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German Pages 348 Year 2014
Philipp Schönthaler Negative Poetik
Lettre
Philipp Schönthaler (Dr. phil.) ist Postdoktorand an der Universität Konstanz.
Philipp Schönthaler
Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész
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Inhalt
Siglen | 9 Einleitung | 11
Kapitelübersicht | 20 1. Krisendiskurse nach 1945 – Erzähler und Zeuge | 25
1.1 Die Krise der Zeugenschaft | 29 Zeugenschaftsdiskurse und Geschichtskonzeptionen | 33 Zeugnis versus Erzählung | 36 Zeugenschaftsliteratur als Gattungsfrage | 41 1.2 Der Erzähler im Diskurs der Narratologie | 46 1.3 Die Krise des Erzählers | 52 »Das Ende ist am Anfang und doch macht man weiter«: Deutsche Krisendebatten nach 1945 | 54 Der Erzähler bei Benjamin und Adorno | 59 2. Negationen des Erzählers | 65
2.1 Bernhard – Die Suspension des Erzählers | 70 Tödliche Erbschaftsfolgen | 71 »Geschichtemacher, Geschichtebetrüger« | 73 Amtliche Schriftsätze: Protokoll und Nachlass | 80 Eine Prosa der Geschichtenzerstörung | 86 Die Verdopplung des Erzählers: Auslöschung | 93 2.2 Sebald – Der Erzähler im freien Fall | 98 Die Naturgeschichte der Zerstörung: Luftkrieg und Literatur | 99 Die Naturphilosophie Döblins | 106 Sebalds Prosa: Schreiben ›nach der Katastrophe‹ | 109 Allegorische Lektüren: Die Ringe des Saturn | 114 Die Fälschung der Perspektive | 120 Die Levitation des Erzählers | 126 2.3 Kertész – Die Doppelbindung des Erzählers | 133 Auschwitz als Gleichnis | 134 Ethik nach Auschwitz | 139 Vom Glück der Konzentrationslager: Der Roman eines Schicksallosen | 144
Die Exilierung des Erzählers | 151 Die Doppelbindung des Erzählers | 154 3. Fortschreibungen der Literatur | 159
3.1 Bernhard – Auslöschung | 161 »Das sind die Sätze, Wörter«: Das tödliche Medium Sprache | 163 Die Ausweitung der Kampfzone: Die Sprache im öffentlichen Diskurs | 171 Das »Teufelswerkzeug« Fotografie: Die Sprache in der fotomedialen Ordnung | 173 Nachspiele: Antiautobiografie und Testament | 188 3.2 Sebald – Die Ringe des Saturn | 197 Der Stoff der Prosa | 202 Aus dem Lehrbuch des Seidenbaus: Sebalds ›Dialektik der Aufklärung‹ | 211 Topografie und Verkettungslogik | 213 Die Textur der Trauer | 218 Mythopoetik: Astrologische Kalkulationen | 224 3.3 Kertész – Liquidation | 234 »Suizidiographie« | 236 ›Name‹ und ›Pharmakon‹ Auschwitz | 238 Ressentiments oder vom Hass auf die Kultur | 243 »Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?« | 247 Der Ekel der Kontingenz: Existenzialistische Einsätze | 252 4. Fallhöhen des Schreibens | 263
4.1 Verweilen beim Negativen | 267 Zum Begriff der Negativität | 269 Negative Bestimmungen der Philosophie | 269 Adornos negative Poetik | 272 Verfahrensweisen der Negation | 278 Die Reduktion | 278 Die Verkehrung | 279 Das Bilderverbot | 281 4.2 Bernhard – Schreiben im Nullzustand | 285 Poetisch-philosophisches Gipfeltreffen oder eine Kritik der Höhe | 291 4.3 Sebald – Elevationen des Schreibens | 294
Höhenflüge der Prosa | 298 4.4 Kertész – Aufhebungen des Schreibens | 303 Ein Grab in den Wolken | 308 4.5 Münchhausen oder die Aporie von Setzungsakten nach 1945 | 315 Literatur | 319
Primärliteratur | 319 Allgemeines Literaturverzeichnis | 321 Dank | 343
Siglen
A ÄT BU CS DK ES F GT I IEA K
Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall, Frankfurt a.M. 1988. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 2003. Sebald: Beschreibung des Unglücks, Frankfurt a.M. 2003. Sebald: Campo Santo, München 2003. Kertész: Dossier K. Eine Ermittlung, Reinbek b.H. 2006. Kertész: Die Exilierte Sprache, Frankfurt a.M. 2004. Kertész: Fiasko, Reinbek b.H. 2001 Kertész: Galeerentagebuch, Reinbek b.H. 2002. Bernhard: Der Italiener, Frankfurt a.M. 1989. Kertész: Ich – ein anderer, Reinbek b.H. 2002. Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Reinbek b.H. 2002. L Kertész: Liquidation, Frankfurt a.M. 2003. LL Sebald: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M. 2003. MM Adorno: Minima Moralia, Frankfurt a.M. 2003. MZD Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, Stuttgart 1980. ND Adorno: Negative Dialektik/Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M. 2003. NL Adorno: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003. NN Sebald: Nach der Natur. Ein Elementargedicht, Frankfurt a.M. 2002. RES Kertész: Roman eines Schicksallosen, Berlin 2004. RS Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt a.M. 2003. U Bernhard: Ungenach, Frankfurt a.M. 1989. UH Sebald: Unheimliche Heimat, Frankfurt a.M. 2004.
Einleitung Heutzutage »historisiert« man gern Diskurse und Avantgarden, als läge das Anachronistische nicht in diesem historistischen Gestus selber. Die Geschichte mag inzwischen über sämtliche Reden vom »Ende« hinweggegangen sein. Aber wer sagt, dass dieser Prozess etwas anderes ist als das Etwas, das seinen Gang geht, nach wie vor?1
Jürgen Wertheimer berichtet von einer Begegnung mit W.G. Sebald, in der er den Autor fragt, welche Rolle der Literatur innerhalb einer transnationalen Gesellschaftsordnung, die von kollektiven, destruktiven Prozessen bestimmt wird, zukommt: »Was die Literatur in solch einer Situation tun könne, wurde gefragt. Ob sie etwas tun könne? Sebald hat nur ganz traurig-verschämt gelacht und gesagt: ›Nein, das glaub ich nicht. Wie denn, wir beschreiben doch nur eine Struktur, wir sitzen doch nur im Bremserhaus. Und die Bremse ist kaputt‹.«2 Die Irritation auf solche Aussagen Sebalds speist sich weniger aus dem kulturpessimistischen Urteil des Autors, das durchaus im Einklang mit seiner Prosa steht, sondern vielmehr aus der enthusiastischen Rezepti-
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Irving Wohlfahrt: »Lager, Nach-Welt, Überleben. Aporie als die Grundfigur von Adornos Ästhetik«, in: G. Kohler/S. Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S. 155-198, S.182. Jürgen Wertheimer: Sisyphos & Bumerang. Zwischenberichte, Tübingen 2006, S. 67.
