährigen Mitarbeiter Marcus als Teilhaber an die Seite stellt – als würde die Kraft des Sohnes allein zur Bewältigung der Aufgabe nicht ausreichen. Und tatsächlich ist Thomas Buddenbrook ein Gefährdeter, da Zweifelnder. Ihm fehlt das Gottvertrauen seines Vaters und er ist der erste in der langen Reihe der Buddenbrooks, der es ernsthaft unternimmt, sich selbst und das eigene Tun in Frage zu stellen. Doch existentielle Skepsis ist nicht gut fürs Geschäft. Dabei zeigt Thomas durchaus – ganz im Sinne der kaufmännischen Familientradition – ausgeprägte Züge des Typus des Leistungsethikers. Seine Entschlossenheit beim Tod des Vaters, das Unternehmen der Buddenbrooks zum Erfolg zu führen, zeugt davon ebenso wie seine Bereitschaft, auf die Liebe zu einem mittellosen Blumenmädchen zugunsten einer lukrativen Vernunftehe zu verzichten und die eigenen Emotionen der ökonomischen Ratio zu unterwerfen. Als Thomas Buddenbrook im Begriff ist, nach Amsterdam aufzubrechen, um seine geschäftliche Initiationsreise als wirtschaftliches Familienoberhaupt und frischgebackener Konsul anzutreten (GKFA 1.1, 303), besucht er noch einmal seine Geliebte Anna, „ein Ladenmädchen von außerordentlicher Schönheit“, wie die Erzählinstanz betont (GKFA 1.1, 182), um sich, im Zeichen der gebotenen Vernunft, von ihr zu verabschieden und zugleich die Beziehung zu beenden: „Ja, hörst du, Anna? … heute müssen wir nun vernünftig sein. Es ist so weit. […] Dergleichen muß durchgemacht werden.“ (GKFA 1.1, 182) Die Szene erinnert nicht zufällig an eine der großen Verzichtserzählungen des bürgerlichen Realismus des späten 19. Jahrhunderts, Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888), in dem Bodo von Rienäcker, der im Begriff ist, eine ökonomische Vernunftehe einzugehen, sich endgültig von seiner Geliebten Lene verabschiedet. Aus Amsterdam berichtet Thomas Buddenbrook in einem Brief wenig später erwartungsgemäß über die großartige „Partie“ – er selbst setzt den Begriff, halb ironisch, in Anführungszeichen –, die sich ihm eröffnet: „mein zukünftiger Schwiegervater ist Millionär … […] Ich verehre Gerda Arnoldsen mit Enthusiasmus, aber ich bin durchaus nicht gesonnen, tief genug in mich selbst hinabzusteigen, um zu ergründen, ob und inwiefern die hohe Mitgift, die man mir gleich bei der ersten Vorstellung ziemlich cynischer Weise ins Ohr flüsterte, zu diesem Enthusiasmus beigetragen hat.“ (GKFA 1.1, 317) Gerade mit dieser ironischen Leugnung zeigt der junge Konsul natürlich, dass er bereits über das eigene Tun reflektiert und sich Rechenschaft über seine Motive abgelegt hat. Ihm fehlt die gesunde Naivität, den gesellschaftlichen und ökonomischen Erfolg, den die „Partie“ bedeutet, unhinterfragt zu genießen. Und als würde diese selbstreflexive Skepsis am Erfolg nagen, entpuppt sich auch die geehelichte Frau, Gerda Arnoldsen, eher als

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Künstlernatur denn als repräsentative Konsulin. Zwar verkündet die Erzählstimme noch mit einem gewissen Pathos: „Es war Gerda, die Mutter zukünftiger Buddenbrooks.“ (GKFA 1.1, 333) Doch wendet sich dieses Pathos ins Ironische angesichts der Tatsache, dass die Buddenbrooks schon mit der folgenden Generation aussterben werden. Auch Thomas Buddenbrook selbst ist bereits zu deutlich ein Vertreter der Décadence, als dass er ausreichend Energie für die Triebsublimierung zur Verfügung hätte, die das Leben eines traditionellen Lübecker Kaufmanns erfordert. Von diesem Typus trennt ihn jener Mangel an Urvertrauen, das Fehlen der festen Überzeugung, dass die Dinge ihren geregelten Gang gehen werden und dass es schon seine Richtigkeit habe mit dem Primat der Ökonomie und der symbolischen Ordnung der Gesellschaft. Drei Faktoren stehen Thomas Buddenbrooks wirtschaftlichem Erfolg und damit der Fortführung der Familientradition des zähen Ringens um den stetigen wirtschaftlichen Aufstieg entgegen: seine Affinität zur ästhetischen Inszenierung, seine erkenntnisphilosophische Skepsis sowie jene große physische wie psychische Müdigkeit, die Nietzsche als Kennzeichen der Décadence bestimmt. Schon kurz nach der Übernahme der Geschäfte durch den Sohn ändert sich das geschäftliche Klima im Hause Buddenbrook: „Die Geschäfte hatten nach dem Tode des Konsuls ihren ununterbrochenen und soliden Gang genommen. Aber bald wurde bemerkbar, daß, seitdem Thomas Buddenbrook die Zügel in Händen hielt, ein genialerer, ein frischerer und unternehmenderer Geist den Betrieb beherrschte. Hie und da ward etwas gewagt, hie und da ward der Kredit des Hauses, der unter dem früheren régime eigentlich bloß ein Begriff, eine Theorie, ein Luxus gewesen war, mit Selbstbewußtsein angespannt und ausgenützt …“ (GKFA 1.1, 292). Drei Auslassungspunkte deuten, wie so oft bei Thomas Manns Erzählinstanzen, an, dass hier etwas in Gang gekommen ist und ein Unheil sich ankündigt, dass man noch nicht benennen kann oder will, dessen Vorzeichen jedoch für den aufmerksamen Beobachter bereits wahrnehmbar sind. Thomas Buddenbrook wird leichtsinnig, er ist fleißig und arbeitsam, doch das banale Geschäft des alltäglichen kaufmännischen Rechnens behagt ihm wenig. „Ein Geschäftsmann darf kein Bureaukrat sein!“, erklärt er seinem Geschäftspartner und ehemaligen Schulkameraden Kistenmaker (GKFA 1.1,293). Geschäfte schließt er am liebsten vor Ort plaudernd, „leichthin“ und „en passant“ ab (GKFA 1.1, 294), statt am Schreibtisch des Comptoirs solide zu kalkulieren. In der Generation des Konsuls Thomas Buddenbrook häufen sich die Zeichen des Verfalls. Sein dandyhafter Bruder Christian interessiert sich mehr für das Theater als fürs Geschäft, leidet an einer Vielzahl nervöser Leiden und endet, nachdem er eine Frau geheiratet hat, die nur auf sein Geld aus ist, entmündigt in einer Nervenheilanstalt. Die Schwester, Tony Buddenbrook, gerät gleich zwei Mal an Ehemänner, die es nur auf ihre Mitgift abgesehen haben und Bankrott gehen (Bendix Grünlich) oder als ehrgeizlose Privatiers (Alois Permaneder) für jeden Flirt mit der Köchin zu haben sind. Das Opfer, das Tony für die Familie erbringt, indem sie auf ihre wahre Liebe (Morton Schwarzkopf) verzichtet und die von den Eltern gewünschte Verbindung mit Grünlich eingeht, trägt nicht mehr wie die früheren Opfer der „Leistungsethiker“ zum Erhalt der wirtschaftlichen und familiären Potenz

Abstieg und Décadence

Geschäftlicher Leichtsinn

Christian, Tony und Clara Buddenbrook

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V. Textanalysen

Thomas Buddenbrooks Habitus

„An einem Zahne …“

Kapitalismuskritik

der Familie bei, sondern läuft ins Leere – oder, in der wirtschaftlichen Logik der symbolischen Familienordnung: Ihr Liebesopfer wirft keinen Gewinn mehr ab (Schößler 2009, 129). Die jüngste der Geschwister schließlich, die herbe und fromme Clara, stirbt früh, noch vor ihrer Mutter, an Tuberkulose, der Krankheit der inneren Auszehrung. Thomas Buddenbrook, noch bemüht um die Haltung des „Leistungsethikers“, beklagt sich bei seiner Schwester Tony über die mangelnde Contenance“ seines nachlässigen Bruders. Doch die Inszenierung seines eigenen Habitus als Kaufmann und Konsul zeigt bereits eine gefährliche Nähe zum bloß Scheinhaften und Theatralischen. Vor jedem Kontakt mit seinen Mitmenschen unterzieht er sich einer ausführlichen Toilette: „Und wenn er hinaustrat, so verschaffte die frische Wäsche an seinem Körper, die tadellose und diskrete Eleganz seines Anzugs, sein sorgfältig gewaschenes Gesicht, der Geruch der Brillantine in seinem Schnurrbart und der herb-kühle Geschmack des gebrauchten Mundwassers ihm das Befriedigungs- und Bereitschaftsgefühl, mit dem ein Schauspieler, der seine Maske in allen Einzelheiten vollendet hergestellt hat, sich zur Bühne begiebt [sic] … Wirklich! Thomas Buddenbrooks Dasein war kein anderes mehr, als das eines Schauspielers“ (GKFA 1.1, 677). Die Erzählinstanz setzt ein Ausrufezeichen hinter das „Wirklich!“, als wolle er mit seiner ironisch unterfütterten Empörung darauf hinweisen, dass dieses Dasein eben kein wirkliches mehr ist, sondern eine aufwendige Form der Inszenierung überhand genommen hat, die Thomas Buddenbrook all seine Kraft kostet. Der Geruch des verwendeten Mundwassers suggeriert noch Frische, aber auch diese ist nicht mehr real. Wie viele Dekadenzfiguren Thomas Manns krankt Thomas Buddenbrook gerade im Mund, dem Organ der Kommunikation und des Sich-Einverleibens, an den Zähnen. Viel zu früh, eigentlich ,in der Blüte seiner Jahre‘, wird der Senator an den Folgen einer Zahnoperation sterben – was die Lübecker nicht wenig überrascht: „An einem Zahne … Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt. Aber, zum Donnerwetter, daran starb man doch nicht!“ (GKFA 1.1, 759) Doch, so ließe sich der gemeinsam mit den Lübecker Bürgern erstaunten Erzählinstanz entgegen halten, daran stirbt, wer all seine Lebenskraft durch innere Anspannung verbraucht hat. Dass dem so ist, dass die Familie Buddenbrook ihre besten Zeiten hinter sich hat und nun unaufhaltsam und immer schneller dem Untergang entgegen geht, manifestiert sich in der Schlussphase des Romans an zwei riskanten Unternehmen, auf die Thomas Buddenbrook sich einlässt: Er spekuliert und er liest Schopenhauer. Der neue liberale Stil des jungen Konsuls führt in den Geschäften des Hauses Buddenbrook dazu, dass neue Risiken eingegangen werden, die die Firma letztlich ruinieren. Thomas Buddenbrook wagt, was dem redlichen Kaufmann als unethisch gilt, nämlich eine Ernte „am Halm“ zu kaufen. Prompt wird diese Ernte, auf die er spekuliert hat, vom Hagel vollständig zerstört – und mit ihr das eingesetzte Kapital. Die „Pöppenrader Ernteangelegenheit“, die vom narrativen Medium zum Ausgangspunkt des finanziellen Niedergangs der Familie stilisiert wird (GKFA 1.1, 672), markiert auf gesamtökonomischer Ebene jenen Übergang vom Handel mit Waren zum Kredithandel, der die Modernisierung des Wirtschaftslebens im 19. Jahrhundert kennzeichnet. Die ökonomischen Theo-

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rien der Zeit beschreiben ihn als Paradigmenwechsel von den Werten und der Substanz zum persönlichen Nutzen (Schößler 2009, 103ff.). Ein untadeliger Name wie der der Buddenbrooks hilft wenig in einer ökonomischen Welt, in der amoralische Neureiche wie die Hagenströms – die den Buddenbrooks schließlich auch das große Haus in der Mengstraße abkaufen –, Erbschleicher wie Grünlich oder ,Blutsauger‘ wie der Bankier Kesselmeyer regieren, die nicht auf die Förderung des Allgemeinwohls, sondern ausschließlich auf den eigenen Profit aus sind – so zumindest die traditionalistisch-zynische Sicht der Erzählinstanz. Für Thomas Buddenbrook kulminiert die wirtschaftliche Abwärtsbewegung im allgemeinen Gefühl der Vergeblichkeit seines Tuns. Der zehnte und vorletzte Teil des Roman beginnt mit einer entsprechenden Selbstreflexion des Senators: „Oftmals, wenn die trüben Stunden kamen, fragte sich Thomas Buddenbrook, was er eigentlich noch sei […]. Die phantasievolle Schwungkraft, der muntere Idealismus seiner Jugend war dahin. […] Thomas Buddenbrook fühlte sich unaussprechlich müde und verdrossen.“ (GKFA 1.1, 672) Je mehr seine Kräfte schwinden, umso mehr neigt das Familienoberhaupt zum Grübeln. Zu den geschäftlichen Sorgen kommt die Sorge um seine Ehe, die den Lübeckern seit jeher Anlass zum Klatsch gab (GKFA 1.1, 708ff.) – umso mehr, seit die Senatorin mit René Maria von Throta verkehrt, einem jungen Militär, dem nicht einmal die Uniform zu einer strammen Männlichkeit verhilft. „Gerda Buddenbrook und der junge, eigenartige Offizier hatten einander, wie sich versteht, auf dem Gebiete der Musik gefunden“ (GKFA 1.1, 712), auf einem Gebiet also, das Thomas Buddenbrook völlig fremd ist. Seine Frau wiederum gilt den Lübeckern als kühl, als eine Entrückte, „die nur an ihre Musik ein wenig Lebenswärme zu verausgaben schien“ (GKFA 1.1, 709). Wenn dem Senator nun also Hörner aufgesetzt werden – ob real oder nur vermeintlich, bedeutet für sein inszeniertes Dasein als ,Schauspieler‘ keinen wesentlichen Unterschied –, so ist diese Tatsache umso bitterer, als seine symbolische Depotenzierung nicht durch einen kraftstrotzenden Jüngling, sondern durch einen verweichlichten Décadent erfolgt (GKFA 1.1, 713). Der Senator reagiert auf das Geschehen entsprechend nicht mit Zorn, vielmehr mit einer unbestimmten, existentiellen Angst sowie Ahnungen seines nicht mehr weit entfernten Todes (GKFA 1.1, 712f., 717). Auf dem Höhepunkt seiner Depression und nervlichen Zerrüttung durch das zeitgenössische Modeleiden der Neurasthenie (Dierks 2002, 145ff.), im Hochsommer 1874, fällt Thomas Buddenbrook ein Buch in die Hand, das wenig geeignet erscheint, seine Lebenskräfte wieder zu wecken: Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Lektüre trifft den Senator ins Mark, weil sie seine unbestimmte Todessehnsucht nährt und metaphysisch unterfüttert (GKFA 1.1, 720ff.; zur Philosophie Schopenhauers im Roman siehe grundsätzlich Reents 1998, 147ff.). Besonders fasziniert ihn das Kapitel „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“, das ihn in einen sehnsuchtsvollen Rausch, in den Zustand eines „schweren, dunklen, trunkenen und gedankenlosen Überwältigtseins“ versetzt. (GKFA 1.1, 722) Des Senators Erkenntnis ist weniger eine intellektuelle als eine spirituelle: Er fühlt sich versucht, zu beten, und faltet angesichts seiner neuen Einsichten ergeben die Hände (GKFA 1.1,

Thomas Buddenbrooks Ehe

Die Welt als Wille und Vorstellung

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V. Textanalysen

Todessehnsucht

Die Macht des „Willens“

Unabwendbarkeit des Schicksals

Hanno Buddenbrook

723). Die Erzählinstanz macht indes mit ihrer subtilen Ironie deutlich, dass Thomas Buddenbrook, wenig bewandert in philosophischer Lektüre, nur das wenigste verstanden hat. Müde sinkt Thomas Buddenbrook in die Kissen, „ermattet von dem bißchen Wahrheit, das er so eben hatte erschauen dürfen.“ (GKFA 1.1, 723) Die vage Erkenntnis, die Thomas Buddenbrook aus dem Text zieht und die er in der Aussage „Ich werde leben!“ zusammenfasst, besteht in der Einsicht, dass sein Ich Teil eines größeren Willens ist, in dem es im Sterben aufgehen wird. Der Tod, den Schopenhauer als „Zuflucht“ und tröstliche Rückkehr in den „Schoß der Natur“ schildert (Schopenhauer II 1986, 599), erscheint dem Senator insofern erstrebenswert, als er die Befreiung von der ihm ohnehin lästigen Körperlichkeit des Daseins bedeutet und die Auflösung jener Individualität darstellt, deren Erhalt ihn so viel Kraft kostet (GKFA 1.1, 724). Aus der Perspektive der Natur ist die Individualität nur ein kurzlebiges, transitorisches Phänomen, wie Schopenhauer betont: „Leben oder Tod des Individuums sind ihr [der „Allmutter“ Natur] gleichgültig. Demzufolge sollten sie es in gewissem Sinne auch uns sein: denn wir selbst sind ja die Natur. […] So weilt alles nur einen Augenblick und eilt dem Tode zu.“ (Schopenhauer II 1986, 605 u. 611) Der lesende Senator schwelgt für eine kurze Weile in der Hingabe an die Kraft, die Schopenhauer den „Willen“ nennt und mit der er die unbezwingbare Macht der Natur und des Triebs bezeichnet, der alles Lebende unterworfen ist. Im Willen, so des Senators neue Hoffnung nach der Lektüre, sind alle Lebewesen vereint, ist alle Vereinzelung aufgehoben; alles Streben wird mit der Hingabe an den Willen überflüssig. Schopenhauers Philosophie nennt zwei Wege, der Herrschaft des Willens zu entkommen: In der Askese widersetzt sich der Mensch dauerhaft der Kraft der Triebe; er verneint den Willen und behauptet seinen Subjektstatus. Für diese Lösung fehlt Thomas Buddenbrook die Kraft. Der zweite Weg, den Schopenhauer nennt, besteht in der ästhetischen Erfahrung, die uns zumindest für kurze Zeit der Macht des Willens enthebt. Abgesehen von der Inszenierung der eigenen Person, fühlt der Senator keine besondere Affinität zur Kunst, schon gleich nicht zur Musik, der Domäne seiner Frau und Quelle seiner größten Ängste. In der Familie Buddenbrook, so zeigt sich am musikaffinen Hanno, ist der willensbezwingenden Kraft der Musik wenig Erfolg beschieden. Allein die eingeheiratete Gerda scheint gestärkt aus dem Kunstgenuss hervorzugehen. Zwar erfüllt den Senator seine philosophische Lektüre bereits am nächsten Tag mit dem Gefühl der Scham (GKFA 1.1, 727) – ein Gefühl, das Hermann Kurzke, in Anlehnung an die Kulturphilosophie von Norbert Elias, als Indiz für die kulturelle Entwicklung und zugleich für die Verfallsgeneigtheit der jüngeren Generationen der Familie Buddenbrook wertet (Kurzke 2010, 81f.). Doch der eigenen Neigung zum Tode hat Thomas Buddenbrook im Folgenden nichts mehr entgegen zu setzen, auch wenn er nie wieder einen Blick in das „seltsame Buch“ wirft, „das so viele Schätze barg“ (GKFA 1.1, 727). Ein entzündeter Backenzahn wird schließlich genügen, ihn zu töten. Vor dem Hintergrund des Zustands der Familie wie des Unternehmens erscheint es nur konsequent, dass das Testament Thomas Buddenbrooks die

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Auflösung der Firma vorsieht, auch wenn das seiner Schwester Tony unbegreiflich erscheint: „Manche Stunde weinte sie darüber, daß man sich des ehrwürdigen Firmenschildes […] entäußern, daß man seine Geschichte abschließen sollte, während doch ein natürlicher Erbfolger vorhanden war.“ (GKFA 1.1, 767) Dieser „natürliche Erbfolger“, der kleine Hanno Buddenbrook (Lebensdaten im Roman: 1861–1877), zeigt sich schon zu Lebzeiten des Vaters an geschäftlichen Dingen wenig interessiert. Zwar unternimmt der Vater viel, um ihn zu einem „tüchtigen und wetterfesten Manne zu machen“ (GKFA 1.1, 685); allein, in der letzten Generation der Buddenbrooks ist der Verfall bereits zu weit fortgeschritten. Den Versuchen des Vaters, den Sohn für die Geschäfte zu begeistern, ist wenig Erfolg beschieden: Gefragt, ob er Lust zu dem ihm vorbestimmten Beruf des Kaufmanns habe, antwortet Hanno mit einem „einfachen, etwas scheuen Ja“ (GKFA 1.1, 682). Doch mit seiner „schwerfälligen Auffassung, seiner träumerischen Unaufmerksamkeit und seiner körperlichen Zartheit“ erscheint Hanno Buddenbrook für nichts weniger geeignet als für den Habitus des „Leistungsethikers“. Seine größte Begeisterung gilt, neben der Musik, die ihn mit der Mutter verbindet, der Zeit der Ferien, die ihm „ein wunderbar müßiges und pflegsames Wohlleben“ (GKFA 1.1, 696) bedeuten. Die Verfallslinie der Familie führt von Jean Buddenbrooks pietistischer Innerlichkeit über die grüblerische Selbstreflexion Thomas Buddenbrooks zur träumerischen Selbstvergessenheit Hanno Buddenbrooks, bei dem die Linie endet. Schopenhauer beschreibt sowohl den Körper (Schopenhauer II 1986, 168) als auch die Musik als unmittelbare Manifestationen des Willens (Schopenhauer II 1986, u.a. 574). Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent, dass die brüchige Leiblichkeit und die rauschhafte Hingabe an die Musik die leitmotivischen Themen im Leben des kleinen Hanno Buddenbrook darstellen. Für den Alltag, namentlich den Schulalltag, erweist er sich hingegen als vollkommen untauglich; vor dessen Anforderungen, denen er nicht gewachsen ist, flieht er am liebsten in den Schlaf (GKFA 1.1, 775ff.). Wagners Lohengrin hingegen versetzt ihn in einen Rausch: „Es war über ihn gekommen mit seinen Weihen und Entzückungen, seinem heimlichen Erschauern und Erbeben, […] seinem ganzen überschwänglichen und unersättlichen Rausche …“ (GKFA 1.1, 773). Die Musik, so Schopenhauer, erlaube dem Menschen einen unmittelbaren Zugang zum Geheimnis des Lebens; doch von allen Künsten spreche allein die Musik eine Sprache, die „in die der Vernunft nicht übersetzbar ist“ (Schopenhauer II 1986, 522). Auch Hanno weiß, dass die Musik mit der strengen Welt der Ökonomie unvereinbar ist und ihr ästhetischer Genuss „den Mut und die Tauglichkeit zum Leben verzehrt“ (GKFA 1.1, 774). Für den Beruf des Künstlers brächte Hanno Buddenbrook mehr Talent mit als für den Kaufmannsstand, doch auch für das Schaffen eines ästhetischen Werks fehlt ihm die Kraft (Wysling 1995, 373); seine Energie reicht – wie beim Bajazzo aus der gleichnamigen Erzählung – nur für ein spielerisches Phantasieren am Flügel (GKFA 1.1, 824ff.). Beim Gedanken an eine reale musikalische Karriere befällt hingegen auch Hanno jene große, lähmende Müdigkeit der Décadence. Seinem Freund Kai Graf Mölln erklärt er: „Ich kann das nicht. Ich werde so müde davon. Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte sterben, Kai! …

Körper und Musik

„Ich kann nichts wollen“

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V. Textanalysen

Hanno Buddenbrooks Tod

Realistisches Erzählen

Erfolgsgeschichte des Romans

Nein, es ist nichts mit mir. Ich kann nichts wollen. Ich will nicht einmal berühmt werden.“ (GKFA 1.1, 819). Hanno Buddenbrook ist kein Bürger – noch nicht einmal mehr, wie sein Vater, der Darsteller eines Bürgers – und kein Künstler, sondern nur noch ein am Leben und dem Körper Leidender. Hanno Buddenbrook stirbt noch als Kind am Typhus. Das vorletzte Kapitel des Romans besteht in einer ausführlichen und in ihrer Detailgenauigkeit grausam anmutenden Schilderung des Krankheitsverlaufs, den Thomas Mann fast wörtlich aus Meyers Konversations-Lexikon übernimmt (GKFA 2.1, 414). Hannos individuelles Sterben wird narrativ ausgespart; allein aus dem Gespräch zwischen den übrig gebliebenen Frauen der Familie erfährt der Leser einige wenige Details, etwa vom letzten Besuch des treuen Freundes Kai am Bett des sterbenden Hanno (GKFA 1.1, 835f.). Mit dem realistischen Erzählstil der Buddenbrooks knüpft Thomas Mann an die Tradition des Bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts an. Wenn Manns eigener Realismus immer wieder Anlass zu kontroversen Auseinandersetzungen bietet, so ist der Grund dafür wohl in der Tatsache zu suchen, dass sein realistisches Erzählen weit über das hinaus geht, was das 19. Jahrhundert darunter versteht (siehe Kapitel IV.4.). Judith Ryan positioniert den Roman Buddenbrooks an der Schwelle vom Realismus zum Ästhetizismus – nicht nur, was den Stil betrifft, sondern auch auf der Ebene der Handlung, die den Übergang von einem ausschließlich am Gegebenen orientierten hin zu einem ästhetischen Lebensstil inszeniert (Ryan 2002, 119f.). Viele Kennzeichen des Bürgerlichen Realismus (ironische Erzählinstanz, Perspektivismus, Montage, Detailbesessenheit, symbolische Aufladung von Gesten und Räumen, etc.) erscheinen in Thomas Manns Text in potenzierter Form. Vielfach wird der Leser im Unklaren gelassen, ob das, was ihm erzählt wird, der Position der ironisch-distanzierten, heterodiegetischen Erzählinstanz entspricht oder die persönliche Sicht einer der Figuren wiedergibt, deren Perspektive dieses Erzählmedium gerade übernimmt. Dieses Verfahren macht auch die Einordnung diverser Klischees – etwas die anhand der Familie Hagenström ausführlich zelebrierten Antisemitismen des Romans – so schwierig, weiß man doch nie, aus wessen Sicht sie erzählt werden. Für den Autor Thomas Mann wird die Geschichte des Verfalls der Familie Buddenbrook zum Ausgangspunkt des eigenen literarischen wie ökonomischen Erfolgs. Seinem Bruder Heinrich berichtet Thomas Mann im November 1900 in einem Brief von seinen Bemühungen, den Verleger Samuel Fischer davon zu überzeugen, Buddenbrooks in ungekürzter Form zu verlegen, obwohl der Roman im Druck mehr als 1000 Seiten umfassen wird und nur in einer zweibändigen Ausgabe erscheinen kann: „[…] er soll das Buch bringen, wie es ist. Zwischen langwierig und langweilig ist doch noch ein Unterschied! Ein zweibändiger Roman ist doch auch heute noch keine unbedingte Unmöglichkeit! Und dann habe ich ihm gesagt, daß der Roman ja keineswegs das letzte Buch ist, das ich ihm geben werde, und daß schließlich Alles darauf ankommt, ob er – auch als Kaufmann – ein bischen [sic] an mein Talent glaubt und ein für alle Mal dafür eintreten will oder nicht.“ (GKFA 21, 134f.) Samuel Fischer trifft – auch als Kaufmann – die richtige Entscheidung und verlegt nicht nur diesen Roman des vielversprechenden jungen Autors. Bis heute erscheinen Thomas Manns Werke im Verlag S. Fischer.

2. Der Tod in Venedig

2. Der Tod in Venedig „Ein gesetzter, in Würde gealterter Herr, erfolgreicher Schriftsteller von Beruf, reist nach Venedig, verfällt dort einer ungeahnten, homoerotischen Leidenschaft, erkrankt an der Cholera und stirbt“ (Blödorn 2012, 22), so lässt sich die Handlung der wohl berühmtesten Novelle Thomas Manns lapidar zusammenfassen. Denn an äußerer Handlung ist sie tatsächlich arm; um vieles aufregender sind die inneren Vorgänge, die Ideen und Gefühle, die hier berichtet werden – und die immer wieder die Frage aufkommen lassen, wer hier erlebt und wer erzählt. Es sind diese inneren Vorgänge, die Mario Vargas Llosa zu dem Urteil veranlassten, dieser Text könne es, trotz seiner Kürze, an „Komplexheit und Tiefe“ durchaus mit den Romanen Thomas Manns aufnehmen (Vargas Llosa 2012, 82). Davon zeugen auch der Umfang und die Diversität der Rezeption, der Ellis Shookman einen eigenen Band gewidmet hat (Shookman 2003). Thomas Mann selbst urteilt über Der Tod in Venedig kurz nach der Publikation und im Bezug auf die positiven Reaktionen des Publikums wie der Kritik: „Es scheint, daß mir hier einmal etwas vollkommen geglückt ist, – ein glücklicher Zufall, wie sich versteht. Es stimmt einmal Alles, es schießt zusammen, und der Kristall ist rein.“ (DüD I, 401) Trotz des – zumindest vermeintlich – bescheidenen Verweises auf den „Zufall“ ist dieser Passage die Begeisterung über das eigene Können und den Erfolg der Novelle deutlich anzumerken. In einem autobiographischen Text von 1930 urteilt Thomas Mann distanzierter, wenn auch nicht weniger selbstbewusst: „Im Jahre 1912 erschien die Erzählung ,Der Tod in Venedig‘, die neben dem ,Tonio Kröger‘ als meine gültigste Darbietung auf dem Gebiet der Novelle gilt.“ (GW XI, 415) Die Novelle Der Tod in Venedig entsteht zwischen Juli 1911 und Juli 1912 (Kurzke 2010, 122); sie erscheint im Erstdruck in der Ausgabe der Zeitschrift Neue Rundschau vom Oktober/November 1912. Thomas Mann hatte im Jahr zuvor zusammen mit seiner Frau Katia Venedig besucht (Mai/ Juni 1911), was im Hinblick auf die Novelle in verschiedener Hinsicht interessant ist: zunächst insofern, als Thomas Mann in Venedig mit dem Ausbruch der Cholera konfrontiert wurde, die zum Zeitpunkt des Eintreffens des Ehepaars Mann bereits die ersten Todesopfer gefordert hatte (Rütten 2005, 141ff.) – eine Krankheit, die 1911 nicht so selten und exotisch war, wie sie dem heutigen Leser erscheinen mag. Thomas Rütten zeigt in seinem medizinhistorischen Aufsatz, dass Thomas Mann zuvor bereits in Lübeck (1892) und im Ostseebad Zoppot (1905) zumindest indirekt mit dem Thema Cholera zu tun gehabt hatte (Rütten 2005, 164f.). Der Italienaufenthalt Manns ist für die Novelle auch in ästhetischer Hinsicht relevant. Thomas Mann erhält während der Reise, am 18. Mai 1911, die Nachricht vom Tod des von ihm verehrten Komponisten Gustav Mahler; zudem arbeitet er am Strand an seinem Wagneraufsatz Über die Kunst Richard Wagners, in dem er eine neue Klassizität für das geniale Kunstwerk der Zukunft fordert (siehe hierzu Vaget 1995, 583). Venedig war für Thomas Mann die Stadt, in der Richard Wagner komponiert hatte und 1883 gestorben war, in der August von Platen und Friedrich Nietzsche gearbeitet hatten (GKFA 2.2, 363f.) und die nun mit dem Tod des genialen Mahler konnotiert war. Die Stadt ist –

