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German Pages 320 Year 2015
Andreas Sombroek Eine Poetik des Dazwischen
Andreas Sombroek (Dr. phil.) studierte Germanistik, Filmwissenschaft und Kunstgeschichte in Köln. 1998-zooo war er Mitarbeiter der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Derzeit ist er im Bereich Medienund Öffentlichkeitsarbeit tätig.
ÄNDREAS SO MBROEK
Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge
[transcript]
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© zoos transcript Verlag, Bielefeld zugl., Köln, Univ., Diss., 2004
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INHALT
1. Einleitung 9
2. Konzepte des Dazwischen in Literatur- und Medientheorie: Zur lntertextualitäts- und lntermedialitätsdebatte 23 2.1 Prolegomena zum Begriff des Dazwischen 23 2.2 Das Medium als Dazwischen
28 2.3 Zwischen den Texten und zwischen den Medien: Konzepte von Intertextualität und Intermedialität 42
2.4 Intermedialität als »Differenz-Form des Dazwischen«: Figuration und Transkriptivität als Leitbegriffe intermedialer Forschung
62 2.5 Zur Intermedialität von Film und Literatur 71
3. Eine Poetik des Dazwischen: Alexander Kluges Theorie des Films, des Erzählens und der Medien 81 3.1 Kluges theoretisches CEuvre: Einführende Bemerkungen zur >Utopie Film< 81 3.2 Theorie als Werkzeug: Der Theoriebegriff in Geschichte und Eigensinn
87 3.3 »Die Medien stehen auf dem Kopf«: Der Medienbegriffbei Kluge 93
3.4 Der Raum zwischen den Bildern: Der Begriff des Dazwischen als filmtheoretischer Schlüsselbegriff
103 3.5 Rohstoffe und Intertextualität
112 3.6 Das Medium des Erzählens: Überlegungen zum intermedialen Wechselverhältnis von Film und Literatur
127 3.7 Zusammenfassung: Kluges Plädoyer für intermediale Ausdrucksformen
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4. Zwischen Film und Buch: Intermediale und intertextuelle Verfahren in Kluges filmischliterarischem Gesamtprojekt Die Potriotin
145 4.1 Einführung: Die Patriotin als filmisch-literatisches Gesamtprojekt
145 4.2 >Cinema impurRaubgrabungen< und >FreibeutereiDer Film in Worten und FotosFilm lesen wie einen TextText lesen wie einen Filme Zur Problematik von filmischer Literatur und literarischem Film
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5. Zusammenfassung und Ausblick
265 Anhang
269 Siglenverzeichnis
269 Literatur 270 Filme und Fernsehmagazine
295 Einstellungsprotokoll Die Patriotin 297
1.
EINLEITUNG
In der Originalausgabe ihres voluminösen geschichtsphilosophischen Gemeinschaftswerks Geschichte und Eigensinn ziehen Oskar Negt und Alexander Kluge nach fast 1300 Seiten Theorie, Geschichten, Zitaten und Bildern eine abschließende Bilanz (Negt/Kluge 1981: 1283): Dies Buch hat uns erschöpft. Es ist ein Fragment. ln Einschätzung des Gegenstands, von dem wir handeln, wollen wir auch nichts anderes. Man muß die Lücken mitlesen.
Den hier formulierten Gedanken, dass die Lücken zwischen den einzelnen Textkonzentraten bzw. die Lücken zwischen Text und Bild, die in Kluges literarischen, filmischen und theoretischen Arbeiten immer >mitgelesen< werden wollen, ebenso entscheidend am Prozess der SinnGeneriemng beteiligt sind wie die aneinander gefügten Text- und Bildpartikel selbst, hat Helmut Heißenbüttel in seiner richtungsweisenden Beschreibung der »Methode des Schriftstellers Alexander Kluge« aufgegriffen und zum wesentlichen Schlüssel für das Verständnis von Kluges Texten und Filmen erklärt (Heißenbüttel 1985: 7): Das Dazwischenliegende, das Ausgesparte, das Unformulierte und Nichtformulierbare ist es eigentlich, das zusammenhält. Nicht dadurch, daß es so etwas wie ein außertextliches mystisches Unsagbares bildet, sondern dadurch, daß es die Bruchkanten des Textes gegeneinander hält und dadurch, daß es die Aktivität des Lesers und Sehers provoziert, daß der aktive Leser ausdrücklich gefordert wird.
An Heißenbüttels Beobachtung, die ebenso überzeugend wie problematisch ist, da sie einerseits den Kern von Kluges poetologischem Programm präzise erfasst, aber andererseits jede konkrete Text- bzw. Filmanalyse durch die diffuse, sich einer abschließenden Bedeutungszuweisung verweigernde Kategorie des Dazwischen vor methodische Schwierigkeiten stellt, lassen sich weitere Anschlussüberlegungen lmüpfen.
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
In seinem medienübergreifenden Film-Buch-Projekt Die Patriotin verleiht Kluge dem Dazwischen mit dem die Welt und die Geschichte durcheilenden Knie des in Stalingrad gefallenen Obergefreiten Wieland eine (allerdings körperlose) Gestalt. Das Knie ist im Film nicht sieht-, aber hörbar. Es erläutert aus dem Off seine Geschiehtsauffassung und markiert, indem es in seinen langen Monologen den Standpunkt der Toten der Geschichte vertritt, neben der Geschichtslehrerin Gabi Teichert die zweite Hauptperspektive des Films. Das aus einem MorgensternGedicht1 übernommene Knie charakterisiert sich in der letzten Sequenz des Films selbst als eine paradoxe (Denk-)Figur des Dazwischen, die ihre Existenz allein ihrer Nichtexistenz verdankt: Man darf sich nicht daran halten, was ich so rede. Schließlich rede ich als Knie ja gar nicht, weil mir das Sprachorgan fehlt. Ich bin nicht die Kniescheibe und bin nicht die Kniekehle; ich bin nicht der Unterschenkel und ich bin nicht der Oberschenkel, die sind umgekommen, sondern das Dazwischen. Versuchen Sie einmal einen Gegner zu finden, der das Dazwischen zielsicher trifft. (PA 171 )2
Man stößt, wenn man sich ausführlich mit Kluges Gesamtwerk auseinander setzt, immer wieder auf dieses ominöse Dazwischen: mal explizit in Form eines gesellschafts-, medien- oder filmtheoretischen Begriffs, mal implizit in Form der eigenwilligen, den Bruch und die Lücke betonenden Schnitt- bzw. Montagetechnik, die zu einem charakteristischen >Markenzeichen< der Filme, Texte und Fernsehmagazine Kluges geworden ist. Darüber hinaus wird die Kategorie des Dazwischen bei Kluge jedoch vor allem im Gestus der permanenten Grenzüberschreitung greifbar. Der Schriftsteller, Theoretiker, Autorenfilmer und seit Mitte der 80er Jahre auch Fernsehmacher tritt von Anfang an als Grenzgänger zwischen den Texten, Gattungen und Medien auf. Er schafft Räume für »mäandernde Bewegungen und Koalitionen zwischen Medien und Genres« (Schulte 1999: 8). Entscheidend ist, dass es ihm hierbei nicht nur um ein schlichtes multimediales Nebeneinander der verschiedenen Schaffensbereiche, sondern vielmehr um intermediale Reibungen, Brüche, Transformationen und Interaktionen geht. 3 Der Komplexität der Wirklichkeit ver1 2 3
Das Knie in Morgenstern (1990: 68).
Die am häufigsten erwähnten Werke Kluges werden über Siglen zitiert. Das entsprechende Siglenverzeichnis befindet sich im Anhang der Arbeit. Vgl. die Unterscheidung zwischen Multi- und lntermedialität in Müller (1996: 83): »Ein mediales Produkt wird dann inter-medial, wenn es das multimediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen." (Im Original kursiv, Anm. AS)
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EINLEITUNG
sucht Kluge mit ebenso komplexen intertextuellen und intermedialen Erzählstrategien zu begegnen. Er ist sowohl im Rahmen seiner intermedialen Praxis (Literatur, Film, Fernsehen) als auch in seiner Rolle als Filmbzw. Medientheoretiker auf der ständigen Suche nach neuen medialen Ausdrucksformen, die darauf ausgerichtet sind, habitualisierte Wahrnehmungsschemata zu durchbrechen. Kluges Suchbewegungen im Raum zwischen den Medien sind ganz im Sinne McLuhans zu verstehen, der in seinem medientheoretischen Klassiker Understanding Media der »Kreuzung oder Hybridisierung von Medien« (McLuhan 1995: 84) ein weit reichendes Erkenntnispotential bescheinigt hat: »Der Bastard oder die Verbindungzweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht.« (McLuhan 1995: 95) Die medienübergreifenden Erzählverfahren Kluges sind m.E. ein gutes Beispiel für eine solche, an der Grenze zwischen den verschiedenen medialen Systemen ansetzende Generierung bzw. Erschließung neuer Formenwelten. Kluge greift unabhängig davon, in welchem Medium er gerade tätig ist, immer wieder zitierend und kommentierend auf fremdes oder bereits früher vetwendetes Text- und Bildmaterial zurück. Er vernetzt eigene Arbeiten auf vielfaltige Weise untereinander, transponiert Stoffe und Geschichten aus dem einen ins andere Medium, reflektiert mit filmischen Mitteln die medialen Voraussetzungen der Literatur und mittels literarischer Verfahren die medialen Bedingungen des Films und schafft so intermediale Gattungen wie die auf seinen eigenen Filmen aufbauenden »Text-Bilder-Bücher« (Heißenbüttel 1985: 6) oder die seit 2000 erscheinenden »Fernseh-Nachschriften« - und dies alles, ohne dass hierbei die Mediendifferenz verwischt wird. Im Gegenteil: An den Brüchen und Lücken, die Kluge in seinen Texten und Filmen bewusst betont, wird der Unterschied der Medien besonders deutlich ablesbar. Im Übergang der einen Form zur anderen, an der Stelle der Unterbrechung und Auflösung von Formen kann der Prozess medialer Selbstreflexion ansetzen. Diese medialen und textuellen Differenzmarkierungen in Kluges Texten und Filmen haben den Ausschlag gegeben, seinen Ansatz als eine >Poetik des Dazwischen< 4 zu bezeichnen. Mit dem Begriff der Poetik soll hierbei gleichzeitig unterstrichen werden, dass bei Kluge Erzähltheorie und narrative Praxis in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen. Von Anfang an haben zahlreiche Selbstbeschreibungen seine Karriere als Schriftsteller und Filmemacher begleitet. Er hat in seinen programmatischen Aufsätzen zur >Utopie FilmUtopie des Erzählens< wiederholt skizziert und kommentiert. Poetik 4
Menninghaus (1990: 258) spricht von einer »Poetik der Differenz und der Lücken".
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
meint bei Kluge jedoch kein normatives Regelsystem. Es geht bei ihm vielmehr um ein Aufzeigen von Möglichkeiten, um immer wieder neu zu erprobende Versuchsanordnungen des Erzählens. Die grundlegende Zielsetzung der vorliegenden Arbeit besteht darin, sowohl Kluges >Nachdenken über< als auch sein >Erproben von< intertextuellen und intermedialen Ausdrucksformen zu beschreiben. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hierbei die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Film und Literatur. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, war es notwendig, andere mediale Interdependenzen, wie bspw. das für Kluge ebenso wichtige Verhältnis zwischen Film und Musik, weitgehend auszublenden. Und auch der Mitte der 80er Jahre vollzogene Medienwechsel zum Fernsehen, der mit einer Umstellung auf eine elektronische Bildästhetik einherging und völlig neue Rahmenbedingungen für die Produktion und Rezeption mit sich gebracht hat, erfordert trotz der vielfältigen Parallelen zwischen Kluges Konzept des >Autorenfilms< und des >AutorenfernsehensInter< hierbei auch methodisch ernst genommen wird. Meine Arbeit stellt in der Kluge-Forschung, die bereits frühzeitig eine »Literarisierung des Films« und eine »Filmisierung der Literatur« (Lewandowski 1983: 233; vgl. Harrsen 1984) in Kluges Texten und Filmen erkannt hat, insofern einen Neuansatz dar, als sie konsequent auf das theoretische Begriffsinstrumentarium gegenwärtiger intermedialer und intertextneUer Forschung zurückgreift. Das bringt, da man diesen Ansatz ja sowohl aus der Perspektive der Theorie als auch aus der Perspektive der Analyse betrachten kann, eine doppelte Zielsetzung mit sich. Einerseits geht es darum, die aktuellen Leitbegriffe medienwissenschaftlichen Forschens anhand einer detaillierten Text- und Filmanalyse des medienübergreifenden Film-Buch-Projektes Die Patriotin zu erproben, und andererseits sollen, ausgehend von diesen theoretischen Grundlagen, die intermedialen und intertextuellen Erzählstrategien Kluges einer präziseren Beschreibung zugeführt werden. Angestrebt wird somit der Idealfall, dass durch die Untersuchungsergebnisse sowohl die Kluge- als auch die Intermediali-
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EINLEITUNG
täts-Forschung um einige neue Aspekte und überraschende Bezüge bereichert werden. Die Arbeit gliedert sich dabei in drei Hauptteile: einen einführenden Theorieteil, eine Untersuchung der medientheoretischen Entwürfe Kluges und eine Analyse der Patriotin. Der erste Teilabschnitt führt ganz allgemein in die basalen medien- bzw. texttheoretischen Begriffe und Konzepte ein und versteht sich zugleich als Forschungsbericht, der einen knappen Überblick über den gegenwärtigen Stand intermedialer und intertextueller Theoriebildung gewähren soll. Dass Fragen nach den Wechselverhältnissen zwischen den Medien und Texten in der aktuellen Diskussion eine so entscheidende Rolle spielen, hängt unmittelbar mit einer zunehmend auf intermediale und intertextuelle Strategien setzenden Medienpraxis zusammen. Roloff (1997: 3) hat in einem Aufsatz zur »Theorie und Praxis der Intermedialität bei Godard« völlig zu Recht festgestellt, dass es in den gegenwärtigen theoretischen und praktischen Mediendiskursen vorrangig um Passagen zwischen den Medien [geht], um die Definition jener Brüche, Zwischenräume und Wechselbeziehungen zwischen den Medien, die dazu führen, daß sich in unserer Zeit der audiovisuellen Bilder- und Zeitmaschinen die historischen Formen und Gattungen z.B. des Theaters, Films und Fernsehens verändern, daß sich neue intermediale Dispositive entwickeln .
Auf welche Weise die Forschung ihre Theorie- und Analyseinstrumente den »unzählige[ n] inter-mediale[ n] Hybriden, die mit ihren medialen Dynamiken und Transformationen überkommene und fixierte Text- und Zeichenbedeutungen fortwährenden Metamorphosen in Anderes aussetzen« (Müller 1996: 15), anpasst, hängt dann maßgeblich davon ab, welcher Stellenwert dem >Inter< in den jeweiligen Theorie- und Analysemodellen im Zeichen von Intertextualität und Intermedialität letztlich eingeräumt wird. Als ebenso grundlegend erweist sich die Frage, welcher Text- und welcher Medienbegriff in den verschiedenen Ansätzen vorausgesetzt wird. Dementsprechend beginnt der allgemeine Theorieteil der Arbeit, ausgehend von einigen problemorientierten Vorüberlegungen zum Begriff des Dazwischen, zunächst auch mit einer ausführlichen Diskussion des Medienbegriffs selbst, um im Anschluss die Überschneidungen und Differenzen zwischen dem Konzept der Intertextualität und dem verwandten Modell der Intermedialität zu erörtern. Im Kern geht es mir darum, aufzuzeigen, dass man es sich zu einfach macht, wenn man den Text- bzw. den Intertextualitätsbegriff allein auf den Bereich schriftsprachlicher Texte beschränkt und sämtliche übrigen Phänomene der Zuständigkeit des Medien- bzw. Intermedialitätsbegriffs überlässt. Es gilt
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
vielmehr, sich dem diffizilen Problem der >Medialität von Texten< und der >Textualität von Medien< ausdrücklich zu stellen (vgl. Fliethmann 2004). Eine - gerade für die spätere Film- und Textanalyse methodisch bedeutsame - Grundthese des Theorieteils besteht darin, dass Intertextualität und Intermedialität nicht als distinkte, sondern als korrelative Modelle begriffen werden müssen. In der Theoriediskussion zur Intermedialität treffen - ähnlich wie in der Intertextualitätsdebatte - deskriptive Arbeiten, die den Intermedialitätsbegriff als Hyperonym für sämtliche inhaltlichen und formalen Relationen zwischen Medien verwenden, auf theoretisch zugespitzte Ansätze, die Intermedialität als eine spezifische »Differenz-Form des Dazwischen« (Paech 1998d: 16) verstehen. Mit dem Figurations- und dem Transkriptivitätsbegriff stehen der intermedialen Forschung hierbei zwei theoretische Leitkategorien zur Verfügung, die das Problem des Dazwischen auf jeweils unterschiedliche Weise fokussieren und handhaben. Beide Begriffe erweisen sich als anschlussfähig für die im Rahmen meiner Arbeit beabsichtigte Analyse der intertextuellen und intermedialen Verfahren Alexander Kluges. Einige generelle Überlegungen zur Intermedialität von Film und Literatur schließen den Theorieteil ab. Der mittlere Teil der Arbeit, der eine Analyse der film-, medien-, und erzähltheoretischen Texte Kluges unter dem Aspekt einer Theorie des Dazwischen anstrebt, bildet gewissermaßen das Gelenk zwischen dem allgemeinen Theorie- und dem AnalyseteiL Da Kluges theoretische Reflexionen zum Film und zur Literatur in einem engen Konnex zu seinen literarischen Texten und seinen Filmarbeiten stehen, ist eine strenge Abtrennung von Theorie und Praxis bei ihm unmöglich - ganz im Sinne des in Anlehnung an die Kant'sche Philosophie von Kluge häufig erwähnten Satzes: »Begriff ohne Anschauung ist leer. Anschauung ohne Begriff ist blind.« (Eder/Kluge 1995: 7) Das gilt besonders für seinen filmischen Ansatz: Nicht nur in seinen theoretischen Texten, sondern auch in seinen Essayfilmen arbeitet Kluge pem1anent an seiner >Utopie Film< weiter. Meine Untersuchung stützt sich in erster Linie auf die filmtheoretischen Texte der 60er, 70er und 80er Jahre (vgl. den ausführlichen Überblick in Kapitel 3.1 ), schließt aber darüber hinaus auch jüngere Äußerungen (vor allem aus Interviews) mit ein, in denen sich die Perspektive spürbar von einer Theorie des Films zu einer transmedialen Theorie des Erzählens verlagert - einer medienübergreifenden Perspektive, die bereits in den ersten Texten zur >Utopie Film< angelegt war. Von Anfang an nimmt Kluge Film immer in Relation zu anderen Medien (vor allem zur Literatur) wahr. Er erkennt darüber hinaus bereits frühzeitig, dass Film als Ereignis nicht nur im Kino stattfindet. Die Medienkonkurrenz zwischen Kino, Video und Fernsehen spielt in seinen Texten eine entschei-
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EINLEITUNG
dende Rolle. Mit dem sich in den SOer Jahren abzeichnenden Wechsel vom Film zum Fernsehen ist dann auch in den Theorietexten die Erweiterung einer Einzelmedientheorie des Films zu einer allgemeinen Medientheorie endgültig vollzogen. Ich lese - und hier zeigt sich der Bezug zum allgemeinen Theorieteil der Arbeit- die film- bzw. medientheoretischen Arbeiten Kluges als einen frühen Beitrag zu einer Theorie der Intermedialität resp. Intertextualität. Auch wenn Kluge selbst nicht die entsprechenden theoretischen Begrifflichkeiten verwendet, 5 lassen sich in seinen Texten >zwischen den Zeilen< zahlreiche Ansätze intertextueller und intermedialer Theoriebildung nachweisen. Während sich über die von Kluge verwendeten Begriffe des Kommentars und des Dialogs eine unmittelbare Beziehung zur Intertextualitätstheorie herstellen lässt, konzentriert sich die Beobachtung intermedialer Fragestellungen vor allem auf das von Kluge wiederholt erörterte Verhältnis von Film und Literatur. Zunächst jedoch folgt die Arbeit quer durch Kluges Theoriearbeiten sowohl dem Medienbegriff als auch dem Begriff des Dazwischen und schlägt auf diese Weise einen Bogen von den gesellschaftstheoretischen zu den medientheoretischen Entwürfen, über deren Untrennbarkeit in der Forschung weitgehende Einigkeit besteht. Medien sind, das lässt sich an allen Äußerungen Kluges ablesen, nicht zuletzt Instrumente zur Wirklichkeitsverarbeitung. Es drängt sich ein Satz von Luhmann auf: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« (Luhmann 1996b: 9) Sämtliche gesellschaftstheoretischen Arbeiten Kluges implizieren - ganz in diesem Sinne - das Problem von Medialität. Und umgekehrt werden die filmund medientheoretischen Äußerungen immer wieder auf allgemeine gesellschaftstheoretische Fragestellungen rückbezogen. Kluge knüpft besonders in seinen Gemeinschaftsarbeiten mit Oskar Negt an die Denkansätze der Kritischen Theorie an. 6 Da sowohl zu den geschichtsphilosophischen Positionen Kluges als auch zur Verbindung zwischen Film- und Gesellschaftstheorie bereits umfassende Forschungsergebnisse vorliegen/ habe ich mich in erster Linie auf film-, medien-und erzähltheoreti5
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Ich habe als einzigen Beleg für eine direkte Verwendung des lntertextualitätsbegriffs eine marginale Anmerkung in einem Interview gefunden (Liebman/Kluge 1988: 59). Oskar Negt wird zur zweiten Generation der Kritischen Theorie gerechnet (vgl. Reijen 1984: 175-183; Habermas 1986: 11-12; Wiggershausen 2001: 729730). - Kluge selbst weist immer wieder auf den starken Einfluss, den die Kritische Theorie auf seine Arbeit hat, hin (UD 34, 47-48 u. 116). Siehe hierzu auch die Würdigung Adornos in Koch/Kluge (1989: 110): »Alle anderen Schriften einschließlich der Noten, die er in seinem Kopf hat die ganze Zeit, sind eigentlich die Schule, der ich vertraue. " Stefanie Carp widmet sich in ihrer Studie ausführlich »Kluges theoretische[m) Traum« und arbeitet hierbei vor allem die Bezüge zu Horkheimer und Adorno,
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sehe Fragestellungen im engeren Sinne konzentriert. Den Wechselbeziehungen zwischen Gesellschafts- und Medientheorie trägt ein Unterkapitel Rechnung, das sich einleitend dem von Negt und Kluge in Geschichte und Eigensinn erörterten Theoriebegriffwidmet Auf einzelne filmtheoretische Arbeiten Kluges konzentrieren sich in der Forschungsliteratur nur wenige kurze Aufsätze. 8 Andere, ebenfalls in Aufsatzform vorliegende Analysen beschäftigen sich in erster Linie ganz allgemein mit der Realismus- bzw. Dokumentarismus-Problematik (Wenzel2000a; Barg 1995). Die bislang ausführlichste Untersuchung zur »Theorie und Praxis filmischen Erzählens« bei Kluge hat Werner Barg mit seiner Dissertation Erzählkino und Autorenfilm vorgelegt. »Im Anschluß an die semiologischen Überlegungen von Barthes und Metz« (Barg 1996: 29) setzt er hierbei allerdings vor allem auf den Codebegriff Der Medien- und der Textbegriff spielen in seiner Arbeit- im Gegensatz zu meinem Ansatz- keine Rolle. Es ist erstaunlich, dass weder zum Medienbegriff noch zum Begriff des Dazwischen bei Kluge ausführliche Darstellungen vorliegen. Eine konsequente Verknüpfung zwischen den Begrifflichkeiten der Intermedialitäts- bzw. Intertextualitätsforschung und Kluges medientheoretischen Reflexionen hat bislang nicht stattgefunden. Eine richtungsweisende Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang der Aufsatz Rohstoffe und Intermedialität von Mattbias Uecker. Uecker fordert im Hinblick auf Kluges Fernsehmagazine, dass dem intermedialen Aspekt von Kluges Arbeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss (vgl. Uecker 2002: 86). Die durch die Aufsatzform geforderte Kürze lässt hier jedoch kaum Raum für eine systematische Darstellung. Den dritten und längsten Teil der Arbeit nimmt schließlich die ausführliche Analyse des intermedialen Film-Buch-Projektes Die Parriotin ein. Um ein Abgleiten ins Allgemeine zu verhindern und Textnähe zu si-
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zu Bloch und zu Benjamin heraus (Carp 1987: v.a. 13-42). Und auch Corinna Mieth betrachtet in ihrer Arbeit Kluges Ästhetik primär unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von »Kunst und Gesellschaftsutopie" (Mieth 2003: 229-353; hier: 231 ). Gnam (1989) knüpft an die Arbeiten von Miriam Hansen an, die die wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Adorno und Kluge fo· kussieren (Hansen 1981/82, 1984). Hans-Peter Burmeister räumt in seiner Studie zur "Kunst als Protest und Widerstand" (Burmeister 1985) den philosophischen Entwürfen Kluges ebenfalls einen breiten Raum ein. Zum Zusam· menhang zwischen Kritischer Theorie und Kluges Filmtheorie liegt eine umfassende Dissertation von Paul Pavsek vor (Pavsek 1994). Stellvertretend für eine Vielzahl an Aufsätzen zu Kluges Theoriearbeit seien darüber hinaus ge· nannt: Stallmann (1985); Burger (1982); Jäger (2000). Ein Sammelband zur »gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge" ist im Erscheinen, konnte jedoch für die vorliegende Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden (Schulte/ Stollmann 2005). Zu den Ulmer Dramaturgien: Farocki (1981); Fischer (1985); zur Bestandsaufnahme: Utopie Film: Seiler (1993).
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EINLEITUNG
ehern, schien es mir geraten, die Film- und Textanalyse auf eine medienübergreifende Arbeit zu konzentrieren. Dass die Wahl hierbei auf Die Patriotin gefallen ist, liegt an der exponierten Stellung, die dieser Film und dieses Buch im Gesamtwerk Kluges einnehmen. Das gilt sowohl inhaltlich als auch formal. In keinem seiner übrigen Filme bzw. Texte ist Kluge seinem Schlüsselthema, der deutschen Geschichte, näher gekommen, und in keinem anderen (Lang-)Filmprojekt hat er seine >Poetik des Dazwischen< auf konsequentere Weise umgesetzt. So heißt es in einer Rezension von Peter Buchka, die für das Programmheft des Film übernommen wurde (Buchka 1979: 34): ln diesem Film, so meine ich, kommt Kluges Ästhetik zu sich selber; er ist die Erfüllung seiner filmischen Theorie. Hier nämlich springt seine enorme Abstraktionsfähigkeit als Phantasieschub auf den Zuschauer über. Hatte früher Kluges kritischer Blick auf die Wirklichkeit jede Ordnung im Nu zerstört und in ihre divergierenden Einzelteile aufgelöst, bis die Widersprüche von selber aufeinanderprallten, so ist hier die Wirklichkeit in so winzige, aber prägnante Momentaufnahmen zerhackt, daß die Zwischenräume die Auffüllung durch die Phantasie fordern.
Eine ähnlich herausragende Position weist auch Gerhard Bechtold der Patriotin zu, der (in diesem Fall) das Buch »geradezu als programmatischen Entwurf für die spezifische Arbeitsweise Kluges« (Bechtold 1983b: 107) sieht. Die auffällige Weise, in der Fonn und Inhalt in Die Patriotin kongruieren, 9 macht Film und Buch zum idealen Untersuchungsgegenstand für eine Analyse des Dazwischen bei Kluge. Der auf die Rekonstruktion intertextueller und intermedialer Verfahrensweisen gerichtete Analyseteil nimmt zunächst den Film und anschließend das Filmbuch in den Blick. Während in vielen Forschungsarbeiten zur Patriotin die Grenze zwischen Text- und Filmanalyse verwischt, weil der Textliste lediglich der Status eines Hilfsmittels für die Filmanalyse zugewiesen wird, 10 legt die vorliegende Arbeit Wert darauf, dass Filmanalyse, Textanalyse und die Beschreibung der Transkriptionsprozesse zwischen Film und Text unterscheidbar bleiben. Nach einigen theoretisch-methodischen Vorbemerkungen setzt die Untersuchung mit einer allgemeinen Charakterisierung der auf Diskontinuität und Fragrnentierung beruhenden Filmsprache Kluges ein. Spezifische Form/ulierungen des Dazwischen lassen sich dann - zunächst an9
Vgl. Labanyi (1982: 517): »Thus, perhaps more radically and vividly than in any previous work of Kluge's, the form is the theme of Die Patriotin." 10 Das gilt bspw. für Stefanie Carps Studie, die sich als Filmanalyse versteht, aber letztlich auf der Textliste basiert (vgl. Carp 1987: 43-77). Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 4.1.1.
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
hand des Films - auf ganz verschiedenen Ebenen beobachten. Im Rahmen der Filmanalyse geht es mir • um die Art und Weise, in der Kluge seinen Film Die Patriotin intertextneU mit anderen eigenen Arbeiten (z.B. Schlachtbeschreibung, Der Luftangriff auf Halberstadt, Die Macht der Gefiihle) zu einer werkübergreifenden Großmontage verknüpft, • um die Frage, wie er fremde Rede und fremde Bilder in seinen Film integriert, d.h. , wie sich die verschiedenen Formen filmischen Zitierens und Kommentierens in ihrer intertextneBen und intermedialen Dimension angemessen beschreiben lassen, • um die Deskription selbstreflexiver filmischer Techniken (Unschärfen, Schwarzbilder, Abblenden, Zeitraffung, >freeze frameBuch zum Film< spielt, • zu zeigen, wie die Textliste zum Film als literarischer Text funktioniert, und • die Interdependenz zwischen Film und Textliste unter der Perspektive intermedialen Transkribierens zu beobachten. Die Analyse schließt mit einer Diskussion der im Hinblick auf Kluges Verfahrensweise immer wieder herangezogenen Formel von der >Filmisierung der Literatur< und der >Literarisierung des FilmsFilmanalysenInter< prägen die gesamte Diskussion um den Intertextualitätsbegriff: Es scheint die in den Prolegomena angesprochene Dualität von Sehnsucht und Abwehr durch, die charakteristisch für die Haltung gegenüber dem Dazwischen ist: Dem Wunsch, über eine Fokussierung der Zwischenräume zwischen den Texten eingefahrene, dem Identitätsdenken verhaftete Denkstrukturen aufzubrechen und zu >dekonstruierenUniversalen Intertext< denkt. Dass es durchaus möglich ist, den Intertextualitätsbegriff in seiner deskriptiv-analytischen Dimension zu erfassen und gleichzeitig seine texttheoretischen lmplikationen nicht aus dem Blick zu verlieren, macht dabei vor allem der Ansatz von Renate Lachmann deutlich. Lachmann geht ausdrücklich von der Polyvalenz des lntertextualitätsbegriffs aus und betont neben der terminologischen Unübersichtlichkeit (vgl. Lachmann 1984: 133; Broich 2000: 176) die Mehrdimensionalität des Konzepts, indem sie auf drei verschiedene Ebenen der Konzeptualisierung von Intertextualität verweist. Sie unterscheidet zwischen einer texttheoretischen, einer deskriptiven und einer Iiteratur- bzw. kulturkritischen Perspektive. So ist lntertextualität auf der ersten Ebene eine Kategorie, »die eine generelle Dimension von Texten, ihre Implikativität, benennt«; auf der zweiten Ebene markiert der Begriff eine »Beschreibungskategorie für Texte, deren Struktur durch die Interferenz von Texten oder Textelementen organisiert ist«; auf der dritten Ebene wird er schließlich als ein Terminus verstanden, der »bestehende Konzepte zur Literatur (Einmaligkeit, Abgeschlossenheit, strukturale Totalität, Systemhaftigkeit) in Frage stellt« (Lachmann 1984: 133). Der Vorteil ihres Ansatzes besteht darin, dass Lachmann nicht auf einem strikten Entweder-oder behatTt, sondern ganz im Gegenteil den »gemeinsame[n] Ursprung einer Fragestellung« hervorhebt und auf die »Komplementarität und Interferenz der Perspektiven« (Lachmann 1996: 797) setzt. Auch wenn sich die drei Argumentationsstränge jeweils auf einem anderen Abstraktionsniveau bewegen, schließt das nicht aus, dass sie sich hierbei 30 Pfister (1985: 25). Siehe zur Kritik an diesem und vergleichbaren Vermittlungsmodellen Rajewsky (2002: 50-52).
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KONZEPTE VON INTERTEXTUALITÄT UND INTERMEDIALITÄT
zumeist überlagern und partiell auch wechselseitig bedingen. Die theoretische Diskussion wird bei Lachmann immer wieder an Textanalysen gekoppelt; der Blick wird konsequent auf die »Wechselbeziehung zwischen literarischer Praxis und Poetologie« ( Lachmann 1990: 51) gerichtet. Und da gleichzeitig die Intertextualität der Intertextualitätstheorie, d.h. die intertextuelle Qualität der eigenen Theorieproduktion, mitreflektiert wird, ergibt sich ein »Synkretismus des Diskurses, der darauf zielt, die in Frage stehende Sinnkonstitution intertextueller Werke durch die Zusammenschaltung verschiedener Ansätze zu beleuchten« (Lachmann 1990: 51; vgl. Lachmann 1996: 798). Die Intertextualitätsforschung steht, geht man von einer deskriptiven Perspektive aus, primär vor der Aufgabe, differenzierte Analyseinstrumente zu entwickeln, die es ermöglichen, verschiedene Formen des TextText-Bezugs jeweils im Hinblick auf die verwendeten Verfahren der Bezugnahme, auf ihre Wirkung und Funktion zu unterscheiden. Dabei ist es zunächst notwendig, »die intendierte Intertextualität, die die Textoberfläche organisiert, von einer latenten zu unterscheiden, die die Oberfläche des Intratextes nicht stört und dennoch die Sinnkonstitution bestimmt« (Lachmann 1996: 804). Das Konzept >lntertextualität< darf nicht als Reformulierung traditioneller Quellen- und Einflussforschung missverstanden werden. Texte unter dem Gesichtspunkt ihrer Intertextualität zu betrachten, bedeutet, den Blick auf das »Problem der Sinnkomplexion« (Lachmann 1990: 57) zu richten, das sich aus den Wechselbeziehungen der Texte ergibt. Von besonderem Interesse sind hierbei Autoren, die in ihren Arbeiten ganz bewusst auf die Spannung setzen, die aus der Berührung von eigener und fremder Rede bzw. aus der Konfrontation verschiedener Schreibweisen entsteht. Lachmann nennt als Beispiele für explizit intertextuell arbeitende Autoren u.a. Rabelais, Sterne, Belyi, Arno Schmidt - Kluge ließe sich dieser Liste ohne weiteres hinzufügen. Der intertextuellen Analyse geht es dann vor allem »um die Bestimmung der in den Text eingespielten semantischen und ästhetischen Differenz, wie sie durch die >Usurpation< fremder Texte, Textkonventionen und Gattungsschemata erzeugt wird«(Lachmann 1990: 68). Um verschiedene intertextuelle Strategien nach dem Modus der Bezugnahme unterscheiden zu können, geht Lachmann von einer triadischen Konstellation aus: Die Modelle »der Partizipation, der Tropik, und der Transformation« dienen dazu, Intertextualität als ein »Weiter- und Wiederschreiben, Widerschreiben und Umschreiben« (Lachmann 1990: 38) beschreibbar zu machen. Alternative Klassifikationen oder weiterfuhrende Subtypen zur Differenzierung verschiedener Formen von Intertextualität sind denkbar (vgl. Genette 1993: 9-21; Stocker 1998: 49-72).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Alexander Kluges Montage-Filme und Montage-Texte sind immer Schauplatz verschiedener inter-, meta- und hypertextueller Praktiken. Sie sind exemplarisch für einen Literaturtypus, der das »Machen von Literatur« primär als ein »Machen aus Literatur« (Lachmann 1990: 67) versteht. Seine Arbeiten schöpfen aus dem reichhaltigen Fundus der Literatur-, Kunst- und Filmgeschichte und knüpfen sowohl an philosophische wie an politische Diskurse an. Theorie und Erzählung vermischen sich hierbei manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit. Kluge setzt in seinen komplexen Text-Bild-Montagen vor allem auf die Reibung, die aus der Berührung oftmals sehr heterogener vorgefundener >Rohstoffe< entsteht. Mit den Bildern, die seit seinem Erzählungsband Lernprozesse mit tödlichem Ausgang zum festen Bestandteil seiner Bücher werden, und dem Medium >film< wird aber zugleich der Bereich der Intertextualität, gedacht als Wechselbeziehung schriftsprachlicher Texte, überschritten. Mit einem multimedial engagierten Autor wie Kluge öffnet sich der >Zwischenraum der Texte< zwangsläufig zu einem >Zwischenraum der Medienältere< Theoriekonzept gekennzeichnet - auch in den Fällen, in denen die Frage nach geeigneten Anschlussmöglichkeiten letztlich durch explizite Abgrenzungsstrategien beantwortet wird. Die Interessenverschiebung von der (Inter-)Textualität zur (Inter-)Medialität führt selbst (oder gerade) dort, wo diese emphatisch betont wird, nicht zu der angestrebten Verabschiedung des Textbegriffs. Dieser nistet sich unterschwellig immer wieder in den Diskurs ein und setzt seiner Ablösung auch nach der Propagierung eines »intermedial turn«31 hartnäckigen Widerstand entgegen. Mit der Intertextualität und der lntermedialität stehen zwei Korrelationsmodelle zur Debatte, die hinsichtlich ihrer Überschneidungen und Differenzen untersucht werden können (und müssen). Die vergleichende Perspektive provoziert dabei 31 Rajewsky (2002: 3) übernimmt die Formulierung textuell verfahrend - von Werner Wolf.
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somit ihrerseits inter-
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einen ganzen Katalog an Fragen: Stößt das Konzept der Intertextualität an seine Grenze, sobald der Bereich schriftsprachlicher Texte verlassen wird? Oder können auch Bezüge von Film aufFilm bzw. Mediengrenzen überschreitende Korrelationstypen durch den Intertextualitätsbegriff erfasst werden? Bedeutet Intermedialität schlicht eine Erweiterung der Forschungsperspektive >lntertextualität< oder markiert der Begriff ein völlig neues Konzept? Mit anderen Worten: Bestehen zwischen Intertextualität und Intermedialität graduelle oder strukturelle Unterschiede? Um es noch einmal deutlich zu wiederholen: Entscheidend für die Beantwortung dieser Fragen ist die definitorische Reichweite des zugrunde liegenden Textbegriffs. Um diesen kommt man folglich auch in »Zeiten der Intermedialität« (Mahler 2001: 269) nicht herum. Er ist, man möge die schillemde Formulierung verzeihen, gewissermaßen das methodisch-terminologische Damoklesschwert, das über jeder Untersuchung zur Intermedialität respektive Intertextualität hängt. 32 Eine Diskussion über Konvergenzen und Divergenzen zwischen intertextuellen und intermedialen Verfahren, über mögliche Formen »intermedialer lntertextualität« (Hoesterey 1988: 191) darf dabei nicht der Gefahr erliegen, sich als rein forschungsstrategisch orientierte Terminologiedebatte von ihrem Gegenstand zu lösen. 33 Anschlussfähiger als vorschnelle, die spätere Argumentation vorab determinierende Definitionen erscheinen mir immer problemorientierte Zugangsweisen. Was schon für den Medienbegriff galt, kann in diesem Kontext wiederholt werden: Begriffliche Präzision darf nicht durch mangelnde Reflexion erkauft werden. Als Einstieg bietet sich ein Rückblick auf die >Klassiker der Intertextualität< an: Jürgen E. Müller, der mit seinem Intermedialitätsmodell explizit Anschluss an die Intertextualitätsdebatte sucht, studiert die Texte von Bachtin und Kristeva im Hinblick auf die Frage, inwieweit die Interaktion zwischen Äußerungen in unterschiedlichen Medien im Konzept 32 Vgl. Fliethmann (2004: 119): " zukünftig entscheidend bei allen Arbeiten zur lntermedialität wird die Auseinandersetzung mit dem Textbegriff sein, auch dort, wo sie nicht stattfindet.'' 33 Ein Beispiel für ein solches ,terminologisches Ringen< um den lntermedialitätsbegriff sei erwähnt. Horst Zander fragt aus der Perspektive intertextueller Theoriebildung nach Formen des Medienwechsels und verzichtet dabei explizit auf den lntermedialitätsbegriff, "um mit ,lntertextualität< Analogien sowie Differenzen zwischen Erscheinungsformen des Medienwechsels und den Phänomenen einer innerliterarischen lntertextualität schärfer hervorzuheben" (Zander 1985: 178). Thomas Eicher hingegen hält den Begriff für notwendig, "wo Beziehungen zwischen Zeichenkomplexen Mediengrenzen überschreiten,,; es gelte, so die direkte Replik auf Zander, »am Konzept der lntermedialität festzuhalten, um die Besonderheiten des Medienwechsels terminologisch schärfer fassen zu können« (Eicher 1994: 18 u. 19). Der lntermedialitätsbegriff wird hier letztlich mit dem gleichen Argument einmal ausgeblendet und einmal eingeführt.
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der Intertextualität schon angelegt ist, - und wird fündig (vgl. Müller 1996: 94-98). Bereits Bachtin betont, dass seine Theorie dialogischer Beziehungen auch auf außersprachliche Phänomene erweitert werden könne, vermerkt aber gleichzeitig, dass diese Dimension der Dialogizität seinen selbst gesetzten Untersuchungsrahmen überschreite (Bachtin 1990: 106): [Ich möchte bemerken], daß eine erweiterte Auffassung dialogischer Beziehungen möglich ist: zwischen bedeutungshaften Phänomenen jeder Art, sofern diese mittels irgendeines Zeichenmaterials ausgedrückt werden. Dialogische Beziehungen kann es zum Beispiel zwischen Kunstgestalten geben. Solche Beziehungen liegen allerdings bereits jenseits der Grenzen der Metalinguistik.
Bei Julia Kristeva hingegen, die das Konzept >Text< völlig vom Kriterium der Buchstaben-Schriftlichkeit löst, ist Intertextualität von vornherein nicht an schriftsprachliche Äußerungen gebunden. Der Textbegriff wird »im Sinn einer allgemeinen Kultursemiotik so radikal generalisiert, daß letztendlich alles, oder doch zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur, Text sein soll.« 34 In Die Revolution der poetischen Sprache wird, diesem, die Gesamtheit der Kultur umfassenden Textbegriff entsprechend, Intertextualität ganz allgemein als »Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in ein anderes«35 definiert. Diese weit gefasste Konzeption impliziert, dass der Intertextualitätsbegriff auch für Audiovisionen Gültigkeit besitzt. Die Öffnung des Intertextualitätskonzepts für medienübergreifende Fragestellungen ist somit nicht nur möglich, sondern wird geradezu herausgefordert. Dass der Ansatz dennoch nicht auf direktem Weg zu einer Theorie der Intermedialität führt, hängt damit zusammen, dass der Medienbegriff bei Kristeva und in vergleichbaren kultursemiotischen Ansätzen keine Rolle spielt. Die Frage nach den medialen Bedingungen von Texten wird, auch dann, wenn das Intertextualitätskonzept für nicht-schriftsprachliche Texte geöffnet wird, gar nicht erst gestellt. Im Gegenteil: Die für das Konzept der Intermedialität ausschlaggebende Mediendifferenz wird durch die Vorstellung eines 34 Pfister (1985: 7). Vgl. zum Begriff der »Kultur als Text" auch Bachmann-Me· dick (1996: 7-64). Siehe allgemein zum Textbegriff Knobloch (1990: 66-87); Horstmann (2002: 594-597). 35 Kristeva (1978: 69). Der Ansatz kulminiert schließlich in dem Vorschlag, den Begriff der lntertextualität gänzlich durch den Begriff der Transposition zu ersetzen. - Vgl. die Vorstellung eines •universalen lntertextes< bei Barthes (1996: 53-54), der ebenfalls nicht an das Kriterium der Schriftsprachlichkeit gebunden wird: .. und eben das ist der Inter-Text: die Unmöglichkeit, außer· halb des unendlichen Textes zu leben - ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehschirm ist[ ... ]."
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allumfassenden >Textuniversums< gerade ausgeblendet. Intertextualität, bspw. zwischen literarischen und filmischen Texten, findet auf der Ebene textueller Verschiebungen und Umcodierungen statt, nicht auf der Ebene ihrer medialen Konstitution. Paech hat nachdrücklich auf diese »ftmdamentale Medienvergessenheit« des Textbegriffs hingewiesen (Paech 1998e: 12): Weder das literarische noch das filmische Medium sind in der textuellen Transformationsanalyse erreichbar, wenn die Schrift als materiale Spur des literarischen und das Licht-Bild von Bewegung bzw. der Ton als spezifische Form des filmischen Mediums zugrundegelegt werden. 36
Er skizziert im Hinblick auf das Verhältnis von Literatur und Medien verschiedene Stadien der Theoriebildung und geht dabei von einem zweifachen Paradigmenwechsel aus: vom Werk zum Text und vom Text zum Medium. Intertextualität markiert somit aus der Perspektive der Intermedialitätstheorie gewissermaßen ein Zwischenstadium der Theoriebildung. Der Intertextualitätstheorie wird ihre Relevanz nicht aberkannt; der Textbegriff, »dessen systematische Leistung nach wie vor in Anspruch genommen werden muß« (Paech 1998e: 13), findet innerhalb des Konzeptes >lntermedialität< allerdings selbst keinen Platz mehr. Paech insistiert auf der Differenz zwischen einer (inter-)textuellen und einer (inter-) medialen Perspektive. Der konzeptgeschichtliche Übergang von der Intertextualität zur lntermedialität wird jedoch nicht als Substituierungsprozess formuliert. >»Film als Medium< setzt die Intertextualität des Films voraus und erweitert sie auf ihre intermedialen Konstituenten.« (Paech 2002b: 10) Stärker noch betont Spielmann die Notwendigkeit, intertextuelle und intermediale Verfahren in ihrem Wechselverhältnis zu betrachten. Sie behält bei der Übertragung des Intertextualitätsmodells auf einen erweiterten medialen Bezugsrahmen explizit den Textbegriff bei. Anknüpfend an Kristeva einerseits und die Textlinguistik andererseits geht sie davon aus, dass der Textbegriff »nicht an bestimmte Formen der Literalität und Oralität, an Textsorten oder Textgattungen gebunden, sondern mit dem Merkmal der Textualität versehen« (Spielmann 1998: 108) ist. 37 Die von ihr vorgeschlagene Begriffsdisposition macht es möglich, auch Bezüge zwischen einzelnen Filmen, Phänomene wie das Filmzitat, das Remake oder die Parodie, die Herausbildung von Filmgen36 Vgl. zur Medienvergessenheit der lntertextualitätstheorie auch Paech (1998d: 15) und Fliethmann (2004: 113). 37 Die Textlinguistik operiert mit einem ganzen Katalog möglicher Kriterien zur Bestimmung von Textualität (vgl. Vater 2001: 28-54). Für Vater (2001: 54) ist Kohärenz hierbei »das dominierende Textualitäts-Kriterium" . Vgl. zur Übertragung auf die Medienwissenschaft Hickethier (2003: 101-104).