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on, die dieser skeptischen Sicht hinsichtlich des Status’ der Literatur kaum Rechnung trägt.3 Das Ausblenden der kulturpessimistischen Perspektive rührt wohl nicht zuletzt daher, dass Vorbehalte gegenüber der Leistung der Literatur und Erzählung gegenwärtig kaum mehr diskutiert werden. Der ›apokalyptische Ton‹ in der Literaturwissenschaft, wie er notorisch in den Wendungen vom ›Tod‹ der Literatur und des Romans bis hin zum ›Verschwinden‹ des Subjekts kursierte, scheint endgültig datiert. »Wer in diesem Jahrhundert über fünfzig Jahre alt wird, hat eine gute Chance, mindestens dreimal dem Gerücht vom Ende der Literatur zu begegnen«,4 so resümiert Reinhard Baumgart einen Diskurs, an dem er als Adorno-Schüler in den 60er Jahren zwar noch mitwirkte, dem er nun aber in den 90er Jahren jede zeitdiagnostische Relevanz – auch nachträglich – abspricht. Mit den Autoren Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész verhandelt die vorliegende Studie, zumindest was Bernhard und Sebald betrifft, nicht nur ein gut sondiertes Terrain. Sie läuft zudem Gefahr, die Autoren mit dem Begriff der negativen Poetik ausgehend von einer Problematik zu diskutieren, die sich im Hinblick auf gegenwärtige Interessen als anachronistisch erweist. Bevor ich auf die ausgewählte Konstellation der Autoren eingehe, soll daher der Einsatzpunkt dieses Buches erläutert werden. Die Negative Poetik, mit der Konzentration auf der Figur des Erzählers, referiert auf die Krisendebatten, wie sie ein breites Spektrum der Nachkriegsliteratur prägen: »Die Situation des Romans nach dem Zweiten Weltkrieg ist gekennzeichnet durch das akute Krisenbewusstsein des Erzählers«,5 so fasst Bruno Hillebrand den literarischen Nachkriegsdiskurs zusammen. Mit dem »Krisenbewusstsein des Erzählers« votiert die Arbeit zwar keinesfalls für eine Rückkehr zu Globalthesen, wie eben jenen vom ›Tod‹ des Romans oder des Erzählers. Zudem findet der Begriff der ›Krise‹ keine Verwendung im engeren Sinn, als Beschreibung akuter, zeitlich begrenzter Umwälzungen.6 Die Krise steht
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Eine Ausnahme bildet u.a. Peter Morgan: »The Sign of Saturn: Melancholy, Homelessness and Apocalypse in W.G. Sebald’s Prose Narratives«, in: German Life and Letters 58 (2005), S. 75-92, S. 89 u. 91. U.a. spricht Morgan von einem »cultural pessimism of religious dimensions«. Reinhard Baumgart: Addio. Abschied von der Literatur, München 1995, S. 11. Bruno Hillebrand: Die Theorie des Romans, Stuttgart u.a. 1993, S. 374. Dietrich Scheunemann verweist auf die »suggestive Qualität der Krisenmetapher […] speziell in der literarischen Kritik«. Zudem konstatiert er, dass der Begriff – analog zur Verwendung in der Ökonomie und Politik –
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hier vielmehr als Signatur einer Problematik, die eher ein strukturelles als ein zeitliches Phänomen benennt, das als solches in vielerlei Hinsicht konstitutiv für die Literatur der Moderne und Nachmoderne ist.7 Letztlich geht der Begriff der Krise derart in der Konzeption der negativen Poetik auf, wie sie anhand der Autoren entfaltet wird. Was nun das Krisenbewusstsein des Erzählers betrifft, geht die Untersuchung trotz allem davon aus, dass sich darin sehr wohl eine Problemstellung formulierte, die einerseits einen fruchtbaren Ansatz für die verhandelten Autoren bildet und somit einen Beitrag zu deren Erforschung leistet. Andererseits steht die Analyse dezidiert im Dialog mit aktuellen Diskussionen, wie sie maßgeblich im Bereich der Erinnerungs-, Gedächtnis- und Holocaust-Literatur und -Forschung geführt werden. Mit der Lektüre jeweils eines ›Romans‹,8 Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, Sebalds Die Ringe des Saturn und Kertész’ Liquidation, greift die Arbeit demnach einen totgesagten Topos auf, um ihn im Kontext gegenwärtiger Diskussionen erneut ins Spiel zu bringen. Dies geschieht weniger in der Absicht nach der Erschöpfung der Postmoderne erneut die ästhetische Moderne nach unrealisierten Möglichkeiten zu befragen.9 Vielmehr geht es darum, mit der negativen Poetik eine vernachlässigte, sowohl poetologische als auch soziohistorische, Problemstellung zu analysieren, die es erlaubt, die Nachkriegsliteratur konkret auf ihre formalen und ideellen Einsätze hin zu befragen. Der Erzähler10 erweist sich diesbezüglich als erhellendes Dispositiv, an dem sich zeithistorische Signaturen ablesen lassen. Zugleich bildet er aber jene Instanz im narrativen Gefüge, die präzise Auskunft
nicht dazu taugt, Langzeitphänomene zu beschreiben. Dietrich Scheunemann: Romankrise, Heidelberg 1978, S. 15ff. 7 Uwe Japp argumentiert, dass (Sinn-)Krisen in der Kunst (anders als in der Politik oder Ökonomie) eine stabilisierende Funktion zukommt. Die Krise ist kein »Störfaktor«, sondern sie fließt produktiv in die Konstruktion und Ordnung von Werken ein. Uwe Japp: Beziehungssinn. Ein Konzept der Literaturgeschichte, Frankfurt a.M. 1980, S. 161ff. 8 Der Roman als Gattungsbegriff wird von Bernhard und Sebald abgelehnt. 9 Diesen Ansatz verfolgt Günter Seubold: Kreative Zerstörung. Theodor W. Adornos musikphilosophisches Vermächtnis, Bonn 2003, S. 13: »Daher muss dorthin zurückgegangen werden, von wo aus die Postmoderne ihren Anfang nahm: von der Erschöpfungsstimmung, vom Endediskurs.« 10 Ich trage der geschlechterspezifischen Differenz des Erzählers aufgrund der diskutierten Protagonisten keine Rechnung. Die weibliche Form ist jedoch stets mitimpliziert. Gleiches gilt für die Figur des Zeugen in Kap. 1.
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über die ästhetischen Prämissen und Programmatik der einzelnen Autoren und deren Schreiben gibt. Lautet die Hypothese gegenüber den meist ideologischen und normativ geführten Debatten der 60er und 80er Jahre um den Tod von Roman und Erzähler, dass sie theoretisch kaum differenziert wurden, so holt die Arbeit dies nach. Ausgehend von der krisenbesetzten Position des Erzählers wird ein diskursives Feld erarbeitet, das eine alternative Perspektive zu Fragestellungen bietet, die in der gängigen Forschung zur Erinnerungs- und Holocaustliteratur diskutiert werden. Dominierten in der Holocaust-Forschung lange Zeit Repräsentationsfragen, die zum einen in ästhetischer Hinsicht referieren, ob und wie eine Darstellung von Auschwitz möglich ist, und die zum anderen in ethischer Perspektive diskutieren, ob und wie sie geleistet werden soll, so hat im Zuge des Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses zunehmend die Figur des Zeugen und damit der Problemkomplex der Adressierung und Anerkennung traumatischer Erfahrungen an Aufmerksamkeit gewonnen. Im Gegenzug zu diesen beiden Schwerpunkten geht es hier um die erkenntnistheoretische und kulturkritische Struktur und Leistung von Erzählungen im Anschluss an die traumatische europäische Geschichte. Die Erzählung wird als epistemologische Organisationsform daraufhin befragt, wie und zu welchem Ende eine Anknüpfung an diese Gewaltgeschichte vollzogen werden kann, die diese Fortschreibung reflektiert und sie kritisch oder negativ bewertet. Mit der negativen Poetik ist zudem das Moment benannt, das zum Vergleich der Autoren dient. Gemeinsam ist den Autoren, dass sie die Erzählung in der Überzeugung fortschreiben, dass die Literatur ihre identitäts- und kulturstiftende Funktion weitgehend eingebüßt hat. Findet der Entwurf einer negativen Poetik hier seine wesentliche Begründung, so schlägt er sich paradigmatisch im Legitimationsverlust klassischer Erzählpositionen nieder. Die Fort-Schreibung vollzieht sich in dieser Situation in einem doppelten Sinn: Zum einen zielt sie auf die Negation grundsätzlicher Konventionen und Kategorien der Erzählung. Zum anderen benennt sie aber auch den Moment der Fortsetzung gerade dort, wo unterschiedliche Traditionen und Kontinuitäten in Zweifel gezogen werden. In Ich – ein anderer zieht Kertész diesbezüglich jedoch vorab eine ernüchternde Bilanz: »Noch holt sich die Literatur ihre letzte Inspiration aus dem unwahrscheinlich rasanten Verfall menschlichen Niveaus; doch bald schon wird dieser unaufhaltbare Verfall jede Inspiration zunichte machen – außer der des Untergangs.