Die Komplexität eines Romans

Positive Selbstkritik

Venedig als kultureller Topos

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V. Textanalysen

Künstlernovelle

Hermes Psychopompos

Funktionen der Todesboten

nicht nur für den Autor der Novelle Der Tod in Venedig – kein schlichter Urlaubsort, sondern ein engmaschiges Netz an kulturtopographischen, kunstund ideengeschichtlichen Zeichen, ein „kultureller Speicher“ (Nies 2012, 14). Den Kern des ursprünglichen Arbeitsplans zur Novelle bildet die Künstlerproblematik, wie sich anhand früher Eintragungen in den Notizbüchern rekonstruieren lässt (Vaget 1995, 585) Die Reflexionen über den Umgang des Schriftstellers mit dem eigenen Tun und dem eigenen Selbst nehmen in der vollendeten Novelle dann tatsächlich großen Raum ein. Dass es die Reflexionen eines alternden Künstlers sind, hat unter anderem mit der Tatsache zu tun, dass sich die Ideen für die venezianische Künstlernovelle mit einem anderen Vorhaben Thomas Manns kreuzen: dem Plan, eine Novelle über Goethes letzte große Liebe zur jungen Ulrike von Levetzow zu schreiben, die dieser 1821 in Marienbad kennengelernt hatte (NB 7–14, 186). Goethe in Marienbad lautet daher einer der Arbeitstitel. Die Geschichte über den alternden Schriftsteller Gustav von Aschenbach, die in Der Tod in Venedig erzählt wird, ist die Geschichte eines Niedergangs, einer Auflösung von Ordnungsstrukturen und bürgerlichem Habitus. Dass es mit dem Künstler bergab geht, daran lässt der Text von Anfang an keinen Zweifel. Aschenbach begegnet auf seinem Weg von den ersten Reiseplänen bis zu seinem Tod am Strand des Lido einer ganzen Reihe unheimlicher Figuren, die alle nach dem gleichen Muster entworfen und unschwer als Verkörperungen des griechischen Hermes Psychopompos, des Führers der Toten in die Unterwelt zu erkennen sind. Die wichtigsten dieser Todesboten sind der Mann mit dem Rucksack, der Aschenbach in München in der Nähe des Friedhofs begegnet (GKFA 2.1, 502ff.), der Verkäufer der Fahrkarten auf dem Schiff nach Venedig (GKFA 2.1, 517f.), der betrunkene falsche Jüngling auf eben diesem Schiff (GKFA 2.1, 518ff.), der Gondoliere, der Aschenbach von Venedig auf den Lido übersetzt (GKFA 2.1, 524ff.), sowie der Bänkelsänger, der zusammen mit einer Gruppe von Musikanten auf der Terrasse des Hotels auftritt (GKFA 2.1, 572ff.). Sie alle weisen ähnliche Merkmale auf: Sie sind unheimliche Erscheinungen, von „ungefälliger, ja brutaler Physiognomie“ (GKFA 2.1, 524), wie es über den Gondoliere heißt; sie haben kurze, stumpfe Nasen, ein bleckendes Gebiss und rotes Haar. Alle diese Boten sind zudem mit dem „Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden“ (GKFA 2.1, 503) ausgestattet, das sie aus der jeweiligen Umgebung herausstechen lässt. Nur der von Aschenbach bewunderte Jüngling Tadzio – wenn man auch ihn als einen Hermes Psychopompos interpretieren möchte – entspricht nicht diesem Schema. Aus der Perspektive des Mythos handelt es sich bei diesen Todesboten nur um verschiedene Erscheinungsformen des gleichen Prinzips, also letztlich um immer die gleiche Gestalt, die Aschenbachs symbolische Hadesfahrt begleitet. Jedoch erfüllt jede dieser Figurationen des Psychopompos eine je spezifische Funktion: Der Mann am Münchner Friedhof weckt von einem Moment auf den anderen in Aschenbach eine unbändige, „als Anfall“ auftretende Reiselust (GKFA 2.1, 504). Der Verkäufer der Schiffsfahrkarten weist ihn neben den historischen auch auf die gegenwärtigen Reize Venedigs hin (GKFA 2.1, 518). Der zum Jüngling geschminkte Greis deutet voraus auf den Verlust der Würde, der Aschenbach selbst wenig später

2. Der Tod in Venedig

droht. Der Gondoliere versetzt seinen Fahrgast in den weichen Sitzen seiner an einen Sarg erinnernden Barke schaukelnd in den Zustand „einer so ungewohnten als süßen Lässigkeit“ (GKFA 2.1, 524), erwirkt also erste Auflösungserscheinungen an Aschenbachs steifer Haltung. Vom Bänkelsänger schließlich, dessen Vortrag etwas „Zweideutiges, unbestimmt Anstößiges“ aufweist, lässt sich Aschenbach noch einmal über die Ungefährlichkeit des Verbleibs in Venedig belügen, obwohl er über die Gefahr der Ansteckung mit der Cholera eigentlich längst Bescheid weiß (GKFA 2.1, 573f.). Das Lachen des Sängers, das sein im Anschluss an das kurze Gespräch vorgetragenes Lied begleitet, steigert sich am Ende in das Groteske eines Satyr-Gelächters (GKFA 2.1, 575f.). Der Tod in Venedig ist der erste literarische Text Thomas Manns, den er auf diese Weise mythisch strukturiert, ein Verfahren, das er an die Leitmotivtechnik der Wagner’schen Opern anlehnt. Im Kontext des Mythos bekommt die Auflösung der Ordnung von Aschenbachs individuellem Leben einen überzeitlichen, philosophischen, ideengeschichtlichen Charakter. Aus dieser Perspektive betrachtet, befreit sich Aschenbach mit seiner Leidenschaft für Tadzio von den Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft und somit auch von den Fesseln, die die Bürgerlichkeit seinem Schaffen auferlegt – ein Aspekt, der vielfach auch politisch im Kontext des deutschen politischen Klimas vor dem Ersten Weltkrieg gedeutet wurde (siehe Shookman 2003, 226ff.). Sehr ausführlich schildert die Erzählinstanz, wie sich Aschenbachs Leben vor der Venedigreise gestaltete, betont vor allem, dass „Zucht“ die Grundlage seines Arbeitens bildete (GKFA 2.1, 510). Der etwas mehr als fünfzigjährige Aschenbach hat zum Zeitpunkt seiner Reise nach Venedig ein umfangreiches Œuvre vorzuweisen; unter anderem hat er jene Romane über Friedrich den Großen und die Idee der „Maja“, die Erzählung Ein Elender sowie den Essay Geist und Kunst verfasst (GKFA 2.1, 507), die Thomas Mann selbst geplant, deren Pläne er jedoch ad acta gelegt hatte. Aschenbachs Werk gründet auf harter Arbeit und strikter Selbstdisziplin. Die Genialität seiner Künstlerschaft, so suggeriert die Erzählinstanz, besteht nicht im großen genialen Wurf, sondern in der unermüdlichen Schichtung des Kleinen (GKFA 2.1, 510). Leben und Arbeiten bilden hier keine harmonische Einheit, vielmehr ist das Werk dem Leben mühsam abgerungen: „Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei.“ (GKFA 2.1, 511) Aschenbach verkörpert den Künstlertypus des Märtyrers seines Werks, eine von Pfeilen durchbohrte „Sebastian-Gestalt“ (GKFA 2.1, 511). Oskar Seidlin zeigt anhand des Satzes, der das zweite Kapitel der Novelle einleitet, wie von der Privatperson Aschenbach erst nach der langen Aufzählung seiner Werke die Rede ist, wie der Mensch Aschenbach nur als „ein Anhängsel, ein bescheidener, fast nebensächlicher Zusatz zu der literarischen Karriere des Künstlers Gustav Aschenbach“ vorkommt. Die Unterordnung des Künstlers unter sein Werk kommuniziert die Novelle also bis in den Satzbau hinein – „eine der genialen stilistischen Symbolgebungen, die wir in der modernen deutschen Literatur finden“, so Seidlins Urteil schon 1947 (Seidlin 1947, 440).

Disziplinierte Genialität

Der Künstler als Märtyrer des Werks

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V. Textanalysen „Anderthalb Seiten erlesener Prosa“

Narrative Konstruktion

Naive und sentimentalische Dichtung

Als Aschenbach im Hotel auf dem Lido nun den schönen Jüngling Tadzio sieht und sich in ihn verliebt, löst sich dieses protestantische Arbeitsethos (im Sinne Max Webers; siehe Shookman 2003, 227) auf: Er, der immer „höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens“ bei der Arbeit walten ließ (GKFA 2.1, 501), schreibt nun im Rauschzustand der Verliebtheit „jene anderthalb Seiten erlesener Prosa […], deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte.“ (GKFA 2.1, 556) Diese Aussage der Erzählinstanz ist gleich mehrfach ironisch kodiert: Aschenbach arbeitet nun endlich genialisch inspiriert und getrieben statt sorgfältig und mühsam schichtend, doch das Ergebnis umfasst nur eineinhalb Seiten – kein großes „Werk“ also, wie es etwa Adrian Leverkühn im Roman Doktor Faustus gelingen wird, nachdem er sich sehenden Auges mit einer tödlichen Krankheit, der Syphilis, angesteckt hat, um seine künstlerische Kreativität zu steigern (siehe Kapitel V.5.). Zudem fußt Aschenbachs Idee, sich auf diesen eineinhalb Seiten „über ein gewisses großes und brennendes Problem der Kultur und des Geschmacks“ auszulassen, nicht auf genialischer Inspiration, sondern auf einer recht banalen Anregung von außen (GKFA 2.1, 555). Bernd Hamacher hat jüngst noch einmal gezeigt, wie raffiniert die Erzählinstanz des Textes entworfen ist (Hamacher 2012). An der Stelle über die „anderthalb Seiten erlesener Prosa“ wird dies besonders deutlich, erklärt die Erzählinstanz hier doch: „Es ist sicher gut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen aufheben.“ (GKFA 2.1, 556) Auch diese Bemerkung lässt sich nur ironisch verstehen, denn im vorliegenden Fall kennt das Publikum ja eben nicht den Text, den Aschenbach geschrieben hat, sondern nur den in der Erzählung berichteten, für den fiktiven Autor wenig schmeichelhaften Entstehungsprozess (Hamacher 2012, 44). Zugleich, so betont Hamacher, stellt der Bericht der Erzählinstanz über „jene anderthalb Seiten erlesener Prosa“ selbst einen Text von etwa dieser Länge und somit eine mise en abyme dieser erlesenen Prosa dar (Hamacher 2012, 45); die Erzählinstanz führt das Schreiben der eineinhalb Seiten genialer Prosa im Akt des Erzählens selbst performativ vor. Thomas Manns Text spielt mehrfach auf Schiller an, u.a. wird dessen Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) explizit genannt (GKFA 2.1, 508). Lothar Pikulik hat die Veränderung in Aschenbachs Arbeitsweise daher als eine Wende vom Sentimentalischen, der reflexiven und selbstreferentiellen Form der Literatur, zum Naiven beschrieben (Pikulik 2012, 76). Das Problem, das sich damit eröffnet, besteht darin, dass diese Wende nicht gelingt und Aschenbach seine „sentimentalische Mitgift“ (Pikulik 2012, 80) nicht los wird. Für den sentimentalischen Dichter existiert die Welt des Naiven, der idyllischen Einheit zwischen Mensch und Natur, nur noch als Ort der Sehnsucht, als Objekt des Begehrens. Eine Erfüllung dieses Begehrens ist jedoch unmöglich: Der Mensch, der einmal das Stadium des Bewusstseins erlangt hat und seinen eigenen Subjektstatus (als eben nicht identisch mit der Welt, der Natur) reflektiert, kann hinter dieses Bewusstsein nicht mehr zurück. Der sentimentalische Mensch kann nicht wie-

2. Der Tod in Venedig

der naiv werden – davon berichtet melancholisch Kleists Essay Über das Marionettentheater. Auch auf diesen Text verweist die Novelle Der Tod in Venedig, wenn Tadzio, ebenso wie der Jüngling in Kleists Essay, mit der Statue des Dornausziehers als Inbegriff der Grazie verglichen wird (GKFA 2.1, 530; Kleist 1987, 343). In der mythischen Logik des Textes wird nicht der sentimentalische Autor wieder naiv, sondern der apollinische Dichter wendet sich dem Dionysischen zu. Aschenbach scheint es nur, so betont die Erzählstimme, als wäre er im Schiller’schen Elysium gelandet (GKFA 2.1, 550). Nur im Wachzustand kann er das idyllische Bild des weisen Sokrates imaginieren, der den jungen und schönen Phaidros über eine ästhetische Theorie belehrt, bei der neben den Sokratischen Dialogen wiederum auch Schiller Pate stand (GKFA 2.1, 554f.). Aschenbach entwirft sinnierend am Strand jene Theorie, nach der das Schöne die „einzige Form des Geistigen [ist], welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können, und nach der der Liebende dem Geliebten überlegen ist, „weil in jenem der Gott sei, nicht aber im andern“ (GKFA 2.1, 555). Beide Thesen erweisen sich in diesem Text als falsch: Abgesehen von den „anderthalb Seiten erlesener Prosa“, zu der ihn Tadzios Anblick inspiriert, kann Aschenbach sein Begehren des Schönen nicht ins Geistige transferieren. Tadzios Schönheit ist langfristig nicht sinnlich erträglich für den Liebenden. So erhebt sich der Liebende auch nicht zum Göttlichen, sondern geht seiner Würde verlustig: Aschenbach lässt sich bis zur Lächerlichkeit schminken und sein Haar färben (GKFA 2.1, 585ff.), um – wie der groteske Greis auf dem Schiff nach Venedig – seiner Umwelt und Tadzio eine falsche Jugendlichkeit zu suggerieren. Und er nimmt die Gefahr der Ansteckung mit der Cholera, die in Venedig grassiert, wissentlich in Kauf, um auf den Anblick des begehrten Objekts nicht verzichten zu müssen. Dabei setzt er sogar Tadzio selbst der Gefahr aus, indem er sein Wissen über die Krankheit verschweigt und der Familie des Jungen bewusst nicht zur Abreise rät (GKFA 2.1, 581). Der Moment dieser Entscheidung steht für das Überschreiten einer Grenze. Soeben hat Aschenbach von dem Angestellten eines englischen Reisebüros – ergänzt durch die drastische Schilderung des Krankheitsverlaufs durch die Erzählinstanz – faktische Kenntnis über das erlangt, was er schon lange ahnte: den Ausbruch der Cholera-Epidemie (GKFA 2.1, 578ff.). Aschenbach trifft daraufhin nicht nur die bewusste Entscheidung, sein Wissen für sich zu behalten, sondern berauscht sich geradezu an der Unmoral dieses Entschlusses: „[D]er Gedanke an Heimkehr, an Besonnenheit, Nüchternheit, Mühsal und Meisterschaft widerte ihn in solchem Maße, daß sein Gesicht sich zum Ausdruck physischer Übelkeit verzerrte. ,Man soll schweigen!‘ flüsterte er heftig. Und: ,Ich werde schweigen!‘ Das Bewußtsein seiner Mitwisserschaft, seiner Mitschuld berauschte ihn, wie geringe Mengen Weines ein müdes Hirn berauschen.“ (GKFA 2.1, 581) Was das immer dichter werdende Zeichengeflecht der Novelle bereits andeutete, wird nun zur Gewissheit: Aschenbach übertritt endgültig die Schwelle von der Bürgerlichkeit zum Rausch, von der Askese zur Lust. Oder, im mythischen Code Nietzsches gesprochen: Er wechselt vom Apollinischen zum Dionysischen, von der Seite des lichten, arbeitsamen, intellektuellen Künstlertums auf die Seite des Dunklen, Triebhaften und des amora-

Schönheit und Geist

Das Überschreiten der Grenze

Dionysos

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V. Textanalysen

Bacchantische Träume

Hingabe an den „Willen“

Aschenbachs Tod

lischen Rauschs. Wenn, wie er Sokrates zitiert, ein Gott im Liebenden wirkt, dann ist es in Aschenbachs Fall kein freundlicher, edler, heller Gott wie Amor oder Apoll, sondern eine Urgewalt wie Dionysos. Nietzsche hatte das dionysische Prinzip als die dunkle Kraft der griechischen Kunstproduktion gezeichnet, als die Macht der Kreativität, die dem Wahnsinn entspringt (Nietzsche 1993, 9f.), und es explizit mit dem Tiger assoziiert (Nietzsche 1993, 23), von dem Aschenbach in der Novelle träumt. Nietzsches Sicht auf den griechischen Mythos ist eine psychologische Sicht, ist Teil seines Entwurfs eines modernen, das bürgerliche Modell kontrastierenden Menschenbilds. Der Tod in Venedig ist Thomas Manns erster Text, in dem er diese Konstruktion einer mythischen Psychologie, eines psychologisierten Mythos übernimmt; sie wird später in allen seinen Romanen und auch in vielen kleineren literarischen wie essayistischen Texten zur Anwendung kommen (siehe Kapitel IV.2.). Mit seinem Tagtraum über Sokrates und seine Beziehung zu Phaidros transferiert Aschenbach das eigene Begehren in die Sphäre des Geistigen. Doch Aschenbach träumt auch andere Träume, die ihn eines Besseren belehren, was die Intensität und die Absicht seines homoerotischen Begehrens betrifft. Schon nach dem Anblick des Fremden am Münchner Friedhof, der jene anfallartige Reiselust in ihm auslöst, bestürmen wilde Bilder Aschenbachs Phantasie. „Seine Begierde ward sehend“, so lautet der Kommentar der Erzählstimme zu jenen explizit als „Gesicht“ bezeichneten Traumbildern, in denen Aschenbach die Szenerie eines tropischen Urwaldsumpfes imaginiert, „feucht, üppig und ungeheuer“, in dessen Dickicht die Augen eines kauernden Tigers lauern (GKFA 2.1, 504). Entsetzen und ein „rätselhaftes Verlangen“ sind die Folgen dieses Traums, der den Ausgangspunkt des Ausbruchs Aschenbachs aus dem apollinischen Korsett der bürgerlichen Ordnung bildet. Kurz vor seinem Tod hat Aschenbach nachts noch einmal einen „furchtbaren Traum“, in dem er Zeuge, schließlich Teil einer ebenso blutrünstigen wie lüsternen bacchantischen Orgie wird, die Angst und Lust in ihm auslöst, die ihm „süß und wild zugleich“ erscheint (GKFA 2.1, 582ff.). In dem Moment, in dem er schließlich Teil dieses Geschehens wird, löst sich sein altes Ich auf: „[S]ie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs.“ (GKFA 2.1, 584) Das Subjekt löst sich auf im Rausch; es ist, im Sinne Schopenhauers, nicht mehr „Vorstellung“, sondern hingegeben an den „Willen“, jene naturgewaltige Urmacht, vor der keine noch so aufgeklärte Individualität Bestand hat. Die Vorstellung von der Auflösung der eigenen bewussten, anstrengenden, zur Disziplin genötigten Subjektivität war schon dem „Leistungsethiker“ Thomas Buddenbrook bei seiner Schopenhauer-Lektüre verlockend erschienen. Eine ebenso verführerische Kraft übt sie auf den ursprünglichen Asketen Aschenbach aus – nicht zufällig sterben beide kurz nach ihrer Imagination der Dreingabe des Subjekts an den „Willen“. Senator Thomas Buddenbrook stirbt „an einem Zahne“, woran der geadelte Nationalschriftsteller Gustav von Aschenbach zugrunde geht, bleibt letztlich unklar. Während des Gesprächs mit dem englischen Reiseagenten

2. Der Tod in Venedig

hatte sich die Erzählstimme eingeschaltet und die Symptome der indischen Cholera in ihrer ganzen Drastik geschildert: „Binnen wenigen Stunden verdorrte der Kranke und erstickte am pechartig zähe gewordenen Blut unter Krämpfen und heiseren Klagen.“ (GKFA 2.1, 579) Es ist übrigens nicht anzunehmen, dass der Engländer selbst Aschenbach so ausführlich und blumig Auskunft über die Krankheit gibt, wie es hier geschieht (GKFA 2.1, 578f.). Doch als die Erzählinstanz schließlich Aschenbachs Tod schildert, zeigt sich von diesen grausamen Symptomen keine Spur. Es ist nur zu erfahren, dass der Dichter in seinem Liegestuhl zusammensinkt, „indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte.“ (GKFA 2.1, 592) Allerdings hatte sich bereits in der drastischen Beschreibung der Krankheit durch die Erzählstimme die Möglichkeit einer sanften Erlösung aufgetan: „Wohl ihm [dem Kranken], wenn, was zuweilen geschah, der Ausbruch nach leichtem Übelbefinden in Gestalt einer tiefen Ohnmacht erfolgte, aus der er nicht mehr oder kaum noch erwachte.“ (GKFA 2.1, 579) Thomas Mann, der den kleinen Hanno Buddenbrook unter schwersten Qualen sterben lässt, der später im Josephsroman Jaakobs geliebte Frau, die sanfte Rahel, am Wegrand elend zugrunde gehen lässt, der im Roman Doktor Faustus für das engelsgleiche und völlig unschuldige Kind Nepomuk Schneidewein einen Tod imaginiert, der selbst dem Hartgesottenen die Tränen in die Augen treibt – dieser reale Autor gewährt nun dem fiktiven Autor Aschenbach einen sanften, einen mehr als gnädigen Tod. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Frage, woran Aschenbach eigentlich stirbt – an der sanften Variante des Cholera-Endstadiums, an einer Apoplexie (Schlaganfall), wie Rolf Günter Renner vermutet (Renner 1985, 42), oder schlicht an jener Hingabe an den „Willen“, die in der Schlussszene am Strand im Bild des als Totenführer im Meer wartenden Tadzio kulminiert: „Ihm war […], als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure.“ (GKFA 2.1, 592) Aus der merkwürdigen Sanftheit dieses Todes folgt weiterhin die Frage, wer diesen Tod berichtet – und ob Aschenbach überhaupt ,wirklich‘ stirbt. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Erzählinstanz diesen Tod vermeintlich realistisch berichtet: Es besteht immerhin die Möglichkeit, so wurde ja bereits vorgebaut, sanft an der Cholera zu sterben. Und dass sich Aschenbach mit dieser Krankheit infiziert haben könnte, liegt insofern im Bereich des Wahrscheinlichen, als wir von seinem Verzehr „überreifer“ Erdbeeren erfahren, die die Keime übertragen haben könnten (GKFA 2.1, 587). Die Gewissheit über eine erfolgte Ansteckung enthält uns die Erzählinstanz indes vor. Die Vorstellung hingegen, dass Aschenbach tatsächlich von Hermes Psychopompos ,geholt‘ wird, widerspräche dem realistischen Anspruch dieses Erzählers, wie Terence Reed feststellt (Reed 2008, 49f.). Wie aber, wenn dieser realistische Anspruch gar nicht bestünde? Mario Vargas Llosa betont in seiner Lektüre des Tod in Venedig, dass das Zusammenbrechen der geordneten Existenz Aschenbachs ein „Werk der Phantasie“ sei und verweist in diesem Zusammenhang auf die wilden Traum-Gesichte des fiktiven Dichters (Vargas Llosa 2012, 84). Vielleicht ist aber nicht nur der Zusammenbruch, sondern auch die Erzählung dieses Zusammenbruchs ein

Sterben in den Texten Thomas Manns

Realismus versus Imagination

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V. Textanalysen

Hetero- und Autodiegese

Aschenbach als imaginierter Sokrates

Irrealität des Geschehens

Produkt der Phantasie und das ganze Geschehen nicht real, sondern imaginiert. Auf den ersten Blick scheint die narrative Stimme des Textes dem klassischen auktorialen und allwissenden Erzähler zu entsprechen, einer – in den Begrifflichkeiten Genettes – nullfokalisierten und heterodiegetischen, also nicht der erzählten Welt angehörenden Erzählinstanz (Hamacher 2012, 38). Bei genauerer Betrachtung könnte es sich bei dieser Stimme jedoch um eine homodiegetische Erzählinstanz oder gar um einen „besonders vertrackten Fall autodiegetischen Erzählens“ handeln; dann wäre Aschenbach selbst die Erzählinstanz (Hamacher 2012, 39). Nicht nur verfügt das narrative Medium über eine vollkommene Außensicht – es kennt München ebenso gut wie Venedig, weiß über Aschenbachs Werk ebenso gut Bescheid wie über die weltpolitische Lage –, es ist auch mit den intimsten Gedanken und Gefühlen Aschenbachs vertraut, über die es nicht immer freundlich urteilt. An vielen Stellen wechselt die Außensicht naht- und übergangslos zur Innensicht, umgekehrt wird die Innensicht oft durch einen ironischen Kommentar ,von außen‘ abgeschlossen. Durch diese narratologische Konstruktion gelingt es, den Leser direkt und nah an der sich steigernden homoerotischen Leidenschaft Aschenbachs teilhaben zu lassen und diese zugleich durch die ironischen Bemerkungen immer wieder zu diskreditieren. Auf diese Weise wird das gesellschaftlich nicht akzeptierte homosexuelle Begehren nachvollziehbar und zugleich sanktioniert. Dieses Begehren bleibt, so ist zu betonen, unerfüllt, gelangt es doch über den Augenkontakt zum geliebten Objekt und Aschenbachs gestammeltes „Ich liebe dich!“ (GKFA 2.1, 563) nicht hinaus. Insofern wird der Liebende gleich zweifach bestraft: durch das unfreundliche Urteil der Erzählinstanz als Sprachrohr gesellschaftlicher Konvention und durch die Nichterfüllbarkeit des eigenen Triebs. Aschenbach selbst versucht seiner Verliebtheit durch die Imagination des Sokratesgesprächs den Anstrich eines geistig-platonischen Verhältnisses zu geben. Wer aber übernimmt in dieser Passage die Stimme des Sokrates, wenn dieser sich unmittelbar an Phaidros wendet: „Denn die Schönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig […]“ (GKFA 2.1, 555)? Und wer bezeichnet gleich darauf Sokrates als „verschlagenen Hofmacher“, beschuldigt ihn also implizit, die Philosophie nur zu benutzen, um dem hübschen Jüngling näher zu kommen? Ist das das Urteil Aschenbachs, der sich als Sokrates imaginiert? Dann wäre es auch eine Art Selbstbestrafung, ein Eingeständnis, dass das eigene Interesse an Tadzio keineswegs so „interesselos“ ist, wie es die Stilisierung des Jünglings zu einem Kunstwerk, zu einem ästhetischen Objekt nahe legt. Die „vertrackte“ Erzählsituation lässt auch die Deutung zu, das gesamte Geschehen als irreal zu bewerten. Die vielen Stellen, an denen Träume, „Gesichte“ oder imaginäre Dialoge berichtet werden, weisen in diese Richtung. Denn schon auf dem Schiff nach Venedig befindet sich der Protagonist, um dessen Denken und Fühlen es hier geht, in einem Zustand, der für den Realismus der Novelle nichts Gutes ahnen lässt: „Ihm [Aschenbach] war, als lasse nicht alles sich ganz gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und aufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick jedoch

2. Der Tod in Venedig

berührte ihn das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste.“ (GKFA 2.1, 519) Inhalt wie Form der Novelle bewegen sich auf schwankendem venezianischem Grund, weder auf die Wachheit des Helden noch auf die Redlichkeit des Erzählmediums kann der Leser wirklich bauen. Allerdings stellt der Text dieses Schwanken selbst explizit aus, macht es immer wieder zum Thema, indem er den Grad des eigenen Konstruiertseins mit reflektiert. Venedig, „die unwahrscheinlichste aller Städte“ (GKFA 2.1, 522), und der Lido werden nicht als reale Orte geschildert, sondern als symbolische Räume inszeniert, als „Schauplatz“, auf dem Aschenbach täglich das „Auftreten“ Tadzios erwartet (GKFA 2.1, 558 und 561). Das Setting des verfallenden und von Krankheitsgeruch durchzogenen Venedig und des im Sonnenlicht flimmernden Meeres bilden die Bühne für die Posen des schönen Jünglings, der – aus der Perspektive Aschenbachs und der Erzählinstanz – stets wie eine Statue präsentiert wird. Der Liebende widmet dem Körper des Geliebten „Andacht und Studium“ (GKFA 2.1, 551), als gelte es, eine antike Skulptur kunstwissenschaftlich zu ergründen. Unterstützt wird er dabei vom ästhetiktheoretischen Kommentar der Erzählinstanz, die den Betrachter zum eigentlich Schöpfer der Schönheit erhebt, wenn sie Aschenbachs Rührung (wiederum ironisch) beschreibt: „Und eine väterliche Huld, die gerührte Hinneigung dessen, der sich opfernd im Geiste das Schöne zeugt, zu dem, der die Schönheit hat, erfüllte und bewegte sein Herz.“ (GKFA 2.1, 540) Tadzio selbst, dessen Gedanken und Gefühle an keiner Stelle des Textes berichtet werden, bleibt merkwürdig irreal. Wie ein Schauspieler bleibt er just an der symbolischen Schwelle des Raums stehen, bevor er sich nach Aschenbach umwendet (GKFA 2.1, 532; siehe Blödorn 2012, 25), oder lehnt in einer Pose „unvermeidlicher und anerschaffener Grazie“ (GKFA 2.1, 572) an der Brüstung der Terrasse, als warte er darauf, fotografiert zu werden. Als Kunstwerk und Inszenierung dient Tadzio vornehmlich als Folie für Aschenbachs Projektionen, in denen der Jüngling als Statue und als Figuration des Narziss erscheint: „Standbild und Spiegel! Seine [Aschenbachs] Augen umfaßten die edle Gestalt dort am Rande des Blauen, und in aufschwärmendem Entzücken glaubte er mit diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen, die Form als Gottesgedanken, die eine und reine Vollkommenheit, die im Geiste lebt und von der ein menschliches Abbild und Gleichnis hier leicht und hold zur Anbetung aufgerichtet war. Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen.“ (GKFA 2.1, 553) Wieder wird der Mythos mit Psychologie überblendet, die ästhetische Theorie über das transzendente, göttliche Moment der Schönheit mündet in das reale pädophile Verlangen des älteren Mannes nach dem jungen Körper. Die Tatsache, dass in diesem Text alles auf den Blick ankommt – den Blick Aschenbachs auf Tadzio, der Erzählinstanz auf ihre Figur, des Lesers auf die Künstlichkeit des Textes –, bannt die Novelle selbst in der letzten Strandszene in ein Bild, das zunächst ganz unvermittelt erscheint, das jedoch Sinn ergibt, wenn man es als Metapher der Medialität und Perspektivität des Textes liest: „Ein photographischer Apparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am Rande der See, und ein schwarzes

Venedig als symbolischer Erzählraum

Tadzio als Kunstwerk

Bewusst ausgestellte Konstruktion

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V. Textanalysen

Tuch, darüber gebreitet, flatterte klatschend im kälteren Winde.“ (GKFA 2.1, 590)

3. Der Zauberberg Die Handlung

Entstehungsphasen

Biographische Spuren

Zeitliche und räumliche Distanz

Der knapp vierundzwanzigjährige und recht bürgerliche Hans Castorp, so die Handlung des Romans, reist für drei Wochen nach Davos, um seinen Cousin Joachim Ziemßen zu besuchen, der dort bereits seit fünf Monaten im luxuriösen „Internationalen Sanatorium Berghof“ lebt und ein schweres Lungenleiden zu kurieren sucht. Aus den drei Wochen wird ein Aufenthalt von sieben Jahren. Der Aufenthalt dehnt sich nicht etwa aus, weil Hans Castorp ebenso so krank wäre wie sein Vetter, der schließlich im Sanatorium stirbt, als vielmehr, weil er sich von der träumerischen Trägheit des Ortes anstecken lässt. Nachdem der Chefarzt, Hofrat Behrens, eine vage Diagnose gestellt und einige infektiöse „Stellen“ in seiner Lunge festgestellt hat, unterzieht sich Castorp den Behandlungsritualen des Sanatoriums. Er wird im Zuge dessen Teil der illustren Sanatoriumsgesellschaft und verliebt sich in die russische Patientin Clawdia Chauchat, mit der er eine einzige Liebesnacht verbringt. Als Zuhörer der Gespräche zwischen dem Humanisten Settembrini und dem Jesuiten Naphta lernt Hans Castorp viel über Kulturtheorie und Politik und beginnt selbst zu philosophieren. Erst der Beginn des Ersten Weltkriegs löst den mysteriösen Bann, der ihn auf dem Zauberberg hält, und er verlässt Davos, um Soldat zu werden. Der Roman entsteht über einen sehr langen Zeitraum hinweg: von einer ersten Arbeitsphase, die im Sommer 1913 beginnt, bis zum Abschluss im September 1924 (zum Entstehungsablauf siehe ausführlich Langer 2009, 284ff. sowie GKFA 5.2, 9ff.). Die längste Unterbrechung findet die Arbeit an dem Projekt durch den Großessay Betrachtungen eines Unpolitischen, an dem Thomas Mann vom Herbst 1915 bis zum Frühjahr 1918 arbeitet und dessen kulturpolitische Thesen mit dem Roman korrespondieren. Der Roman erscheint im Winter 1924 in zwei Bänden im S. Fischer Verlag Berlin. Wie bei allen Texten Thomas Manns führt auch bei Der Zauberberg das Verfolgen der biographischen Spur nicht sonderlich weit. Das Wissen um die Tatsache, dass Thomas Mann im Mai/Juni 1912 den Schweizer Kurort Davos besuchte, wo sich seine Frau Katia einer Kur unterzog (Virchow 2002, 192ff.), hilft uns wenig für das Verständnis des komplexen Romangefüges. Etwas weiter führt allenfalls die Erkenntnis, dass Thomas Mann während seines Aufenthalts die Gepflogenheiten des gesellschaftlichen Kurlebens sehr genau studierte (Langer 2009, 297f.), die der Roman dann ausführlich präsentiert. Wie so oft zeichnet sich Thomas Mann hier als exakter Beobachter seiner Umgebung aus. Dennoch gilt auch im Fall des Zauberbergs, dass eine Interpretation des Textes im Sinne eines mimetischen Realismus am Wesentlichen vollständig vorbei zielt. Gegen die mimetisch-realistische Lesart seiner Texte hat sich Thomas Mann selbst stets verwahrt. Im Essay Bilse und ich aus dem Jahr 1906 hatte er dem Vorwurf, es handle sich bei Buddenbrooks um einen Schlüsselroman der Lübecker Gesellschaft, mit folgendem Hinweis widersprochen:

3. Der Zauberberg

„[…] die Wirklichkeit überschätzt […] den Grad, in welchem sie für den Dichter, der sie sich aneignet, überhaupt noch Wirklichkeit bleibt – besonders in dem Fall, daß Zeit und Raum ihn von ihr trennen.“ (GKFA 14.1, 100f.) Die letzte Bemerkung bezog sich im Fall von Buddenbrooks auf die Tatsache, dass sich Thomas Mann im Rom der Gegenwart befand, als er begann, sein fiktives Lübeck des 19. Jahrhunderts zu entwerfen. Für den Roman Der Zauberberg ergibt der Verweis auf die Distanz in Raum und Zeit noch auf einer höheren Ebene Sinn: Zwar spielt der Roman in der Gegenwart, auch liegt die Schweiz nicht allzu fern; doch Raum und Zeit werden im Roman selbst auf eine symbolische Weise verhandelt, die eine allzu realistische Deutung von vornherein ausschließt. Es handelt sich nicht um mathematische, sondern um philosophische Kategorien, die Thomas Mann u.a. bei Schopenhauer entlehnt (siehe u.a. Frizen 1980, 134ff.). Zunächst zum Raum: Wie schon Lübeck und Venedig, so ist auch das fiktive Davos, das Sanatorium und seine Umgebung, als ein symbolischer Ort, als ein Netz an Zeichen zu verstehen (siehe hierzu ausführlich Sprecher 1996). Die Welt des Zauberbergs wird durch eine vertikale und eine horizontale topographische Achse strukturiert. Zum einen wird unterschieden zwischen denen „hier oben“, also den Kranken, die langfristig im Sanatorium leben, und denen „in der Welt“ (GKFA 5.1, 26f.), also den Zuhausegebliebenen und kurzfristigen Besuchern, die „im Leben unten“ (GKFA 5.1, 29) stehen und dort ihre bürgerlichen Pflichten erfüllen – eine Bürde, der die Kranken weitgehend enthoben sind. Die vertikale Achse reicht jedoch nicht nur von der Welt „unten“, vom „Flachland“ auf den Zauberberg, sie lässt sich verlängern in Richtung der Berge, die das Sanatorium und die Stadt umgeben. Fühlen sich die Kranken in Davos bereits als ausgezeichnet durch besondere Sensibilität und Hellsichtigkeit, so werden die Einsichten noch tiefer, wenn man sich vom Sanatorium noch weiter hinauf begibt. Dies stellt Hans Castorp im Kapitel „Schnee“ fest, von dem noch die Rede sein wird. Auf der horizontalen Achse ist es interessant zu beobachten, welche Teile der Handlung innerhalb, welche außerhalb des Sanatoriumsgebäudes stattfinden. Den aufklärerischen Humanisten und Demokraten Lodovico Settembrini etwa lernt Hans Castorp im Dorf kennen (GKFA 5.1, 88f.), nicht in der von einer fatalen Mischung aus Krankheit und Erotik vernebelten Atmosphäre des Sanatoriums, wo er die meisten anderen Patienten zum ersten Mal trifft. Nicht zufällig bezeichnet Settembrini, wie Joachim Ziemßen zitiert, die Kranken als die „Horizontalen“ (GKFA 5.1, 114), als Menschen, denen das Aufrechte des bürgerlichen Habitus fehlt. Der Tod wird in der Diktion der Erzählinstanz zur „endgültigen horizontalen Lage“ (GKFA 5.1, 677). Innerhalb der symbolischen Architektur des Gebäudes wiederum gibt es Räume des öffentlichen (Speisesaal) und des privaten Lebens (Zimmer) sowie Bereiche, in denen sich beide Sphären vermischen, so etwa auf den Balkonen oder in den Konversationsräumen, in denen man sich nach dem Dinner trifft und in denen man sich während der Fasnacht die Freiheit nimmt, Fremde zu duzen (GKFA 5.1, 497f.). Später wird hier das Grammophon aufgestellt, das Castorp in Beschlag nimmt. Die Untersuchungszimmer und der den physischen Körper durchleuchtende Röntgenapparat sowie

Vertikale Achse

Horizontale Achse

Symbolische Architektur

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V. Textanalysen

Zeitliche Strukturen

Mythische Entgrenzung von Zeit und Raum

die Räume, in denen Dr. Krokowski Psychoanalyse, also die seelische Durchleuchtung der Patienten betreibt, befinden sich im Untergeschoss (GKFA 5.1, 270), gleichsam im topographischen Unterbewusstsein des Sanatoriums. Die anfänglich strikt abgegrenzte topographische Ordnung wird im Lauf des Geschehens zunehmend durchlässig. Mit der Abreise Madame Chauchats zu Beginn des sechsten Kapitels (GKFA 5.1, 526ff.), die den Schlusspunkt des ersten Teils des Romans bildet, beginnt eine neue Ära für Hans Castorp: Er erweitert seinen Horizont und verlässt immer öfter den begrenzten Raum des Sanatoriums – die topographische Expansion bildet die Metapher für die intellektuelle Horizonterweiterung (Wessel 1993, 142). „Veränderungen“ lautet der Titel des sechsten Kapitels, das diese Wende einläutet, und es ist kein Zufall, dass ihm eine erneute Reflexion Hans Castorps über die Beschaffenheit von Raum und Zeit vorangeht, wie er sie schon im ersten Teil anstellte (GKFA 5.1, 521). An dieser Stelle erfolgt sie jedoch nicht in der wörtlichen Rede, sondern wird von der Erzählinstanz referiert, welche die Passage mit dem Hinweis endet: „Hans Castorp fragte so und ähnlich in seinem Hirn, das gleich bei seiner Ankunft hier oben zu solchen Indiskretionen und Quengeleien sich aufgelegt gezeigt hatte und durch eine schlimme, aber gewaltige Lust, die er seitdem gebüßt, vielleicht besonders dafür geschärft und zum Querulieren dreist gemacht worden war.“ (GKFA 5.1, 521f.) War Hans Castorp bei seiner Ankunft bereits zu „Indiskretionen“ aufgelegt, so wird er nun im zweiten Teil des Romans tatsächlich „dreist“, nämlich zunehmend selbstbewusst und weniger beliebig in seinen Überlegungen. Warum aber bezeichnet der Erzähler – wenn man ihn einmal mit diesem Begriff vermännlichen und personalisieren will – das Nachdenken über Zeit und Raum als eine „Indiskretion“? Es ist insofern indiskret, als es sich nicht in den Rahmen der bürgerlichen Ordnung fügt, die auf feste zeitliche und räumliche Strukturen baut. Diese aber verschwimmen für Hans Castorp zunehmend, je länger er sich auf dem Zauberberg aufhält. Hatte er am ersten Tag auf die Ankündigung seines Vetters Joachim Ziemßen, er werde wohl noch ein halbes Jahr in Davos bleiben müssen, noch geantwortet: „Ein halbes Jahr? Bist du toll?“ (GKFA 5.1, 17), so wird er selbst sehr schnell „toll“ an der eigenen Zeitvorstellung, die sich immer mehr verwirrt. Noch am ersten Tag belehrt er Joachim, der sich auf die Messbarkeit der Zeit durch Uhren und Kalender beruft, darüber, dass Zeit von der subjektiven Wahrnehmung abhänge: „Die Zeit ist doch überhaupt nicht ,eigentlich‘. Wenn sie einem lang vorkommt, so ist sie lang, und wenn sie einem kurz vorkommt, so ist sie kurz, aber wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist, das weiß doch niemand.“ (GKFA 5.1, 102) Man habe nur die Bewegung im Raum, um ein Gefühl für Zeitlichkeit zu bekommen, so Castorp weiter. Kompliziert wird es allerdings, wenn auch der Raum mythisch entgrenzt wird, wie es „oben“ auf dem Zauberberg und im Sanatorium der Fall ist. Bereits am Ankunftstag geht folgerichtig Castorp seiner zeitlichen Gewissheit verlustig: „Gott, ist immer noch der erste Tag? Mir ist ganz, als wäre ich schon lange – lange bei euch hier oben.“ (GKFA 5.1, 127) Als er kurz darauf von Settembrini nach seinem Alter gefragt wird, weiß er für einen zögerlichen Moment keine Antwort zu geben (GKFA 5.1, 132). Der scharfsinnige

3. Der Zauberberg

Settembrini rät Castorp daraufhin zur sofortigen Abreise. Er erkennt die Gefahr, die sich hinter dieser zeitlichen Unsicherheit verbirgt und jenen Prozess einleitet, der den Besucher „oben“ für das Leben und Arbeiten „unten“ zunehmend untauglich macht. Ein Blick Hans Castorps auf die begehrenswerte Madame Chauchat genügt jedoch, um Settembrinis Vorschlag ins Leere laufen zu lassen (GKFA 5.1, 133). Auch die Zeit erfährt im Roman also keine realistische Behandlung, weder auf der Ebene der Handlung und der philosophischen Gespräche der Figuren noch hinsichtlich der narrativen Inszenierung. Zwar erhält der Leser immer wieder vermeintlich realistische Zeitangaben, doch auch diese scheinen sich eher an der mythisch-märchenhaften Bedeutung der Zahl sieben zu orientieren als an den Gegebenheiten der Wirklichkeit. Als Hans Castorp im „Walpurgisnacht“ betitelten Kapitel endlich Clawdia Chauchat näher kommt und vermeintlich eine Liebesnacht mit ihr verbringt – wenn diese auch nicht erzählt wird –, sind sieben Monate seit seiner Ankunft in Davos vergangen (GKFA 5.1, 488, 498, 499). Insgesamt wird er sieben Jahre auf dem Zauberberg verbringen, in der zweiten Hälfte wird die erzählte Zeit also sehr deutlich beschleunigt: Die Erzählung der ersten sieben Monate nimmt in etwa so viel Raum ein wie die Erzählung des Restes der sieben Jahre. Da das Erzähltempo jedoch immer wieder, vor allem durch die wörtliche Widergabe von Dialogen, entschleunigt wird, gerät auch das Zeitgefühl des Lesers in Verwirrung. Nicht einmal die Forschung ist sich einig darüber, ob es sich bei der langen Eingangspassage, in der Castorps Zeitsinn allmählich durcheinander gerät, tatsächlich nur um einen Tag handelt. Im Abschnitt „Schnee“ des sechsten Kapitels, in dem Hans Castorp eine einsame Schneewanderung auf den Berg unternimmt, wird die Erzählzeit schließlich sogar so weit gedehnt, dass sie die erzählte Zeit übertrifft. Ein Ort, an dem sieben Minuten lang Fieber gemessen wird (GKFA 5.1, 102) und sieben Tische im Speisesaal stehen (GKFA 5.1, 68), an dem man von einer Zwergin bedient wird (GKFA 5.1, 68f.) und ein hinkender Concierge den Torwächter spielt (GKFA 5.1, u.a. 75), mutet eher märchenhaft denn realistisch an; auf die Nähe seiner Geschichte zum Märchen hatte die Erzählstimme im „Vorsatz“ bereits hingewiesen (GKFA 5.1, 10). So geht es im Sanatorium Berghof nicht nur um die medizinische Heilung physischer Lungenerkrankungen, sondern auch um den Anteil des individuellen wie kollektiven Unbewussten an der Krankheit – das sich nicht zuletzt in Märchen und Mythos manifestiert. Schon das schulmedizinische Röntgen, das Hofrat Behrens mit ihm vornimmt, macht Hans Castorp nicht nur mit den physischen Details seines Innenlebens vertraut, sondern führt ihm auch die eigene Sterblichkeit vor Augen. Der Anblick seiner geröntgten rechten Hand mit dem Siegelring seines Großvaters erschüttert ihn: „Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon er auch niemals gedacht hatte, daß es ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichts […] und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde.“ (GKFA 5.1, 333) Dieser erhellenden Durchleuchtung geht eine Begegnung mit Madame Chauchat im Wartezimmer voraus, die den verliebten Hans Castorp wieder

Narrative Inszenierung der Zeit

Der Zauberberg als Märchenwelt

Eros und Thanatos

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V. Textanalysen

Liebe, Krankheit und Psychoanalyse

Homoerotisches Begehren

Clawdia Chauchat

einmal in eine Art Traum versetzt („und wie im Traum hörte Hans Castorp zu“; GKFA 5.1, 323; zur Rolle des Traums im Roman siehe u.a. Bensch 2004, 57ff.). In diesem somnambulen Zustand findet er Zugang zu dem, was ihm sein Bewusstsein zunächst vorenthalten hatte: die Schulzeit-Erinnerung an die homoerotische Liebe zu seinem Mitschüler Pribislav Hippe, die der Anblick von Clawdia Chauchat wieder zu Tage fördert (GKFA 5.1, 322). Die Verbindung von sexuellem Begehren und der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit, die bereits den Grundtenor der Novelle Tod in Venedig bildete, wird auch in Der Zauberberg zum zentralen Topos. Allerdings wird die Verbindung von Eros und Thanatos hier weniger schicksalsschwer präsentiert. Auch zeitigt sie für Hans Castorp, im Gegensatz zu Gustav von Aschenbach, keine tödlichen Folgen. Das psychologische Gegenstück zu Behrens’ körperlicher Durchleuchtung bilden die psychoanalytischen Vorträge von Dr. Krokowski über „Die Liebe als krankheitsbildende Macht“ (GKFA 5.1, 178), die den Patienten den Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und dem verdrängten Begehren vor Augen führen und sie zur weiteren „Seelenzergliederung“ ermuntern sollen. Hans Castorp verpasst zu Beginn seines Aufenthalts den ersten dieser vierzehntägig stattfindenden Vorträge beinahe, weil er sich als Besucher die Freiheit nimmt, stattdessen einen Spaziergang auf den Berg zu machen. Während dieses Ausflugs versetzt ihn ein heftiges Nasenbluten erstmals in jene traumhafte Sphäre, in der die Erinnerung an Pribislav Hippe in sein Bewusstsein tritt (GKFA 5.1, 182ff.). Sein Widerstand schwindet daraufhin, im letzten Moment gelangt er in den Speisesaal, wo Krokowskis Vortrag gerade beginnt. Hier kommt Castorp ausgerechnet hinter Clawdia Chauchat zu sitzen, die zu betrachten er nun den ganzen Vortrag hindurch Gelegenheit hat, während Krokowski über den psychoanalytischen Zusammenhang von Krankheit, unterdrücktem Trieb und verdrängter „Liebe“ philosophiert (GKFA 5.1, 190ff.). Im ersten Teil des Romans steht die körperliche Liebe, das sexuelle Begehren im Zentrum, im zweiten Teil wird es die Liebe als eine humanistische Kraft sein. Hans Castorp hat allen Grund, Krokowskis „Seelenzergliederung“ zu fürchten, könnte sie doch sein auf Clawdia Chauchat übertragenes homoerotisches Verlangen nach Hippe aufdecken (Dierks 1994, v.a. 173, 182ff.). Gerhard Härle formuliert die These, Der Zauberberg sei kein Roman über die Psychoanalyse als vielmehr ein Roman als Psychoanalyse (Härle 1986, 78), denn es ist die leitmotivische Wiederholungsstruktur des Textes, die Hans Castorp zur Erkenntnis seines homosexuellen Begehrens führt; die Form des Romans lehnt sich an die Struktur einer psychoanalytischen Sitzung an. Clawdia Chauchat indes eignet sich hervorragend als Projektionsfläche für Castorps erinnernde Sehnsucht. Obwohl sie sich als femme fatale präsentiert, werden von der Erzählinstanz ihre herben, fast männlichen Züge betont. Wiederholt erwähnt sie ihre knabenhafte Erscheinung mit flacher Brust und ihre asiatisch anmutenden, „zauberhaft geschnittenen Kirgisenaugen“ (GKFA 5.1, 223), die ganz den Augen Pribislav Hippes entsprechen. Doch nicht nur ihr Aussehen, auch ihr Verhalten ist männlich kodiert: Schon das rituelle Zuschlagen der Tür des Speisesaals, mit dem sie ihre wohlinszenierten Auftritte einleitet und die Blicke auf sich zieht, zeugt von

3. Der Zauberberg

den Freiheiten, die sie sich nimmt. Sie ist, so Hermann Kurzke, ungebunden, lustvoll, untreu und kinderlos (Kurzke 2010, 195). In seinem Essay Die Ehe im Übergang (1925) hatte Thomas Mann mit diesen Attributen die verantwortungslose, da nicht auf Erhalt der Gattung und der bürgerlichen Ordnung zielende männlich-gleichgeschlechtliche Liebe beschrieben – in der Logik dieses Essays wäre Chauchat also ein homosexueller Mann (siehe Kapitel IV.3.). Hinzu kommt die Auszeichnung durch die Krankheit. Sie dient ihr, ebenso wie den anderen Patienten, als Vorwand für einen (nach den bürgerlichen Maßstäben) liederlichen Lebenswandel. Das Verführerische ihrer Erscheinung ist amoralisch, so die Überlegung des verwirrten Hans Castorp während Krokowskis Vortrag, weil es seinen eigentlichen Zweck verfehlt, weil es durch die Krankheit der bürgerlichen Pflicht zur Reproduktion enthoben ist: „Versteht sich, es war um eines gewissen Zweckes willen, daß die Frauen sich märchenhaft und beglückend kleiden durften, ohne dadurch gegen die Schicklichkeit zu verstoßen; es handelte sich um die nächste Generation, um die Fortpflanzung des Menschengeschlechts, jawohl. Aber wie, wenn die Frau nun innerlich krank war, so daß sie gar nicht zur Mutterschaft taugte, – was dann? Hatte es dann einen Sinn, daß sie Gazeärmel trug, um die Männer neugierig auf ihren Körper zu machen, – ihren innerlich kranken Körper? Das hatte offenbar keinen Sinn und hätte eigentlich für unschicklich gelten und untersagt werden müssen. Denn daß ein Mann sich für eine kranke Frau interessierte, dabei war doch entschieden nicht mehr Vernunft, als … nun, als seinerzeit bei Hans Castorps stillem Interesse für Pribislav Hippe gewesen war.“ (GKFA 5.1, 197f.) Die Liebe jenseits der heterosexuellen Norm und der institutionalisierten Form wird vom jungen Bürgersohn als amoralisch klassifiziert. Settembrini, der Aufklärer, wird sein Schwärmen für Madame Chauchat entsprechend als Gefahr für seinen jungen Adepten einstufen, denn dieses Begehren zieht ihn immer deutlicher auf die Seite der antibürgerlichen Formlosigkeit des Sanatoriumslebens und macht ihn untauglich für das „Flachland“. Für ebenso schädlich hält der humanistische Pädagoge den Einfluss des Intellektuellen und Geistlichen Naphta – „Jesuit und Kommunist, Verteidiger des Terrors und der Inquisition“ (Kurzke 2010, 202) –, dessen weltanschaulich-politische Streitgespräche mit Settembrini den zweiten Teil des Romans prägen. In der binären Struktur des Textes steht Naphta, schon wegen seiner ostjüdischen Herkunft (GKFA 5.1, 663), auf Seiten des Ostens, der Formlosigkeit, des Luxus, des Müßiggangs, der Krankheit und der Welt „oben“, während Settembrini für die Ideale des Westens, der Form, der Askese, der Arbeit, der Gesundheit und der Welt des „Flachlandes“ steht (Kurzke 2010, 203f.). Die Tatsache, dass Settembrini für diese Werte eintritt, ohne sie selbst unbedingt zu verkörpern – weder ist er gesund, noch arbeitet er –, zeugt von der ironischen Anlage dieses stilisierten Dualismus zwischen den beiden unvereinbaren Positionen. Settembrini wohnt im Stockwerk über Naphta, was ihn in der symbolischen Topographie des Romans noch weiter vom „Flachland“ entfernt; zudem befindet sich die Wohnung der beiden in einem Haus im Ort, also außerhalb des Sanatoriumsgeländes. Wenn die Vettern Castorp und Ziemßen bei Naphta zu Besuch sind, stößt Settembrini hinzu, um „durch seine Anwesenheit ein pädagogisches Gegen-

Die Amoralität der Krankheit

Naphta und Settembrini

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V. Textanalysen

Das „Schnee“Kapitel

„Ich will gut sein“

gewicht zu schaffen“ (GKFA 5.1, 595) und die beiden jungen Männer vor Naphtas katholischem Anti-Rationalismus zu bewahren (zu Naphtas politischen Positionen siehe Grenville 2008). Gleichzeitig tauscht der verarmte Settembrini den Aufenthalt in seiner eigenen asketischen Klause nur zu gern mit dem in den luxuriös-barocken Räumlichkeiten Naphtas (GKFA 5.1, 612), wie die Erzählinstanz ironisch anmerkt. Die Verwirrung, welche die divergenten und keinesfalls immer klar definierten politischen Positionen der beiden Pädagogen gestiftet haben, lichtet sich für Hans Castorp erst im „Schnee“ betitelten Kapitel (GKFA 5.1, 706ff.). Hier gelangt der ,Schüler‘, der in den Disputen zum Schweigen verurteilt war (Settembrini: „Schweigen Sie, Ingenieur!“ GKFA 5.1, 610), zu eigenen Einsichten. Hinter dem Rücken von Dr. Behrens, der den Patienten jede sportliche Betätigung versagt, doch begrüßt von Settembrini, bringt sich Hans Castorp selbst das Skifahren bei. Auf einem seiner Skiausflüge gerät er in einen Schneesturm; im dichten Schneetreiben fährt er unwissentlich im Kreis und verliert jedes Zeitgefühl. In dieser Situation gerät er noch einmal in einen somnambulen, erkenntnisfördernden Zustand, in dem er eine träumerische Vision hat: Zunächst imaginiert er eine arkadische MittelmeerLandschaft, einen idyllischen Ort, bevölkert von jungen und schönen „Menschen-, Sonnen- und Meereskindern“, die Hans Castorp als „klug und liebenswürdig von innen heraus“ erscheinen (GKFA 5.1, 742). Im Bild der stillenden Mutter, die von Jünglingen gegrüßt wird, scheint der Gegensatz von unschuldiger (und bürgerlich akzeptierter) Mutterliebe und Homoerotik in „heiterer Freundschaft“ vereinbar. Doch ein schöner Knabe, der an Tadzio aus Der Tod in Venedig erinnert, verweist den Träumenden ernst auf ein anderes Bild: das eines antik anmutenden Tempels, in dem zwei „graue Weiber, halbnackt, zottelhaarig, mit hängendem Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen“ ein Kind zerreißen und verschlingen (GKFA 5.1, 745). Wie schon bei Gustav von Aschenbach treffen Form und Unform, Apollinisches und Dionysisches im Traum aufeinander, wenn die Schranken des Bewusstseins aufgehoben sind (Wysling 1995, 411). Entsetzt findet Castorp wieder zu sich und versucht sich die Frage nach der Herkunft dieser Bilder mit dem kollektiven Unbewussten zu beantworten: „Man träumt nicht nur aus eigener Seele, möchte ich sagen, man träumt anonym und gemeinsam, wenn auch auf eigene Art.“ (GKFA 5.1, 746) Die Lehre, die Castorp aus dieser Vision zieht, ist einigermaßen verworren und dennoch wichtig für seine Entwicklung. Er emanzipiert sich von Naphta wie von Settembrini („sie sind beide Schwätzer“; GKFA 5.1, 747) und erteilt der auf dem Zauberberg verbreiteten und nun als amoralisch erkannten „Krankheit zum Tode“ eine Absage. „Ich will gut sein“, so lautet sein Schluss. „Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe und in nichts anderem.“ (GKFA 5.1, 748) Doch die Erkenntnis führt noch nicht zur Befreiung, am Ende des Tages kommt ihm die moralische Entschlossenheit bereits abhanden: „Was er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht mehr so recht.“ (GKFA 5.1, 751) Bevor jedoch der „unheldische Held“, wie das Erzählmedium Hans Castorp nennt (GKFA 5.1, 897), durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs endgültig der Gefahr entrinnt, dem Leben abhanden zu kommen und dem Tod Herrschaft über seine Gedanken einzuräumen, er-

3. Der Zauberberg

eignen sich noch zwei wesentliche Dinge auf dem Zauberberg: Clawdia Chauchat, die nach (wenn auch nicht wegen) der vermeintlichen Liebesnacht mit Castorp abgereist war, kehrt in Begleitung Mynheer Peeperkorns ins Sanatorium zurück; und Hans Castorp besinnt sich auf die Musik. Peeperkorn bildet einen Gegenpol zu dem geistigen Bildungsprogramm, das Castorp in der Obhut Settembrinis und Naphtas durchläuft. Er ist eine dionysische Figur: laut, selbstbewusst und vergnügungswillig, eine „gewaltige Störung“ (GKFA 5.1, 869), doch sogar im betrunkenen Zustand noch erhaben. Selbst eine simple Kartenrunde avanciert bei Peeperkorn zur kultischen Feier (Marx 2002, 100), eine Tafelrunde zum bacchantischen Opferritual (Kashiwagi 2003, 101) oder zum letzten Abendmahl. Im Gegensatz zu den beiden Intellektuellen verkörpert er den freiwilligen und bewussten Verzicht auf rationale Kontrolle. Zugleich stilisiert er sich (wie Friedrich Nietzsche) neben Dionysos auch zur Christusfigur. Seine Auftritte, die die Sanatoriumsgesellschaft in ihren Bann ziehen, bewegen sich stets an der Grenze zur Peinlichkeit. Seine lärmende Rauschhaftigkeit bricht den Bann der Autorität von Naphta und Settembrini, doch als Person ist er eigentlich eine Karikatur (Kurzke 2010, 211). Das zweite Ereignis, Hans Castorps Beschäftigung mit der Musik (siehe u.a. Blumberg 1999), findet in den Gesellschaftsräumen statt, in der – als „letzte Errungenschaft“ der Unterhaltungstechnik und von „ausgepichtestem Raffinemang“, wie Hofrat Behrens feststellt – ein Grammophon aufgestellt wird (GKFA 5.1, 965). Hans Castorp zeigt eine unerwartete Entschlossenheit und übernimmt die Herrschaft über den empfindlichen Apparat: „,Lassen Sie mich das tun!‘ hatte er gesagt, indem er sie [die anderen] beiseite drängte, und sie waren ihm gleichmütig gewichen […], weil ihnen sehr wenig daran gelegen war, an der Quelle des Genusses tätig zu sein, statt sich bequem und unverbindlich damit bewirten zu lassen, solange es sie nicht langweilte.“ (GKFA 5.1, 968) Castorp, sonst wie seine Mitpatienten eher zur passiven Rückenlage neigend, ,ermannt‘ sich in dieser Situation. Nachdem er die Vergnügungswünsche der anderen Zuhörer mit leichter Kost befriedigt hat, zieht er sich allein in den Raum mit dem Grammophon zurück: „und blieb dort die halbe Nacht, tief beschäftigt“, wie die Erzählinstanz im Kapitel Fülle des Wohllauts berichtet (GKFA 5.1, 969). Musik und Grammophon verfolgen ihn noch im Traum. Von diesem Tag an herrscht Castorp über den Apparat, zu dem er ein zärtlich-libidinöses Verhältnis entwickelt. Die Erzählstimme berichtet im Kapitel Fülle des Wohllauts von den Lieblingsplatten Castorps in aufsteigender Reihenfolge: von der „tröstlichen Kraft“ eines ästhetisierten Todes, der von Verdis Aida ausgeht (GKFA 5.1, 975ff.), über ein französisches Instrumentalstück (Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune), das Castorp zu Träumen pflichtvergessenen Müßiggangs inspiriert (GKFA 5.1, 979f.), über Gounods rührende Faust-Oper (GKFA 5.1, 984f.) bis zu Bizets Oper Carmen, die den Widerstreit von Pflicht und Leidenschaft thematisiert. Nietzsche hatte Bizet zum männlichen Gegenbild des ,weichlichen‘ und effeminierten Wagner stilisiert (Nietzsche 1988, 15); der ansonsten im Frühwerk Thomas Manns omnipräsente Wagner wird unter Hans Castorps Platten allerdings nicht auftauchen – was nicht bedeutet, dass er subtil nicht präsent wäre. Castorps Favorit ist indes Schuberts Lindenbaum (GKFA 5.1,

Das Grammophon

„Fülle des Wohllauts“

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V. Textanalysen

Musik als moribundes Faszinosum

Spiritismus

Der Zauberberg als „Zeitroman“

Gereiztheiten

985ff.), den die Erzählinstanz als romantische Vertonung der „Sympathie mit dem Tode“ charakterisiert (GKFA 5.1, 988). Die Musik an sich ist in den Texten Thomas Manns eine gefährliche, zumindest eine suspekte Angelegenheit (Vaget 2009). Wie schon in der Novelle Tristan (1902), wo das Spielen von Musik in einem Sanatorium – in diesem Fall ist es Wagner – der klavierspielenden Patientin Frau Klöterjahn den Tod brachte, steht auch im Roman Der Zauberberg die Musik für ein moribundes Begehren. Die Erzählstimme bezeichnet das Grammophon als „Musiksarg“ (GKFA 5.1, 990). Der Genuss der Musik rückt das „Sorgenkind des Lebens“, wie Settembrini Castorp nennt, noch weiter in Richtung der Formlosigkeit, des Anti-Bürgerlichen, der Todessehnsucht. In Tristan hatte die ansonsten durchaus ironische Erzählinstanz die Wagner-Passagen mit heiligem Ernst berichtet. Die narrative Stimme des Zauberbergs hingegen wahrt Distanz. „Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten“, so beendet sie das Kapitel Fülle des Wohllauts lapidar. Die tragische Katastrophe bleibt aus, vielmehr geht die Erzählinstanz mit dem folgenden Kapitel nahtlos über zum Bericht über die spiritistischen Experimente, zu denen die Patienten durch die parapsychologischen Referate Dr. Krokowskis inspiriert werden und die dem Aufklärer Settembrini geradezu ein amoralisches „Greuel“ sind (GKFA 5.1, 1011). Die okkultistischen Sitzungen bilden eine Art grotesken Höhepunkt der im Sanatorium verbreiteten Todesverliebtheit, zu der Castorp mit seinem geliebten Grammophon die musikalische Untermalung liefert. Zwar ist er es, der am Ende der unheimlichsten Sitzung das Licht einschaltet (GKFA 5.1, 1033) und somit die vermeintliche ,Erscheinung‘ seines Cousins Joachim Ziemßen als irreal entlarvt, doch seine Nerven sind gleichwohl strapaziert durch das Ereignis. Die Atmosphäre auf dem Zauberberg spitzt sich zu, die Aggressionen zwischen den Patienten nehmen Überhand (GKFA 5.1, 1034ff.). Die Stimmung der kleinen Gruppe der Sanatoriumsinsassen spiegelt die Gereiztheit des politisch-gesellschaftlichen Klimas vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Bereits im Vorsatz hatte die Erzählinstanz angekündigt, dass die Geschichte Hans Castorps „nicht um seinetwillen“ erzählt werde (GKFA 5.1, 9), und im Verlauf des Erzählvorgangs immer wieder auf die „überpersönliche Bedeutung“ von dessen Schicksal verwiesen: „Der Mensch lebt nicht nur sein persönliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewußt oder unbewußt, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft […].“(GKFA 5.1, 53) Nicht nur im philosophischen, auch im politischen Sinne handelt es sich um einen „Zeitroman“; als solchen charakterisiert auch die Erzählstimme ihren Text (GKFA 5.1, 818). Die gereizte Stimmung auf dem Zauberberg entlädt sich schließlich im Duell zwischen Settembrini und Naphta, in dem sich Naphta, nachdem Settembrini den ersten Schuss in die Luft abgibt, selbst erschießt (GKFA 5.1, 1070). Der erschütterte Settembrini ist nun nicht mehr in der Lage, den Auflösungserscheinungen Einhalt zu gebieten. Hans Castorp speist mittlerweile am „schlechten Russentisch“ (GKFA 5.1, 1072), an den man ihn versetzt hat, und pflegt den Habitus eines Schülers, den man in Ruhe lässt, „weil sein Sitzenbleiben beschlossene Sache ist und weil er nicht mehr in Betracht kommt“ (GKFA 5.1, 1071) – ein Bild, das bereits die Erzählinstanz der Buddenbrooks auf die Schicksalsergebenheit Hanno Buddenbrooks an-