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resund Stilrichtungen sowie Formen filmischer Referenz auf andere mediale Kontexte wie Malerei, Literatur, Theater mit dem in der Intertextualitätstheorie erarbeiteten Begriffsinstrumentarium zu erfassen. Geht man davon aus, dass sich auch die vielfältigen monomedialen und medienübergreifenden Kontaktbeziehungen im Bereich des Films als intertextuelle Strategien beschreiben lassen, kann der Intermedialitätsbegriff für Verfahren reserviert werden, die auf der medialen Ebene ansetzen und bewusst die Differenz der Medien in den Vordergrund stellen. Komplexe semantische Prozesse, die sich durch Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Filmen oder Filmgattungen ergeben, werden genau wie filmische Bezugnahmen auf Motive der Literatur- oder Kunstgeschichte »als eine Arbeit der Assimilation, Transposition und Transformation fremder Zeichen« (Lachmann 1990: 57) beschreibbar, ohne dass automatisch der Theoriekontext der Intermedialität bemüht werden muss. Als Anschlussmodell ftir die Filmanalyse hat die Filmwissenschaft vor allem Genettes Transtextualitätstypologie, die zwischen >Inter-Para-Meta-Archi-< und >Hypertextualität< unterscheidet, aufgegriffen und hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf den Gegenstand >Film< untersucht. 38 Im Hinblick auf die Frage nach der Extension des Intertextualitätskonzepts ist der Diskussionsstand durch ein deutliches Ungleichgewicht gekennzeichnet: Während von literaturwissenschaftlicher Seite, gerade in Ansätzen, die eine bewusste Erweiterung des Gegenstandes auf intermediale Fragestellungen vornehmen, vehement ftir eine Eingrenzung des Textbegriffs auf schriftsprachliche Texte plädiert wird (vgl. Rajewsky 2002: 59- 60; Wolf 2002: 164- 168), gehört das Konzept >(Inter-) Textualität< auf Seiten der Film- und Medienwissenschaft längst zu den etablierten Basisbegriffen, die Eingang in die Grundlagen- und Einführungsbücher gefunden haben. 39 Seide Positionen sind hierbei nicht un-
38 Vgl. Keitz (1994); Stam (2000: 207-211 ). Von Seiten der Medienwissenschaft ist - mit Blick auf Kinotrailer, Filmplakate, Programmhefte, Vor- und Nachspann im Film, Zwischenmoderationen im Fernsehen etc. - vor allem der Begriff des Paratextes rezipiert worden, »Weil er viele Phänomene der Präsentation von Filmen im Kino, von Sendungen in den Radio- und Fernsehprogrammen und von Textzusammenhängen im Internet erschließen hilft« (Hickethier 2003: 103). Siehe hierzu auch Kreimeier/Stanitzek (2004). Als Grundlagentexte dienen Genette (1993) und ders. (1992) . Genette selbst steht einer Übertragung seines Modells auf andere mediale Kontexte eher skeptisch gegenüber. Er verweist innerhalb seines Ansatzes zwar auch auf •hyperästhetische Praktiken•, unterscheidet diese aber deutlich vom Konzept der ·Hypertextualität· (Genette 1993: 513-514). Er spricht Analogien im Bereich des Films (215-217), der Malerei (514-516) und der Musik (517-523) an, glaubt aber nicht, dass es richtig ist, diese Verfahren »a priori in die Kategorien zu zwängen, die der literarischen Hypertextualität eigen sind« (523). 39 Vgl. Hickethier (2003: 101-121); Ammann/Moser!Vaissiere (1999); Mikos (2003: 261-270); Stam 2000: 201-212); lampolski (1998).
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problematisch. Durch eine rigide Einschränkung des Textbegriffs auf Schriftsprache und die damit einhergehende strikte Dichotomie von Intertextualität und Intermedialität erreicht man zwar terminologische Präzision, verbaut sich aber gleichzeitig die Möglichkeit, an instruktive Diskurse in der Film- und Medienwissenschaft anzuknüpfen, die auf eine Erweiterung des Textbegriffs setzen. Darüber hinaus verhindert die strikte Trennung von Texten auf der einen und Medien auf der anderen Seite schon per definitionem, dass die entscheidende Frage nach der >Medialität von Texten< und der >Textualität von Medien< (Fliethmann 2004) ins Blickfeld rücken kann. Die Selbstverständlichkeit hingegen, mit der der Textbegriff auf medienwissenschaftlicher Seite (zumeist unkritisch) auf andere mediale Kontexte übertragen wird, blendet das kulturkritisch-subversive Potential, das - z.B. bei Kristeva - der Motor für die ursprüngliche Entgrenzung des Textbegriffs war, weitgehend aus und bekommt gleichzeitig durch Begriffsschöpfungen wie »Medientext« 40 das problematische Verhältnis von Text und Medium auch nicht richtig in den Griff. Für den Textbegriff in der Filmwissenschaft gilt es darüber hinaus zu bedenken, dass er durch eine umfassende, die Theoriediskussion der 60er, 70er und 80er Jahre bestimmende Auseinandersetzung um die textuelle Analyse von Filmen vorbelastet ist. 41 Vor dem Hintergrund der Theoriegeschichte des Textbegriffs (auch oder gerade im Rahmen der Filmtheorie) kann die Entscheidung, intramediale Bezüge zwischen Fil-
40 Müller (1996: 82) führt den Begriff als ··Neologismus·• ein. Er betont, dass ·Medientext• ausschließlich .. in metaphorischer Weise .. zu verwenden sei. Ei· nen Anschluss an die •Texttheorie des Films• sucht Müller über diesen Begriff explizit nicht. Das Kompositum hat sich mittlerweile in medienwissenschaftlichen Ansätzen unterschiedlichster Provenienz etabliert (vgl. Ammann/ Moser /Vaissiere 1999). 41 Da eine Aufarbeitung der gesamten Diskussion um die •Texttheorie des Films• eine eigenständige Untersuchung erfordern würde, müssen hier einige wenige Hinweise genügen. Die Vorstellung von der Sprachähnlichkeit des Films hat die filmtheoretischen Diskurse von Beginn an mitgeprägt (vgl. ausführlich Möller-Naß 1986). Die entscheidenden Impulse für eine ·Texttheorie des Films• gingen dann von der Filmsemiotik der 60er und 70er Jahre aus, die jedoch ihrerseits nicht durch eine einheitliche Position gekennzeichnet war. Nachhaltig bestimmt wurde die Diskussion vor allem durch die Arbeiten von Christian Metz, die Klassikerstatus im Hinblick auf eine •Texttheorie des Films• beanspruchen dürfen (siehe für einen Überblick zur Filmsemiotik Nöth 2000: 500-507; Kessler 2002; vgl. für eine generelle Kritik an der •Texttheorie des Films• Köster 1994: 66-82). Dass filmsemiotische Positionen nach wie vor rezipiert werden, auch wenn sie die gegenwärtige Filmtheorie nicht mehr dominieren, kann man bspw. an James Monacos Film verstehen ablesen, der mittlerweile wiederholt als Neuausgabe (2000) vorliegt und immer noch als filmwissenschaftlicher Einführungstext gelesen wird. Dass eine Übertragung des lntertextualitätskonzepts auf den Bereich des Films jedoch nicht zwingend an einen filmsemiotischen Ansatz gebunden ist, macht die neoformalistische Rezeption des Transtextualitätsbegriffs deutlich (vgl. Thompson 1995: 37-38).
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men sowie Austauschprozesse zwischen Filmen und anderen medialen Produkten (Romanen, Dramen, Gemälden etc.) unter dem Gesichtspunkt ihrer Intertextualität zu untersuchen, nicht unverbindlich und unreflektiert getroffen werden. Im Anschluss an diese knappen Anmerkungen, die das Problemfeld des prekären Verhältnisses von (Inter-)Textualität und (Inter-)Medialität grob skizzieren, können nun für den weiteren Argumentationsgang der Arbeit folgende Prämissen festgelegt werden: Auf einer deskriptiven Argumentationsebene gehe ich zunächst einmal davon aus, dass der Intertextualitätsbegriff generell auch für die Analyse von Filmen in Anspruch genommen werden kann. Es wird so eine Vergleichsbasis geschaffen, die es ermöglicht, Kluges Filme genau wie seine Prosa- und Theoriebücher im Hinblick auf inter- bzw. transtextuelle Verfahrensweisen zu untersuchen. Diese Annahme impliziert eine grundsätzliche Akzeptanz eines erweiterten Textbegriffs, der an medienunspezifische Kriterien der Textualität gebunden wird, führt aber, solange die Filmanalyse primär auf deskriptive Ergebnisse gerichtet ist, noch nicht zwingend zu texttheoretischen Problemstellungen. Damit knüpfe ich einerseits an die oben aufgeführten filmwissenschaftliehen Positionen an, die den Intertextualitätsbegriff als Analysekategorie aus der Literaturwissenschaft entlehnen und für die Filmanalyse produktiv machen, andererseits beziehe ich mich auf Spielmann, die die »lnterrelationen von Intertextualität und Intermedialität«42 als Basisannahme fest in ihrem Theoriedesign verankert hat. Gleichzeitig muss jedoch ausdrücklich betont werden, dass Intermedialität nicht einfach als Erweiterung von Intertextualität aufzufassen ist, sondern dass der Perspektivenwechsel vom >Film als Text< zum >Film als Medium< durch einen deutlichen theoretischen Schnitt markiert ist. Für die Analyse gilt es dann konsequent zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: Einerseits setzt sie, um intertextuelle Verfahren an der Schnittstelle zwischen Film und Literatur herauszuarbeiten, auf der Ebene der Textualität medial konstituierter Formen an, andererseits zielt sie, wenn es um die Frage der Intermedialität geht, auf die Ebene medialer Formkonstitution selbst. Theoretische Probleme und Fragestellungen, die das Verhältnis von Textualität und Medialität betreffen, treten dabei unumgänglich an die Oberfläche, sobald der Film als Text bzw. Sprache in seinem Verhältnis zum schriftsprachlichen Text ins Blickfeld gerät, d.h., sobald der >Film42 Spielmann (1998: 65). Diese Grundvoraussetzung ihres Ansatzes wird mehrfach betont: »lntertextualität und lntermedialität werden nicht als Ablösungs- oder Akkumulationsmodelle vorgestellt, sondern korrelativ diskutiert. Sie können in verschiedenen medialen Kontexten gleichzeitig und vermischt auftreten, wodurch Dynamiken der Verschiebung und Kontrapunkte entstehen.'' (Spielmann 1998: 23)
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Text< mit dem >Text< im Sinn von Buchstaben-Schrift konfrontiert wird. Das gilt für das Verhältnis von Schrift/Sprache und Bild innerhalb eines Films und betrifft darüber hinaus den gesamten Bereich schriftsprachlicher Texte, »die im Hinblick auf den Film/das Kino/bestimmte Filme produziert wurden« (Albersmeier 1995: 241), sowie übergreifende Fragen nach der >Literarisierung des Films< und der >Filrnisierung der LiteraturFilmtextes< kann, sofern man von einem erweiterten Textbegriff ausgeht, immer nur als doppelt codiert erfasst werden: Einerseits verweist er auf den Film selbst (mit all seinen Codes und Subcodes), andererseits dient er zur Kennzeichnung von Drehbüchern, Textlisten, Filmprotokollen etc., d.h. als Oberbegriff für Schrifttext-Gattungen, die darauf basieren, (einen) Film entweder als >Vor-< oder als >Nach-Schrift< (Paech 1994e: 24) schriftsprachlich verfügbar zu machen. Typographisch lässt sich diese Differenz durchaus zum Ausdruck bringen, indem man bspw. zwischen dem Film-Text (Film als Text) einerseits und Filmtexten (Texten für, zu, nach und über Filme(n)) andererseits w1terscheidet; eine umfassende theoretische Lösung stellen solche Notationsvarianten jedoch noch nicht dar. Mit Blick auf Text-Bild-Konstellationen und die generelle Frage nach der >Lesbarkeit< von Bildern hat Brigitte Weingart ausführlich auf die Probleme, die mit einer Erweiterung des Textbegriffs einhergehen, hingewiesen. Ihre zentrale Fragestellung lautet (Weingart 2001: 138): Aber wie kann die Lektüre vermeiden, den Unterschied zwischen Text und Bild einzuebnen, den diese Arbeiten immer schon voraussetzen [ ... ]?Wie also Bilder, Bilder in Texten, Bilder als Texte adressieren, wenn gleichzeitig deren jeweils spezifischer Weise, mich als >leser/-in' zu adressieren, Rechnung getragen werden soll?
Die methodische Gratwanderung besteht darin, Modelle zu entwickeln, die die Mediendifferenz hinreichend berücksichtigen, aber gleichzeitig nicht auf eine strikte Text-Medien-Dichotomie zurückfallen. Eine geeignete Ausgangsbasis dafür bietet ein Transkriptionsmodell der Intermedialität. Gerade unter dem Gesichtspunkt der >Lesbarkeit< von und in Medien muss man davon ausgehen, dass »Medialität nicht als Grenze
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oder das prinzipiell andere des Textbegriffs unterstellt wird« (Stanitzek 2002: 7). Die Kategorie der Transkription erlaubt es, »jene Praktiken in den Blick zu nehmen, welche die >Lesbarkeit< von medialen Produkten jeglicher Provenienz allererst statuieren und sichern« (Stanitzek 2002: 8; vgl. ausführlich Kap. 2.4); sie schafft so eine geeignete Basis, um mit jeder Analyse »das, historisch durchaus wandelbare, Text- und Lesbarkeits-Paradigma« (Binczek/Pethes 2001: 287) immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Betrachtet man das Verhältnis von Film und Literatur als einen komplexen Schauplatz diverser Transkriptionsprozesse, kann gerade die sich aus einer konkreten Analyse ergebende Spannung zwischen dem >Film-Text< und dem korrespondierenden >Filmtext< zum Indikator für die Grenze der >Lesbarkeit< von Filmen werden. Eine Erweiterung des Intertextualitätsbegriffs auf den Bereich des Films schafft nicht nur Raum, um das diffizile Verhältnis von Text und Medium zu verhandeln; aus der Perspektive einer Intermedialitätstheorie bringt eine solche medienübergreifende Konzeption von Intertextualität, wie oben bereits angedeutet, einen weiteren konkreten Vorteil mit sich: Indem der Bezugsrahmen der Intertextualität über schriftsprachliche Texte hinaus erweitert wird, kann gleichzeitig der Begriff der lntermedialität deutlicher eingegrenzt und somit schärfer gefasst werden. Und das erscheint mir angesichts der Vielzahl disparater Forschungsansätze und -interessen, die allesamt auf den Interrnedialitätsbegriff setzen, mehr als wünschenswert.
2.3.3 Die Vielschichtigkeit des lntermedialitätsbegriffs »lntermedialität ist >inReinheit, der Medien als Fiktion entlarven.
Die Suche nach Beispielen für künstlerische Verfahrensweisen, die auf medialen Grenzüberschreitungen beruhen, präsentiert sich als scheinbar unerschöpfliches Feld. Allein die Gruppe der Austauschphänomene zwischen literarischen Texten, Film, Fernsehen, Musik und Theater, die in der Forschungsliteratur zumeist unter dem Begriff des Medienwechsels zusammengefasst werden, weist unzählige Varianten und Möglichkeiten auf: Theaterstücke basieren auf Romanen, eine Dramenvorlage wird zu einem Ballett oder einer Oper verarbeitet, Literaturverfilmungen haben sich als filmisches Genre, Bücher zu Filmen und Fernsehsendungen als eigenständige Gattung auf dem Buchmarkt etabliert. Ein einzelner Stoff kann auf diese Weise ganze Ketten multipler Medienwechsel durchlaufen. Andere Forschungsfelder lassen sich durch eine vergleichbare Gegenstandsvielfalt charakterisieren: Der Phänomenbereich der Text-BildKombinationen führt von mittelalterlichen Buchillustrationen, von frühen Formen der Emblematik im 16. und 17. Jahrhundert über Text-BildCollagen der Avantgardekunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheinbar mühelos zu gegenwärtigen Montageverfahren in Zeitschriften, Werbeanzeigen, Fotoromanen oder Comics. Aktions- und Medienkünstler wie Dan Graham oder Nam June Paik setzen in ihren Live Performances oder Installationen Film- und Videotechnik ein, Rockkonzerte, Musicals, Theater- und Opernaufführungen werden zu publikumswirksamen multimedialen Spektakeln. Die Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksformen, die auf die Überwindung medialer Grenzen zielen, täuscht dabei leicht über den Umstand hinweg, dass es sich beispielsweise beim Film selbst bereits um eine Hybridform handelt, die Sprache, Bilder und Musik auf spezifische Weise miteinander in Beziehung treten lässt. 43 Die etwas willkürliche, rein summarische Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen und verweist an dieser Stelle lediglich auf die Breite des Phänomenspektrums, das durch den Intermedialitätsbegriff umschrieben werden kann. Irina Rajewsky spricht mit Blick auf die vielfältigen Bedeutungsschichten des von heterogenen Theorieansätzen besetzten Intermedialitätsbegriffs und in Anlehnung an eine Wortschöpfung Umberto Ecos von einem »termine ombrellone« (Rajewsky 2002: 6). Aufbruchstimrnung und Skepsis stehen sich in der Diskussion um den Begriff der Intermedialität nicht nur dichotomisch gegenüber, sie bilden 43 Rajewsky (2002: 203) spricht in diesem Zusammenhang von einer »pluri· mediale[n] Grundstruktur" des Films.
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vielmehr zwei verschiedene Seiten derselben Medaille. Ein dermaßen weit gefasstes theoretisches Konzept bietet vielfache theoretische Anschlussmöglichkeiten, läuft aber immer auch Gefahr, ubiquitär zu werden und somit zu einem modischen Schlagwort zu verkommen, das jegliche Differenzqualität einbüßt (vgl. Schröter 1998: 149). Hinsichtlich der Vielfalt der Untersuchungsgegenstände, die durch den Terminus abgedeckt werden, stellt sich letztlich die Frage, ob das Intermedialitätskonzept überhaupt einheitlich theoretisierbar ist oder ob >lntermedialität< lediglich als Sammelbegriff dient, unter den verschiedene interdisziplinäre Forschungsinteressen subsumiert werden können. Thomas Eicher führt den Intermedialitätsbegriff in der Einleitung seines Sammelbandes über das Verhältnis von Literatur und bildender Kunst in einer sehr allgemeinen und theoretisch unverbindlichen Form ein, indem er den Problem- bzw. Gegenstandsbereich, der durch das Konzept der Intermedialität erfasst werden soll, umschreibt (Eicher 1994: 11 ): Der Begriff lntermedfalität deutet auf mediale Brückenschläge, das Zusammenspiel verschiedener Medien. Zu denken wäre hier vor allem an Verbindungen zwischen Musik, Tanz, bildender Kunst, Sprache. ln aller Vorläufigkeit ließe sich generalisierend von kulturell kodierten Kommunikationssystemen sprechen, die sich beeinflussen, nachahmen, berühren oder gar zu einer Einheit verbinden können.
Dass konventionell als distinkt wahrgenommene Medien bzw. Symbolsysteme sich in der kulturellen und künstlerischen Praxis durch Grenzüberschreitungen und Wechselbeziehungen auszeichnen, ist dabei zunächst völlig unstrittig. Die Vielfaltigkeit der Beziehungsmöglichkeiten wird durch die Unterscheidung von >BeeinflussungNachahmungBerührung< und >Verbindung< angedeutet. Im weiteren Verlauf der Argumentation konzentriert sich Eicher dann gemäß der im Untertitel des Sammelbandes (>Vom Bild zum Textwechselseitige Erhellung der Künste< (vgl. Paech 1998d: 18; Zima 1995b) näher als medientheoretischen Debatten. Intermedialität dient trotz differenzierter Typologisierungs- und Parametrisierungsvorschläge in Eichers Einführungskapitel - letztlich nur als Oberbegriff für ein komparatistisches Forschungsfeld, das um die vielseitigen Beziehungen zwischen Text- und Bildmedien kreist. In einer Untersuchung zur lateinamerikanischen Literatur von Hermann Herlinghaus erhält der Intermedialitätsbegriff schon per definitionem den Status eines reinen Suchbegriffs. Er »soll helfen, die Interaktion von literarischer und massenkulturell dimensionierter Erfahrung im Hinblick auf spezifische Diskurszusammenhänge zu thematisieren.« (Herlinghaus 1994: 14-15) Theoretisch-systematische Fragestellungen werden dabei weitgehend zugunsten einer primär kulturhistorisch interessierten Konzeption ausgeblendet. lntermedialität wird bei Herlinghaus - genau wie in Albersmeiers Studie über Theater, Film und Literatur in Frankreich - zu einem theoretisch nicht weiter präzisierten Leitbegriff 44 Vgl. zur Distinktion von Realisierung und Thematisierung Eicher (1994: 25) und Hansen-Löve (1983: 305).
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für »materiale Kulturanalysen der Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Theater, Fotografie und Film« (Paech 1998d: 16). 45 Den primären Untersuchungsgegenstand einer komparatistisch ausgerichteten Mediensemiotik bildet der MedienwechseL Der Intermedialitätsbegriff ist bei Hess-Lüttich »in historisch-genetischer und systematisch-komparatistischer Perspektive« ausgerichtet auf den »Vergleich von Kunstwerken [... ],die in zwei oder mehr medialen Versionen vorliegen« (Hess-Lüttich 1990: 10 u. 15; vgl. ders. 1987: 11-14). Intermedialität erhält in diesem Verwendungszusammenhang den Status einer Vergleichskategorie, die dazu dient, formale und inhaltliche Verschiebungen bei der Übertragung eines Stoffes aus einem Medium in ein anderes zu analysieren. Die vergleichende Mediensemiotik bleibt, auch wenn sie über einen Medienbegriff verfügt, letztlich dem Modell des »TextTransfers« (Hess-Lüttich 1987: 10) verhaftet. 46 Jens Schröter unterscheidet - ohne Anspruch auf Vollständigkeitvier Verwendungsmöglichkeiten des Intermedialitätsbegriffs, d.h. »vier verschiedene Typen, die auf unterschiedlichen theoretischen Modellen beruhen« (Schröter 1998: 129). Im Gegensatz zu anderen Typologisierungsvorschlägen operiert Schröter hierbei konsequent auf einer Metaebene und geht nicht von klar abgrenzbaren Gegenstandsbereichen (wie z.B. Medienwechsel, Medienkombination etc.), sondern von den theoretischen Modellbildungen selbst aus. Entscheidend ist, dass es ihm hierbei nicht um eine einheitliche Theoretisierbarkeit des Forschungsfeldes geht. Keine der vier koexistenten Vetwendungsweisen, die jeweils von unterschiedlichen Forschungsinteressen ausgehen und auf verschiedenen methodischen Prämissen basieren, wird klar präferiert. Unterschiede, aber auch Interferenzen zwischen den vier Typen von Intermedialität werden verdeutlicht, ohne dass der Entwurf eines konsensfähigen Hypermodells angestrebt wird. Begrüßenswert ist darüber hinaus, dass Schröter seine Typologie durchgängig problemorientiert konzipiert, indem er auch die sich aus den verschiedenen Fragestellungen und Positionen ergebenden Widersprüchlichkeiten und Paradoxien herausarbeitet. Bedauerlich ist hingegen, dass ein konzeptgeschichtlicher Vergleich zwischen Intermedialität und Intertextualität ganz bewusst ausgeklammert wird (Schröter 1998: 129). Ein vergleichender Rückgriff auf die theoriegeschichtlich ältere Intertextualitätsdebatte würde im Hinblick auf die Mehrdimensionalität der beiden Konzepte erhellende Parallelen offenbaren. Betrachtet 45 Vgl. die Kritik an Albersmeiers Buch in Mertens (2000: 89): »Dieser Begriff der , lntermedialität• wird unspezifisch als Beschreibungsmuster für historische Gegebenheiten verwendet, wie der Text insgesamt eher geschichtlich darstellt als theoretisch systematisiert. " 46 Vgl. die kritischen Anmerkungen in Paech (1998d: 15-16); Spielmann (1998:
35).
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KONZEPTE VON INTERTEXTUALITÄT UND INTERMEDIALITÄT
man die vier von Schröter angeführten Theoriekontexte eingehender, wird sehr schnell deutlich, dass Intermedialität, ähnlich wie Intertextualität, auf ganz verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichem Abstraktionsniveau diskutiert wird. Hinsichtlich der verschiedenen Perspektiven, die sich hinter der jeweiligen Begriftlichkeit verstecken, erweisen sich Schröters Typologisierungsmodell der Intermedialität und Lachmanns Ebenenmodell der Intertextualität als durchaus kommensurabel. Anhand von Schröters Aufsatz lässt sich exemplarisch zeigen, dass sich auch in der Diskussion zum Intermedialitätsbegriff eine Auffächerung in eine deskriptive, eine theoretische und eine (kultur-)kritische Perspektive abzeichnet, die durch eine medienhistorische ergänzt werden kann. Der am stärksten begrenzte Theoriekontext verbirgt sich hinter dem Begriff der >synthetischen IntermedialitätIntermedia< zielt in diesem Kontext auf innovative künstlerische Verfahrensweisen, die sich aus einer umfassenden Synthese etablierter künstlerischer Praktiken ergeben und sich so zwischen traditionellen Kunstgattungen und Medien positionieren. Entscheidend im Hinblick auf meine Fragestellung ist der kultur- bzw. kunstkritische Impuls, der im Begriff der Intermedia enthalten ist. Intermedia-Künstler und -Theoretiker lehnen sich gegen festgefahrene Grenzziehungen des Kunstbetriebs auf. Der Intermedia-Begriff steht immer für künstlerische Ausdrucksformen, die sich nicht monomedial vereinnahmen lassen wollen und in ihrer Funktion auf die» Durchbrechung habitualisierter Wahrnehmungsformen« (Schröter 1998: 131) ausgerichtet sind- ganz im Sinne von McLuhans >MedienbastardenUtopie Film< (vgl. hierzu ausführlich Kap. 3). Die zwei folgenden Typen, die >formale oder trans-mediale Intermedialität< und die >transformationale IntermedialitätOntologischen IntermedialitätInterenthaltene< Medium der Fotografie. Konstitutiv für die (Inter-)Medialität des Films ist »eine spezifische Form medialer Differenz, die >zwischen< der Form des fotografischen und der Form des filmischen Mediums >figuriertVerbuchungen< von Filmen) und den verschiedenen Formen medialer Kopräsenz (z.B. emblematische Text-Bild-Kombinationen) lassen sich auch punktuelle Zugriffe eines medialen Systems auf ein anderes Mediensystem (z.B. eine Gemäldebeschreibung in einem Roman) durch das Transkriptivitätskonzept erfassen. Und nicht zuletzt schärft der Begriff der Transkriptivität das Bewusstsein dafür, dass auch die eigenen wissenschaftlichen Verfahren der Kommentierung, Paraphrasierung oder Explikation vorliegender Text- oder Bildquellen (z.B. in der Literatur-, Filmoder Kunstwissenschaft) als spezifische Transkriptionsleistungen gesehen werden müssen (vgl. Kulturw. Forschungskolleg 2001: 31-32). Für den Bereich intermedialer Transkriptionen gilt darüber hinaus - und in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Konzept der Transkriptivität kaum von Paechs Ansatz -, dass die intermediale Qualität eines Transkriptionsprozesses vor allem in den Fällen spürbar wird, in denen die transkriptive Kopplung verschiedener Mediensysteme zu Brüchen und Lücken führt, d.h., das oszillierende Verfahren der Lesbarmachung durch Reibung und Sinnkomplexion gekennzeichnet ist. Mediale Differenzen werden immer dann besonders deutlich ablesbar, wenn Störungen und Defizite in Transkriptionsprozessen auftreten, die aber gerade im Bereich literarischer Transkriptionen als ästhetischer Zugewinn betrachtet werden können. 62 Dass das Figurations- und das Transkriptivitätskonzept hier gleichwertig nebeneinander gestellt werden, trägt der grundlegenden Feststellung Rechnung, dass es - wie auch Jens Schröter betont - nicht darum gehen kann, Intermedialität als »einen integralen Begriff« (Schröter 1998: 149) zu etablieren, der von sich aus gewissermaßen eine >Supertheorie< generiert, die in der Lage ist, sämtliche Phänomene, die das Wechselspiel der Medien betreffen, adäquat zu erfassen. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass über ein basales Konzept hinaus, das Intermedialität als >Differenz-Form des Dazwischen< im Verhältnis von Medium und Form begreift, weiterführende Konzeptualisierungen 62 Vgl. Stanitzek (2002: 17-18). Weingart (2002: 92) betont in dieser Hinsicht den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und literarischen Transkripten. Letztere unterliegen nicht in gleicher Weise dem Kriterium der Adäquatheit.
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FIGURATION UND TRANSKRIPTIVITÄT
notwendig sind, die versuchen, das alles entscheidende Problem des Dazwischen aus verschiedenen Perspektiven (unter Zuhilfenahme entsprechender Methoden) anzugehen. Unterschiedliche Beschreibungsmodelle müssen sich dabei nicht zwingend ausschließen. Während sich das Figurationskonzept vor allem anbietet für die Beschreibung filmischer Verfahren wie Überblendung, Abblende, Zeitraffung, >freeze frames< etc., in denen das mediale Differential des Films >figuriertMedium Literatur< ist vielschichtig: Es muss deutlich werden, ob hier nur eine »Benennung des ei63 Umfassende Bibliographien zum Thema finden sich in Mertens (2000: 157210); Paech (1997a: 205-218); Tschilschke (2000: 248-262).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
genen Gegenstandsbereichs in Abgrenzung von anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen«, die »Kennzeichnung des spezifischen Zeichensystems« oder die »Differenzierung von materiellen Trägem, an denen je spezifische Literatur ihre Rezipienten erreicht« (Hallenberger 2000: 551 ), gemeint ist. Und die Antwort auf die Frage, wie weit der Gegenstand >Literatur< überhaupt gefasst werden kann, welche materiellen Träger noch zum Zuständigkeitsbereich der Literatur gezählt werden können, fällt auch nicht einheitlich aus. Ein enger Literaturbegriff, der an Schriftsprache und Buchkultur gebunden wird, sieht sich einem Ansatz gegenüber, der Literatur a priori als intermediale Praxis denkt (Paech 1998e: 4): Der Literatur als institutionalisierter diskursiver Praxis gegenüber steht die •transformationelle Praxis des Literarischen', die nie anders als intermedial in Büchern, auf der Theaterbühne, im Feuilleton, als Fotoroman oder Film etc. stattgefunden hat. 64
Literatur wird nicht mehr nur gelesen, sondern zunehmend auch gesehen (Literaturverfilmungen) und gehört (Hörbücher). Film und Literatur erscheinen, gerade im Hinblick auf institutionelle Interaktionen an der Grenze von Schrift- und Bildkultur, nicht mehr als strikte Gegenpole. Und nicht nur die Literatur entpuppt sich bei näherer Betrachtung als intermediales Gebilde. Für den Film stellt sich die mediale Ausgangslage ähnlich komplex dar. Während sich im Rahmen der Entstehungs- und Etablierungsgeschichte des Films das Kino als Ort des Films erst herauskristallisieren musste, 65 beginnt sich der Film in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend wieder vom Kino als bevorzugtem Ort seiner Vorführung zu lösen. Film findet nicht mehr nur in der Dunkelheit eines Kinosaals, sondern vor allem auch in der eigenen Wohnung im Fernsehen, auf Video, aufDVD und zunehmend im Internet statt. Verlagert sich das filmwissenschaftliche Interesse vom >Film als Text< zum >Film als MediumNormalfall< als Projektion eines Bewegungsbildes im Kino realisiert wird, gemeint, der Literaturbegriff soll - ebenfalls ganz konventionell - den Bereich schriftsprachlicher Texte indizieren. Im Anschluss an Paech werden also »die Schrift als materiale Spur des literarischen und das Licht-Bild von Bewegung bzw. der Ton als spezifische Form des filmischen Mediums zugrundegelegt« (Paech 1998e: 12). Das Problem der >lntermedialität von Film und Literatur< zielt somit auf die Frage, wie sich die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Bewegungsbildern des Films und den Schrifttexten der Literatur intermedial verorten lassen. Intermediale Wechselbeziehungen zwischen Film und Literatur erscheinen auf den ersten Blick weder auf der Ebene der Formen ihrer Medien noch auf der Ebene der Medien ihrer Formen besonders nahe liegend. Paech hat darauf hingewiesen, dass wegen der Differenz ihrer medialen Formen die Intermedialität von Film und Literatur »im Unterschied etwa zu Fotografie und Film, deren Intermedialität zu einer Form ihres Mediums selbst geworden ist, auf den Zeitraum der Transformation begrenzt [ist]« (Paech 1997b: 335). 66 Während die Intermedialität von Film und Fotografie durch die gemeinsame materiale Abbildungsschicht Zelluloid und das beiden medialen Formen zugrunde liegende Prinzip der >Camera obscura< bereits medienevolutionär verbürgt ist, erweist sich die Beschreibung der Intermedialität von Film und Literatur als >Wiedereinschreibung eines Mediums als Form in eine andere Form< aufgrundder fehlenden Nähe ihrer medialen Formen als schwieriger. Da Paech jedoch gleichzeitig von einer »Vielfalt der praktischen Intermedialität von Film und Literatur« (Paech 2002c: 307) ausgeht, muss es für ihn auch mögliche Ansatzpunkte geben. Er macht zunächst zwei Angebote: Zum einen verweist er auf die Schrift, die als »eine wesentliche Form literarischer Medialität im Film direkt als Form ihres Mediums repräsentierbar ist« (Paech 2002c: 307), zum anderen macht er die Intermedialität von Film 66 Vgl. zur lntermedialität von Film und Fotografie Paech (1998d: 19-25).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
und Literatur am Medium des Erzählens fest, wenn er davon ausgeht, »daß die Struktur des literarischen und filmischen Erzählens dort, wo sie einem literarischen und einem filmischen Fakt gemeinsam ist, grundsätzlich als Figuration ihrer Intermedialität gelten kann« (Paech 2002c: 307). 67 Wenn die Intermedialität von Film und Literatur an die Differenz der jeweiligen Formen des Mediums filmischen und literarischen Erzählens gebunden wird, erweist sich die Erzählstruktur fur das Verhältnis von Film und Literatur als transmediales >tertium comparationis< (vgl. Schröter 1998: 137). An diesem Punkt der Argumentation deutet sich ein Bezug zu Paechs eher historisch als theoretisch orientierten Studien über die weitreichenden Wechselbeziehungen von Film und Literatur an, die im Gegensatz zu seinen Arbeiten, die strikt von einem differenztheoretischen Intermedialitätskonzept ausgehen, auf traditionelle literaturwissenschaftliche Begrifflichkeiten wie die >Filmisierung der LiteraturLiterarisierung des Films< und das kontrovers diskutierte Konzept der >filmischen Schreibweise< setzen (vgl. Paech 1997a). Ein möglicher Theorietransfer, der die differenztheoretischen Überlegungen zum Begriff der Intermedialität auf das Problemfeld der >filmischen Schreibweise< überträgt, wird von Paech jedoch leider nicht ausführlich diskutiert. Die theoretischen Bemerkungen zur Intermedialität von Film und Literatur bleiben gegenüber der intermedialen Verortung des Films im Verhältnis zu anderen Bildmedien wie der Fotografie oder der Malerei vage. Wenn die Intem1edialität von Film und Literatur an einem transmedialen Vergleich auf der Ebene der Nanation festgemacht wird, ergibt sich eine paradoxale Argumentation, wie sie für den Forschungsbereich, den Jens Schröter als >formale oder trans-mediale Intermedialität< (vgl. Kap. 2.3.3) bezeichnet, charakteristisch ist. Eine auf inter/transmediale Vergleiche gerichtete Analyse, bspw. in der Adaptionsforschung oder in Untersuchungen zur >Literarisierung des Films< oder der >Filmisierung der LiteraturTrans< und das >Inter< in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen. Einerseits ist es notwendig, »daß das Verfahren medien-unspezifisch genug ist, um in einem anderen medialen Kontext als selbiges, d.h. wieder-identifizierbares Prinzip auftreten zu können«, und auf der anderen Seite muss es »medienspezifisch genug sein, um in seinem neuen medialen Kontext noch auf das Medium, dem es >entliehen< wurde bzw. von dem es >herkommtfilmi-
67 An anderer Stelle wird dieser Gedanke noch deutlicher zugespitzt: »Man kann auch sagen, daß es keine lntermedialität zwischen Literatur und Film gibt, sondern nur zwischen Medien literarischen und filmischen Erzählens." (Paech
1997b: 335)
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ZUR INTERMEDIALITÄT VON FILM UND LITERATUR
sehen Schreibweise< geknüpft sind, hängen eng mit dieser prekären Verschränkung einer trans- und intermedialen Sichtweise zusammen. Als Ansatzpunkt für eine Untersuchung zur Intermedialität von Film und Literatur bieten sich darüber hinaus Textgattungen an, die im unmittelbaren Bezug zum Film, d.h. entweder zu spezifischen Filmen oder zum Film/Kino im Allgemeinen, stehen. Albersmeier (1995: 241-244) untergliedert die Gruppe der Texte, die im direkten Umfeld des Films anzusiedeln sind, in drei Bereiche. Er unterscheidet »Präfilmische Texte (Textefiir Filme)«, »Perifilmische Texte (Texte zu Filmen)« und »Postfilmische Texte (Texte über Filme)«.68 Nach der Terminologie von Paech (1994e) handelt es sich bei den präfilmischen Texten um> Vor-SchriftenNach-SchriftenNach-Schrift< am nächsten kommt eine Sondergruppe, die Albersmeier zu den perifilmischen Texten rechnet: Protokolle bzw. Transkripte, die dazu dienen, Bilder und Töne eines Films schriftsprachlich zu fixieren - entweder als wissenschaftliches Hilfsmittel für die Filmanalyse oder zum Zweck der literarischen (Re-)Lektüre eines Films. Die zahlreichen Beispiele, die Albersmeier für die drei übergeordneten Texttypen im Umfeld des Films anführt, machen deutlich, wie sehr der Film in allen Phasen seiner Produktion und Rezeption von Schrift abhängig ist. Texte dienen bei der Herstellung eines Films als Kommunikationsgrundlage und Kontrollinstanz, über Texte findet der Film oftmals überhaupt erst sein Publikum und somit den Zugang zur Öffentlichkeit, in Form von Texten findet die Reflexion über Filme statt. Das >Buch zum Film»Fluxcharakter< des Drehbuchs« (Sternberg 1996: 1) trägt maßgeblich dazu bei, dass es sich als geschlossene literarische Form so schwer fassen lässt. Präfilmische Texte unterliegen permanenten Modifikationen. Es lassen sich zumindest vier Texttypen unterscheiden: >Expose< und >Treatment< sind schriftliche Vorstufen, die bereits mehr oder weniger ausführlich die grundlegende Idee bzw. die Story eines zu produzierenden Films skizzieren; das eigentliche >Drehbuchfinal-shooting-script< unterschieden werden, das während der Drehphase eines Films als sich ständig in Überarbeitung befindliche Verständigungsgrundlage dient. 71 Welche Fassung als Drehbuchtext für eine Analyse zugrunde gelegt wird, muss von Fall zu Fall jeweils sorgfaltig überprüft werden.72 Die Situation verkompliziert sich 69 Erste Schritte in Richtung einer (gleichsam systematisch und historisch konzipierten) Drehbuchforschung liegen mit den Studien von Alexander Schwarz und Claudia Sternberg vor, die ihren Untersuchungsgegenstand zwar jeweils stark eingrenzen (deutsches und russisches Stummfilmdrehbuch/amerikanische Drehbuchtexte), aber trotzdem wichtige prototypische Elemente der Textgattung Drehbuch herausarbeiten (Schwarz 1994; Sternberg 1996). Vgl. zu einer Geschichte des Drehbuchs, die aber mehr am Drehbuch als Institution bzw. am Stellenwert des Drehbuchautors interessiert ist als an den Texten selbst, Kasten (1990). Einen knappen Abriss der »Geschichte und Theorie des Drehbuchschreibens in Deutschland« gibt auch Witte (1996). 70 Vgl. Heinritz (1999: 1-10); Schaudig (1992: 9-15); Brunow (1996b: 23-35); Schwarz (1994: 17-21). 71 Einteilung nach Schaudig (1992: 12-13). Vgl. Vale (1987: 249-263); abweichend: Albersmeier (1995 : 245). Sternberg (1996: 32-35) greift die Unterscheidung von Schaudig kritisch auf und weist darauf hin, dass vor allem eine strikte Trennung zwischen Drehbuch und ·final-shooting-script< wegen des generellen " Fluxcharakters" von Filmtexten nicht haltbar sei. 72 Vgl. Sternberg (1996: 34): "Flux-, Fassungs-, Zugangs- und Publikationsbesonderheiten machen eine exklusive Definition oder Kategorisierung des Untersuchungsgegenstands unmöglich."
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zusätzlich, wenn man die Publikationspraxis von Drehbuchtexten in den Blick nimmt. Das Drehbuch, das als präfilmischer Gebrauchstext in der Regel in Typoskriptform vorliegt, wird in den seltensten Fällen auch in dieser unbearbeiteten Reinform veröffentlicht. Die Eingriffe in den zugrunde liegenden Drehbuchtext reichen bei einer Veröffentlichung in Buchform von kleineren typographischen und sprachlichen »Anpassungen an Lesekonventionen« (Sternberg 1996: 29) bis zur generellen Ersetzung des Drehbuchs durch ein nachträglich erstelltes Filmprotokoll, das aber aufgrund formaler Ähnlichkeit zunächst kaum vom Drehbuchtext zu unterscheiden ist. Wenn in der Druckfassung eindeutige Editionshinweise fehlen, ist die Verwechslungsgefahr zwischen dem Drehbuch und einem >release scriptVor-< und >Nach-Schrift< verwischt (vgl. Sternberg 1996: 2932; Seibert 2004: 2-4). Neben dieser Editionsproblematik sind es vor allem die offensichtlichen Gebrauchseigenschaften des Drehbuchs, die bislang einer Rezeption als autonomer literarischer Gattung im Weg gestanden haben. Solange man davon ausgeht, »daß im Prozeß einer Verfilmung ein Drehbuch [... ] vollständig verbrennt« (Brunow 1996b: 27), kann es kaum als »autonome >TechnikBuch zum FilmBuch zum Film< als Gattung literaturwissenschaftlich kaum Beachtung. Das ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es sich bei der Mehrzahl der auf dem Markt kursierenden Titel um literarisch völlig unambitionierte, kommerzielle >Mainstream-Produkte< handelt. Der Medienverbund von Film und Buch ist vor allem auch ein Vermarktungsphänomen, das nicht primär auf literarische Qualität ausgerichtet ist. Gerade die 73 Vgl. für Taschenbuchverlage und speziell den Bereich der Kinder- und Jugendbuchliteratur Heidtmann (1994: 68): »Mindestens so bedeutsam wie für die Jugendbuchverleger sind Filmbücher in den vergangenen Jahren für das Massentaschenbuch geworden. So rubrizieren die Taschenbuch-Anbieter literarische Filmvorlagen und nachträglich geschriebene Filmbücher in ihren Katalogen gemeinsam als •Romane zu Film und Fernsehen· und stellen in ihrer Novitätenwerbung aktuelle Filmtitel vorrangig heraus. " Eine Suchanfrage zu den Kategorien ·Buch zum Film•, ·Filmbuch•, ·Film-Tie-ln· und ·Roman zum Film• bei der Internetbuchhandlung · Amazon • (www.amazon .de) führt zu einer Ergebnisliste von über dreihundert aktuell lieferbaren Titeln, die explizit im Untertitel auf ihren Filmbezug verweisen. Einzelne Verlage wie die ·Egmont vgs Verlagsgesellschaft' haben sich ganz auf Begleittitel zu populären Filmen und Fernsehserien spezialisiert.
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Masse an romanartigen Nacherzählungen von populären Unterhaltungsfilmen oder Fernsehserien ist in den meisten Fällen schnell produzierte Schemaliteratur ohne jeglichen ästhetischen Anspruch (Heidtmann 1994: 69): Die Bücher geben Geschichten und Figuren eindimensional wieder, reproduzieren anhand des Drehbuches die Dialoge, verzichten auf erzählerische Differenzierungen, beschränken sich in den meisten Fällen auf auktoriales, distanziertes Erzählen, nehmen nicht die unterschiedlichen Perspektiven, Bindungen an Figuren, Distanzierungen oder Brechungen des Filmes auf_ 74
Ein weiterer Grund für die völlige Nichtbeachtung des Gattungsphänomens >Buch zum Film< mag sein, dass unter den Oberbegriff auch Titel subsumiert werden, die ausführliche Hintergrundberichte über die Dreharbeiten eines Films enthalten und somit in den Bereich des Sachbuchs fallen, für den sich die Literaturwissenschaft traditionell immer weniger zuständig gefühlt hat. Überhaupt erschwert die Disparatheit der Titel, die unter den Begriff >Buch zum Film< zusammengefasst werden, einen einheitlichen gattungstheoretischen Zugang. Wemer Faulstich und Ricarda Strobel haben am Beispiel von Ridley Scotts Alien gezeigt, dass ganz verschiedene Textsorten der »Verbuchung« (Faulstich/Strobel 1986) eines Films zugerechnet werden können. Ausgehend von diesem Fallbeispiel lässt sich eine vorläufige Typologie gewinnen, die einen ersten Überblick über das Gesamtphänomen >Buch zum Film< gewährt. Eine systematische Bestimmung prototypischer Elemente und ausführliche gattungshistorische Untersuchungen stehen jedoch noch aus. 75 >Bücher zu Filmen< können m.E. grob in drei Kategorien eingeteilt werden: Filmprotokolle bzw. -transkripte, Adaptionen und Produktionsberichte. Zu den Texten, die in einem Transkriptionsverhältnis76 zu einem Film stehen, rechne ich alle Versuche, die audiovisuellen Daten eines Films schriftsprachlich und/oder in Form von Fotogrammen möglichst präzise zu fixieren: Text- und Dialoglisten, ausführliche >release scriptsBuch< ermöglichen. Die Filmprotokolle stehen als nachträgliche Vertextungen von filmischen Bewegungsbildern, Dialogen und eventuell auch von Musik und Geräuschen dem Drehbuch nahe und sind - wie oben bereits angemerkt - formal häufig kaum von diesem zu unterscheiden. Während es in der >Vor-Schrift< des Drehbuchs um die Antizipation filmischer Bewegung geht, dient die >Nach-SchriftRoman zum Filmdas Liegengelassenedas Weggeworfenesichtbaren Schnitts< im Film. Den Unterschied zwischen ambitionierten Filmprojekten und bloßem >Gebrauchsfilm< macht Kluge an eben jenen »Zwischenvalenzen« fest, die ohne die Lücken und Unterbrechungen, ohne die Fragmentierung des filmischen Erzählkontinuums gar nicht wahrgenommen werden könnten. Stärker noch als Buchtexte oder Fotos arbeitet die Ausdrucksweise des Films mit sog. Nebenvalenzen, dem zum Teil winzigen Informationsüberschuß von Bildern und Bewegungen, den Zwischenwerten zwischen Bildern, Tönen, lnhalten und Bewegungen. (BUF 49)
Das klassische Erzählkino verbaue sich - so Kluge - durch die absolute Fixierung auf den >roten Faden< der Handlung die Möglichkeiten, die das filmische Medium eigentlich bieten würde: »Die Anschlüsse stimmen lückenlos, es sind aber auch keine Lücken mehr da, durch die Stoff eindringt.« (BUF 168; vgl. PA 41) Kluges >Utopie Film< versteht sich immer auch als Programm, das gegen die Bilderflut der Massenmedien gerichtet ist. Kluges Filme schöpfen zwar ihrerseits aus dem reichhaltigen Reservoir mannigfacher Bilderwelten, schaffen aber durch Auslassungen, durch Zerstörung der Oberflächengenauigkeit des Films bzw. durch eine gezielte Ausdünnung der Bilder genügend Freiraum für »die phantasiereiche Eigenbewegung der Menschen (Zuschauer)« (BUF 169). Die Prinzipien der Unbestimmtheit und der gezieHen Aussparung beruhen 29 Vgl. die entsprechenden Textstellen in GE (62 u. 393-394). Vgl. zu dem von Musil übernommenen Begriff der " Genauigkeit im Ungefähren'' BUF (223229).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
darauf, möglichst wenig neue Bilder zu produzieren und mit bereits vorhandenen, »mit den Lücken innerhalb der Bilderfluten« (BUF 169) zu arbeiten. Im Raum, den er für die eigenen Bilder der Zuschauer lässt, sieht Kluge letztlich seine Verantwortung als Regisseur (vgl. Rötzer/ Kluge 2000: 35). Das Dazwischen erweist sich in doppelter Hinsicht als filmtheoretischer Schlüsselbegriff Einerseits beruht das auf die Leinwand projizierte Bewegungsbild generell auf den »Zwischenräumen zwischen den Bildern fotografischer Momentaufuahmen, indem deren Distanz in der Wiederholung der Bilder die figurative Differenz produktiv macht, die aus der apparativen Bewegung in der Projektion eine dargestellte, figurative Bewegung werden läßt« (Paech 1994b: 167-168); andererseits verweist das Konzept des kinematographischen Zwischenbildes (vgl. Paech 1994b) aber auch auf das für das Medium Film grundlegende Prinzip der Montage. Die Kategorie des Dazwischen ist somit auf zwei verschiedenen Ebenen filmischer Theoriebildung fest verankert: auf der basalen Ebene der technisch-apparativen Bedingungen des Films (Bewegungsillusion) und auf der daraus abgeleiteten Ebene filmischer Ausdrucksmittel (Montage). Kluge, der im Rahmen seines filmtheoretischen Projekts - wie oben bereits angedeutet- emphatisch auf den Zwischenraum zwischen den Bildern setzt, geht in seiner Argumentation auf beide Ebenen, die jeweils spezifische Elemente des Kinos markieren, ein. Wenn in Kluges Texten wiederholt betont wird, dass das Medium Film als eine Zeitmaschine aufgefasst werden könne (vgl. UD 42; BUF 152, 217, 443-444, 456-457; AG 8), ist das zunächst ganz wörtlich, im technischen Sinne gemeint. Kamera und Projektor operieren als Apparatur mit der Zeiteinheit von 1/48 Sekunde. Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Phasenbildern, die bei der Filmprojektion die Dunkelphasen erzeugen, bezeichnet Kluge hierbei als »Zeitnischen« (MB 106). Der Wechsel von Belichtungs- und Dunkelphasen macht für ihn die spezifische »Rhythmisierung der Zeit« (MB 105) des Films aus. Ein anderer Zeitmesser ist die Filmgeschwindigkeit: Die Hälfte der Zeit ist es im Kino dunkel. Eine achtundvierzigste! Sekunde wird der Film belichtet, eine achtundvierzigste! Sekunde dauert die Transportphase, in der in der Kamera oder im Projektor Dunkelphase herrscht. D.h.: Im Kino sehen die Augen eine achtundvierzigste! Sekunde nach außen, eine achtundvierzigste! Sekunde sehen sie nach innen. Das ist etwas sehr Schönes. (AG 56)
Aus dieser technischen Grundkonstellation resultiert die besondere Affinität des Films zu Darstellungsweisen des Dazwischen. Die Pausen zwi-
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DER BEGRIFF DES DAZWISCHEN
sehen den Bildern erweisen sich - so Kluge weiter - als konstitutiv für die Spezifik der filmischen Rezeptionssituation (Rötzer/Kluge 2000: 36): Das Phantasie- und Musikfreundliche des Kinos beruht sicher darauf, daß diese Pausen, die zwar wegen der Trägheit des Auges nicht bewußt wahrgenommen werden können, wirksam sind, so daß das Gehirn mehr Zeit hat als notwendig ist, um eine Information aufzunehmen.