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Schon jetzt: Wer spricht denn von Literatur? Die letzten Zuckungen festhalten, das ist alles.« (IEA 81)
Schrumpft aber der Spielraum zwischen der Fortschreibung der Literatur als Negation einerseits und als produktivem Moment andererseits mit diesem Urteil auf ein Minimum zusammen, so gilt es umso mehr, sowohl die Begründungszusammenhänge als auch die literarischen Umsetzungen der Nachkriegsliteratur im Spiegel der Geschichte zu analysieren. Bei Kertész ist der Verlust der sinn- und kulturstiftenden Funktion in ein Verfallsnarrativ eingebettet, das seinen Kulminationspunkt in Auschwitz findet. Die Erzählung als Fortschreibung der Geschichte hängt nun von der Möglichkeit ab, Auschwitz in kulturellem und ethischem Sinn als wertstiftendes Ereignis zu deuten – ein Bewusstsein, das gemäß dem Autor noch aussteht: »Mir ist der Holocaust nie im Imperfekt erschienen.« (ES 13) Was mit diesem Fokus einerseits als traumatisches Verharren in einer als zerstörerisch erfahrenen Geschichte erscheint, muss andererseits als der Versuch einer »reflexive[n] Vergegenwärtigung des eigenen Standorts aus dem Horizont der Geschichte im ganzen«11 verstanden werden – auch wenn die Erzähler genau an diesem reflexiven Nachvollzug scheitern. Während die Autoren Kertész und Sebald bei aller Skepsis dennoch nach allgemeinen Geschichtskonzeptionen suchen, die erneut narrative und sinnstiftende Vermittlungen ermöglichen sollen, verzichtet Bernhard auf eine Rehabilitation der Kategorien von Geschichte, Erzählung oder Subjekt. Bernhard erweist sich von Anfang an als Garant einer auf keine positive Gegen-Setzung mehr zu vermittelnden Negativität. Damit bildet Bernhard in mindestens zweifacher Hinsicht das Scharnier zwischen Sebald und Kertész. Die beiden letztgenannten Autoren führen zum einen den zentralen Stellenwert Bernhards für ihr Werk wiederholt an. Sie schreiben demnach in einem signifikanten Sinn nach Bernhard. Zum anderen steht der Österreicher in der Anordnung für ein Nullsummenspiel des Schreibens ein, das den literarischen actus tradenti konsequent negiert. Bernhard bildet somit eine Projektionsfigur, die von keinem der beiden Autoren überschritten wird. Damit ergibt sich folgende Konstellation:
11 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1983, S. 14.
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Der Elimination einer sinn- und identitätsstiftenden Funktion der Erzählung bei Bernhard, stehen mit Sebald und Kertész zwei polare Ansätze gegenüber, die in der »Schutzhülle der Negation« (Adorno) auf ein anderes, erzählbares Ende der Geschichte hin spekulieren. Wo das Subjekt sich nicht länger »im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens«12 eingebettet weiß und die ererbte Geschichte und Tradition einen überwältigenden Gewaltzusammenhang darstellt, versucht Sebald in Die Ringe des Saturn ein kosmisches Gefüge zu restituieren. In diesem Entwurf stellt die Natur die Bedingung der Möglichkeit einer Fortschreibung von Literatur und Geschichte dar. Das empirische, wissende Subjekt bildet innerhalb Sebalds Modell einer Naturgeschichte als subjectum – also als ein unter die Natur unterworfenes – nur noch eine marginale Größe. Anders als Sebald, der mit der Naturgeschichte als semantischem Integrationspunkt der Erzählung eine ›objektive‹ Geschichtsschreibung anstrebt, insistiert Kertész mit dem Individuum als Träger geschichtlichen Sinns auf bewusstseinsphilosophischen Prämissen. In Liquidation wird das Subjekt als Kategorie narrativer Sinnstiftung zwar negiert, das positive Gegenbild zur Negation stellt für Kertész aber nach wie vor das Individuum dar, das sich in existenzialistischer Manier als Schöpfer identitäts- und geschichtsstiftenden Sinns erweisen muss. Mit Bernhards radikaler Negation konzipiert der Vergleich ausgehend vom Krisenbewusstsein des Erzählers derart drei Argumentationsstränge einer negativen Poetik, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Verlaufsformen ebenso kritisch wie konstruktiv miteinander in Beziehung gebracht werden können. Sind soweit die Parameter und Argumentationslinien des Buches skizziert, die nicht nur auf Affinitäten, sondern auf substanziellen Korrespondenzen zwischen den Autoren basieren, so bedarf es trotz allem einer weiteren Erklärung, um den Vergleich zu begründen. Denn nach wie vor werfen der unterschiedliche geschichtliche Erfahrungsgehalt und nationale Erinnerungsraum, der das Schreiben der Autoren informiert, Fragen nach der Autorentrias auf. Zwar ist die Forschung der Holocaust-Literatur von jeher interdisziplinär. Der Transnationalität ist – zumindest einem Desiderat von Sven Kramer zu Folge13 – in der Ho-
12 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Gesammelte Werke Bd. 2, Tübingen 1993, S. 281. 13 Vgl. Sven Kramer: »Zur transnationalen Dimension fremdsprachiger Holocaust-Literatur im bundesrepublikanischen Diskurs«, in: N. Otto Eke/H.
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locaust-Forschung bisher jedoch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Dabei geht es im transnationalen Vergleich nicht nur um die Frage, ob und wie jüdische und nicht-jüdische Autoren bzw. Opferkategorien vermischt werden.14 Neben dem sozialpolitischen Kontext ist zudem der spezifische nationale Erinnerungsdiskurs von Bedeutung. Thomas Bernhard, geboren 1931, schreibt als Österreicher. Zwar macht Bernhard in seinen autobiografischen Schriften eine Negativerfahrung mit dem Nationalsozialismus geltend. Bernhard reagiert aber maßgeblich auf die zeitgenössischen, soziopolitischen Debatten der Zweiten Republik in Österreich. Die jüdischen Schicksale, die Bernhard wiederholt thematisiert, wurden – nicht zuletzt von Kertész – häufig kritisch kommentiert.15 W.G. Sebald, geboren 1944, schreibt als Deutscher und Autor der zweiten Generation, der früh nach England emigriert. Deutschland und die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bleiben für Sebald sowohl aus deutscher als auch aus europäischer Perspektive zentral. Dabei interessiert sich Sebald gleichermaßen für deutsche wie jüdische Traumata. 16 Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest, schreibt schließlich als Jude und Auschwitz-Überlebender. Er ist nicht nur Betroffener und Zeuge; seine Auseinandersetzung vollzieht sich zudem inmitten des kommunistischen Ungarn, eine Erfahrung, die Kertész wiederholt auch für sein Verständnis des nazistischen Terrors geltend macht. Wie lassen sich die Arbeiten der Autoren ausgehend vom jeweiligen Entstehungskontext der Literatur also miteinander in Beziehung setzen? Bildet das Krisenbewusstsein des Erzählers den Einsatzpunkt und referiert zugleich grundsätzliche – letztlich der ästhetischen Moderne
Steinecke (Hg.), Shoah in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2006, S. 154-168, S. 154. 14 Vgl. ebd., S. 155. Vgl. ferner Stephan Braese/Holger Gehle/Hanno Loewy (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 10ff. 15 Vgl. Irene Heidelberger-Leonard: »Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller«, in: dies./H. Höller (Hg.), Antiautobiografie. Thomas Bernhards Auslöschung, Frankfurt a.M. 1995, S. 181-196, S. 181. Höller und Part zitieren Kertész’ Äußerung, dass die »Auseinandersetzung mit Bernhards Thematisierung jüdischer Existenz im deutschsprachigen Raum erst am Beginn« steht. Vgl. Hans Höller/Matthias Part: »›Auslöschung‹ als Antiautobiografie. Perspektiven der Forschung«, ebd., S. 97-115, S. 109. 16 Die deutsch-jüdischen Beziehungen, insbesondere in Die Ausgewanderten und in Austerlitz, sind allerdings nicht Thema der Arbeit.