3. Der Zauberberg

gewandt hatte. Um diese zweifelhafte Form der „Freiheit“ von allen bürgerlichen Pflichten hatte Castorps den kranken Herrn Albin bereits bei seiner Ankunft in Davos beneidet (GKFA 5.1, 125). Settembrinis anti-dekadentes Aufklärertum hingegen verblasst zusehends; nach Naphtas Suizid hütet er das Bett und spricht nur noch „mit schwacher Stimme […] über die Selbstvervollkommnung der Menschheit auf gesellschaftlichem Wege.“ (GKFA 5.1, 1076) Der Roman, so Bodo Würffel, porträtiert mit den Sanatoriumsinsassen eine ennuierte, ausschließlich mit sich selbst beschäftigte Gesellschaft, die sich geradezu nach dem Krieg sehnt (Würffel 1995, 212ff.). Erst durch den „Donnerschlag“, den die Nachricht über den Ausbruch des Krieges bedeutet, wird der „Siebenschläfer“ Hans Castorp schließlich „entzaubert, erlöst, befreit“ (GKFA 5.1, 1078f.). Der Krieg bricht über den Zauberberg und Castorp herein wie eine „Heimsuchung“, die das dekadente und todesverliebte Phlegma beendet und (den ohnehin längst gesunden) Hans Castorp nach sieben Jahren endlich zur Abreise bewegt. Die Erzählinstanz beendet den Erzählakt mit einem Ausblick auf ihren Durchschnittshelden Hans Castorp im Krieg, den zu überleben sie ihm nicht recht zutraut (GKFA 5.1, 1085). Über das weitere Schicksal Castorps scheint sie keine Gewissheit zu haben. Oder sie zieht es vor, nicht darüber zu berichten, weil die Figur ihre Funktion mit dem Verlassen des Zauberbergs erfüllt hat. In diesen sieben Jahren war der unheldische Held Hans Castorp Repräsentant eines zunächst apolitischen, dann immer politischer denkenden deutschen Bürgertums. Zugleich war er auch als Individuum interessant; darauf wurde bereits im Vorsatz verwiesen (GKFA 5.1, 9). Nun aber verliert sich Castorp in der Menge der Soldaten – und eventuell der Toten – des Ersten Weltkriegs. Der märchenhaftmythische Umgang mit der Zeit, den Castorp und mit ihm die Erzählinstanz auf dem Zauberberg pflegten, mündet zurück in die reale Zeitgeschichte. Zu Beginn des siebten Kapitels hatte die Erzählerstimme noch einmal ausführlich über das Verhältnis von Erzählvorgang und Zeit nachgedacht. Wie so oft in diesem Text, reflektiert sie an dieser Stelle nicht nur das erzählte Geschehen auf dem Zauberberg und die Gedanken und Handlungen seines Helden Castorp, sondern auch das eigene Tun, den narrativen Vorgang und seine Bedingungen. Keiner Erzählerfigur Thomas Manns vor dem Zauberberg wurde so viel Raum für seine selbstreferentiellen Überlegungen eingeräumt. Dies wirft erneut (wie schon beim Tod in Venedig) die Frage auf, um wen es sich bei diesem „raunenden Beschwörer des Imperfekts“ (GKFA 5.1, 9) eigentlich handelt. Die Erzählinstanz kennt alle Gefühle und Gedanken Hans Castorps und erzählt vielfach aus dessen Sicht (interne Fokalisierung), ist zugleich jedoch in der Lage, die Figur aus großer ironischer Distanz zu betrachten. Das leitmotivische Erzählverfahren, das bereits in Der Tod in Venedig erprobt wurde, wird hier zu einer rhizomartigen Netzstruktur von Wiederholungen verwoben (siehe ausführlich Bulhof 1966, 167ff.). An vielen Stellen greift die Erzählinstanz Formulierungen Castorps oder anderer Figuren auf, umgekehrt zitieren auch die Figuren immer wieder Begriffe, die bereits vom Erzählmedium eingeführt wurden. Zudem wiederholen die Figuren untereinander die Formulierungen ihrer Mitpatienten. So schnappt Castorp etwa Ausdrücke bei Settembrini auf, die er seinem eigenen Sprachschatz einzu-

Der Erste Weltkrieg als „Donnerschlag“

Narrative Selbstreferentialität

Ein leitmotivisches Rhizom

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V. Textanalysen

Erzähltechnik und Fokalisierung

verleiben sucht. Settembrini seinerseits zitiert wiederum abwehrend-ironisch seinen Gegenspieler Naphta und umgekehrt. Viele dieser symbolischen Begriffe gehören verschiedenen Ästen der Erzählung an und verbinden diese miteinander. Dies gilt etwa für den von der Erzählstimme immer wieder erwähnten Bleistift, jene „Allegorie phallischer Signifikanz“ (Hörisch 1983, 209), die Castorps Erinnerung an Pribislav Hippe mit seiner Leidenschaft für Clawdia Chauchat verbindet; es trifft auch für die Liebe, den Tod, das „Flachland“, die schrägen Augen oder die Zahl sieben zu. Von wem eine Formulierung ursprünglich stammt oder welcher Geschichte ein Begriff angehört, ist in diesem Zitat-Geflecht oft nicht mehr eindeutig festzustellen, zumal, wenn die verschiedenen Zeitebenen verschwimmen. In Francis Bulhofs Studie zum Zauberberg umfasst das Register, das die leitmotivisch verwandten Begriffe auflistet, allein vierundzwanzig Seiten (Bulhof 1966, 201ff.). Wiederholt betont die Erzählinstanz, dass sie Sachverhalte nur deswegen ausführlich darstellt, weil sie Hans Castorp beschäftigen, zum Beispiel mit Formulierungen wie dieser: „Diese Bemerkungen werden nur deshalb hier eingefügt, weil der junge Hans Castorp ähnliches im Sinne hatte“ (GKFA 5.1, 161). Trotzdem kommt es vor, dass Castorps Ideen zum jeweiligen Thema auch noch wörtlich vom narrativen Medium wiedergegeben werden. Wenn die Erzählinstanz etwas außerhalb von Castorps Bewusstseinskreis berichtet, etwa die Lebensgeschichte Leo Naphtas, so beeilt sie sich sofort anzumerken, dass auch Castorp darüber Bescheid wisse: „Diese Dinge nebst Weiterem und Genauerem erfuhr Hans Castorp gesprächsweise von Naphta selbst“ (GKFA 5.1, 673). Von einer Identität von Erzählinstanz und Figur ist hier jedoch nicht auszugehen. Bei dem Verfasser erlesener Prosa, Gustav von Aschenbach, erschien eine Identität mit seinem Erzähler möglich; dem durchschnittlichen, naiven und sprachlich oft ungelenken Hans Castorp hingegen mag man die Erzählung seiner selbst nicht recht zutrauen – trotz der Schule Settembrinis, die er durchlaufen hat. Das „unbeschriebene Blatt“, als das die Erzählinstanz ihn eingangs beschrieb (GKFA 5.1, 59), ist Castorp nach all den Ritualen des körperlichen, geistigen und psychischen Durchleuchtens indes auch nicht mehr.

4. Mario und der Zauberer Eine Parabel auf den Faschismus

Die Erzählung Mario und der Zauberer gilt als eine der frühen großen Parabeln auf den europäischen Faschismus (Erstdruck 1930). Aus heutiger Perspektive erscheint die Novelle mit ihrer präzisen Analyse der Funktionsweise faschistischen Herrschertums geradezu visionär. Zwar hat Thomas Mann selbst dieser Lesart wiederholt widersprochen, doch ist gerade die politische Dimension des Textes der Grund, warum die Novelle heute zum Hauptwerk Thomas Manns zählt (Vaget 1995, 596). Bis heute ist in der Forschung umstritten, ob die Novelle eher politisch (u.a. Sautermeister) oder eher sozialpsychologisch und im Kontext von Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption (u.a. Dierks) zu lesen ist (Kurzke 2010, 234f.). In der jüngsten Forschung wird zudem Manns Beschäftigung mit Freud als Hintergrund betont (Zeller 2006, 35ff.).

4. Mario und der Zauberer

Thomas Mann beginnt die Arbeit an dem Text 1929 während eines Urlaubs im Ostseebad Rauschen und rekurriert dabei auf ein anderes Reiseerlebnis: den Sommeraufenthalt mit Ehefrau Katia und den beiden jüngsten Kindern, Michael und Elisabeth, im italienischen Forte di Marmi im Jahr 1926. Es war nicht Thomas Manns erster Aufenthalt im von Mussolini regierten Italien (Zeller 2006 49ff.), doch bedurfte es wohl der Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Deutschland, um den Novellenplan reifen zu lassen. Bereits während des Aufenthalts 1926 berichtet Thomas Mann von „kleinen Widerwärtigkeiten“ und einem „unerfreulichen überspannten und fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand“ in Italien, den er auf den „blähenden Einfluß des Duce“ zurückführt, wenn dieser auch „das eigentliche Volk“ noch nicht erreicht habe, wie er an Hugo von Hofmannsthal schreibt (Brief vom 7.9.1926, BrAu 215f.). Mussolini regierte in Italien seit 1922 – sein „Marsch auf Rom“ war ungleich erfolgreicher verlaufen als Hitlers „Marsch auf die Feldherrnhalle“ in München 1923. Bis zum Entstehungsjahr der Novelle (1929) hatte sich jedoch die politische Lage in Deutschland so weit verschärft, dass Thomas Mann eine Parallele zu den italienischen Verhältnissen zog, die er nun offenbar anders bewertete. Der Erfolg beider faschistischer Diktatoren, Hitlers wie Mussolinis, beruhte, mit den Worten des Historikers Wolfgang Schieder, auf der „Herstellung eines ideologischen Massenkonsens“, beide gelangten durch ihre „demagogische Verführungskraft“, nicht durch inhaltliche Überzeugungsarbeit an die Macht (Schieder 2008, 258). Die Novelle literarisiert den Mythos des die Massen steuernden (Ver-)Führers anhand der fiktiven Figur Cipolla und inszeniert dabei sowohl das Verhalten der manipulierbaren Masse (erster Teil der Novelle) als auch das des Demagogen (zweiter Teil der Novelle). Im ersten Teil des Textes berichtet der Erzähler vom Familienurlaub im fiktiven italienischen Badeort Torre di Venere („Turm der Venus“, eine Anspielung auf Wagner) und den politischen Implikationen dieses Aufenthalts. Im zweiten Teil erzählt er vom Auftritt des vermeintlichen Zauberkünstlers Cipolla in dem kleinen Städtchen und den daran anschließenden Überlegungen zum Verhältnis von Masse und Macht, Herde und Führerfigur. Bereits der erste Teil der Novelle verhandelt das Grundproblem des Funktionierens einer faschistoiden Gesellschaftsstruktur. Kurz nach ihrer Ankunft sehen sich der Erzähler und seine Familie im „Grand Hôtel“, wo sie logieren, mit fremdenfeindlich motivierten Benachteiligungen konfrontiert: Der Wunsch, das Abendessen auf der Veranda einzunehmen, wird von den Kellnern mit dem Hinweis zurückgewiesen, die gewünschten Plätze seien der eigenen Kundschaft vorbehalten – „ai nostri clienti“, wie der Erzähler die italienische Absage empört zitiert: „Unseren Klienten? Aber das waren wir.“ (GW VIII, 661). Die italienische Hotelleitung zieht eine klare Linie zwischen einheimischer und fremder Kundschaft, ingroup und outgroup. Die auf diese Weise zu Außenseitern gestempelten deutschen Gäste verlassen schließlich das Hotel, als sie wegen des bereits abklingenden Keuchhustens der kleinen Tochter in ein Nebengebäude umziehen sollen, weil eine anwesende italienische Fürstin um die Gesundheit ihrer Kinder fürchtet. Die Fremdenfeindlichkeit der italienischen Gesellschaft, so die Pointe dieses ersten Teils der Novelle, entzündet sich an einer Banalität, gleichsam an Kindereien. Man scheint einen Vorwand für die Ausgrenzung des Frem-

Politisch-historischer Kontext

Inhalt

Politisches Setting

Kindliche Nacktheit und Moral

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V. Textanalysen

Der Mensch in der Masse

Der Typus des „Führers“

den geradezu zu suchen, wie an einer Episode am Strand deutlich wird, in der sich die Familie den xenophobischen Anfeindungen selbsternannter Sittenwächter ausgesetzt sieht, weil sie der achtjährigen Tochter erlaubt, nackt am Strand zu spielen. Die von empörten italienischen Strandbesuchern herbeizitierte Obrigkeit verhängt schließlich sogar ein Bußgeld, „ein Sühneund Lösegeld“ (GW VIII, 668), wegen des Verstoßes gegen die öffentliche Moral. Absurd erscheint dieses Vorgehen in den Augen des Erzählers insofern, als er darin „alles Pathos des sinnenfreudigen Südens […] in den Dienst spröder Zucht und Sitte gestellt findet“ (GW VIII, 667). Das Klischee wird auf den Kopf gestellt: Der als „sinnenfreudig“ geltende Süden erweist sich als anachronistisch in seinen Moralvorstellungen bezüglich der kindlichen Nacktheit, die Haltung der Besucher aus dem Norden erscheint aus der Perspektive des Erzählers als modern und aufgeklärt: „Ich halte Ihnen keinen Vortrag, aber in der ganzen Welt hat das Verhalten zum Körper und seiner Nacktheit sich während der letzten Jahrzehnte grundsätzlich und das Gefühl bestimmend gewandelt.“ (GW VIII, 667) Der fremdenfeindliche Akt wird somit zugleich als zivilisatorische und kulturrevolutionäre Rückschrittlichkeit codiert. Auffallend ist, dass sich der Erzähler hier wie bei der Behandlung im Hotel nicht so sehr über das fremdenfeindliche Element in der erlebten Behandlung echauffiert, sondern vornehmlich über den „naiven Mißbrauch der Macht“ und die „kriecherische[] Korruption“, die diesem Verhalten zugrunde liegt (GW VIII, 663). Der Erzähler kritisiert also nicht den Einzelnen, das Individuum, sondern dessen Agieren innerhalb der Gruppe, funktioniert der Faschismus – hier der italienische – doch gerade über die Ausschaltung des individuellen Willens, der zugunsten der Kollektivmeinung aufgegeben wird. Dazu passt, dass die deutschen Urlauber zwar in ihrer zweiten Unterkunft, der Pension Eleonora, in die sie aus dem Grand Hotel übersiedeln, freundlicher empfangen werden und sich wohler fühlen. Doch wir erfahren von keinem einzigen Einheimischen, der sich die Grundsätze der Gastfreundschaft so weit zu eigen machen würde, dass er die deutschen Gäste gegen Anfeindungen verteidigte. Die Leitung des ersten Hotels steuert das fremdenfeindliche Verhalten der Kellner und biedert sich damit beim einheimischen Adel an, die Empörung der Menge am Strand bildet die Grundlage des Einschreitens der Behörden. In beiden Fällen wird die individuelle Verantwortung, welche die Grundlage aufgeklärter Ethik bildet, preisgegeben zugunsten des Agierens einer Masse, die in dieser binären Kodierung als grundsätzlich nicht-moralisch, als jenseits der Moral stehend, erscheint. Hier wird deutlich, dass es sich bei Mario und der Zauberer eben nicht nur um eine Parabel auf politische Verhältnisse handelt, sondern auch um einen grundsätzlich kulturtheoretisch argumentierenden Text. Das Verhältnis von Masse und Macht, Volk und Führer bildet den Schwerpunkt des zweiten Teils der Erzählung, dem Bericht über die Vorstellung des Zauberkünstlers Cipolla, die der Erzähler gemeinsam mit Frau und Kindern besucht. Zwar hatte Thomas Mann während seines Urlaubs 1926 in Italien tatsächlich den Auftritt eines Zauberkünstlers erlebt (siehe hierzu Vaget 1995, 597); auch verweist der Begriff des „Zauberers“ auf den Spitznamen, den Thomas Mann innerhalb seiner Familie trug. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass der Zauberer der Novelle eine fiktive Figur ist. Cipolla verkör-

4. Mario und der Zauberer

pert den Prototypen des demagogischen (Ver-)Führers, er stellt keine historische Figur dar, sondern einen Typus und ein Prinzip. Schon am Auftreten Cipollas wird dies deutlich: Er betritt die Bühne in einem „weiten schwarzen und ärmellosen Radmantel mit Samtkragen und atlasgefütterter Pelerine“, bestückt mit weißen Handschuhen und weißem Schal sowie einem „geschweiften, schief in die Stirne gerückten Zylinderhut“ (GW VIII, 674). Durch diese Staffage lässt er sich in den Augen des Erzählers klar einer Kategorie zuordnen: „Vielleicht mehr als irgendwo ist in Italien das achtzehnte Jahrhundert noch lebendig und mit ihm der Typus des Scharlatans, des marktschreierischen Possenreißers, der für diese Epoche so charakteristisch war […]. Cipolla hatte in seinem Gesamthabitus viel von diesem historischen Schlage […].“ (GW VIII, 674) Der Demagoge Cipolla wird schon in dieser ersten Beschreibung dem Typus des billigen Komödianten, somit der untersten Kategorie des Künstlers zugeordnet. Und die Charakterisierung seiner körperlichen Erscheinung durch den Erzähler macht mehr als deutlich, zu welcher kulturhistorischen Kategorie er gehört: Die wiederholte Beschreibung als „Krüppel“, das schüttere und gefärbte Haar (GW VIII, 680), seine langen, gelblichen Hände, seine „kleinen strengen Augen, mit schlaffen Säcken darunter“, und nicht zuletzt seine „schadhaft abgenutzten, spitzigen Zähne“ (GW VIII, 675) kennzeichnen ihn innerhalb des Universums der Figuren Thomas Manns als typischen Vertreter einer spätzeitlichen Décadence, einer Epoche, die sich selbst überlebt hat und dem Untergang geweiht ist. Zugleich wird Cipolla jedoch auch als dynamischer Machtmensch inszeniert: Mit stechendem Blick und knallender Reitpeitsche – was an den Habitus des „Duce“ Mussolini erinnert – bannt er nicht nur die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer, sondern unterwirft sie seinem Willen und stellt sie öffentlich bloß. Die Vorstellung beginnt harmlos mit ein paar mathematischen Tricks, doch gerät Cipolla bereits hier in Differenzen mit dem Publikum. Auffallend ist, dass der Zauberkünstler keineswegs die Gunst der Zuschauer gewinnen will, sondern geradezu Streit mit ihnen sucht. Der junge Mann, der die Ehre seines Städtchens verteidigt und sich gegen Cipollas herablassenden Ton und seine Beleidigungen verwahrt (GW VIII, 683), wird von diesem bestraft, indem er ihn der allgemeinen Lächerlichkeit preisgibt – Cipolla zwingt ihn mit seinem hypnotischen Blick, sich mit Verdauungsproblemen zu winden: „Krümme dich! […] Was bleibt dir anderes übrig?“ (GW VIII, 685) Dem Subjekt bleibt eben nichts übrig, als sich zu krümmen, sich vor der von Cipolla verkörperten Macht zu verneigen. In der Diktion Schopenhauers würde dies lauten: Die Macht der „Vorstellung“, der vernünftigen Kraft des Subjekts, reicht nicht aus, sich gegen die Macht des „Willens“, jener alles beherrschenden irrationalen Lebensenergie, zu behaupten. Wo immer ein Zuschauer versucht, sich mit seiner rationalen Kraft der Beeinflussung entgegen zu stemmen, wird er von Cipolla eines Besseren belehrt. So auch der Mann, der bei einem Kartentrick mitwirkt und entschlossen ist, sich der Manipulation zu entziehen: „Sie werden mir“, so Cipolla, „damit meine Aufgabe etwas erschweren. An dem Ergebnis wird ihr Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere. Sie sind frei, [eine bestimmte Karte] zu ziehen oder

Der Diktator als Schmierenkomödiant

Cipollas Macht

Die Hingabe der Masse an die Macht

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V. Textanalysen

Cipollas Schwäche

Der Zauberer als Dämon

Das Publikum als willfährige Masse

nicht zu ziehen. Ziehen Sie aber, so werden Sie richtig ziehen, – desto sicherer, je eigensinniger Sie zu handeln versuchen.“ (GW VIII, 689) Cipolla manipuliert sein Publikum nicht, indem er etwas vortäuscht. Im Gegenteil: Er verschleiert gar nicht seine Absicht, den Willen des Anderen seinem eigenen Willen zu unterwerfen. Damit stiftet er zwar, mit den Worten des Erzählers, „seelische Verwirrung“ (GW VIII, 689), macht sich sein Publikum aber umso gefügiger. Die ,Masse‘ folgt dem ,Führer‘, so ließe sich aus dieser politischen Parabel schließen, nicht, weil sie ihn liebt. Cipolla ist seinen Zuschauern alles andere als sympathisch; er gehört „keineswegs dem Menschenschlag an […], den der Italiener, in eigentümlicher Mischung moralischen und ästhetischen Urteils, als ,Simpatico‘ anspricht.“ GW VIII, 680). Vielmehr wartet die Masse nur darauf, die eigene Freiheit zugunsten des vermeintlich Größeren und Stärkeren preiszugeben. Wo sich Widerstand regt, ist dieser zu schwach – selbst dort, wo man es, wie im Fall Cipollas, mit einer Macht zu tun hat, die auf den wackligen Füßen der Dekadenz steht. Der Zauberkünstler ist gebrechlich und krank, darüber können auch die Insignien der Macht, die Reitpeitsche und andere lächerliche Staffage, nicht hinwegtäuschen. Immer wieder muss der ,Künstler‘ seine schwankende körperliche Konstitution während der Vorstellung mit Alkohol und Zigaretten stützen. Ja, er zögert nicht einmal, sich gegenüber dem Publikum als das eigentliche Opfer zu deklarieren: „Sono io, il poveretto! Ich bin es, der das alles duldet.“ (GW VIII, 698) Hinzu kommt ein Minderwertigkeitskomplex wegen seiner körperlichen Verwachsenheit, den der Erzähler bei Cipolla diagnostiziert. Dennoch hat der Zauberer die Masse fest im Griff. Es sind drei Argumente, die der Erzähler für das Funktionieren dieser Manipulation ins Feld führt. Zum ersten den Grund, den Cipolla selbst anführt: die Anspannung seines Willens. Nicht das ausführende Opfer sei tätig, so Cipolla, sondern letztlich immer er selbst (GW VIII, 702). Zum zweiten verweist der Erzähler auf ein dunkles mystisches Element in Cipollas Handeln, indem er dessen Zaubertricks einen „zweideutig-unsauberen und unentwirrbaren Charakter des Okkulten“ (GW VIII, 691) zuspricht. Zwar erwähnt er es explizit nur in einer Redewendung – „mochte der Teufel wissen“ (GW VIII, 690) –, doch klingt in der Rede des Erzählers wiederholt implizit an, dass die demagogische Macht Cipollas auch eine dämonische Seite hat. Das dritte und politisch wohl entscheidende Argument jedoch lautet: Die Masse will manipuliert werden. Es wird deutlich, dass die Opfer Cipollas ihren Zustand der Willenlosigkeit durchaus genießen; so auch ein Mann aus dem Publikum, der diesen Zustand geradezu zu ersehnen scheint und Cipollas Willen in „wohlgefälliger Ekstase“ ausführt: „Auch schien er in der Hörigkeit sich ganz zu behagen und seine armselige Selbstbestimmung gern los zu sein; denn immer wieder bot er sich als Versuchsobjekt an und setzte sichtlich seine Ehre darein, ein Musterbeispiel prompter Entseelung und Willenlosigkeit zu bieten.“ (GW VIII, 701) Das Publikum hat der Macht Cipollas nichts entgegen zu setzen, denn es fehlt ihm an einem Gegenkonzept. Der (politische) Widerstand ist nicht an sich erfolgreich, sondern nur, wenn er einem positiven alternativen Konzept folgt. So scheitern die widerständigen Zuschauer daran, dass sie über nichts als ihre Widerständigkeit verfügen: „Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht le-

4. Mario und der Zauberer

ben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als daß nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müßte […].“ (GW VIII, 702) Europa, so ließe sich für den zeithistorischen Kontext folgern, fehlt eine politische Alternative zum Faschismus; ohne aufklärerischen Gegenentwurf läuft jeder Widerstand ins Leere. So bietet auch der Schluss der Novelle letztlich keine praktikable Lösung. Der junge Kellner Mario wird von Cipolla in seinem Liebesbegehren vorgeführt und bloß gestellt. Mario wird schließlich so weit gedemütigt, dass er den hässlichen Zauberkünstler vor aller Augen küsst, weil er in ihm die Geliebte zu erkennen glaubt, die ihn endlich erhört: „Der Augenblick war grotesk, ungeheuerlich und spannend, – der Augenblick von Mario’s [sic] Seligkeit.“ (GW VIII, 710) In diesem Moment, in dem der Bericht des Erzählers seinen narrativen Höhepunkt erreicht, kippt die Situation: Mario, aus seiner Trance erwacht, wird sich der Demütigung bewusst und erschießt Cipolla: „[…] zwei flach schmetternde Detonationen durchschlugen Beifall und Gelächter.“ (GW VIII, 711) Mit den Schüssen enden „Beifall und Gelächter“, somit die Zustimmung des Publikums zum Machtexzess des Zauberers. Von Cipollas Demagogie bleibt nichts als ein „durcheinandergeworfenes Bündel Kleider und schiefer Knochen.“ (GW VIII, 711). Die Macht des Demagogen wird mit diesem Ende reduziert auf die jämmerlichen materiellen Reste seiner zuvor so wirkungsvollen Inszenierung. Der Erzähler deklariert den Tod Cipollas durch Marios Schüsse als einen Befreiungsakt: „Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!“ (GW VIII, 711) Die politische Lesart des Textes scheint die Sichtweise des Erzählers zu bestätigen: Nach ihr ließe sich Marios Tat als gezielte politische Handlung in der Tradition des Tyrannenmords deuten. Die Antwort auf das Erstarken des europäischen Faschismus zur Entstehungszeit der Novelle wäre dann ein entschlossenes Eingreifen der demokratischen Exekutivorgane. Alan Bance weist darauf hin, dass es sich der Erzähler der Novelle mit dieser Deutung der Schüsse auf Cipolla zu einfach macht (Bance 2002, 115). Die „hypnotische Faszination“ (Vaget 1995, 598), die vom Faschismus ausgeht, scheint zwar am Ende gebrochen, doch kann Marios vermeintliche Befreiungstat nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gesamte Publikum – und mit ihm auch der Erzähler – zuvor dieser Faszination erlegen war. Niemandes Willenskraft hat bis zum gewaltsamen Wendepunkt der Novelle ausgereicht, sich der Macht Cipollas zu widersetzen und dem Spuk auf unblutige Weise ein Ende zu bereiten. Auch der Erzähler erlag der Verführung und ergab sich jener Lust, die es bereitet, den eigenen Willen dem eines Führers zu unterwerfen. Mit der Betonung jener „wohlgefällige[n] Ekstase“ (GW VIII, 701), in der sich die gebannten Zuschauer befinden und die in Marios Kuss auf Cipollas Wange „nahe dem Mund“ (GW VIII, 710) kulminiert, wird diese Lust der Unterwerfung auch sexuell konnotiert. Der Erzähler der Novelle fügt sich nur auf den ersten Blick in die lange Reihe der auktorialen, unbeteiligten Beobachterfiguren, die in Thomas Manns Erzähltexten seit den Buddenbrooks als Erzähler fungieren und das

Schluss der Novelle

Lustvolle Unterwerfung

Brüchige ironische Distanz

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V. Textanalysen

Ansteckende Passivität

Zweifelhafte Erzählinstanz

Geschehen jeweils aus der Distanz ironisch kommentieren. Zwar spart auch dieser Erzähler nicht mit Spott – etwa, wenn er sich im ersten Teil der Novelle darüber lustig macht, dass die Gräfin im Grand Hotel fürchtet, ihre Kinder könnten sich an dem bereits ausgeheilten Keuchhusten seiner Tochter anstecken: „Das Wesen dieser Krankheit ist wenig geklärt, dem Aberglauben hier mancher Spielraum gelassen, und so haben wir es unserer eleganten Nachbarin [der Gräfin] nie verargt, daß sie der weitverbreiteten Meinung anhing, Keuchhusten sei akustisch ansteckend, und einfach für ihre Kleinen das schlechte Beispiel fürchtete.“ (GW VIII, 661) Doch die Ironie des Erzählers kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er sich ,infiziert‘ hat, auch er der Faszination erlegen ist, die von Cipollas Macht ausgeht. „Hätten wir nicht abreisen sollen?“ fragt der Erzähler bereits nach dem Bericht über die Episode am Strand. Und er gibt sich selbst die Antwort: „Hätten wir es nur getan!“ (GW VIII, 668f.) Doch trotz der fremdenfeindlichen Anfeindungen, unter denen vor allem auch seine Kinder zu leiden haben, kann sich der Erzähler zur Abreise nicht entschließen. Und auch während der Vorstellung Cipollas bleibt er vollständig passiv, obwohl er nicht nur die Gefährlichkeit des Zauberers erkennt, sondern sich auch der Verantwortung gegenüber seinen Kindern bewusst wird: „Und doch war klar, daß dieser Bucklige nicht zauberte, wenigstens nicht im Sinne der Geschicklichkeit, und daß dies gar nichts für Kinder war.“ (GW VIII, 687) Die Rechtfertigung der eigenen Passivität und Unentschlossenheit formuliert der Erzähler als Geständnis: „Ich gestehe, daß ich mich vor diesem Punkte meines Berichtes gefürchtet habe, fast seit ich zu erzählen begann. […] Unfehlbar werden Sie mich fragen, warum wir nicht endlich [in der Pause] weggegangen seien, – und ich muß Ihnen die Antwort schuldig bleiben. Ich verstehe es nicht und weiß mich tatsächlich nicht zu verantworten.“ (GW VIII, 694) Der Leser fungiert hier als fiktiver Ankläger, als moralische Instanz, deren Kritik der Erzähler erwartet und vorwegnimmt. Doch er weiß nicht mehr zu seiner Verteidigung vorzubringen als die „Ansteckung durch die allgemeine Fahrlässigkeit“, denn auch sonst verlässt niemand die Vorstellung. Und er fügt hinzu: „Es war nun schon alles einerlei.“ (GW VIII, 703) Der Erzähler ist unfähig, das Verhalten Cipollas wenn schon nicht zu unterbinden, so doch wenigstens nicht noch zu bestaunen. Die Faszination, die von der Macht und ihrem Missbrauch ausgeht, erweist sich als stärker als die Rationalität des vernünftigen Subjekts, das ihr erliegt wie einer Krankheit („Ansteckung“), die ihn ebenso wie alle anderen trifft – er ist nicht mehr Individuum, sondern Teil der Masse (zur zeitgenössischen Massenpsychologie siehe Zeller 2006). Die Befriedigung, die er am Ende über Marios Befreiungsschlag empfindet, wirkt wie eine weitere hilflose Rechtfertigung des eigenen Nicht-Handelns. Als politische Lösung kann weder diese Zustimmung zum gewaltsamen ,Tyrannenmord‘ überzeugen noch Marios Tat selbst, denn sie stellt ja nur die emotionale Kurzschlusshandlung eines verletzten Egos dar, keinen Akt des bewussten Widerstands. Für den Leser bleibt die Moral aus der politischen Parabel somit ambivalent, zumal er sich kein objektives Bild der Lage machen kann, sondern ausschließlich aus der Perspektive des Erzählers informiert wird. Zwar erweist sich dieser als guter Beobachter, aber eben auch als ein ,Infizierter‘, was die

5. Doktor Faustus

Zuverlässigkeit seiner Erzählung deutlich relativiert. Die nur vermeintlich überlegene Position des Beobachtenden wird zudem untergraben durch die Tatsache, dass auch sein eigenes Denken nicht immer der political correctness folgt: so etwa, wenn er bemerkt, dass man am Strand zwar von anmutiger Jugend, doch auch von „menschlicher Mediokrität und bürgerlichem Kroppzeug“ umgeben sei (GW VIII, 665). Eine gewisse Herablassung gegenüber den Italienern ist diesem Erzähler ebenso anzumerken wie seinem Autor Thomas Mann, der im bereits erwähnten Brief an Hofmannsthal über den Ferienaufenthalt in Italien schreibt: „Im Ganzen aber kann ich nicht sagen, daß dieser Besuch meine Achtung vor dem Italiener gehoben hätte […]. Das eigentlich europäische Niveau halten eben doch Franzosen und Deutsche (wobei ich natürlich Österreich einbegreife). England bleibt in gewisser Weise darunter, Italien in noch gewisserer.“ (Brief vom 7.9.1926, BrAu 216). Die Entscheidung, den Erzähler der Novelle Mario und Zauberer nicht als einen unbeteiligten Überlegenen, sondern als ambivalente Figur anzulegen, mag bereits eine selbstkritische Haltung Thomas Manns gegenüber der eigenen Position von 1926 implizieren. Ernsthaft und grundlegend revidieren wird er seine politische Position erst mit der Erfahrung des Erstarkens und schließlich der Machtübernahme der deutschen Nationalsozialisten, die ihn und seine Familie ins Exil zwingt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Involviertheit, der eigenen Nähe zu jenem Denken, das den Nationalsozialismus hervorgebracht hat, wird Thomas Mann später in Essays wie Bruder Hitler (1938) leisten (siehe Kapitel V.6.).