Der Unterschied zwischen Film- und Fernsehrezeption wird - anknüpfend an die Überlegungen zur spezifischen Zeitorganisation des Films an der technischen Differenz zwischen dem auf Zwischenräumen beruhenden Bewegungsbild des Films und dem sich aus Zeilen aufbauenden Monitorbild des Fernsehens festgemacht (vgl. MB 105-106; Paech 1994b: 169). Es ist völlig richtig, wenn Uecker (2002: 86) in diesem Zusammenhang feststellt, dass Kluges medientheoretische Ausführungen immer dann, wenn sie wie in den voranstehenden Zitaten »technisch meßbare Zeitdifferenzen unvermittelt in physiologische oder psychologische Effekte übersetzen«, überraschende Parallelen zu »den technisch orientierten Medientheorien im Gefolge McLuhans« aufweisen. Nicht richtig ist hingegen, wenn er daran anschließend behauptet, dass »es schwerfällt, in seiner [Kluges; Anm. AS] Produktion Konsequenzen zu erkennen, die die angenommenen technischen Differenzen unmittelbar reflektieren« (Uecker 2002: 86). Kluge nennt als Vorbilder ausdrücklich Filmemacher wie Tarkowski, Godard oder Dreyer, die in ihren Filmen auf die Pausen zwischen den Bildern setzen; er knüpft an filmische Konzepte an, die auf der Suche nach filmischen Ausdrucksformen des Dazwischen beruhen, die darauf zielen, die Zwischenräume zwischen den Bildern zu verstärken und das Moment des Dazwischen so erfahrbar zu machen (vgl. MB 106). In seinen eigenen Filmen arbeitet Kluge mit Zeitraffungen und Zeitdehnungen, mit >freeze frames< und dazwischengeschnittenen Schwarzbildern, d.h. mit Formen, die allesamt auf die apparativen Grundbedingungen und medialen Möglichkeiten des filmischen Bewegungsbildes, auf »das zeitliche Intervall, in dem die figurative Differenz zwischen den Bildern sich mit der Bewegung in der Projektion zum Bewegungsbild auf der Leinwand verbindet« (Paech 1994b: 168; vgl. Kap. 4.5.3), verweisen. Und auch Kluges Montagetheorie schließt unmittelbar an diese Beschreibungen des auf den Zwischenräumen beruhenden filmischen Bewegungsbildes an. Die im Intervall von 1/48 Sekunde entstehenden Pausen während der Transportphase der Filmprojektion werden von Kluge zum konstitutiven Moment für die filmische Montage erklärt: »Die Wirkungen der Filmmontage sind durch diese Pausen erst möglich.« (MB 105)
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Das Prinzip der Montage ist der Grundbaustein für Alexander Kluges Filmtheorie, für seine praktische Filmarbeit und seine literarischen Texte. Entscheidend ist hierbei, dass Kluges filmische Erzähl- und Organisationsmethoden sich sowohl auf der Ebene der einzelnen Einstellung als auch auf der Ebene der Verknüpfung von Einstellungen bzw. der Kombination verschiedener visueller und auditiver Filmcodes von den Strategien und Verfahren des klassischen Erzählkinos abheben. Das sich gegen konventionelle filmische Erzählverfahren, d.h. namentlich gegen eine Hollywood-Dramaturgie, richtende Programm wird bereits in dem frühen Aufsatz Die Utopie Film sehr klar formuliert: Es ist grotesk, daß die analytisch funktionierende Kamera zur Versimpelung der Realität verwendet worden ist, daß die Montage immer wieder nur Illusionswirkungen hervorrufen soll, während ihr doch jeder andere Ausdruck ebenfalls offenstünde. (UF 1144)
Die Theorien der analytischen Kamera und der Montage gehen bei Kluge auf sein antagonistisches Realismuskonzept zurück (vgl. Roberts 1982: 104- 105). Die Kameraeinstellung, das Filmbild, ist für Kluge eine Erzähleinheit, die nach den Kategorien der Trennschärfe und des Zusammenhangs konzipiert werden muss: »Trennschärfe und Zusammenhang sind zwei Kategorien, die für die einzelne Einstellung ein Ideal bilden.« (UD 148) Auf Basis dieser beiden Kategorien erfolgt die Entscheidung über die Information, die ein Bild vermitteln soll. Es wird zunächst gegenüber anderen Bildern abgegrenzt und dann im Hinblick auf seinen internen Zusammenhang, seine Aussage, hinterfragt. Die einzelne Einstellung wird dabei wesentlich durch die technischen Ausdrucksmöglichkeiten der Kamera festgelegt: Kameraausschnitt, Einstellungsgröße, Perspektive, Brennweite, Schärfe bzw. Schärfentiefe und Kamerabewegungen bilden die Parameter jeder Filmeinstellung. Die Schaffung des Filmbildes ist ein analytischer Arbeitsgang, dessen Realismus - so lautet Kluges grundlegende Arbeitsmaxime - inder Verschränkung von objektiver Haltung und subjektiver Arbeitsleistung des Autors begründet ist (vgl. UD 148). 30 Zusammenhänge, die nicht innerhalb einer Einstellung erfasst werden können, müssen durch das Prinzip der Montage hergestellt werden. Kluges Montagetheorie wird dementsprechend überschrieben mit dem sloganartigen Satz: »Montage ist eine Theorie des Zusammenhangs.« (UD 97) Was in dieser Formulierung auf den ersten Blick beina-
30 Die analytisch eingesetzte Kamera ermöglicht es dem Film, Begriffe zu bilden: »Realismus ist die Arbeit des Begriffs, und diese Arbeit tastet den Horizont und das Motiv ab. Ein Unterscheidungsgrund und ein Horizont: das macht einen Begriff aus." (UD 146)
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he banal anmutet, erweist sich auf den zweiten Blick als komplexe Konzeption. Filmmontage, so wie sie von Kluge aufgefasst wird, basiert niemals auf einer simplen Aneinanderreihung verschiedener Filmbilder. Die durch Montage intendierte Herstellung von Zusammenhang hat »gar nichts mit Addition oder Multiplikation zu tun« (Rötzer/Kluge 2000: 35). Es geht vielmehr um die Evokation unsichtbarer Zwischenbilder, in denen die eigentliche filmische Aussage versteckt liegt. Montageeffekte im Sinne Kluges beruhen »auf nachwirkenden Bildern, im Idealfall auf mngesehenen< Bildern, die aufgmnd der Differenz, der Lücke in der Information kontrastreicher Bilder als Epiphanie entstehen« (MB 105-1 06). Indem Kluge auf den religiös-übersinnlich konnotierten Begriff der »Epiphanie«, auf die Wirkung eines >Unsichtbaren Dritten< zwischen den eigentlichen Filmbildern setzt/ 1 operiert seine Theorie der Montage genau mit der für die Kategorie des Dazwischen konstitutiven Paradoxie des >Zwischen-etwas-Seinsetwas< zu sein. Der Zwischenraum zwischen den Bildern wird zum eigentlichen Spielraum filmischer Ausdrucksmöglichkeiten erklärt. Das macht Kluge erneut anhand verschiedener Analogien deutlich. Wie bei den indianischen Rauchzeichen, wo die Unterbrechung des konstanten Rauchs die Information enthält (UD 136), wird das Dazwischen, der Raum zwischen den Bildern, als Voraussetzung einer filmischen Mitteilung aufgefasst. Als weiteres Bild für das Prinzip der Montage dient die nautische Positionsbestimmung mittels eines Sextanten: Montage macht nichts weiter als solche Messungen; sie ist die Kunst der Proportionenbildung. Entscheidend ist dabei, daß Odysseus den Ort gar nicht mißt, sondern ein Verhältnis; und dieses Verhältnis steckt im Schnitt, also an der Stelle, an der der Film nichts zeigt, während dort, wo er etwas zeigt, das Unwesentliche der Mitteilung sitzt, gewissermaßen die Voraussetzung, daß es mitteilbar ist. (UD 99-100)
Wenn Kluge darauf hinweist, dass Montage für ihn nichts mit der Verknüpfung von einzelnen Bildern zu Bilderketten zu tnn hat, »sondern damit, daß sich die beiden Bilder an der Schnittstelle zerstören« (Rötzer/Kluge 2000: 35), dann offenbart sein Ansatz eine deutliche Parallele zu Deleuzes Analyse der »Methode des ZWISCHEN« bei Godard. Deleuze betont gleich mehrfach, dass es bei Godard nicht um die Kombination von Bildern, sondern um den »Zwischenraum zwischen den Bildern« (Deleuze 1999: 233) selbst gehe: 31 Vgl. auch Lewandowski/Kluge (1980: 36); Rötzer/Kluge (2000: 35). Vgl. zu den unsichtbaren Zwischenbildern bei Kluge auch Paech (1994b: 170-171); Scherer (1996: 51-53).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Ist ein Bild gegeben, dann kommt es darauf an, ein anderes Bild zu wählen, das einen Zwischenraum zwischen beiden bewirkt. Es handelt sich hier nicht um eine Operation der Verknüpfung, sondern, wie die Mathematiker sagen, der Differenzierung oder, wie die Physiker sagen, der Disparation [ ... ]. 32
Dass die eigentliche filmische Aussage zwischen den Bildern, im Schnitt, in der Relation bzw. der Differenz zwischen den Bildern liegt, betont Kluge in Selbstbeschreibungen seiner Filmarbeit immer wieder (vgl. Bitomsky et al. 1979: 518). An den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Erzähleinheiten sollen - im Idealfall unter Mitwirkung des Assoziationsvermögens der Zuschauer - semantische Zwischenräume entstehen, die im eigentlichen Rohmaterial des Films nicht vorhanden sind. Das basale Prinzip der Montage hat Kluge dementsprechend auch als Chiffrierungsverfahren beschrieben: Wenn ich Realismus als eine Kenntnis von Zusammenhängen begreife, dann muß ich für das, was ich nicht im Film zeigen kann, was die Kamera nicht aufnehmen kann, eine Chiffre setzen. Diese Chiffre heißt: Kontrast zwischen zwei Einstellungen; das ist ein anderes Wort für Montage. (UD 98)
Christina Scherer hat darauf hingewiesen, dass Kluge mit dem Begriff der Chiffre an der für das filmische Ausdruckspotential konstitutiven »Grenzlinie zwischen Anschauung und Begriff« (Scherer 1996: 51; vgl. Eder/Kluge 1995: 7-14) ansetzt. In diese Richtung geht auch David Roberts' Beobachtung, dass der Montage bei Kluge »antagonistisch entgegengesetzte Aufgaben abverlangt [werden], die sowohl in Richtung der Kategorien erweiterter Abstraktion als auch Konkretion gehen und zugleich deren Wechselwirkung berücksichtigen müssen« (Roberts 1982: 106). Es ist Aufgabe des >aktiven Zuschauers< mit der Spannung zwischen Sichtbarem und Nichtsichtbarem umzugehen; eine Chiffre fordert immer die Dechiffrierung, sie will >gelesen< werden. Dass die Chiffrierungsverfahren nicht immer offen gelegt werden und dass Kluge seinen Montage-Filmen keine eindeutigen >Leseanweisungen< mitgibt, macht den eigentlichen Reiz für den Zuschauer aus, der sich auf Kluges Arbeiten einlässt. Als »Kernpunkt der Theorie der Epiphanie« bei Kluge betrachtet Scherer (1996: 53) »die Assoziation, die als der vollständigen Steuerbarkeit entzogen gedacht wird«. Kluges Konzept eröffnet dem Zuschauer letztlich große Auslegungsspielräume. Durch die Zerstörung der
32 Deleuze (1999: 234). Siehe auch Deleuze (1977: 87): »Godards Ziel heißt: >die Grenzen sehen' , heißt das Nicht-Wahrnehmbare sichtbar machen.« Vgl. zu den Parallelen und Unterschieden zwischen Godards und Kluges MontageTheorie Scherer (2000: 90-98).
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DER BEGRIFF DES DAZWISCHEN
Bilder an der Schnittstelle entsteht der notwendige Freiraum für die Assoziationsarbeit des Betrachters. An die Stelle der illusionistischen Kontinuitätswirkung beim klassischen Erzählkino treten Bruchstellen zwischen oftmals inkommensurablen Bildern, die eine passive Rezeptionshaltung kaum ermöglichen. »Der Ausdruck verdichtet sich nicht materiell im Film selbst, sondern entsteht im Kopf des Zuschauers aus den Bruchstellen zwischen den filmischen Ausdruckselementen.« (WF 1020) Was Kluge über den aktiven Zuschauer seiner Filmen sagt, gilt in ganz ähnlicher Weise für den Leser seiner Geschichten. Auch hier arbeitet Kluge mit den Brüchen und Zwischenräumen zwischen kurzen Textsegmenten. Die Zusammenhänge der »Geschichten ohne Oberbegriff« (NG 9, i.O. fett) muss sich der Leser vielfach selbst erschließen. 33 Hinter die postulierte Freiheit des Zuschauers kann aber auch ein Fragezeichen gesetzt werden. Die Leser- bzw. Zuschaueraktivierung bleibt sowohl bei der Literatur als auch beim Film an eine »Appellstruktur« (Iser 1971) des jeweiligen Werks gebunden. Voßkamp verweist in diesem Zusammenhang auf die Diskrepanz, die - auch in Kluges Arbeiten - zwischen der »Aufforderung zur frei-kombinierenden Spontaneität« und der »moraldidaktischen Zwecksetzung«34 besteht. Die prinzipielle Assoziationsfreiheit des Zuschauers bzw. Lesers steht immer in einem Spannungsverhältnis zu der in den Texten und Filmen angelegten Leser- oder Zuschauersteuerung. Entscheidend für Kluges Konzept der Filmmontage ist - das wurde bislang stillschweigend vorausgesetzt, aber noch nicht ausdrücklich betont - , dass das konstitutive Moment des Dazwischen, die »Ästhetik der Lücke«, nicht nur auf die Bildebene des Films bezogen ist. Ebenso wichtig wie der Zwischenraum zwischen den Bildern ist der Raum zwischen Sprache (Kommentar und Schrifteinblendungen) und Bild, die Differenz zwischen der akustischen (Musik, Geräusche) und visuellen Ebene eines Films. Montage - so wie Kluge sie auffasst - ist im Film immer eine Kategorie, die nicht nur die sukzessive Anordnung von Filmbildem, sondern auch die simultane Organisation sämtlicher filmischer Codes betrifft. 33 Matthias-Johannes Fischer hat auf die Ähnlichkeit zwischen Kluges Begriff der ·Bruchstelle• und Wolfgang lsers Begriff der •Leerstelle• hingewiesen (Fischer 1985: 128). Auch lser geht es um ·Schnitte• in Texten: Zwischen den Ansichten des Textes ..entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinander stoßenden Ansichten ergibt. Solche Leerstellen eröffnen dann einen Auslegungsspielraum [ ... ]. " (lser 1971: 15) Während Kluge jedoch auf den wahrnehmbaren Bruch, auf bewusst erzeugte Diskontinuität setzt, ist der Leerstellen-Begriff bei lser nicht an einen auf fragmentarischen Darstellungsweisen beruhenden Literaturtypus gebunden. Vgl. zum Begriff der literarischen Leerstelle auch Dotzler (1999: 211-229). 34 Voßkamp (1973: 246-247). Vgl. hierzu auch Lewandowski/Kluge (1980: 3440); Barg (1996: 190).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Generell geht es auch nicht nur um die Zwischenräume zwischen einzelnen Bildern, d.h. um die Lücken zwischen isolierten Filmeinstellungen. Das Ptinzip der Montage kann auch auf komplexere Erzähleinheiten übertragen werden. Die idealen Grundbausteine seiner MontageFilme sind für Kluge Erzähleinheiten, die er als »Miniaturen« bezeichnet und als »montagefahige, in sich geschlossene Kürzel« (UD 5) bzw. als die »kleinsten dramaturgischen Einheiten« 35 eines Films definiert. Das dramaturgische Ideal ist für Kluge die »Nummern-Dramaturgie« (BUF 105-107), wie sie im Zirkus, im Variete und in den Filmprogrammen des frühen Kinos angelegt ist bzw. war. Vor allem seine späteren EssayFilme erzählen genau wie seine Textbände niemals nur eine Geschichte, sondern immer viele kleine. Sie setzen sich aus einer lockeren Folge kurzer, zumeist sehr komprimierter und konzentrierter Erzähleinheiten zusammen. Filmtechnische Parameter wie Schärfe, Perspektive, Brennweite oder Kontrast, die das einzelne Filmbild definieren, werden hierbei von Kluge auf die Gesamtdramaturgie eines Films appliziert: »Man nimmt im Grund die Normen, nach denen man ein Filmbild macht (Quadrierung, Perspektive, Tiefenschärfe, Kontrast), und überträgt sie auf die Dramaturgie des Zusammenhangs.« (UD 64-65, vgl. BUF 237) Und wenn diese Theorie des Zusammenhangs dann noch über den einzelnen Film hinaus erweitert wird, d.h., wenn Kluge von der Notwendigkeit ausgeht, »Zusammenhänge mehrerer Filme über ein Thema herzustellen, gewissermaßen eine Flotte von Filmen« (UD 6), und wenn er feststellt, dass ganze Filme »sich zueinander wie Teile einer Montage [verhalten]« (BUF 236}, dann markieren diese Formulierungen bereits den Übergang von der Montage-Theorie zur Theorie der Intertextualität.
3.5 Rohstoffe und lntertextualität In einem am 13. September 2000 mit Rainer Stollmann und Christian Schulte geführten >Werkstattgesprächlntertextualitätspoetiken< auch »ein Literaturkonzept, das eben jene Relation zwischen altem und neuem Text positiviert und zum zentralen sinnkonstitutiven Faktor erklärt.« (Lachmann 1990: 67) Eine so aufgefasste Literatur steht nicht mehr ausnahmslos unter einem permanenten Innovationszwang. Das Zitat, durch das »ein Moment der Fremdheit in den Text« (Kluge 2001 b: 55) gelangt, wird gegenüber den eigenen Textanteilen deutlich aufge-
36 Wenzel hat unter diesem Aspekt Kluges filmische Methode beschrieben: »Wollte man Alexander Kluges Filmarbeit mit einem Schlagwort benennen, könnte dies ·Filmemachen aus fremdem Material' heißen. " (Wenzel 2000a: 103)
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
wertet. Es geht um Sinnkomplexierung, Sinnabsorption und Sinntransformation. An der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem entstehen wiederum Lücken und Bruchstellen, an denen die Phantasie des Lesers ansetzen kann. Das Zitat ist zunächst einmal ein Stück selbständiger, autonomer Partikel in der Erzählung. [ ... ] Die Mechanik des gelungenen Textes wird unterbrochen durch einen Findlingsstein, durch einen Schatz, eine Trouvaille, und das ist zunächst das Wesen des Zitats. (Kluge 2001 b: 55)
Die Konfrontation von fremder und eigener Rede bewirkt eine Änderung der Perspektive; von den vorgefimdenen Texten und Bildern geht »eine notwendige Provokation« (GE 1249) aus, die die für Kluges Ansatz so wichtige Reibung erzeugen soll. Wichtiger als der einzelne Text ist für Kluge der Raum zwischen den Texten, den Renate Lachmann als »impliziten Text«, als »Ürt der Überschneidung von präsentem und absentem Text«, als »Ürt der Interferenz von Texten, die kulturelle Erfahtungen als kommunikative vermittelt und kodiert haben« ( Lachmann 1990: 63), benannt und beschrieben hat. ln der Literatur ist das Konzert aller Romane untereinander der Zusammenhang. Und in den Lücken zwischen Ulysses, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der Dialektik der Aufklärung, dem Gesamtwerk von Marx, Diderots Encyclopedie (und die unbeackerten Felder dazwischen sind ja recht elemen-
tar) liegt die Phantasie. (UD 65)
Was hier für die Literatur gesagt wird, gilt in gleicher Weise für den Film. Das Prinzip der Intertextualität gehört - das lässt sich bei Kluge zwischen den Zeilen immer wieder herauslesen - zu den Grundvoraussetzungen des Kinos, das ebenfalls von den >Wechselwirkungen< zwischen den Filmen und Genres, von den >Querbeziehungen< (BUF 118) lebt. Helmut Färber hat die lntertextualität des Films in seinem Aufsatz Das unentdeckte Kino, der ebenfalls in der Bestandsaufnahme enthalten ist, treffend umschrieben. Genau wie in Kluges oben zitierter Formulierung die Literaturgeschichte als Ganzes in den Blick genommen wird, richtet sich hier der Begriff des Zusammenhangs auf die Gesamtheit der Filmgeschichte, auf den Raum zwischen den Filmen (BUF 26): Die Filme sind nicht als einzelne entstanden, und nie als nur einzelne gesehen worden. ln jedem einzelnen lebt bewußt und unbewußt eine Erinnerung an frühere, und spätere kündigen sich an. Die Filme erzählen ähnliche Ge-
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ROHSTOFFE UND INTERTEXTUALITÄT
schichten, erzählen die gleiche immer wieder, auch immer wieder neu, dabei verändernd, modernisierend, vergessend, verwechselnd, verwandelnd.
Das >Konzert der Texte bzw. Filme< prägt sowohl die Produktions- als auch die Rezeptionsseite literarischer und filmischer Kommunikation. Kluge beschreibt die intra- und intertextuelle Organisationsstruktur seiner Prosa als »Gitter, an das sich die Phantasie des Lesers anklammern kann« (SB 368). 37 Seine Filme, Texte und Fernsehmagazine schöpfen aus einem reichhaltigen Materialfundus wiederkehrender Zitate, Geschichten, Bilder, Musikstücke, die sich netzwerkartig zu immer neuen Montagekontexten verbinden und so auch in ihrer Bedeutung variieren. Völlig richtig erweitert David Roberts im Hinblick auf das verästelte Gesamtwerk Kluges, das er »als eine Gesamtmontage« (Roberts 1982: 117) auffasst, den Begriff der Montage um eine werkübergreifende Dimension. Besonders deutlich wird diese intertextuelle Konzeption in der Chronik der Gefühle, dem zweibändigen >opus magnumGehäuseDialog der Texte< verweisen nicht nur auf die zentrale Leitmetapher der Intertextualitätstheorie,45 sie leiten auch über zum zweiten konstitutiven Prinzip für Kluges Erzähltechnik: dem Gespräch.
3.5.2 Der Dialog als zweites Orientierungsprinzip: »Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« Begreift man die Arbeit eines Autors als eine kommentierende bzw. transkribierende Tätigkeit, die auf einer Auseinandersetzung mit überlieferten Prätexten, auf einem inneren Dialog mit anderen Autoren beruht, geht man also von der Vorstellung aus, »daß es keine primären Monologe geben kann, sondern selbst die Fähigkeit zu monologisieren aus zahllosen Dialogen entsteht« (BUF 44), so erweist sich das Prinzip des (mündlichen) Diskurses, das Negt/Kluge in Geschichte und Eigensinn als zweite Grundform der Orientierung einführen, nur auf den ersten Blick als konträr zur Grundstellung des Hieronymus. Im Gegensatz zur introvertierten Lektüre - so die Argumentation von Negt/Kluge - bilde im Gespräch »nicht das eigene Motiv, sondern die Gesellschaft des Anderen das Vertrauenswürdige« (GE 1011). Umgekehrt orientiere sich aber auch Hieronymus »nicht an sich allein, sondern an allem bereits in Schrift Überlieferten« (ebd.). In beiden Fällen, im Gespräch und bei der Lektüre, erweist sich der fremde Gedanke als kreativer Motor für den eigenen Gedanken. Für das Orientierungsprinzip des >Zwiegesprächs< dient Kleists kurzer Aufsatz Über die allmähliche Vet:fertigung der Gedanken beim Reden als Referenztext Das von Kleist in diesem Text entworfene »Paradigma gelingenden Sprechens« (Greiner 2003: 163) bildet ein Ideal, an dem auch Kluge seine eigene Arbeitsmethode auszurichten versucht. 45 Die Metapher vom ·Dialog der Texte< war titelgebend für das ·Hamburger Kolloquium zur lntertextualität< von 1982 (vgl. Schmid/Stempel1983).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Gleich mehrfach wird Kleists Aufsatz in ganz verschiedenen Kontexten zitiert und als Schlüsseltext markiert (vgl. GE 1011; BUF 51; MZ 10; Kluge 1987: 75), um eigene Arbeitsprinzipien zu unterstreichen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit Kleists Text findet hierbei allerdings an keiner Stelle statt. Kluge liefert keine eingehende Analyse der Sprachreflexionen in Kleists Aufsatz. Weder geht er ausführlich auf dessen Argumentationsgang ein, noch kommentiert er die von Kleist angeführten Beispiele gelingender und misslingender Rede. Einzelne Zitate werden selektiv herausgegriffen und in den eigenen Argumentationszusammenhang integriert. Der bereits im einprägsamen und viel zitierten Titel des Aufsatzes auf den Punkt gebrachte Grundgedanke der transkriptiven Natur der Redesituation,46 d.h. die Erkenntnis, dass »die eigene Rede auf die Formung von Gedanken zurückwirkt« (Paß 2002: 136), dient Kluge als Folie für eigene Überlegungen zum >Prinzip des Dialogs< (GE 1011; MB 68) und zum >Prinzip Mündlichkeit< (MZ 9-12; BUF 51). Vor allem der mit Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit überschriebene Text, eine Würdigung Oskar Negts, die den Sammelband Der unterschätzte Mensch eröffnet und die 28-jährige Zusammenarbeit der beiden Autoren schildert, kann in seinem emphatischen Insistieren auf dem Prinzip Mündlichkeit als Kluges ganz persönliches Pendant zu Kleists Aufsatz gelesen werden. Am Beispiel der beschriebenen Arbeitssitzungen mit Oskar Negt führt Kluge die besondere Wirkungsweise von dialogischen Formen vor, in denen die Rede als »ein wahrhaftes lautes Denken« (Kleist 1990: 538) fungiert und nicht zuletzt dem Zweck der eigenen Orientierung dient. Das, was wir hauptsächlich tun, unterläuft das klassische Verfahren zur Herstellung formulierter Texte. Es hält sich länger im Bereich des Rohstoffs, der Abwägung auf. Es läßt zu, daß einer ausufert, der andere zuhört, bremst oder eins draufsetzt. Die Temperamente und verschiedenartigen Arbeitstechniken reiben sich aneinander. (MZ 9)
Die kreative Kraft, die von der mündlichen Rede und der damit verbundenen Fixierung auf einen anwesenden Adressaten ausgeht, bestimmt er - ganz im Sinne von Kleists parodistischem Diktum: »l'idee vient en parlant« (Kleist 1990: 535)- als Basis seiner Zusammenarbeit mit Negt. In der Beschreibung ihrer spezifischen Gesprächstechnik scheint Kleists Idealvorstellung gesprochener Sprache durch, die sich nicht als »ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes«, sondern als produktives Medium 46 Vgl. zu einer Analyse der Stimme ' als Medium der Selbsttranskription', die ebenfalls an den Hinweis auf Kleists Aufsatz geknüpft wird, Linz (2003). Vgl. allgemein zur Transkriptivität der Redesituation auch Jäger (2002b: 40).
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ROHSTOFFE UND INTERTEXTUALITÄT
der Erkenntnis, als »ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse« (Kleist 1990: 538) erweist. In der vagen, offenen Allsgangssituation des gemeinsamen Denkens, in dem gerade für seine eigene Arbeitsweise charakteristischen »Chaos zu Anfang« (MZ 8), in der suchenden, improvisierenden Haltung liegt für Kluge der Bezug zu Kleists »Werkstätte der Vernunft« (Kleist 1990: 535; vgl. MZ 10). Den wesentlichen Vorteil des Prinzips Mündlichkeit sieht er hierbei in der Stärkung der »Rohstoffebene« (MZ 10): »Es entsteht Verantwortlichkeit dadurch, daß einer den Zugang zum Rohstoff des anderen hatte (und umgekehrt).« (MZ 11) Der Hinweis auf das »Nichtselbstverständliche« (MZ 7) der produktiven Atmosphäre, die zwischen ihm und Negt in den gemeinsamen Arbeitssitzungen herrscht, macht jedoch gleichzeitig sehr deutlich, dass im Gegensatz zu Kleists Ausgangsüberlegungen der Gesprächspartner und die Rahmenbedingungen für ein gelingendes Gespräch nicht beliebig sind. Kluge schildert sehr ausführlich die verschiedenen Kunstgriffe, die notwendig sind, um die ideale Gesprächssituation zu schaffen, in der eine >allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden< überhaupt erst möglich erscheint. In zwei weiteren Punkten weichen Kluges Überlegungen ebenfalls von Kleists Modell gelingenden Sprechens ab. Während die persönlichen, historischen und literarischen Beispiele für Kommunikationssituationen, die Kleist in seinem Aufsatz anführt, - auch wenn sie wie in den ersten beiden genannten Fällen (Kleist und seine Schwester, MoW:re und seine Magd) nur inszeniert sind- jeweils auf einer »agonale[n] Struktur« (Blamberger 1991: 13, i.O. kursiv) beruhen, skizziert Kluge in seiner Laudatio auf Oskar Negt eine Idealform des Dialogs, die zwei Autoren, trotz >mnvereinbare[r] Gegensätze« (MZ 7) und konträrer Arbeitsweisen, nach dem Prinzip des »Sich-aufeinander-Einlassen[s]« (MZ 6) zusammenkommen lässt. Noch wesentlicher als diese harmonisierende Tendenz ist jedoch ein weiterer Aspekt, in dem sich die von Kluge beschriebene dialogische Arbeitstechnik von den Beispielen in Kleists Aufsatz unterscheidet. Die Frage, was mit den >verfertigten Gedanken< im Anschluss passiert, die Frage nach einer sich der Rede anschließenden Vertextung stellt Kleist gar nicht erst. Kluge geht demgegenüber in seinem Text dezidiert auf diesen Aspekt ein. Auch wenn er das mündliche Gespräch als zentrales Orientierungsprinzip einführt, büßt der schriftlich fixierte Text seinen Stellenwert in seinem Modell in keiner Weise ein. Folgt man der Selbstbeschreibung, besteht eine Besonderheit der Arbeitsweise von Negt und Kluge gerade darin, dass sie zwar wesentlich auf dem Prinzip Mündlichkeit beruht, gleichzeitig aber nicht auf die »höhere Stufe der Selbstkontrolle« (MZ 10), die dem Prinzip Text eigen ist, verzichten möchte. Die Kombination der Vorteile beider Prinzipien
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macht eine simultane Transkriptionstechnik erforderlich. Es bedarf einer dritten, gewissermaßen >anwesend abwesenden< Person, die die Aufgabe der schriftlichen Fixierung übernimmt, ohne aktiv in die eigentliche Gesprächssituation einzugreifen. Es ist [ ... ] keine Phrase, daß die Masse unserer gemeinsamen Bücher aus Texten besteht, die wir Wort für Wort gemeinsam hergestellt haben. Wir brauchen dafür immer einen Dritten im Raum, der die Sätze einsammelt. Während wir am nächsten Absatz arbeiten, vergessen wir meist den vorangegangenen. Es gehört zum Wesen der Konzentration, daß man etwas fallenläßt und alle Kräfte neu ordnet. Was wir am Vortag getan haben, lesen wir erst, wenn unsere Mitarbeiterin die Texte am nächsten oder übernächsten Tag bringt. (MZ 9)
Es geht um das Problem der Rekonstruktion des mittels mündlicher Rede verfertigten Gedankens: »Es ist nicht leicht, eine Methode zu stabilisieren, die die erste zupackende Formulierung rekonstruierbar macht.« (MZ 11) Das von Kluge beschriebene Arbeitsverfahren basiert darauf, dass neben die Sinn generierende »Selbsttranskription« (Jäger 2002b: 40) der mündlichen Rede ein weiterer Transkriptionsprozess tritt, der die gesprochene Rede in schriftliche, d.h. wieder abrufbare und nachträglich überprüfbare Strukturen überführt, der das Gespräch >lesbar< macht, ihm Skriptstatus verleiht und somit den Raum für Postskripte bzw. weitere Anschlusstranskriptionen öffnet - womit sich der Kreis letztlich wieder zum Prinzip des Kommentars hin schließt. Negt und Kluge betonen in Geschichte und Eigensinn ausdrücklich, dass »keine einzelne Form der Orientierungsarbeit für sich etwas Zusammenhängendes leistet, sondern nur alle zusammen, wenn sie kooperieren« (GE 1012). Das letzte der Erinnerungsbilder seiner Zusammenarbeit mit Oskar Negt, die Kluge am Anfang seiner Momentaufnahmen wie »Einzelbilder« (MZ 5) aufzählt, enthält den Verweis auf eine Fotografie. Dieses Bild, das die beiden Theoretiker >>Unter einer gemeinsamen Lampe am gemeinsamen Arbeitstisch« (MZ 5) zeigt, ist sowohl auf dem inneren Buchdeckel der Originalausgabe von Geschichte und Eigensinn als auch auf der letzten Seite des ersten Bandes von Der unterschätzte Mensch abgedruckt (Negt/Kluge 2001: 1022). Es vermittelt eine Vorstellung davon, wie es aussieht, wenn Hieronymus (Prinzip Kommentar) und Kleist (Prinzip Dialog) >kooperierenHieronymus im Gehäuse, zweifachgegenüberstehendenNetzwerk aus KommentarenPrinzip HoffnungFilmisierung der Literatur< und der >Literarisierung des Films< der Differenz der vorausgesetzten medialen Formen hinreichend Rechnung? Funktioniert das Verhältnis von Text und Bild in einem Film nicht grundsätzlich anders als in einem Prosatext? Und gibt es bei Kluge die von Lewandowski behauptete Hierarchie der Medien? Stimmt es also wirklich, dass »die Literatur Kluges tendenziell des Films weniger [bedarf] als der Film Kluges seiner Literatur« (Lewandowski 1983: 238)? Es steht außer Frage, dass die Organisationsstrategien in Kluges Filmen und Prosatexten deutliche Gemeinsamkeiten aufweisen. 48 Im Anschluss an Uecker (2002: 86) würde ich jedoch die Interferenzen zwischen Film und Literatur in Kluges Arbeit stärker unter ihrem intermedialen Aspekt, d.h. unter dem Aspekt der Mediendifferenz, 48 Vgl. Just (1972: 60): "film und Literatur lösen sich so nicht ab, sondern ergänzen, dienen einander.•• Vgl. auch Voßkamp (1977: 298).
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betrachten. Richtet man den Blick auf die (inter-)medialen Bedingungen von Kluges Texten und Filmen, bietet sich wiederum das Transkriptivitätskonzept als theoretischer Rahmen an. Kennzeichnend für Verfahren der Transkription ist, dass sie »Differenzen sowohl überbrücken, indem sie Lesbarkeit ermöglichen, als auch neue Differenzen erzeugen, insofern sie ihre eigene Medialität [... ]zu erkennen geben« (Balke 2003: 31). Mit einem solchen Konzept, das sowohl die Differenz generierende als auch Differenz verarbeitende Dimension von Medienprozessen erfasst, lassen sich Kluges intermediale Verfahren an der Grenze von Film und Literatur mE. sehr gerrau beschreiben. Bevor das jedoch anhand des FilmBuch-Projektes Die Patriotin ausführlich erprobt wird, gilt es der Frage nachzugehen, inwieweit mediale Differenzen in Kluges eigenen theoretischen Überlegungen Berücksichtigung finden. Die These, dass der Mensch letztlich das eigentlich relevante Medium ist, und die wechselnden Selbstpositionierungen zwischen den Medien Literatur, Film, Fernsehen zeugen scheinbar von einer Indifferenz gegenüber den technischen Medien. Vor allem die theoretischen Äußerungen zum Verhältnis von Film und Literatur sind durch erhebliche Diskrepanzen gekennzeichnet. In den 70er Jahren fungiert der Film noch eindeutig als Leitmedium. Kluges Neigung zu filmischen Ausdrucksformen resultiert aus den komplexen Möglichkeiten des Films, der »eine radikale Erweiterung der literarischen Mittel« (UF 1145) zulässt. Gleichzeitig bildet aber die Auseinandersetzung mit literarischen Formen einen festen Bestandteil seiner Poetologie des Films. 49 In einem Gespräch mit Ulrich Gregor betont er, dass es trotz seiner Vorliebe für das Medium Film »keine Hierarchie« (Gregor/Kluge 1976: 177) seiner diversen Arbeitsbereiche gebe. In jüngeren Selbstdarstellungen kehren sich die Präferenzverhältnisse dann zugunsten des Mediums Buch um. In einem Gespräch mit Edgar Reitz aus den 90er Jahren überrascht Kluge mit der Feststellung: »Im Grunde bin ich kein wirklicher Cineast.« (Reitz/Kluge 1995: 75) Bereits in seiner Böll-Preis-Rede von 1993 hatte er seine Rolle als »Buchautor« deutlich hervorgehoben (Kluge 1993c: 43): Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. [ ... ] Das einzige, was mir beim Bücherschreiben und Bücherlesen fehlt, ist die Musik. Das ist der innere Grund, warum ich Filme gemacht habe, weil sich der Film ähnlich wie die Musik bewegt. Von daher ist es für mich nicht die entscheidende Frage, ob etwas gedruckt, 49 Vgl. UD (38). Es zeigen sich in dieser Phase bei Kluge besondere Vorlieben für bestimmte Autoren (Proust, Döblin, Flaubert, Joyce, Arno Schmidt u.a.). Kluges Interesse für Literatur resultiert aus dem »Bewußtsein von dem ungeheuren Vorsprung, den die literarische Tradition heute noch vor den Ausdrucksformen der Massenmedien hat" (UF 1141 ).
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DAS MEDIUM DES ERZÄHLENS
gefilmt oder in Textstellen auf einen Fernseher geschrieben wird. Viel wichtiger ist es, ob man die Geduld, die Gründlichkeit und das Wartenkönnen der Texte in die neuen Medien einbringt.
Die zuletzt zitierte Äußerung unterstreicht das Selbstverständnis eines Autors, dessen zentrales Interesse in der Herstellung von Öffentlichkeit besteht und dem hierbei »egal [ist], welches Medium man da benutzt« (Niroumand/Kluge 1993: 12; vgl. Stanitzek 1998: 3). Es wäre jedoch zu voreilig, würde man aus diesen und vergleichbaren Formulierungen schlussfolgern, mediale Selbstreferenz und intermediale Reibung spielten für Kluges Arbeit keine Rolle. Die Indifferenz gegenüber dem technischen Medium, das zitierte >Egalegal< ist, ob ein Thema mit literarischen oder filmischen Mitteln bearbeitet wird, dass es nicht irrelevant ist, ob man mit Texten oder Bildern umgeht, ob man einen Film auf einer großen Leinwand im Kino oder zu Hause auf dem Fernsehschirm sieht, hat Kluge umgekehrt in seinen medientheoretischen Reflexionen immer sehr deutlich hervorgehoben (vgl. MB 105-108). Besonders flir die Betonung der »absoluten Differenz zwischen verbaler Sprache und filmischer Bewegung« (UD 38) finden sich zahlreiche Belege. So in einem Gespräch mit Lewandowski, der Kluge direkt auf eine transmediale Verzahnung filmischer und literarischer Verfahren in seinen Arbeiten anspricht. Kluges Replik lässt dann keinen Zweifel daran, dass er sich, obwohl sein Ansatz durch intensive Wechselwirkungen beider Medien gekennzeichnet ist, nicht auf eine simplifizierende Formel von >filmischer Literatur< und >literarischem Film< festlegen lassen möchte (vgl. Lewandowski/Kluge 1980: 32-33). Auch wenn er im Hinblick auf die wesentliche filmische Ausdrucksform, das Erzählen, davon ausgeht, »daß der Film seine Heimat eher in der Literatur als in der Fotografie hat« (WF 1029), setzt Kluge, wenn es um das Wechselverhältnis beider Medien geht, mehr auf »Kontraste« (UD 38) als auf eine Affinität zwischen filmischen und literarischen Formen. Wie Uecker (2002: 86-87) ganz richtig bemerkt hat, repräsentieren die zahlreichen, oftmals widersprüchlichen Aussagen zum Wechselverhältnis der Medien nicht die unsichere Identität eines Autors, der sich nicht entscheiden kann, wo seine Produktion hingehört, sondern eine Strategie, die sich ganz bewußt
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
zwischen den technischen Medien und im ständigen Transfer vom einen zum anderen ansiedelt.
Ähnlich wie bei Paech (vgl. Kap. 2.5) wird die Intern1edialität von Film und Literatur bei Kluge am Medium des Erzählens festgemacht. Das Erzählen bildet die »gemeinsame Wurzel von Film und Büchern« (BUF 436). Gleichzeitig wird die Differenz der beiden Medien betont, deren »Fähigkeit, Reichtum an Ausdruck zu produzieren, auf verschiedenen Gebieten [liegt]« (BUF 436, i.O. kursiv). Literatur und Film bedienen sich unterschiedlicher Ausdrucksformen, die verschiedene Strategien zur Auseinandersetzung mit Wirklichkeit bieten. Vor allem in Kluges frühen filmtheoretischen Aufsätzen entspricht die Reflexion der medialen Differenz zwischen Film und Literatur in erster Linie einem Abwägen der jeweiligen Vor- und Nachteile beider Medien. Die Plurimedialität des Films oder- mit Kluges Worten- die »Aufeinanderschichtung von Ausdrucksformen« (WF 1020) ermöglicht, »daß der Stoff sich in den Bereichen zwischen den Ausdrucksformen ansiedelt« (WF 1020). Diese Eigenschaft des Films als Medium des Dazwischen veranlasst Kluge zu der programmatischen Einschätzung: »Der Film läßt eine radikale Erweiterung der literarischen Mittel zu.« (UF 1145) Der entscheidende Vorteil des Films liegt für ihn in dem spannungsgeladenen Verhältnis von Anschauung und Begriff. Im Film verbinden sich radikale Anschauung im visuellen Teil und Begriffsmöglichkeiten in der Montage zu einer Ausdrucksform, die ebenso wie die Sprache ein dialektisches Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung ermöglicht, ohne daß dieses Verhältnis wie in der Sprache stabilisiert ist. (WF 1020. )50
Sprache als monomediales Ausdrucksmittel lasse - so Kluges weitere Argumentation - »breite Teile der Wirklichkeit abprallen«, die literarische Rhetorik könne »die Dinge einspinnen, aber nicht fassen« (UF 1145). Auf Seiten der Literatur wird demgegenüber der große »Traditionsvorsprung« (WF 1018) in die Waagschale geworfen. Der Vorteil der Literatur liegt für Kluge in ihrem reichhaltigen Metaphernvorrat und in ihrem AbstraktionspotentiaL »Erst wenn der Film über eine genügend große Metaphernwelt verfügt, wäre er in der Lage, literaturähnliche Verallgemeinerungen und Differenzierungen zu entwickeln.« (WF 1019) Gemessen an den Komplexitätsgraden der Wirklichkeit erweist sich jedes einzelne Medium für Kluge als unzulänglich. Seine Strategie des permanenten Medienwechsels dient nicht nur dazu, »die Leistungsfähig50 Vgl. auch Burmeister (1985: 259-261).
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DAS MEDIUM DES ERZÄHLENS
keit aller Medien zu testen« (Uecker 2002: 87), im Übergang vom einen zum anderen, an der Grenze zwischen den Medien, besteht auch die Möglichkeit, dass sich die jeweiligen Stärken der Einzelmedien potenzieren. Jede Fixierung auf eine isolierte Ausdrucksform bedeutet eine Reduktion der Wirklichkeitswahrnehmung. »Alle Ausdrucksformen der bürgerlichen Öffentlichkeit [... ] zerschneiden [... ] die Komplexität der Wahrnehmung, die eigentlich die Grundform der Sinne ist.« (GS 222) Durch medienübergreifende Transkriptionsprozesse, durch multi- und intermediale Verfahren, d.h. durch die permanente Kombination und Transformation medialer Formen, können demgegenüber größere Wirklichkeitskomplexe erfasst werden. Im Dialog der Medien kann- das hebt Kluge mit Blick auf eine mögliche Vemetzung verschiedener Medieninstitutionen heraus - an den »Nahtstellen« im Idealfall »ein intelligenter Funke« (MB 122) entstehen.
3.6.1 Gesprochene und geschriebene Sprache im Film Mit zwei Phänomenen intermedialer Interferenz im Grenzbereich von Film und Literatur hat sich Kluge in seinen filmtheoretischen Arbeiten ausführlicher beschäftigt: mit den Verwendungsmöglichkeiten von Sprache im Film und mit der Textgattung des Drehbuchs. Im Hinblick auf das Verhältnis von Sprache und Film lassen sich deutliche Parallelen zwischen Kluges Position und aktuellen Thesen der primär intermedial ausgerichteten Filmtheorie der letzten Jahre beobachten. Joachim Paech betont einerseits, dass die Literatur als Thema eines Films, d.h. das Zeigen von Büchern und ein Inszenieren des Leseoder Schreibvorgangs, noch nicht generell als intermediale Figuration gesehen werden kann, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass »Literatur außerordentlich vielfältig im Film [figuriert], schon deshalb, weil mit der Schrift eine wesentliche Form literarischer Medialität im Film direkt als Form ihres Mediums repräsentierbar ist« (Paech 2002c: 307; vgl. Kap. 2.5). Schrift scheint hierbei als Fremdkörper innerhalb des kinematographischen Bewegungsbildes eher als die sich zumeist bruchlos in einen filmischen Handlungszusammenhang einpassende gesprochene Sprache (Dialoge, Off-Kommentare) eine intermediale Verbindung zwischen Film und Literatur zu markieren. Aber auch im Verhältnis von Schrift und Film gilt es - so Paech (2002c: 307) - graduelle Unterschiede zu beachten: Die Fortsetzung einer verfilmten literarischen Erzählung >im literarischen Zitat' des Zwischentitels oder als Überschreibung des Bewegungsbildes ist eindeutig eine intermediale Figuration; derselbe Text diegetisch, ob vorgelesen
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
oder im offenen Buch abgefilmt, ist nurmehr eine filmische Anspielung auf die Literatur, ist eindeutig ·Film'.