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verpflichtete – Prämissen, die im Hinblick auf die Pathologien der Moderne nochmals über ihre eigenen Konstitutionsbedingungen Bilanz ziehen, so ist damit zugleich das tertium comparationis benannt, das den unterschiedlichen Erfahrungsgehalt der Texte und Autoren vermittelt. Auf der Kehrseite geht die Arbeit hingegen davon aus, dass dem spezifischen, mitunter unvereinbaren Erfahrungsgehalt der einzelnen Autoren Rechnung getragen werden muss. Wenn man jedoch nach dem Erfahrungsgehalt fragt, der jeweils verhandelt wird, dann gewinnt die partikulare Erfahrung erst in Vermittlung eines allgemeinen Erfahrungsbegriffs an Gültigkeit und Relevanz. Die Hypothese lautet demnach, dass die Erzählung als Medium, das die individuelle Erfahrung paradigmatisch in Auseinandersetzung mit einem allgemeinen Erfahrungsbegriff abzugleichen sucht, erst mit der Objektivierung individueller Erfahrung gelingt. Für Kertész steht und fällt mit Auschwitz genau diese Möglichkeit, die Erfahrung der geschichtlichen, traumatischen Ereignisse auf einen allgemeinen Begriff zu bringen: »Dieses Nicht-Aufgearbeitete, ja, oft Nicht-Aufarbeitbare von Erfahrungen: Ich glaube, das ist die für dieses Jahrhundert charakteristische und neue Erfahrung.« (ES 111, Herv. i.O.) Wo Auschwitz als Ereignis keinen Erfahrungsbegriff mehr abwirft bzw. die individuelle Erfahrung sich nicht länger produktiv in Beziehung zu einem allgemeinen Erfahrungsbegriff setzen lässt – was hier so viel wie in Relation zu einem gemeinschaftlichen ethischen und politischen Konsens heißt – ist mit der scheiternden Vermittlungsleistung zugleich die Kompetenz und die Funktion des Erzählers nachhaltig erschüttert. Steht mit diesem Dilemma das Gelingen der Erzählung zur Disposition, so gewinnt nun die allgemeine Problematik, ob und wie es möglich ist, überhaupt einen narrativen Erfahrungsbegriff zu konstruieren, gegenüber der Frage nach dem spezifischen Gehalt der jeweiligen Erfahrung an Gewicht. Der komparative Ansatz zielt mit der Frage nach der Leistung und Struktur von Erzählungen nach Auschwitz genau auf diesen letztlich erkenntnistheoretischen Komplex, der die Vermittlungsleistung der Erzählung zugleich fokussiert und problematisiert. Das Schreiben wendet sich in dieser Situation auf sich selbst zurück, um die eigenen Konstitutionsbedingungen nachzubuchstabieren. Der reflexive Nachvollzug der literarischen Prämissen vollzieht sich zwar stets innerhalb des spezifischen soziohistorischen Kontexts. Ausgehend von der Krisendiagnostik narrativer Vermittlungsleistungen, die
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alle drei Autoren auf verschiedene Art und Weise geltend machen, bildet der unterschiedliche Erfahrungsgehalt nun aber gerade die Bedingung dafür, die Problematik einer Literatur nach ’45 überhaupt auf die These einer allgemeinen ›Krise‹ von Erzähler und Erzählung zu konzentrieren. Prägnant formuliert lautet die These demnach, dass der Vergleich erst aufgrund der spezifischen Differenzen der Autoren kritisch an Tragweite gewinnt. Gegenüber der ursprünglichen Idee, die negative Poetik ausgehend von Adornos Ästhetischer Theorie zu entwickeln, findet sich dieser Komplex nun im Schlusskapitel. Es geht mir nun weniger darum, die Autoren nach der Vorlage Adornos zu lesen. Vielmehr steht die Analyse im Vordergrund, wie die Autoren Erzähler und Erzählung theoretisch reflektieren und dies jeweils konkret umsetzten. In gewissem Sinn folgt die Arbeit auch mit dieser Vorgehensweise der Ästhetischen Theorie: »Ästhetische Normen, wie groß auch ihre geschichtliche Stringenz sein mag, bleiben hinter dem konkreten Leben der Kunstwerke zurück.« (ÄT 62) Von besonderem Interesse sind dabei die aporetischen Konstellationen des Erzählers, die den Ort des Schreibens jeweils ausweisen. Wie die Zusammenführung im Schlusskapitel zeigt, bildet Adornos negative Ästhetik hierfür eine äußerst aufschlussreiche Matrix, um unterschiedliche ›Fallhöhen‹ des Schreibens zu verzeichnen und gegenüber zu stellen. Zum Einstieg liefert Adorno zunächst aber ein Bild, das die Aporie des Erzählers beschreibt, der eine Fortschreibung der Geschichte in einer Situation zu leisten sucht, die traditionelle Setzungen, wie die von Erzähler und Roman sowie von Subjekt und Geschichte, nicht mehr ohne Weiteres zulässt. Mit Adorno gesprochen gleicht die paradoxe Situation des Erzählers »the position of Münchhausen, who tried to drag himself out of the swamp by his own pigtail«.17 Dieser paradoxen Konstellation geht die Arbeit nach, um anhand der Figur des Erzählers sämtliche Setzungsakte als paradigmatische Problematik einer Literatur nach 1945 auszuweisen.
17 Theodor W. Adorno: »Husserl and the Problem of Idealism«, in: ders., Vermischte Schriften I. GS (= Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann) Bd. 20.1, Frankfurt a.M. 1986, S. 119-134, S. 126.
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K APITELÜBERSICHT KAPITEL 1 – »Krisendiskurse nach 1945: Erzähler und Zeuge« – dient der Kontextualisierung. Das Kapitel referiert zunächst den Zeugenschaftsdiskurs als Paradigma der Holocaust-Literatur, wie er seit den 90er Jahren an Konjunktur gewinnt. Typisch für diesen Diskurs ist, dass Zeuge und Erzähler gleichgesetzt werden. Das Signum von »unserer Epoche als der Epoche des Zeugen«18 ist der Auftritt des Erzählers als Zeuge. Gegenüber diesem Ansatz plädiert dieses Buch für eine Differenzierung von Erzähler und Zeuge. Die Hypothese lautet, dass der Zeugenschaftsdiskurs unter dem Primat der Adressierung und Anerkennung wesentliche Fragen nach der spezifischen Struktur und eistung von Erzählungen vernachlässigt. Fragt man nach den formalen Beschaffenheiten und Bedingungen von Erzählungen, so scheint die Erzähltheorie, wie sie sich seit den 60er Jahren formiert, eine Antwort zu liefern. Der Nachweis in Kapitel 1 lautet hingegen, dass hier jene strukturellen und epistemologischen Brüche ausgeblendet werden, die klassische Erzählpositionen im Zuge eines Krisendiskurses, wie er seit Beginn des 20. Jahrhunderts virulent ist, erfahren. In einem letzten chronologischen Rückschritt referiert das Kapitel daher jene bereits zitierten End-Formeln. Aber auch hier stellt sich – maßgeblich in Referenz auf Benjamin und Adorno – heraus, dass die Diskussionen nicht die theoretische Differenzierung erreichen, um produktiven Aufschluss über die dilemmatischen Strukturen und Funktionen von Erzählungen in ihrer Varianz zu erhalten. Trotz allem ist mit den Nachkriegsdebatten ein Problembewusstsein artikuliert, dass das Dispositiv für die drei hier verhandelten Autoren liefert. Ihre Differenzierung erhält die Diskussion jedoch erst im nächsten Kapitel. KAPITEL 2 – »Negationen des Erzählers« – führt im Anschluss an die geschilderte Problemlage sowohl ins Werk der Autoren ein, als auch zur Lektüre der jeweiligen Texte in Kapitel 3 hin. Ausgangspunkt ist zunächst die Diagnose vom Destruktionszusammenhang der Geschichte und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, die das Schreiben der Autoren maßgeblich prägt. Vor diesem Hintergrund geht es nun darum, die aporetischen Erzählkonstellationen zu analysieren, die jeweils aus der Vermittlung der destruktiven Geschichte resultieren.
18 Shoshona Felman/Dori Laub: Testimony. Crisis of Witnessing in Literature, Psychoanalysis and History, London u.a. 1992, S. 5f. u. 224.