Politische Konsequenz

5. Doktor Faustus Doktor Faustus ist ein Roman, der, wie ihm oft zum Vorwurf gemacht wurde, vieles zugleich sein will: ein Roman über das Künstlertum, über Ursprung und Charakter des Genies; eine Weiterschreibung des Faust-Stoffes und gleichzeitig Parodie und Kritik der Tradition dieses Stoffes; ein Nietzsche-Roman; eine Abhandlung über Musik, Musikgeschichte und Musiktheorie; ein historischer und zeithistorischer Kommentar zur politischen Lage Deutschlands vom ausgehenden Mittelalter bis 1945, besonders zur Verfassung der Deutschen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg; ein satirisches Gesellschaftsporträt intellektueller und künstlerischer Kreise, vor allem der Münchens in der Zeit der Weimarer Republik; eine Studentenund Universitätssatire; ein Medium der Diskussion grundsätzlicher Fragen der Religionsphilosophie und Metaphysik; eine Studie zur Vereinbarkeit von Ästhetik und Moral; ein Genderroman und Text über den Zusammenhang von Sexualität, Inspiration, Krankheit und Wahnsinn; nicht zuletzt auch ein selbstreferentielles Narrativ über die Möglichkeiten und Grenzen fiktiver Literatur sowie deren Erzählstrategien – um nur die zentralen Charakteristika des Romans zu nennen. Zumindest eine Auswahl dieser Aspekte soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Nach ausführlichen Lektürestudien, Vorarbeiten und Notizen (GKFA 10.2, 11ff.) arbeitet Thomas Mann, wie seinen Tagebuchaufzeichnungen zu entnehmen ist, vom 23. Mai 1943 bis 29. Januar 1947 im kalifornischen

Die Dimensionen des Romans

Entstehungsgeschichte

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V. Textanalysen

Montage und Selbstkommentar

Inhalt und Erzählinstanz

Exil an der Niederschrift des Romans. Erst im Januar 1943 hatte er das Großprojekt der Romantetralogie Joseph und seiner Brüder abgeschlossen, das ihn insgesamt über eineinhalb Jahrzehnte beschäftigte, und im Anschluss die Erzählung Das Gesetz verfasst. Parallel dazu und auch während der Arbeit am Doktor Faustus schreibt Thomas Mann an diversen politischen Artikeln sowie seinen Radioreden für die BBC Deutsche Hörer! (zu dieser doppelten Kommunikationssituation siehe Brinkemper 1997, 19ff.). Gedanklich bewegt sich der Autor also in den Bereichen Mythos und Religion auf der einen, Politik, Krieg und Deutschtum auf der anderen Seite, als er die Arbeit am Roman beginnt. Als er sie 1947 beendet, ist der Krieg vorbei und NaziDeutschland von den Alliierten besiegt. Doktor Faustus erscheint im Oktober 1947 parallel in Stockholm und den USA, 1948 dann in Ausgaben mit (von Thomas Mann vorgenommenen) Kürzungen des Textes in Wien sowie im Suhrkamp Verlag in Berlin und Frankfurt/Main, wodurch der Roman auch für das Publikum in Deutschland zugänglich wird (GKFA 10.2, 84f. u. 100f.). Der Roman ist so dicht gewebt aus Zitaten und intertextuellen Verweisen auf eigene wie fremde Texte – der Autor selbst spricht von „Montagetechnik“ (GKFA 19.1, 431) –, dass dieses Geflecht bis heute Gegenstand der Forschung ist und immer noch Anspielungen entschlüsselt werden. Einen guten und ausführlichen Überblick über Manns Umgang mit den vielfältigen Quellen bieten u.a. die Studien von Gunilla Bergsten (Bergsten 1974) und Eva Schmidt-Schütz (Schmidt-Schütz 2003) sowie der Kommentarband von Ruprecht Wimmer in der kritischen Frankfurter Werkedition (GKFA 10.2). Thomas Mann hat zudem die Entstehung des Romans selbst ausführlich kommentiert: 1949 erscheint seine Schrift Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans (GKFA 19.1). Zu diesem produktionsgeschichtlichen ,Rechenschaftsbericht‘ sieht er sich nicht zuletzt genötigt, weil Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1969), dessen musikphilosophische Expertise er für den Roman ausführlich in Anspruch genommen hatte, seine Leistung explizit gewürdigt sehen möchte (zur Zusammenarbeit mit Adorno siehe u.a. Schmidt-Schütz 2003, 183ff.). Zudem bezichtigt der Komponist Arnold Schönberg, dessen Zwölftontechnik Mann seinem fiktiven Komponisten Leverkühn zuschreibt (GKFA 10.1, u.a. 281), den Autor des Plagiats (Abel 2003, 210ff.). Die Entstehung des Doktor Faustus ist somit als Produkt einer „diplomatischen Motivation“ zu verstehen, mit der die Ideen- und Ratgeber befriedet werden sollten (GKFA 10.2, 10). Der Roman erzählt den Werdegang des 1885 geborenen Komponisten Adrian Leverkühn vom Elternhaus bis zu seinem frühen Tod. Nachdem er sich – ob real oder imaginär, das lässt der Text offen – zur Steigerung seiner künstlerischen Originalität dem Teufel verschrieben und im Gegenzug das Verbot zu lieben akzeptiert hat, erleidet Leverkühn im Mai 1930, auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, einen physischen und psychischen Zusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholt. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch fristet er das verbleibende Jahrzehnt seines Lebens in geistiger Umnachtung bis zu seinem Tod im August 1940. Berichtet wird diese Lebens- und Leidensgeschichte von dem Kindheitsfreund, Biographen und Bewunderer Leverkühns, Serenus Zeitblom, einer der markantesten und eigenständigsten Erzählerpersönlichkeiten im Werk Thomas Manns.

5. Doktor Faustus

Zeitblom beginnt mit seinen Aufzeichnungen am 27. Mai 1943 und beschließt sie nach Kriegsende im Jahr 1945, wobei die Kriegsereignisse immer wieder die Folie seiner Erzählung bilden. Da Adrian Leverkühn bereits im Untertitel des Romans als „Tonsetzer“ apostrophiert wird, liegt die Lesart des Textes als Künstlerroman auf der Hand. Konkreter gesprochen erkundet Thomas Mann hier die Herkunft, Entwicklung und Spezifik der Genialität. Der Roman präsentiert sich als fiktive Biographie eines einzelnen Künstlers und reflektiert zugleich über das Phänomen des Genies an sich, vor allem über dessen genuin deutsche Ausprägung. Das künstlerische Genie Leverkühns ist nicht ohne den Teufelspakt und es ist nicht ohne seine Verbundenheit mit deutscher Geschichte, Philosophie und Kultur denkbar – auch wenn sich Leverkühn selbst mit dieser Tradition vornehmlich ironisch auseinandersetzt und sich wiederholt von ihr distanziert. Erst das Oratorium Doctor Fausti Weheklag, das den Höhepunkt und zugleich den Abschluss des genialen Schaffens des Komponisten darstellt, enthält sich in seinem heiligen Ernst jeglicher Ironie: „Im übrigen aber hat Leverkühns Spätwerk wenig gemein mit dem seiner dreißig Jahre. Es ist stilreiner, als dieses, dunkler im Ton als Ganzes und ohne Parodie“ (GKFA 10.1, 708). Nach Abschluss dieses Werks versinkt Adrian Leverkühn, wie sein Stichwortgeber Nietzsche, in den durch das Fortschreiten der Syphiliserkrankung verursachten Zustand geistiger Umnachtung. Thomas Mann übernimmt diverse biographische Details aus der Vita Nietzsches für seine Leverkühn-Figur (Durrani 1994, 111). In seinem Vortrag Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947) berichtet Thomas Mann vom Leben und den kulturellen Wurzeln Nietzsches entlang jener zentralen Topoi, die auch im Roman in Leverkühns fiktivem Werdegang auftauchen: das faszinierende Einsiedlertum, die Neigung zu Musik und Theologie, die ironische Distanz, der ebenso schmerzensreiche wie leidenschaftliche Schaffensprozess, die Verbindung von Genialität und Krankheit (GKFA 19.1, 185ff.). Der vielfach erfolgte Verweis auf die diversen historischen Vorbilder für die Leverkühn-Figur – u.a. Dürer, Luther, Goethe, Nietzsche, Wolf, Schönberg, Strawinsky und Thomas Mann selbst – verleitet dazu, diese Figur im Sinne eines strikten literarischen Realismus zu rezipieren. Zu diesem Eindruck trägt auch das unablässige Beharren des Erzählers Serenus Zeitblom bei, eine Biographie, keinen Roman zu verfassen. Gleichwohl ist die Gestalt des „Tonsetzers“ natürlich eine fiktive; Leverkühn verkörpert die konstruierte und inszenierte Version eines Genies. Als mythische Stilisierung erweist sich bereits Adrians Herkunft, die explizit zur Grundlage seines Ausnahmetalents erklärt wird: Er ist das Kind eines ,urdeutschen‘ Vaters, der wegen seines Hangs zu naturphilosophischen Reflexionen als „Spekulierer und Sinnierer“ beschrieben wird (GKFA 10.1, 31), und einer vom Erzähler Zeitblom zur Madonna erhobenen Mutter, in deren Schoß Leverkühn am Ausgang seines Lebens zurückkehren wird. Wir sehen ihn zu Beginn und am Ende seiner Karriere jeweils in einer Figurenkonstellation mit den Müttern, die das Bild der Pietà, das Bild Marias und ihres vom Kreuz abgenommenen Sohnes aufruft. Als Adrians Lehrer Kretzschmar seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, sein Schüler sei zur Musiker- und Komponistenlaufbahn be-

Geniales Schaffen

Nietzsche-Referenz

Stilisierung des Genies

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V. Textanalysen

Ideal, Heldentum und Distanz

Politische Lesart

rufen, zieht die leibliche Mutter den Sohn an ihre Brust und legt ihm in einer schützenden Geste den Arm um den Kopf, als ahne sie, was Kretzschmars Ankündigung für Adrian bedeuten wird (GKFA 10.1, 188). Am Ende des Romans wird die zweite Mutterfigur des Romans, Leverkühns Pfeifferinger Wirtin Else Schweigestill, den nach seiner ,Abschiedsrede‘ bewusstlos zu Boden Gesunkenen in ihren „mütterlichen Armen“ bergen (GKFA 10.1, 729). Mit dem Rekurs auf die Madonna wird Leverkühn vom Erzähler Zeitblom zur Christusfigur stilisiert (Marx 2002, 272f.); aus dieser Perspektive lässt sich sein frühes und trostlos erscheinendes Ende nicht als Scheitern, sondern als Selbstopferung nach Erfüllung eines göttlichen Auftrags lesen. Leverkühns Rückkehr in den Schoß der Mutter verweist zudem auf die Schlussszene von Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in der sich mit den Worten des Chores, „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“ (Goethe 1996, 364), Fausts Erlösung vollendet. In die gleiche positiv konnotierte Deutungsrichtung verweist ein Tagebucheintrag Thomas Manns vom Juli 1944, in dem er berichtet, er habe Adrian Leverkühn im Gespräch mit dem Freund und Kollegen Leonhard Frank als „Idealgestalt“ und „,Helden unserer Zeit‘“ bezeichnet: „Er [Leverkühn] ist eigentlich mein Ideal, und nie habe ich eine Imagination so geliebt, weder Goethe, noch Castorp, noch Thomas Buddenbrook, noch Joseph oder Aschenbach. Eine bewunderungsvolle und ergriffene Zärtlichkeit erfüllt mich für ihn.“ (TB 1944–1.4.1946, 79f.) Der ambivalente Charakter der Figur steht dieser Idealisierung nicht entgegen, sondern erweist sich bei näherer Betrachtung als deren Grundlage. Gerade die „Kälte“, die Leverkühn von seiner Umwelt distanziert (GKFA 10.1, u.a. 15, 191, 322, 490), seine Verweigerung der Teilnahme am ,normalen‘ Leben, die körperlichen Schmerzen sowie die psychische Qual, die sich aus dem Liebesverbot des Teufelspaktes ergibt, prädestinieren ihn dazu, zur Projektionsfläche idealischer Zuschreibungen zu werden. Davon zeugt nicht zuletzt der Kreis an ergebenen männlichen wie weiblichen Bewunderern, den Leverkühn um sich schart – und den er zugleich auf Abstand hält. Ruprecht Wimmer deutet Thomas Manns Aussage, Leverkühn sei sein Ideal als Positionierung des Autors gegen die Deutung, die Figur lediglich als „Allegorie des schuldig gewordenen Deutschland“ zu sehen (GKFA 10.2, 34). Tatsächlich liegt diese politische Lesart nahe, nicht zuletzt, weil Serenus Zeitblom immer wieder explizit eine Parallele zwischen Leverkühns und Deutschlands Schicksal zieht (GKFA 10.1, u.a. 252, 512, 738). Die direkte Analogie ist jedoch insofern problematisch, als sie die Frage nach den Alternativen evoziert. Hatte Deutschland in der Weimarer Republik die Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen als den Nationalsozialismus? Hitlers „Machtübernahme“ erfolgte ja zunächst als Ergebnis einer demokratischen Wahl. Und konnte Leverkühn anders handeln, als er es schließlich tut? Der Erzähler Zeitblom suggeriert uns, dass Leverkühn eigentlich kein anderer Weg bleibt als der Teufelspakt, sei er doch ab ovo, also bereits im Mutterleib und gleichsam schicksalhaft, zum genialen Künstlertum bestimmt, das dann durch den Teufelspakt zur Vollendung gebracht wird. Von der Parallele zwischen Politik und Künstlertum wird noch zu handeln sein.

5. Doktor Faustus

Dem von Zeitblom entworfenen Künstlermodell liegt das idealistische Konzept des „Originalgenies“ der Goethezeit zugrunde: die Vorstellung einer durch angeborenes Talent vorgegebenen Ausnahmebegabung, die dann unter günstigen Bedingungen ,reifen‘ muss. Zeitblom bedient sich zur Beschreibung des Phänomens eines Zitats aus Shakespeares Komödie Love’s Labour‘s Lost: „Dies ist eine Gabe, die ich besitze, einfach, einfach! ein närrisch extravaganter Sinn, voll von Formen, Figuren, Gestalten, Gegenständen, Ideen, Erscheinungen, Erregungen, Wandlungen. Diese werden empfangen in dem Uterus des Gedächtnisses, genährt im Mutterleibe der pia mater, und geboren durch die reifende Kraft der Gelegenheit.“ (GKFA 10.1, 316; siehe auch GKFA 10.2, 524) Nun ist jedoch in der Moderne eine grundsätzliche Erneuerung der Kunst durch das originelle Schaffen des Genies, durch das vermeintlich authentische Kunstwerk ein fast aussichtsloses Unterfangen geworden, wie der Teufel feststellt (GKFA 10.1, 349) und wie auch Leverkühn selbst wiederholt klagt: „Warum“, so fragt er im Gespräch mit Zeitblom, „müssen fast alle Dinge mir als ihre eigene Parodie erscheinen? Warum muß es mir vorkommen, als ob fast alle, nein, alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugten?“ (GKFA 10.1, 197) An dieser Stelle wird der Bruch mit dem idealistischen Konzept des späten 18. Jahrhunderts sichtbar: Das Reifen von Leverkühns Genialität und sein Schaffenshöhepunkt verdanken sich nicht mehr einem Bildungsprozess im Sinne von Goethes Wilhelm Meister-Romanen, sondern der zerstörerischen Kraft der Syphilis. Dem Künstler des 20. Jahrhunderts bleibt zunächst nichts als die ewige Wiederholung des Bekannten oder allenfalls dessen Persiflage, der sich Leverkühn ausführlich bedient. Das Große und tatsächlich Neue gelingt ihm erst, nachdem er sich mit der Syphilis infiziert und dem Teufel verschrieben hat; erst mit der Zwölftonmusik, die Thomas Mann realiter Arnold Schönberg ablauscht, schafft Leverkühn etwas wahrhaft Originelles. Um den Gipfel künstlerischer Kreativität zu erreichen, so Zeitbloms Suggestion, muss der moderne Künstler den amoralischen Bund mit dem Teufel eingehen. Wer hingegen, so wie der verlässliche Freund und Biograph Zeitblom, zwar nicht vollständig integer, doch weitaus moralischer handelt als Leverkühn, gelangt über das durch Fleiß erreichbare Mittelmaß einer bürgerlichen Existenz niemals hinaus, wie der Erzähler selbst immer wieder feststellt. Zeitblom findet sich nicht nur mit seiner Mittelmäßigkeit ab, er stilisiert die eigene Durchschnittlichkeit geradezu zur Voraussetzung seiner Hingabe an den genialen Freund, auf den er alle Genialität projiziert, die ihm selbst abgeht. So bildet die eigene Mediokrität die Grundlage jener Stellvertreterexistenz, die er führt, indem er all seine Sorge und sein Tun auf Adrian ausrichtet. Es bleibt jedoch die Frage, ob Zeitblom mit der Biographie, die er dem Leser präsentiert, nicht selbst ein geniales Kunstwerk geschaffen und somit die These von der eigenen Mittelmäßigkeit performativ widerlegt hat. Dem ironischem Narzissmus des Schriftstellers Thomas Mann ist diese Denkschleife durchaus zuzutrauen. Folgt man nun Zeitbloms Deutung und zieht die Parallele zwischen dem Teufelspakt, den Leverkühn schließt, um auf die genialische Höhe seiner Kunst zu gelangen, und dem Pakt, in dem sich die Deutschen dem Nationalsozialismus verschreiben, so ergibt sich das politisch zweifelhafte Bild einer

Geniekonzept

Serenus Zeitblom

Der deutsche Teufelspakt

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V. Textanalysen

Dämonische Triebe

Die Musik

Nation, die gar nicht anders handeln konnte. Diesen Eindruck lässt der Roman zumindest als Option zu, indem das Verhalten der Deutschen immer wieder als schicksalhaft und unausweichlich dargestellt wird. Den Gegenpol zur schicksalhaften Hingabe Deutschlands an die Macht bildet die vernunftgesteuerte Moralität der Aufklärung, wie sie der Humanist Zeitblom vertritt. Gegenüber deren Wirksamkeit weckt der Roman jedoch berechtigte Zweifel, werden doch selbst Zeitbloms Söhne begeisterte Anhänger der NSIdeologie (GKFA 10.1, 21, 655f.). Diese fatalistische Sicht auf die Unausweichlichkeit des deutschen Schuldigwerdens ist der Exilperspektive Thomas Manns geschuldet. Zeitbloms Nachdenken über Deutschland, den Nationalsozialismus und den Krieg wird zum Medium der politischen Debatten, wie sie innerhalb der deutschen Emigrantengemeinde geführt wurden. Insofern korrespondiert der Romantext mit den zeitgleich entstehenden BBC-Reden Thomas Manns. In den Gesprächen mit den Kommilitonen während Leverkühns Theologiestudium ruft Thomas Mann die verschiedenen Positionen auf, aus denen sich das kulturphilosophische Klima speist, das den Nationalsozialismus möglich machen wird (GKFA 10.1, Kapitel XIV, 164ff.). Es handelt sich nicht zuletzt auch um Meinungen, wie sie Thomas Mann selbst in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) noch vertreten hatte. Ironischerweise ist es in diesen Debatten gerade Leverkühn, der gegen die Irrationalität des Dämonischen argumentiert, die er auf psychologischer Ebene mit dem Triebhaften identifiziert (GKFA 10.1, 176, 184). Nur wenig später wird er der Prostituierten begegnen, der er in Anlehnung an die zerbrechliche Durchsichtigkeit des gleichnamigen Schmetterlings (GKFA 10.1, 27) den Namen Hetaera Esmeralda geben wird. Bei ihr wird sich Leverkühn wissentlich und willentlich mit der Syphilis infizieren, sich – in der symbolischen Logik des Romans – also für die Hingabe an das Dämonisch-Triebhafte entscheiden, die seine Kunst ins Geniale steigern und zugleich sein physisches und psychisches Leiden sowie seinen frühen Tod evozieren wird. Luzifer bezeichnet später diese Entscheidung Leverkühns für die Krankheit, für „die Illumination, das Aphrodisiacum des Hirns“, als die eigentliche Besiegelung des Teufelspaktes (GKFA 10.1, 362). Anders als in der Tradition des Faust-Stoffes erscheint Satan nicht, um ein Bündnis zu schmieden, sondern um einen längst bestehenden Pakt zu ratifizieren (Vaget 2006, 41). Die Musik eignet sich insofern als Medium für die Darstellung der Nähe zwischen dem Irrational-Dämonischen und der Kunst, weil sie traditionell als die sinnlichste, am wenigsten rational vermittelte Kunstform gilt. In seiner Rede Deutschland und die Deutschen von 1945 kennzeichnet Thomas Mann die Musik, die „passionierteste der Künste“, als „abstrakt und mystisch“ (GW XI, 1131). In der Abwägung zwischen Ratio und Mystik, Geist und Leben positioniert auch Leverkühn die Musik auf Seiten des Lebens. Zwar ist seine eigene Musik durchaus intellektuell, schwer und geistig, doch im Gespräch plädiert er explizit für das Leichte und Unterhaltende, die „animalische Schwermut sinnlicher Schönheit“ in der Musik (GKFA 10.1, 598, 600). Während der gleichen Unterhaltung über die Salonmusik im Haus des Münchner Fabrikanten Bullinger spricht er sich zudem für eine „gewisse Großzügigkeit in Dingen künstlerischer Moralität“ aus (GKFA 10.1, 601). Damit übernimmt er die Position einer romantischen Ästhetik,

5. Doktor Faustus

die das Kunstwerk von den Fesseln der Vernunft und der Moral zu befreien sucht. Nach dieser Auffassung wäre die Kunst auch jeder politischen Verantwortlichkeit enthoben. Wäre Leverkühn selbst ein Meister des Sinnlichen und Romantischen, so taugte seine Person nicht für das Tragische. Die Einfachheit und Unschuld, die Leverkühn in der Kunst propagiert, hat er selbst längst hinter sich gelassen. Schon durch die Tatsache, dass er über das Sinnliche theoretisiert, wird dessen Unmittelbarkeit reflexiv gebrochen. Selbstreferentialität, Bewusstsein der eigenen Subjektivität und Unschuld schließen sich gegenseitig aus, wie schon Kleists ,Dornauszieher‘ im Aufsatz Über das Marionettentheater schmerzlich feststellen musste – ein Text, den Thomas Mann in verschiedenen Werken immer wieder zitiert und den Leverkühn im Roman unmittelbar vor seiner langen Diskussion mit Zeitblom über die Situation Deutschlands und der Deutschen liest (GKFA 10.1, 445, 449). Der Genuss des Leichten, so führt Leverkühn im Bezug auf ein Goethezitat aus, sei in der Kunst nur dann legitim, wenn er in vollem Bewusstsein dieses Tuns und auf der Basis des Rational-Vernünftigen vollzogen werde. Er habe Goethe stets so interpretiert, „daß man sehr sattelfest sein muß im Schweren und Guten, um es so mit dem Leichten aufzunehmen.“ (GKFA 10.1, 598) Wenn Leverkühn die Einfachheit als Ziel seiner Kunst deklariert, so ist damit also kein simpel-naiver Romantizismus, sondern eine Rückkehr zur Einfachheit auf der Basis intellektueller Reflexion gemeint, wie an seinen eigenen Kompositionen evident wird: Leverkühn begreift Musik als Mathematik und entwirft mit der Zwölftontechnik eine auf das Wesentliche reduzierte und systematische Form der Kunst. Zugleich rückt er die Musik in die Nähe des Dämonischen und der Alchemie (GKFA 10.1, 193). Es ist wichtig festzuhalten, dass Thomas Mann Schönberg und seine Methode vornehmlich durch die kritische Brille Adornos wahrnahm (Brinkemper 1997, 68ff.). In Adornos Philosophie der neuen Musik, die Thomas Mann bereits vor der Publikation im Manuskript lesen durfte, findet sich die These, noch für Nietzsche sei die Ironie die ultima ratio im Umgang mit der Tradition gewesen, während erst mit Schönberg die wahrhafte Aufhebung der Tradition vollzogen werde: „Der Ursprung der Atonalität, als die vollendete Reinigung der Musik von den Konventionen, hat eben darin zugleich etwas von Barbarei.“ (Adorno 1975, 46). Alles Scheinhafte, Ornamentale und Spielerische liegt dieser Musik völlig fern; zugleich klingt in ihrer Strenge, ihrer Radikalität und ihrem Beharren auf ,Wahrhaftigkeit‘ etwas Archaisches jenseits des „zivilisatorischen Ordnungsprinzips“ an (ebd.). Im Roman eröffnet sich mit der Strenge der Form die Chance der Befreiung, der Erneuerung, ja der ,Rettung‘ der Musik (GKFA 10.1, Kapitel XXII, 270ff.). In den Augen Adornos birgt diese formale Disziplinierung zugleich jedoch eine grundlegende Gefahr: „Sie [die Zwölftontechnik] fesselt die Musik, indem sie sie befreit. Das Subjekt gebietet über die Musik durchs rationale System, um selber dem rationalen System zu erliegen.“ (Adorno 1975, 68) Form und Inhalt – oder abstrakter gesprochen: Geist und Leben – scheinen in dieser Musik kongruent, stellen keinen Gegensatz mehr dar. Diesem musikalischen Programm entspricht im Roman Leverkühns unermüdliches Streben, Musik und Sprache, die ,sinnlichste‘ und die ,intellektuellste‘ Form

Bewusstsein der Kunst für das eigene Tun

Adorno und die Zwölftonmusik

Musik und Sprache

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V. Textanalysen

Musiktheorie und Poetologie

Musik und Politik

Kunst als „Barbarei“

der Kunst, in seinen Kompositionen in Einklang zu bringen (und damit, ganz nebenbei, Wagners Lebensprojekt zu vollenden). Leverkühns Kammermusik bezeichnet Zeitblom als „musikalische ,Prosa‘“, der Komponist selbst nennt sie einen „Roman“ (GKFA 10.1, 661). Damit deutet sich bereits eine Nähe der künstlerischen Tätigkeiten des Komponisten und des literarischen Autors an, die im Medium des Romans schon insofern nahe liegt, als die von Leverkühn komponierten Musikstücke ja nur als narrative Konstrukte existieren und Erfindungen Thomas Manns sind (zu den literarischen Vorlagen dieser fiktiven Musik siehe Hofstaetter 1991). Im Selbstkommentar der Entstehung des Doktor Faustus bemerkt Thomas Mann: „Ich fühlte wohl, daß mein Buch selbst das werde sein müssen, wovon es handelte, nämlich konstruktive Musik.“ (GKFA 19.1, 455) Bemerkungen wie diese haben Interpretatoren des Textes inspiriert, die musiktheoretischen Exkurse des Romans vornehmlich als allegorisch verpackte Poetologie zu deuten und die Umsetzung der Musiktheorie in Literatur in den Fokus zu rücken (siehe etwa Bergsten 1974, 212ff.). Dass es dem Autor, neben der Parallelität musikalischer und literarischer Konstruktion, durchaus um die Musik selbst ging, davon zeugt nicht zuletzt seine lebenslange Auseinandersetzung mit dieser Kunst. Diese Musikkenntnis, ja „Musikbesessenheit“ Thomas Manns wurde vielfach, in jüngerer Zeit erneut von Hans-Rudolf Vaget verhandelt (Vaget 2006). Vagets umfassende Studie zeigt, dass die Musik in der Literatur Thomas Manns nicht als nur Dekor, sondern als Medium der Darstellung politischer und kultureller Krisenhaftigkeit des Deutschen an sich fungiert. In keinem seiner Romane wird dies deutlicher als in Doktor Faustus. Vaget vollzieht eine weit vor die Zeit des Dritten Reichs zurückreichende Entwicklung in Deutschland nach, in der die Musik zunehmend politisiert und zum Medium des „Kulturimperialismus“ avanciert (Vaget 2006, 13). Aus dem Gefühl der kulturellen Überlegenheit entwickelt sich bei den Deutschen, vor allem im Zuge der Wagner-Rezeption, das Gefühl einer grundsätzlichen, auch politischen Überlegenheit. Thomas Manns Roman stellt diese deutsche Kulturentwicklung in den Fokus, nach der „die deutsche Musik und das von ihr inspirierte kulturelle und politische Hegemoniestreben“ (Vaget 2006, 46) den Grund bilden, auf dem die Ideologie des Nationalsozialismus gedeihen kann. Die Frage, wie ein kulturell so hoch entwickeltes Land der Barbarei verfallen konnte, ist falsch gestellt: Nicht trotz, sondern wegen seiner „Musikidolatrie“, seines Kultes um die ,deutsche‘ Musik, werde Deutschland faschistisch, so lautet die zentrale These des Romans Doktor Faustus (Vaget 2006, 24). Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass sich Thomas Mann in musiktheoretischen Fragen an den ebenfalls in die USA emigrierten Theodor Adorno wendet, der eben nicht nur Musikwissenschaftler und Komponist, sondern auch politischer Kulturphilosoph und einer der kritischsten Analytiker des Nationalsozialismus ist. Das Versprechen, das der Teufel Leverkühn im Tausch für seine Seele gibt, ist also nicht nur künstlerisch-ästhetisch, sondern auch politisch zu verstehen: „Nicht genug, daß du die lähmenden Schwierigkeiten der Zeit durchbrechen wirst, – die Zeit selber, die Kulturepoche, will sagen, die Epoche der Kultur und ihres Kultus wirst du durchbrechen und dich der Barba-

5. Doktor Faustus

rei erdreisten, die’s zweimal ist, weil sie nach der Humanität, nach der erdenklichsten Wurzelbehandlung und bürgerlichen Verfeinerung kommt.“ (GKFA 10.1, 355) Satan verspricht Leverkühn ein geniales Werk jenseits humanistischer und aufklärerischer Ideale, eine „Barbarei“, die im Bewusstsein ihrer selbst agiert – somit eine Kunst, die im Wissen um die eigene Amoralität entsteht und sich im Sinne Nietzsches ihre eigene Wahrheit schafft (GKFA 10.1, 354). Einiges spricht dafür, dass Adrian Leverkühn dieser Barbarei tatsächlich verfällt: Er gerät in einen künstlerischen Schaffensrausch, der keinerlei rationaler Logik mehr folgt (GKFA 10.1, 521ff., 663). Dieses Schaffen ist weniger das Ergebnis von Inspiration, als vielmehr das einer „Heimsuchung“ (GKFA 10.1, 437) – ein Begriff, der in Thomas Manns Werk immer dort auftaucht, wo eine bürgerliche Existenz durch irrationale Leidenschaft aus den Fugen gerät. Der Begriff der „Heimsuchung“ ist zugleich politisch konnotiert und wird von Mann etwa auch auf die Hingabe der Deutschen an den Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Krieg angewandt. Leverkühns genialer Schaffensrausch schont weder das eigene noch das Leben anderer. Zunächst ist es nur die „Kälte“, die er ausstrahlt und die ihn von Freunden und Kollegen distanziert. Später zahlt er dann den Preis, den der Teufel gefordert hat: Er ruiniert seine eigene Gesundheit bis zur vollkommenen Erschöpfung und muss den Tod der beiden von ihm geliebten Menschen, Rudi Schwerdtfegers und des kleinen Nepomuk, akzeptieren. Doch mit dem letzten Werk Leverkühns scheint der Bann zu brechen. Aus dem Schmerz um den toten Neffen, seine „letzte Liebe“ (GKFA 10.1, 649), entsteht mit Doktor Fausti Weheklag eine Komposition, die nicht auf ironischer Kälte basiert, sondern die Realität von abgrundtiefer Verzweiflung und authentischem Leiden kommuniziert. Zeitblom beschreibt das Stück als Kantate und zugleich als Oratorium, das „die äußersten Akzente der Trauer erreicht“ (GKFA 10.1, 711). Dem voraus geht Adrian Leverkühns endgültige Einsicht in die Vergeblichkeit aller humanistischen Ideale: „,Ich habe gefunden‘, sagte er, ,es soll nicht sein.‘ […] ,Das Gute und Edle […] was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.‘“ (GKFA 10.1, 692) In musikalischer Hinsicht bedeutet dies die Zurücknahme der neunten Symphonie Beethovens: Doktor Fausti Weheklag bildet den Gegenentwurf zu deren jubelndem Pathos (GKFA 10.1, 693 u. 705), das im Finale des Lieds an die Freude „mit den Worten Schillers den Glauben an ein tausendjähriges Reich der Freude und der Menschenliebe“ verkündet (Bergsten 1974, 240). Diese idealische Utopie hat keinen Bestand mehr, Leverkühns Oratorium kündigt sie auf – so Zeitbloms Darstellung vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass die Deutschen ihr Bestes, ihr kulturelles Erbe, ins Gegenteil, ins Dämonisch-Barbarische des Nationalsozialismus gekehrt haben. Beethovens Neunte und das NS-Regime sind aus dieser Perspektive nur zwei Seiten einer Medaille, wie Thomas Mann auch in seiner Rede Deutschland und die Deutschen (1945) betont, in der er die These aufstellt, „daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse

Doktor Fausti Weheklag

Beethovens neunte Symphonie

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V. Textanalysen

Zeitbloms Hoffnung

Religion in Doktor Faustus

Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang.“ (GW XI, 1146) Das ,Schicksal‘ Deutschlands bietet die Folie für die Geschichte Leverkühns, wenn Zeitblom das Ende Leverkühns und die deutsche Kriegsniederlage parallel erzählt (GKFA 10.1, 729ff.). Doch wieder greift man zu kurz, wollte man das Leben des Tonsetzers schlicht als zeitpolitische Allegorie lesen. Denn Leverkühn gelangt am Ende seines Lebens zu einer Verbindung aus Reflexivität und Authentizität, von Geist und Leben, die der auf Irrationalismus und billigem Schein errichteten Ideologie der Deutschen im Nationalsozialismus in keiner Weise entspricht, ja, geradezu ihr Gegenmodell bildet. Entsprechend ist Leverkühns Werk, das diese Ideologie nicht bedient, im Dritten Reich verfemt, wie Zeitblom stets betont. Am Ende seines Lebens und Schaffens zu einem echten, unironischen Ausdruck des Leidens gelangt zu sein, birgt denn auch einen Keim einer Hoffnung auf Erlösung, zumindest in der Sicht des Humanisten und Idealisten Zeitblom: „Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht.“ (GKFA 10.1, 711) Der letzte Ton des Klagelieds, „das hohe g eines Cello […] steht als ein Licht in der Nacht.“ (ebd.) Kompositorisch ergibt sich aus der auf der Zwölftontechnik basierenden rationalen Konstruktion schließlich das Echte, der authentische Ausdruck – die aufkeimende Hoffnung auf Erlösung beruht also auf der Erfindung eines real Verfemten, des exilierten Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951). Für Deutschland allerdings sieht Zeitblom am Ende eine Hoffnung nur in weiter, transzendenter Ferne, wenn er ein letztes Mal die Parallele zwischen der Nation und ihrem Künstler zieht. In den letzten Zeilen des Textes greift er seine eigenen Worte noch einmal auf: „Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tragen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht. Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.“ (GKFA 10.1, 738) Zwei Mal erwähnt Thomas Mann jenes „Wunder, das über den Glauben geht“, die Gnade, im Sinne einer Erlösung der Seele, die nur über den Glauben erreichbar ist. Nachdem die religiöse Dimension des Romans lange eher als Beiwerk oder bloße Allegorie gelesen wurde, erfährt sie in der jüngeren Forschung verstärkte Aufmerksamkeit (u.a. Schwöbel 2008, Kilcher 2012). Wie im Fall der Musik interessiert sich Thomas Mann auch im Fall der Religion besonders für die politischen, philosophischen und kulturhistorischen Aspekte des Themas. Leverkühn entstammt dem Luthertum, für das im Roman die Stadt Kaisersaschern als Chiffre fungiert, in der der Komponist aufwächst (zur Bedeutungsvielfalt der Chiffre Kaisersaschern siehe Vaget 1977). Luther selbst steht bei Thomas Mann für eine fatale anti-demokratische Entwicklung in der deutschen Geistestradition, indem er zwar auf der intellektuell-theologischen Freiheit des Menschen bestand, nicht aber auf dessen politischer Freiheit (zu Manns Lutherbild siehe ausführlich Hamacher 1996). Im Essay Deutschland und die Deutschen macht Thomas Mann

5. Doktor Faustus

Luther dafür verantwortlich, dass es in Deutschland, im Gegensatz etwa zu Frankreich oder England, nie gelungen sei, das „politische Element“ in den Bildungsbegriff zu integrieren (GW XI, 1138). Die protestantisch geprägte Version der deutschen humanistischen Bildung versäumt, den Menschen auch zur politischen Freiheit und somit zur Demokratie zu erziehen, so Manns Urteil. Doktor Faustus ist insofern ein religiös-theologischer Roman, als er die Grundfragen des menschlichen Daseins verhandelt. Thomas Mann holt sich während des Schreibprozesses ausführlich Rat bei dem ebenfalls aus Nazi-Deutschland emigrierten Theologen Paul Tillich (1886–1965), der sich intensiv mit den Phänomenen des Dämonischen und der Gnade beschäftigt (Schwöbel 2008, 218ff.). Das Dämonische – auch dies findet sich im Roman wieder – verhandelt Tillich sowohl als ein gesellschaftspolitisches Problem als auch im Hinblick auf die schöpferische Kraft, die es zu entwickeln imstande ist. Einen weiteren theologischen Aspekt birgt die Frage nach dem Genie. Die Idee der göttlichen Inspiration, wie sie das idealistische Konzept des „Originalgenies“ um 1800 vorsah, wird im Roman umgekehrt: Der Künstler muss sich dem Teufel verschreiben, um kreativ zu sein. Diese Möglichkeit des Umschlags des Ideals ins Dämonische, Barbarische trage gerade die lutherische Theologie immer schon in sich, so Kilcher (Kilcher 2012, 96). Auf historischer Ebene wird dies im Roman mit dem Verweis auf die Hexenverfolgung evident (GKFA 10.1, 157ff.), an der die protestantische Kirche keinen geringen Anteil hatte und die Luther explizit gut hieß. Auf der gegenwartsanalytischen Ebene findet sich hier erneut der Einfluss Adornos wieder: Seine zusammen mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung (1944) entsteht zeitgleich zu Thomas Manns Roman (zur Verbindung siehe u.a. Wißkirchen 1986, 170ff.). Adorno stellt diese kulturphilosophische Studie selbst explizit in einen engen Zusammenhang mit seiner Philosophie der neuen Musik (Brinkemper 1997, 92). Die zentrale These der Dialektik der Aufklärung lautet, dass die NS-Barbarei der Gegenwart nicht das Gegenteil der protestantisch geprägten Aufklärung darstellt, sondern diese gerade deren genuinen Nährboden bildet („Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen.“ Adorno/Horkheimer 1997, 31). Das Scheitern der Aufklärung sei, so Horkheimer und Adorno, in der „instrumentellen Vernunft“ des aufklärerischen Denkens bereits angelegt; „als Herrschaft aber schlägt Aufklärung selbst in Mythos zurück.“ (Kilcher 2012, 97) Vor dem Hintergrund dieser These erklärt der Roman den autoritätshörigen Charakter der Deutschen aus ihrer protestantischen Geistestradition heraus. Leverkühns Übersiedlung aus dem lutherischen Kaisersaschern ins katholische Bayern birgt insofern eine Chance; und tatsächlich deutet Zeitblom am Ende ja die Möglichkeit seiner Erlösung, der Erfahrung der Gnade an und stilisiert den Künstler zu einer leidenden Christusfigur (Kilcher 2012, 98). Und nicht zufällig wird die Biographie dieser theologisch-ästhetischen Leidensfigur von einem Katholiken erzählt, der das Dämonische aus der Distanz heraus zu betrachten imstande ist – oder dies zumindest vorgibt. In Die Entstehung des Doktor Faustus beschreibt Thomas Mann seine Erzählerkonstruktion wie folgt: „Das Dämonische durch ein exemplarisch undämonisches Mittel gehen zu lassen, eine humanistisch fromme und schlichte,

Dialektik der Aufklärung

Luthertum und Katholizismus

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V. Textanalysen

Zeitblom als Erzähler

Politische Selbstreferentialität des Textes

liebend verschreckte Seele mit seiner Darstellung zu beauftragen, war an sich eine komische Idee, entlastend gewissermaßen, denn es erlaubte mir, die Erregung durch alles Direkte, Persönliche, Bekenntnishafte, das der unheimlichen Konzeption zu Grunde lag, ins Indirekte zu schieben und sie in der Verwirrung, dem Händezittern jener bangen Seele travestierend sich malen zu lassen.“ (GKFA 19.1, 430). Beim Katholiken Zeitblom wird der aufklärerisch-rationale Humanismus durch einen tiefen und gänzlich undämonischen Respekt vor dem Dasein ausbalanciert. Auch dadurch unterscheidet er sich von anderen auktorialen Erzählstimmen bei Thomas Mann, dass er zwar ironisch, aber niemals kalt oder zynisch erzählt. Seine persönliche, durchaus auch homoerotisch konnotierte Liebe für Adrian, für den zu sorgen er als seine Lebensaufgabe betrachtet, bildet die Grundlage seiner Bewunderung wie seines Mitleids für den Freund. In seiner Ambivalenz ist er einer der menschlichsten Erzähler Thomas Manns: Er besteht auf seiner humanistischen Geisteshaltung, berichtet aber auch von seiner Begeisterung für den Ersten Weltkrieg und der Ideologieanfälligkeit der eigenen Söhne. Immer wieder akzeptiert er, durch Adrians Kälte zurückgewiesen und gekränkt zu werden, macht zugleich jedoch diese Kränkungen und auch seine Eifersucht auf die anderen Bewunderer Leverkühns explizit zum Thema. Er übernimmt die Rolle des väterlichen Beschützers gegenüber Adrian und gesteht gleichzeitig, dass er sein Leben letztlich nur durch ihn und an seiner statt führe (GKFA 10.1, u.a. 322, 369, 738). Zudem ist dieser Erzähler nicht nur aufgeklärt, sondern auch „mythenanfällig“ (Strobel 2000, 241). Obwohl Zeitblom wiederholt betont, sich auf Leverkühns Geschichte konzentrieren zu wollen, schaltet er lange und ausführliche Exkurse über politische Fragen, über andere Figuren oder die theologischen Debatten während Leverkühns Studium in seine ,Biographie‘ ein. Wie überhaupt die Gattungsfrage hier spielerisch ungeklärt bleibt: Immer wieder besteht Zeitblom darauf, eine Biographie, keinen Roman zu schreiben (GKFA 10.1, u.a. 11, 430, 481, 566). Zugleich beginnt er seine Sätze mit: „Wäre ich ein Romanerzähler …“ (GKFA 10.1, 495), um im Anschluss genau das zu tun, was nur dem Verfasser eines fiktionalen Textes gestattet ist, nämlich etwas zu berichten, was er eigentlich nicht wissen kann. Dadurch erzeugt er eine Illusion von Unmittelbarkeit, die für einen sachlichen Berichterstatter gänzlich unredlich wäre. Die Legitimation seines vieldeutigen Tuns gipfelt im Widerspruch gegen den imaginären Einwand, er könne nicht erzählen, was zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger vorgefallen sei, da er nicht ,dabei gewesen‘ sei: „Nein, ich war nicht dabei. Aber heute ist seelische Tatsache, daß ich dabei gewesen bin, denn wer eine Geschichte erlebt und wieder durchlebt hat, wie ich diese hier, den macht seine furchtbare Intimität mit ihr zum Augen- und Ohrenzeugen auch ihrer verborgenen Phasen.“ (GKFA 10.1, 629) Mit diesem Beharren auf der eigenen auctoritas, auf der Herrschaft über den Text, legitimiert sich indirekt auch der Autor Thomas Mann. Zeitbloms Bemerkung lässt sich auch als Beharren des Exilanten lesen, nicht ,dabei gewesen‘ sein zu müssen, um über Deutschlands Verfall in die Barbarei und seinen Untergang schreiben zu können. Auch die selbstreferentielle Poetik des Romans wird auf diese Weise zur Chiffre für Zeitgeschichte und Politik.

6. Politische Essayistik

6. Politische Essayistik: Betrachtungen eines Unpolitischen, Deutsche Hörer! (BBC-Radioansprachen) Als im Jahr 1961 die Studie Thomas Mann und die Deutschen des Politologen Kurt Sontheimer erschien, stellte das Buch in zweifacher Hinsicht ein Novum dar, wie der Autor selbst in seinem Vorwort zur Neuausgabe 2002 anmerkt (Sontheimer 2002, 7f.). Neu war es zum einen insofern, als es eine gründliche, sachliche und textnahe Auseinandersetzung mit Thomas Manns politischen Positionen in Zeiten lieferte, in denen die Stimmung, welche Thomas Mann als öffentliche Figur evozierte, immer noch politisch aufgeheizt und polemisch war. Zum anderen bot Sontheimers Buch etwas Neues, weil es die politischen Schriften Thomas Manns ebenso ernst nahm wie seine literarischen Texte. Die politische Essayistik Thomas Manns wurde hier als genuiner Bestandteil des ,Werks‘ des Autors begriffen, zu dem man traditionell nur die ,Literatur‘ zählte. Heute ist die Überzeugung, dass das literarische und das politisch-essayistische Werk Thomas Manns eine Einheit bilden und sich wechselseitig erhellen, weitgehend unumstritten. Politik und Literatur sind bei Thomas Mann nicht zwei unvereinbare Welten, sondern nur verschiedene Ausdrucksformen für die unablässig in allen seinen Texten stattfindende Verhandlung ästhetischer, gesellschaftlicher und kulturphilosophischer Probleme. Wer sich eingehend mit den politischen Texten Thomas Manns befasst, stößt unweigerlich auf das Problem, dass sich die darin vorgetragenen Positionen schwer auf einen Nenner bringen lassen. Dieses Problem resultiert nicht so sehr aus dem Umstand, dass sich die politische Haltung Manns im Verlauf seines Lebens grundlegend ändert; davon wird im Folgenden noch zu handeln sein. Verwirrung in dieser großen Menge an politischen Schriften stiftet vor allem auch die Tatsache, dass Begriffe uneinheitlich verwendet werden und ihre semantische Bedeutung vielfach nicht klar zu eruieren ist. Was Thomas Mann unter „Politik“, „Demokratie“, „Zivilisation“, „Geist“ oder „Leben“ versteht, ändert sich zuweilen innerhalb eines einzigen Textes. Seine Begrifflichkeiten sind nicht politologisch, sondern kulturphilosophisch zu verstehen und changieren je nach diskutiertem Kontext. Für keinen Text trifft dies mehr zu als für Thomas Manns umfangreichsten und zugleich berüchtigtsten politischen Text: die Betrachtungen eines Unpolitischen. Schon der Titel mag den heutigen Rezipienten irritieren: Wieso bezeichnet sich ein Autor selbst als „Unpolitischen“, nur, um im Anschluss an diese Überschrift auf mehr als 600 Seiten (in der Ausgabe der GKFA) über Politik und ihre Verbindungen zu gesellschaftlichen und ästhetischen Fragen zu philosophieren? Der Begriff des „Unpolitischen“ meint hier nicht, wie im heutigen Gebrauch, eine Person, die sich nicht mit Politik beschäftigt. Vielmehr bezeichnet der Begriff „Politik“ eine bestimmte Art des politischen Denkens (demokratisch, republikanisch, westlich, international, ,zivilisationsliterarisch‘), gegen die sich Thomas Mann mit der Selbstcharakterisierung als „Unpolitischer“ abzugrenzen sucht (GKFA 13.2, 17f.). Im Ganzen lässt sich dieser Text als eine große Geste der Distanzierung und als Ringen um eine eigene politische wie ästhetische Position charakte-

Politisches und literarisches Werk

Changierende politische Positionen

Der „Unpolitische“

Entstehung der Betrachtungen

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V. Textanalysen

Forschung

Abschweifen als Prinzip

Der „Zivilisationsliterat“

risieren. Thomas Mann schreibt die Betrachtungen eines Unpolitischen in der Zeit des Ersten Weltkriegs; er arbeitet vom Herbst 1915 bis Ende Februar 1918 daran und unterbricht dafür die Arbeit am Zauberberg. Nach dem Vorabdruck einzelner Kapitel in der Neuen Rundschau, erscheint das Buch im Jahr 1918. 1922 wird eine zweite, von Thomas Mann geringfügig gekürzte Auflage publiziert, die ihm den Vorwurf einbringt, er habe den Text im Nachhinein zu ,demokratisieren‘ versucht – ein Vorwurf, der durch die jüngste kritische Editionsarbeit Hermann Kurzkes endgültig widerlegt wurde (GKFA 13.1, 641ff.; GKFA 13.2, 84ff.). Abgesehen von Ernst Kellers Studie aus dem Jahr 1965 und Kurzkes Kommentarband in der kritischen Ausgabe (GKFA 13.2) liegt heute keine Monographie vor, die ausschließlich den Betrachtungen gewidmet wäre – was erstaunlich ist angesichts der Tatsache, dass die Thomas-Mann-Forschung ansonsten jeden Text seines Werks genauestens ergründet hat. Die politischen Texte Thomas Manns wurde in jüngeren Analysen (teilweise bei Heimendahl 1998, deutlicher bei Mehring 2003, Görtemaker 2005 und Gut 2008) zwar in den Vordergrund gestellt; nach wie vor kann das politische Werk Manns jedoch als zu wenig erschlossen gelten. Die Neuedition der Betrachtungen sowie der anderen politischen Essays im Rahmen der kritischen Frankfurter Ausgabe (GKFA) wird die Thomas-Mann-Forschung hoffentlich zu neuen Analysen inspirieren. Der Text der Betrachtungen eines Unpolitischen macht es dem heutigen Rezipienten nicht leicht, sowohl auf formaler wie auf inhaltlicher Ebene. In formaler und stilistischer Hinsicht erweist sich die Lektüre als anstrengend, da der Text von zahllosen Redundanzen, endlosen Zitaten (Heinrich Mann, Nietzsche, Goethe, Schopenhauer, Wagner, Dostojewski, Tolstoi, u.v.a.; siehe hierzu u.a. Kurzke 1991, 138), einer Unzahl an Exkursen und der bereits erwähnten, wenig präzisen Verwendung zentraler Begriffe geprägt ist. Zugleich stellt der Text diese vermeintlichen Schwächen unablässig selbst aus, wenn es etwa heißt: „Wir sind abgekommen. Dies Buch ist ein beständiges Abkommen, das liegt in seiner Natur.“ (GKFA 13.1, 315) Oder: „Ich habe Verwirrung gestiftet. Ich fürchte, der freundwillige Leser weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht“ (GKFA 13.1, 321). Das Abschweifen bildet die eigentliche Grundstruktur des Textes. Thomas Mann grenzt sich vor allem gegen den demokratisch, international und pazifistisch denkenden Typus des „Zivilisationsliteraten“ ab, der seine politische und moralische Gesinnung auch seiner Literatur einschreibt. Der Autor der Betrachtungen wendet sich gegen diese Position, Literatur als Medium der politischen Moral zu begreifen. Mit dem „Zivilisationsliteraten“ ist hier, neben dem französischen Schriftsteller und Pazifisten Romain Rolland (Kurzke 2010, 146f.; Gut 2008, 97ff.), vor allem der Bruder, Heinrich Mann, gemeint, mit dem sich Thomas Mann 1914 nicht zuletzt wegen seiner eigenen Kriegsbegeisterung überworfen hatte (GKFA 13.2, 39ff.; Koopmann 2005, 270ff.; Kurzke 2010, 147ff.). Was die Rezeption der Betrachtungen außerdem erschwert, ist die Tatsache, dass Thomas Mann nicht das gedankliche Ergebnis dieses Abgrenzungsprozesses präsentiert. Vielmehr stellt der Text das Suchen einer eigenen Position und das Umkreisen der verschiedenen Meinungen durch seine Form selbst aus, er führt die Suchbewegung performativ vor. Thomas Mann legt mit dem Text

6. Politische Essayistik

kein persönliches Bekenntnis ab, er begibt sich auf eine Bühne (Kurzke 1999, 249), auf der er sich und seine politischen Ansichten inszeniert. Inhaltlich wird eine Annäherung an den Text möglich, wenn man die darin vertretenen Positionen als historisch begreift, als bewusste Provokation innerhalb eines Meinungskriegs zwischen Demokraten und Konservativen, Republikanern und Monarchisten, Gegnern und Befürwortern des Krieges, den politischen „Zivilisationsliteraten“ und den vermeintlich unpolitischen Ästhetizisten – eine Auseinandersetzung, in der sich Thomas Mann auf die jeweils zweitgenannte Seite stellt. Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind also nur im Kontext ihrer Entstehungszeit zu begreifen, ansonsten wären Meinungen wie die folgende schwer erträglich: „Konservativ sein heißt: Deutschland deutsch erhalten wollen“ (GKFA 13.1, 286). Worin dieses zu bewahrende Deutschtum besteht, darin bleibt der Text vage. Es geht ihm eher darum, in der patriotisch aufgeheizten Stimmung des Ersten Weltkriegs, den Demokraten und „Zivilisationsliteraten“ als un-, ja antideutsch zu klassifizieren und den eigenen Konservatismus zur eigentlich patriotischen Haltung zu stilisieren. Den Begriff „deutsch“ wird hier zu einer weit über das Nationale hinausgehenden kulturphilosophischen Idee erhoben: „[K]ann man Philosoph sein, ohne deutsch zu sein?“ fragt der Text etwa im Kontext des als „sehr deutsch“ klassifizierten philosophischen Pessimismus Arthur Schopenhauers (GKFA 13.1, 80). Oder: „kann man Musiker sein, ohne deutsch zu sein?“ im Zusammenhang mit der zum Inbegriff des Undemokratischen und somit Urdeutschen erklärten Werk Richard Wagners (GKFA 13.1, 90; zur politischen Kodierung der Musik im Text siehe u.a. Gut 2008, 80ff.). Und über Friedrich Nietzsche wird verkündet: „Die ungeheuere Männlichkeit seiner Seele, sein Antifeminismus, Antidemokratismus, – was wäre deutscher?“ (GKFA 13.1, 91) Zugleich stellt der Text sein eigenes Wissen um die Tatsache aus, dass er sich begrifflich auf dünnem Eis bewegt: „Der Begriff ,deutsch‘ ist ein Abgrund, bodenlos, und mit seiner Negation, der Entscheidung ,undeutsch‘, muß man äußerst vorsichtig umgehen, um nicht zu Fall und Schaden dabei zu kommen.“ (GKFA 13.1, 61f.) So charakterisiert der Autor der Betrachtungen sein Feindbild, den „Zivilisationsliteraten“, nicht als „undeutsch“, sondern nur als „unpatriotisch“ (GKFA 13.1, 62). Unpatriotisch verhalte sich der intellektuelle Demokrat, weil er sich am Modell der französischen Republik orientiere und diese Staatsform auf Deutschland zu übertragen suche. Auch hierin spielt der Text auf Heinrich Mann an, der in engem Kontakt mit französischen politischen Intellektuellen stand und sich (nach frühen nationalistischen Zügen) schon lange vor dem Ersten Weltkrieg auf die Seite der Befürworter einer deutschen Republik geschlagen hatte. Diese Staatsform, so Thomas Mann, sei dem Deutschen jedoch völlig fremd: „Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschrieene ,Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt.“ (GKFA 13.1, 33f.) Dieser „Obrigkeitsstaat“ wilhelminischer Tradition war linken Intellektuellen wie Heinrich Mann hingegen ein Gräuel. 1914, in Buchform publiziert 1918, hatte er in seinem Roman Der Untertan darge-

Zeitgeschichtlicher Kontext des Ersten Weltkriegs

Was ist „deutsch“?

Antirepublikanismus

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V. Textanalysen

Monarchie versus Demokratie

„Schopenhauer, Nietzsche und Wagner“

stellt, welche politische und soziale Deformierung des Menschen diese Regierungsform zu produzieren im Stande ist. Thomas Mann hingegen argumentiert in den Betrachtungen aus einer Position heraus, welche die Staats- und Regierungsform eines Volkes nicht als etwas von Bürgern Gemachtes begreift, sondern die Monarchie als etwas ,Natürliches‘ und dem Deutschen von jeher Angemessenes präsentiert. Der Begriff der „Demokratie“ mutiert im Text zum Inbegriff all dessen, was an der modernen Lebenswelt verachtenswert erscheint, und der Autor beruft sich dabei ausgerechnet auf den bekennenden Europäer Goethe, wenn er in den Betrachtungen eines Unpolitischen schreibt: „Demokratie als Tatsache ist weiter nichts als die immer noch wachsende Öffentlichkeit des modernen Lebens, und den seelisch-menschlichen Gefahren dieser fortschreitenden Demokratisierung, der Gefahr nämlich einer völligen Nivellierung, journalistisch-rhetorischen Verdummung und Verpöbelung, läßt sich einzig mit einer Erziehung begegnen, deren herrschender Begriff, wie Goethe es in der Pädagogischen Provinz verlangt, die Ehrfurcht sein müßte“ (GKFA 13.1, 283). Damit widerspricht Thomas Mann auch der Idee einiger „Zivilisationsliteraten“, Deutschland sei für die republikanische Staatsform noch nicht reif und müsse, nicht zuletzt auch durch Literatur, zu einem demokratischen Bewusstsein erst noch erzogen werden. Als 1933 die gescheiterte Weimarer Republik in den Nationalsozialismus mündete und er selbst zum ,Undeutschen‘ erklärt wurde, sah Thomas Mann die Dinge bereits grundlegend anders. Der Autor rekurriert hier auf Goethe als Gewährsmann für das eigene Denken, ohne auf die historische Dimension seiner Begriffe hinzuweisen. Was Goethe oder Wieland, der ebenfalls zitiert wird, in der Zeit um 1800 unter den Begriffen „deutsch“ oder „demokratisch“ verstanden, hat mit der politischen Debatte, in der Thomas Mann hier im frühen 20. Jahrhundert Stellung bezieht, wenig gemeinsam. Um historische oder wissenschaftliche Präzision ist es dem Text indes nicht zu tun, davon zeugt schon die vielfach völlig willkürlich wirkende Auswahl der jeweiligen Gewährsmänner. Auf drei Namen, die bereits fielen, rekurriert der Text jedoch immer wieder und ausführlicher als auf andere: „Die drei Namen, die ich zu nennen habe, wenn ich mich nach den Fundamenten meiner geistig-künstlerischen Bildung frage, diese Namen für ein Dreigestirn ewig verbundener Geister, das mächtig leuchtend am deutschen Himmel hervortritt, – sie bezeichnen nicht intim deutsche, sondern europäische Ereignisse: Schopenhauer, Nietzsche und Wagner.“ (GKFA 13.1, 79) Das „Dreigestirn“ aus Schopenhauer, Nietzsche und Wagner, das an anderer Stelle für ein spezifisch philosophisches und künstlerisches Deutschtum zeugen soll, wird hier nun als „europäisch“ klassifiziert, nicht als „intim deutsch“ in einem engen, nationalbezogenen Sinne. Mit einem weiten, kulturphilosophischen Begriff des Deutschtums scheint dieses Europäische vereinbar. Der Autor der Betrachtungen selbst betont, wie wenig er sich als Schriftsteller an einen engen Begriff des Deutschen gebunden sieht: „Es ist kein Verdienst, wenn es kein Tadel ist, daß intim und exklusiv Deutsches mir niemals genügen wollte, daß ich nicht viel damit anzufangen wußte. Mein Blut bedurfte europäischer Reize. Künstlerisch, literarisch beginnt meine Liebe zum Deutschen genau dort, wo es europäisch möglich und gültig, europäischer Wirkung fähig, jedem Europäer zugänglich wird.“ (GKFA 13.1, 79)

6. Politische Essayistik

Allein, der Leser mag verwirrt sein angesichts dieser schillernden, immer wieder das Vorzeichen wechselnden begrifflichen Zuordnungen. Und diese Verwirrung scheint gewollt; sie wird, wie schon erwähnt, vom Text selbst ausgestellt, der die eigenen Positionen immer wieder bewusst unterläuft: Im einen Moment wird zum Beispiel Nietzsche zum Antidemokraten schlechthin, im nächsten zum demokratischen Vordenker allen „Zivilisationsliteratentums“ erklärt (GKFA 13.1, 91 und 95). Diese Ambivalenz der Betrachtungen eines Unpolitischen mag damit zusammenhängen, dass der Text zu einem Zeitpunkt (dem Ende des Krieges, dem Beginn der Weimarer Republik) erscheint, an dem die Welt, die hier beschworen und verteidigt wird, eigentlich schon nicht mehr existiert (Sontheimer 2002, 57). Sie huldigen einer Geisteshaltung, die sich soeben als überholt erwiesen hat – zumindest, bis sie 1933 in neuem, schrecklichen Gewand wieder auferstehen wird. In diesem Sinne lassen sich die Betrachtungen auch als ein Resümee der bisherigen geistigen und künstlerischen Entwicklung Thomas Manns bis 1918 lesen, bevor er zu neuen Ufern aufbricht. Dem „Dreigestirn“ wird hier noch einmal gehuldigt, doch schon im Sinne eines Abschieds: „Schopenhauer, Nietzsche und Wagner […]. Deutschland, die Welt stand in seinem Zeichen, bis gestern, bis heute – wenn auch morgen nicht mehr.“ (GKFA 13.1, 86) Zwar werden die Texte dieser drei Thomas Manns Schaffen weiterhin begleiten, wie überhaupt die Betrachtungen ein „Ideenreservoir“ für spätere Arbeiten bleiben (Gut 2008, 79). Im Folgenden treten jedoch zunehmend andere Ideen in den Vordergrund, etwa die Goethes, Schillers oder Freuds. Mit dem politischen Bekenntnis zur Republik, später zum antifaschistischen Exil, treten aufklärerische, demokratische und pazifistische Ideen an die Stelle des in den Betrachtungen idealisierten Irrationalismus und der Verklärung des Krieges. Dieser (ja soeben verlorene) Krieg wird hier noch einmal als große Reinigung, als „Zuchtmittel“ gegen die deutsche ,Sünde‘ des Materialismus beschworen (GKFA 13.1, 392; zu den Gründen siehe ausführlich Kurzke 1999, 237ff.). Doch hat diese vermeintliche ,Reinigung‘ in Thomas Manns Augen offenbar Platz für etwas Neues geschaffen. Das große Bekenntnis zu Krieg und Konservatismus steht zugleich für einen gedanklichen Abschied; das Buch veraltet schon während seiner Entstehung. Nur wenig später wird sich Thomas Mann mit seiner legendären Rede Von deutscher Republik (1922) zu den politischen und moralischen Grundsätzen der Weimarer Republik bekennen – und damit nicht zuletzt bei den begeisterten Rezipienten der Betrachtungen eines Unpolitischen einen Sturm der Empörung auslösen (zur zeitgenössischen Rezeption siehe u.a. Goll 2000, 125ff.; Sontheimer 2002, 65ff.). Hermann Kurzke hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich Thomas Manns gedankliche Hinwendung zur Republik und zu der politischen Philosophie, die der Republik zugrunde liegt, nicht plötzlich, sondern allmählich vollzieht (u.a. Kurzke 2010, 176ff.). Die Politisierung Thomas Manns ist ein Jahrzehnte dauernder dialektischer Prozess, in dem er sich langsam aus der „irrationalistischen Tradition der Lebensphilosophie“ befreit (Kurzke 1980, 98). Thomas Mann selbst hat zu verschiedenen Zeiten seines Lebens betont, dass von einem „Bruch“ in seinem politischen Denken nicht die Rede sein könne (Schubert 1991, 43f.). Im Vorwort zum Druck der Rede

Beschwörung einer untergegangenen Welt

Politischer Abschied und Neuorientierung

Die vermeintliche politische Wende Thomas Manns

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V. Textanalysen

Deutsche Hörer!

Das Radio als politisches Medium

Sendungen und Druckfassungen

„Eine deutsche Stimme“

Von deutscher Republik vom Jahresbeginn 1923 wird er seinem Publikum versichern, er habe vielleicht seine Gedanken geändert, nicht jedoch seinen Sinn (GKFA 15.1, 583). Verschiedene Studien der Thomas-Mann-Forschung stützen diese politische Selbstcharakterisierung; in jüngerer Zeit wurde sie noch einmal bestätigt durch Heinrich Deterings Überlegungen zum aristokratischen Demokratieverständnis des Autors der Betrachtungen sowie des mit ihnen korrespondierenden Romans Königliche Hoheit aus dem Jahr 1909 (Detering 2005, 167ff.). Legt man jedoch Thomas Manns BBC-Radiosendungen Deutsche Hörer! aus der Zeit des Exils (1940–1945) neben die Betrachtungen eines Unpolitischen, so mag man kaum glauben, dass beide Texte vom gleichen Verfasser stammen. Wo die Betrachtungen relativieren, verschleiern, changieren, sind die BBC-Reden an politischer Eindeutigkeit nicht zu übertreffen. Wo sich die Betrachtungen um ästhetischen Ausdruck bemühen, stilistisch ausufern, das Reden um des Redens willen zelebrieren, verfahren die Radioansprachen ebenso knapp und einfach in der Form wie klar und präzise hinsichtlich ihrer politischen Botschaft. Gemeinsam ist beiden Texten allerdings, dass sich die Forschung zu wenig um ihre Einordnung in den Mann’schen Werkkontext bemüht (Hoffschulte 2003, 13f.) Da die Nationalsozialisten das moderne Medium des Rundfunks exzessiv zu Propagandazwecken nutzten, lag es nahe, diesen Weg auch für die Antipropaganda einzusetzen. Thomas Manns Radiosendungen entstehen im Kontext einer umfangreichen politischen Sendetätigkeit der britischen BBC in deutscher Sprache in der Zeit des Zweiten Weltkriegs (Hoffschulte 2003, 43ff.). Im Gegensatz zu seinen politischen Äußerungen in den Betrachtungen hatte sich Thomas Mann hier an ein klares und nicht von ihm selbst bestimmtes Konzept zu halten: Kein Beitrag durfte mehr als acht Minuten Sendezeit beanspruchen, die Texte mussten allgemein verständlich und in ihrer Eindeutigkeit der Flüchtigkeit des Mediums angepasst sein – in einer Radiosendung wird jedes Wort nur ein Mal gesprochen und gehört, nichts lässt sich nachlesen. Thomas Manns Ansprachen wurden von Oktober 1940 bis Mai 1945 regelmäßig, in fast monatlichem Turnus durch die BBC gesendet, mit einer längeren Pause nur zwischen der Rede vom Mai 1944 und der Ansprache vom Januar 1945; eine letzte Rede wurde zum Neujahr 1946 verbreitet. Insgesamt handelt es sich um 58 Texte (Essays 5, 351). Die ersten 25 dieser Reden erschienen bereits 1942 unter dem Titel Deutsche Hörer! im Druck, eine erweiterte Ausgabe von 55 Reden wurde 1945 publiziert. Thomas Mann, so seine Selbstauskunft (GW XI, 984), hatte die Texte zunächst aus dem kalifornischen Exil per Kabel nach London übermittelt, wo sie von einem Sprecher der BBC verlesen wurden. Später nahm er den Text selbst in Los Angeles im Studio auf, von wo aus er in Form einer Platte per Luftweg und Telefon an die BBC übermittelt wurde. Thomas Mann, so betont er in seiner Vorrede zur Ausgabe von 1945, war daran gelegen, mit eigener Stimme zu den Deutschen zu sprechen (GW XI, 984). Offenbar erhoffte er sich davon eine größere Wirksamkeit der eindringlichen Mahnungen an seine Landsleute. Die erste der von ihm selbst gesprochenen Botschaften (März 1941) beginnt er: „Was ich euch aus der Ferne zu sagen hatte, das haben andere Münder euch bisher überliefert.