Mit anderen Worten: Sprache/Schrift im Film erzeugt erst dann eine intermediale Figuration, wenn sie aus dem Handlungsuniversum des Films herausfällt und als Differenzform zu einer Störung automatisierter Rezeptionsweisen fuhrt. Ausschlaggebend fur Paechs Argumentation ist die Unterscheidung zwischen diegetischen und nichtdiegetischen Formen von Sprache im Film. 51 Und eben diese Unterscheidung bildet implizit auch den Kern des von Kluge Mitte der 60er Jahre gemeinsam mit Edgar Reitz und Wilfried Reinke verfassten Aufsatzes Wort und Film, der anknüpfend an die Debatte zum Tonfilm und ausgehend von konkreten filmhistorischen Beispielen die Verwendungsmöglichkeiten von Sprache im Film untersucht und grob systematisiert. Die Frage nach der Hierarchie von Bild und Ton im Film hat die Filmtheorie seit der Einfuhrung und Durchsetzung des Tonfilms in den späten 20er Jahren immer wieder beschäftigt. Die lange Tradition der Diskussion zum Ton im Film nutzen Reitz/Kluge/ Reinke als Aufhänger ihres Aufsatzes, indem sie eine Zitatcollage voranstellen, die disparate Äußerungen zum Ton bzw. zur Sprache im Film miteinander konfrontiert. (WF 1015-1016) Ist die Einfuhrung des Tonfilms eine Verfallserscheinung oder markiert sie die eigentliche Erfullung der medialen Möglichkeiten des Films? Im Mittelpunkt der Kontroverse stehen immer die gleichen Fragen: Ist Sprache ein sekundäres und mnfilmisches< Ausdrucksmittel, das dem Bild untergeordnet werden muss, oder kann der Film gerade durch die Interaktion visueller und sprachlicher Elemente eine Steigerung des Ausdrucks erzielen? Und wie wird Sprache >richtig< im Film eingesetzt? Bereits im ersten Absatz ihres Aufsatzes machen Reitz/Kluge/Reinke deutlich, dass sie nicht beabsichtigen, eine auf medienontologische Fragestellungen setzende Tradition filmischer Theoriebildung fortzuschreiben. Sie grenzen sich deutlich gegenüber Ansätzen ab, die nach dem vermeintlich >richtigen< Verhältnis von Sprache und Film fragen. Die Intention ihres Aufsatzes besteht nicht in der Formulierung normativer Regeln fur die Filmkunst. Das Autorentrio verweist zu Recht darauf, dass sämtliche der zitierten Äußerungen »von einer bereits
51 Der Begriff ·diegetisch' wird hier in einem erzähltheoretischen Sinne ver· wendet, wie er von Souriau für den Film und von Genette für die Literatur bestimmt wurde. Souriau (1990: 581) definiert Diegese als " l' univers de l'oeuvre, le monde pose par une oeuvre d'art" ; Genette (1998: 313) versteht unter Diegese " das raumzeitliche Universum der Erzählung" . ln der Filmwissenschaft hat sich das Begriffspaar diegetisch - nichtdiegetisch (bzw. intravs. extradiegetisch) auch über den engen theoretischen Rahmen der Filmsemiotik hinaus etabliert. Vgl. Bordwell/Thompson (1997: 92-93 u. 330-335).
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festgelegten Vorstellung vom Film und einer bereits bestehenden oder angeblich bestehenden Vorstellung von der Sprache« (WF 10 16) ausgehen und dass sich auf der Basis einer solchen, im Vorfeld festgelegten, abstrakt-ahistorischen Kategorie des Filmischen die diversen Interaktionsmöglichkeiten von sprachlichen und visuellen Formen im Film nicht erfassen lassen. Reitz/Kluge/Reinke legen ihrem Ansatz im Gegensatz dazu eine denkbar simple Prämisse zugrunde: Worte können auf hundertfache Weise mit dem Film in Verbindung treten. Vom Film gibt es die vielfältigsten Vorstellungen. Für jede dieser Vorstellungen, für jede Art des literarischen Ausdrucks wird sich die Frage anders stellen und anders beantworten lassen. (WF 1016)
Trotz des Insistierens auf der Vielfältigkeit der Verknüpfungsmöglichkeiten gilt das Interesse der Autoren in der Folge vor allem normabweichenden Auffälligkeiten im Verhältnis von Sprache und Film. Ihr Aufsatz ist letztlich ein Plädoyer für die filmischen Möglichkeiten, die sich aus einer durch redundante und asynchrone Verknüpfungsformen von Bild und Sprache ausgelösten Entautomatisierung der filmischen Wahrnehmung ergeben können. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zur Differenz filmischer und literarischer Erzählweisen, wenden sich Reitz/Kluge/Reinke im vierten Abschnitt ihres Textes systematisch dem Verhältnis von Sprache und Bild zu und benennen hierbei als Primärunterscheidung drei verschiedene Kombinationsmöglichkeiten verbaler und visueller Formen im Film: Für die Verbindung von Wort und Bild im Film gibt es keine festen Regeln. Man kann grob Dialogformen, Kommentarformen und freie Verbindungen von Wort und Bild unterscheiden. (WF 1022)
Während der dritte Typus, der freie Einsatz des Wortes im Film, verstanden als »die vom Bildgeschehen abgehobene Sprache, die offenkundig das Bild begleitet und einfärbt, aber keiner subjektiven und objektiven Perspektive des Filmes entspringt« (WF 1024), bereits per definitionem auf einer nichtdiegetischen Verwendung von Sprache im Film basiert, gehen Reitz/Kluge/Reinke bei den ersten beiden Typen jeweils von der Unterscheidung zwischen konventionellen und innovativen Formen sprachlich-visueller Interaktion aus. Der avantgardistische Gestus der Abgrenzung gegenüber einer rein kommerziell ausgerichteten Filmbranche, die strikt an etablierten Schemata fiktiven und dokumentarischen Erzählens festhält, ist in jedem Absatz des Aufsatzes, der als einer der Schlüsseltexte des >Neuen Deutschen Films< gewertet werden kann,
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spürbar. Die drei Autoren repräsentieren eine junge Filmemacher-Generation, die eine als defizitär empfundene Filmpraxis mit dem aus ihrer Sicht bislang nicht hinreichend ausgeschöpften Formenreichtum des Mediums Film konfrontiert. Intermediale Reibung erweist sich hierbei als wesentlicher Faktor für einen filmästhetischen Neuansatz, der maßgeblich auf eine Dekonstruktion habitualisierter Wahrnehmungsformen ausgerichtet ist. Der Dialog ist für Reitz/Kluge/ Reinke als Ausdrucksmittel des Spielfilms am stärksten diegetischen Zwängen unterworfen: »Sprache und Bild stehen [... ] gleichermaßen unter Handlungszwang.« (WF 1022) Seine Wirkung kann der Dialog im Film erschöpfend aber erst dann entfalten, so die zentrale These, wenn er nicht mehr ausschließlich für natTative Zwecke funktionalisiert wird. Erst durch die Verlagenmg der Handlung in den Bildteil könne der Dialog zu einer eigenständigen filmischliterarischen Differenzform werden. Ein Idealfall wäre, »daß der Dialog, der für die filmische Darstellung und den Handlungstransport nicht mehr gebraucht wird, frei wird zur Entfaltung von Gedanken« (WF 1023). Als filmhistorische Beispiele für innovative Dialogtechniken werden Arbeiten von Antonioni, Godard und Malle angeführt. Werden Dialoge darüber hinaus asynchron mit dem Bild verlmüpft, dh vollkommen aus dem Handlungszusammenhang herausgelöst, dann kann sich der Filmdialog dem Typus der freien Verknüpfung von Wort und Bild bis zur Deckungsgleichheit annähern. Der zweite basale Verknüpfw1gstyp, der Kommentar, wird von Reitz/ Kluge/Reinke zunächst von seiner genrespezifischen Bindung an den Dokumentarfilm gelöst. Der das Bild begleitende bzw. überlagemde (Off-)Kommentar gehöre ebenso zum Formenrepertoire des Spielfilms wie des Dokumentarfilms, sei also keineswegs, wie üblicherweise vorausgesetzt wird, dem Sektor des Dokumentarischen vorbehalten. Darüber hinaus stellen die Autoren dem Kommentar, der eine notwendige Erläuterung liefert, ohne die das Bild nicht verständlich wäre, den redundanten Kommentar gegenüber, der sprachlich lediglich wiedergibt, was das Bild bereits zeigt, und somit zu einer sprachlich-visuellen Verdoppelung der Information führt. Die Wahrnehmung von Handlung ist jeweils anders, ob man sie durch Kommentar oder im Bild beschreibt. Durch die doppelspurige Beschreibung kann eine Intensivierung und wechselseitige Verfremdung erreicht werden, die sowohl den sprachlichen wie den bildliehen Ausdruck erst bemerkbar macht. (WF 1023-1024)
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Was für den Dialog gesagt wurde, gilt somit auch für den Kommentar: Indem die Sprache im Film von inhaltlichen Zwängen befreit wird, kann sie gegenüber dem Bild als eigenständige mediale Form wahrgenommen werden. Es ist hierbei letztlich gleichgültig, ob die spürbare Wirkung medialer Differenz durch Asynchronität oder Redundanz erzeugt wird. Immer gilt: Je autonomer die Sprache im Film eingesetzt wird, umso weitreichender sind ihre Wirkungsmöglichkeiten. Durch konsequente Ausnutzung der Bruchstellen »zwischen den literarischen, visuellen und akustischen Komponenten« können »Ausdruckseinheiten entstehen, ohne daß die einzelnen Faktoren permanent unter Sinnzwang stehen« (WF 1024-1 025). In diesem Punkt kongruiert die zentrale These von Reitz/ Kluge/Reinke mit Paechs Ansatz. Sprache erhält im Film den Status einer intermedialen Differenzform, wenn sie ihren eigenen Rhythmus beibehalten kann, der dann mit dem Rhythmus der Bilder konfrontiert wird. Geht die Sprache im Film nicht in der Diegese auf, kommt es also durch verbale Interventionen zu Störungen und Brüchen im Bilderfluss des Films, dann werden in den Momenten des Zusammentreffens distinkter medialer Formen jeweils die »Formen ihrer Medien erkennbar und >lesbar«< (Paech 2002c: 303). Während sich Paechs Thesen zur Intermedialität von Literatur und Film primär auf die Verwendung von Schriftsprache im Film beziehen, markiert das Verhältnis von Schrift und Film im Rahmen des Aufsatzes von Reitz/Kluge/Reinke einen »Sonderfall« (WF 1024). Als Ausgangspunkt der Überlegungen zum möglichen Funktionsspektrum von Schrift im medialen Kontext des Films dient ein knapper Rekurs auf die Tradition des Zwischentitels im Stummfilm. In der Frühphase des Films war die Schrift ein Ersatz für den fehlenden Ton. Einmontierte Lesetexte waren die einzige Möglichkeit, »Bild mit Sprache zu konfrontieren« (WF 1024). Filmhistorisch hat die Schrift somit als handlungserläuterndes bzw. handlungsergänzendes Ausdrucksmittel des Films eine längere Tradition als die gesprochene Sprache. Demgegenüber besteht bei einem Lesetext in einem Tonfilm die »besondere Wirkung in seiner Stummheit« (WF 1024). Im Tonfilm wandelt sich der geschriebene Text, sieht man von den paratextuellen Vor- und Nachspanntiteln ab, von einem subsidiären zu einem autonomen filmischen AusdrucksmitteL 52 Gerade im Kontrast zu den gesprochenen Dialogen und Off-Kommentaren kann der Lesetext seine Wirkung entfalten. Reitz/Kluge/Reinke betonen wiederum die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten von Schrift im Film: Texttafeln können zwischen Bilder montiert werden, Schriftzüge können Bilder überlagern oder sie können ein intradiegetisches Element eines Bildes 52 Vgl. zur Unterscheidung zwischen einer subsidiären, diegetischen und autonomen Verwendung von Schrift im Film Friedrich/ Jung (2002: 10-11 ).
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sein (z.B. Reklametafeln, Schilder, Bücher), Schrift kann das Bild schließlich gänzlich verdrängen. Durch den Einsatz von Schrift wird die mediale Differenz zwischen Sprache und Bild noch stärker akzentuiert. Die Sprache des Titels, die sich keiner bestimmten Stimme bedient und sich insofern nur schwer mit handelnden Personen verbinden läßt, hebt sich weiter vom Filmgeschehen ab als die möglichen Formen des gesprochenen Kommentars. Sie hat damit ihre Domäne in einer literarischen Form der Sprache. (WF 1024) 53
Extradiegetische Lesetexte, die, indem sie den Bilderfluss des Films unterbrechen oder überlagern, als Fremdkörper in den filmischen Rezeptionsprozess eindringen, dienen der »Aktivierung des Zuschauers« (WF 1024). Sie provozieren die von Kluge gewünschte Entautomatisierung der Wahrnehmung: »Die innere lesende Stimme des Zuschauers überlagert sich dabei mit dem Filmgeschehen.« (WF 1024) Zwischentitel füllen die Bruchstellen zwischen den Bildern und schaffen gleichzeitig durch den Wort-Bild-Kontrast neue Zwischenräume. Es geht Reitz/Kluge/Reinke in Wort und Film weniger um normative Regeln für den Einsatz von Sprache/Schrift im Film. Der Aufsatz kann vielmehr als Plädoyer für mehr intermediale Reibung im Verhältnis von Sprache und Bild im Film gelesen werden. Erst wenn der Sprache im Film gegenüber dem Bild ihr Status als eigenständige mediale Form belassen wird, kann sie als intermediales Bindeglied zwischen Film und Literatur fungieren. Der Film erhält dann durch extradiegetische sprachliche Formen ein größeres Abstraktionspotential, und die Sprache im Film kann umgekehrt »auf einige ihrer literarischen Fesseln verzichten« (WF 1021), d.h., der mediale Rahmen des Films kann im Idealfall Freiraum für intermediale Text-Bild-Experimente schaffen.
3.6.2 Zur Funktion des Drehbuchs: Kluges Anti-Drehbuchtheorie Wenn Kluge in einem Interview knapp und prägnant sagt: »Ich schreibe keine Drehbücher« (Bitomsky et al. 1979: 519), dann darf man diese Äußerung auf keinen Fall zu wörtlich nehmen. Sie fügt sich in eine ganze 53 Anfang der 80er Jahre nimmt Kluge die These des Zwischentitels als literarische Form wieder zurück und betont demgegenüber die Bildhaftigkeit des Zwischentitels im Film. Vgl. Lewandowski/Kluge (1980: 33): »Die Titel sind im Grunde im Film ihrerseits Bilder, Bewegung." Das Problem der Bildhaftigkeit von Texten und der Textualität von Bildern, das zu den zentralen Fragestellungen der gegenwärtigen lntermedialitätsdiskussion gehört, wird von Kluge allerdings nicht weiter vertieft.
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Reihe von Formulierungen, die von einer Skepsis gegenüber den produktiven Möglichkeiten der Textgattung Drehbuch innerhalb eines umfassenderen filmischen Produktionsprozesses zeugen. Bereits in einem früheren Gespräch mit Ulrich Gregor zeichnet sich Kluges ablehnende Grundhaltung gegenüber präfilmischer Textarbeit deutlich ab: »Es kann das gar nicht geben, daß man vorher am Schreibtisch festlegt, was man drehen will.« (Gregor/Kluge 1976: 156) Eine Liste aus Zitaten mit vergleichbaren Negativ-Äußerungen ließe sich beliebig verlängern. Immer wieder betont Kluge den defizitären Charakter filmvorbereitender Texte54 und knüpft damit an die Tradition verschiedener kinematographischer Avantgardeströmungen an, die dem Drehbuch (oder allgemeiner: Szenarium) als >Vor-Schrift< 55 für die Filmherstellung eine deutliche Absage erteilen. 56 Sofern die verstreuten und häufig nur marginalen Anmerkungen zu Grenzen und Möglichkeiten des Drehbuchs im filmischen Produktionsprozess überhaupt mit dem Etikett Theorie bzw. Theorieansatz versehen werden können, so erscheint Kluges Entwurf einer Drehbuchtheorie zunächst eher als eine Art Anti-Drehbuchtheorie. Diese Beobachtung verwundert angesichts eines Autors, der in seinen Arbeiten immer wieder konsequent auf die Wechselbeziehungen zwischen Film und Literatur gesetzt hat. Die Vielzahl an veröffentlichten Prosatexten, die durch die Gattungsbezeichnungen »Drehbuch« (AG 3), »Drehvorlage« (AZ 5), »Spielfilm-Entwurf« (GS 8) oder »Drehbuchentwurf« (PA 275) gekennzeichnet sind, steht zu einer generellen Absage an die Gattung Drehbuch im krassen Widerspruch. Lässt sich der Gegensatz zwischen dieser regen Produktion präfilmischer Texte und der geäußerten Skepsis gegenüber ebenjener Textgattung auflösen? Um den Mythos oder vielmehr das in der Praxis nicht immer umsetzbare Ideal des drehbuchlosen Autorenfilms zu relativieren, ist ein zweiter, differenzierterer Blick auf Kluges Kommentare zur Textgattung Drehbuch erforderlich. 54 Vgl. BUF (84): ··Eine Reihe von Qualitäten, z.B. die Musik eines Films, die Montagebewegung, die Glücksfälle während der Dreharbeiten (eben: die Bewegung im Film) sind in der Drehbuchform meist gar nicht darzustellen. « 55 Paech (1994e: 24) versteht den Begriff •Vor-Schriften' " zeitlich, räumlich und im ordnenden Sinne« Vgl. auch Paech (1989: 7-12). Zum Begriff Szenarium, der neben dem Drehbuch auch andere Vorstufen wie Expose oder Treatment umfasst: Paech (1997a: 105). 56 Es finden sich in deren Schriften z.T. ganz ähnliche Formulierungen wie bei Kluge. Rene Clair schreibt 1925: "Es gibt keinen Film auf dem Papier. Auch der detaillierteste Produktionsplan kann nicht alle Nuancen der Ausführung, wie Kameraeinstellung, Beleuchtung, Anwendung der Blenden, Gebärden und Mienenspiel vorsehen. Ein Film existiert nur auf der Leinwand.« (Clair 1995: 76-77) Vergleichbare Äußerungen finden sich bei Vertov (•Kinoglaz, ), Dulac (•cinema purUmweg< über den Text kein ästhetisches Potential abgewinnen könne. Seine Drehbuchkritik ist aus der Perspektive des Autorenfilmers formuliert, der den Möglichkeiten der Kamera und der späteren Montage des Materials mehr vertraut als der Präfiguration des Stoffs durch einen filmvorbereitenden Text. Ähnlich wie bei Godard lässt sich Kluges Ansatz als Filmemacher durch eine besondere Affinität zur Schrift und zum Schreiben und einem gleichzeitigen Misstrauen gegenüber den >Vor-Schriften< eines Drehbuchs charakterisieren. Ein starres Drehbuch ist für sich genommen aus Kluges Sicht »keine adäquate Vorbereitung auf den Film, da es den wichtigsten Teil des Films nur literarisch behandeln kann, ein Werk aber bei der Arbeit und nicht vor der Arbeit entsteht« (UF 1139). Und trotzdem ist Filmemachen für Kluge nicht ohne Schreiben denkbar. Das >Probehandeln in Form von Texten< muss jedoch völlig gattungsurrspezifisch aufgefasst werden, d.h., es ist nicht an eine durch zahlreiche Regelpoetiken nor-
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mierte Textgattung Drehbuch gebunden. 59 Texte jeglicher Art können und sollen die konkrete Arbeit mit dem Filmmaterial ergänzen, neue Perspektiven eröffnen, Themen ausloten, Begriffe erproben, dürfen aber umgekehrt den eigentlichen Prozess des Drehens nicht durch starre Festlegungen im Vorfeld restringieren. Das schließt, ganz im Sinne des oben skizzierten >Umgangs mit Rohstoffenshooting scripts< hin ausgerichtet. Das Drehbuch hat für Kluge nur einen Wert, wenn es nicht als eine in sich geschlossene, die spätere Arbeit am Film (Kameraeinstellung, Montage etc.) weitgehend antizipierende Textgattung angesehen wird. Seine Vorstellung von einem Drehbuch als »Arbeitshypothese« (PA 285) schließt die Fixierung auf einen einzelnen Text aus: Dann sind aber viele Drehbücher, Arbeitshypothesen für die verschiedenen Szenen, Aspekte und Ansätze eines Films nötig. Filme, die den Filmemacher nicht mehr überraschen, werden im Zweifel immer schlechte Filme sein. Sie werden auch den Zuschauer nicht überraschen. (PA 285, i.O. fett)
In seinem Buch zum Film Gelegenheitsarbeit einer Sklavin führt Kluge systematisch vor, welche Entwicklungsstufen und Entwurffassungen das Filmprojekt bis zum fertigen Film durchlaufen hat. Entscheidend ist hierbei, dass der Entwicklungsprozess (Genese) gegenüber dem fertigen Produkt (Resultat) deutlich aufgewertet wird. Kluge ist einer Auffassung von Arbeit verpflichtet, die von einer »grundsätzliche[n] Inkongruenz zwischen Prozeß und Resultat« (GE 102) ausgeht und das Endprodukt als »stillgestellte[n] Ausschnitt des Prozesses« (GE 100) betrachtet. 60 Er hebt immer wieder die Vielzahl von Arbeitsleistungen (Beobachtungen, Diskussionen, Recherchen, Textentwürfen, Filmexperimenten) während der Vorbereitung eines Filmprojekts hervor, die untrennbar mit dem
59 Anweisungen für das Verfassen von Drehbüchern gibt es bereits seit den 1Oer Jahren. Die Liste der Praxisratgeber, die eine ·Technik· des Drehbuchschreibens und das Geheimnis eines •guten· Drehbuchs vermitteln wollen, ist mittlerweile schier unüberschaubar geworden. Stellvertretend sei auf einen ·Klassiker• der Gattung verwiesen: Vale (1987). Weiterführende Literaturhinweise in Field et al. (1987: 221 -224); Sternberg (1996: 218-227). 60 Die Begriffsbestimmungen in Geschichte und Eigensinn sind ganz allgemein auf die Geschichte der Arbeitskraft bezogen, können aber auf den Kontext des filmischen Herstellungsprozesses übertragen werden. Vgl. ausführlich GE (100-104). Zur Kritik an der hier entwickelten Auffassung des Verhältnisses von Genese und Resultat Rother (1990: 66-75).
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Endprodukt verbunden sind und - unabhängig von ihrer medialen Form/ulierung - einen ästhetischen Eigenwert aufweisen. Erst die Gesamtheit des Materials bildet für Kluge einen Zusammenhang und konstituiert die Einheit eines Filmprojekts, das niemals in der Endfassung eines Films vollständig aufgeht. Faßt man alle Entwürfe und den fertigen Film zusammen als den Stoff oder das Drehbuch auf, so ist die Geschichte einer Filmherstellung (mit begrenzten Mitteln) eine permanente Drehbuchabweichung [.] (GS 18)
Die Abweichung von der Textvorlage, sofern überhaupt eine existiert, wird von Kluge zum eigentlichen Motor des filmischen Herstellungsprozesses erklärt. Filmen bedeutet für ihn nicht eine möglichst adäquate >Verfilmung< einer Drehbuchvorlage. Die filmische Umsetzung von Entwürfen und schriftlichen Vorarbeiten wird vielmehr durch die Konfrontation des Materials mit der Realität beeinflusst und nachhaltig geprägt. Beim Film kann »eine falsche Drehbuchvorstellung von einem Vorgang durch diesen selbst während des Drehens dementiert« werden; es kommt zu Umkehrungen und Abweichungen, »weil einfach die Wirklichkeit, die man abbildet, gegenhält.«61 Eine schriftlich fixierte Idee und die realen Verhältnisse bilden Gegenpole, an denen sich der Filmemacher abarbeiten muss. Die dabei entstehende Reibung macht für Kluge die eigentliche Besonderheit filmischer Arbeit aus. Kluges These der >permanenten Drehbuchabweichung< beinhaltet gleichzeitig eine deutliche Erweiterung des Drehbuchbegriffs selbst. Die Bezeichnung Drehbuch verweist nicht mehr zwingend auf einen schriftsprachlichen Text. Sie umfasst sämtliche Vorstadien der Filmherstellung -ganz losgelöst von der Frage, in welcher medialen Form die jeweiligen Entwurffassungen vorliegen. In diesem Sinne können auch Filme als »mit Filmmaterial hergestellte Drehbücher«, als »Entwürfe, nach denen man, mit anderen ökonomischen Mitteln, hätte Filme machen können« 62 ,
61 Beide Zitate aus Grafe/Patalas/Kluge (1966: 491 ). Das kann so weit gehen, dass ein Drehbuch im fertigen Film kaum noch wiederzuerkennen ist. Vgl. z.B. Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. - Es ist in diesem Zusammenhang erforderlich anzumerken, dass Drehbuchabweichungen bei nahezu jeder Filmproduktion vorkommen. Gerade bei kommerziellen Filmen ist ein Drehbuchtext bis zur endgültigen Filmfassung zahlreichen Kürzungen, Streichungen und Änderungen ausgesetzt, die ausgehend von technischen, ökonomischen und ästhetischen Erwägungen vorgenommen werden. Der Unterschied besteht darin, dass Kluge konsequent auf ein Realismuskonzept setzt, das den Wirklichkeitsbezug zum Maßstab jeder filmischen Entscheidung macht. 62 Gregor/Kluge (1976: 174). Sämtliche Lang- und Kurzfilme außer Abschied von gestern und Der starke Ferdinand bezeichnet Kluge in diesem Interview als »mit filmischen Mitteln hergestellt[e]" (ebd.) Drehbücher.
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bezeichnet werden. Kluge geht davon aus, dass jeder Film »als nichtverbales Drehbuch Entwicklungsprodukt« (BUF 237) für weitere Filme sein kann. Das kostengünstige Medium Video erhält in diesem Zusammenhang eine gesteigerte Bedeutung und tritt in unmittelbare Konkurrenz zu schriftsprachlichen Entwürfen für einen Film: »Video kann Drehbücher ersetzen oder ergänzen.« (BUF 185) Die Bezeichnung Drehbuch dient somit nicht mehr als Markierung eines medial spezifizierten Gattungsbegriffs, sondern verweist ganz allgemein auf den intermedialen Herstellungsprozess eines Films. Die Maxime vom »Film ohne Drehbuch« (PA 284) bedeutet bei Kluge keinen generellen Verzicht auf präfilmische Texte. Was Kluge ablehnt, ist ein konventioneller Drehbuchbegriff, der den »Textstatus des Drehbuchs« ausschließlich an der »Lesbarkeit aller Anweisungen im Hinblick auf den intendierten Film« (Kanzog 2000: 406) festmacht. Das heißt aber keineswegs, dass literarische Formen nicht als Kontrastfolie für filmische Formen dienen können. Wie für das Wechselverhältnis von Sprache und Bild im Film gilt auch für das (schriftsprachliche) Drehbuch: Kluge setzt ganz entschieden auf die mediale Differenz zwischen Film und Literatur. >Schreiben für den Film< und >Filmen< werden als zwei relativ autonome Arbeitsprozesse gesehen, bei denen sich im Idealfall intermediale Interferenzen ergeben können, die aber in keinem unilateralen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen.
3. 7 Zusammenfassung: Kluges Plädoyer für intermediale Audrucksformen Das Phänomen der Intermedialität spielt für Kluges poetologischen Gesamtansatz sowohl aus medienästhetischer als auch aus medienpolitischer Perspektive eine zentrale Rolle. Kluges >Grenzgängertum< stellt eine permanente Suchbewegung nach neuen Ausdrucksformen in den Bereichen zwischen den etablierten Medien und Gattungen dar. Sich überschneidende bzw. ergänzende intermediale und intertextuelle Verfahrensweisen dienen hierbei vorrangig dem Zweck, der mit traditionellen Erzählweisen einhergehenden Komplexitätsreduktion der Wahrnehmung entgegenzuwirken. Konsequent lotet Kluge mit seinen medienübergreifenden Projekten die >Räume< zwischen den Bildern, zwischen den Texten sowie zwischen Texten und Bildern aus, indem er »regelmäßig und bedenkenlos Ideen und Materialien nicht nur in wechselnden inhaltlichen Kontexten einsetzt, sondern eben auch zwischen den Medien verschiebt« (Uecker 2002: 87). Er möchte mit Text-, Medien- und Gattungsgrenzen durchbrechenden Erzählstrategien die größtmögliche Berührungsfläche
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PLÄDOYER FÜR INTERMEDIALE AUSDRUCKSFORMEN
mit der Wirklichkeit schaffen. Die >Lesbarmachung der Welt< erfordert hierbei unablässig neue intra- und intermediale Transkriptionsprozesse. Erzählen bedeutet für Kluge immer eine »Darstellung von Differenzen« (Rack/Kluge 2001: 84) - und das schließt die Darstellung medialer Differenzen mit ein. Verschiedentlich hat Kluge in Gesprächen über seinen erzähltheoretischen Ansatz die dem Zürcher Dada-Programm entnommene Arbeitsanweisung: »Mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern« als sein »ästhetisches Ideal« (Reitz/Kluge 1995: 84) bezeichnet. Das skurrile Gedankenspiel des »Cross-Mapping[s]« (Combrink/Kluge 2004: 2) lässt sich hierbei sowohl auf das Phänomen der Intertextualität als auch auf das der Intermedialität übertragen: »Zwei Karten, die nicht zueinander passen, werden aufeinandergelegt, und aus der Irritation können neue Einsichten entstehen.« (Combrink/Kluge 2004: 2) Kluges Poetik des Dazwischen basiert - das gehört zu den zentralen Gedanken all seiner film-, erzähl- und medientheoretischen Texte - maßgeblich auf der Generierung und Verarbeitung solcher Differenzerfahrungen. Der zweite Gesichtspunkt, unter dem Intermedialität in Kluges theoretischen Überlegungen eine Rolle spielt, ist eher strategischer Natur. Es geht um das Problem der Medienkonkurrenz. Anknüpfend an medienkulturkritische Positionen wird der zunehmende Einfluss der so genannten >Neuen Medien< 63 als Gefahr für den Erfahrungsreichtum einer auf traditionelle Medien setzenden klassischen Öffentlichkeit angesehen. Mit jedem neuen Medium, mit jedem neuen Bilderflut-Programm, mit jedem ·Mehr, wird etwas beschnitten. Mit dieser Entwicklung sind wir nicht einverstanden. (BUF 6)
Vor allem durch den in Öffentlichkeit und Erfahrung eingeführten und später immer wieder aufgegriffenen Begriff des Medienverbunds erhält das Phänomen der Intermedialität eine medienpolitische Dimension. 64 63 ln Bestandsaufnahme: Utopie Film wird der in Öffentlichkeit und Erfahrung eingeführte Begriff der fortgeschrittenen Medien durch den Begriff •Neue Medien< abgelöst. Es handelt sich in beiden Fällen um relationale Begriffe, die historisch variabel sind. Was jeweils unter •Neuen Medien< verstanden wird, ist an den konkreten medienhistorischen Kontext gebunden. Anfang der 80er Jahre bezieht sich der Begriff ·Neue Medien' bei Kluge in erster Linie auf den Prozess der zunehmenden Digitalisierung. Dass gerade die Bewertung einzelner Medien bei Kluge einem permanenten Wandel unterliegt, belegen aktuelle Pläne für ein interaktives Fernsehen: »Fernsehen in Verbindung mit Internet ist ein herrliches Instrument. Es kommt meiner Vorstellung von Öffentlichkeit und Erzählen sehr nahe. " (Weber /Kluge 2001: 3) 64 Durch dieses politische Verständnis des Begriffs, das vorrangig auf die institutionellen Verflechtungen der Medienkonzerne zielt, unterscheidet sich Kluge von Kittler (1986: 8), der den Begriff primär auf der Technik-Ebene ansetzt.
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Wechselwirkungen zwischen Medien geraten als unternehmerisches Prinzip in den Blick. Erst durch strategische Verknüpfungen verschiedener Trägertechnologien und Programmangebote- so die These von Negt/ Kluge - können die Massenmedien ihre umfassende Wirkung richtig entfalten. »Alle diese Programme sind untereinander verbunden, voneinander abhängig, antworten aufeinander, werben füreinander und werden einheitlich geplant.« (ÖE 227) Das Prinzip Medienverbund verschärft dabei zunehmend die Situation der Medienkonkurrenz. Die traditionellen Medien haben den komplexen Medienverbundsystemen, sofern sie nicht selbst darin aufgehen, wenig entgegenzusetzen. Das wird vor allem dann sehr deutlich, wenn man -wie Kluge - das Problem der Medienkonkurrenz unter zeitökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. »Der Konkurrenzkampf der Medien« stellt sich aus dieser Perspektive als eine »Eroberung der freien Zeiten« (BUF 96) des Zuschauers dar. Durch eine wirksame Vernetzung distinkter Medien wird der Zugriff auf »offene Zeitbudgets« (ebd.) erleichtert. Von den Gefahren, die den traditionellen Medien und speziell dem Film durch neue Medienverbundsysteme drohen, handelt nicht nur der filmtheoretische Band Bestandsaufnahme: Utopie Film, sondern auch der Film Der Angr!ff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Beide Projekte beschäftigen sich explizit mit der Frage, welcher Raum den traditionellen Medien für die Entfaltung einer wirksamen Gegenöffentlichkeit noch bleibt. Dass es hierfür keine einfache Patentlösung gibt, lässt der knapp 600-seitige Theorieband, der wie ein Schlussstrich das Ende des >Neuen Deutschen Films< markiert, deutlich erahnen. Die Hoffnung auf eine »Allianz der Bedrohten« (AG 14) bleibt jedoch bestehen. Und dass Kluge unabhängig davon, ob er als Autorenfilmer, Fernsehmacher oder Buchautor auftritt, kontinuierlich an seinem Programm weiterarbeitet, unterstreicht den Eindruck, dass es sich bei der >Utopie Film< letztlich immer schon um eine medienübergreifende >Utopie des Erzählens< gehandelt hat. Die Suche nach geeigneten Erzählformen, der Blick nach vorne, kommt hierbei ohne den Blick zurück nicht aus: »Die Utopie ist eine konservative Idee, die Suche nach einer Qualität, von der man unbestimmt weiß, daß es sie in der Vergangenheit schon einmal gab.« (UF 1144, vgl. MB 64) Kluge arbeitet seit fast vier Jahrzenten an dieser Utopie; er schafft als multi- bzw. intermedialer Autor erfolgreich medienübergreifende Netzwerke des Erzählens und stellt den Medienverbundsystemen der Großkonzerne so seinen ganz persönlichen Medienverbund aus Literatur, Film, Fernsehen und Theorie gegenüber.
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4.
ZWISCHEN FILM UND BUCH: INTERMEDIALE
UND INTERTEXTUELLE VERFAHREN IN KLUGES FILMISCH-LITERARISCHEM GESAMTPROJEKT
DIE PA TRIOTIN
4.1 Einführung: Die Patriotin als filmischliterarisches Gesamtprojekt Die Patriotin ist, rechnet man den deutlich durch Kluges Off-Kommentare und Beate Mainka-Jellinghaus' Montagetechnik geprägten Kooperationsfilm Deutschland im Herbst (1978) hinzu, Alexander Kluges neunter abendfüllender Spielfilm. Der zwischen Dezember 1977 und Dezember 1978 entstandene, teils in Farbe, teils in Schwarzweiß gedrehte Film (35mm unter Verwendung von 8mm, 16mm und Video) wird im Frühjahr und Juli 1979 nachbearbeitet und kommt am 20.9.1979 im Rahmen des Hamburger Filmfestes zur Uraufführung. 1 Er liegt in zwei verschiedenen Schnittfassungen vor. Neben der 121-minütigen End- oder Kinofassung des Films gibt es eine 89-minütige >UrfassungNeue Geschichten< enthält, entspricht sowohl im Hinblick auf die umfangreiche Ausstattung als auch auf den günstigen Originalpreis (4,90 DM) Kluges Vorstellungen von einem >GebrauchsbuchGesamtprojekts< in der Überschrift des Kapitels verdeutlicht, gehe ich nicht davon aus, dass zwischen Alexander Kluges Kinofilm Die Patriotin und dem gleichnamigen Buch ein unilaterales Abhängigkeitsverhältnis in dem Sinne besteht, dass das Buch lediglich als sekundäres Produkt, als eine Ergänzung oder ein Nachtrag zum Film zu sehen ist. 3 Meine Basisannahme lautet vielmehr, dass zwischen beiden Medienprodukten ein bidirektionales Wechselverhältnis besteht. Denn auch wenn das Buch, das sich bereits durch seine paratextueile Gestaltung eindeutig als >Buch zum Film< präsentiert, stärker durch die Koexistenz des Films geprägt wird als umgekehrt der Film durch seine literarische Variante, gilt: Weder Kluges Textliste zum Film noch die in dem umfangreichen Band versammelten Materialien gehen in ihrem Verweisungscharakter auf den Film gänzlich auf. In der vielschichtigen Reziprozität von Buch und Film zeigt sich ein für Kluge charakteristisches formales Verfahren. Seinem zentralen Thema, der deutschen Geschichte, nähert sich Kluge unter Verwendung verschiedener Mediensysteme. Intermediale Interferenzen steigern hierbei gerade durch die Differenz der Medien die Ausdrucksmöglichkeiten. Der Komplexität der Wirklichkeit versucht Kluge mit entsprechend komplexen Formen von Realitätsaneignung zu begegnen. Der Wunsch, den Fesseln traditioneller Erzählformen und -Strategien zu entkommen, und die permanente Suche nach neuen Ausdrucksformen führt Kluge zwangsläufig in mediale Zwischenräume, d.h. in die Grenzbereiche der Medien und der in diesen Medien etablierten Gattungen. Was letztlich für sein Gesamtwerk gilt, lässt sich anhand der Patriotin exemplarisch beobachten. Als Schriftsteller, Filmemacher und Theoretiker in Personalunion verbindet Kluge die unterschiedlichen Schaffensbereiche zu einem äußerst individuellen und originellen Ansatz. Völlig zu Recht hat Kar! Prümm ihn als intermedialen Autorpar excellence beschrieben (Prümm 1988: 200): Alexander Kluge verkörpert vielleicht am besten die Gleichzeitigkeit von Schreiben in wiederum vielfältigster Differenz, von Regiepraxis und theoreti-
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ln der Sekundärliteratur beziehen sich die Autorinnen und Autoren zumeist auf den Film, ·zitieren' diesen aber explizit über die Textliste des Buches. Das intermediale Wechselverhältnis zwischen Film und Buch wird hierbei nicht problematisiert. Vgl. z.B. Carp (1987: 43, Anm. 1); Rother (1990: 170, Anm. 190); Kaes (1985: 143, Anm. 6); Wenzel (2000b: 292, Anm. 91); Mieth (2003: 301, Anm. 279). Siehe hierzu auch Kapitel 4.1.1.
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scher Reflexion, die gerade aus dem notwendigen Rekurs auf verschiedene Zeichensysteme, aus der produktiven Reibung an medialen Varianten, am Geschäft des medialen Transfers ihre für diesen Autor so spezifische Schärfe, Intensität und Überzeugungskraft erlangt.
Film und Buch können im Fall von Die Patriotin als zwei interagierende, aber gleichzeitig auch autonome Komponenten eines medienübergreifenden Gesamtprojekts betrachtet werden. Die Vermischung und Kontrastierung von filmischen und literarischen Formen kann- besonders im Idealfall einer parallelen, vergleichenden Lektüre - zu synästhetischen Wechselwirkungen und somit zu einer Intensivierung der Rezeptionserfahrung flihren. 4 Das Verhältnis von Film und Buch verstehe ich als eine Form intermedialen Wieder-, Weiter- und Umschreibens, als einen spezifischen Typ intermedialer Transkriptivität, bei dem sich >»Lesbarkeit< nur im Zuge der wechselseitigen Bezugnahme einstellt« (Jäger 2004: 74). Mit anderen Worten: Zwischen Film und Buch besteht kein hierarchisches Beziehungsverhältnis; es geht nicht darum, dass das so genannte >Buch zum Film< >Unlesbare< audiovisuelle Texturen in >lesbare< schtiftliche Texturen überführt. Im Anschluss an Ludwig Jäger werden >Lesbarkeit< und >Unlesbarkeit< als dynamische Attribute, »die nur relativ zu bestimmten kommunikativen Situationen zugeschrieben werden dürfen« (Jäger 2004: 73), aufgefasst. Das komplexe Wechselspiel der verschiedenen medialen Komponenten des Film-Buch-Projektes Die Patriotin deutet auf »einen oszillierenden Typus wechselseitigen Kommentierens, in dem sich der semantische Effekt dem iterativen Wechsel der Transkriptionsfunktion zwischen den symbolischen Texturen verdankt.« (Jäger 2004: 74) Anhand des >Filmbuches< lässt sich detailliert beobachten, wie Kluge, vermittelt über eine die Mediendifferenz explizit reflektierende Inszenierung des Paratextes, über die Text-Bild-Differenz und eine gezielte Variation verschiedener filmisch-literarischer Transkriptionstechniken, die Unterscheidung zwischen medialer Selbstreferenz (Buch) und Fremdreferenz (Film) handhabt. Der ästhetische Eigenwert des Filmbuches ergibt sich vor allem aus dem Modus der Formulierung bzw. Prozessierung intermedialer Differenzen. Die Frage, ob es sich bei den im Filmbuch enthaltenen Texten - gemessen an den tatsächlichen Produktionsabläufen - um Vor- oder Nach-Schriften, um prä-, peri- oder postfilmische Texte handelt, erweist sich hierbei zunächst als völlig sekundär. Entscheidender ist vielmehr der Umstand, dass der Film nicht nur durch abgedruckte Fotogramme, durch die Textliste und eindeutig auf den Film bezogene Metatexte >ins Buch gebracht wirdBuch zum Film< grundlegende Frage gilt letztlich auch für jede wissenschaftliche Filmanalyse: »Wie bringen wir [...] Film ins Buch?« (Stanitzek 2002: 10) Kluge selbst hebt dieses Problem deutlich hervor, wenn er in der Einleitung der Parriotin darauf hinweist, dass die abgedruckten Fotogramme in seinem Buch »nicht-identisch« (PA 7) seien mit den farbigen und bewegten Bildern im Film. Für die Filmanalyse ergeben sich über dieses generelle Problem hinaus weitere praktische Schwierigkeiten: Wie kann ich mich in meinem Text präzise auf ein Bilddetail, eine Einstellung, eine Montage oder einen größeren Handlungszusammenhang (Szene, Sequenz) beziehen? Kann ich aus einem Film zitieren und wie weise ich dieses Zitat nach? 5 Als hilfreich und gleichzeitig methodisch problematisch erweist sich im Fall von Kluges Parriotin die Möglichkeit des Rückgriffs auf die im Filmbuch enthaltene ausführliche Textliste. Wie eingangs bereits erwähnt (Anm. 4), dient in der Sekundärliteratur zu Kluges Film die Textliste fast durchgängig als Hilfsmittel für die Analyse: Geschrieben wird über den Film, indem die Textliste zitiert wird. Die Mediendifferenz zwischen Buch und Film bzw. zwischen Text, Fotogramm und den bewegten Filmbildern auf der Leinwand (oder dem Femsehmonitor) wird hierbei fast gänzlich verwischt. 6 Problematischer als die marginalen Detailfehler, die sich gelegentlich aus nicht berücksichtigten Abweichungen zwischen Textliste und Film ergeben/ erscheint mir die generelle Nichtbeachtung der Differenz zwischen
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Die Frage nach Notations- und Protokollierungsmöglichkeiten, d.h. nach der Zitierbarkeit von Filmen, hat sich wissenschaftsgeschichtlich für die disziplinäre Etablierung der Film- und Fernsehanalyse von Anfang an als zentral erwiesen . Nachprüfbarkeit und Kommunizierbarkeit haben im wissenschaftlichen Diskurs oberste Priorität, "exakt zu dokumentieren und zu zitieren«, gehört zur "einfachsten Verpflichtung wissenschaftlichen Arbeitens" (Faulstich 1988: 17). Vgl. hierzu auch Hickethier (1993: 36-38). - Die maßgeblich von Klaus Kanzog vertretene ·Filmphilologie' ernennt die »Reliterarisierung filmischer Eindrücke« bzw. "die angemessene ·Rede über Filme"' (Kanzog 1991: 11 u. 7) zu ihrem eigentlichen Gegenstand. Ausnahmen lassen sich nur ganz vereinzelt finden. So analysiert z.B. Rainer Rother den Schlusskommentar des Films im Hinblick auf eine durch die Interpunktion markierte semantische Abweichung zwischen dem gesprochenen Off-Kommentar im Film und der korrespondierenden Textstelle in Kluges Filmbuch (Rother 1990: 94). Stefanie Carp geht bspw. in ihrer ansonsten hervorragenden Arbeit bei der Beschreibung einer Montagefolge fälschlicherweise davon aus, dass die VII. Sequenz des Films durch ein Schriftinsert abgeschlossen wird, das zwar in Kluges Textliste an ebendieser Stelle als Abbildung in den Text eingefügt wird
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den verschiedenen medialen Ausdrucksformen, die dafür verantwortlich ist, dass in den meisten Iiteratur- oder filmwissenschaftliehen Untersuchungen zur Patriotin die Frage nach den materialen Voraussetzungen medialer Sinnkonstitution gar nicht erst in den Blick gerät. Indem die Textliste und der Film ohne Rücksicht auf deren mediale Spezifik schlicht identifiziert werden, ist weder das literarische noch das filmische Medium für die Analyse erreichbar. Es entsteht eine paradoxe Situation, die unmittelbar aus der Nichtunterscheidung zwischen Prätext, Skript und Transkript resultiert. Gerade dann, wenn die Textliste im Rahmen der Filmanalyse dem Film untergeordnet und so zu einem sekundären Hilfsmittel ohne literarischen Eigenwert degradiert wird, drehen sich genau in dem Moment, in dem der Zugriff auf den Film primär über dieses Hilfsmittel erfolgt, die Hierarchieverhältnisse augenblicklich wieder um. Je weniger die Textliste als autonomes Produkt wahrgenommen wird, desto stärker wirkt sie auf die Filmanalyse zurück. Die eigene Filmlektüre wird gesteuert bzw. gefiltert durch die Textliste, die ja ihrerseits nichts anderes als das schriftlich fixierte Ergebnis einer zwar >autorisiertenMedienvergessenheit< bei einer primär thematisch-inhaltlich interessierten Analyse, die sich bspw. mit Kluges Geschichtsbegriff beschäftigt, bis zu einem gewissen Grad methodisch durchaus vertretbar ist, kann sich eine Analyse, die auf intermediale Fragestellungen zielt, gerade diese Ungenauigkeit nicht leisten. Wenn die mediale Differenz zwischen filmischen und literarischen Ausdrucksformen den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung ausmacht, muss zwingend nach alternativen Hilfskonstruktionen, die den Film >zitierbar< machen, gesucht werden. Es bietet sich hierbei an, auf das in der
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(PA 129), im Film aber erst sehr viel später (Sequenz XII) erscheint (Carp 1987: 59). Vgl. zu diesem Fehler auch Schulte (2000b: 57). Immer wieder ist zu beobachten, dass bei der Beschreibung einzelner Einstellungen des Films Formulierungen aus der Textliste ganz selbstverständlich übernommen werden - teilweise, ohne diese Übernahmen klar als Zitate zu kennzeichnen. (Vgl. z.B. Carp 1987: 54: »Totenvögel sitzen auf den Bäumen eines Märchenwaldes.«) Und auch in Stephanie Carps Filmprotokoll werden in der Spalte ·Bildinhalt' Kluges Formulierungen aus der Textliste entweder wörtlich übertragen oder lediglich geringfügig variiert. Vgl. Carp (1983: 8283) und PA (50-58).