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Die Prosa Bernhards wird diesbezüglich unter dem Problemkomplex der Erbschaftsfolgen diskutiert. Anhand einer Lektüre von Ungenach (1968) wird die Erbschaftsfrage als Zäsur erörtert, an der die Frage nach der narrativen Fortführung der (Familien-)Geschichte ausgetragen wird. Bernhard reagiert auf die dysfunktionalen Vermittlungs- und Tradierungsprozesse mit einem Einzug der Erzählinstanz. Diesem Einzug in Ungenach steht die Verdoppelung der Erzählinstanz in Auslöschung gegenüber. Im Kontrast beider Texte werden zwei narrative Strategien aufgezeigt, die beides Mal auf eine Suspension der Erzählinstanz zielen. Wie für Bernhard formuliert sich auch für Sebald die Situation innerhalb kollektiver, destruktiver Dynamiken zwiespältig. Die Frage, ob und wie es gelingt, im Medium der Literatur eine kritische Distanz zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung einzunehmen, die Sebald bereits in seinen frühen literaturwissenschaftlichen Arbeiten stellt, geht gleichfalls in seine Prosa ein. Gestaltet sich für den Autor der Zweiten Generation zunächst die Anknüpfung an eine Geschichte, die sich ebenso determinierend in die Gegenwart auswirkt wie sie sich dem empathischen Zugriff entzieht, als problematisch, so werden auch hier die narrativen Strategien erörtert, vermittels derer Sebald seinen Erzähler narrativ und perspektivisch lokalisiert. Sebald bedient sich unterschiedlicher Perspektivierungsstrategien, die den Erzähler auf halber Höhe, soweit das Argument in Kapitel 2, zwischen Beobachterposition und freiem Fall verorten. Schließlich reagiert auch Kertész auf die destruktiven Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Anders als Sebald, der eine Kritik der rationalistischen Moderne seit dem 18. Jahrhundert vornimmt, ragt für Kertész Auschwitz als Ereignis monolithisch im Mittelpunkt. Das Teilkapitel erörtert die These, inwiefern Auschwitz als definitive Zäsur zu werten ist und eine grundsätzliche Revision erfordert, wie der Mensch ethisch zu denken ist. Was zunächst in einem ethisch-philosophischen Kontext aufgearbeitet wird, gilt es anschließend auf die sprachlichen und narrativen Bedingungen, ob und wie Auschwitz zu erzählen ist, zu übertragen. Der Roman eines Schicksallosen zeigt, dass auch Kertész die Krise der Vermittlung geschichtlicher Erfahrung anhand der narrativen Perspektive erörtert und umsetzt, die den Erzähler letztlich in eine absolute Heimat- und Ortlosigkeit verbannt. KAPITEL 3 – »Fortschreibungen der Literatur« – bildet mit einem close reading von Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall, Sebalds Die
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Ringe des Saturn und Kertész’ Liquidation in vielerlei Hinsicht den wesentlichen Kern des Buches. Die Lektüre gilt insbesondere jenen Momenten, die die Dialektik der Fortschreibung von Geschichte und Literatur austragen. In Auslöschung verneint Bernhard diese Möglichkeit. Innerhalb einer (foto-)medialen Kommunikationssituation, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Diskurs bis hin zum Denken und Bewusstsein des Einzelnen determiniert, ist eine genuine sprachliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht mehr möglich. Wo die Narrativierung des Individuums das Subjekt nachhaltig »verstümmelt« (A 339), ergreift Murau die Flucht nach vorn. Im Moment, als der plötzliche Unfalltod seiner Eltern Bernhards Protagonisten Murau unerwartet zum Alleinerben von Wolfsegg macht und ihn in die dynastischen und literarischen Kontinuitätsprozesse einer korrumpierten Tätergeneration einschreibt, nimmt er mit seiner Auslöschungsschrift einen finalen Akt der Negation vor. Nicht die narrative Vermittlung ist das Anliegen der »Antiautobiografie« (A 188), sondern sich möglichst schadlos der Einschreibung in die symbolische Ordnung der (Familien-)Genealogie zu entziehen. Die Ringe des Saturn sind zwar vielfach diskutiert worden, bisher wurden sie aber nicht in ihrer Gesamtkonzeption analysiert. Die Lektüre folgt der Seidenraupe als Trope, in der sich mit dem Schreiben, der Zivilisationskritik und der Trauer die drei zentralen Problemkomplexe des Textes verdichten. Erörtern Die Ringe allgemein die Leistung und Struktur der Erzählung innerhalb einer Geschichte der Zerstörung, so findet die Reflexion ihr Pendant in der Organisation des narrativen Gefüges, insbesondere in der Frage nach Satzverkettungen. Mit dem Verlust der Natur als sinnfälligem Kommunikationsverhältnis zwischen Natur und Subjekt, benennt Sebald den Ort, der über das Gelingen und Scheitern einer Fortschreibung von Geschichte und Literatur entscheidet. Sebald versucht das Schreiben in dieser Situation mit der Referenz auf die Natur bzw. den Kosmos an einen ›objektiven‹ Pol rückzubinden. Mit Liquidation analysiert dieses Kapitel schließlich einen Roman, der bisher weder in der deutschen noch in der ungarischen Forschung auf nähere Aufmerksamkeit gestoßen ist. Zwar erweist er sich in meiner Lektüre als einer der schwächeren des Autors. In seiner thesenartigen Struktur buchstabiert er jedoch präzise die Aporien der Fortschreibung der Geschichte und Erzählung nach Auschwitz aus, wie sie für Kertész allgemein geltend gemacht werden können. Mit dem Selbst-
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mord des Autors und Auschwitz-Überlebenden B. fällt der Roman zunächst eine düstere Diagnose über den Stand der Gesellschaft und Literatur nach Auschwitz. Zugleich dient die Selbstnegation jedoch dem Schutz des Individuums, die – anders als bei Bernhard – zugleich einen affirmativen Begriff des Subjekts zu bewahren sucht. Zwar erweist sich dieser Subjektbegriff in seiner existenzialistischen Färbung als problematisch. Von Interesse ist aber auch hier, dass die Kehrseite der negativen Geschichtsschreibung auf eine produktive Fortschreibung spekuliert, die am Roman und am Individuum als Träger geschichtlichen Sinns festhält. In KAPITEL 4 – »Fallhöhen des Schreibens« – werden die soweit erarbeiteten Argumentationslinien aufgegriffen, um sie schließlich mit Adornos negativer Ästhetik gegenzulesen. Adornos Begriff der Negativität macht in der Rekapitulation erneut die strukturelle Verwandtschaft der Positionen deutlich. Ausgehend von der Diagnose der Negativität als Urteil über die empirische Realität vollziehen die Autoren jedoch ähnlich wie Adorno eine »Negation der Negativität«, die gegen die fatalen zivilisatorischen Entwicklungen opponiert. Das Schreiben formuliert sich in dieser Situation als Kritik und Widerstand gegenüber der gesellschaftlichen Realität. Die Korrespondenzen reichen aber weiter. Wenn Adorno schreibt, »[k]ein Standort außerhalb des Getriebes lässt sich mehr beziehen«,19 so benennt er präzise den hier beschriebenen Legitimationsverlust des Erzählers. Die Schwierigkeit, die Erzählstimme thetisch zu setzen, korrespondiert mit der Skepsis, ob nach wie vor ein Ort zur Verfügung steht, der es ermöglicht, eine Aufklärung zu leisten, als Bedingung einer affirmativen Fortschreibung von Geschichte und Literatur. An diesem Punkt schlägt die Negation in Formen der Selbstnegation um. In dem Maß, wie die Negation sich nur über einen Begriff der Positivität definieren lässt, dient die Konfrontation mit Adorno aber nicht zuletzt dazu, die Fallhöhen des Schreibens auszuloten, die sich auf der Kehrseite der Negation jeweils eröffnen. Diese unterschiedlichen Fallhöhen des Schreibens lassen sich vermessen. Aber nicht nur das: Die Metaphorik der Höhe weist sinnfällig auf das Paradigma der problematischen Setzungsakte nach Auschwitz, sowohl den Erzähler als auch die Erzählung diskursiv zu gründen.
19 Theodor W. Adorno: »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft«, in: ders., GS Bd. 8, Frankfurt a.M. 1980, S. 354-370, S. 369.
1. Krisendiskurse nach 1945 – Erzähler und Zeuge Wie man es macht, macht man es falsch; zunächst ist das Bewusstsein 1
der Aporie herzustellen.
Das 20. Jahrhundert ist das Zeitalter des Zeugnisses: »If the Greeks invented tragedy, the Romans the epistle, and the Renaissance the sonnet, our generation invented a new literature, that of testimony.«2 Die erstmals von Elie Wiesel in den 70ern vorgebrachte These von »unserem Zeitalter« als einem Zeitalter des Zeugnisses, ist auf äußerst breite Resonanz gestoßen – nicht nur in den Literaturwissenschaften. Bereits der Titel von Shoshana Felmans und Dori Laubs einschlägiger Studie aus den 90er Jahren, in der sie Wiesels Diktum aufnehmen, indem sie vom Zeugnis als Paradigma des 20. Jahrhunderts sprechen,3 versammelt in Kürze entscheidende Topoi, die einen ersten Aufschluss über diesen Diskurs geben: Testimony. Crises of Witnessing in Liter-
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Theodor W. Adorno: »Vers une musique informelle«, in: ders., Musikalische Schriften I-III, GS Bd. 16, Frankfurt a.M. 1978, S. 493-540, S. 508. Elie Wiesel: »The Holocaust as Literary Inspiration«, in: ders. (Hg.), Dimensions of the Holocaust, Evanston 1977, S. 5-19, S. 9. Ferner sprechen Elm und Kößler »Vom Zeitalter der Zeugenschaft«, auch wenn dessen Ende absehbar sei. Vgl. Michael Elm/Gottfried Kößler: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt a.M. 2007, S. 7-17, S. 7. Vgl. zudem James E. Young: Beschreiben des Holocaust, Frankfurt a.M. 1992, S. 42, der gegen Wiesels Urteil einwendet, dass das Zeugnis als Gattung eine lange Tradition in der jüdischen Literatur aufweist. Vgl. Felman/Laub: Testimony, S. 224.