6. Politische Essayistik

Diesmal hört ihr meine eigene Stimme. Es ist die Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme“ (GW XI, 997). Thomas Manns Tonfall in den Radioansprachen ist mahnend und dringlich, aber ruhig; seine Sprache so genau und differenziert artikuliert wie in seinen Lesungen. Beschäftigt man sich mit diesen Radioreden, sollte man unbedingt die leicht verfügbaren Tonaufnahmen einbeziehen und sich die Reden im Original anhören. Eine der zentralen Botschaften Thomas Manns an die Deutschen besteht in der Proklamation der festen Überzeugung, dass der Nationalsozialismus ein vorübergehendes Phänomen darstellt, dass er nicht von Dauer sein wird und dass Hitler den Krieg nicht gewinnen kann – eine Haltung, die Thomas Mann in anderen Texten aus der Zeit des Exils, vor allem in den Tagebüchern und Briefen, keineswegs so entschieden vertritt. Auch daran wird deutlich, dass es sich bei den BBC-Reden um Rollenprosa handelt, die einen konkreten politischen Zweck verfolgt. Politische Zweifel sind in diesem Medium der anti-nationalsozialistischen Propaganda ebenso wenig angebracht wie die kulturphilosophischen Spitzfindigkeiten, die in den Betrachtungen so ausführlich zelebriert werden. Wie er auf die Authentizität seiner Stimme pocht, so sucht Thomas Mann auch seine politischen Aussagen mit der Autorität seiner Person zu untermauern: „Hitlers Triumph wird vermieden werden, ich stehe euch dafür ein.“ (GW XI, 1018) Die Grundlage seiner Proklamationen vom unvermeidbaren Ende der Naziherrschaft bildet die in den Reden entschieden vorgetragene Überzeugung, dass Deutsche und Nationalsozialisten nicht identisch seien (u.a. GW XI, 993, 1010) und der Nationalsozialismus eine den Deutschen aufoktroyierte Staatsform, ein „finsteres Verhängnis“ für sie darstelle (GW XI, 1010). Immer wieder zeigt sich Thomas Mann in diesen Texten überzeugt, die Deutschen lehnten im Grunde die Naziherrschaft ab und wollten von der Welt geliebt, nicht gehasst werden: „Weiß man nicht, daß unter allen Untaten, zu denen man euch verleitet, dieser tiefe Wunsch immer lebendig bleibt: geliebt zu sein? Weiß man nicht, daß es euch nicht im mindesten beglückt, daß es euch im Grunde ein Grauen und eine verzweifelte Not ist, den Feind der Menschheit zu spielen?“ (GW XI, 994) Deutschland, so sucht der politische Agitator, der Mahner und Warner seinen Mitbürgern immer wieder zu suggerieren, brauche die Welt ebenso wie umgekehrt die Welt auf ein von Nazis befreites Deutschland als wichtigen Partner innerhalb der Weltordnung baue. Man könne als Volk nicht ohne seine Nachbarn überleben: „Ein Volk, mit dem niemand leben kann, wie soll das selber leben?“ (GW XI, 1030) Umgekehrt plane keiner der deutschen Kriegsgegner, Deutschland nach dem Krieg zu vernichten, wie die Propaganda der Nazis die Deutschen glauben machen wolle (GW XI, 1014). Wichtig sei jedoch, dass die Deutschen sich selbst vom Joch der Naziherrschaft befreien wollten: „Ein Volk das frei sein will, ist es im selben Augenblick.“ (GW XI, 1038). Diese Chance der Selbstbefreiung beschwört Thomas Mann so lange, bis klar wird, dass die Alliierten einen endgültigen Sieg über Nazideutschland anstreben und es für eine deutsche Emanzipation zu spät ist. Hatte Thomas Mann in den ersten Jahren der Kriegsbotschaften unablässig die Freiheit beschworen, die die Deutschen durch politisches Handeln erreichen könnten, so bleibt ihm ab einem gewissen Punkt in der

Antifaschistische Propaganda

Die Deutschen und der Nationalsozialismus

Chance der Selbstbefreiung

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V. Textanalysen

Information über NS-Verbrechen

Deutsche Schuld

„Ihr“ und „wir“

Entwicklung des Kriegsgeschehens nur noch, die Freiheit als ein Gut anzupreisen, das den Deutschen durch den Sieg der Alliierten zuteilwerde, indem er etwa den Jubel bei der Befreiung Italiens schildert (GW XI, 1093). Thomas Manns BBC-Reden verfolgen auch das Ziel einer wahrheitsgetreuen Information der Zuhörer. Gerade gegen Ende des Krieges sucht Thomas Mann die Deutschen immer wieder über den wahren Kriegsverlauf zu informieren, den die nationalsozialistische Presse und der deutsche Rundfunk verschleiern. Darüber hinaus berichten die Radioansprachen immer wieder von den im Namen der Deutschen begangenen Untaten: von den Verbrechen der Wehrmacht in den besetzten Gebieten, von den Racheaktionen an der Zivilbevölkerung dort, immer eindringlicher auch von der Vernichtung der Juden, dem „viehischen Massenmord von Mauthausen“ (GW, XI 1042) oder dem Sterben im Warschauer Ghetto. Elftausend Juden seien allein in der Nähe von Warschau in Eisenbahnwaggons vergast worden: „Und da wundert ihr Deutschen euch, entrüstet euch sogar darüber, daß die zivilisierte Welt beratschlagt, mit welchen Erziehungsmethoden aus den deutschen Generationen, deren Gehirne vom Nationalsozialismus geformt sind, aus moralisch völlig begrifflosen und mißgebildeten Killern also, Menschen zu machen sind?“ (GW XI, 1053) An Passagen wie dieser aus der Sendung vom September 1942 wird deutlich, dass Thomas Mann zunehmend die Geduld mit seinen Landsleuten verliert und zu einer strikten Trennung zwischen Deutschen und nationalsozialistischen Mördern nicht mehr bereit ist. Seine verzweifelten positiven Appelle („Handelt!“ GW XI, 1079) werden immer stärker abgelöst von Überlegungen zur deutschen Schuld („Daß Deutschland es nicht sah, als noch Zeit zu sehen war, ist seine schwere Schuld.“ GW XI, 1086) und der Buße, die die Deutschen für diese Schuld zu entrichten haben. Den Luftkrieg der Alliierten gegen die Deutschen betrachtet er als Teil dieser berechtigen Schuldabtragung, die von den Deutschen gefordert werden kann (GW XI, 1034). Zugleich verschweigt er nicht das moralische Dilemma, in das die ,gute‘ Seite durch diese Schläge gegen die Zivilbevölkerung gerät: „Das soll man nicht tun, lehrt die Schrift. Aber die Schrift lehrt uns nicht, wie man der Schuld und Schande entgeht, wenn man das Böse ohne Widerstand walten läßt.“ (GW XI, 1103) Desungeachtet kennt seine Solidarität mit den Alliierten, auch mit der Sowjetunion (die Thomas Mann konsequent „Russland“ nennt), keine Grenzen. Angesichts der deutschen Schuld hätten die Exilanten kein Recht mehr, das Wohlergehen ihrer zuhause gebliebenen Landsleute zu verteidigen (GW XI, 1088). „Wir“, das bezeichnet in diesen Texten stets die deutschen Flüchtlinge, während die Deutschen mit „ihr“ angesprochen oder auch als „dieses Volk“ (GW XI, 1026) bezeichnet werden; nur ganz vereinzelt ist von „unserem“ Volk die Rede (GW XI, 1040). Zwar äußert Thomas Mann immer wieder Verständnis für die Lage der Deutschen, ihr Leiden im Krieg, ihre Trauer um die Toten: „Ehre und Mitgefühl auch dem deutschen Volk!“ (GW XI, 1076) Immer wieder spricht aus diesen Texten jedoch auch die Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass die Deutschen solchen Führern vertrauen und folgen. Hitler, die Parteispitze und die Nationalsozialisten an sich werden mit starken Worten als moralischer Abschaum und personifizierte Dummheit charakterisiert, die kein Recht hätten, sich auf

6. Politische Essayistik

das deutsche und europäische Kulturerbe zu berufen (GW XI, 1057f., 1069, 1078). Vor allem hinsichtlich seiner Bezeichnungen für Hitler erweist sich Thomas Mann als ausgesprochen kreativ: der „infernalische Schubiack“, der „Schreckensmann“ und „Feind der Menschheit“, der „blutige Duckmäuser“, das „schlecht ausgefallene Individuum“, der „wütige Kettenhund“, die „gottloseste aller Kreaturen“, der „blödsinnige Wüterich“, das „unbeschreibliche Subjekt“ und „das elende Subjekt“ – um nur die prägnantesten zu nennen (GW XI, 1002, 1008, 1016, 1024, 1038, 1039, 1110). Dem gegenüber wird vor allem Roosevelt zum moralisch integeren Helden und großen Gegenspieler Hitlers stilisiert, wobei sich Thomas Mann zur Verklärung seiner Person eines fast biblischen Pathos bedient, so etwa anlässlich seines Todes: „Klug wie die Schlange und ohne Falsch wie die Tauben“ (GW XI, 1119). Selbst der ,Humanismus‘ Stalins wird zu Propagandazwecken von Thomas Mann gelobt, um die Angst der Deutschen vor der „Roten Gefahr“ zu beschwichtigen (GW XI, 1066f.). Die ethische Integrität der Gegner der Nationalsozialisten bürgt dafür, so versichert Mann den Deutschen wiederholt, dass ihnen nach dem Kriegsende zwar Buße und Umerziehung, aber keine Vernichtungsaktionen der Sieger drohen. Die alliierten Mächte entwerfen, so der Tenor, für die Zukunft eine neue, humane und sozialistisch gefärbte „Welt-Zivilisation“ (GW XI, 1058), von der auch die Deutschen profitieren werden. Die ,Machtübernahme‘ der Nationalsozialisten sei nur die Pervertierung einer Revolution gewesen, ganz im Gegensatz zur russische Revolution (GW XI, 1037). Auch in England und den USA werde die Demokratie gerade verjüngt und revolutionär verändert, Roosevelt und Churchill hätten mit der Atlantik-Charta ein „revolutionäres Dokument“ verfasst (GW XI, 1037). Die Charta sei die „revolutionäre Planung einer neuen, sozialen und gerechten Völkerordnung“ (GW XI, 1040). Thomas Mann präsentiert sie als wichtigen Schritt auf dem Weg zu jenem weltumspannenden, humanen Sozialismus, der die Zukunft der Völker und auch die Zukunft Deutschlands bestimmen werde und den er den Deutschen schmackhaft zu machen sucht. Mit diesen Verweisen auf das Positive, die Freiheit, die Deutschland und die Welt nach dem Ende des Krieges erwartet, sollen die Deutschen davon überzeugt werden, ihren vermeintlich heroischen Widerstand gegen die Alliierten aufzugeben, zu dem sie von den Nationalsozialisten gezwungen würden: „Die Fortsetzung des Krieges durch Deutschland über die Niederlage hinaus bis zur Vernichtung hat nichts mit Heroismus zu tun, sondern ist in der Tat ein Verbrechen, – begangen am deutschen Volk durch seine Führer.“ (GW XI, 1115) Die Hoffnung, Deutschland könne sich doch noch selbst aus der Macht des Nationalsozialismus befreien, weicht immer mehr der Angst, die Deutschen könnten in ihrem Wahn bis zur völligen Vernichtung Deutschlands durchhalten. Diesem Wahn setzt Thomas Mann die Verheißung einer von den Alliierten gestalteten friedlichen Zukunft entgegen. Ob die Adressaten seiner Botschaften diesem Versprechen Glauben schenkten, sei dahingestellt. Inwiefern es Thomas Mann mit seinen BBC-Reden überhaupt gelang, politischen Einfluss auf die Deutschen auszuüben, ist schwer festzustellen. Dass sie in Deutschland von nationalsozialistischer Seite verfolgt wurden, zeigen ent-

Die Vision einer „Welt-Zivilisation“

Gegen den mörderischen Durchhaltewillen

Rezeption

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V. Textanalysen

Politische Moral im Exil

Antifaschismus der Vernunft

sprechende Quellen, etwa die Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS oder die Tagebücher Joseph Goebbels (Hoffschulte 2003, 360f.). Wie intensiv die BBC-Sendungen innerhalb Deutschlands von Privatpersonen rezipiert wurden – immerhin konnte für das „wehrkraftzersetzende“ Hören von „Feindsendern“ sogar die Todesstrafe verhängt werden –, lässt sich allenfalls für Einzelfälle nachvollziehen (siehe etwa die privaten Äußerungen, die Hoffschulte gesammelt hat: Hoffschulte 2003, 368ff.). Thomas Mann selbst betont in seinem Vorwort zur Ausgabe von 1945: „Es lauschen mehr Menschen, als man erwarten sollte, nicht nur in der Schweiz und in Schweden, sondern auch in Holland, im tschechischen ,Protektorat‘ und in Deutschland selbst, wie durch aufs sonderbarste chiffrierte Rückäußerungen aus diesen Ländern belegt ist. Auf Umwegen kommen solche tatsächlich auch aus Deutschland.“ (GW XI, 984) Der Ehrgeiz, gehört zu werden, ist Teil des Repräsentationsanspruches des Exilanten Thomas Mann, der der eigenen Stimme ein gewisses Gewicht beimisst. Bei seiner Ankunft in den USA im Februar 1938 hatte er einem Journalisten der New York Times auf seine Frage, ob er das Exil als schwere Last empfinde, geantwortet, diese Last werde ihm leichter, wenn er an die vergiftete Atmosphäre in Deutschland denke. Und er fuhr fort: „Where I am there is Germany. I carry my German culture in me. I have contact with the world and I do not consider myself fallen.“ (Hansen 1991, 177) Das oft als Arroganz missverstandene Diktum formuliert den gleichen Anspruch, der sich auch in Deutsche Hörer! manifestiert: den Anspruch der deutschen Exilanten, die eigentlichen Vertreter der deutschen Kultur zu sein. Thomas Mann hatte diesen Anspruch gegenüber der Times nicht nur auf die eigene Person bezogen, sondern ihn für die gesamte intellektuelle Exilgemeinde formuliert. Darin zeigt sich ein politisches Selbstbewusstsein, auf der richtigen Seite zu stehen, von denen die Betrachtungen eines Unpolitischen noch weit entfernt waren. Nicht zuletzt, weil die eigene Position unklar war, hatte der Autor der Betrachtungen unablässig über sich selbst geredet. Der Autor der BBC-Reden spricht nicht mehr von sich, sondern von der guten und der schlechten Sache – in der Gewissheit, das eine vom anderen eindeutig unterscheiden zu können. Die oft geäußerte Kritik, Thomas Manns Entscheidung, sich auf die Seite der Republik, der Demokratie, später des Antifaschismus zu stellen, sei eine bloße Vernunftentscheidung gewesen, greift nicht. Das Gute aus Gründen der Vernunft zu tun, darin sieht schon Immanuel Kant den Gipfel eines ethischen Verhaltens, das er im Kategorischen Imperativ auf den Punkt bringt. Noch in seinen BBC-Reden bezeichnet Thomas Mann, der aktivste politische Sprecher des deutschen Exils, sich selbst als einen Unpolitischen (GW XI, 1056). Aus der Sphäre dieses Unpolitischen kommend, wurzelt Thomas Manns Denken ursprünglich in dem gleichen Grund, aus dem auch die Ideologie der Nationalsozialisten stammt, von dem er sich jedoch bewusst emanzipiert hat. Im Februar 1934 hatte der Autor in einem Brief an den Kulturphilosophen Karl Kerényi die eigene politische Haltung mit einem Bild beschrieben, das er während der Zeit des Exils noch öfter verwenden wird: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht, – und umgekehrt.“ (Briefe I, 354) Es ist ein vergleichsweise bescheidenes Bild für den politischen Kraft-

6. Politische Essayistik

akt, den Thomas Mann im Exil vollbringt. Sich von den eigenen ideengeschichtlichen Wurzeln distanziert, sich auf die Seite der Vernunft gestellt und daraus eine so umfangreiche wie wirkungsvolle politische Tätigkeit im Exil entwickelt zu haben, darin besteht das große demokratisch-humanitäre Verdienst Thomas Manns.

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VI. Rezeptionsgeschichte Rezeptionsforschung

Frühe Kritik

Überblicksdarstellungen

Der Erfolgsautor

Thomas Mann konnte sich zeit seines Lebens und Schaffens der breiten Aufmerksamkeit von Lesern und Feuilleton gewiss sein; bis heute erreicht seine Literatur ein großes Publikum. Die Rezeption der Texte Thomas Manns ist in der Forschung detailliert dokumentiert. Weniger Interesse erfährt dabei die ,populäre‘ Rezeption, die sich etwa anhand der zahlreichen Briefe nachvollziehen lässt, die Thomas Mann von seinen Lesern erhält und von denen er viele gewissenhaft beantwortet. Leichter zu verfolgen ist die öffentliche Seite, die wissenschaftliche (siehe Kapitel II.) und literaturkritische Rezeption. Die Rezensionen zu Buddenbrooks, Thomas Manns erstem Roman, sind die einzigen, in denen die Person des Autors noch keine Rolle spielt. Der junge Schriftsteller ist zu diesem Zeitpunkt ein fast unbeschriebenes Blatt, positive und negative Kritiken halten sich in etwa die Waage (Wißkirchen 1995, 876ff.). Allerdings evoziert der Roman, zumindest in Manns Heimatstadt Lübeck, einen veritablen Literaturskandal, weil er als Schlüsselroman gelesen wird – eine Einschätzung, gegen die sich Thomas Mann u.a. im Essay Bilse und ich zur Wehr setzt (GKFA 14.1). Mit dem Roman Buddenbrooks wird Thomas Mann berühmt, die Novelle Der Tod in Venedig (1912) verhilft dem Autor schließlich auch zum internationalen Durchbruch (Kurzke 2010, 310). Als Thomas Mann 1909 seinen zweiten Roman Königliche Hoheit im S. Fischer Verlag publiziert, hat sich die Rezeptionshaltung bereits grundlegend verändert. Der beginnende Ruhm wirft seine Schatten und hindert die meisten Rezensenten an einem Verriss (Wißkirchen 1995, 881). Bereits 1969 legte Klaus Schröter eine grundlegende Studie zur Thomas Mann-Rezeption von 1891 bis 1955 vor (Schröter 1969). Die nationale wie internationale Rezeption dokumentieren auch die Bände von Hugh Ridley zu den Romanen Buddenbrooks und Der Zauberberg (Ridley 1994), Meike Schlutts Dokumentation der deutschen Pressestimmen zu Thomas Mann von 1898 bis 1933 (Schlutt 2002), der Ausstellungskatalog des Buddenbrookhauses zu Mario und der Zauberer (Pils/Ulrich 2010), der Band von Holger Pils zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (Pils 2012) oder Thomas Golls Darstellung der politischen Rezeption der Literatur Thomas Manns (Goll 2000) – um nur eine Auswahl zu nennen. Trotz seiner Erfolge werden Thomas Manns Publikationen durchaus kritisch rezensiert. Hermann Kurzke fasst die in den Rezensionen immer wiederkehrenden Punkte zusammen: Die Kritik wirft Thomas Mann vielfach einen kalten Blick auf die Welt vor (und diese vermeintliche „Kälte“ wird nicht selten auch auf Thomas Mann selbst projiziert), man hadert mit seiner Vorliebe für das Kranke und Dekadente und stört sich an der Konstruiertheit seiner Literatur (Kurzke 2010, 310). Vielfach wird die Kritik am Text auf den Autor übertragen; je berühmter und erfolgreicher Thomas Mann, je repräsentativer sein Habitus und sein Status innerhalb des kulturellen Feldes wer-

VI. Rezeptionsgeschichte

den, umso weniger wird zwischen Person und Literatur klar differenziert. Thomas Mann ist während seiner gesamten Karriere ein erfolgreicher Schriftsteller, sowohl was seine öffentliche Selbstdarstellung als auch was den ökonomischen Gewinn betrifft, den Autor und Verlag aus dem Verkauf seiner Bücher ziehen. Sein Aufstieg zum „Erfolgsautor“ erfolgt vornehmlich in der Zeit der Weimarer Republik (Haefs 2009). Das Exil 1933 bildet eine wesentliche Zäsur in der Autorenkarriere Thomas Manns, doch der ökonomische Erfolg bleibt ihm auch nach seiner Emigration erhalten; selbst in den USA erreicht er eine breite Leserschaft. Dieser Erfolg, der nur wenigen Exilautoren beschieden war (etwa Lion Feuchtwanger oder Franz Werfel), evoziert den Neid vieler Kollegen. Hinzu kommen vielfach politische Differenzen unter den Emigranten, die den Blick auf Thomas Mann und seine Texte bestimmen. Bertolt Brecht schreibt im Exil: „Thomas Mann treffe ich höchstens zufällig und dann schauen 3000 Jahre auf mich herab.“ (zitiert nach Schmidt-Schütz 2003, 15) Alfred Döblin spricht im Zusammenhang mit Thomas Mann von der „großbürgerlichen Degeneration“ und der „Bügelfalte“ als „Kunstprinzip“ (zitiert nach Ermisch 2005, 36). Noch lange nach seinem Tod positionieren sich ältere und jüngere Schriftsteller zur Autor-Ikone Thomas Mann, davon zeugt die berühmte Umfrage, die Marcel Reich-Ranicki 1975 unter Autoren durchführt und die er 1985 wiederholt. Seine Frage lautet: „Was bedeutet Ihnen Thomas Mann, was verdanken Sie ihm?“ Die Bandbreite der Antworten aus beiden Umfragen, die Reich-Ranicki in einem Sammelband präsentiert (Reich-Ranicki 1986), reicht von Hochachtung und Dankbarkeit bis zur vollständigen Ächtung. Nur eines scheint nicht möglich zu sein: keine Meinung zu Thomas Mann zu haben. Selbst als die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2001 die Umfrage innerhalb der aktuellen Autorengeneration neu startet, werden noch eindeutige emotionale Ansichten geäußert, etwa von Feridun Zaimoglu, der über seine Lektüreerfahrungen mit Thomas Mann berichtet: „[…] als müßte ich durch ein Meer mit Feuerquallen brustschwimmen, und so tun, als würde es mir keine Schmerzen bereiten. In den verwurmten Sätzen steckte ein gehöriges Maß an Bildungs- und Gesinnungsterror, der in mir heftige Selbstentleibungstendenzen auslöste.“ (zitiert nach Ermisch 2005, 40) Die Rezeption Thomas Manns wird heute vielfach nicht mehr primär von den Texten, sondern von deren Verfilmungen bestimmt. Britta Dittmann zählt 21 Filme, die im 20. Jahrhundert nach Romanen und Erzählungen Thomas Manns entstanden (Dittmann 2005, 48). Im 21. Jahrhundert wurde zudem durch die dreiteilige TV-Docufiction Die Manns – ein Jahrhundertroman (2001) von Heinrich Breloer das Interesse an der schillernden Familie Mann neu entfacht. In der Presse werden die Manns seither gern als „deutsche Windsors“ gehandelt. Nun mag die Gruppe der Rezipienten des Bildungsfernsehens größer sein als die des literarischen Kanons. Gleichwohl zeugt der große Erfolg von Breloers Serie von einem immer noch virulenten Interesse an Thomas Mann – vielleicht sogar von einem Interesse an seinen Texten.

„Was bedeutet Ihnen Thomas Mann?“

Film und Fernsehen

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Zeittafel 1875

1891 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1903 1904 1905 1906 1909 1910 1912 1913 1914 1915 1918 1919 1921 1922 1923 1924 1927 1929 1930 1932 1933 1934

Thomas Mann wird am 6. Juni in Lübeck als zweiter Sohn des Kaufmanns Thomas Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia (geborene da Silva-Bruhns) geboren Tod des Vaters Abgang vom Gymnasium (ohne Abitur). Übersiedlung nach München. Gefallen Erste Italienreise mit Bruder Heinrich Zweiter längerer Italienaufenthalt (Oktober 1896 bis April 1998) Beginn der Arbeit an Buddenbrooks Der kleine Herr Friedemann Beginn der Freundschaft mit dem Maler Paul Ehrenberg Beginn der Arbeit an Tonio Kröger und Fiorenza. Kurzer Wehrdienst Buddenbrooks erscheint in zwei Bänden im Verlag S. Fischer/Berlin Bekanntschaft mit Katia Pringsheim. Novellensammlung Tristan Verlobung mit Katia Pringsheim Hochzeit mit Katia Pringsheim. Geburt der Tochter Erika. Wälsungenblut und Schwere Stunde Geburt des Sohnes Klaus. Bilse und ich Geburt des Sohnes Golo. Königliche Hoheit Geburt der Tochter Monika. Suizid der Schwester Carla. Beginn der Arbeit an Felix Krull Der Tod in Venedig erscheint Beginn der Arbeit an Der Zauberberg Gedanken im Kriege. Gute Feldpost Beginn der Arbeit an den Betrachtungen eines Unpolitischen Geburt der Tochter Elisabeth. Die Betrachtungen eines Unpolitischen erscheinen Geburt des Sohnes Michael. Ehrendoktorwürde der Universität Bonn Goethe und Tolstoi Von deutscher Republik Tod der Mutter Der Zauberberg erscheint Suizid der Schwester Julia Nobelpreis für Literatur Mario und der Zauberer. Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters. Goethes Laufbahn als Schriftsteller Leiden und Größe Richard Wagners. Beginn des Exils (Schweiz). Die Geschichten Jaakobs Der junge Joseph. Erste Reise in die USA

Zeittafel

1935 1936

1937 1938 1939 1940 1941 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949

1950 1952 1953 1954 1955

Zweite Reise in die USA Offener Brief an Korrodi in der NZZ. Joseph in Ägypten. Ausbürgerung aus Deutschland. Aberkennung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Bonn. Tschechische Staatsbürgerschaft. Freud und die Zukunft Dritte Reise in die USA. Vom zukünftigen Sieg der Demokratie Vierte Reise in die USA. Dieser Friede. Übersiedlung in die USA. Gastprofessur in Princeton Lotte in Weimar. Dieser Krieg Die vertauschten Köpfe. Beginn der Radiosendungen für die BBC Einladung durch Roosevelt ins Weiße Haus. Übersiedlung von Princeton nach Kalifornien Joseph, der Ernährer. Beginn der Arbeit an Doktor Faustus Das Gesetz Deutschland und die Deutschen Lungenkrebsoperation Doktor Faustus erscheint. Europareise. Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung Beginn der Arbeit an Der Erwählte Die Entstehung des Doktor Faustus. Goethe und die Demokratie. Erste Deutschlandreise nach dem Krieg. Tod des Bruders Victor. Suizid des Sohnes Klaus Tod des Bruders Heinrich. Der Erwählte erscheint. Wiederaufnahme der Arbeit an Felix Krull Rückkehr nach Europa. Ansiedlung in Kilchberg bei Zürich Die Betrogene. Audienz bei Papst Pius XII. Versuch über Tschechow Versuch über Schiller. Goldene Hochzeit. Ehrenbürger der Stadt Lübeck. Thomas Mann stirbt am 12. August

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Kommentierte Bibliografie Siglen BrAu = Briefwechsel mit Autoren DüD = Dichter über ihre Dichtungen GKFA = Große kommentierte Frankfurter Ausgabe GW = Gesammelte Werke NB = Notizbücher SK BB = Selbstkommentare: ,Buddenbrooks‘ TB = Tagebücher

Werkausgaben Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans. R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich [noch nicht vollständig; jeweils ein Text-, ein Kommentarband (des Herausgebers)] Bd. 1: Buddenbrooks. Hg. und textkritisch durgesehen von Eckhard Heftrich unter Mitarbeit von Stephan Stachorski und Herbert Lehnert, Frankfurt am Main 2001 Bd. 2: Frühe Erzählungen. Hg. und textkritisch durgesehen von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig, Frankfurt am Main 2002 Bd. 4: Königliche Hoheit. Hg. und textkritisch durgesehen von Heinrich Detering in Zusammenarbeit mit Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2004 Bd. 5: Der Zauberberg. Hg. und textkritisch durgesehen von Michael Neumann, Frankfurt am Main 2002 Bd. 9: Lotte in Weimar. Hg. und textkritisch durgesehen von Werner Frizen, Frankfurt am Main 2003 Bd. 10: Doktor Faustus. Hg. und textkritisch durgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2007 Bd. 12: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Hg. und textkritisch durgesehen von Thomas Sprecher und Monica Bussmann in Zusammenarbeit mit Eckhard Heftrich, Frankfurt am Main 2012 Bd. 13: Betrachtungen eines Unpolitischen. Hg. und textkritisch durgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2009 Bd. 14: Essays I 1893–1914. Hg. und textkritisch durgesehen von Heinrich Detering unter Mitar-

beit von Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 2001 Bd. 15: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002 Bd. 19: Essays VI 1945–1950. Hg. und textkritisch durgesehen von Herbert Lehnert, Frankfurt am Main 2009 Bd. 21: Briefe I 1889–1913. Ausgewählt und hg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini, Frankfurt am Main 2001 Bd. 22: Briefe II 1914–1923. Ausgewählt und hg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini, Frankfurt am Main 2004 Bd. 23: Briefe III 1924–1932. Ausgewählt und hg. von Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini, Frankfurt am Main 2011

Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt am Main 1990 Bd. I: Buddenbrooks. Verfall einer Familie Bd. II: Königliche Hoheit. Lotte in Weimar Bd. III: Der Zauberberg Bd. IV: Joseph und seine Brüder I Bd. V: Joseph und seine Brüder II Bd. VI: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde Bd. VII: Der Erwählte. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull Bd. VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen Bd. IX: Reden und Aufsätze 1 Bd. X: Reden und Aufsätze 2 Bd. XI: Reden und Aufsätze 3 Bd. XII: Reden und Aufsätze 4 Bd. XIII: Nachträge

Weitere zitierte Texte von Thomas Mann Mann, Thomas: Dichter über ihre Dichtungen. Teil I: 1889–1917. Hg. von Hans Wysling, München 1975 Mann, Thomas: Tagebücher 1933–1934. Hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1977

Kommentierte Bibliografie Mann, Thomas: Tagebücher 1944–1.4.1946. Hg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1986 Mann, Thomas: Selbstkommentare: ,Buddenbrooks‘. Hg. von Hans Wysling, Frankfurt am Main 1990 Mann, Thomas: Freud und die Psychoanalyse. Reden, Briefe, Notizen, Betrachtungen. Hg. von Bernd Urban, Frankfurt am Main 1991 Mann, Thomas: Notizbücher 7–14. Hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin, Frankfurt am Main 1992 Mann, Thomas: Essays. Band 5: Deutschland und die Deutschen 1938–1945. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1996

Ovid: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. Nach der ersten deutschen Prosaübersetzung durch August von Rode neu übersetzt und neu herausgegeben von Gerhard Fink, Frankfurt am Main 1994 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bde. I und II. Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und hgg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Band I, Frankfurt am Main 1986 Vargas Llosa, Mario: Der Ruf des Abgrunds. In: Klein, Kerstin/Pils, Holger (Hg.): Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns Der Tod in Venedig, Göttingen 2012, S. 81–88 [ursprünglich 1988]