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Filmwissenschaft etablierte Verfahren der Filmprotokollierung zurückzugreifen. Mit anderen Worten: Es gilt zunächst unabhängig von Kluges Textliste ein eigenes, an wissenschaftlichen Erfordernissen ausgerichtetes Filmtranskript zu erstellen. Im Rahmen der Filmanalyse wurden in den letzten Jahren die verschiedensten Transkriptionstechniken entwickelt und erprobt, die jeweils dazu dienen, einen Film zu segmentieren und gleichzeitig »möglichst viele Informationen über den Film in sprachlicher Form zu sichern« (Mikos 2003: 87). Ausgehend von den zugrunde gelegten Segmentierungseinheiten wird üblicherweise zwischen Sequenz- und Einstellungsprotokollen unterschieden. Darüber hinaus können verschiedene Protokolltypen nach ihrem Informationsgehalt und nach der Form ihrer graphischen Aufarbeitung differenziert werden. 9 Die Zielsetzung eines umfassenden Einstellungsprotokolls besteht nach gängigen Definitionen darin, »jede auditive und visuelle Information [des zu analysierenden Films, Anm. AS] schriftlich festzuhalten« (Mikos 2003: 87). Das schließt präzise Bildbeschreibungen (Bildinhalt, Bildkomposition, Einstellungsgrößen, Kameraaktivitäten etc.) ebenso ein wie eine lückenlose Protokolliemng der Dialoge bzw. Off-Kommentare, der Geräusche und der Filmmusik. Da jedoch gleichzeitig weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass ein Filmprotokoll die eigentliche Filmanalyse nicht ersetzen kann, dass es sich nur um ein Hilfskonstrukt handelt, das unter Berücksichtigung eines effizienten Aufwand-Nutzen-Verhältnisses erarbeitet werden muss (vgl. Mikos 2003: 88-89; Hickethier 1993: 37 u. 39; Korte 2001: 32-33), habe ich mich für die Variante eines Einstellungsprotokolls mit deutlich reduziertem Informationsgehalt entschieden. Die beabsichtigte Analyse intermedialer und intertextueller Verfahren in Kluges Patriotin kann m.E. kaum auf einen konzentrierten Filmausschnitt beschränkt werden, erfordert aber andererseits auch keine minutiöse Protokolliemng sämtlicher filmischen Informationen. Die Zielsetzungen der Analyse waren somit ausschlaggebend für die Entscheidung, den gesamten Film zu protokollieren, sich dabei aber auf rudimentäre Bildbeschreibungen zu beschränken. Auf eine ausführliche Notiemng von Einstellungsgrößen und Kameraaktivitäten wurde bewusst verzichtet - ebenso auf eine Transkription der gesprochenen Dialoge und Kommentartexte. 10 Ein sekundenge-
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Siehe zu den verschiedenen Transkriptionstechniken Mikos (2003: 87-90); Hickethier (1993 : 36-40); Kanzog (1991 : 136-151). Helmut Karte weist neben dem Einstellungs- und Sequenzprotokoll auch auf ergänzende »Instrumente der Visualisierung filmischer Strukturen•• hin und erweitert damit die Perspektive auf Transkriptionen, die nicht zwingend auf schriftsprachliche Zeichen setzen (vgl. Karte 2001: 32-53, Zitat: 39). 10 Ein in dieser Hinsicht sehr detailliertes Einstellungsprotokoll hat Stefanie Carp für die erste Sequenz des Films erstellt (vgl. Carp 1983: 82-83).
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nauer Echtzeit-Timecode und die prägnante Kurzbeschreibung des Bildinhalts bzw. Bildcharakters sollen ein schnelles Auffinden und problemloses Identifizieren jeder der lmapp 800 Einstellungen des Films ermöglichen. Weitergehende Informationen (Bildgestaltung, Montage, Ton) werden nur vereinzelt vermerkt, sofern sie in einem relevanten Zusammenhang mit den basalen Fragestellungen der Analyse, d.h. im Wesentlichen mit der Suche nach filmischen Formen des Dazwischen, stehen. Abgerundet wird das Protokoll schließlich durch eine Seiten- und Szenenkonkordanz zur Textliste. Die Filmanalyse gewinnt durch den Einsatz eines Filmprotokolls an Präzision. Es wird möglich, sich in Bildbeschreibungen exakt auf einzelne Einstellungen des Films zu beziehen; alle Dialoge oder OffKommentare können unter Verweis auf die entsprechende Einstellungsnummer direkt aus dem Film zitiert werden. Die zeitgerraue Erfassung sämtlicher Einstellungen erleichtert qualitative und quantitative Aussagen über formale Eigenheiten einzelner Sequenzen oder Subsequenzen sowie über Einstellungslängen und Variationen der Schnittfrequenz, d.h. über das Tempo bzw. den Rhythmus des Films. Der im Hinblick auf die intermediale Problemstellung meiner Arbeit entscheidende Vorteil des Verfahrens besteht jedoch darin, dass die von Kluge erarbeitete Textliste des Films von ihrer Funktion als filmanalytisches Hilfsmittel befreit wird und somit zwar weiterhin primär unter dem Gesichtspunkt oszillierender, bidirektionaler Transkriptivität, aber zugleich auch als literarischer Text mit eigenen Qualitäten beobachtet und beschrieben werden kann. In theoretischer Hinsicht schärft ein Verfahren, das die Beobachtung transkriptiver Prozesse zwischen Film-Text und Filmtext seinerseits auf die Erstellung eines wissenschaftlichen Transkripts stützt, das »Bewußtsein für die basale transkriptive Dimension des eigenen wissenschaftlichen Tuns« (Kulturw. Forschungskolleg 2001: 31). Die Feststellung, dass Transkriptivität nicht nur einen zentralen Gegenstandsbereich, sondern gleichzeitig eine Grundvoraussetzung medien- und kulturwissenschaftlicher Forschung markiert, bedeutet einen wesentlichen Schritt im Bereich wissenschaftlicher Selbstreflexion bzw. -kontrolle (Kulturw. Forschungskolleg 2001: 31 ): Wissenschaften haben ihrerseits keine andere Möglichkeit, sich ihres Gegenstandes zu versichern, als auf dem Wege einer Anfertigung von Transkripten, also mittels eines Beobachtungstyps, der im Vollzug der Beobachtung den Gegenstand als wissenschaftsinternen Referenten erst hervorbringt.
Um die transkriptiven Sinngenerierungs-Prozesse in Kluges intermedialem Film-Buch-Projekt Die Patriotin einer angemessenen Beschreibung
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zuzuführen, erweisen sich wissenschaftliche Transkriptionsverfahren als unumgänglich. Entscheidend ist hierbei, dass die Unterscheidung zwischen transkribierenden und transkribierten Texturen, gerade weil es sich um einen rekursiven Prozess handelt, in dem »die Zuschreibbarkeit der Prädikate >lesbar< bzw. mnlesbar< allein vomjeweiligen Pegelstand transkriptiver Operationen ab[hängt]« (Jäger 2004: 74), nicht verwischt wird. Das Verhältnis zwischen Prätext, Skript, Transkript und Postskript darf auf keiner Ebene der Analyse als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern bedarf der permanenten Überprüfung und Hinterfragung.
4. 2 >Cinema impurArbeit an der deutschen Geschichte< erschöpft sich im Fall der Patriotin nicht nur in der »Darstellung einzelner geschichtlicher Momente und Phasen«, sondern zielt gleichzeitig auf die »Selbstreflexion von Geschichte im Medium der Geschichtsforschung und des Geschichtsunterrichts« (Voßkamp 1987: 266). Es geht nicht mehr nur um Momentaufnahmen deutscher Geschichte, um die Perspektive einzelner Figuren oder um Zusammenhänge zwischen konkreten historischen Ereignissen, sondern um den Begriff der Geschichte bzw. das Problem der Geschichtsschreibung selbst. Thematisch steht Die Patriotin, verknüpft durch das Motiv der >Arbeit an der deutschen GeschichteDeutsche Geschichte< bringt mit sich, dass, wie Anton Kaes es treffend formuliert, die » Einzelperspektive einer psychologisch-kausalen Story« zugunsten einer »Aufsplitterung und Desintegration des Erzählkontinuums« (Kaes 1985: 136) verabschiedet werden muss. Die Abkehr von konventionalisierten Formen des narrativen Kinos setzt Kluge, der von Filmemachern und Filmpublikum gleicherweise ein »Verlassen der Gartenwege« (PA 42) 17 fordert, in der Potriotin radikaler um als in all seinen vorherigen Langfilmen. Seine Vorstellung vom »Erzählkino« (PA 40) lmüpft an die Erzähltraditionen der frühen Filmgeschichte an und setzt auf den »Montage-Film« (PA 40). 18 Die zentrale erzähltechnische Maxime lautet bei Kluge formelhaft zugespitzt: »Der rote Faden drückt Erfahrung aus dem Film heraus.« (PA 41) Es wäre jedoch zu voreilig, ausgehend von dieser pointierten, sloganartigen Formulierung, die zunächst einmal ganz schlicht eine Abgrenzungsstrategie gegenüber populären Formen des Unterhaltungskinos markiert, Kluge im Hinblick auf die verwendeten filmischen Mittel Dogmatismus zu unterstellen. Die Verabschiedung des sprichwörtlichen >roten Fadens< bedeutet weder, dass Kluge auf >ErzählungGeschichtengroßen< Geschichtsereignisse Gefahr laufen, in Vergessenheit zu geraten. Diese Geschichten von Einzelschicksalen, von kuriosen Lebensläufen bilden die Rohstoffbasis sämtlicher literarischen und filmischen Arbeiten Kluges. Wie oben bereits angemerkt, beansprucht er als Filmemacher den Begriff des Erzählkinos ebenso wie den Begriff des Essayfilms. In der Einleitungspassage zur Textliste des Films erläutert Kluge, dass er beabsichtige, sich der »Erzählfläche« >Deutsche Geschichte< zu nähern, indem er »[n]icht eine Geschichte, sondern viele Geschichten« (PA 40) erzählt. Und ganz in diesem Sinne finden sich zwischen den Geschichtsminiaturen immer wieder kleine Subgeschichten, Momentaufnahmen aus den Lebensläufen einzelner Menschen, knappe Erzählungen von ihren subjektiven Erfahrungen, Wünschen, Motiven und Erlebnissen. Das Erzählmodell, das maßgeblich auf den »Lebenslauf als Erzählmuster« (Carp 1987: 78) setzt, hat Kluge mit seinen Prosabänden, mit den Lebensläufen (1962/1974), den Lernprozessen (1973) und besonders den 1977 erschienen Neuen Geschichten, selbst vorgegeben. Kurze Geschichten, die Einblicke in die Lebensgeschichten ganz unterschiedlicher Individuen gewähren, stehen gleichberechtigt neben den eher theoretisch-essayistisch ausgerichteten Passagen des Films. Die Parriotin erweist sich bei gerrauer Betrachtung als ähnlich personalintensiv wie die Prosabände. Kluge konfrontiert den Zuschauer mit sehr vielen verschiedenen Figuren, die jeweils für kurze Momente im Mittelpunkt des Interesses stehen, bevor sich der Film nach wenigen Einstellungen wieder neuen Geschichten zuwendet. Gabi Teicherts Grabungsbzw. Sucharbeiten und die geschichtstheoretischen Reflexionen des toten Knies bilden zwar, gemessen am breiten Raum, den sie einnehmen, die beiden dominanten Erzählstränge des Films, bleiben aber letztlich »Episode innerhalb vieler anderer Episoden« (Lewandowski 1980b: 266). Allein die Liste der namentlich erwähnten Figuren ist lang: Der Film berichtet über den Unternehmer Selmi, dessen Hochhaus abbrennt, weil die Löschschläuche der Feuerwehr nicht ausreichend lang sind (E56-58), über den Totengräber Bischof, der während eines Luftangriffs Schutz in einem leeren Grab sucht (E 98- 104) und über den Generationskonflikt der Familie Mürke (E 451-460). Es gibt erzähltechnisch sehr abgerundete Episoden, die fast wie kurze, in sich geschlossene Mini-Spielfilme innerhalb des Films wirken. So z.B. die durch den Krieg unterbrochene
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ZUR FORMALEN GESTALT UND FUNKTIONSWEISE DES FILMS
Liebesgeschichte des EhepaarsTacke (E 293- 324) oder die ebenfalls fast hollywoodwürdige Geschichte des Leitwerkreiters Dennerleirr (E 526-543). Kurz angerissen werden darüber hinaus die Geschichten von Gerda Baethe (E 513- 518; 544- 551 ), von Werkzeugmaschinenbauer Hänschen Alberti (E 577), Feuerlöscher-Kommandant Schönecke (E 468-488) oder Ministerialdirigent Heckel, der sich privat mit der juristischen Analyse von Märchen beschäftigt (E369- 378). Und auch die Episode der Bombenentschärfer im Keller (E 83-89), der Bericht über den Bau der Alpenkanäle (E 580-598), die Geschichte des Staatsschützers, der sich nachts als Spanner betätigt (E273-292), die Szene im BundeswehrCasino (E 350) oder die Geschichte über den Elefanten Jenny, der zur Belustigung von Frontsoldaten Kunststücke vorführt (E 347-349), bilden jeweils kurze, konzentrierte Erzähleinheiten, die mit Kluges literarischen Geschichten vergleichbar sind. Als charakteristisches Merkmal seiner Erzähltechnik kann zudem beobachtet werden, dass hier wie dort die Erzählweisen permanent variieren. So wie sich in Kluges Prosabänden eine Geschichte über viele Seiten oder wenige Zeilen erstrecken kann, gibt es in der Parriotin sowohl recht komplexe Episoden als auch Geschichten, die in einer einzigen Einstellung erzählt werden. Diese Variation der Erzählweisen ist auch der Auslöser für die starke Rhythmisierung des Films, der mehrfach zwischen einem hohen Tempo, d.h. sehr schnell geschnittenen Passagen, und ruhigen, langen Einstellungen wechselt. Die Geschichten scheinen auf den ersten Blick nur relativ lose miteinander verlmüpft zu sein, stehen aber letztlich »alle in einem einzigen Zusammenhang« (Kluge 2001 b: 52). Es handelt sich keinesfalls um ein rein additives Verfahren, sondern um das Erzählprinzip, das Kluge mit Blick auf die Chronik der Gefühle als »kreisförmige Narration« (Kluge 2001 b: 51; vgl. Kap. 3.5) bezeichnet hat. In den Prosabänden stößt der Leser immer wieder auf Geschichten, die um die gleichen Motive kreisen. Entsprechend gibt es in der Patriotin eine ganze Reihe von Themen, Bildern oder Musikstücken, die leitmotivisch wiederkehren und so Querverbindungen zwischen zeitlich weit auseinander liegenden Sequenzen oder Einstellungen schaffen. Über das Eis/Schnee/Kälte-Motiv werden z.B. ganz verschiedene Montagezusammenhänge des Films zueinander in Beziehung gesetzt. In Sequenz I wird ein »Alptraum-Bild« (PA 53) von einem Mann gezeigt, der vergeblich versucht, an einer Eisfläche zu einer übermächtig erscheinenden Burg hinaufzuklettern (E 14). In einem der kreisförmigen Laterna-magica-Bilder über menschliche Wunschvorstellungen (»Die menschlichen Wünsche sind vielgestaltig.« PA 88), die am Anfang der IV. Sequenz zu sehen sind, wird das Motiv des Eises, das das Fortkommen verhindert bzw. sich den >vielgestaltigen menschlichen Wünschen< in den
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Weg stellt, wieder aufgegriffen. Das Laternenbild aus dem Nachlass des Projektionskünstlers Paul Hoffmann gehört- wie das in Einstellung 181 gezeigte Bild auch- zu einem Zyklus über die gescheiterte Nordpolexpedition John Franklins, der 1845 aufbrach, um die Nord-West-Passage zu entdecken, und seit 1847 als verschollen galt ( vgl. Hoffmann/Junker 1982a: Bildanhang IV). Es zeigt ein Segelschiff, das von bizarren Eisbergformationen eingeschlossen wird (E 180). Die Bilder von treibenden Eisbergen (E 580-583), die die Episode über den Bau der Alpenkanäle einleiten, setzen diese Motivkette dann ebenso fort wie die abgefilmten Fernsehbilder, die - wie in der Textliste des Buches erläutert wird- von der »Kälte- und Schnee-Katastrophe zum Jahreswechsel 1979« (PA 156; E 603, 604, 610) berichten. Mehrfach setzen Bilder von Soldaten, die gegen Schnee und Eis ankämpfen müssen (E 15, 36-37, 618), das KälteMotiv mit Krieg und ganz besonders mit Stalingrad in Verbindung. 24 Was den Kälteforscher in seinem Labor zu theoretischen Erörterungen (E 615-617) und Staatsanwalt Mürke zu einer grotesken Diskussion über das Verhältnis von Wetter und Kriegsführung anregt (E 603- 611), ist für die Soldaten, die 1942 im Winterfeldzug versuchen, sich Schutzlöcher im Eis zu graben (E 618), lebensbedrohliche Realität. Der Film reflektiert in Sequenz XI nicht nur über Kälte »als abstrahierende, ordnende, kriegsführende Haltung«, sondern zeigt sie auch »als konkretes Frieren und Sterben« (Carp 1987: 70 u. 71) im russischen Winterkrieg. Am Anfang des Films steht eine gemalte Winterlandschaft (Eiche im Schnee von Caspar David Friedrich; E 10); der Film endet mit Aufnahmen eines heftigen Schneegestöbers, welches Gabi Teichert durch ein Fenster ihrer Wohnung beobachtet (E 782- 788). Hier schließt sich der assoziativ gesteuerte Kreis der Narration. Diese und ähnliche Leitmotivketten - wie z.B. das Graben (E 45, 241-250, 271-272, 362-366, 574-576, 585-590, 599, 618), die Windmühlen als Zeit-Metapher5 (E 67--68, 325, 526, 587), die Gestirne und Planeten (E 13, 52, 175-176, 237, 399, 479, 769) oder die romantisch-mystischen Naturbilder von Caspar David Friedrich (E 10, 19- 21, 187- 188, 781) - schaffen netzwerkartige Zusammenhänge, die man kreuz und quer durch den gesamten Film verfolgen bzw. beobachten kann.
24 Vgl. zum »Verhältnis von Eis und Geschichte•• in Kluges Patriotin Carp (1987: 72). 25 Vgl. Rother (1990: 79). Die Windmühlen an einer Flusslandschaft, die im Film jeweils ein Moment der Ruhe und Harmonie vermitteln, finden als Fotografie auch in Geschichte und Eigensinn Verwendung (GE 468-469). Die Bildunter· schriftlautet hier: "Es muß dergleichen geben, oder doch wieder geben."
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INTERTEXTUELLE NETZWERKE DES ERZÄHLENS
Die Schwierigkeit und Komplexität des Films, der sich dem Zuschauer bei einmaliger Betrachtung kaum vollständig erschließen kann, 26 ist unbestritten. Aber Corinna Mieths Frage, »ob Kluges Filme ohne die Kenntnis seiner Theorie und der Hilfestellung durch das Textbuch überhaupt adäquat rezipiert werden können« (Mieth 2003: 301, Anm. 279), muss eindeutig bejaht werden und provoziert gleichzeitig die Folgefrage, was überhaupt unter einer >adäquaten Rezeption< zu verstehen ist. Sicherlich erleichtern sowohl die Kenntnis von Kluges theoretischen Texten als auch die Lektüre des Filmbuchs, das erläuternde Kommentare zu vielen Bildern und Montagefolgen enthält, den Zugang zu Kluges Patriotin. Aber auch ohne diese Hilfestellungen ist es, sofern man bereit ist, sich von stereotypen Rezeptionsgewohnheiten zu lösen, durchaus möglich, zumindest einigen Reflexions- und Assoziationsangeboten, die der Film macht, zu folgen. Welche Episoden, Geschichten oder Figuren auf den Betrachter wirken, hängt maßgeblich von dessen »Eigeninteresse« (Negt/Kluge 1981: 5) ab. Was Kluge der Originalausgabe von Geschichte und Eigensinn als >Gebrauchsanweisung< für den Leser vorangestellt hat, gilt letztlich auch fllr den Betrachter seiner Filme, der zwar (zumindest im Kino) nicht die Freiheit des Blätterns hat, aber dennoch seine Aufmerksamkeiten auf Passagen lenken kann, die ihn interessieren: »Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch [und kein Film, Anm. AS].« (Negt/Kluge 1981: 5)
4.3 lntertextuelle Netzwerke des Erzählens Als Figur tritt die Geschichtslehrerin Gabi Teichert bereits in zwei Vorgängerarbeiten Kluges in Erscheinung: in den von Kluge geschaffenen Episoden des Kooperationsfilms Deutschland im Herbst sowie in der Neubearbeitung der Schlachtbeschreibung. 27 Auch der Obergefreite Wieland und der Werkzeugmaschinenbauer Hänschen Alberti treten bereits in der 1978er-Version von Kluges Stalingrad-Roman auf; der Leitwerkreiter Dennerleirr heißt hier noch Peter Spoden. (SB 301- 302, 30931 0) Hänschen Alberti (NG 246-248) gehört wie Friedhofsgärtner Bischaff (NG 43-44) oder Gerda Baethe (NG 55-62) zum Personal der Neuen Geschichten. Diese Form der Wiederverwendung von Figuren gehört zu Kluges zentralen Verfahrensweisen. Durch zahlreiche intertextueile Querverbindungen zwischen den Prosatexten, Filmen und - seit der 26 Vgl. Buchka (1979: 35): »Eigentlich müßte man, und das ist nicht überspitzt, diesen Film hundertmal sehen, um die 100 Filme zu registrieren, die in ihm stecken.« 27 SB (294-295); PA (14-18). Vgl. Bevers et al. (1980: 16): »Die Patriotin ist ja schon, wenigstens 8 Minuten lang, Bestandteil von Deutschland im Herbst.••
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
zweiten Hälfte der 80er Jahre - auch den Fernsehmagazinen erscheint Kluges Gesamtwerk als medienübergreifendes Netzwerk aus wiederkehrenden Figuren, Themen und Motiven. Es ist gerrau dieser Gestus des Umschreibensund Weiterverarbeitens von Texten, der Jochen Vogt dazu veranlasst, Kluge als »rastlosen Erzähler« zu charakterisieren, der nicht nur viele Geschichten nacheinander und nebeneinander erzählt, verschiedene Geschichten von den gleichen Personen und gleichartige Geschichten von verschiedenen; sondern der auch Geschichten wieder und neu erzählt, seine Figuren mit ihren Geschichten aus einem Buch ins andere versetzt. 28
Der aufmerksame Leser bzw. Zuschauer stößt immer wieder auf bereits bekannte Erzählungen, Namen, Abbildungen, Zitate und Formulierungen. Mit jedem neuen Text lmüpft Kluge an ältere bzw. parallele Arbeiten an und schafft so wiederum >Rohstoff< für kommende Projekte. Die Abgeschlossenheit des einzelnen Werks wird ganz im Sinne von Kluges >Baustellenkonzept< aufgebrochen. Das Wiedertreffen von Bekannten in Kluges Werk vermindert unsere Scheu vor dem einzelnen Text. Denn dieser einzelne Text erscheint nun nicht mehr als etwas Endgültiges und geheimnisvoll Erschaffenes, sondern als eines von vielen vorläufigen Ergebnissen einer Arbeit, die keinen fixen Endpunkt hat. 29
Das gilt ebenso für einzelne Bilder oder Bildmotive. Immer wieder werden in Kluges Filmen Mond-Bilder gezeigt - häufig in Verbindung mit der filmischen Form der Irisblende (vgl. Barg 1996: 244-250). Ein wiederkehrendes Motiv sind auch die Zeitrafferaufnahmen von Frankfurt, die vornehmlich dämmrige Morgen- oder Abendstimmungen einfangen. Wie in Die Patriotin arbeitet Kluge auch in seinem nächsten Film, Die Macht der Gefühle, mit Laterna-magica-Bildem aus der Sammlung Paul Hoffmann; hier wie dort finden sich durch Kreisblenden bzw. Kreismasken markierte Reminiszenzen an Stumrnfilmtechniken, die man - in An-
28 Vogt (1985: 16). Vgl. zur wechselseitigen Verzahnung von Kluges Arbeiten auch Bechtold (1983b: 104-110). 29 Carp (1987: 43). Heißenbüttel (1985: 4) verweist ebenfalls auf das Wiederkehren von Figuren in Kluges Werk. Beispiele lassen sich nicht nur für Die Patriotin problemlos finden: So greift Kluge in seinem Drehbuchentwurf Das sabotierte Verbrechen Manfred Schmidt aus den Lebensläufen als Figur auf. (LL 66-93; GS 31-37) Richter Korti (LL 160-217) kehrt in Kluges Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos wieder. Anitas übereifrige Bewährungshelferin (LL 9), die in der Geschichte anonym bleibt, wird in Abschied von gestern zur Bewährungshelferin Treiber aus Ein Volksdiener (LL 166-167). Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.
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INTERTEXTUELLE NETZWERKE DES ERZÄHLENS
lehnung an die Terminologie von Andreas Böhn - als »Formzitate« (vgl. Böhn 2003) bezeichnen kann. Manchmal greift Kluge in seinen Filmen auch bereits verwendetes Bildmaterial aus älteren Filmen unmittelbar auf und schneidet es erneut in einen Film hinein. So kann ein aufmerksamer Betrachter in Die Macht der Gefühle eine kurze Einstellung wiedererkennen, die das Schneetreiben im Hinterhof zeigt, das Gabi Teichert in der Schlussszene des Films aus ihrer Wohnung beobachtet. Und demjenigen, der Kluges Filme regelmäßig verfolgt, wird auch nicht entgehen, dass im selben Film der Figur der Gabi Teichert - zumindest indirekt nochmals ein Kurzauftritt gewährt wird. Für wenige Sekunden sieht man Ausschnitte aus der Szene, in der Gabi Teichert, gefilmt durch die Frontscheibe eines Restaurants, mit Staatsschützer M. diskutiert (E 286-292). Die drei kurzen Schwarzweiß-Einstellungen, die Hannelore Hoger (Gabi Teichert) und Dieter Mainka (Staatsschützer) jeweils in Großaufnahme zeigen, werden in Die Macht der Gefohle jedoch vollständig dekontextualisiert und in einen anderen Handlungszusammenhang eingebettet. Die beiden Darsteller werden quasi umbesetzt, ihnen werden neue Rollen zugewiesen. Bannelore Hoger spielt nun nicht mehr Gabi Teichert, sondern die Heiratsvermittlerirr Bärlamm; aus Staatsschützer M. wird ein anonymer Detektiv (vgl. MG 127). Indem Kluge in beiden Filmen identisches bzw. identifizierbares Bildmaterial verwendet, erzeugt er zwischen zwei völlig verschiedenen Geschichten einen Link. 30 Ohne dass ein klarer inhaltlicher Konnex erkennbar wäre, dringt die Geschichte des Staatsschützers M. aus Die Parriotin visuell in die andere Geschichte der Heiratsvermittlerirr Bärlamm ein und wird von dieser hierbei gewissermaßen >überschriebenreagiert'.
Kluge nutzt in diesem Zusammenhang einen generellen Aspekt filmischer Intertextualität: nämlich die Tatsache, dass der Schauspieler allein durch seine körperliche Präsenz Querverbindungen zwischen den verschiedenen Filmen, in denen er bislang mitgespielt hat, und zwischen den in diesen Filmen verkörperten Figuren herstellt. Oder mit den Worten von Christian Metz: »Der bekannte Schauspieler (d.h., und dies betone ich, der von einem anderen Ort/Film her bekannte Schauspieler) wird in den Film das Echo der anderen Filme hineintragen, in denen er gespielt hat.« (Metz 1997: 74; vgl. Mikos 2003 : 264-265) In diesem Sinne kann man auch sagen, dass über die Schauspielerin Hannelore Hoger, die genau wie Alexandra Kluge oder Alfred Edel zum Stammensemble von Kluges Filmen gehört, die Erinnerung an die Zirkusdirektorin Leni Peikkert (Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos) in den Film Die Patriotin hineingetragen wird. Gabi Teichert und Leni Peickert: Beide Figuren befinden sich - wie viele Figuren Kluges - dem Widerstand ihrer Umgebung zum Trotz auf der Suche; der »Hunger nach Sinn« (GE 41; BUF 585) ist bei beiden Figuren der Motor für eine aktive Erinnerungsarbeit, die den Schlüssel für eine bessere Zukunft in der Vergangenheit aufzuspüren gedenkt. Aussehen, Mimik und Gestik der Schauspielerin Hannelore Hoger fungieren als intertextuelle Markierung, d.h. als Referenzsignale, die die intertextuelle Wechselbeziehung bzw. die Wesensverwandtschaft zwischen den beiden Frauengestalten auch an äußerlichen Merkmalen festmachen. Kluge vernetzt seine Filme durch wiederkehrende Bilder, Motive und Musikstücke; über die Stammdarsteller werden Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Geschichten und Filmfiguren akzentuiert. Und auch paratextuell bauen Kluges Filme durch die schlichten Vor- und Nachspanntitel (weiße Schrift auf blauem Grund) auf einen hohen Wiedererkennungswert. Die netzwerkartigen Verknüpfungen zwischen Kluges Filmen und die Kontinuität auf der formalen Ebene tragen maßgeblich dazu bei, dass man sich als regelmäßiger Betrachter - trotz des hohen Komplexitätsgrads der Arbeiten- recht schnell >heimisch< in Kluges >Filmwelt< fühlt. Wie kunstvoll Kluge auch über Mediengrenzen hinweg intertextuelle Verlmüpfungen zwischen seinen verschiedenen Arbeiten herstellt, kann anhand von zwei Beispielen gezeigt werden. Kluge montiert in den Film Die Patriotin (Sequenz VII: >Märchenweltzitierte< Plakat einen Konnex zwischen dem Ufa-Film und dem Themenkomplex Märchen herstellt, wird angedeutet, wie gefahrlieh es sein kann, wenn die menschlichen Ängste, Sehnsüchte und Wünsche, die in allen Zeiten und besonders in Notzeiten von den Märchen aufgegriffen und verarbeitet worden sind, zu propagandistischen Zwecken missbraucht werden. Gleichzeitig wird, vermittelt durch das Filmplakat, aber auch eine Querverbindung zu Kluges Erzählung Der Lußangr!ff"aufHalberstadt aufgebaut. Diese Geschichte beginnt mit der Zerstörung des >CapitolCapitolAlpenkanäleRaus!architektonischen und landschaftlichen Tableaux< (E 177- 178), der Sibirien- (E 179), der Nordpol- (E 180-181) und Pompeji-Serie (E 182) sowie der Bilderfolge zu Dantes Göttlicher Komödie (E 183) entnommen sind. 42 Man sieht eine Burg auf einem Felsen am Meer, ein heimeliges Häuschen an einem Flusslauf, Schlittenfahrer in einer Winterlandschaft, Segelschiffe zwischen bizarren Eisbergformationen, eine antike Tempelanlage und eine Darstellung von einem weißen Drachen, auf dem zwei Menschen reiten. Die Bilder wirken exotisch bzw. weit entfernt und zugleich auf seltsame Weise vertraut. Kluge schickt das Vorstellungsvermögen seiner Figur und das seiner Zuschauer auf eine exzentrische Bahn, auf der für einige Augenblicke die Möglichkeit einer allumfassenden, den ganzen Planeten einbeziehenden Beziehungsfähigkeit aufscheint, wie sie in einer in sich ruhenden Gegenwelt, jenseits der geschichtlichen Fungibilität, in prästabilierter Harmonie gegeben wäre. (Schulte 2000b: 62)
Die Laternenbilder Paul Hoffmanns sind spürbar der Bilderwelt der deutschen Romantik verpflichtet. Es geht in Kluges Montage-Miniatur weniger darum, dass der Zuschauer jedes einzelne Bildmotiv thematisch entziffern, dass er es spatial und temporal präzise lokalisieren kann, als vielmehr um den generellen Modus der Wahrnehmung von Wirklichkeit. 41 Mieth (2003: 332) spricht im Hinblick auf eine andere Montage von einem »•Kopf-Film' Gabi Teicherts«. Vgl. hierzu auch Barg (1996: 274) . 42 Siehe hierzu die Auflistung der Serien Paul Hoffmanns in Historisches Museum Frankfurt (1981 : 113-120). Vgl. auch den kommentierten Bildanhang in Hoffmann/ Junker (1982a).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
Die phantasievollen Laterna-magica-Bilder repräsentieren ein kaleidoskopisches, zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Fiktion und Dokumentation oszillierendes Weltwahrnehmungs-Modell, das Kluge für seine filmische Erzählweise adaptiert hat. Und das gilt nicht nur für die kurze Montagefolge, in der Kluge tatsächlich auf Laternenbilder zurückgreift, sondern für sämtliche der sich aus heterogenen Bildquellen speisenden Standbildmontagen des Films, die die Filmleinwand zeitweise zur Projektionsfläche für eine technisch zwar weiterentwickelte, aber dispositiv mit einer Latema-magica-Show durchaus verwandte audiovisuelle Darbietungsform machen. So wie es auf der Ebene der intertextuellen Relationen bedeutsam ist, dass Kluge in der Latema-magica-Szene zitierend an das breite Themenspektrum einer sehr speziellen Bild- bzw. Erzähltradition des 19. Jahrhundert anknüpft, so erweist sich aus intermedialer Sicht vor allem der medienhistorische Zusammenhang zwischen der Latema magica als Projektionsapparat und der darauf aufbauenden Erfindung des Films als relevant. 43 Ganz im Sinne McLuhans kann man die evolutionäre Beziehung zwischen dem filmischen Projektionsapparat und der Projektionstechnologie der Laterna magica44 dahingehend beschreiben, dass das neuere Medium Film das ältere Medium >beinhaltetZauberlaterne< und der Film auf der Ebene der Formen ihrer Medien intermedial besonders anschlussfahig. Die Mediendifferenz figuriert in diesem Fall- ähnlich wie in der bereits beschriebenen Bildmontage mittelalterlicher Bauernbilder - als Form der Differenz zwischen den verschiedenen Bildformaten und als Fehlen der Figur der Bewegung. Mit anderen Worten: Intermedial zwischen Film und Laterna magica figuriert hier die Differenz zwischen dem rechteckigen Bewegungsbild des Films und den unbewegten kreisförmigen Laternenbildern. Vergleicht man die thematisch breit gefächerten, multimedialen Laterna-magica-Programme von Paul Hoffmann, die auf einer geschickten 43 Vgl. zur Geschichte der Laterna magica Hrabalek (1985: 17-69); Berger (1981: 29-54); Ranke (1982: 11-53).- Während die Laterna magica aus der Perspektive der Filmwissenschaft zumeist zur technischen Vorgeschichte des Films gerechnet wird, plädiert Winfried Ranke dafür, sie nicht im Sinne einer teleologischen Mediengeschichtsschreibung auf ihre technische Vorläuferfunktion zu reduzieren. Die Vorstellung von der ·Zauberlaterne· als unvollkommener Technologie, die zwar bereits in Ansätzen filmische Montage- und Überblendtechniken (dissolving views) vorwegnimmt, aber letztlich erst in der Erfindung des Films ihre Vollendung findet , wird der Formenvielfalt der Laternamagica-Darbietungen - vor allem im 19. Jahrhundert - nicht gerecht (vgl. Ranke 1982: 11-12). 44 ln Einstellung 360 zeigt Kluge eine Abbildung, auf der man Kinder sieht, die mit Hilfe einer · Zauberlaterne• ein Napoleon-Bild an die Wand projizieren.
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FREMDE BILDMATERIALIEN
Kombination von projizierten Glasbildern oder Diapositiven, gesprochenen Kommentartexten und begleitender Musik basierten, mit Kluges filmischer Miniaturtechnik, dann offenbaren sich deutliche Parallelen. Man kann durchaus sagen, dass Kluge eine sehr eigenwillige, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an das Medium Laterna magica gebundene Erzähltradition in seinen Essayfilmen mit filmischen Mitteln fortsetzt.
4.5 Filmische Figurationen des Dazwischen Mehr als in all seinen vorherigen Filmen arbeitet Kluge in Die Patriotin mit Brüchen und Lücken im Erzählfluss, mit Fragmentierungen und diskontinuierlichen Erzähltechniken, d.h. mit filmischen Formen, die darauf ausgerichtet sind, den Bilderfluss des Films zu unterbrechen und so an den Stellen medialer Intervention Formen des Medialen sichtbar zu machen. Die Bruchstellen zwischen den Bildern und die filmischen Leerstellen innerhalb einzelner Einstellungen dienen hierbei nicht nur der Aktivierung des Zuschauers, der immer wieder gezwungen wird, die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bildern selbständig herzustellen. Sämtliche filmischen Interventionsformen verweisen gleichzeitig selbstreflexiv auf die medialen Bedingungen ihrer Form. Kluge setzt in Die Parriotin systematisch filmische Techniken ein, die jeweils auf spezifische Weise darauf ausgerichtet sind, das Problem des Dazwischen zu artikulieren. Er macht durch bewusste Störungen der Oberflächengenauigkeit des Films, durch Schwarzfilm-Unterbrechungen, Zeitrafferverfahren, >freeze frames< und seine auf »allegorisierende Zwischenbilder« (Paech 1994b: 170) ausgerichtete Montagetechnik die >Differenzform des Dazwischen< im Medium Film erfahrbar. In Anlehnung an die von Paech in die Intermedialitätsdiskussion eingeführten Begrifflichkeiten sollen diese filmischen Verfahren, in denen der Film seine eigenen medialen Bedingungen reflektiert, als Figurationen der lntermedialität des Films beschrieben werden.
4.5.1 •Bilder mit verschwommenen Rändern•: Kluges Ästhetik der Ungenauigkeit Wenn bei einer ersten, oberflächlichen Auseinandersetzung mit Kluges Patriotin der Eindruck entsteht, dass der Film den Zuschauer mit einer wahren Bilderflut konfrontiert, 45 dann hängt das vorrangig mit der Dispa-
45 Grosse (1980: 7) spricht von einer ,.[abyrinthische[n) Anhäufung'' visueller Eindrücke und der »immensen Fülle der in diesem Film jeden Augenblick über
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rität der verwendeten visuellen Materialien und den immer wieder zu abrupten Brüchen im Bilderfluss des Films führenden Veränderungen des Bildcharakters zusammen. Bunte, kontrastreiche Comicbilder treffen auf unscharfe Dokumentaraufnahmen, Fotografien auf farblieh verfremdete Gemälde von Caspar David Friedrich und Laterna-magica-Bilder, grobkörnige, oftmals blaustichige Schwarzweiß-Aufnahmen auf grelle Technicolor-Filmausschnitte; immer wieder werden zwischen die Bilder farblieh hinterlegte Schrifttafeln montiert. Der permanente Wechsel der Bildqualitäten ist maßgeblich für die Irritation des Zuschauers verantwortlich, die Lewandowski (1983: 237) als zentrales Merkmal der Rezeptionssituation sämtlicher Kluge-Filme beschrieben hat. Bereits die aus 41 Einstellungen bestehende Eingangssequenz des Films (S 1), die durchaus mit der »Ouvertüre einer Oper« (Carp 1987: 54) vergleichbar ist, vermittelt einen ersten Eindruck von der Heterogenität der Bildmaterialien, die Kluge in seinen komplexen >Geschichtsminiaturen< immer wieder aufeinander treffen lässt (vgl. Kaes 1985: 134; Carp 1987: 47). In der rund sechsminütigen Sequenz werden Textinserts (E 1, 3, 8), abgefilmte Fotografien (E 2, 22), stark verschwommene Schwarzweiß-Aufnahmen von einem historisch nicht eindeutig bestimmbaren Schlachtfeld (E 4-7), Bilder von Caspar David Friedrich (E 10, 19-21), eine Trickaufnahme, die die Bewegung des Mondes um die Erde zeigt (E 13), Abbildungen aus Landserheften (E 15-17), verschiedene abgefilmte Geschichts- (E 11-12) und Traumbilder (E 14, 18), amateurfilmhafte Gelegenheitsaufnahmen von Feldern, blühenden Kirschbäumen und einer Burgruine (E 24-35) sowie Dokumentaraufnahmen gefangener deutscher Soldaten in Stalingrad (E 36-40) innerhalb eines großen Montagezusammenhangs unmittelbar miteinander konfrontiert. Durch die Verschiedenartigkeit der verwendeten Bildzitate erhält die Sequenz ein Moment der Unruhe, obwohl die gemäßigte Schnittfrequenz mit einer durchschnittlichen Einstellungslänge von knapp neun Sekunden und die dezente Klaviermusik der zweiten Montagehälfte eigentlich eine ruhige Grundstimmung vermitteln. Was in Die Parriotin auf den ersten Blick wie eine nur schwer fassbare Anhäufung von Bildern wirkt, entpuppt sich auf den zweiten Blick - zumindest bei einer Vielzahl der Einstellungen - als eine stark reduzierte Bilderwelt Das Nicht-Sichtbare ist für Kluge ebenso bedeutend wie das Sichtbare. Dass es ihm in seinen Filmen nicht um eine Vermehrung von Bildern, sondern umgekehrt immer um eine Reduktion der visuellen Eindrücke, um eine >Ausdünnung von Bildernausgedünnte< oder >entleerte< Bilder, und die entsprechenden filmtechnischen Verfahren zu untersuchen. Ein Katalog möglicher filmischer Formen zur Erzeugung von Unbestimmtheit wird von Reitz/Kluge/Reinke in Wort und Film beispielhaft zusammengestellt: Es gibt allerdings einige Hilfsmittel wie die extreme Totale oder die Großaufnahme, die beide einen hohen Ungenauigkeitsgrad haben können. Unbestimmtheit läßt sich auch erreichen durch Verringerung der Bildinformation mit Hilfe von Unschärfen, hohem Kontrast, extremer Kürze oder Länge, durch Verstöße gegen die Chronologie, durch Mehrfachbelichtung, durch Aufheben des Bildinhalts durch den Textinhalt usf. (WF 1021)
In der Patriotin setzt Kluge diese Hilfsmittel zur Verringerung der Überinformation von Filmbildern vielfältig und in den verschiedensten Kornübernommene These der ·Entleerung der Bilder• in den Filmen selbst für »Schwer nachweisbar"' (Gregor/Kluge 1976: 167). 47 Siehe zu den filmischen Zwischenräumen bei Kluge, an denen die Phantasiearbeit des Zuschauers ansetzen kann, auch Kap. 3.3 und 3.4. Vgl. die kritischen Anmerkungen in Fischer (1985: 129).
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binationen ein. Es finden sich zahlreiche Aufnahmen, in denen nur sehr vage zu erkennen ist, was genau die Bilder überhaupt zeigen. Das gilt bereits für die ersten Einstellungen des Films. Auf die beiden Vorspanntitel (E 1) folgt zunächst eine Schwarzweiß-Fotografie, die in Großaufnahme das Gesicht einer weiblichen Person zeigt. Der Off-Kommentar stellt die Frau als »Gabi Teichert, Geschichtslehrerin in Hessen« (E 2) vor. Die Fotografie, die Kluge zur Einführung der Gabi-Teichtert-Figur wählt, zeigt lediglich den Kopf der Protagonistin, ein umgebender Bildraum ist nicht zu erkennen. Durch eine starke Lichtquelle, die von der linken Seite auf das Gesicht fällt, erhält das Foto einen scharfen Hell-dunkelKontrast. Während die linke Gesichtshälfte in grelles Licht getaucht ist, liegt die rechte Hälfte fast gänzlich im Schatten und ist kaum erkennbar. Bereits das erste Bild des Films verdeckt somit mehr, als es zeigt. Das Foto gibt fast keine Informationen über die Titelfigur des Films preis. Der Zuschauer sieht zwar ein Bild von Gabi Teichert, kann sich aber anhand der stark stilisierten Schwarzweiß-Fotografie kaum ein >Bild< von ihr machen. Eike Wenzel hat völlig richtig darauf hingewiesen, dass bereits durch dieses erste Filmbild ein spürbarer Bruch mit den filmischen Wahrnehmungsgewohnheiten des Zuschauers erzeugt wird (Wenzel 2000b: 288): Der flächige, eindimensionale Charakter der Fotografie unterläuft die Erwartungshaltung, die der Zuschauer einem >realistischen ' Film entgegenbringt. ( ... ] Ohne den strukturierenden Hintergrund einer Erzählung situiert sich der ·Blick, unserer Protagonistin in einem unverbundenen Nebeneinander mit anderen Bildern.
Das statische Schwarzweiß-Foto verhindert von der ersten Einstellung an »das Hineingleiten des Zuschauers in das fiktionale Universum« (Wenzel 2000b: 288), das er aus konventionellen Erzählfilmen gewohnt ist. An die Fotografie von Bannelore Hoger in ihrer Rolle als Gabi Teichert schließen sich zunächst ein Schriftinsert mit dem Filmtitel (E 3) und dann, begleitet von emotionaler Geigenmusik, undeutliche Schwarzweiß-Aufnahmen von einem nebelverhangenen Schlachtfeld an. (E 4-7) Die Kamera gleitet in unruhigen Suchbewegungen über eine dunstige Ebene mit Soldatenleichen in historischen Uniformen. Vage sind neben den toten Soldaten Kanonen, ein totes Pferd, herumliegende Waffen und zerstörte Gerätschaften zu erkennen. (E 4) Die verwackelten, leicht blaustichigen Schwarzweiß-Aufnahmen sind sehr unscharf. Wiederum gibt es einen starken Hell-dunkel-Kontrast. Grelles Licht fällt von oben auf die Szenerie, die untere Bildhälfte ist phasenweise völlig in Dunkelheit getaucht. Der sicherlich materialbedingte Flicker-Effekt erhöht zusätzlich
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den Ungenauigkeitsgrad des dargestellten Schlachtfeldszenarios. In der folgenden Einstellung verstärkt sich die Undeutlichkeit der Bilder dann nochmals. (E 5) Die Kamera schwenkt sehr schnell von rechts nach links; es sind nur noch verschwommene Konturen erkennbar. Recht unvermittelt - und ebenfalls sehr unscharf - zeigt Einstellung 6 dann eine Fliegerabwehrkanone aus dem zweiten Weltkrieg. Diese schwenkt von unten nach oben, dann folgt abrupt der Umsehrritt auf einen kurzen, nur zwei Sekunden dauernden Kameraschwenk, der vermutlich den Himmel über dem Schlachtfeld zeigt. (E 7) Die in den vier Einstellungen vermittelte visuelle Information wird durch die technische Qualität der Bilder stark reduziert. Es handelt sich offensichtlich um Ausschnitte aus einem Historienfilm aus der Frühphase der Filmgeschichte und daran optisch angepasste Dokumentaraufnahmen aus dem 2. Weltkrieg. Musik, Licht und Unschärfe lassen die Bilder irreal wirken, verschiedene Zeitebenen scheinen sich zu vermischen. Auf den Schlachtfeldern in den Montagen überlagern sich auf eine wie in einem Traum nicht erklärbare und unmerkliche Weise die Zeiten und lassen die großen Kriege der deutschen Geschichte assoziieren: den Siebenjährigen Krieg, die Befreiungskriege, den Ersten und besonders den Zweiten Weltkrieg. (Carp 1987: 56)
In der letzten Sequenz des Films wird das Totenfeldmotiv dann in acht weiteren Einstellungen wieder aufgegriffen. (E 649-653, 656-658) Erneut gleitet die Kamera über tote Soldaten und zerstörtes Material. Die Aufnahme von gestikulierenden Soldaten, die vermutlich im historischen Kontext des 2. Weltkriegs anzusiedeln sind, ist zusätzlich zeitlich verzerrt. (E 652) Mittlerweile ist dem Betrachter klar, dass diese diffusen, stellenweise kaum erkennbaren Schwarzweiß-Aufahmen zur Bilderwelt des Knies gehören. Die undeutlichen Bilder konterkarieren den verbalen Kommentar des Knies aus dem Off, das just in dem Moment, in dem die Bilder besonders unscharf werden, erläutert: Ich bin von anderen toten Kollegen ·Vater der Genauigkeit' genannt worden. Ich würde es gerne genau sagen. Vielleicht kann ich es noch einmal vorführen, was ich meine. Ich möchte es so scharf wie möglich festhalten. (E 656)
Und eben jene verbal angekündigten scharfen Bilder verweigert der Film dem Zuschauer. Das allwissende Knie findet keinen richtigen Darstellungsmodus für die zu seinem Wissen dazugehörigen Bilder; der entworfene Bildraum bleibt unscharf. Rainer Rothers Beobachtung, dass »das Knie funktioniert wie ein schlecht fokussierter Projektor« (Rother 1990:
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86) ist insofern für meine Argumentation von besonderem Interesse, als er zur Charakterisierung des Knies auf eine dem Bereich der Filmtechnik entlehnte Terminologie zurückgreift, ohne hierbei jedoch die Analogie weiter zu vertiefen. Schlecht fokussierte Bilder markieren eine Störung des Kino-Dispositivs, das im Normalfall auf eine durch scharfe Lichtund Schattenprojektionen auf der Leinwand erzeugte Realitätsillusion ausgerichtet ist. 48 Die mediale Wahrnehmung und die zugnmde liegende technische Apparatur werden in dem Moment, in dem die technische Qualität der Bilder nach gängigen Maßstäben als fehlerhaft erscheint, ihrerseits zum Gegenstand der Wahrnehmung. Indem er mit trüben, unscharfen Bildern von gängigen filmischen Sehgewohnheiten abweicht, reflektiert sich der Film als Medium technisch generierter Bewegungsbilder selbst. Auch für andere Einstellungen in der Patriotin, die entweder dokumentarische oder inszenierte Kriegsbilder verarbeiten, gilt, dass sie letztlich mehr verdecken als zeigen. Egal ob es sich um das Gefecht zwischen Chasseuren und einem preußischen Vorposten (E 190- 198), um den Flammenwerferangriff aus der Tacke-Episode (E 313-316), einen zeitlich verzerrten Panzerfaustkampf (E 700-708) oder Bilder von einem Stellungskampf mit Panzern (E 719- 755) handelt, sobald Kampfhandlungen wiedergegeben werden, nimmt der Genauigkeitsgrad der Bilder deutlich ab und die Schnittfrequenz des Films wird erheblich erhöht, so dass in einem Stakkato undeutlicher Bilder stellenweise kaum noch zu erkennen ist, was genau auf der Leinwand (oder dem Fernsehmonitor) eigentlich gezeigt wird. 49 Der Film setzt in diesen Kriegsszenen viel stärker auf die Schockwirkung und Irritation, die durch den hektischen Rhythmus der Bilder hervorgerufen wird, als auf erkennbare Bilddetails. Der hohe Ungenauigkeitsgrad der Bilder ist hierbei zum einen sicherlich materialbedingt Kuge verwendet als filmische Rohstoffe mit Vorliebe düstere Wochenschaubilder oder Schwarzweiß-Aufnahmen aus der Frühphase des Kinos, deren optische Qualität noch stark durch die in dieser Zeit vorhandenen technischen Möglichkeiten determiniert ist. Zum anderen wird der Genauigkeitsgrad des verwendeten Filmmaterials aber auch durch nachträglich hinzugefügte Verfremdungseffekte nochmals reduziert. Die vorgefundenen Filmbilder erhalten auf der optischen Bank zusätzliche Unschärfen, werden zeitlich verzerrt oder farblieh verfremdet.