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ature, Psychoanalysis, and History. Die angekündigte disziplinäre Vielfalt ist ebenso ein Merkmal des Zeugen- und Holocaustdiskurses, wie die Diagnose, dass es sich um ein Krisenphänomen handelt – Literatur, Psychoanalyse und Geschichte werden im Buch ferner durch Pädagogik und Ethik und den Film als Medium ergänzt.4 Dabei gehen beide Momente, die Inter- bzw. Transdisziplinarität und die Krise, eine formale Liaison ein: Die disziplinäre Vielfalt ist ein Symptom und zugleich der Versuch, der Zeugenschaft als Krise beizukommen. Aber auch noch in jüngerer Zeit bleibt der Zeuge zentral für die Diskussionen, etwa bei Giorgio Agamben, wenn er den Zeugen als diejenige Figur identifiziert, anhand der »wir die entscheidende Lektion des 20. Jahrhunderts registrieren«.5 Weder bei Felman und Laub noch bei Agamben ist der Zeugenschaftsdiskurs in seiner Tragweite dabei auf den Holocaust beschränkt, nimmt hier aber seinen Ausgang und findet zugleich sein Exempel. Darüber hinaus hat der Zeugenschaftsdiskurs nicht nur in das akademische Bewusstsein Eingang gefunden, sondern bereits zuvor in die kulturelle Praxis mit Zeugen-Archiven wie dem »Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies« in Yale und dem von Steven Spielberg gegründeten »Archive der Shoah Foundation«. Claudia Blasberg spricht insofern treffend von der »Entwicklung des Holocaust- als eines Zeugen-Diskurses nach 1945«.6 Von Interesse ist für den folgenden Kontext jedoch insbesondere, dass der Zeuge zunehmend zum Maßstab für ein breites Spektrum an Literatur nach ’45 avancierte. »Nun ist die Exil- und Holocaustliteratur weitgehend Zeugenliteratur – wurde als solche geschrieben, wird als solche gelesen.«7 Dass das Paradigma der Zeugenschaft dabei keinesfalls auf die Literatur Überlebender eingeschränkt blieb – wie sie typischerweise die Tagebücher und Memoiren, dann aber auch die Romane Überlebender darstellen – deutet sich an, wenn beispielsweise Ruth Klüger Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch der Zeugenli-
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Zur Interdisziplinarität vgl. Young: Beschreiben des Holocaust, S. 13. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt? Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M. 2003, S. 9. Claudia Blasberg: »Zeugenschaft. Metamorphosen eines Diskurses und literarischen Dispositivs«, in: B. Beßlich/K. Grätz/O. Hildebrand (Hg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 21-33, S. 23. Ruth Klüger: »Zeugensprache: Koeppen und Andersch«, in: Braese (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 173-181, S. 173.
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teratur zuschlägt. Felman läutet die Literatur als Zeugnis ihrerseits mit Albert Camus’ Die Plage von 1947 ein, liest aber auch die akademischen Schriften Paul De Mans als Zeugenschaftsliteratur und legt damit nahe,8 dass das Zeugnis die Referenz literarischer Produktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlechthin bildet. Nicht zuletzt ist das Dispositiv der Zeugenschaft aber auch auf die Literatur der zweiten (und dritten) Generation übertragen worden und hat zu einer weiteren Pluralisierung von Erfahrungen und Perspektiven beigetragen, die unter dem Stichwort der Zeugenschaft diskutiert werden.9 Diese Fokussierung auf die Zeugen und das Zeugnis war hingegen keineswegs absehbar. Vielmehr stehen die Debatten in Deutschland um die Literatur nach ’45 anfangs im Zeichen der Krise, die mit der Rede vom »Tod der Literatur« die Leistung der Literatur an sich in Frage stellen. Das gilt sowohl für die 60er als auch für die 80er Jahre. Entsprechend leitet Bruno Hillebrand die »Romanpoetologie nach 1945« in seiner Theorie des Romans aus den 90er Jahren ein: »Die Situation des Romans nach dem Zweiten Weltkrieg ist gekennzeichnet durch das akute Krisenbewusstsein des Erzählers.«10 Zwar antworten sowohl der Zeugen- als auch der Krisendiskurs des Erzählers auf analoge Probleme. Beide sehen sich mit einer problematischen Vermittlung historischer Erkenntnis und Erfahrung konfrontiert. Sowohl der Erzähler als auch der Zeuge – so die hier vertretene Hypothese – verhandeln dieses Dilemma der Vermittlung jedoch unter verschiedenen
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Dominick LaCapra kritisiert Felmans De Man-Lektüre; allerdings nicht als Zeugnis per se, sondern weil dieses Zeugnis im Schweigen nichts über De Mans profaschistische Schriften aussagt und die Vergangenheit somit sanktioniert. Vgl. Dominick LaCapra: Representing the Holocaust, History, Theory, Trauma, Ithaca u.a. 1994, S. 116 f. 9 Das Stichwort liefert Geoffrey Hartman mit dem »sekundären« bzw. dem »intellektuellen Zeugen«. Vgl. Geoffrey H. Hartman: The Longest Shadow. In the Aftermath of the Holocaust, Bloomington u.a. 1996; Geoffrey H. Hartman: »Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah«, in: U. Baer (Hg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a.M. 2000, S. 35-52. Zur Literatur der zweiten Generation vgl. u.a. Efraim Sicher (Hg.): Breaking Crystal. Writing and Memory after Auschwitz, Urbana u.a. 1998. Der Band versammelt eine Vielzahl von Beiträgen aus der Literaturwissenschaft, Geschichte und Psychoanalyse. Vgl. ferner Efraim Sicher: The Holocaust Novel, New York u.a. 2005, S. 133174; Erin McGlothlin: Second-Generation Holocaust Literature. Legacies of Survival and Perpetration, Rochester 2006. 10 Hillebrand: Die Theorie des Romans, S. 374.
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Prämissen, die ausgehend von verschiedenen Fragestellungen auf ein anderes Ende hin zielen. Im Folgenden gilt es demnach, den Erzähler von der Figur des Zeugen zu differenzieren und zwar vor allem in Hinblick auf den Begriff und die Verwendung der Erzählung (als Textganzem) sowie der Narration (als Akt des Erzählens). Das Argument, das entwickelt wird, lautet, dass die Erzählung bzw. Narration für den Zeugen unter dem Primat der Adressierung und Anerkennung lediglich ein sekundäres Mittel darstellt, das instrumental im Dienst des Zeugnisses (als performativem Sprechakt) steht. Für den Erzähler bildet die Erzählung hingegen das Medium selbst, das auf seine eigenen Prämissen und Strukturen hin befragt wird. Polemisch gewendet lautet die These, dass die Konjunktur des Zeugen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Kosten des Erzählers ging. Demgegenüber gilt es, die Zeugenschaft als Paradigma einer Literatur in seiner oftmals pauschalen Verwendung sowie die Kurzschließung von Zeuge und Erzähler kritisch zu erörtern. Ohne die Bedeutung von Zeuge und Zeugnis an sich in Frage zu stellen, zielen die folgenden Einwände darauf, in Abgrenzung zum Zeugen (erneut) die Aufmerksamkeit auf die Figur des Erzählers zu lenken. Mit dem Erzähler soll damit eine theoretische Figur analysiert werden, die eine alternative Perspektive auf die narrative Vermittlung von Erfahrung und Geschichte erlaubt, die gezielt die formalen und poetologischen Einsätze und Problematiken der literarischen Erzählung im Anschluss an die traumatische europäische Geschichte verhandelt. Die Rekapitulation von der Krise der Zeugenschaft (1.1), von der Rolle des Erzählers im Diskurs der Narratologie (1.2) und schließlich von den Debatten um den Tod der Literatur ausgehend von der Krise des Erzählers (1.3), die in der Bundesrepublik in den 60er Jahren einsetzt, dient somit dem Anliegen, den Erzähler als Reflexionsfigur zu rehabilitieren. Ziel ist es, ein diskursives Feld zum Verständnis einer Nachkriegsliteratur zu erschließen, wie es im Anschluss daran exemplarisch anhand der Autoren Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész entfaltet wird. Als Einstieg in die Diskussion bietet sich zunächst jedoch die Thematik der Zeugenschaft als produktive Folie an, um den Erzähler im Horizont aktueller Debatten einzuführen.