Zitierte Briefausgaben Mann, Thomas: Briefwechsel mit Autoren. Hg. von Hans Wysling, Frankfurt am Main 1988 Mann, Thomas: Briefe I. 1889–1936. Hg. von Erika Mann, Frankfurt am Main 1995 [ursprünglich 1979] Mann, Thomas/Meyer, Agnes E.: Briefwechsel 1937–1955. Hg. von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt am Main 1992

Forschungsliteratur Einführungen Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. 4. Auflage, München 2010 Neumann, Michael: Thomas Mann. Romane, Berlin 2001 Ridley, Hugh/Vogt, Jochen: Thomas Mann, Paderborn 2009

Weitere zitierte Quellen Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur III, Frankfurt am Main 1973 Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Hg. von Rolf Tiedemann (= Gesammelte Schriften. Band 12), Frankfurt am Main 1975 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (= Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 5: ,Dialektik der Aufklärung‘ und Schriften 1940–1950), Frankfurt am Main 1997 Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Bearb. von Karen Bauer, Berlin 1997 Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1991 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 3. Hg. von Erich Trunz, München 1996 (16., überarbeitete Auflage) Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. Sämtliche Werke und Briefe. Band 2. Hg. von Helmut Sembdner, München 1987 Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, München 1988, S. 9–53. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechentum und Pessimismus, Stuttgart 1993

Biographische Literatur Armbrust, Heinz J./Heine, Gert: Wer ist wer im Leben von Thomas Mann? Ein Personenlexikon, Frankfurt am Main 2008 Harpprecht, Klaus: Thomas Mann. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 1995 Heilbut, Anthony: Thomas Mann. Eros and Literature, London 1995 Heine, Gert/Schommer, Paul: Thomas Mann Chronik, Frankfurt am Main 2004 Jens, Inge/Jens, Walter: Frau Katia Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim, Reinbek 2003 Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, München 1999 Kuschel, Karl-Josef/Mann, Frido/Soethe, Paulo Astor: Mutterland. Die Familie Mann und Brasilien, Düsseldorf 2009 Mendelssohn, Peter de: Der Zauberer. Das Leben des Schriftstellers Thomas Mann. Erster Teil 1875–1918, Frankfurt am Main 1975 Prater, Donald A.: Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Biographie, München 1998 [im Original: Thomas Mann. A Life, Oxford 1995] Reents, Edo: Thomas Mann, München 2001 Reich-Ranicki, Marcel: Thomas Mann und die Sei-

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Kommentierte Bibliografie nen, Frankfurt am Main 1990 [ursprünglich Stuttgart 1987] Schirnding, Albert von: Die 101 wichtigsten Fragen. Thomas Mann, München 2008 Schröter, Klaus: Tomas Mann, Reinbek bei Hamburg 2005 [ursprünglich 1964] Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952, Frankfurt am Main 2011 Wißkirchen, Hans: Die Familie Mann, Reinbek bei Hamburg 1999 Wüstner, Andrea: „Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam“. Thomas und Katia Mann als Eltern, München/Zürich 2010

Thomas-Mann-Forschung Abel, Angelika: Thomas Mann im Exil. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Emigration, München 2003. Abel, Angelika: Musikästhetik der Klassischen Moderne. Thomas Mann – Theodor W. Adorno – Arnold Schönberg, München 2003 Alt, Peter-André: Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns Der Zauberberg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Frankfurt am Main 1985 Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006 Bance, The political becomes personal: ,Disorder and early sorrow‘ and ,Mario and the magician‘. In: Robertson, Ritchie (Hg.): The Cambridge Companion to Thomas Mann, Cambridge 2002, S. 107–118 Bensch, Gisela: Träumerische Ungenauigkeiten. Traum und Traumbewusstsein im Romanwerk Thomas Manns. Buddenbrooks – Der Zauberberg – Joseph und seine Brüder, Göttingen 2004 Bergsten, Gunilla: Thomas Manns Doktor Faustus. Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans, Tübingen 1974 (2., ergänzte Auflage) Blödorn, Andreas: Tödliche Verschiebung der Perspektive. Das Unheimliche im Tod in Venedig. In: Klein, Kerstin/Pils, Holger (Hg.): Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns Der Tod in Venedig, Göttingen 2012, S. 22–28 Blumberg, David: From Muted Chords to Maddening Cacophany: Music in The Magic Mountain. In: Dowden, Stephen D.: A Companion to Thomas Mann’s Magic Mountain, Columbia 1999, S. 80–94 Böhm, Karl Werner: Zwischen Selbstzucht und Ver-

langen. Thomas Mann und das Stigma Homosexualität, Würzburg 1991 Börnchen, Stefan/Liebrand, Claudia (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München 2008 Bohnen, Klaus: Bild-Netze. Zur „Quellenmixtur“ in den Buddenbrooks. In: Thomas Mann Jahrbuch 15 (2002), S. 55–68 Brinkemper, Peter V.: Spiegel & Echo. Intermedialität und Musikphilosophie im „Doktor Faustus“, Würzburg 1997 Bulhof, Francis: Transpersonalismus und Synchronizität. Wiederholung als Strukturelement in Thomas Manns „Zauberberg“, Groningen 1966 Buttry, Dolores: Flucht in die Kunst, Flucht vor der Kunst: Thomas Mann’s Little Herr Friedemann and Knut Hamsuns’s Nagel. In: Germanic Notes and Reviews 42 (2011), S. 5–18 Consbruch, Benita von: Der Wille zum Schweren. Künstlerprofile in den frühen Erzählungen Thomas Manns, Marburg 2010 Crescenzi, Luca: Wer ist der Erzähler des Zauberberg? Und was weiß er eigentlich von Hans Castorp? In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Thomas Mann (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse. Bd. 31), Würzburg 2012, S. 167–182 Curtius, Mechthild: Erotische Phantasien bei Thomas Mann. Wälsungenblut – Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull – Der Erwählte – Die vertauschten Köpfe – Joseph in Ägypten, Königstein/Ts. 1984 Dedner, Burghard: Entwürdigung. Die Angst vor dem Gelächter in Thomas Manns Werk. In: Gerhard Härle (Hg.): „Heimsuchung und süßes Gift“. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, Frankfurt am Main 1992, S. 87–102 Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 1994 Detering, Heinrich: „Juden, Frauen und Litteraten“. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann, Frankfurt am Main 2005 Detering, Heinrich/Stachorski, Stephan (Hg.): Thomas Mann. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2008 Detering, Heinrich: The Fall oft he House of Buddenbrook: Buddenbrooks und das phantastische Erzählen. In: Thomas Mann Jahrbuch 24 (2011), S. 25–41 Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum „Tod in Venedig“, zum „Zauberberg“ und zur „Joseph“-Tetralogie, Bern/München 1972

Kommentierte Bibliografie Dierks, Manfred: Doktor Krokowski und die Seinen. Psychoanalyse und Parapsychologie in Thomas Manns Zauberberg. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 173–195 Dierks, Manfred: Buddenbrooks als europäischer Nervenroman. In: Thomas Mann Jahrbuch 15 (2002), S. 135–151 Dierks, Manfred: Thomas Mann und die „jüdische“ Psychoanalyse. Über Freud, C.G. Jung, das „jüdische Unbewußte“ und Manns Ambivalenz. In: Ders./Wimmer, Ruprecht (Hg.): Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft, Frankfurt am Main 2004, S. 97–126 Dierks, Manfred: Standbild und Spiegel. Vierzig Jahre mit Thomas Mann. In: Wimmer, Ruprecht/Wißkirchen, Hans (Hg.): Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlass des 50. Todesjahres von Thomas Mann, Frankfurt am Main 2007, S. 77–93 Dittmann, Britta: „Ironie ist nicht zeigbar“. Über die Schwierigkeit Thomas Manns Werke zu verfilmen. In: Das zweite Leben – Thomas Mann 1955–2005. Das Magazin zur Ausstellung. Hg. von der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck, Lübeck 2005, S. 48–53 Dowden, Stephen D.: A Companion to Thomas Mann’s The Magic Mountain, Rochester 2008 [ursprünglich 1999] Durrani, Osman: Fictions of Germany. Images of the German Nation in the Modern Novel, Edinburgh 1994 Elsaghe, Yahya: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ,Deutsche‘. München 2000 Elsaghe, Yahya: Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen, Köln/Weimar/Wien 2004 Ermisch, Maren: „… dann schauen 3000 Jahre auf mich herab“. Thomas Mann im Urteil seiner Schriftstellerkollegen. In: Das zweite Leben – Thomas Mann 1955–2005. Das Magazin zur Ausstellung. Hg. von der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck, Lübeck 2005, S. 36–41 Feulner, Gabriele: Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010 Flinker, Martin: Thomas Mann’s politische Betrachtungen im Lichte der heutigen Zeit, Den Haag 1959 Frizen, Werner: Zaubertrank der Metaphysik. Quellenkritische Überlegungen im Umkreis der Schopenhauer-Rezeption Thomas Manns, Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1980 Frizen, Werner: Thomas Manns ,Zauberberg‘ und

die „Weltgedichte“ der Zeitenwende. In: Arcadia 22/3 (1987), S. 244–269 Görtemaker, Manfred: Thomas Mann und die Politik, Frankfurt am Main 2005 Goll, Thomas: Die Deutschen und Thomas Mann. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der Politischen Kultur Deutschlands 1898–1955, Baden-Baden 2000 Grabowsky, Dennis: Vorzugskind des Himmels. Aspekte der Ironie in Thomas Manns „Felix Krull“, Marburg 2008 Grenville, Anthony: „Linke Leute von rechts“: Thomas Mann’s Naphta and ideological confluence of radical right and radical left in the early years of the Weimar Republic. In: Vaget, Hans Rudolf (Hg.): Thomas Mann’s The Magic Mountain. A Casebook, Oxford/New York 2008, S. 143–170 Grimm, Gunter E./Schärf, Christian (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008 Gut, Philipp: Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt am Main 2008 Haefs, Wilhelm: Geist, Geld und Buch. Thomas Manns Aufstieg zum Erfolgsautor im S. Fischer Verlag in der Weimarer Republik. In: Ansel, Michael/Friedrich, Hans-Erwin/Lauer, Gerhard (Hg.): Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin/New York 2009, S. 123–159 Härle, Gerhard: Die Gestalt des Schönen. Untersuchungen zur Homosexualitätsthematik in Thomas Manns „Der Zauberberg“, Königstein/Ts. 1986 Härle, Gerhard: Simulationen der Wahrheit. Körpersprache und sexuelle Identität im Zauberberg und Felix Krull. In: Ders. (Hg.): „Heimsuchung und süßes Gift“. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, Frankfurt am Main 1992, S. 63–86 Hamacher, Bernd: Thomas Manns letzter Werkplan „Luthers Hochzeit“. Edition, Vorgeschichte und Kontexte, Frankfurt am Main 1996 Hamacher, Bernd: Die Poesie im Krieg. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! als Ernstfall der Literatur [2000]. In: Detering, Heinrich/Stachorski, Stephan (Hg.): Thomas Mann. Neue Wege der Forschung, Darmstadt, 2008, S. 158–176 Hamacher, Bernd: Ein „großes und brennendes Problem der Kultur und des Geschmackes“. Schreiben und Schweigen – über die Dezenz Aschenbachs, seines Erzählers und seines Autors. In: Klein, Kerstin/Pils, Holger (Hg.): Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns Der Tod in Venedig, Göttingen 2012, S. 38–46 Hamburger, Käte: Der Humor bei Thomas Mann. Zum Joseph-Roman, München 1969 (2. Auflage) Hamburger, Käte: Thomas Manns biblisches Werk.

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Kommentierte Bibliografie Der Joseph-Roman. Die Moses-Erzählung „Das Gesetz“, Frankfurt am Main 1984 Hansen, Volkmar: „Where I am is Germany“. Thomas Manns Interview vom 21. Februar 1938 in New York. In: Stern, Martin (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung, Tübingen 1991, S. 176–188 Heftrich, Eckhard: Geträumte Taten. „Joseph und seine Brüder“. Über Thomas Mann. Band III, Frankfurt am Main 1993 Heftrich, Eckhard: Die Welt „hier oben“: Davos als mythischer Ort. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 225–247 Heftrich, Eckhard: Der unvollendet Krull – Die Krise der Selbstparodie. In: Thomas Mann Jahrbuch 18 (2005), S. 91–106 Heimendahl, Hans Dieter: Kritik und Verklärung. Studien zur Lebensphilosophie Thomas Manns in Betrachtungen eines Unpolitischen, Der Zauberberg, „Goethe und Tolstoi“ und Joseph und seine Brüder, Würzburg 1998 Hörisch, Jochen: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt am Main 1983 Hörisch, Jochen: ,The german Soul up to date‘ – Sacraments of Media Technology on The Magic Mountain. In: Minden, Michael (Hg.): Thomas Mann, London/New York 1995, S. 175–188 Hoffschulte, Martina: „Deutsche Hörer!“ Thomas Manns Rundfunkreden (1940 bis 1945) im Werkkontext, Münster 2003 Hofstaetter, „Dämonische Dichter“. Die literarischen Vorlagen für Adrian Leverkühns Kompositionen im Roman Doktor Faustus. In: Hans Wißkirchen (Hg.): „Die Beleuchtung, die auf mich fällt, hat … oft gewechselt.“ Neue Studien zum Werk Thomas Manns, Würzburg 1991, S. 146–188 Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. Band 2: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991 Joseph, Erkme: Nietzsche im „Zauberberg“, Frankfurt am Main 1996 Kashiwagi, Kikuko: Festmahl und frugales Mahl. Nahrungsrituale als Dispositive des Erzählens im Werk Thomas Manns, Freiburg im Breisgau 2003 Keller, Ernst: Der unpolitische Deutsche. Eine Studie zu den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann, Bern/München 1965 Kilcher, Andreas: Religion in Gestalt des Dämonischen. Zu Thomas Manns Doktor Faustus. In: Niklaus Peter/Thomas Sprecher (Hg.): Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen, Frankfurt am Main 2012, S. 79–99 Koopmann, Helmut: Der klassisch-moderne Roman

in Deutschland. Thomas Mann, Alfred Döblin, Hermann Broch, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983 Koopmann, Helmut: Die Lehren des Zauberbergs. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 59–80 Koopmann, Helmut: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. In: Ders. (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1995 (2. Auflage), S. 516–533 Koopmann, Helmut: Thomas Manns Schiller-Bilder – Lebenslange Mißverständnisse? In: Thomas Mann Jahrbuch 12 (1999), S. 113–131 Koopmann, Helmut: Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder, München 2005 Kristiansen, Børge: Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Bonn 1986 Kurzke, Hermann: Thomas-Mann-Forschung 1969– 1976. Ein kritischer Bericht,Frankfurt am Main 1977 Kurzke, Hermann: Auf der Suche nach der verlorenen Irrationalität. Thomas Mann und der Konservatismus, Würzburg 1980 Kurzke, Hermann: Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Aufsätze seit 1970, Würzburg 1985 Kurzke, Hermann: Dostojewski in den Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Eckhard Heftrich/Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling, Frankfurt am Main 1991, S. 138–151 Kurzke, Hermann: Die Hunde im Souterrain. Die Philosophie der Erotik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder. In: Gerhard Härle (Hg.): „Heimsuchung und süßes Gift“. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, Frankfurt am Main 1992, S. 126–138 Kurzke, Hermann; Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman, Frankfurt am Main 1993 Langer, Daniela: Erläuterungen und Dokumente. Thomas Mann. Der Zauberberg, Stuttgart 2009 Lehnert, Herbert: „Goethe, das deutsche Wunder“. Thomas Manns Verhältnis zu Deutschland im Spiegel seiner Goethe-Aufsätze. In: Thomas Mann Jahrbuch 12 (1999), S. 133–148 Maar, Michael: Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg, München/Wien 1995 Marquardt, Franka: Erzählte Juden. Untersuchungen zur Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Münster 2003 Marx, Friedhelm: „Ich aber sage ihnen …“ Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt am Main 2002 Marx, Friedhelm: Thomas Mann und kein Ende. Thomas Mann-Rezeption in der Gegenwartsliteratur:

Kommentierte Bibliografie Wolfgang Hilbig und Robert Menasse. In: Wimmer, Ruprecht/Wißkirchen, Hans (Hg.): Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlass des 50. Todesjahres von Thomas Mann, Frankfurt am Main 2007, S. 113–129 Mehring, Reinhard: Das „Problem der Humanität“. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003 Mendelssohn, Peter de: Vorbemerkung des Herausgebers. In: Thomas Mann. Tagebücher 1918–1921. Hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1979, S. V-XII Middell, Eike: Sozialutopie und ,Gottessorge‘ in Joseph, der Ernährer. In: Brandt, Helmut/Kaufmann, Hans (Hg.): Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog, Berlin/ Weimar 1978, S. 229–248. Nerlich, Michael: Kunst, Politik und Schelmerei. Die Rückkehr des Künstlers und des Intellektuellen in die Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt an Werken von Charles de Coster, Romain Rolland, André Gide, Heinrich Mann und Thomas Mann, Frankfurt am Main/Bonn 1969 Nies, Martin: „Die unwahrscheinlichste der Städte“. Raum als Zeichen in Thomas Manns Der Tod in Venedig. In: Klein, Kerstin/Pils, Holger (Hg.): Wollust des Untergangs. 100 Jahre Thomas Manns Der Tod in Venedig, Göttingen 2012, S. 10–21 Ogrzal, Timo: Kairologische Entgrenzung. Zauberberg-Lektüren unterwegs zu einer Poetologie nach Heidegger und Derrida, Würzburg 2007 Pegatzky, Stefan: Das poröse Ich. Leiblichkeit und Ästhetik von Arthur Schopenhauer bis Thomas Mann, Würzburg 2002 Pikulik, Lothar: Thomas Mann. Der Künstler als Abenteurer, Paderborn 2012 Pils, Holger/Ulrich, Christina (Hg.): Thomas Manns Mario und der Zauberer, Lübeck 2010 Pils, Holger: Thomas Manns „geneigte Leser“. Die Publikationsgeschichte und populäre Rezeption der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 1911–1955, Heidelberg 2012 Pütz, Peter: Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Zum Problem des ästhetischen Perspektivismus in der Moderne. 2., durchges. u. ergänzte Aufl., Bonn 1975 Pütz, Peter: Krankheit als Stimulans des Lebens. Nietzsche auf dem Zauberberg. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 249–264 Reed, Terence James: Zur Deutung der Novelle [„Der Tod in Venedig“]. In: Detering, Heinrich/Stachorski, Stephan (Hg.): Thomas Mann. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2008, S. 42–59 [ursprüng-

lich in: Reed, Terence: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Text, Materialien, Kommentar mit den bisher unveröffentlichten Arbeitsnotizen Thomas Manns, München/Wien 1983, S. 147–166] Reed, Terence James: Death in Venice. Making and Unmaking a Master, New York 1994 Reed, Terence James: Tod eines Klassikers. Literarische Karrieren im Tod in Venedig. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Liebe und Tod – in Venedig und anderswo. Die Davoser Literaturtage 2004, Frankfurt am Main 2005, S. 171–185 Reents, Edo: Zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption, Würzburg 1998 Reich-Ranicki, Marcel: Was halten Sie von Thomas Mann? Achtzehn Autoren antworten, Frankfurt am Main 1986 Renner, Rolf Günter: Lebens-Werk. Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann, München 1985 Ridley, Hugh: The Problematic Bourgeois: Twentieth-Century Criticism on Thomas Mann’s Buddenbrooks and The Magic Mountain, Columbia 1994 Riedel, Wolfgang: „Homo Natura“. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin/New York 1996 Rudloff, Holger: Pelzdamen. Weiblichkeitsbilder bei Thomas Mann und Leopold von Sacher-Masoch, Frankfurt am Main 1994 Rütten, Thomas: Die Cholera und Thomas Manns Der Tod in Venedig. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Liebe und Tod – in Venedig und anderswo. Die Davoser Literaturtage 2004, Frankfurt am Main 2005, S. 125–170 Ryan, Judith: Buddenbrooks: Between Realism and Aestheticism. In: Robertson, Ritchie (Hg.): The Cambridge Companion to Thomas Mann, Cambridge 2002, S. 119–136 Scherliess, Volker: Zur Musik im Doktor Faustus. In: Thomas Sprecher/Hans Wißkirchen (Hg.): „und was werden die Deutschen sagen??“ Thomas Manns Doktor Faustus, Lübeck 1998, S. 113–152 Schlutt, Meike: Der repräsentative Außenseiter. Thomas Mann und sein Werk im Spiegel der deutschen Presse 1898 bis 1933, Frankfurt am Main 2002 Schmidt-Schütz, Eva: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne. Eine quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zu Thomas Manns literarischem Selbstbild, Frankfurt am Main 2003 Schöll, Julia: Geschlecht und Politik in Thomas Manns Exilroman Lotte in Weimar. In: Dies. (Hg.): Gender – Exil – Schreiben. Mit einem Vorwort von Guy Stern, Würzburg 2002, S. 165–182 Schöll, Julia: Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruk-

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Kommentierte Bibliografie tion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und -Briefen sowie im Roman Joseph und seine Brüder, Würzburg 2004 Schöll, Julia: „Verkleidet also war ich in jedem Fall“. Zur Identitätskonstruktion in Joseph und seine Brüder und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. In: Thomas Mann Jahrbuch 18 (2005), S. 9–29 Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola, Bielefeld 2009 Schonlau, Anja: Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880–2000), Würzburg 2005 Schröter, Klaus (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955, Hamburg 1969. Schubert, Bernhard: „Der ,Bruch‘ in meinem Leben ist eine törichte Fabel!“ Zur Kontinuität in Thomas Manns politischem Denken. In: Hans Wißkirchen (Hg.): „Die Beleuchtung, die auf mich fällt, hat … oft gewechselt.“ Neue Studien zum Werk Thomas Manns, Würzburg 1991, S. 43–53 Schwöbel, Christoph: Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns, Tübingen 2008 Seidlin, Oskar: Stiluntersuchung an einem Thomas Mann-Satz. In: Monatshefte 39, Nr. 7 (Nov. 1947), S. 339–448 Shookman, Ellis: Thomas Mann’s Death in Venice. A Novella and Its Critics, Rochester 2003 Sontheimer, Kurt: Thomas Mann und die Deutschen, München 2002 [ursprünglich 1961] Sorg, Timo: Beziehungszauber. Musikalische Interpretation und Realisation der Werke Thomas Manns, Würzburg 2012 Sprecher, Thomas: Davos in der Weltliteratur. Zur Entstehung des Zauberbergs. In: Ders. (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 9–42 Sprecher, Thomas: Davos im Zauberberg. Thomas Manns Roman und sein Schauplatz, München 1996 Sprecher, Thomas: „Ein junger Autor hat es begonnen, ein alter setzt es fort“. Felix Krull im Gesamtwerk Thomas Manns. In: Thomas Mann Jahrbuch 18 (2005), S. 159–176 Strobel, Jochen: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns, Dresden 2000 Swales, Martin: ,Nimm doch vorher eine Tasse Tee …‘ Humor und Ironie bei Theodor Fontane und Thomas Mann. In: Heftrich, Eckhard et al. (Hg.): Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des internationalen Kolloquiums in Lübeck 1997, Frankfurt am Main 1998, S. 135–148 Vaget, Hans Rudolf: Kaisersaschern als geistige Le-

bensform. Zur Konzeption der deutschen Geschichte in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Paulsen, Wolfgang (Hg.): Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen, Bern/München 1977, S. 200–235 Vaget, Hans Rudolf: Die Erzählungen. In: Koopman, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1995 (2. Auflage), S. 534–618 Vaget, Hans Rudolf: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt am Main 2006 Vaget, Hans Rudolf: Ein unwissender Magier? Noch einmal der politische Thomas Mann. In: Wimmer, Ruprecht/Wißkirchen, Hans (Hg.): Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlass des 50. Todesjahres von Thomas Mann, Frankfurt am Main 2007, S. 131–152 Vaget, Hans Rudolf: Dilettantismus als Politikum: Wagner, Hitler, Thomas Mann. In: Blechschmidt, Stefan/Heinz, Andrea (Hg.): Dilettantismus um 1800, Heidelberg 2007, S. 367–385 Vaget, Hans Rudolf: „Politisch verdächtig!“ Die Musik in Thomas Manns „Zauberberg“, Bonn 2009 Virchow, Christian: Medizin und Biologie in Thomas Manns Roman Der Zauberberg. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 117–171 Virchow, Christian: Das Sanatorium als Lebensform. Über einschlägige Erfahrungen Thomas Manns. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Literatur und Krankheit im Fin-de-Siècle (1890–1914). Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000, Frankfurt am Main 2002, S. 171–197 Vogt, Jochen: Thomas Manns „Buddenbrooks“. 2. Auflage, München 1995 Wenzel, Georg: Buddenbrooks – Leistung und Verhängnis als Familienschicksal. In: Hansen, Volkmar (Hg.): Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 1997, S. 11–46 Wessel, Eva: „Der Zauberberg“ als Chronik der Dekadenz. In: Hansen, Volkmar (Hg.): Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 1997, S. 121–150 Wimmer, Ruprecht: Krull I – Doktor Faustus – Krull II. Drei Masken des Autobiographischen. In: Thomas Mann Jahrbuch 18 (2005), S. 31–50 Wißkirchen, Hans: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns Zauberberg und Doktor Faustus, Bern 1986 Wißkirchen, Hans: Thomas Mann in der literarischen Kritik. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1995 (2. Auflage), S. 875–924 Wißkirchen, Hans: „Ich glaube an den Fortschritt, gewiß.“ Quellenkritische Untersuchungen zu Thomas Manns Settembrini-Figur. In: Sprecher, Tho-

Kommentierte Bibliografie mas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 81–116 Wißkirchen, Hans: Zu einigen Tendenzen der Thomas Mann-Forschung 1955–2005. In: Das zweite Leben – Thomas Mann 1955–2005. Das Magazin zur Ausstellung. Hg. von der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck, Lübeck 2005, S. 22–25 Wißkirchen, Hans: „Er wird wachsen mit der Zeit …“. Zur Aktualität des Buddenbrooks-Romans. In: Thomas Mann Jahrbuch 21 (2008), S. 101–112 Würffel, Stefan Bodo: Zeitkrankheit – Zeitdiagnose aus der Sicht des Zauberbergs. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs – in Davos erlebt. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 197–223 Wysling, Hans: Narzissmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, Bern/München 1982 Wysling, Hans: Buddenbrooks. In: Koopman, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 1995 (2. Auflage), S. 363–384 Wysling, Hans: Der Zauberberg – als Zauberberg. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das „Zauberberg“Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main 1995, S. 43–57 Zeller, Regine: Cipolla und die Masse. Zu Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer, St. Ingberg 2006

Weitere Forschungsliteratur Becker, Sabina: „Weg ohne Rückkehr“ – Zur Akkulturation deutschsprachiger Autoren im Exil. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 9: Nationalsozialismus und Exil 1933–1945. Hg. von Wilhelm Haefs, München/Wien 2009, S. 245–265 Behler, Ernst: Ironie und literarische Moderne, Paderborn 1997

Gay, Peter: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt am Main 2008 Grimminger, Rolf: Aufstand der Dinge und der Schreibweisen. Über Literatur und Kultur der Moderne. In: Ders./Murasov, Jurij/Stückrath, Jörn (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 12–40 Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2008 Schieder, Wolfgang: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008 Zima, Peter V.: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen/Basel 2001 [2., überarbeitete Auflage]

Webseiten http://www.bibliothek.uni-augsburg.de/fachinformation/germanistik/sondersamml/jonas/ [Webseite der Universitätsbibliothek Augsburg, informiert über den Bestand der „Sammlung Jonas mit Thomas Mann-Artikelsammlung“; u.a. umfangreiche Bibliographie] http://www.thomas-mann.ch/ [Webseite der Thomas Mann Gesellschaft Zürich mit zahlreichen Materialien] http://www.thomasmann.de/thomasmann/home/ [Seiten des S. Fischer Verlags mit zahlreichen Informationen zur Forschung und der kritischen Ausgabe (GKFA) sowie Online-Publikationen zu Thomas Mann] http://buddenbrookhaus.de/ [Seite des Heinrichund-Thomas-Mann-Zentrum im Buddenbrookhaus Lübeck mit zahlreichen Materialien, Informationen zu Ausstellungen und Projekten sowie einer umfangreichen Datenbank]

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Personenregister Adorno, Theodor Wiesengrund 8f., 98, 103f., 107 Augustinus 60 Baum, Vicki 22 Beethoven, Ludwig van 105 Benn, Gottfried 52 Bermann Fischer, Gottfried 21 Bizet, Georges 87 Brecht, Bertolt 52, 121 Broch, Hermann 52 Bronnen, Arnolt 19 Chopin, Frédéric 27 Churchill, Winston 117 Debussy, Claude 87 Döblin, Alfred 52, 121 Dostojewski, Fjodor 110 Dürer, Albrecht 99 Ehrenberg, Paul 16,122 Elias, Norbert 68 Feuchtwanger, Lion 22, 121 Fischer, Samuel 16, 61, 70 Fontane, Theodor 35, 53, 64 Frank, Leonhard 100 Freud, Sigmund 22, 34–37, 42f., 58, 90, 113, 123 Friedrich II. (der Große) 51, 73 Goebbels, Joseph 118 Goethe, Johann Wolfgang von 18, 21f., 25, 28, 32 ff., 40ff., 47, 50–53, 58, 60, 72, 99ff., 103, 110, 112f., 122f. Gounod, Charles 87 Graf Keyserling, Hermann 49 Grautoff, Otto 10, 15, 17, 61 Gulbransson, Olaf 20 Hamburger, Käte 57, 60 Heuser, Klaus 19 Heuss, Theodor 21 Heydrich, Reinhard 20 Hitler, Adolf 19, 22, 33f., 40f., 51, 91, 97, 100, 115ff. Hofmannsthal, Hugo von 91, 97 Horkheimer, Max 107

Jünger, Ernst 19 Jung, Carl Gustav 37 Kafka, Franz 52 Kerényi, Karl 118 Kleist, Heinrich von 48, 75, 103 Knappertsbusch, Hans 20 Levetzow, Ulrike von 72 Luther, Martin 25, 99, 106f. Mahler, Gustav 71 Mann, Carla (Schwester) 15, 18, 122 Mann, Elisabeth (Tante) 61 Mann, Elisabeth (Tochter) 17, 19, 91, 122 Mann, Erika (Tochter) 17, 19, 21, 24, 122 Mann, Golo (Sohn) 17, 19, 24, 122 Mann, Heinrich (Bruder) 1518, 24f., 61, 70, 110f., 122f. Mann, Julia (geb. da Silva-Bruhns, Mutter) 15f., 19, 122 Mann, Julia (Schwester) 15, 18f., 122 Mann, Katia (geb. Pringsheim, Ehefrau) 17, 20, 24ff., 48, 71, 80, 122 Mann, Klaus (Sohn) 17, 19, 21, 25, 122f. Mann, Michael (Sohn) 17, 19, 91, 122 Mann, Thomas Johann Heinrich (Vater) 15ff., 122 Mann, Viktor (Bruder) 15, 25 Martens, Armin 15 Mendelssohn, Peter de 10, 13f. Meyer, Agnes Elizabeth 22f., 25 Molo, Walter von 24 f. Mussolini, Benito („Duce“) 91, 93 Napoleon I. 34, 51 Nietzsche, Friedrich 20, 36f., 41, 46, 54, 58, 63, 65, 71, 75f., 87, 97, 99, 103, 105, 110ff., 123 Oprecht, Emil 22 Ovid 42 Pfitzner, Hans 20 Pius XII. 123 Platen, August von 49, 71 Pringsheim, Katia fi siehe Mann, Katia Rolland, Romain 110

Personenregister Roosevelt, Franklin Delano 23, 33f., 39, 41, 117, 123 Rosenberg, Alfred 39 Rousseau, Jean-Jacques 60 Schiller, Friedrich von 25, 27, 30ff., 52, 74f., 105, 113, 123 Schönberg, Arnold 98f., 101, 103, 106 Schopenhauer, Arthur 36f., 41, 43, 46, 59, 63, 66ff., 76, 81, 90, 93, 110, 112f. Schubert, Franz 87 Sokrates 75f., 78 Sombart, Werner 63 Sontheimer, Kurt 109, 113 Spengler, Oswald 39 Stalin, Josef 117

Storm, Theodor 53 Strauss, Richard 20 Strawinsky, Igor 99 Tillich, Paul 107 Timpe, Williram 15f. Tolstoi, Lew/Leo 18, 110, 122 Tschechow, Anton 123 Verdi, Giuseppe 87 Wagner, Richard 16f., 19f., 29, 36, 46, 48, 69, 71, 73, 87f., 91, 104, 110ff., 122 Weber, Max 30, 63, 74 Werfel, Franz 22, 121 Wieland, Christoph Martin 112 Wolf, Hugo 99

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