48 Vgl. zum Kino-Dispositiv Hickethier (2003: 187-189). 49 Einzelne Einstellungen (z.B. E 386, E 525) sind so kurz, dass sie mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar sind. Diese nur für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzenden Bilder markieren die Grenze zwischen den Bildmaterialien, die Eingang in den Film gefunden haben, sowie nicht verwendeten Rohstoffen und verweisen somit auf die Selektivität und Kontingenz filmischer Formbildung.
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FILMISCHE FIGURATIONEN DES DAZWISCHEN
So wirken z.B. die rötlich bzw. orange eingefärbten Luftaufnahmen von Jagdfliegerangriffen auf eine Fabrik (E 82), auf ein Dorf (E 106), eine Eisenbahnlinie (E 107) und einen Waldrand (E 109) nicht wie authentische Dokumentar- bzw. Wochenschaubilder, sondern irreal, beinahe abstrakt. Ins Zentrum der Wahrnehmung rückt vor allem das dominante Farbenspiel der Bilder; die konkreten Ziele der Angriffe sind hingegen kaum erkennbar. 50 In den inszenierten Passagen, wie z.B. der Episode >Bombenentschärfer im Keller< (E 83-89), der Szene mit Totengräber Bischof (E 98-1 05) oder den Aufnahmen einer Frau mit zwei Kindern im Luftschutzkeller (E 93-95), die im Kontrast zu den Luftbildern die >Perspektive von unten< einfangen sollen, ist das eigentliche Kampfgeschehen kaum noch visuell, sandem vielmehr auditiv in Form von Flugzeuggeräuschen, Bombeneinschlägen und Sirenentönen wahrnehmbar. Der Krieg ist in Kluges Film omnipräsent und wird dennoch durch den hohen Ungenauigkeitsgrad der gezeigten Bilder viel weniger >sichtbar< gemacht als in anderen dokumentarischen oder fiktiven Kriegsfilmen. Indem sich Kluge in der Patriotin gegenüber scharfen, klar erkennbaren Kriegsbildern verweigert, formuliert er gewissermaßen eine filmische Antithese zu Kracauers Diktum, dass nur die Filmkamera geeignet sei, die »Greuel des Krieges« und andere Gewaltmanifestationen >mnverzerrt darzustellen« (Kracauer 1993: 91 ). Die stellenweise kaum entzifferbaren, unscharfen Kriegsbilder, die in der Patriotin Verwendung finden, können als Beleg dafür gesehen werden, dass Kluge gerade die Oberflächengenauigkeit des Mediums Film als nicht besonders geeignet erachtet, um das Grauen des Krieges in Bilder zu fassen. Die Ästhetik der Ungenauigkeit bleibt in der Parriotin jedoch nicht auf Kriegsbilder beschränkt. Auch in anderen Einstellungen arbeitet Kluge mit extrem unscharfen oder dunklen Bildern, die einen hohen Unbestimmtheitsgrad erreichen und viel Raum für die Phantasie des Zuschauers lassen. In der ersten Einstellung der zweiten Sequenz sieht man Gabi Teichert in ihrem Badezimmer vor dem Spiegel. (E 42) Sie ist winterlich gekleidet und bricht mit einem geschulterten Spaten zu ihren privaten >Grabungsarbeiten< auf. Die nachfolgenden Einstellungen werden dann unter Verwendung eines Nachtsichtgeräts gefilmt und sind so undeutlich, dass man weder den Ort- das Filmbuch spricht von einem »Waldgelände« (PA 60, i.O. kursiv)- noch Gabi Teicherts Tätigkeit deutlich erkennen kann. Zunächst sieht man nur den suchend umherirrenden Lichtkegel einer Taschenlampe (E 43-44), dmm schemenhaft eine Person, die gräbt
50 ln ihrem hohen Abstraktionsgrad ähneln die Bilder auf frappierende Weise den schematischen CNN-Bildern von Raketeneinschlägen, die seit dem ersten Irak-Krieg zum festen Bildrepertoir medialer Kriegsberichterstattung gehören.
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(E 45). Dass es sich hierbei um Gabi Teichert handelt, ist nur aus dem Kontext (E 42) zu erschließen. Die hellere, aber sehr unscharfe folgende Einstellung lässt Bäume erkennen. (E 46) Das Bild erscheint statisch und erzeugt, da es in der Helligkeit nicht zu den übrigen Einstellungen der Szene passt, einen Kontinuitätsbruch. Es wirkt wie eine nachträglich hinzugefügte lndizienmg des Handlungsortes >WaldGraben nach der deutschen Geschichte< bildet die Leitmetapher des Films. Wenzel (2000b: 290) spricht von »einer allegorischen Denk-Figur«. Die »kalkulierte Unschärfe« (Wenzel 2000b: 290) der Bilder und der illusionszerstörende Bild-Ton-Kontrast schaffen hierbei die für die filmische Metaphernbildung konstitutive »Balance zwischen Anschauung und Begriff« (Eder/Kluge 1995: 7, i.O. fett). Verschwommen sind auch die ebenfalls mit Hilfe des Nachtsichtgeräts aufgenommenen Bilder von Männer- und Frauengesichtern (E 7279) in der gleichen Sequenz. Die Kamera geht sehr nah an die Gesichter heran, man sieht stellenweise nur Details der Augen-, Nasen- und Mundpartie. Durch die extreme Unschärfe, den zusätzlichen Verfremdungseffekt der Kolorierung und das flackernde Licht ist die Physiognomie der abgebildeten Personen kaum zu erkennen. Besonders Einstellung 75 ist sehr dunkel, man nimmt eigentlich nicht vielmehr als einen rötlichen Lichtfleck wahr. Erst die letzten vier der acht Einstellungen werden dann wieder etwas deutlicher. Zunächst sieht man eine stark geschminkte Frau, die an einer Zigarette zieht (E 76), in den folgenden Detailaufnahmen (E 77-79) ist dann Gabi Teichert identifizierbar, die mal sehr ernst, 51 Der in dieser Szene verwendete 0-Ton gehört eigentlich zur letzten Szene des Films, die ein Wintergewitter in Gabi Teicherts Hinterhof zeigt. (E 782788) Beide Szenen weisen identische Atmo-Geräusche auf.
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mal zaghaft lachend in die Kamera blickt. Die übrigen Gesichter lassen sich keinem der fiktionalen oder dokumentarischen Handlungsräume, die der Film entwirft, eindeutig zuordnen. Die kurze Einstellungsfolge wird eingerahmt durch Bilder von Militärfahrzeugen (E 69- 71) und einer Kampffliegerstaffel (E 80). Ein unmittelbarer raumzeitlicher Zusammenhang zwischen den gezeigten Gesichtern und den angrenzenden Bildern von verschiedenen Militäroperationen ist nicht nachweisbar. Es gilt für die Gesichter-Einstellungen, was Kluge auch von den Laterna-magicaBildern im Film sagt (Bitomsky et al. 1979: 511 ): Auf jeden Fall schaffen der Kontrast und die Stummheit der Bilder ein Dazwischen: eine Stelle, an der ein Sprung ist. Man kann ihn mit nichts Begrifflichem, mit keiner Logik ausfüllen. An dieser Stelle ist es für den Zuschauer möglich, in den Film einzudringen.
Bis auf Gabi Teichert bleiben die Männer und Frauen anonym. Auf sie trifft zu, was der Off-Kommentar auch über den Mann mit der Zigarette aus Einstellung 90 sagt: »Seine Geschichte kann ich nicht wissen.« Die Bilder oszillieren zwischen intimer Nähe und technisch erzeugter Distanz. Obwohl die Kamera sehr nah an die Menschen herangeht und so primär über die Augenpartie - durchaus verschiedene Stimmungslagen wie Angst, Trauer oder Nachdenklichkeit einfängt, wirken die Bilder durch die Kombination der verschiedenen Verfremdungseffekte auch auf eine irritierende Weise entrückt und abstrakt. Der Rhythmus der Bilder, Farben, Licht- und Schatteneffekte treten gegenüber den abgebildeten Personen in den Vordergmnd. 52 Auch in dieser Szene reflektiert der Film durch die verschwommene Perspektive seine eigenen medialen Grenzen und Möglichkeiten. Seine Rolle als Medium »der äußeren Realität«, das »sich an die Oberfläche der Dinge klammer[t]« (Kracauer 1993: 13), wird erneut in Frage gestellt. Die diffusen Porträtaufnahmen scheinen vielmehr mit filmischen Mitteln Wittgensteins Frage aufzugreifen, ob »man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen [kann]« und »ob das unscharfe nicht oft gerade das [ist], was wir brauchen« (Wittgenstein 1960: 326). Die Unschärfe in vielen Einstellungen der Patriotin ist keinesfalls als technischer Mangel misszuverstehen. Vielmehr untergraben die unscharfen Aufnahmen ganz gezielt die Bilderflut der modernen Mediengesellschaft und schaffen eine eigenständige ästhetische Qualität des Ungenauen bzw. Ungefähren. 53 Die Vagheit 52 Vgl. zur formalen Ebene in Kluges Filmen Gregor/Kluge (1976: 170). 53 Kluge knüpft mit seinem Plädoyer für die Ungenauigkeit explizit an einen Satz Musils an. Vgl. BUF (223): »Robert Musil sagt, daß das Erfolgreiche immer eine Genauigkeit im Ungefähren hat, während das nur Genaue nicht erfolgreich ist." - Vgl. zur Unschärfe in der Fotografie Hüppauf (1995: 346):
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der Bilder ist als Herausforderung bzw. Angebot für den Betrachter zu verstehen, die visuellen Leerstellen mit eigenen Bildern zu füllen. Bernd Hüppauf hat unscharfe fotografische Abbildungen als Markierung eines Zwischenstadiums an der Schwelle von Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit, von Konkretion und Abstraktion beschrieben. Unschärfe in der Fotografie schafft eine Brücke zwischen dem Anwesenden und dem Abwesenden, zwischen dem im Bild Bezeichneten und einer außerhalb des Bezeichneten liegenden Ebene in der Wirklichkeit des Bildes. [ ... ) sie löst Konturen der sichtbaren Welt auf, ohne die so entstehenden Formen den Prinzipien von Abstraktion zu unterwerfen. 54
Kluges gezielte Verwendung von Unschärfe erzeugt in Kombination mit anderen Verfremdungseffekten eine intendierte Störung eingeschliffener filmischer WahrnehmungsmusteL Immer wieder verweigert Die Parriotin dem Zuschauer den Blick auf einzelne Bilddetails. Die oftmals diffusen Bilder eröffnen große Auslegungsspielräume. An diesen filmischen Leerstellen kann die Assoziationsarbeit des Betrachters ansetzen. Gleichzeitig verweist der Film mit Bildern, die nach gängigen Normen als technisch defizitär gelten, auf seine eigene Materialität. Der Film zeigt nicht nur unscharfe Bilder. Es geht vielmehr um ein Bild der Unschärfe selbst. Die Unschärfe deutet als Form des Mediums Film auf dessen mediale Seite. Der für das Medium Film konstitutive fotochemische Herstellungsprozess der Bilder wird im unscharfen Bild seinerseits als Form beobachtbar. Über diese mediale Selbstreflexion hinaus fungiert die filmische Form der Unschärfe in verschiedenen Einstellungen aber auch als semantischer Code. Kluge spielt gelegentlich durchaus mit gängigen Bedeutungsmustern, die gerne mit unscharfen Bildern assoziiert werden. So wie die oben beschriebenen Aufnahmen von verschiedenen nebelverhangenen Schlachtfeldern metaphorisch als >verschwommene Erinnerungsbilder< des Knies gedeutet werden können, so erwecken die unscharfen und verwackelten Bilder von Grabungsarbeiten in der Stadt (E 241-247) umgekehrt den Eindruck flüchtiger Gelegenheitsaufnahmen. Sie signalisieren Authentizität und unterstreichen gleichzeitig den illegalen Cha-
»Das unscharfe Foto kann nicht aus dem Gedanken eines Mangels an Schärfe verstanden werden. Vielmehr muß die Unschärfe selbst als eine positive Bildqualität aufgefaßt werden." 54 Hüppauf (1995: 349-350). Da der Film aus einer technischen Weiterentwicklung des fotografischen Apparates hervorgegangen ist, lassen sich diese Überlegungen zum Medium der Fotografie durchaus auf das Medium Film übertragen.
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rakter der visuell nur undeutlich >dokumentierten< privaten Raubgrabungsarbeiten. 55 Meine Feststellung, dass Kluge in vielen Einstelhmgen seines Films auf >Bilder mit verschwommenen Rändern< 56 setzt, ist sowohl im wörtlichen, d.h. filmtechnischen, als auch im übertragenen Sinn zu verstehen. Indem er durch den systematischen Einsatz verschiedener filmischer Verfremdungsverfahren immer wieder den Genauigkeitsgrad der Bilder dosiert, entstehen die für seine >Poetik des Dazwischen< notwendigen filmischen Leerstellen nicht erst auf der Ebene der Montage, sondern bereits auf der Ebene der Mise en scene bzw. genauer: der Bildkomposition.s7
4.5.2 Zwischen Bild und Nicht-Bild: Schwarzfilm und Abblenden Wenn die optische Unschärfe im Film- wie oben beschrieben- einen Oszillationszustand zwischen der An- und Abwesenheit eines Bildes markiert, dann gilt das in noch stärkerem Maß für ein anderes filmisches Mittel, das Kluge mehrfach in Die Patriotin verwendet: den Schwarzfilm. Schwarzbilder treten als filmische Form in zwei Varianten in Erscheinung. Zum einen kann unbelichtetes Filmmaterial unmittelbar zwischen zwei Einstellungen geschnitten werden, so dass die Leinwand zwischen zwei Einstellungen für einige Sekunden schwarz bleibt, was den Schnitt, die Lücke, zwischen den beiden Filmbildern sehr stark betont. Zum anderen treten Schwarzbilder im Film auf, wenn das Erscheinen
55 Wolfgang Ullrich hat sich in seiner Geschichte der Unschärfe sehr ausführlich mit solchen Bedeutungskonventionen auseinander gesetzt. Vgl. zur Unschärfe als Indikator für eine introvertierte Perspektive und als Signal für Authentizität Ullrich (2002: 70-79 u. 90-98). 56 Wittgenstein spricht im Kontext seiner Überlegungen zum Sprachspielbegriff von einem »Begriff mit verschwommenen Rändern•• (Wittgenstein 1960: 326). 57 Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass der Eindruck der >Optischen Leere• in Kluges Patriotin nicht nur auf Verfremdungseffekte bzw. auf den technischen Ungenauigkeitsgrad der Bilder zurückzuführen ist. Kluge weist selbst darauf hin, dass es in jedem seiner Filme Szenen gibt, »WO auf der Leinwand gar nichts passiert•• (Gregor/Kluge 1976: 166). Als Beispiel können in diesem Zusammenhang die Landschaftsaufnahmen aus der ersten Sequenz des Films (E 24-35) angeführt werden. Diese Bilder "unseres schönen Deutschlands•• (E 24) wirken genau wie die Stadtansichten, die Kluge von Frankfurt zeigt, auf eigentümliche Weise gesichtslos und leer. Mit den blühenden Kirschbäumen und der Burgruine werden zwar Klischees zitiert (vgl. Wenzel 2000b: 294), >Postkartenromantik• (vgl. Carp 1987: 55) lassen die tristen, wie Gelegenheitsaufnahmen wirkenden Einstellungen jedoch nicht aufkommen. Die suchenden Kameraschwenks laufen ins Leere (E 24, 25, 34); die gezeigten Landschaften sind austauschbar. Nicht die Bilder selbst, sondern die verarbeiteten Klischees prägen sich dem Betrachter ein.
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oder Verschwinden eines Bildes - vermittelt über die technische Form der Auf- oderAbblende58 -inszeniert wird. Wie in Kapitel 3.4 beschrieben, leitet Kluge in seinen filmtheoretischen Reflexionen die mediale Spezifik des (Kino-)Films aus den Zwischenräumen zwischen den einzelnen Phasenbildern ab, d.h., er knüpft ganz im Sinne von Paech oder Siebert- das Medium Film an den die Illusion des Bewegungsbildes konstituierenden Moment des Dazwischen, der während der Dunkel- bzw. Transportphase von 1/48 Sekunde in der Kamera oder im Projektor intervallisch erzeugt wird. Mehrfach betont Kluge in Selbstdarstellungen, wie wichtig es für seine filmische Methode ist, diese Pausen zwischen den Bildern auszudehnen. Die Vergrößerung dieser Ruhemomente bezeichnet er als »ein ästhetisches Ideal im Kino« (Rötzer/Kluge 2000: 36; vgl. MB 105-1 06), und als einfachste Möglichkeit, um die Dunkelphase im Kino zu verlängern, nennt er das »Dazwischenschneiden von Schwarzfilm« (MB 106). Die Faszination, die von der schwarzen Leinwand ausgeht, hat er in einem Gespräch mit Bion Steinborn über seine Vorstellung von einem >cim\ma impur< beschrieben (Steinborn!Kluge 1982: 38): [ ... ], denn nichts ist schöner, als das ,,impure" durch Schwarzfilm zu kennzeichnen. Mich hat nichts mehr entzückt als die Unterbrechung des Films mit Schwarzfilm, wie sie Godard mal eine Minute lang machte und den Zuschauer damit spüren ließ, was eine Minute Filmzeit ist. Das könnte ich mit einem Bild so nicht ausdrücken.
In Die Patriotin geht Kluge selbst eher sparsam, aber dennoch sehr gezielt mit Schwarzfilm-Unterbrechungen des Films um. Auffällig ist, dass in der ersten Sequenz des Films gleich drei kurze, jeweils mit harten Schnitten eingefügte Schwarzfilm-Einstellungen (E 9, 23, 41) zum Einsatz kommen und dass dann im weiteren Filmverlauf mit einer Ausnahme (E 572) auf dieses filmische Mittel verzichtet wird. Indem Kluge das Verfahren nicht durchgängig, sondern nur ganz punktuell einsetzt, verhindert er ein Einschleifen des medialen Effekts und somit eine Reautomatisierung der Wahrnehmung. Erst die abschließende Sequenz wird dann wieder von zwei Schwarzfilm-Segmenten (E 634, 789) eingerahmt. Die Eröffnungssequenz der Patriotin dient nicht nur als thematische Introduktion, in der die beiden zentralen Figuren des Films (Gabi Teichert, Knie) vorgestellt und die inhaltlichen Schwerpunkte des Films (Deutsche Geschichte, Krieg, Protest, Gegengeschichte der Wünsche und 58 Eine Auf- oder Abblende kann sowohl während des Filmvorgangs (durch allmähliches Öffnen bzw. Schließen der Objektivblende an der Kamera) als auch während der Post-Produktion erzeugt werden.
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Träume) eingeführt werden. Der Filmauftakt fungiert gleichzeitig auch als formale Gebrauchsanweisung für die kommenden 120 Filmminuten. Bereits in den ersten Einstellungen wird deutlich gemacht, dass der Film kein in sich geschlossenes raumzeitliches Erzähluniversum schafft. Kluge konfrontiert den Zuschauer in den ersten sechs Minuten seines Films völlig unvermittelt mit seiner eigenwilligen Miniatur- und Montagetechnik, die eine Vielzahl heterogener Bildmaterialien aufeinander prallen lässt und von Anfang an das Prinzip des unsichtbaren Schnitts durch das Prinzip der betonten Bruchstelle ersetzt. Er legt gewissermaßen die formalen Spielregeln seines Films fest, indem er systematisch vorfuhrt, dass die Lücken zwischen den Bildern für ihn ebenso wichtig sind wie die Bilder selbst. Mit den drei einmontierten Schwarzfilm-Segmenten erhalten die Pausen zwischen den Filmbildern, die sonst wegen der Trägheit des Auges bei einer Geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde nicht wahrgenommen werden, eine sichtbare Form. Schwarzbilder stellen eine simple gestalterische Möglichkeit dar, die Zwischenräume zwischen den Filmbildern zu extensivieren und beobachtbar zu machen. Obwohl die technisch-apparative Seite des Kino-Dispositivs nach wie vor intakt ist, d.h., obwohl der Film weiterhin durch den Projektor transportiert wird, nimmt der Betrachter den Schwarzfilm als Unterbrechung des Bilderstroms auf der Leinwand, als Stönmg wahr. Im Gegensatz zu herkömmlichen Erzählfilmen, in denen häufig Zeitsprünge oder Ortswechsel gerne in Verbindung mit Ab- und Aufblenden- durch Schwarzfilm markiert werden, dienen die Schwarzbilder bei Kluge gerade nicht als narratives Mittel zur Kennzeichnung raumzeitlicher Zusammenhänge oder dramaturgischer Höhepunkte. Das schwarze Bild, das vom Zuschauer als Fehlen eines Bildes, d.h. als Nicht-Bild, wahrgenommen wird, steht für nichts weiter als für die Lücke zwischen den Bildern selbst. Die mittels Schwarzfilm formulierte Pause, die in diesem Fall ja keinen kontinuierlichen Handlungsfluss unterbricht, intensiviert die Wirkung der besonders markanten visuellen Bruchstellen des Films. Ausgehend von Paechs Unterscheidung zwischen medialen und sujethaften Erzählverfahren im Film, 59 kann man sagen, dass Kluge, indem er mit Schwarzfilm die Lücken zwischen den Bildern sichtbar macht, auf ein mediales Verfahren setzt. Die Schwarzbilder markieren einen Zwischenraum, der üblicherweise in der Transparenz des Mediums Film zu der auf der Leinwand erzählten Filmhandlung unsichtbar bleibt. Es entspricht hierbei der paradoxalen Struktur des Dazwischen, dass das Fehlen eines Bildes seiner59 Vgl. Paech (1998c: 59): »Medial ist das Verfahren, wenn es [ ... ] seine medialen Bedingungen an den Oberflächen seiner Bilder figuriert, indem es auf sich selbst als ·Bild' verweist. [ ... ] Sujethaft ist das Verfahren, wenn es seine Mittel zugunsten seiner referenziellen (Illusions- )Effekte unsichtbar und seine Oberfläche transparent macht zur erzählten Handlung[ ... ]. "
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seits auch wieder nur als (schwarzes) Bild darstellbar ist. Auf der Handlungsebene des Films ist es dann Gabi Teichert selbst, die dem Staatsschützer M. das auf den Pausen zwischen den Bildern beruhende Prinzip der Filmkamera erläutert: Machen Sie mal so (sie zwinkert mit den Augen als wären diese Verschlußkappen von Kamerablenden) ... als ob Sie kleine Aufnahmen machen würden mit der Kamera. (Sie zieht von einer Stelle zwischen den Augen die Energie aus ihrer Stirn in die Mitte des Raumes.) Dann geht die Energie raus. (PA 109; E 292)
Ähnlich punktuell, aber insgesamt etwas häufiger arbeitet Kluge in Die Patriotin mit der filmischen Form der Abblende. Formal kann man hierbei zwischen >normalen< Abblenden, bei denen das Bild bis zum einheitlichen Schwarz stetig abgedunkelt wird, und Kreis- bzw. Irisblenden, bei denen das Bild kreisförmig ausgeblendet wird, differenzieren. Funktional lassen sich ebenfalls zwei Typen unterscheiden. Der erste Typ deckt sämtliche Fälle ab, in denen die Abblende das Ende einer filmischen Erzähleinheit (Szene, Sequenz etc.) oder einen Handlungssprung signalisiert, alle Verwendungsweisen also, in denen das Ausblenden des Bildes auf der Ebene der Narration als Hilfsmittel dient. Abblenden als konventionalisiertes erzähltechnisches Mittel gibt es auch in Kluges Film. Sie markieren dann das Ende eines Erzählzusammenhangs (E 89, 525), einen Zeitsprung auf der Handlungsebene (E 322) oder das Ende des gesamten Films (E 790). In Kombination mit einer Aufblende kann die Abblende eine Rahmenfunktion zur Kennzeichnung einer in sich geschlossenen Montagefolge übernehmen (E 649-658). Als narratives Mittel hilft die Abblende dem Betrachter somit vor allem bei der Segmentierung des Films in kleinere filmische Einheiten. Diesem erzählerischen Typ der Abblende steht ein selbstreflexiver Typ gegenüber, der auf der Ebene der Filmerzählung zunächst keine erkennbare Funktion erfüllt und somit wiederum als rein mediales Verfahren gesehen werden muss, das, indem es ein Bild des Verschwindens eines Bildes formuliert, auf die Bedingungen seiner Form verweist. Ähnlich wie in der Überblendung wird in der Abblende »die Form zum Medium ihrer Funktion tmd verweist damit an der Oberfläche ihrer Bilder auf die >Medialität< ihrer Artikulation.« (Paech 1998c: 63) Paech hat wiederholt die filmische Figur der Überblendung als Figuration des Dazwischen beschrieben und dabei nur am Rande auch auf die Figur der Auf- und Abblende verwiesen, welche »die Formen noch stärker ihrem Verschwinden im Medium aus[liefern], wenn
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sie im Weiß oder Schwarz, aus dem sie zu kommen und in das sie zurückzukehren scheinen, unbeobachtbar werden.« 60 Anhand von drei Beispielen soll gezeigt werden, wie Kluge in Die Patriotin Abblenden als filmische Formen verwendet, die in der von Paech angedeuteten Weise selbstreflexiv auf ihr Verschwinden im Medium verweisen. Sequenz II enthält zwei kurze Einstellungen, die jeweils mit einer kreisförmigen Blende beendet werden. Im ersten Fall zeigt die Einstellung einen kurzen Moment die Mondsichel am Himmel, bevor sie sehr schnell durch eine Kreis- bzw. Irisblende61 bis ins monochrome Schwarz verdunkelt wird (E 52). Im zweiten Fall sieht man für einen Moment etwas undeutlich das blaustichige Bild einer Stadt- bzw. Fabriklandschaft, das dann ebenfalls nach wenigen Sekunden zügig ausgeblendet wird (E 54). Die Kreisform der Blende erscheint in beiden Bildern zunächst diegetisch motiviert. Die Einstellungen 50 und 51 zeigen Gabi Teichert in einer Sternwarte an einem großen Fernrohr. Die anschließende kreisförmige Mond-Einstellung suggeriert, dass es sich hierbei um einen Point-of-View-Shot handelt, der Gabi Teicherts Blick durch das Fernrohr wiedergibt. Danach sieht man die Geschichtslehrerin wieder in einer Halbtotalen, den Blick in den Himmel gerichtet, am Fernrohr stehen (E 53). Wertet man Einstellung 52 in der beschriebenen Weise als Point-of-View-Shot, dann ist die räumliche Kontinuität der Einstellungsfolge gewährleistet. Auch die kreisförmige Abblende im folgenden Bild lässt sich dementsprechend noch auf der Handlungsebene mit dem Blick durch das Fernrohr assoziieren. Aber hier zeichnet sich bereits ein inhaltlicher Bruch ab. Das Fernrohr in der Sternwarte ist fast senkrecht in den Himmel gerichtet. Diese Blickrichtung passt jedoch auf keinen Fall zu der in Einstellung 54 gezeigten Fabriklandschaft mit den qualmenden Schornsteinen. Darüber hinaus finden sich bei genauer Betrachtung aber noch weitere Störungen auf der Handlungsebene, die einer Deutung der beiden Kreisblenden als Blick durch das Fernrohr zuwiderlaufen. Gabi 60 Paech (2002a: 127). Vgl. zur Überblendung als »Figuration des Zwischen" vor allem Paech (1998c: 53-72). 61 Der filmtechnische Begriff der Irisblende ist doppelt codiert. Zum einen wird mit dem Terminus ein aus überlappenden Metallplättchen bestehender, »den Lichteinfall regulierender Mechanismus zwischen den Linsen eines Kameraobjektivs" (Vossen 2002: 80) bezeichnet. Zum anderen handelt es sich um die Bezeichnung für eine vor allem im Stummfilm übliche Trickblende, bei der das Bild kreisförmig ausgeblendet wird. Einmal geht es also um einen konkreten Teil der Kameraapparatur und einmal um eine filmische Form, die durch die Apparatur erst ermöglicht wird. Wenn es um die kreisförmige Trickblende geht, werden die Begriffe Kreis- und Irisblende zumeist synonym verwendet. Teilweise wird die Begriffsextension sogar noch ausgeweitet, indem auch noch Einstellungen, in denen lediglich ein runder Bildausschnitt durch eine Maske fokussiert wird, ohne dass das Bild tatsächlich ausgeblendet wird (E 301, 302, 361 ), als Kreisblenden bezeichnet werden. Es erscheint mir jedoch präziser, in diesem Fall von Kreismasken zu sprechen.
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Teichert, die in der Observatoriumsszene das Untersuchungsfeld ihrer Geschichtsforschung von der Erde (Graben) in den Himmel (Stembeobachtung) verlagert, blickt ganz offensichtlich für einen längeren Zeitraum in das Fernrohr. Zu dieser konzentrierten Form der Beobachtung wollen die sehr kurzen Einstellungen, die das jeweilige Bild nur für den Bruchteil einer Sekunde zeigen, bevor sie es in der Abblende dem Verschwinden aussetzen, nicht passen. Die beiden Kreisblenden in der Oberservatoriumsszene erweisen sich somit auf den zweiten Blick eher als Störfaktor für die filmische Kontinuität. Das visuelle Prinzip des Fernrohrs, das üblicherweise als Apparatur zur Sichtbarmachung von Objekten, die mit bloßem Auge nicht gesehen werden können, dient, steht letztlich in einem diametralen Verhältnis zur filmischen Form der Abblende, der es ja gerade umgekehrt um das Verschwinden, das Nicht-Sichtbarmachen, der gezeigten Objekte geht. Die Kreisblenden passen sich in dieser Szene folglich nicht, wie zunächst angenommen, nahtlos in eine kontinuierliche Handlungslogik ein, sondern sie wollen ganz im Gegenteil als (Kontrast)Figuren gelesen und begriffen werden. Diese Deutung kann nun wiederum auf zwei verschiedenen Ebenen erfolgen. Auf der Ebene thematischer Zusammenhänge geht es um den Gegensatz von Nähe und Ferne, der in Geschichte und Eigensinn als zentrales Problem für die Wahrnehmung geschichtlicher Verhältnisse erkannt wird: Die Nähesinne arbeiten, an den Fernsinnen ist nicht gearbeitet worden. Sie bilden vor allem keine Gesellschaft. Das ist politisches Problem der Gegenwart und Verzerrung des Grundverhältnisses zur Geschichte. (GE 598, i.O. fett; vgl. auch Kap 3.2)
In seiner Rede zur Verleihung des Fontane-Preises kommt Kluge auf das prekäre Verhältnis von Nähe- und Fernsinn dann nochmals zurück. Hier knüpft er das generelle Problem an die Frage nach den geeigneten Werkzeugen der Wahrnehmung (Kluge 1983c: 313): ln der Nähe, die uns erfahrbar ist, finden die Entscheidungen nicht statt. ln der Ferne aber - die uns nicht erfahrbar ist, für die wir die geeigneten Fernrohre (oder Mikroskope) in unseren Sinnen nicht haben - finden die wirklich großen Schläge statt. Beides kommt nicht zusammen.
Gabi Teichert nimmt diesen Gedanken wörtlich. Sie nutzt zur Erweiterung ihrer eigenen Sinne beide Instrumente, das Fernrohr (E 50-53) und das Mikroskop (E 613-614). Der Film findet dann für das Scheitern ihrer sinnlich-praktischen Herangehensweisen jeweils einen visuellen Ausdruck. Während das Mikroskop nur ein Bild völlig unscharfer, kaum er-
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kennbarer Strukturen freigibt, wird der Blick durch das Fernrohr als Verschwinden eines Bildes dargestellt. Fernrohr und Mikroskop scheinen als Werkzeuge zur Betrachtung geschichtlicher Verhältnisse genauso wenig geeignet wie Sichel, Hammer, Säge und Bohrer, mit denen Gabi Teichert in ihrem Kellerlabor die Bücher bearbeitet (E 462--466). Ich glaube aber, daß das weder für die Beziehung zwischen Menschen noch für gesellschaftliche Erfahrungen Geräte sind, mit denen Sie sehr viel anfangen können. Sie können die Geschichte auch nicht sägen oder in ihr Bohrlöcher anlegen. Das, was ein Mikroskop für jeden Naturwissenschaftler oder ein Fernrohr für den Astronomen ist, das gibt es - was gesellschaftliche Erfahrung angeht - nur in Form der Abstraktionsfähigkeit des menschlichen Kopfes. Und das ist eben nicht genauso sinnlich wie eine Umarmung. 62
Christian Schulte hat die Fernrohrszene mit dem Aphorismus von Karl Kraus in Beziehung gesetzt, der in der letzten Sequenz des Films als Schriftinsert erscheint: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« (E 647) Das Schriftinsert bietet nicht nur einen allgemeinen »Schlüssel für das Verständnis des Films« (Schulte 2000b: 57), sondern auch einen konkreten Schlüssel für das Verständnis der KreisblendenFigur. Je näher sich Gabi Teichert die Geschichte mit »starken Objektiven« (Schulte 2000b: 57) heranholen möchte (Prinzip Fernrohr), desto mehr gerät sie ihr aus dem Blick (Prinzip Abblende). Die den Blick verdunkelnde Kreisblende kann als Metapher für die basale erzähltechnische Problemstellung, an der sich Kluge in Die Patriotin abarbeitet, gelesen werden. ln der Tat blickt Kluge in seinem Film so ungewohnt nah auf Deutschland, daß sich der Blick verwirrt und das eigene Land fremd und fern erscheint [ ... ] Je näher man hinsieht, desto schneller lösen sich die großen Begriffe auf. (Kaes 1987: 68)
Auf der Ebene medialer Selbstreflexion geht es bei der Abblende um das Paradox einer medialen Form der Auflösung von Formen. Intertextuell verweist die Kreisblende auf die Erzähltradition des Stummfilms (vgl. Harrsen 1988: 194), intermedial deutet sie als selbstreflexive filmische Form auf eine dem technischen Prinzip des Films inhärente »Ästhetik des Verschwindens« (Virilio 1986; Paech 2002a: 112-132). In beiden
62 Kluge (1983c: 314). Die gesamte ·Utopie Film< basiert letztlich auf der Hoffnung, dass mit dem Film ein Instrument gegeben sein könnte, das die erforderliche Balance zwischen Nähe- und Fernsinn, zwischen Sinnlichkeit und Abstraktion ermöglicht.
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Einstellungen lässt sich hierbei ein irritierendes Phänomen beobachten, das technisch vermutlich mit der Verwendung eines Nachtsichtgeräts zusammenhängt. Sowohl die Mondsichel als auch die Fabriklandschaft werden optisch nur sehr unscharf wiedergegeben. Die Bilder gewinnen jedoch just in dem Moment, in dem sie durch die Abblende ihrem Verschwinden ausgesetzt werden, für einen kurzen Augenblick an Schärfe. Mit anderen Worten: Erst in ihrer Auflösung erhalten die Bilder für den Bruchteil einer Sekunde eine scharfe Kontur. Der transitorische Moment des Übergangs vom Bild zum Nicht-Bild ist der Moment, in dem das Bild eigentlich erst richtig sichtbar wird. Das erinnert an einen Satz, den Paul Virilio in einem Gespräch mit Fred Forest geäußert hat: »In der Ästhetik des Verschwindens sind die Dinge desto präsenter, je mehr sie uns entgleiten.« (Virilio/Forest 1991: 340) Virilio formuliert hier letztlich mit umgekehrten Vorzeichen den gleichen Gedanken, der auch dem Zitat von Karl Kraus zugrunde liegt. Kluge findet mit den beiden Kreisblenden, in denen das Verschwinden und das Erscheinen des Bildes einen flüchtigen Moment lang zu einem einzigen Prozess verschmelzen, für die in den Zitaten von Kraus und Virilio angedeutete Dialektik von Nähe und Feme, von Erscheinen und Verschwinden, einen geeigneten filmischen Ausdruck. Die Abblende ist als Bild des Verschwindens eines Bildes eine Schwellenfigur, die einen Oszillationszustand zwischen Bild und NichtBild markiert. 63 Dass es sich bei der Abblende um ein filmisches Verfahren handelt, das einen Zustand des Dazwischen fommliert, wird in einer weiteren Einstellung der gleichen Sequenz noch deutlicher betont. Man sieht, wiederum durch eine Kreisoptik fokussiert, ein dunkles, leicht blaustichiges Bild eines Mannes, der in einiger Entfernung eine Zigarette raucht. Der dazugehörige stichwortartige Off-Kommentar lautet: Dokumentarisch! Ein Mann mit einer Zigarette in achthundert Meter Entfernung, nachts. Seine Geschichte kann ich nicht wissen. (E 90; vgl. PA 68)
Der mit Mantel bekleidete Mann ist tatsächlich nur ansatzweise zu erkennen. Visuell auffällig ist vor allem das mehrmalige, deutlich sichtbare Aufleuchten der Zigarette. Die Kreisoptik könnte auch hier wieder als Point-of-View-Shot durch ein Fernrohr gedeutet werden. Da man aber in den angrenzenden Einstellungen keine Person mit einem Fernglas gezeigt bekommt, der dieser Point of View zugeordnet werden könnte, da
63 Vgl. Reitz/Kluge (1995: 86): »Es gibt etwas zwischen Bild und Nicht-Bild.« Vgl. zur kunsthistorischen Auseinandersetzung mit einer .. Ästhetik der Absenz••, bei der es um die gleichzeitige An- und Abwesenheit von Bildern geht, Lehmann (1994: 42-74).
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es sich auf der Bildebene überhaupt um eine völlig isolierte Einstellung handelt, ist diese Interpretation nicht zwingend vorgegeben - auch wenn die Kamerabewegung in diesem Fall das Sehverhalten mit einem Fernglas spürbar nachahmt. Nachdem sie den Mann einen Moment lang beobachtet hat, schwenkt die Kamera, als ob sie die Gegend erkunden wollte, nach links einen Hügel hinauf bis zu einem Busch, verharrt dort einen kurzen Augenblick, um dann wieder in einer stockenden Bewegung zurück auf den Mann mit der Zigarette zu schwenken. Erst dann beginnt die eigentliche Irisblende. In diesem Fall stellt sich hierbei allerdings ein seltsamer Effekt ein. Während das Bild langsam im Schwarz verschwindet, bleibt der Lichtpunkt der Zigarette weiterhin sichtbar. An die Stelle des Bildes des rauchenden Mannes tritt das Nicht-Bild der schwarzen Leinwand, auf der aber weiterhin ein Lichtschein der Zigarette- gewissermaßen als Spur des verschwundenen Bildes- erkennbar bleibt. Dann markiert der Lichtpunkt einen Bogen, der die Flugbewegung einer weggeworfenen Zigarette andeutet, bevor das Bild endgültig schwarz wird. Die Abblende ist eine filmische Form des Verschwindens. Indem er in dieser Einstellung das Verschwinden der Form verzögert, indem er also den im Verschwinden des Bildes aufblitzenden Moment des Dazwischen ausdehnt, führt Kluge mit filmischen Mitteln vor, wie durchlässig die Grenze zwischen Bild und Nicht-Bild ist.
4.5.3 Das filmische Bewegungsbild als intermediale Figuration: Zeitraffer und •freeze frame< Paech hat in seinen Aufsätzen zur Intermedialität des Films wiederholt die enge Beziehung zwischen Film und Fotografie betont. Er knüpft die Beschreibung der Intermedialität zwischen Fotografie und Film an den Begriff der Transformation und versteht die Fotografie, ausgehend von Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung, als »>Medium< filmischer Formen« (Paech 1998d: 23): ( ... ] die Form des Übergangs, ihre transformative Differenz, •figuriert, als sichtbare Bewegung an den Stellen des Dazwischen, als Form ihres unsichtbaren mechanischen Mediums der Bewegung in der Differenz zwischen den Einzelbildern.
Bereits in Kapitel4.4 habe ich darauf hingewiesen, dass Paech in diesem Sinne das Bewegungsbild des Films seinerseits schon als intermediale Figuration auffasst. Die Differenz zwischen Film und Fotografie figuriert - das ist der Kerngedanke seines Ansatzes - im Bild der Bewegung, will heißen: in der Differenz zwischen den einzelnen Phasenbildern des
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Films. Die Definition der Medialität des Films wird von vornherein an die Mediendifferenz zwischen Film und Fotografie geknüpft. Die für das Medium Film konstitutive Bewegungsillusion wird als »das dominante Merkmal der Abgrenzung zu verwandten Bild-Medien« (Siebert 2002: 127) bestimmt. Beobachtbar wird diese für das Bewegungsbild notwendige Figur der Differenz zwischen den Bildern, die üblicherweise von der Filmerzählung verdeckt wird und unsichtbar bleibt, wenn sie ihrerseits im Bewegungsbild selbst figuriert, indem sie wiederum als Form, z.B. als Flicker-Effekt64 , in Erscheinung tritt. Kluge setzt in Die Patriotin, wenn er das Bewegungsbild durch Zeitraffertechnik beschleunigt oder im >freeze frame< scheinbar anhält, zwei verschiedene, letztlich gegenläufige filmische Verfahren ein, die jeweils relativ losgelöst von der Darstellungsebene die medialen Voraussetzungen des filmischen Bewegungsbildes reflektieren. In vier locker über den gesamten Film verteilten Einstellungen (E 66, 269,400, 401) arbeitet Kluge mit Zeitrafferaufuahmen, die jeweils längere Zeiteinheiten auf wenige Sekunden verdichten und so Bewegungsabläufe und Lichtveränderungen sichtbar machen, die mit bloßem Auge ohne Einsatz der technischen Apparatur nicht wahrgenommen werden könnten. 65 Bei der Zeitraffertechnik handelt es sich genau wie bei der Zeitlupe um ein filmisches Verfahren, das sich die technisch-apparative Kombination von Aufnahme und Projektion zunutze macht. Ist die Bildfrequenz bei der Aufnahme geringer als bei der Projektion (>Unterdrehentime-lapse ci-
64 Der Flicker-Effekt tritt in Die Patriotin immer dann in Erscheinung, wenn Kluge auf besonders altes Stummfilmmaterial zurückgreift, das zumeist mit einer niedrigeren Geschwindigkeit von 16 bis 18 Bildern pro Sekunde hergestellt wurde. lntertextuell dient dieses leichte Flimmern der Bilder, das vor allem an den Bildrändern auffällt, als sichtbare Markierung für die Herkunft des Materials; auf der Ebene der lntermedialität geht es um die Zwischenräume zwischen den einzelnen Phasenbildern, die sich im Flicker bemerkbar machen. - Am Beispiel des strukturalen Films, der auf radikale Weise »Seine formalen Eigenschaften zum Filminhalt•• (Spielmann 1998: 42) erhebt, hat Yvonne Spielmann beschrieben, wie die medialen Bedingungen des Films ihrerseits als sichtbare Konstruktion dargestellt werden können: »Durch eine gestalterische Bearbeitung des Intervalls wird der Zeitsprung im Bewegungsbild sichtbar, und der Einsatz des Flicker-Effekts unterbricht die Wahrnehmungskontinuität. Der strukturale Film bringt den Zwischenraum zwischen den Bildern zur Sichtbarkeit und greift in die Bildschicht und den Projektionsmechanismus ein ... (Ebd.: 43) Vgl. zum strukturalen Film auch Eberhard (2002: 599-600)_ 65 Vgl. Lewandowski (1980b: 265). Auch in anderen Einstellungen- wie z.B. den Silvesterbildern aus Köln (E 643-648) -verwendet Kluge Zeitrafferaufnahmen, die aber im Gegensatz zu den vier genannten Einstellungen nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind. Vgl. ausführlich zur Zeitraffung in Kluges Patriotin Becker (2004: 230-241 ).
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nematographyZeitmaschine Film< beschleunigt. Vor allem in den schnell vorüberziehenden Wolken wird für das Verfließen der Zeit eine sichtbare Form gefunden. Die ruhige Musik unterstützt den Eindruck eines harmonischen Bildes, das auf stimmungsvolle Weise »die Randzonen des Lichts« 67 einfängt. Bei den übrigen drei Zeittotalen handelt es sich ebenfalls um nächtliche Stadtimpressionen von Frankfurt. Einstellung 269 zeigt - wiederum aus der Vogelperspektive- eine belebte Hauptverkehrsstraße. Die Autos auf der offensichtlich viel befahrenen Straße sind nur als rasende rote und weiße Lichtpunkte erkennbar. Kluge findet in dieser Einstellung für die sprachliche Metapher der >Verkehrsader< einen geeigneten filmischen Ausdruck. Die nächtliche Stadt erscheint in der Zeittotalen als eine lebendige, pulsierende Gestalt, deren »Zeitgefühl« filmisch formuliert wird. Die Stadt lebt ihren 24-Stunden-Duktus und ihren 200-oder-300-Jahre-Duktus in großen Totalen, so daß das Hineinfahren der Autos am Morgen und ihr Hinausfahren am Abend die Existenzform, der Puls der Stadt ist. (Rötzer/Kluge 2000: 36)
Die beiden übrigen Zeittotalen, die am Anfang von Sequenz VIII stehen, folgen dann unmittelbar aufeinander. In Einstellung 400, die verschiedene Hochhausfassaden bei Nacht zeigt, äußert sich der Zeitraffereffekt lediglich im schnellen Aufleuchten und Verlöschen der Lichter in den Fenstern. Das Filmbuch liefert zu dieser Einstellung die genaue Zeitangabe nach: »Zeit-Totale von 20 Uhr bis 20.14 Uhr (etwa Zeit einer durchschnittlichen Abendschau).« (PA 130) Die folgende Einstellung (E
67 Reitz/Kluge (1995: 85). Kluge bezeichnet sich hier selbst als >Mensch der Dämmerung•; er betont, dass es ihm bei den Zeitrafferaufnahmen nicht so sehr um die Beschleunigung, sondern vielmehr um die Darstellung interessanter Lichtverhältnisse gehe (ebd.: 82).