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Elie Wiesels eingangs zitierte Formulierung wirft erstmals die Frage auf, inwiefern das Zeugnis eine neue, eigenständige literarische Gattung darstellt. Was mit dem Zeugnis zur Disposition steht, gilt gleichermaßen auch für den Zeugen: Es geht nicht nur um die historische und ethische Bedeutung, die dem Zeugen im Anschluss an den Holocaust zugesprochen wird, sondern auch darum, ob er nach Auschwitz neu gedacht werden muss. In diesem Zusammenhang differenziert Aleida Assmann vier (Ideal-)Typen: den juridischen, historischen, religiösen und den moralischen Zeugen.11 Verweisen die ersten drei auf historische Formen, so stellt der moralische Zeuge – eine Terminologie, die Avishai Margalit prägt12 – einen neuen Typus dar, wie er sich spezifisch ›nach Auschwitz‹ abzeichnet. Das qualitativ neue Moment dieses moralischen Zeugen im 20. Jahrhundert besteht darin, dass er sich auf keinen historischen Typus und damit auf einen bestimmten Diskurs – den des Rechts, der Geschichtswissenschaft oder der Religion – reduzieren lässt, sondern alle Typen und folglich diverse Diskurse traversiert bzw. in sich vereinigt. Als historischer Zeuge einer Katastrophe kündigt er oder sie »vom Bösen schlechthin [...], das sie in Form einer organisierten verbrecherischen Gewalt unmittelbar am eigenen Leib erfahren haben«.13 Damit tritt der moralische Zeuge zugleich als Bote und Opfer auf – verletzt also die Authentizität des historischen, aber ebenso die Parteilosigkeit des juridischen Zeugen. Der moralische Zeuge überbringt aber ferner eine negative Offenbarung, die von etwas zeugt, das nur schwer bezeugt werden kann und sich der Mitteilung entzieht: »Normalerweise legt der Zeuge im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit Zeugnis ab«, schreibt Agamben, »und aus ihnen erwächst seinem Wort Dichte und Fülle. Doch hier beruht die Gültigkeit des Zeugnisses wesentlich auf dem, was ihm fehlt; in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann, ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt.«14 Sind die Zeugen Träger und Mittler einer Wahrheit, die in
11 Vgl. Aleida Assmann: »Vier Grundtypen der Zeugenschaft«, in: Elm u.a. (Hg.), Zeugenschaft des Holocaust, S. 33-51. 12 Vgl. Avishai Margalit: The Ethics of Memory, Cambridge, Mass. 2002, S. 147-182. 13 Assmann: »Vier Grundtypen der Zeugenschaft«, S. 42. 14 Agamben: Was von Auschwitz bleibt?, S. 30.
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entscheidender Hinsicht nicht legitimiert werden kann, so antwortet der Zeugendiskurs im Anschluss an den Holocaust auf eine veritable Krise.15 Aporetisch formuliert sich diese Krise mit der Zuspitzung der These von Auschwitz als »Ereignis ohne Zeugen«.16 Felman und Laub bestimmen die paradoxale Situation vermittels einer Dialektik von Innen und Außen: »Es ist nicht wirklich möglich, von außen her die Wahrheit zu sagen, Zeugnis abzulegen. Aber es ist [...] ebenso wenig möglich, von innen her Zeugnis abzulegen.«17 Von Innen scheitert das Zeugnis laut Agamben, weil »es [...] nicht möglich [ist], aus dem Inneren des Todes Zeugnis abzulegen, es gibt keine Stimme für das Verschwinden der Stimme«.18 »Als Toter aber kann man nicht bezeugen, dass man in einer Gaskammer umgekommen ist«,19 notiert Lyotard lakonisch. Hingegen ist der Außenstehende, »der outsider [...] per definitionem vom Ereignis ausgeschlossen«.20 Das akademische Interesse und die Irritation in Reaktion auf den Zeugenschaftsdiskurs resultieren sicherlich auch aus dieser paradoxalen Verfassung, die mit der strukturellen Leerstelle des Zeugnisses gegeben ist. Unabhängig von der Frage nach den ›wahren‹ Zeugen formuliert sich die Krise an dieser Stelle als ein Problem der Vermittlung. In dem Maß, wie sich das Zeugnis dem Zugriff entzieht, ist aber nicht nur zu erörtern, wie und ob die Zeugenaussagen trotz allem eingeholt werden können, sondern zugleich ist auch der Gehalt der Botschaft in Frage gestellt. Agamben geht in dieser Hinsicht von einer grundsätzlich aporetischen Konfiguration des Zeugenschaftsdiskurses aus. Die Aporie von Zeuge und Zeugnis schlägt sich in einem Autoritätsverlust nieder: »Die Aporie von Auschwitz ist die Aporie historischer Erkenntnis selbst: die Nicht-Koinzidenz von Fakten und Wahrheit, von Konstatieren und Verstehen.«21 Während sich die Diskrepanz für Agamben als erkenntnistheoretische Aporie nicht auflösen lässt
15 Vgl. Baer (Hg.): »Niemand zeugt für den Zeugen«, S. 12. 16 Vgl. Maurice Blanchot: Après coup, précédé par: Le ressassment éternel, Paris 1983, S. 98. Diese These findet sich u.a. bei Felman, Laub, Derrida, Lyotard und Agamben. 17 Felman/Laub: Testimony, S. 232 (Herv. P.S.). 18 Agamben: Was von Auschwitz bleibt?, S. 31 (Herv. i.O.). 19 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München 1989, S. 18. 20 Agamben: Was von Auschwitz bleibt?, S. 31 (Herv. i.O.). 21 Ebd., S. 8.
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und gerade deshalb zum Signum der Krise wird, suchen Kritiker wie Felman und Laub nach Wegen und Mitteln einer Schließung, die mit der Anerkennung der Zeugen zugleich die Krise historischer Erkenntnis überwindet. Zur Erläuterung des Begriffs der »historischen Wahrheit« dient Laub hier eine Überlebende, die ihr Zeugnis für das Video-Archiv in Yale ablegte, das der Analytiker später bei einer Konferenz mit Historikern, Psychoanalytikern und Künstlern präsentiert. Die Überlebende berichtet u.a. von dem Aufstand des Sonderkommandos im Oktober 1944 in Auschwitz, bei dem der Schornstein eines Krematoriums nach einer Sprengung in Flammen aufgeht; sie spricht dabei aber fälschlicherweise von vier Schornsteinen, anstatt von einem. Während die an der Konferenz anwesenden Historiker die historische Wahrheit mit dem Zeugnis diskreditiert sehen, dient die falsche Erinnerung dem Psychoanalytiker, der die Frau kennt und die analytischen Gespräche persönlich geführt hat, gerade als Beleg der Wahrheit: »She testified to the breakage of a framework. That was historical truth.«22 Weil der Aufstand im KZ das Unmögliche auf den Plan ruft, künden die Flammen vom Zusammenbruch des Lagers und damit von der Möglichkeit des Überlebens. Indem Laub von der »historischen Wahrheit« des Zeugnisses spricht, versucht er bewusst dessen subjektive Wahrheit gegen die empirische bzw. faktische Wahrheit der Historiker auszuspielen.23 Die Frau legt nicht nur Zeugnis von einer »historischen Wahrheit« ab, das »[t]he historians could not hear«, sondern ihrem Zeugnis kommt ein höherer Erkenntniswert zu: »[S]he knew more.« »She was testifiying not simply to empirical historical facts, but to the very secret of survival and of resistance to extermination.«24 So ersichtlich das Anliegen von Laub ist, so wenig verbirgt es, dass hier zwei Wahrheitsbegriffe gegeneinander gestellt werden, die gerade mit Laubs postuliertem Anspruch auf »historischer Wahrheit« kaum Konsens erzielen können. Die Differenz lässt sich aber auch nicht schlichten, indem man zwischen »historischer« bzw. ethischer
22 Felman/Laub: Testimony, S. 60 (Herv. P.S.). 23 Laub reagiert zugleich auf Lawrence Langer, der wie Laub Mitbegründer des Video-Archivs in Yale ist und in seinen Auswertungen zu dem Ergebnis kommt, dass man von den traumatisierten Zeugen und deren Zeugnis keine »historische Wahrheit« erwarten könne. Vgl. Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, London u.a. 1991, S. XIff. 24 Felman/Laub: Testimony, S. 62 u. 63.