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401) kehrt dann die Lichtverhältnisse aus 66 um und zeigt Frankfurt in der Morgendämmerung. Es handelt sich jeweils um isolierte >Bilder der Zeitfreeze frameangehaltenen Bild< des Hitlerjungen einsetzt, fällt es leicht, diesen Jungen als Obergefreiten Wieland zu identifizieren. Der Film isoliert und betont diesen speziellen Augenblick im Leben Wielands, indem der das Bild auf der Leinwand für einen Moment erstarren lässt. Wenige Einstellungen später wird dieser filmische Effekt des Zeitstillstandes sogar noch verstärkt. Man sieht undeutliche SchwarzweißBilder von Soldaten, die einen Hügel hinaufsteigen (E 696), dann erfolgt eine helle Explosion und das Bild stockt für einen Moment (E 697), als ob die technische Apparatur im Moment der Detonation erstarren würde. Dann setzt sich das Bild wieder in Bewegung. Man sieht einen Soldaten mit Panzerfaust (E 698), das Bild gerät jedoch erneut ins Stocken und läuft nun rückwärts. Ruckartig wiederholen sich die Bilder mehrmals im Vorwärts- und Rückwärtslauf Die Montage setzt in diesem abrupten Vor- und Rücklauf der Bilder rhythmisch den für den Bewegungsablauf des Knies typischen Wechsel aus Straffen und Einknicken um. Der OffKommentar des Knies lautet entsprechend »synchron zur Bildbewegung« (PA 171): Nun ist festzuhalten, dass ein Knie grundsätzlich vorwärts schreitet; alle halben Meter einknicken und alle halben Meter straffen. (E 696-698)
Die folgenden Einstellungen, die sich wiederholende Bilder von Geschosseinschlägen und Explosionen zeigen (E 701- 703, 707- 708), gruppieren sich um die Groß- (E 700, 704) bzw. Nahaufnahme (E 706) eines jugendlichen Soldaten mit einer Panzerfaust. Die Vermutung, dass es sich bei diesem Soldaten ebenfalls um den Obergefreiten Wieland handelt, liegt nahe, auch wenn es in diesem Fall nicht explizit im Film erwähnt wird (vgl. PA 171). Unterbrochen durch Aufnahmen aus Frankfurt (E 687- 689) und die filmische Inszenierung einer Zeichnung, die einen utopischen Stadtentwurf zeigt (E 690-695), setzt das Knie mit den irreal wirkenden Bildern von Kampfhandlungen die Geschichte des Obergefreiten Wieland, von dem der Zuschauer ja bereits erfahren hat, dass er »in Stalingrad umkam«, logisch fort. Die formale Parallelität unterstreicht zusätzlich, dass die beiden Einstellungsfolgen auch inhaltlich zusammengehören. Abermals werden die Bilder mehrfach >eingefrorenZwischenbildesfreeze frameangehaltene Bild< ist der Tod des Bewegungsbildes, >l'arret de mortfreeze frame< findet dieses Dazwischen eine filmische Form. Das ·angehaltene Bild· ist das •Bild dieses Dazwischen•, das Bild der Bewegung zwischen Bewegungslosigkeiten (das sind die für die Projektion angehaltenen Bilder), das nur als nach wie vor mechanisch bewegtes ·Bild· von Bewegungslosigkeit ·erscheinen • kann. [ ... ]in der Dekonstruktion der Bewegung wird das Bewegungsbild aufgebrochen und sichtbar gemacht, was ·dazwischen· ist: Ein Bild, das das Bild dieser Bewegung ist. (Paech 1994b: 172-173)
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4.5.4 Das Bild zwischen den Bildern: Montage als Differenzform des Dazwischen Weitgehende Einigkeit besteht in der Forschungsliteratur darüber, dass das Dazwischen in Kluges Filmen primär durch die originelle Montagetechnik als ästhetische Form in Erscheinung tritt. Die »ambivalente Denkfigur eines Zwischenzustandes« (Carp 1987: 53), die auf der Ebene der Darstellung nicht nur das tote Knie, sondern auch viele andere Figuren Kluges kennzeichnet, die häufig unter ihrer Ortlosigkeit leiden, sie aber gleichzeitig auch als Chance nutzen/ 1 manifestiert sich auf der Ebene medialer Formbildung in einer besonderen Weise des Montierens, der es nicht um die Herstellung von Kontinuität, sondern in erster Linie um den Zwischenraum zwischen den Bildern geht. Die aus dem Morgenstern-Gedicht entlehnte Figur des Knies steht als abstrakte Denkfigur für die auf Brüche und Lücken ausgerichtete filmische Verfahrensweise Kluges, für das Prinzip des sichtbaren Schnitts und die Kategorie des Zusammenhangs. Es gibt ja das Knie nicht, wie ich genau erkundet habe bei den Orthopäden, denn es ist tatsächlich nur das Gelenk, das Dazwischen. Es ist nicht einmal irgendein Saft der Gefäße. Und das ist es doch eigentlich: die Hauptsachen in dem Film stecken zwischen den Schnitten. (Bitomsky et al. 1979: 518; vgl. Kaes 1985: 136)
Die Montage ist das wichtigste Ausdrucksmittel des essayistischen Films. Dass es hierbei weniger um das handwerkliche Zusammenfügen von Bildern und Einstellungen, als vielmehr um eine spezifische Denkund Darstellungsform geht, hat Kreimeier in seiner am Beispiel von Kluges Parriotin explizierten Unterscheidung zwischen der >Film-Montage< und dem >Montage-Film< zum Ausdruck gebracht: Montage als Bearbeitungsvorgang ist in einem Film wie "Die Patriotin,, nur das technische Substrat, das Medium für eine Montage-Konzeption , für ein Montage-Denken, das erkenntnistheoretisch fundiert ist und mehr mit manchen Montage-Formen in der Literatur, mehr auch mit den surrealistischen Montagen von Max Ernst gemeinsam hat als mit den Strukturprinzipien eines nach der Scheinlogik narrativer Kohärenz zusammenmontierten Spielfilms oder Dokumentarfilms herkömmlicher Provenienz. 72 71 Vgl. Carp (1987: 53): »Auch viele der weiblichen Hautfiguren seiner Filme sind heimatlos, ortlos, keinem sozialen Zusammenhang zugehörig, dadurch in der Lage, mehr zu sehen, aber alle nach etwas suchend und unterwegs." 72 Kreimeier (1980: 29). Vgl. zum Begriff des Montage-Films auch Kluge selbst in PA (40-41 ). Kreimeier sieht Kluges erkenntnistheoretische Montage-Konzep-
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Der an der Vermittlung konkreter geschichtlicher Erfahrungen interessierte Film Die Patriotin kann in diesem erkenntnistheoretischen Sinn als ein >Montage-Film< bezeichnet werden, »der aus einer Vielzahl unterschiedlich großer, vom Standpunkt der normativen Dramaturgie betrachtet >autonomer< Segmente« (Kreimeier 1980: 28) einen neuen Zusammenhang herstellt. 2000 Jahre deutsche Geschichte bilden die Erzählfläche, die es mittels Montage eines völlig disparaten Bild-, Text- und Tonmaterials zu erschließen gilt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden hierbei nicht durch etablierte filmische Narrationstechniken wie Rück- oder Vorausblende in Beziehung gesetzt. Ganz im Sinne eines Geschichtsbegriffs, der die Gegenwart über die Vergangenheit und die Vergangenheit über die Gegenwart begreift, geht es Kluge in seinem >Montage-Film< um das Prinzip der Gleichzeitigkeit, um die Evokation eines Simultaneitätseindrucks in der Sukzession der Bilder. Als das eigentliche Wesen der filmischen Montage sieht er »die Fähigkeiten des Kinos, Gleichzeitigkeiten zu erzeugen, obwohl doch eine Einstellung hinter der anderen hängt« 73 . Dass Kluges komplexe Montage-Konstruktionen hierbei auf die aktive Mitarbeit und Phantasietätigkeit des Zuschauers bauen, wurde bereits in Kapitel 3.4 angesprochen. Die Montage »stellt die Lücken bereit, in die die Assoziationen und die Phantasie des Zuschauers eindringen können« 74 . Bevor es jedoch um die Frage geht, auf welche Weise Kluge versucht, mit Hilfe des Montageprinzips immaterielle Bilder zwischen den Bildern zu generieren, gilt es zwei Beobachtungen zur Bild-Montage in Kluges Patriotin festzuhalten, die in der Forschungsliteratur, vermutlich weil sie auf den ersten Blick so profan wirken, zumeist wenig Beachtung finden. Zum einen darf die ästhetische Dominanz der abseits von allen filmgeschichtlich etablierten Montagemustern stehenden GeschichtsMiniaturen in Die Patriotin nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kluge nicht gänzlich auf die tradierten Mittel des konventionellen Erzählkinos
tion in der Tradition von Ernst Bloch oder Walter Benjamin, und auch Kluge selbst verweist im Hinblick auf seinen Montagebegriff eher auf literarische als auf filmische Vorbilder: »Wir würden auch den Montagebegriff nicht von Eisenstein ableiten, sondern wir würden ihn frei ableiten aus dem, was in der Literatur an Montage existiert und was in jedem Kopf und in der Erfahrung selbst vorhanden ist.•• (UD 38) Das Problem der historischen und theoretischen Verortung von Kluges Montagetechnik werde ich jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter vertiefen. 73 Kluge in Bevers et al. (1980: 17). Vgl. Kreimeier (1980: 29). 74 Lewandowski (1983: 239). Während die Mehrzahl der Interpreten - ähnlich wie Lewandowski - in dem relativ offenen Dialog zwischen Film und Zuschauer den Kern der filmischen Methode Kluges sieht, zählt Werner Barg gerade die Fixierung auf einen »idealen Rezipienten .. (Barg 1996: 197) zu den wesentlichen Gründen für das am Interesse des breiten Publikums gemessene »Scheitern .. von »Kluges Film-Literatur« (ebd.: 198).
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verzichtet. So folgen gerade die inszenierten Spielszenen durchaus gängigen Schnittkonventionen. In Dialogszenen wie dem Gespräch zwischen Gabi Teichert tmd Oberschulrat Wedel (E 263-267) oder der Unterhaltung mit dem Staatsschützer/Spanner M. (E 286- 292) werden die sprechenden Figuren jeweils im Schuss-Gegenschuss-Verfahren aneinander geschnitten. Und auch in anderen Spielszenen- wie bspw. den Lehrerkonferenzen (E 251 - 255, 351- 357) - wird zumindest die räumliche Kontinuität gewahrt. Die Konferenz am Anfang der Sequenz >Märchenwelt< beginnt ganz >klassisch< mit einem so genannten Establishing Shot, mit dem ein Überblick über den Handlungsraum Lehrerzimmer und die anwesenden Personen, die um einen Tisch herum sitzen, gegeben wird. Wenn in der anschließenden Diskussion dann einzelne Lehrer in Naheinstellung gezeigt werden, ist die räumliche Orientierung durch die einleitende Überblickseinstellung durchweg gewährleistet. Und auch die temporalen Brüche in den beiden Konferenzszenen nimmt der Betrachter nicht wirklich als Störung gewohnter Wahrnehmungsabläufe wahr. Die sichtbaren Zeitsprünge verleihen den beiden gestellten Szenen einen dokumentarischen Charakter. Es wirkt, als hätte ein Dokumentarist, wie bspw. bei Interviews üblich, aus einem größeren Gesprächszusammenhang einzelne zentrale Momente nachträglich herausgegriffen und aneinander geschnitten. Aber auch andere gängige filmische Montagemuster75 lassen sich zumindest im Ansatz - in Die Patriotin nachweisen. In der DennerleinEpisode simuliert Kluge, wie in Kapitel 4.4 bereits angedeutet, mit unbewegten Standbildern ein typisches Cross-Cutting-Verfahren. In anderen Einstellungsfolgen wird bspw. durch den schnellen Wechsel zwischen Luft- und Bodenaufnahmen die Beziehung zwischen den Bildern primär über den Rhythmus der Montage hergestellt. Ein leitmotivisch wiederkehrendes grafisches Muster ist die Kreisform (Laterna-magicaBilder, Irisblenden, Kreismasken), die auch szenen- und sequenzübergreifend einen Zusammenhang zwischen völlig heterogenen Bildern markiert. Als grafische Beziehungen zwischen verschiedenen Einstellungen können auch die Lichtcodes gewertet werden, die W erner Barg in Kluges Filmen beobachtet hat (vgl. Barg 1996: 244-256). Ebenfalls grundlegend, bislang jedoch nicht hinreichend beachtet ist die Feststellung, dass Kluge - bzw. dessen Cuttetin Beate MainkaJellinghaus- nicht nur eigene Schnitte setzt und aus Archiv- oder Originalmaterialien neue Montagezusammenhänge schafft, sondern auch auf fremde Bildmontagen zurückgreift. Sobald Kluge längere Passagen aus 75 Vgl. für einen Überblick über die verschiedenen narrativen oder nichtnarrativen, auf Kontinuität oder Diskontinuität gerichteten Montagetypen Bordwellt Thompson (1997: 270-314); Mikos (2003: 206-223); Beller (1993: 9-32).
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älteren Filmen oder Wochenschaubeiträgen übernimmt, werden ja nicht nur die vorgefundenen Bilder, sondern auch die vorgegebenen MontageFormen zitiert. Die für Kluges Filmessay zentrale intertextuelle Verfahrensweise beschränkt sich nicht nur auf die Wiederverwendung isolierter Einstellungen bzw. Bilder, sondern schließt die Assimilation vollständiger filmischer Montagezusammenhänge mit ein. Primäre MontageKonstruktionen werden mit sekundären (d.h. vorgefundenen) Bildmontagen konfrontiert, was zu spürbaren Brüchen zwischen den verschiedenen Erzählweisen führt. Ein besonders markantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Szene, in der Wochenschaubilder von der Erschießung verurteilter deutscher Kriegsverbrecher gezeigt werden (E 418-437). Hier wird nicht nur der originale Wochenschauton (Sprecher und Musik) beibehalten, sondern auch das die Dramatik der Szene unterstreichende Schnittmuster übernommen. Kluge geht es in dieser Einstellungsfolge nicht nur um das durch die Aufnahmen dokumentierte Ereignis der Hinrichtung deutscher Kriegsverbrecher. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr der für das Genre Wochenschau so prägende Stil der Berichterstattung selbst. Die Wochenschaubeiträge erzielen ihre reißerische Wirkung durch eine dramaturgisch gerrau kalkulierte Kombination aus Musik, Off-Kommentar und Bildmontage. Kluge zitiert, indem er einen solchen Wochenschaubeitrag vollständig in seinen Film hineinschneidet, einen ganz bestimmten Typus filmischer Berichterstattung, der sich zwar selbst als historische Dokumentation versteht, hierbei aber, um durch gezielte Schnitt- und Musikakzente eine Steigerung der Emotionalität der Bilder zu erzielen, auf das Formenrepertoir des narrativen Kinos zurückgreift. Mit den Wochenschaubildern ftihrt Kluge filmisches Quellenmaterial vor, an dem besonders deutlich abgelesen werden kann, dass die Wirklichkeit auch in den so genannten filmischen Dokumenten bereits medial inszeniert ist. Die Vorstellung reinen Rohstoffs wird als bloße Illusion entlarvt (vgl. PA 269). Solchen tradierten und festgefahrenen Montagemustem, die primär auf einen reibungslosen, kontinuierlichen Bilderfluss ausgerichtet sind, stellt Kluge seine eigene >Formenwelt des Zusammenhangs< gegenüber. Als stilbildend und völlig innovativ erweisen sich in Kluges Patriotin vor allem die zahlreichen so genannten Montage-Miniaturen, die völlig disparate Bild-, Text- und Musikpartikel »zu einer polyphonen Formenwelt zusammen[setzen], die allegorisch eine Ahnung von der Vielstimmigkeit der Realität vermittelt.« (Schulte 2004: 241) Wenn bspw. in der letzten Sequenz des Films Fotos von der Wohnung Lenins (E 756- 760) völlig unvermittelt mit Filmaufuahrnen von Luftangriffen konfrontiert werden (E 761-765), auf die dann wiederum aus der Mythologie entlehnte Zeichnungen (E 766-768), eine Fotoserie aus der Landmark (E 770-
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77 5), mittelalterliche Abbildungen (E 776- 780) und em abgefilmtes Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich (»Riesengebirgslandschaft mit aufsteigendem Nebel«) folgen, dann handelt es sich in solchen Fällen um eine Form von Kollisionsmontage, bei der sich der Zusammenhang zwischen den Bildern weder auf einer räumlich-zeitlichen noch auf einer assoziativen Ebene unmittelbar erschließt. Kluge hat mehrfach betont, dass er die Form der assoziativen Montage in einem engeren Sinn für seine eigene Arbeit ablehnt: Die Montage geht mit Assoziationen um und läßt sie zu; aber die Assoziationen stecken im Grunde im Schnitt, und wenn ich jetzt noch assoziativ montiere, das heißt die Proportionen nicht berücksichtige, dann mach ich etwas sehr Willkürliches. (UD 100)
Die Montage dient bei Kluge vielmehr als »Messinstrument, das an jeder Schnittstelle aufs Neue Erfahrungskompetenz und Vorstellungskraft des Zuschauers einbezieht« und an den Bruchstellen zwischen den Bildern neuartige Erfahrungsräume generiert, »in denen sich die Phantasie selbstreguliert bewegen kann.«76 Zum eigentlichen Bedeutungsträger wird der Raum zwischen den Bildern erklärt. Die Montage fungiert immer dann besonders deutlich als filmische Interventionsfigur, als Differenzform des Dazwischen, wenn der materiale Kontrast zwischen den Bildern besonders stark ausgeprägt ist - wenn bspw. auf farbige Landschaftsaufnahmen von Kirschblüten und einer Burgruine Schwarzweißbilder gefangener Soldaten in Stalingrad folgen (E 24-40) oder dokumentarische Filmbilder, die Hindenburg bei einer Parade zeigen, und ein grellbuntes Märchenbild, das den Blick aus einer Höhle auf den Sternenhimmel darstellt, unmittelbar hintereinander geschnitten werden (E 396-399). Wie in Kapitel 3.4 schon ausführlich dargelegt wurde, folgt die Montage bei Kluge in solchen Fällen nicht dem Additions-, sondern dem Destruktionsprinzip. Eine filmische Montage, die »auf die Auflösung semantischer Identitäten, fester Positionierungen von Blicken und Bildern in Verständigungssystemen« (Kersting/Ganseforth 2000: 378) zielt, dient 76 Schulte (2004: 240 u. 241 ). Werner Barg hat jedoch nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Kluges Bildmontagen faktisch »nur zu einem kleineren Teil mit seinem filmtheoretischen Modell der freien Assoziation und Phantasie [ ... ] kohärent sind" (Barg 1996: 274), dass es sich somit bei dem eingeforderten dialogischen Verhältnis zwischen Film und Zuschauer, bei der Selbstregulation der Phantasietätigkeit des Betrachters, letztlich um eine Idealkonstruktion handelt, die auch in Kluges Filmen nicht durchgehend eingelöst wird. Neben der weitgehend freien, " imaginär-emotionale[n] Montage« (ebd.: 273) weist er in Kluges Potriotin »historisch-kommentierende" (ebd.: 265) und "gesellschaftstheoretisch orientierterealistischen< Spielfilm- oder Dokumentarfilmdialog bis zu vom Filmbild völlig losgelösten Off-Kommentaren oder Schriftinserts. 78 Es gibt in Die Patriotin nur wenige Dialogpassagen. Während in herkömmlichen Spielfilmen Dialoge eine dominierende Rolle spielen, tritt die Dialogform in Kluges Film erst nach über zehn Minuten in der zweiten Sequenz des Films auf. Die kurze, mit dem Schriftinsert »Die Bombenentschärfer im Keller« (E 83) überschriebene Spielszene, zeigt drei Männer, einen Offizier und zwei >Spezialisten< zur Bombenentschärfung, die während eines Luftangriffs Schutz in einem Luftschutzkeller suchen. Während man aus dem Off die herannahenden Flugzeuge und entfernten Bombeneinschläge hören kann, diskutieren sie über die Vorgehensweise bei einer Bombenentschärfung. Formal folgt diese Szene völlig dem konventionellen Spielfilmschema. Das Gespräch wird aus wechselnden Einstellungen gezeigt (E 84-88), Dialog und Bild sind völlig synchron. Die gesprochene Sprache ist in dieser Szene - wie in den anderen Spielszenen des Films auch - Teil des diegetischen Filmraums. Kluge verzichtet in Die Patriotin auf asynchrone Verknüpfungen zwischen Filmbild und Dialogtext, wie er sie bspw. in Abschied von gestern bereits eingesetzt hat. Dass sich trotzdem keine Illusionswirkung einstellt und der Zuschauer auch in den kurzen spielfilmähnlichen Szenen nicht in die Filmdiegese hineingezogen wird, hängt einerseits mit Kluges spezifischer Schauspielführung und andererseits mit den über den Dialog vermittelten Inhalten selbst zusammen. Die Spielszenen in der Parriotin wirken oft ganz bewusst gestellt, die Darsteller agieren künstlich und hölzern. Kluges Schauspielführung zielt nicht auf eine illusionistische Identifikation zwischen Schauspieler und Rolle. Die Darsteller bei Kluge werden »als Modelle benutzt«, sie werden »zur Beobachtung angeboten« (Grüneis 1994: 81). In der Bombenentschärfer-Szene wird der gesprochene Dialog darüber hinaus selbst zu einer Leerform. Der Gesprächsinhalt, der sich hauptsächlich um Rechts- und Linksgewinde bei verschiedenen Bombentypen dreht, könnte bestenfalls als etwas umständliche 78 Deleuze spricht von »dialogischen Sprechakten«, »reflexiven Sprechakten« und »Fabulierakten« im Film. Vgl. Deleuze (1999: 323).
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>FachsimpeleiSchwafeln< bezeichnet werden. Der groteske Eindruck der Szene wird durch den hessischen Dialekt der beiden Bombenentschärfer noch potenziert. Der Dialog im Luftschutzkeller kann als Beispiel für einen Dialogtyp gesehen werden, der »fast nichts über die wirklich stattfindenden inneren Bewegungen« (WF 1023) aussagt. Es geht vielmehr darum, der Sinnlosigkeit der Situation durch die Sinnlosigkeit der Sprache einen Ausdruck zu verleihen. Die Sprache verselbständigt sich in dieser Szene trotz ihrer formalen Einbindung in eine Spielhandlung. Sie ordnet sich der Spielszene nicht unter, sondern wird ihrerseits zum Gegenstand filmischer Reflexion. Wie in seinen literarischen Erzählungen, in denen Kluge immer wieder nachahmend bzw. zitierend »kollektive gesellschaftliche Sprachen, die identifizierend, rational und versachlichend arbeiten und in hohem Maße formalisiert sind« (Carp 1987: 220), verwendet, so wird auch in Die Patriotin Sprache ganz bewusst in Szene gesetzt. Und das gilt nicht nur für die Spielszenen des Films, sondern auch für die dokumentarischen Passagen. In der Sequenz >Auf dem Parteitag< (E 119- 173) fuhrt Kluge die offizielle Sprache der Politik vor. In keiner anderen Sequenz des Films wird mehr geredet als in dieser. Man hört Auszüge aus verschiedenen Politikerreden, Delegierte diskutieren und kommentieren am Rande des Parteitags Abstimmungsergebnisse, ein ARD-Reporter interviewt den SPD-Vorsitzenden von Schleswig-Holstein. Durch eine geschickte On-Screen/Off-Screen-Parallelmontage werden die formalisierten offiziellen Redebeiträge der Parteispitze immer wieder mit dem emotionalen >Klartext< der Parteibasis kontrastiert. Wie schnell eine stereotype, sich oftmals in Plattitüden flüchtende Politikersprache an ihre Grenzen kommt, führt Kluge vor, wenn er die fiktive Figur der Gabi Teichert direkt in das Parteitagsgeschehen eingreifen lässt. Ihrer neugierig-subversiven und insistierenden Frageweise haben die von Gabi Teichert in ein Gespräch über die Verbesserung des Ausgangsmaterials für den Geschichtsunterricht verwickelten Delegierten weder inhaltlich noch sprachlich etwas entgegenzusetzen. Sprachreflexionen als filmisches Thema markieren, das soll ausdrücklich betont werden, noch nicht zwangsläufig eine intermediale Figuration. In den genannten Beispielen wird die gesprochene Sprache jeweils >reibungslosprivate Raubgräber< handeln soll, die nach historischen Artefakten suchen, wird erst durch den begleitenden Kommentar verständlich. (E 241-247) Nur vor dem Hintergrund dieses Voice-Over-Kommentars macht dann auch der anschließende Dialog zwischen Gabi Teichert und einem >Gräberkollegen< Sinn. (E 248-250) Vorwiegend findet in Die Patriotin jedoch die Form einer freieren Verbindung zwischen Wort und Bild Verwendung. Nur gelegentlich hat der Kommentar im Film- wie oben beschrieben- »eine die Bilder direkt erklärende Funktion. In der Regel verfolgt er seine eigene assoziative, auf die Bilder bezogene, aber eigenständige Grammatik.« (Carp 1987: 58) Dass die Sprache in Kluges Film auf einer »eigenständigen Grammatik« basiert, d.h., dass sie als autonome mediale Form wahrnehmbar wird, gilt sowohl für redundante als auch für asynchrone Verknüpfungen zwischen Wort und Bild. Die kurze Szene, in der Totengräber Bischof Schutz in einem ausgehobenen Grab sucht, wäre auch ohne den begleitenden Kommentar verständlich. (E 98- 104) Die »doppelspurige Beschreibung« (WF 1023), die den gleichen Sachverhalt einmal visuell und einmal sprachlich zum Ausdruck bringt, führt zu einer »Intensivierung« (ebd.) der Wahrnehmung beider medialen Formen. Solchen pleonastischen Text-Bild-Konstruktionen stehen Kollisionsformen gegenüber, bei denen eine spürbare Reibung zwischen dem >Gezeigten< und dem >Gesagten< entsteht, bei denen die intermediale Wechselwirkung aus dem Kontrast zwischen Text und Bild resultiert. Stephanie Carp beschreibt die Interaktion von Bild und Wort in Die Patriotin als eine emblematische bzw. epigrammatische Verbindung: Diese Kombination von Bild und Wort, von mehrdeutigen Bildern und Bildkombinationen mit aphoristischen Sätzen, die sich nicht erklärend, sondern eigenwillig aufeinander beziehen, macht die Erzählweise des Filmes emblematisch oder epigrammatisch. 80
So wie es auf der Bildebene des Films zu semantischen Brüchen zwischen verschiedenen Einstellungen kommt, so erzeugt auch der Kontrast zwischen den Kommentartexten und den dazugehörigen Bildern vielfach einen Bedeutlmgsüberschuss. Es entsteht ein Zwischenraum zwischen den verschiedenen Ausdrucksebenen des Films, der sich verselbständigt. ln diesem Dazwischen kann der Zuseher Ruhe- und Reflexionspole entwickeln. Es ermöglicht eine oszillierende Lektüre, die zwischen Bild und Sprache, zwi80 Carp (1987: 64). Diesem Problem widmet sich ausführlich die Arbeit von Hyung Soo Cheon.
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sehen Gegenwart und Vergangenheit, einer räumlichen Dimension der Photographie und einer zeitlichen des auf Vergangenes referierenden Kommentars sich bewegt_ (Blümlinger 1992: 27)
Der stärkste Text-Bild-Kontrast des Films entsteht in der letzten Sequenz, wenn das Knie in seinem Schlussmonolog aus lateinischen Quellen (u.a. Alkuin) zitiert. (E 770-780) Die lateinischen, etwas gehetzt vorgetragenen Textfragmente stehen in keiner unmittelbaren Beziehung zu den gezeigten Bildern - auch wenn in der zweiten Hälfte der Montagefolge wieder Bilder aus dem Sachsenspiegel gezeigt werden, die dem frühmittelalterlichen Text zumindest historisch näher stehen als die Zeichnungen und Fotos aus dem 20. Jahrhundert. Kommentar und Bild laufen parallel. Der Text ist- in Relation zum filmischen Bildraum - ein Fremdkörper. Er verweist auf die >fremd-vertraute< (vgl. Carp 1987: 45) Sprache mittelalterlicher Quellen. Nicht was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird, ist entscheidend. Das Knie trägt diesen Text sehr locker und selbstverständlich, zugleich aber auch dringlich vor. So als käme ein Theologe wieder in die Sicherheit der lateinischen Messe zurück. Es kommt nicht darauf an, daß man den Text versteht, sondern daß irgendwo einmal das Fremde der Geschichte durchdringt, das gleichzeitig, so wie das Knie redet, und so wie die Bilder aussehen, zu denen es redet, etwas recht Vertrautes ist. Man muß sich hier also nicht gleich erschrecken_ (PA 178)
Keine andere Text-Bild-Konstruktion hat Kluge in seiner Textliste des Films so ausfUhrlieh kommentiert wie diese. Die semantischen Oszillationen zwischen Text und Bild kommen in dieser Einstellungsfolge dem Ideal einer gänzlich >freien Bewegung der Worte< (WF 1024-1025) im Film sehr nahe. Text und Bild verklammem sich nicht mehr, sie stören und beeinträchtigen einander. Das Ergebnis einer solchen Disjunktion des Sprachlichen und des Visuellen ist, dass sowohl die Bilder als auch die Texte als solche bewusster wahrgenommen werden. Eine Formulierung von Deleuze aufgreifend, kann man sagen, dass es bei diesen Kontrastwirkungen um eine bewusstere »Wahrnehmung der Wahrnehmung« (Deleuze 1999: 314) geht. Noch deutlicher als die gesprochene Sprache dient die Schrift in Kluges Filmen als Mittel zur Unterbrechung filmischer Kontinuität. Das »lesbare Schrift-Bild« fungiert »aufgrund seines graphischen Codes« (Paech 1994d: 215) als besonders wirksame intermediale Interventionsfigur. Die aus dem Formenarsenal des Stummfilms entlehnten Zwischentitel dringen in die Lücken zwischen den Bildern ein. Immer wieder be-
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tont Kluge ausdrücklich seine Vorliebe für die an das Medium des Schrifttextes gebundenen Ausdrucksformen des Stummfilms (Grafe/Patalas/Kluge 1966: 490): Am Stummfilm haben mich immer wieder die Titel begeistert. Da die Titel literarisch meistens wirklich idiotisch sind, garnicht informativ und auch nicht gut gesetzt, habe ich mich gefragt, warum ich das so gern sehe. Ich sehe es gern, weil in dem Moment mein Hirn zu arbeiten anfängt und einen Moment Zeit hat, selbständig Phantasie zu entwickeln.
In Die Patriotin setzt Kluge solche >In-Schriften< (vgl. Paech 1994e: 2636) auf vielfältige Weise ein. Neben den Vor- und Nachspanntiteln (E 1, 3, 791) gibt es eine Reihe weiterer Zwischentitel, die, indem sie einzelne Sequenzen oder Subsequenzen mit einer Art >Kapitelüberschrift< versehen (E 8, 83, 127, 200, 293, 493, 557, 635, 692), zum filmischen Paratext gerechnet werden können. Andere Titel haben eine das Bild kommentierende oder ergänzende Funktion (E 347, 500) und sind somit den gesprochenen Voice-Over-Kommentaren verwandt. Da in Einstellung 500 ein echter Meßter-Wochenschau-Titel verwendet (bzw. zitiert) wird, erhält diese Schrifteinblendung zusätzlich eine intertextuelle Dimension. Wieder andere Titel stehen in gar keinem direkten Bezug zu den angrenzenden Bildern (E 641,647,671, 790). Diese autonomen Titeleinblendungen »sind im Grunde im Film ihrerseits Bilder, Bewegung« (Lewandowski/Kluge 1980: 33). Es handelt sich um literarische Zitate, die sich in den Film regelrecht >einschreibenÜberschreibung< eines anderen, maschinengeschriebenen Textes ist, und der in >krakeliger< Kinderschrift in ein Schulheft geschriebene Vers in Einstellung 632 betonen jeweils den Bildcharakter der Schrift. Was generell für die Zwischentitel in Die Patriotin, die auf eine gezielte Inszenierung der Schrift (z.B. durch Einblendungen oder Ausblendungen) setzen, gilt, wird bei diesen handschriftlichen Texten besonders augenfällig: Die Worte in Kluges Filmen sind »Buchstaben-Bilder« (Carp 1987: 66).
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4. 7 »Sollte ein Buch zum Film werden, ist etwas anderes geworden«: Paratextuelle Hinweise auf das intermediale Wechselverhältnis zwischen Buch und Film Bei dem im Dezember 1979 erschienenen Buch Die Patriotin handelt es sich auf den ersten Blick um einen umfangreichen und etwas sperrigen Materialienband, der sich ganz offensichtlich auf den gleichnamigen und fast zeitgleich angelaufenen Film bezieht. Dass das Buch von Anfang an als ein sekundäres Produkt ohne eigenständigen literarischen Wert, als ein bloßes Anhängsel des Films, angesehen wurde, zeichnet sich an der völligen Nichtbeachtung von Seiten der Literaturkritik ab. Während zu Kluges Film Die Patriotin in sämtlichen überregionalen und in zahlreichen regionalen Zeitungen mehr oder minder umfangreiche Besprechungen erschienen sind, gibt es kaum Rezensionen, die sich unmittelbar auf das Filmbuch beziehen. 81 Daran hat auch Volker Baers Hinweis, dass man »diese Wortcollage auch als eigenständige literarische Arbeit nehmen [sollte] und nicht nur als Filmtext« (Baer 1980), nichts geändert. Im Gegenteil: Was sich in der Literaturkritik andeutet, setzt sich im Bereich der Literaturwissenschaft fort. Nur wenige Untersuchungen zu Die Patriotin widmen sich explizit dem Filmbuch. 82 Diese zögerliche Aufmerksamkeit entspricht der generellen literaturwissenschaftliehen Skepsis gegenüber der Gattung >Buch zum Filmverkauft< es sich als Filmtext? Und wenn ja: Wie positioniert es sich im Verhältnis zum Film? Handelt es sich um einen prä-, peri- oder postfilmischen Text? Diese und ähnliche Fragen lenken das Interesse auf den 81 Die einzigen beiden Belege für explizite Buchkritiken, die mir vorliegen, sind eine kurze Notiz in Der Tagesspiegel und eine etwas längere Kritik in Die Zeit: Baer (1980); Raddatz (1980). - Ein Verzeichnis der wichtigsten Filmbesprechungen findet sich in Urbanowski (1985: 160-161) sowie im Textarchiv des Deutschen Filminstituts (DIF). 82 Labanyi (1982 : 491-613); Bosse (1989: 249-299); Voßkamp (1987: 266-277). Vgl. die Hinweise zur Forschung in Kap. 1.
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PARATEXTUELLE HINWEISE
Bereich des Paratextes. Der Paratext, »jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt« (Genette 1992: 10), enthält in der Regel explizite oder implizite Signale, die dem Leser noch vor Beginn der Lektüre entsprechende rezeptionssteuernde Leseanweisungen an die Hand geben. Der von Gerard Genette in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführte und inzwischen gut etablierte Paratextbegriff markiert »eine >Unbestimmte Zone< zwischen innen und außen« (Genette 1992: 10), einen Zwischemaum zwischen Text und Nicht-Text, der aber ganz entscheidend am Zustandekommen bzw. Nichtzustandekommen, am Erfolg literarischer Kommunikation beteiligt ist. Paratextuelle Strategien stellen die Weichen für die Rezeption, sie »steuern Aufmerksamkeit, Lektüre und Kommunikation« und »fungieren ebenso als >Ziel-MargenBuch zum FilmBuch zum Film< zu spielen. Genette hat darauf hingewiesen, dass bereits die Wahl des Taschenbuchformats eine »großartige paratextuelle Mitteilung« (Genette 1992: 27) beinhaltet. Das gilt auch für Die Patriotin. Schließlich handelt es sich nicht um eine preisgünstige Neuausgabe eines bereits etablierten gebundenen Titels: Kluges Buch präsentiert sich von vomherein als billiger Materialienband, der durch seine äußere Aufmachung sofort >ins Auge stichtauf den ersten Blick< von dieser strengen >Suhrkamp-KulturBuch zum Film< handelt. Der identische Titel, das Coverbild von Hannelore Hoger sowie die im Film eine Schlüsselstellung einnehmende runde Latema-magica-Abbildung, die eine symbolische Darstellung des Weltalls zeigt, erzeugen bei demjenigen, der den Film bereits kennt, einen starken Wiedererkennungseffekt Man muss jedoch- wie bereits angemerkt- den Film nicht kennen, um zu erkennen, dass sich das Buch auf einen Film bezieht. Auf der vierten Umschlagseite finden sich drei (werbewirksame) Ausschnitte aus Filmkritiken. In der ersten der drei zitierten Filmbesprechungen, die jeweils in Anführungszeichen gesetzt und zusätzlich mit dem entsprechenden Quellennachweis versehen wurden, wird der Film direkt angesprochen: »Für die Besucher war dies der ersehnte Höhepunkt: >Die Patriotin', Alexander Kluges neuer Film mit Hannelore Hoger in der Titelrolle, ein Film, den die meisten Zuschauer stumm und tief beeindruckt verließen. [ ... ]" (PA Umschlagseite 4)
Dass der (bzw. ein) Film die Ausgangsbasis des Buches bildet, dieses aber gleichzeitig über das filmische Pendant hinausgeht, wird zusätzlich durch einen farblieh abgesetzten, noch über Titel und Autornamen gesetzten Slogan auf der ersten Umschlagseite betont: »Der Film und 340 Seiten Neues!« (PA Umschlagseite 1)84 Die Umschlaggestaltung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Film, verzichtet aber gleichzeitig im Untertitel auf eine explizite Benennung der Gattung >Buch zum FilmInterBuch zum Film< präsentiert, selbst nicht als >Buch zum Film< verstanden werden will, wird dann auf der ersten Buchseite noch deutlicher 83 Genette (1992: 22). Wie viel Einfluss ein Verlag seinem Autor auf das äußerliche Erscheinungsbild eines Buches gewährt hat, lässt sich zumeist nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Man kann aber bei einem etablierten Autor wie Kluge mit Sicherheit davon ausgehen, dass er in die Umschlaggestaltung mit einbezogen wurde. 84 Dem Slogan liegt eine ganz simple Rechnung zugrunde: »Der Film« bezieht sich offensichtlich auf die 140-seitige Textliste. Die übrigen Kapitel, die sich um die Textliste gruppieren, sind dann die "340 Seiten Neues". 85 Vgl. zum Schrägstrich als Differenzmarkierung Schabacher (2002: 73).
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PARATEXTUELLE HINWEISE
formuliert: »Sollte ein Buch zum Film werden, ist etwas anderes geworden: 480 Seiten, Bilder usf.« (PA 1) Wie diese Diskrepanz zwischen Zielsetzung und Endergebnis zu bewerten ist, lässt die Formulierung bewusst offen - auch wenn das Bild eines sich im Sturzflug befindenden Doppeldeckers mit der knappen Bildunterschrift »Bodenberührung« durchaus als Metapher für ein gescheitertes Projekt gelesen werden kann. Nimmt man Text und Bild zusammen, könnte man sagen, dass Kluge die Gattung >Buch zum Film< an das Prinzip des produktiven Scheiterns bindet. Wer glaubt, einen Film ohne Beachtung der Mediendifferenz in die Buchform übertragen zu können, wird eine >Bruchlandung< erleiden. Akzeptiert man jedoch die Transformationen bzw. Verschiebungen, die beim Übergang von einem zum anderen Medium stattfinden, kann »etwas anderes«, d.h. ein eigenständiges Produkt, aus dieser intermedialen Konstellation hervorgehen. Kluges Text verweigert sich einer verbindlichen Zuordnung zu einem Genre (>Buch zum FilmBuch zum Film< neu definieren kann. Kluge führt seine Überlegungen zu den intermedialen Rahmenbedingungen seines Filmbuches fort, indem er die wichtigsten Transkriptionseffekte, d.h. die »Effekte medialer Differenz« (Weingart 2002: 93), die beim Übergang vom Film zur Literatur beobachtbar werden, benennt. Die Bilder und Texte des Films, die Teil einer filmischen Bewegung sind, müssen von den statischen Bildern und den schriftsprachlich fixierten Texten, die das Buch enthält, unterschieden werden, obwohl diese auf die entsprechenden Filmbilder und Filmtexte verweisen.
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PARATEXTUELLE HINWEISE
Im Folgenden sind zunächst die Textliste und einige Bilder abgedruckt (im Film sind die Bilder in Farbe und in Bewegung, also nicht-identisch mit dem Abgedruckten). Auch die Texte und Töne sind dort in Bewegung. (PA 7)
Die Bewegung wird in dieser Umschreibung als die wesentliche mediale Eigenschaft des Films bestimmt, die der Schrifttext nicht wiedergeben kann. Je größer die Differenz zwischen den beteiligten medialen Systemen ist, desto stärker bestimmen Störungen und Brüche den intermedialen Transkriptionsprozess. Gleichzeitig erhöht sich aber auch die Möglichkeit, dass durch die Koppelung distinkter symbolischer Texturen gerade an der Bruchstelle neue Sinnstrukturen entstehen können, die sich »einer Logik der Prozessierung von intermedialer Differenz« (Jäger 2004: 71) verdanken. Die Texte und Bilder des Buches gewinnen gerade aus ihrer Nicht-Identität mit den filmischen Formen ihre semantische Produktivkraft. Die Konfrontation verschiedener medialer Formen generiert neue Formen, die die Aufmerksamkeit auf das Dazwischen lenken. Die Koppelung filmischer und literarischer Formen fuhrt zu der von Kluge gewünschten Multiplikation der Ausdrucksmöglichkeiten. Die wechselseitige Bezugnahme verschiedener Medienformen schafft einen Raum für semantische Effekte, die sich »den Komplexitätsgraden der Realität« (GS 222) annähern können. Ein solches Vorhaben, das Kluge auch die Herstellung von Bedingungen einer anderen Organisation von Erfahrungen nennt, fordert eine Übertretung von Kunstgrenzen, denn es fordert, alle Möglichkeiten aller erreichbaren Ausdrucksmedien auszuschöpfen. (Carp 1987: 10)
Der Film Die Patriotin weist durch seine offene Form über sich hinaus und bietet zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten. Für Kluge ist »das Genre des Films, durchlässig zu sein, überzugehen zu dem, was außer ihm ist.« (PA 7) Das Filmbuch nutzt die >filmische DurchlässigkeitBuch zum Film< für Kluge nur einen Sinn, wenn diese Eigenbewegung des Textes, die immer wieder vom Film weg- und zu ihm zurückfuhtt, produktiv in Kauf genommen wird. Wenn man den Gesamtaufbau des Buches näher betrachtet, stellt man fest, dass der Film für die im Buch enthaltenen Texte und Bilder gewissermaßen als >Gravitationszentrum< dient. Er garantiert die Einheit der differenten Text- und Bildpartikel, aus denen sich das Buch aufbaut, ohne mit diesen immer in einem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen.
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
»Texte/Bilder 1-6« (PA 3): Der Untertitel des Buches enthält keinen Hinweis darauf, in welchem Verhältnis die einzelnen Komponenten bzw. Abschnitte des Buches zu dem Film Die Patriotin stehen. Hinter dem Begriff»Texte« verbirgt sich eine Vielzahl differenter Textsorten. Neben der zentralen Textliste zum Film enthält das Buch einen Auszug aus der Textliste zu dem Kooperationsfilm Deutschland im Herbst, Passagen aus Geschichte und Eigensinn, kurze neue >Neue GeschichtenText-Bilder-BuchBuch zum Film< gelesen werden, das (bei einer weiten Begriffsauslegung) eine Mischung aus >prä-, peri- und postfilmischen Texten< bietet. Obwohl oder gerade weil die versammelten Texte sich nur selten direkt auf den Film beziehen, tragen sie maßgeblich zur Transparenz der hinter dem Film stehenden Gedankenbewegung bei. Was Beate Mainka-Jellinghaus generell zur Diskussion über Filme sagt, gilt auch für Kluges Filmbuch: »Ein guter Film verschwindet.« (PA 25, i.O. kursiv)
4.8 >Der Film in Worten und Fotosmoderner FilmtexteEyecatcherOrientierungs-< bzw. >N avigationsinstrumente< für den Leser. Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er, wie bei einem Kalender oder eben einer CHRONIK, nachprüft, was ihn betrifft. 89
Kluges Erzählstrategien des Dazwischen zielen auf eine »Kurzschrift der Erfahrung« (UD 5). Er schafft sowohl in seinen Filmen als auch in seinen literarischen Texten Erzählkonzentrate, die in den Überschriften der einzelnen Text- oder Filmsegmente nochmals verdichtet werden. Wie das Inhaltsverzeichnis stellen auch die anschließenden Listen der »Mitarbeiter« (PA 47) und der »Personen der Handlung« (PA 48) 89 CG I (7). Vgl. auch Kluge (2003a: 8): »Jedem Kapitel dieses Buches gehen Zeilen voran, aus denen der Leser sich orientieren kann, welche Kapitel sein Interesse wecken."
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN
prägnante Kürzel dar. Kluge positioniert die >credits< - wie in einem Film - an den Anfang seiner Textliste. Stanitzek liest den Filmvorspann ganz generell als ein radikal verkürzendes Transkript des nachfolgenden Films. Der Vorspann liefert in kondensierter Form »eine Dokumentation der Entstehung dieses Films, repräsentiert mit seinen credits die vorgesehenen Autoren- und Urheberrechte usw.« (Stanitzek 2002: 14-15) Entsprechend können auch die Mitarbeiterlisten am Anfang von Kluges Textliste als auf produktionstechnische Informationen konzentrierte Transkriptionen betrachtet werden, an denen bspw. der Stellenwert der einzelnen technischen Arbeitsschritte während der Filmproduktion abgelesen werden kann. Ganz oben rangiert die Montage (Beate MainkaJellinghaus), direkt darunter die vier selbständigen Kamerateams (Günter Hörmann, Werner Lüring, Thomas Mauch, Jörg Schmidt-Reitwein). Auf einen Regietitel verzichtet Kluge, womit er den von ihm vertretenen Autorenfilmbegriff unterstreicht, der nicht auf der zentralen Rolle eines Autors, sondern auf Kooperation basiert. Praktisch allerdings hat der Film mehrere Autoren, z.B. Beate MainkaJellinghaus, die in der Montage Mitautorin ist; von ihr stammt z.B. die Erfindung des Knies. Autoren sind auch Hannelore Hoger, die vier Kameramänner, Alexander von Eschwege als Erfinder der Nachtaufnahmetechnik. (PA 23)
In der Liste der »Personen der Handlung«, die fiktive und reale Personen völlig selbstverständlich nebeneinander stellt, zeichnet sich vor allem die für Kluges Film so charakteristische Mischform aus Dokumentation und Fiktion ab. Als beteiligte Personen werden neben den Hautfiguren genannt: Schüler, Bombenentschärfer, Fachbereichsleiter, Parteitagsdelegierte, Lehrkörper, Abteilungsleiter und Chef eines Kaufhofs, Universitätsprofessor, Gräberkollege, Gabi Teicherts Wohngemeinschaft, Feuerlöscher-Kommandant, Archäologe, Elefant Jenny, ein Kälteforscher, Gerda Baethe und ihre Kinder, ein Friedensforscher, u.a. (PA 48)
Das bunt gemischte Personal erweckt einen ersten Eindruck von der Dimension der »Erzählfläche« (PA 40), die in Kluges Film ausgebreitet wird. Zwischen dem >Vorspann< und der eigentlichen Textliste steht dann schließlich noch ein Motto: >» ... Sterne treten ungenau/ In ein neues Haus.«< (PA 49) Es handelt sich um die letzten beiden Zeilen eines kurzen Verses, mit dem Kluge seinen Film in Form eines Schriftinserts beschließt:
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»Tausend Jahre fiel der Tau. Morgen bleibt er aus. Sterne treten ungenau ln ein neues Haus." (PA 179)
Ganz im Sinne seines Konzepts einer >kreisförmigen Narration< wird das Ende des Textes bereits zu Beginn vorweggenommen. Der Vers, mit dem ganz am Ende Gabi Teicherts Hoffnung auf eine zukünftige, noch unbestimmte Veränderung der Geschichtsverhältnisse zum Ausdruck gebracht wird, 90 steht gleichzeitig für Kluges Utopie der Hegemonie der Wünsche, für seine Hoffnung, »daß die Welt der Wünsche der Welt der Wirklichkeit überlegen ist.« (Bitomsky et al. 1979: 512) Das Motto übernimmt, indem Textanfang und Textende aufeinander bezogen werden, eine narrative Klammerfunktion und kann wiederum als extrem verdichteter Kommentar des darauffolgenden Textes gelesen werden. Im Anschluss an das Motto beginnt die eigentliche Textliste des Films. Der szenische Aufbau des Textes, der beschreibende Passagen und Dialog- bzw. Kommentartexte typographisch deutlich voneinander absetzt, entspricht im Wesentlichen den gängigen Gestaltungskonventionen von Drehbuchtexten. Da Kluges Textliste sich, auch wenn sie erst nach Vollendung des Films erstellt wurde, rein äußerlich kaum von der üblichen Drehbuchform unterscheidet, kann man durchaus zur formalen Beschreibung der Textliste auf die im Rahmen der Drehbuchforschung eingeführte Terminologie zurückgreifen. Claudia Sternberg, die die »Zwitterstellung des Films zwischen Theater und Erzähltext« (Sternberg 1996: 46) betont, ersetzt für die Beschreibung der Textoberfläche von Drehbüchern die in der Dramentheorie etablierte Begrifflichkeit von >Haupt-< und >Nebentext< durch die Begriffe >Dialogtext< und >Szenentextscene or character descriptionsdialogue/character cuesslug lines< oder >scene headingscamera/sound cuesPräsentationsmodi< des Drehbuchtextes lehnt sich Sternberg an Begrifflichkeiten aus der Prosatheorie an ( Sternberg 1996: 47): 90 Vgl. zu einer ausführlichen Interpretation des Schlussverses Bosse (1989: 288289). 91 Vgl. zur Terminologie Sternberg (1996: 47 u. 212-213).
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EINE POETIK DES DAZWISCHEN Nimmt man den Dialog hinzu, enthält das Drehbuch, ohne dadurch seinen Status als Textsubstrat zu verlieren, alle auch in der Prosa verwendeten Modi der Präsentation: Beschreibung, Bericht, Kommentar und Rede.
Mit diesem terminologischen Handwerkszeug kann man sich nun auch Kluges Textliste nähern. Der Filmtext gliedert sich, wie man bereits der eingangs abgedruckten Sequenzfolge entnehmen konnte, in zwölf Sequenzen, die ihrerseits wiederum in kleinere, durchnummerierte Texteinheitenunterteilt werden, die Kluge als »Szenen« (PA 87), »Musik-BildMontage[n]« (PA 92) oder »Montage-Miniatur[en]« (PA 149) bezeichnet.92 Die Sequenzen tragen Überschriften, die im Film nur teilweise als Titelinserts umgesetzt sind und somit wie (im Film nicht enthaltene) Zwischentitel in den Text montiert werden. 93 Auch einzelne >Szenen< werden mit zusätzlichen Überschriften versehen. Der Szenentext wird gegenüber dem Dialogtext (neben der deutlichen räumlichen Absetzung) durch Fettdruck zusätzlich graphisch hervorgehoben. Dialogtexte werden eingerückt; die Nennung der sprechenden Personen erfolgt in Versalien; Gestenanweisungen bzw. >dialogue/character cues< werden, markiert durch Einklammerung, in die Dialogtexte integriert: ZWEITER ENTSCHÄRFER (ergänzt): Und da das amerikanisch oder englisch ist, schrauben die das so (zeigt die Schraubbewegung) raus ... (PA 66)
In den Szenentexten heben sich einzelne Schlüsselbegriffe durch Kursivdruck vom übrigen Text ab. Einzelne Wörter oder Wortgruppen werden auf diese Weise graphisch fokussiert. 39. (noch ruhige Montage): Eine Burg an der See, ähnlich Tristan-Motiv, Sternenzelt. Ein deutsches Häuschen am Bachgrund [ ... ] Schneewinter in Rußland mit Schlittenfahrt. Ein Schiff zwischen Eisblöcken in der Arktis eingezwängt. Eisbär begegnet einem Segelschiff. Herkulanum und Pompeji vor dem Untergang, der Vesuv, ein Tempel, Mondlicht. (PA 88-89, i.O. fett)
92 Der Begriff der ·Szene', der definiert wird als " Handlungseinheit eines Spielfilms, (meist) an einem Ort spielend und zeitlich kontinuierlich wiedergegeben" (Rother 1997: 289), ist nur begrenzt brauchbar, da er am konventionellen Erzählkino ausgerichtet ist und bei Kluges Montage-Miniaturen nicht greift. Vgl. zur Segmentierung des Films ausführlich Kap. 4.8.2 . 93 ln vier Fällen erscheinen die Überschriften in abgewandelter Form auch als Zwischentitel im Film: "Das Knie" (E 8), " Der Parteitag" (E 127), "Totensonntag" (E 200) und "Eines Samstags. Es weihnachtet" (E 493).
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Die kursiven Begriffe stechen optisch aus dem Text hervor. Gesteuert durch das Druckbild, entstehen so gedankliche Assoziationsketten: Burg - deutsches Häuschen - Schneewinter - eingezwängt- Eisbär - vor dem Untergang. Die ohnehin schon konzentrierte Transkription der BildMontage wird auf diese Weise nochmals verdichtet. Zwischen die verschiedenen Textblöcke werden zahlreiche Bilder oder ganze Bildreihen aus dem Film montiert, die teilweise mit Bildunterschriften versehen sind (vgl. zu den Filmbildern ausführlich Kapitel 4.8.3). In dieser Hinsicht hebt sich das Filmtranskript deutlich vom Drehbuch ab. Im Letzteren gehören, da es sich um einen präfilmischen Texttyp handelt, Filmbilder nicht zum üblichen Formenrepertoire. Ninnnt man diese Verknüpfung von Texten und Bildern zusammen mit der Einteilung des Textes in kurze, deutlich voneinander abgesetzte Textblöcke und der permanenten Variation des Schrifttyps (Fettdruck, Kursivdruck, Versalien, Schriftgröße), ergibt sich ein äußerst unruhiges, die eigene Visualität betonendes Schriftbild (vgl. exemplarisch PA 82). Die unterschiedlichen Typographien akzentuieren die Bruchstellen zwischen den kurzen Textsegmenten und bringen gleichzeitig die Bildlichkeit der Schriftzeichen ins Spiel. Gegenüber der Linearität der Schrift setzt sich durch die auffällige graphische Gestaltung die Flächenordnung des Textes durch. Was Sabine Gross für lyrische Texte feststellt, gilt auch für die einzelnen Seiten in Kluges Textliste. Sie stellen »Leseflächen dar, visuelle Spielräume, die das Auge zu einer freieren, schweifenden Bewegung einladen.« (Gross 1994: 65) Nach der Analyse der äußeren Form soll im Folgenden die Frage nach der Erzähltechnik im Vordergrund stehen: Weiche Erzählmodi lassen sich in Kluges Text nachweisen? Kann man überhaupt von Erzählung sprechen? Gibt es eine vermittelnde Erzählinstanz? Und wie stellt sich in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen einem Drehbuch (>VorSchriftNach-Schriftslug line< abgesetzt werden. 73. Nachts. Gewitter. Zwischen den Höfen der Hochhäuser. (PA 130, i.O. fett) 46. Im lnnern des Kaufhofs.
Die Spielwarenabteilung. Der Abteilungsleiter der Spielwarenabteilung zeigt verschiedene Angebote von Puppen vor. (PA 92, i.O. fett)
Da der Film Die Patriotin keinen zeitlich und räumlich stringenten narrativen Handhmgsraum erzeugt, ttifft das auch auf die auf dem Film basierende Textliste zu. An die Stelle einer fortlaufenden Erzählung treten minimale Erzählpartikel bzw. Erzählfragmente. Da es in Kluges Film nur wenige handlungsorientierte Szenen gibt, finden sich auch im Text berichtende Passagen nur vereinzelt. Was für die Beschreibungen gilt, lässt sich auf die Form des Berichts übertragen. Auch wenn der Szenentext in den Berichtmodus überwechselt, werden die im Film gezeigten Ereignis-
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se und Handlungen nur in knapper protokollarischer Form wiedergegeben. Offenes Grab auf Friedhof. Ein Sarg auf verlassenem Sargwagen. Herbei eilt der Friedhofsgärtner Bischof. Mit Arbeitsgerät läuft er zu dem offenen Grab, springt hinein wie in einen Unterstand, beobachtet die Flugzeuge. (PA 70,
i.O. fett)
Der Text beschränkt sich durchgängig, wie in der Textgattung Drehbuch üblich, auf eine Außenperspektive des Geschehens. Man erfährt nichts über das Innenleben der handelnden Personen, sofern es sich nicht gestisch oder mimisch in einer sichtbaren Form artikuliert. Aber auch unter dieser Prämisse finden sich Hinweise auf die Stimmungslagen einzelner Personen in den fortlaufenden Szenentexten eher selten: »Blick von außen auf Gabi Teicherts Gesicht, das hoffnungsfroh auf das Wintergewitter sieht.« (PA 178, i.O. fett) Häufiger lassen sich solche Markierungen von Gefühlslagen in Form von >dialogue/character cues< direkt im Dialogtext nachweisen: »SCHULLEITER (distanziert, später immer mehr erregt)« (PA 119). Eine weitere Auffälligkeit in Kluges Textliste sind die zahlreichen filmtechnischen Begriffe. Sobald auf die filmische Apparatur (z.B. Kamera) verwiesen wird, schaltet der Text auf eine Metaebene intermedialer Beschreibung um. Die technisch-apparative Form des Mediums Film, die im Kino in der Regel unsichtbar bleibt, schiebt sich in den Vordergrund. So wird an verschiedenen Stellen explizit erwähnt, dass eine bestimmte Perspektive durch den Kamerablick im Film vorgegeben ist: »Restaurant. Die Kamera sieht von außen hinein.« (PA 108, i.O. fett) Oder die Position einer beschriebenen (im Film: gezeigten) Person wird in Relation zur Kamera bestimmt: »Chef, von der Kamera abgewendet [.. .].«(PA 144, i.O. fett) Einzelne technische Angaben sind so spezifisch (»Lange Brennweite«; »acht Blenden unter«; PA 68, i.O. fett), dass zu deren Verständnis zumindest ansatzweise ein filmtechnisches Wissen erforderlich ist. In manchen Fällen wechselt der Text gänzlich vom Beschreibungsmodus zu einem produktionstechnischen Hintergrundkommentar. Liebespaar. (Farblich verfremdet unter Verwendung von Kodak-Material aus dem Jahre 1931, in Positiventwickler entwickelt). (PA 114, i.O. fett)
Manche Szenentexte bestehen nur noch aus filmtechnischen Angaben. Diese Passagen, die die Lesegewohnheiten des an literarischen Texten geschulten Lesers am stärksten irritieren, müssen für denjenigen, der sich
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mit der filmischen bzw. filmtechnischen Terminolgie nicht auskennt, eigentümlich fremd und kryptisch wirken. (Mehrere unscharfe Bewegungen, Kamerafahrt in die Überblendung). Musikhöhepunkt, bei "ziehender" Bildbewegung in die Totale, befindet sich kurz vor Abblende. (PA 166, i.O. fett)
Jochen Brunow plädiert- mit Blick auf die Textgattung Drehbuch- dafür, lmappe technische Hinweise wie >AbblendeSchnittSchwenk< etc. in einem Filmtext nicht nur als filmische »Handlungsanweisungen«, sondern auch als eigenständige, den Text rhythmisierende literarische Formen zu betrachten, die »auf der gleichen Ebene funktionieren wie Interpunktion, Absatzbildung und Zwischenüberschriften im Prosatext.« (Brunow 1996b: 32) Auch die technischen Begriffe und Passagen in Kluges Textliste könnten in diesem Sinne - losgelöst von ihrer intermedialen Referenzfunktion - als literarische Gestaltungsmittel gelesen und verstanden werden. Die filmtechnischen Anmerkungen bzw. Exkurse sind nur ein Beispiel für einen Wechsel des Erzählmodus von der (implizit ebenfalls kommentierenden) Ebene der Beschreibungen bzw. des Berichts zur Ebene des expliziten Kommentars. Die Szenentexte in Kluges Textliste gehen häufig - ergänzend und interpretierend - über die im Film sichtund hörbaren Zeichen hinaus (vgl. Kap. 4.8.2). Hypertextuelle und metatextuelle Verfahrensweisen94 verbinden und überlagern sich. Explizite Kommentare liegen bspw. vor, wenn ein Bild, das das Brandenburger Tor zeigt (E 12), durch eine Datumsnennung im Text historisch genau verortet wird (»Brandenburger Tor 1870, Siegesfeier nach Sedan«; PA 53), wenn die Textliste eine neutrale Landschaftsaufnahme mit einer konkreten Ortsangabe verknüpft (»Ein Stoppelfeld im Sauerland«; PA 58) oder wenn Quellenangaben genannt werden (>»Eiche im Tauwetter< von Caspar David Friedrich«; PA 53). Darüber hinaus nutzt Kluge die Szenentexte gelegentlich auch für kurze theoretische Digressionen. So verbindet er z.B. in der Beschreibung der Laterna-magica-Montage das Bild eines >heimeligen Häuschens< mit dem Hinweis auf die etymologische Ableitung des Wortes >ÖkonomiesprichtErzählmodi< ausdrücklich durch den Begriff der >PräsentationsmodiProtokollanteventuell< oder >vermutlich< als auch durch konjunktivische Satzkonstruktionen.
95 Sternberg (1996: 47). Die Diskussion über den Erzähler-Begriff in der Prosatheorie kann und soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht erneut nachgezeichnet werden. Es mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass sich in der Erzähltheorie in jedem Fall die Unterscheidung zwischen dem 'Erzähler' und dem Autor des Erzählwerks durchgesetzt hat. Vgl. Vogt (1990: 4149); Stanzel (1991: v.a. 24-38).
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Männer in Keilform auf einer Art Bühne aufgestellt, es könnten sowohl Proletarier wie Reichsarbeiter sein. (PA 54, i.O. fett) Feuerlöscher im Staubwind nach einem Bombenangriff, vermutlich Keller oder Ruine. (PA 140, i.O. fett) Die Bewegung endet auf dem Gesicht eines jugendlichen Soldaten, groß, eventuell handelt es sich um Obergefreiten Wieland [ ... ). (PA 171, i.O. fett)
Der >Protokollant< legt sich nicht durchgängig auf eine finite Bildbeschreibung fest. Er verfugt nicht allwissend über den Film. Er macht Deutungsangebote, kennzeichnet diese aber als subjektive Einschätzung. Gelegentlich delegiert er sogar Entscheidungen explizit an den Leser bzw. Zuschauer: Aus dem Unterrichtsraum, Schnitt, in die längere folgende MiniaturenSequenz, die sich mit Momentaufnahmen aus der deutschen Geschichte be-
faßt. Der Zuschauer kann es so auffassen, daß es sich um weitere eigenwillige Themen anderer Unterrichtsstunden handelt. (PA 149, i.O. fett)
Die Anwesenheit einer eingreifenden Erzählinstanz wird darüber hinaus spürbar, wenn im Szenentext die Bilder nicht nur beschrieben, sondern bewertet bzw. ironisch gebrochen werden. Großaufnahme Hindenburg: Ein Mann, der wie ein Vater erscheint und den Menschen nicht völlig fern ist. Man könnte daran denken, ihm zu vertrauen. (PA 128, i.O. fett)
Vereinzelt finden sich in den Szenentexten auch sprachliche Stilbrüche, die die Aufmerksamkeit des Lesers von den beschriebenen Objekten auf den Vorgang der Beschreibung selbst lenken. Im Film wird gegen Ende der vierten Sequenz ein Foto von der Erde gezeigt, das vom Weltraum aus aufgenommen wurde (E 237). Das Foto bildet den Auftakt einer kurzen Einstellungsfolge mit Science-Fiction-Bildern. Der entsprechende Szenentext in der Textliste wechselt völlig unvermittelt von einem nüchternen Protokollstil zu einer beinahe lyrisch anmutenden Satzkonstruktion, um dann ebenso abrupt wieder in den vorherigen Sprachgestus zurückzufallen. 49. Die Erde, die schöne Erde, vom Mond aus gesehen/ Szenen aus dem Raum krieg, weit vom Planeten entfernt/ Hoffnungsvoller Blick eines Raumpiloten/ Ein im Eis vergrabener Eierkopf, der Schädel eingeschlagen, das Auge blickt/ Abblende. (PA 95, i.O. fett)
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»Die Erde, die schöne Erde«: Der Ausrufwirkt wie ein Fremdkörper im Text. Der durch die Apposition signalisierte Gefühlsausbruch bedeutet eine Störung der scheinbar neutralen Grundhaltung des Filmprotokolls. Es handelt sich, wenn man davon ausgeht, dass der Erzähler/Protokollant hier tatsächlich gerührt auf den Anblick der Erde reagiert, innere Anteilnahme zeigt, um einen deutlichen (in der Form jedoch singulären) Bruch in der ansonsten vorwiegend distanzierten Erzählhaltung. Die zweite mögliche Lesart, dass hier ein spezifischer Sprachstil bewusst zum Zweck der Ironisierung >zitiert< wird, erscheint mir - gemessen an der Vielzahl der intertextuellen Verfahrensweisen, die in Kluges Texten und Filmen Verwendung finden -jedoch wahrscheinlicher. In jedem Fall, d.h. unabhängig davon, ob man sich für die eine oder andere Lesart entscheidet, unterstreicht die zitierte Textstelle sehr deutlich, dass es zu voreilig wäre, der Textliste des Films von vomherein eine vermittelnde Erzählinstanz abzusprechen. Die mehrfach anband des Textes belegte Feststellung, dass es sich bei der Textliste nicht um eine 1:1-Übertragung des Films in eine schriftsprachliche Form handelt, dass es also sowohl hinsichtlich der äußeren Form des Textes als auch im Hinblick auf die verwendeten Erzählstrategien zu Brechungen und Störungen kommt, leitet unmittelbar über zum Problem der Transkriptivität.
4.8.2 Medien-Lektüre zwischen Buch und Film: Intermediale Transkriptionseffekte Klare textuelle und paratextuelle Signale lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem im zweiten Kapitel des Buches Die Patriotin enthaltenen Text um ein Filmtranskript handelt. Kluge setzt im Wechselspiel zwischen Film und Buch auf intermediale Praktiken, die als Transkriptionsvorgänge beschrieben werden können. Ich fasse, das wurde bereits in Kapitel 4.1 angedeutet, die Interaktion zwischen den beiden differenten medialen Ausdrucksformen (Film und Textliste) als ein Verhältnis wechselseitigen Kommentierens auf. Es geht darum, die Brüche und semantischen Verschiebungen herauszuarbeiten, die beim Übergang vom einen zum anderen Medium auftreten. In den Blick sollen vorrangig Transkriptionseffekte geraten, an denen die Differenz der beteiligten Medien abgelesen werden kann. Die Textliste wird als Filmtranskript betrachtet, dem - ähnlich wie den von Brigitte Weingart beobachteten TV-Transkripten - selbst »eine Lektüre vorausgeht, die durch einen Leseapparat vermittelt wird« (Weingart 2002: 92). Als entsprechende technische >Transkriptionshilfen< dienten in Kluges Fall vermutlich der Schneidetisch oder ein Videorekorder. Paech hat speziell den Videore-
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korder als eine technische Apparatur beschrieben, die es möglich macht, »in einem Film zu >lesen< wie in einem Buch: Ich halte an, blättere zurück, >lese< genau, Zeile für Zeile, überfliege im Schnellauf viele >SeitenLesegeschwindigkeit< steuernden Technik zwischen einer statarischen und kursorischen Lektüre wechseln zu können, machen den Videorekorder oder vergleichbare >audiovisuelle Lesegeräte< zu einem nicht nur wichtigen, sondern auch die Rahmenbedingungen der Lektüre modifizierenden Hilfsinstrument der Transkription. Keine Transkription verläuft störungsfrei. Generell lässt sich für jeden Transkriptionsvorgang eine >Gewinn-und-Verlust-Rechnung< erstellen - besonders dann, wenn es sich um einen medienübergreifenden Vorgang handelt. Ludwig Jäger hat betont, dass ein Prätext, dem erst durch den Vorgang der Transkription einen Skript-Status zugewiesen wird, »durch seine transkriptive Erzeugung gleichsam Interventionsrechte gegen die mögliche Unangemessenheit der Transkription [erhält].« (Jäger 2002b: 33) Dass dieses Interventionsrecht bei literarischen Texten nur eingeschränkt Gültigkeit hat, darauf hat Weingart (2002: 92) ausdrücklich hingewiesen. Bei einer auf Transkriptionsvorgänge gerichteten Analyse von Kluges Textliste kann es folglich nicht darum gehen, lediglich Abweichungen zwischen Film und Textliste zu protokollieren und als Fehlleistungen zu deklarieren, sondern es ist das Ziel, gerade diese >Fehler< im Hinblick auf ihren semantischen Mehrwert und ihren Status als Mittel (inter-)medialer Selbstreflexion zu lesen. Dennoch ist es erhellend, in einem ersten Schritt den Blick auf markante Abweichungen zwischen Film und Textliste zu richten. Auffällige Unterschiede finden sich bereits im Dialogtext Obwohl die gesprochenen Texte des Films (Dialoge, Voice-Over-Kommentare) grundsätzlich eine wörtliche Überführung ins Medium des Schrifttextes erlauben würden, lassen sich gerade hier zahlreiche Divergenzen nachweisen. Das gilt vor allem für die dokumentarischen Passagen wie bspw. die Parteitagssequenz. In dieser Sequenz wird sehr viel geredet. Bei der Übertragung der mündlichen Rede wird auf eine buchstabengerraue Mitschrift der Tonspur verzichtet. Der mündliche Sprachgestus wird im Schrifttext nicht nachgeahmt; die mündliche Rede wird durch zahlreiche kleinere und größere Eingriffe den Gepflogenheiten schriftsprachlicher Texte angepasst. Holprige Satzkonstruktionen werden geglättet, Versprecher nicht in die Abschrift aufgenommen (E 141, PA 75) und Stockungen der Rede nur partiell (durch Auslassungspunkte) angedeutet (E 154-155/PA 80). Die Differenz zwischen den gesprochenen Texten im Film und dem Transkript reichen von geringfügigen Variationen des Textes über tat-
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sächliche Detailfehler (»250 Silben«/»200 Silben«; E 143/PA 77) bis zu umfangreicheren Kürzungen des filmischen Textes (E 154/PA 80). Ungenauigkeiten und verkürzende >Schnitte< finden sich auch in den VoiceOver-Kommentaren und Spielfilmszenen. So fehlt in der Textliste bspw. aus dem Dialog zwischen Gabi Teichert und ihrem >Gräberkollegen< die gesamte Passage, in der Gabi Teichert über ihre Schlaflosigkeit berichtet (E 250/PA 97). Voice-Over-Kommentare, die buchstabengetreu übernommen wurden, finden sich generell selten. Vereinzelt lassen sich sogar sinnentstellende Transkriptionsfehler nachweisen: »Mein Amt füllt mich nicht aus ... « (E 277) vs. »Mein Amt füllt mich aus ... «(PA 107). Wichtiger als die konkreten Abweichungen im Detail selbst erscheint mir jedoch die Summe der Detailänderungen. Die unzähligen >Fehler< des Transkripts zeugen davon, dass es Kluge bei der Übertragung vom Film zum Schrifttext ganz offensichtlich nicht um akribische Genauigkeit ging. 96 Man könnte daraus ableiten, dass er auch im Hinblick auf seine transkriptiven Verfahrensweisen dem von ihm in Anlehnung an Musil propagierten Prinzip der »Präzision des Ungefähren«97 folgt. Es gibt aber auch signifikante Abweichungen zwischen Textliste und Film, die auf das von Kluge zur Grundhaltung seines ästhetischen Programms deklarierte >Baustellenprinzip< verweisen. Kluges Arbeiten befinden sich in ständiger Überarbeitung, sie verstehen sich als >work in progressVersuchsanordnungen< des Materials erprobt wurden und dass, obwohl Kluge die Existenz eines Drehbuchs vehement verneint, für einzelne Passagen auch präfilmische Textentwürfe vorgelegen haben. 98 In der Textliste finden sich im-
96 Entsprechend lassen sich m.E. bezüglich des Dialogtextes aus einzelnen Abweichungen zwischen Film und Textliste auch keine bedeutungsvollen Schlüsse ziehen. Rothers Deutung des Schlusskommentars, die sich auf ein einziges Komma stützt, das im Schrifttext geschrieben, im gesprochenen Kommentartext aber nicht hörbar ist, halte ich - trotz ihrer bestechenden inneren Logik - gemessen an der Vielzahl der Transkriptionstehler in der Textliste für eine Überinterpretation. Vgl. Rother (1990: 94). Es findet sich lediglich ein Beispiel im Text, wo eine Änderung gegenüber dem gesprochenen Dialog explizit als Konjektur markiert wird: »MÜRKE: [ ... ] Die Menschen werden auch relativ schnell des Kriegs überdrüssig (er sagt: ,überflüssig•). " (PA 157) 97 Vgl. BUF (223-229). Kluge bezieht sich hier u.a. auf die »Utopie des exakten Lebens« und die »Utopie des Essayismus« bei Musil (vgl. Musil1978: 244-257). Vgl. zur Musil-Rezeption bei Kluge auch Blümlinger (1992: 24); Vogt (1991: 83-87). 98 Für alle drei Fälle finden sich Beispiele im Kapitel >Thema< Hier sind Texte zu Filmszenen abgedruckt, die in der Kinofassung von Die Potriotin nicht enthalten sind. Fußnoten verweisen auf den jeweiligen Textstatus: 1. »Gedreht,
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mer wieder Hinweise darauf, dass - zumindest partiell - nicht die Kinofassung, sondern filmische Vorstufen oder schriftliche Entwürfe als Prätexte (Quellen) ftir die Transkription gedient haben. An der fortlaufenden Nummerierung der einzelnen >Szenen< in der Textliste kann bspw. abgelesen werden, dass die gesamte Sequenz >Märchenwelt< entweder in einem präfilmischen Entwurf oder in einer früheren Schnittfassung anders platziert war. Ursprünglich direkt im Anschluss an die Sequenz >Ein Totensonntag< geplant, erscheint sie in der Kinofassung erst hinter der >Bundeswehr-Casino-SzeneUmarbeitungsprozess< anhand des Textes rekonstruieren. Markante Lücken in der Textliste lassen darauf schließen, dass die fehlenden >Szenen< erst in einer späteren Produktionsphase in den Film aufgenommen wurden. 99 Es tritt aber auch der umgekehrte Fall auf, dass in der Textliste Passagen enthalten sind, die aus der Kinofassung des Films wieder entfernt wurden. (PA 84) Ganz offensichtlich liegt der Transkription hier kein abgeschlossener, sich im fertigen Filmprodukt manifestierender >Quelltext< zugrunde. Die verschiedenen Entwürfe und Entwicklungsstufen des Filmprojekts bilden insgesamt ein Aggregat von verschachtelten und untereinander vielfach verzweigten >QuelltextenFilm als Textlesbaren< Skripts verliehen wird, dass durch die transkriptive Operation im Übergang von einem zum anderen Medium Sinn entsteht, der in dieser Form ohne den Transkriptionsvorgang noch nicht vorhanden war, lässt sich besonders deutlich am Problem der Filmsegmentierung ablesen.
ist nicht im Film enthalten." (PA 423), 2. »Fassung I des Films.« (PA 430) und 3. "Arch. Notizen, Auszug." (PA 448) 99 So fehlen in der achten Sequenz sowohl der ·Busch bei Kaliningrad' (E 438440) als auch die Dokumentaraufnahmen des Brandt-Rücktritts (E 441-450).
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Die einzige feststehende (weil technisch vorgegebene) Segmentierungseinheit in Kluges Film ist die Einstellung. Größere Gliederungseinheiten (Szenen oder Sequenzen) 100 werden zwar gelegentlich - bspw. durch Titelinserts - angedeutet, sind aber nicht zwingend in der filmischen Struktur selbst angelegt. Die Textliste greift in die offene Struktur des Films ein, indem sie diesen in zwölf Sequenzen unterteilt, die wiederum in kleinere, irgendwo im Bereich zwischen Einstellung und Sequenz angesiedelte Erzähleinheiten aufgeteilt werden. Dem Leser der Textliste wird somit eine (mögliche) Gliederung des Films vorgegeben, die sich in dieser Form aus dem Bilderfluss des Films nicht automatisch ergibt. Nur die Sequenzen >Auf dem Parteitag< und >Es weihnachtetGrabenMärchenSich-Mühe-GebenAutoritätSzenen< unterteilt, die sich in ihrem Komplexitätsgrad erheblich unterscheiden. Einmal umfasst eine >Szene< eine einzelne Einstellung (PA 50, !.2: E 2), ein anderes Mal eine Folge von Einstellungen, die aufgrund ihres einheitlichen Bildcharakters einen Zusammenhang ergeben (PA 51, 1.3: E 4- 7). Ein Textabschnitt kann sich aber auch auf einen deutlich komplexeren Montagezusammenhang beziehen (PA 52-54, !.4: E 10-22). Text und Bild werden teilweise durch die Gliederung getrennt (PA 54-55, 1.4 und I.5), teilweise unter einem Gliederungspunkt zusammengefasst (PA 58, !.6). Die Segmentierung greift nicht nur in die Bildebene des Films, sondern auch in dessen Text-BildGefüge ein. Indem er im fünften Abschnitt den Monolog des Knies isoliert, löst Kluge die Synchronität von Bild und Text bewusst auf. Die Eigenständigkeit des Voice-Over-Kommentars gegenüber den Bildern wird an dieser Stelle durch die Gliederung der Textliste deutlich unterstrichen. Die >Szenenverrätselten< (unlesbaren) Bilder des Films hier automatisch in lesbare Texturen überführt würden. Es geht nicht darum, den Film auf eine endgültige Bedeutung zu reduzieren. Der wesentliche Clou der von Jäger vorgeschlagenen Theorie der Transkriptivität besteht darin, dass Lesbarkeit und Unlesbarkeit nicht als ontologische Kategorien aufgefasst werden. So kann dem Medium Film ebenso wenig a priori Unlesbarkeit unterstellt werden wie dem Medium Schrifttext Lesbarkeit. Das bedeutet für das Film-Buch-Projekt Die Patriotin, dass man nicht von einem unidirektionalen Transkriptionsvorgang ausgehen kann. Die begriffliche Konzentration, die mit der Vertextung der Filmbilder in Kluges Textliste einhergeht, schafft ihrerseits Leerstellen, Brüche, Lücken - unlesbare Texturen, die transkriptive Anschlussoperationen erfordern. Hierbei kann dann dem Film selbst durchaus wieder der Status einer transkribierenden Textur zukommen. 105 In der wechselseitigen Bezugnahme lassen sowohl die filmische als auch die (schrift-)sprachliche Textur ihre eigene Medialität erkennen (vgl. Balke 2003 : 31 ). Transkriptionseffekte lenken die Aufmerksamkeit auf mediale 105 Vgl. Jäger (2004: 73): »Transkribierende Texturen können jederzeit ihrerseits wieder transkribiert werden, wie umgekehrt transkribierte Texturen erneut als Transkriptionen fungieren können."
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Differenzen: Dass die Filmbilder und die Beschreibungen dieser Bilder nicht identisch sind, daranlässt die Textliste keinen Zweifel. Wenn Bechtold (1983b: 33) über das Buch zu Die Artisten in der Zirkuskuppel sagt, dass es »zusammen mit dem erinnerten bzw. in der Vorstellung antizipierten Film eine >Groß-Montage< darstellt«, dann gilt das in gleicher Weise für Die Patriotin. Im Idealfall ergänzen sich die Lektüre des Audivisuellen und die Lektüre des Schrifttextes. Der Leser des Buches sieht den Film anders und der Filmzuschauer wird den Filmtext anders lesen als der >Nur-Leserfilm stills< oder »Fotogramme« (Barthes 1990: 6466) bezeichnet werden. Stärker noch als die Texte binden die Fotos das Buch an den Film. Die Abbildungen können als »Zitate aus dem Film« (Bechtold 1983b: 27-28) aufgefasst werden. Sie sind ihrerseits Transkripte, die als Abkürzungen fungieren, indem sie visuelle Momentaufnahmen aus dem Film direkt in den Text integrieren. Solche Bildzitate entlasten den Text üblicherweise von der Notwendigkeit der Paraphrase. Da jedoch die Szenentexte und die Fotogramme in Kluges Textliste nicht durchgängig korrespondieren, d.h., da sie sich oftmals nicht auf die gleichen Filmsegmente beziehen, bedeutet die Text-Bild-Struktur des Buches vielfach eher eine Komplexitätssteigerung als eine Komplexitätsre-
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duktion. 106 Für die Rekonstruktion des filmisch-literarischen Transkriptionsvorgangs stellt die Form des multimedialen Transkripts im Fall von Kluges Textliste keine Erleichterung dar. Im Gegenteil: Durch die Neuanordnung des Materials verkompliziert sich das Wechselspiel zwischen Film und Text. Die Anordnung der Fotogramme entspricht nicht der Chronologie des Films. Die Bilder stehen oftmals in einem Spannungsverhältnis zu den Texten und werden teilweise ganz bewusst als Filmbilder inszeniert. Für die Fotogramme in Die Patriotin gilt zunächst einmal, was generell für die Abbildungen in Kluges Texten gilt: Die Bilder haben keine illustrative Funktion, sie lassen sich nicht auf den Zweck der ergänzenden Textbebilderung reduzieren und gehören somit auch nicht zum Paratext. Sie müssen vielmehr als eine integrative Komponente des Textes selbst gesehen werden. Die »Gebraucht-Bilder«, die Kluge in seinen Texten verwendet, dienen »immer als inhaltliche Anreicherung, als Anschlußstellen und Katalysatoren weiterer Bedeutungsfelder« (Bechtold 1983b: 88; vgl. ders. 1983a: 229). Sie fungieren als Stimulanz für die Assoziationsarbeit des Lesers. Im speziellen Fall der Fotogramme wecken sie darüber hinaus Erinnerungen an die audiovisuellen Eindrücke des Films. Man kann in Kluges Textliste zwischen zwei Typen von Filmbildern unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Abbildungen in verschiedenen Bildformaten, die sich rein äußerlich nicht als Filmbilder zu erkennen geben (vgl. z.B. PA 59, 135, 139). Bereits im Hinblick auf den Bildausschnitt stimmen diese Bilder zumeist nicht mit den im Film gezeigten Bildern überein. Um diese Abbildungen als >film stills< bzw. als >Filmzitate< identifizieren zu können, muss man den Film gesehen haben. Die Kategorisierung als Fotogramm trifft besonders in den Fällen nur bedingt zu, in denen Film und Buch gleicherweise auf fremdes Bildmaterial zurückgreifen (vgl. PA 56- 57, 90, 118, 147, 150 usw.). Die intertextuelle Relation findet hier nicht nur zwischen Film und Buch statt, sondern entspricht eher einer Dreiecksbeziehung, in der dem >vorgefundenen Rohstoff< die entscheidende Rolle zukommt. Auf der anderen Seite stehen Bilder bzw. Bilderfolgen, die bereits auf der Ebene der formalen Gestaltung als Filmbilder erkennbar werden. Im Text werden in vielen Fällen keine isolierten Bilder, sondern ganze Reihen von Kontaktabzügen abgebildet, die, da die Perforation des Filmstreifens, die Hersteller- und Typbezeichnungen des verwendeten Filmmaterials sowie die Signaturen der einzelnen Fotos sichtbar sind, die 106 ln dieser Hinsicht unterscheiden sich Kluges Filmbücher deutlich von anderen Filmtranskripten, die durchgängig auf eine enge Verschränkung von Text und Bild setzen. Vgl. z.B. Wenders (1976).
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materielle Seite des Mediums Fotografie sehr stark betonen. Die Form des Mediums, tritt gegenüber dem Dargestellten, den medialen Formen, die zum Teil nur schwer identifizierbar sind, in den Vordergrund. »Einige undeutliche Kontaktabzüge signalisieren in der Textliste eher Filmbilder, als daß sie einen konkreten visuellen Eindruck vermitteln könnten.« (Bosse 1989: 256; vgl. exemplarisch PA 51) In diversen Bildern wird zusätzlich durch die deutlich erkennbare Lichttonspur sichtbar gemacht, dass es sich um abfotografierte Einzelbildausschnitte des 35-mm-Filmbandes handelt. Der verschachtelte intermediale Reproduktionsprozess, der üblicherweise hinter dem Dargestellten verschwindet, figuriert in diesem Fall als sichtbare Form. Es handelt sich bei diesen Filmbildern nicht mehr einfach um Fotogramme, die auf einzelne Szenen des Films verweisen, sondern um Bilder, die Bilder von Bildern zeigen. Der intermediale Prozess, durch den ein Filmbild, vermittelt über das Medium Fotografie, ins Buch gebracht wird, ist der eigentliche Gegenstand der Darstellung: Zunächst werden bei der Filmherstellung Bilder in schneller Folge durch einen technisch-apparativen bzw. optisch-chemischen Vorgang auf einer lichtempfindlichen Abbildungsschicht, dem Filmband, fixiert. Einzelne Bilder dieses Filmbandes können dann durch weitere chemisch-technische Verfahren vervielfacht bzw. fotografisch reproduziert werden. Es entsteht ein neues Medienprodukt (ein Foto), das seinerseits durch drucktechnische Verfahren in den medialen Kontext eines Buches integriert werden kann. Die technische Dimension dieses visuellen Transkriptionsvorgangs wird bei den Kontaktabzügen in Kluges Textliste nicht verdeckt, sondern durch die äußere Form der Bilder ganz im Gegenteil thematisiert. Darüber hinaus wird der Akt des Collagierens, die handwerkliche Seite des Zusammenfügens von Text und Bild, durch die schiefen, unregelmäßigen Ränder der in den Text einmontierten Filmstreifen visualisiert. Die Fotogramme in Kluges Textliste folgen nicht dem Zwang des rechten Winkels. Sie wirken achtlos >ausgeschnitten< und wie >mit Hand< in die Texte >hineingeklebtabgeschnittenTextBild-LeseflächeSzenen< oder Subsequenzen werden demontiert und in separate Einstellungen zerlegt (vgl. PA 11 0-112). Bilderreihen, die von der Filmchronologie abweichen, verweisen hierbei immer wieder auf alternative Montagemöglichkeiten (vgl. PA 60- 61). Roland Barthes hat das Fotogramm als paradoxe Form bestimmt, in der das Moment des Filmischen gerade durch die Abwesenheit des Films greifbar wird (Barthes 1990: 63- 64): Das Filmische ist dasjenige im Film, das sich nicht beschreiben läßt, die Darstellung, die sich nicht darstellen läßt. Das Filmische beginnt erst dort, wo die Sprache und die gegliederte Metasprache aussetzen. [ .. . ] Deshalb läßt sich in gewissem Maß (dem unserer theoretischen Gehversuche) das Filmische paradoxerweise nicht im Film "am rechten Ort", " in der Bewegung", " in natura" erfassen, sondern bisher nur in einem wichtigen Artefakt, im Fotogramm.
Paech (1994b: 172- 173) hat im Anschluss an Barthes das Fotogramm, »das angehaltene Bild der Bewegung«, als das Bild des filmischen Zwischenbildes beschrieben. Kluge treibt das Spiel mit dem im Fotogramm aufgehobenen filmischen Zwischenbild auf die Spitze, wenn er die Fotogramme in Form von kompletten Kontaktabzügen wiedergibt. Die schwarzen Zwischenräume auf den Filmstreifen, die Lücken zwischen den unbewegten Filmfotos, verweisen auf die Dunkelphase im Kino, sie symbolisieren das ftir das Medium Film konstitutive Dazwischen zwischen den einzelnen Phasenbildern. Gänzlich unbelichtetes Filmmaterial (PA 176- 177) lässt außerdem Raum für neue Bilder. »Das Nichtverfilmte kritisiert das Verfilmte.« (PA 280) Wie der Schwarzfilm im Kino ist der schwarze Kontaktabzug das Bild des Nicht-Bildes, das Bild des >NichtverfilmtenWeiterdenken< einer Bilderreihe auf. Für das filmische Verfahren von Kluge gilt, dass die verschiedenen Ausdrucksmittel des Films gleichwertig behandelt werden (Bitomsky et al. 1979: 509): Ich gehe nicht davon aus, daß Film nur mit der Photographie zu tun hat. Die Bilder sind nicht wichtiger als die Töne, die Geräusche sind nicht wichtiger als die Musik, das Wort ist weder dienend noch übermächtig, ein Titel ist auch ein Bild. Es gibt unter den sogenannten filmischen Mitteln keine Hierarchie.
Auch in Kluges Textliste stehen verbalsprachliche und ikonische Elemente als gleichwertige Komponenten in einem engen Wechselverhält-
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nis. Bild und Text werden montiert, »wobei zumeist em mehrfacher Kommentierungs- bzw. Dementierungseffekt« (Vogt 1985: 17) zwischen den Szenen- und Dialogtexten, den Bildern und den Bildunterschriften hervorgerufen wird. Schrift und Bild stehen in einem Spannungsverhältnis, das zur Durchbrechung eines einseitigen, linearen Wahrnehmungsbzw. Rezeptionsprozesses beiträgt. An den Naht- und Bruchstellen, bei denen das Medium, die Sprechweise etc. wechselt, wird der Leser/Betrachter in seinem Rezeptionsprozeß aufgeschreckt und aufgefordert, selbst zu überprüfen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. (Bechtold 1983b: 127)
Wie bereits angedeutet, stehen Fotogramme und Szenentext in den meisten Fällen nur in einem lockeren Zusammenhang, der Freiraum für die Assoziationsarbeit des Lesers lässt. Dieser muss die Verbindungen zwischen Text und Bild selbständig herstellen bzw. überprüfen. Das Transkript fordert Postskripte, »die den Rekurs auf die Differenz von Skript und Transkript leisten« (Stanitzek 2002: 10). Die Kombination des Textund Bildmaterials wird nicht streng durch die Text-Bild-Relationen und die Einstellungsfolge des Films vorgegeben. Durch Filmfotos, die aus ihrem konkreten filmischen Montagezusammenhang herausgehoben werden, wird die lineare Szenenabfolge des Films aufgebrochen. Bilder aus der ersten Sequenz des Films werden bspw. in der Textliste in die zweite Sequenz integriert (PA 60). Die Szenentexte (>Szene< 8 und 9) beschreiben hier Gabi Teicherts >Arbeit an der GeschichteText-Bild-FlächeFilmisierung der Literatur< aus (vgl. Kapitel 3.6), richtet sich das Augenmerk vor allem auf strukturelle Homologien zwischen filmischen und literarischen Erzähltechniken. Die Intermedialität zwischen Film und Literatur wird im Kontext eines solchen Forschungsansatzes vorrangig an einer Similaritätsrelation festgemacht und mündet zumeist in Überlegungen, die sich an das in der Literaturwissenschaft kontrovers diskutierte Konzept der >filmischen Schreibweise< anlehnen. 108 Für die These, dass filmische und literarische Strategien in seinen Arbeiten auf ein gemeinsames Erzählprinzip zurückgeführt werden können, finden sich auch bei Kluge selbst Belege. In einem >Werkstattgespräch < sagt er zu seinem 1962 erschienenen Prosaband Lebensläufe: Die Geschichten wurden zunächst als Filme konzipiert. Wenn man sie genau ansieht, kann man die >Schnitte, feststellen. Das literarische Prinzip der ,Lebensläufe, ist ein filmisches Prinzip. 109
Kluges Lebensläufe erweisen sich als besonders geeignet, um Parallelen zwischen seinen filmischen und literarischen Erzähltechniken herauszuarbeiten (vgl. ausführlich Sombroek 1998: 42-63). Eine mikrostrukturelle Erzählweise, Fragmentierungen von Handlungszusammenhängen, häufige Perspektivenwechsel, dokumentarisch-fiktive Mischformen und ein auf Brüche und Lücken setzendes Montageverfahren gehören zu den wichtigsten Strategien, die sich in Kluges Gesamtwerk medienübergreifend nachweisen lassen. Genau wie die filmischen Arbeiten von Kluge enthalten die Lebensläufe fiktive und dokumentarische Anteile. Da der dokumentarische Charakter in die fiktiven Passagen der Geschichten hineinwirkt, lassen sich Dokument und Fiktion hierbei nur schwer auseinander halten. Auch in den fiktiven Teilen der Geschichten bleibt »die Sprache des Dokuments, der Gutachten oder der unterschiedlichen behördlichen Notizen und amtlichen Hinweise [... ] erhalten« (Voßkamp 1977: 303). Die Geschichten bauen auf einer Kombination aus authenti-
108 Einen kritischen theoriegeschichtlichen Überblick zum Begriff der ,filmischen Schreibweise' geben Rajewsky (2002: 28-43); Tschilschke (2000: 79-115). Vgl. auch Paech (1997a: 122-150); Schnell (2000: 145-170). 109 Zitiert nach Schmidt (1966: 87).
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sehen und erfundenen Fakten auf. Wie in seinen Filmen setzt Kluge in seinen Erzählungen auf ein komplexes Netzwerk aus Zitaten und intertextuellen Bezügen. Der Anschein des Dokumentarischen ergibt sich schon durch die Vielzahl der ge- und erfundenen Rohstoffe (Briefe, Protokolle, Auszüge aus wissenschaftlichen Arbeiten, Tagebuchaufzeiclmungen und Interviews), die- wie die fremden Bildmaterialien in Kluges Filmen - in die einzelnen Geschichten integriert werden. 110 Das Prinzip der Montage dient hier wie dort nicht dazu, aus den heterogenen Materialien ein homogenes Ganzes zu schaffen. Kluge trennt die einzelnen Textteile in den Lebensläufen durch harte Schnitte und fügt sie »wie bei filmischen Bildsequenzen ohne Überleitungen« (Voßkamp 1977: 303) aneinander. Der Band basiert auf einer verschachtelten Gliederungsstruktur. Auf der obersten Ebene stehen in der Neufassung von 1974 achtzehn Geschichten. Diese sind wiederum in Unterkapitel eingeteilt, die sich dann ihrerseits wieder aus kleineren Texteinheiten zusammensetzen. So ergibt sich eine große Anzahl von narrativen Minimalbausteinen, aus denen sich die Geschichten wie Filme, die in Sequenzen, Szenen, Einstellungen und Bilder zerlegt werden können, aufbauen. Formal wird das Prinzip des >sichtbaren Schnitts< auch auf die Textgestaltung übertragen. Die fragmentarischen Erzählsegmente stellen sich äußerlich als graphisch deutlich voneinander abgesetzte Textblöcke dar, die entweder durchnummeriert oder mit knappen Überschriften versehen sind. Der Leser des Textes ist in der gleichen Rezeptionssituation wie der Zuschauer von Kluges Filmen. Er »muß eine Vielzahl von Erfahrungsbruchstücken verarbeiten, wenn er die Bedeutung der einzelnen Geschichten auf den Begriff bringen will« (Schmidt 1993: 90). Völlig losgelöst von der Tatsache, dass es sich bei der Patriotin im Gegensatz zu den Lebensläufen tatsächlich um eine >Nach-Schrift< zu einem Film handelt, gilt auch für dieses Buch, dass es vor allem im Hinblick auf seine Gesamtkonzeption und seine Montageteclmik deutliche Parallelen zu Kluges filmischen Erzählverfahren aufweist. Die sechs nur locker miteinander verknüpften Kapitel des Textes geben dem Leserebenso wie die offene Form des Films - kein bindendes, lineares Rezeptionsschema vor. Das Buch macht Assoziations- und Verknüpfungsangebote, an denen man sich orientieren kann, lässt aber in den Lücken zwischen den einzelnen Elementen auch Freiraum für weiterführende Assoziations- bzw. Kombinationstätigkeiten des Lesers. Buch und Film vollenden sich erst durch die aktive Mitarbeit des Rezipienten, der gezwungen wird, die fragmentarischen Text- und Bildmaterialien unabhängig von ihrer linearen Anordnung in Beziehung zueinander zu setzen. Er 110 Vgl. hierzu Voßkamp (1968: 15); Lewandowski (1983: 235); Schmidt (1993: 87-88).
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muss die einzelnen Elemente »gewissermaßen aus dem Buch, aus dem Film >herausziehen< und im Kopf mehrdimensional lesen/betrachten.« (Bechtold 1983b: 114) Der Formenreichtum des Buches resultiert aus der vielschichtigen Koppelung von sprachlichen und ikonischen Zeichen, die wiederum ganz unterschiedlichen Text- und Bildsorten zugeordnet werden können. Buch und Film setzen gleichermaßen auf die Interdependenz zwischen Dokument und Fiktion, zwischen Theorie und Narration. Eine Durchdringung von Theorie und Fiktion lässt sich vor allem im letzten Kapitel beobachten, wenn theoretische Fragmente und Zitate als Notizen »[a]us G.T.'s Notizenheft« (PA 418) oder Zitate von Rudolf Bahro als »Gabi Teicherts Kleines Bahro-Leseheft« (PA 444-446) ausgewiesen werden. Der sinnlich-praktische Zugang zur Wirklichkeit - repräsentiert durch den Film und seine Hauptfigur- und der theoretische müssen sich, das gehört zu den zentralen Prämissen von Kluges Denken (vgl. Kapitel 3.2), ergänzen: »Gabi Teichert wird später für Ordnung sorgen. Es geht nicht ohne sie, es geht auch nicht ohne Theorie.« (PA 343) Die Konzeption von Die Patriotin erfordert ein >LesenText zu lesen wie einen Film