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Wahrheit und empirischer Wahrheit unterscheidet. Nach wie vor stellt sich die Frage: Ist die historische Wahrheit das Faktum, dass der Aufstand – ohne die Hilfe der polnischen Widerstandsgruppe – von vornherein zum Scheitern verurteilt war, wie einige Historiker argumentieren, oder liegt die historische Wahrheit im Moment des Überlebens (der Zeugin), wie Laub argumentiert? Oder ist die historische Wahrheit (von Auschwitz) letztendlich allgemein das Gesetz der totalen Vernichtung, gemäß dem Diktum Primo Levis, dass der ›eigentliche‹ Zeuge in den Gaskammern umgekommen sei?25 Die Deutungen schließen sich in ihrem Wahrheitsanspruch auf Allgemeingültigkeit aus. Sie münden mit Lyotard gesprochen in einen Widerstreit, der keinen Konsens erlaubt, weil keine Metaposition zur Verfügung steht, die die unterschiedlichen Positionen zusammenführen oder schlichten könnte.26 Laubs Insistenz auf dem Begriff der Wahrheit, besonders als »historischer«, kehrt an dieser Stelle die strukturelle Problematik des Zeugnisses, auf die Agamben verweist, hervor, anstatt sie zu glätten.27 Wo die Vermittlung der historischen Wahrheit gefährdet ist, ist der Zeugenschaftsdiskurs kaum zufällig in einen dominanten ethischen Diskurs eingebettet. Sowohl der Adressierung von Zeuge und Zeugnis, als auch der Instanz der Adressaten, kommt demnach eine tragende Rolle und Bedeutung zu. Allgemein ist der Akt der Adressierung prekär, weil nur bedingt Instanzen zur Verfügung stehen, die das Zeugnis des moralischen Zeugen bestätigen können. Als Beweismittel versagt das Zeugnis im rechtlichen und historischen Diskurs in dem Maß, wie es die disziplinären und institutionellen Grenzen, wie eingangs angemerkt, überschreitet. Zugleich klagt es aber ein Gehör ein – als Klage
25 Vgl. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1993, S. 85f. 26 Vgl. Lyotard: Widerstreit, S. 27 u. 33f. 27 Vgl. in diesem Kontext auch Derrida, der argumentiert, dass das Zeugnis nicht als Beweisgrundlage dient. Jacques Derrida: »A Self-Unsealing Poetic Text. Poetics and Politics of Witnessing«, in: M. P. Clark (Hg.), The Revenge of the Aesthetic. The Place of Literature in Theory Today, Berkley 2000, S. 180-207, S. 184: »[B]earing witness is not proving. Bearing witness is heterogeneous to the administration of a legal proof or the display of an object produced in evidence.« Vgl. ferner Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991, S. 454, der auf die »›erzählerische Modellierung‹ (›em-plotment‹)« historischer Wahrheit hinweist, die stets fiktionale Elemente beinhaltet – und somit einem harten Wahrheitsbegriff entgegensteht.
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und Totenklage – das nicht in den Bereich der juridischen Anklage fällt.28 In Reaktion auf den Mangel zuständiger Instanzen ist u.a. der Begriff des sekundären Zeugen geprägt worden, um auf die Notwendigkeit zu verweisen, dass es einer moralischen Gemeinschaft bedarf, die dem moralischen Zeugen Gehör und Anerkennung verleiht. Vor allem dort, wo Zeuge und Zeugnis auseinandertreten (wie im geschilderten Fall der Frau des Sonderkommandos), weil die Zeugen nicht vollständig für ihr Zeugnis eintreten können, sind sie auf eine moralische Gemeinschaft angewiesen. Laub und Felman erklären die Adressaten unter diesen Bedingungen sogar zu aktiven, notwendigen Mitproduzenten des Zeugnisses.29 Die Krise der Zeugenschaft resultiert soweit aus einer paradoxalen Konstellation, die eine Lücke zwischen Zeuge und Zeugnis, Zeuge und Adressat und nicht zuletzt zwischen Geschichte bzw. Vergangenheit und Gegenwart schlägt. Zunächst scheint das Anliegen, diese Lücke zu schließen, evident. Gerade dieses Begehren ist jedoch trotz seiner guten Absichten von verschiedenen Seiten kritisch befragt worden. Zeugenschaftsdiskurse und Geschichtskonzeptionen Matthias Schöning argumentiert ausgehend von einer Analyse des Traumabegriffs bei Freud und Cathy Caruth, dass der Zeugenschaftsund Traumadiskurs in seinem Begehren nach narrativer Schließung dazu neigt, seine strukturellen Bedingungen auszublenden. Schöning äußert damit Vorbehalte gegen eine Instrumentalisierung von Traumatheorien und Zeugenschaftskonzepten, die dazu dienen, einer Krise allgemeiner, übergeordneter Geschichtskonzepte zu begegnen. Hatte schon Freud den Traumabegriff in Der Mann Moses und die monotheistische Religion Anfang der 30er Jahre als »Formel«30 konzipiert,
28 Vgl. Sigrid Weigel: »Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von ›identity politics‹, juristischem und historischem Diskurs«, in: R. Zill (Hg.), Zeugnis und Zeugenschaft, Berlin 1999, S. 111-135, S. 121f. 29 Häufig wird Laub zitiert: »The listener [...] is a party to the creation of knowledge de novo. The testimony to the trauma thus includes its hearer, who is, so to speak, the blank screen on which the event comes to be inscribed for the first time.« Felman/Laub: Testimony, S. 57. 30 Vgl. Sigmund Freud/Arnold Zweig: Briefwechsel, Frankfurt a.M. 1986, S. 102: »Ich hatte bald die Formel heraus. Moses hat den Juden geschaffen, und meine Arbeit bekam den Titel Der Mann Moses, ein historischer Ro-
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um eine theoretische Einheit der Geschichte in dem Moment, wo sie soziopolitisch in Frage gestellt ist, prospektiv zu gewährleisten, so zeigt sich hier, dass das Trauma weniger die »Struktur« einer Krise geläufiger Geschichtskonzepte beschreibt, als vielmehr die »Reaktion« auf eine solche.31 In dem Maß, wie die Traumatheorie eine Reaktion darstellt, verstellt sie aber den Blick auf die strukturellen Bedingungen der Krise. Das scheint vor allem dort zu geschehen, wo das therapeutische Anliegen, die Krise zu schlichten, Priorität gewinnt. So dient beispielsweise Caruth das Trauma als Mittel, um »in einem von Katastrophen gezeichneten Zeitalter [...] die Verbindung zwischen Kulturen herzustellen«32 und neigt demnach dazu, »gleich unsere ganze Geschichtskultur zu therapieren«.33 Diese Indienstnahme führt aber nicht nur zu einer Überforderung von Traumakonzepten,34 sondern verkennt »über dem ethischen Gebot, den Zeugen endlich zuzuhören, die strukturellen Bedingungen [...] auf die Trauma-Theorie und Zeugenschaftskonzepte möglicherweise antworten«.35 Die geschilderte Episode der Auschwitz-Überlebenden von Dori Laub dient auch in diesem Kontext als Beispiel. Ferner verweist Schöning aber darauf, dass dem Zeugnis der traumatischen Erfahrung und des Überlebens als Sprechakt die Möglichkeit des Scheiterns stets eingeschrieben bleibt: »Nichts garantiert ihm [dem Überlebenden, P.S.], dass es nicht beim bloßen Versuch bleibt und er für seine Geschichte ein Ende findet, das kein Abbruch ist, kein
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man.« Zit.n. Matthias Schöning, »Geschichte überschreiben, Geschichte überleben. Versprechen des Trauma-Begriffs bei Sigmund Freud und Cathy Caruth«, in: M. Hahn (Hg.), Theorie – Politik, Tübingen 2002, S. 133149, S. 138. Vgl. Schöning: »Geschichte überschreiben«, S. 134. Cathy Caruth: »Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen«, in: Baer (Hg.), »Niemand zeugt für den Zeugen«, S. 84-98, S. 98. Siehe ferner Frank R. Ankersmith: »Die postmoderne ›Privatisierung‹ der Vergangenheit«, in: H. Nagl-Docekal (Hg.), Der historische Sinn. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a.M. 1996, S. 201-234, S. 220: »[I]ch möchte [...] hervorheben, dass das Zeugnis die Barrieren zwischen uns und der vergangenen Realität aufhebt.« Schöning: »Geschichte überschreiben«, S. 149. Vgl. Zangl: Poetik des Holocaust, München 2009, S. 219: Mir »scheint es […] jedoch auch kühn, insbesondere von den Überlebenden radikaler Vernichtungspolitik, die schöpferische Kraft zu erwarten, um erschöpfte Narrative zu erneuern.« Vgl. hier ferner Kap.1, S. 31, Fußnote 23. Schöning: »Geschichte überschreiben«, S. 149.
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Rückfall ins Schweigen.«36 Geht Schönings Analyse von den formalen Bedingungen des Zeugnisses aus, so weist Geoffrey Hartman in diesem Kontext auf konkrete empirische Entwicklungen hin, die die prekäre Verfassung des Trauma- und Zeugenschaftsdiskurses betreffen. In Reaktion auf die zunehmende Verbreitung von traumatischen Ereignissen in den Massenmedien fragt Hartmann, »is our capacity for sympathy finite and soon exhausted?«37 Auch hier wird demnach ein Zweifel gegenüber der Reichweite des Zeugenschaftsdiskurses angemeldet, diesmal nicht in konzeptueller, sondern in empirisch-anthropologischer Hinsicht. Schließlich fragt auch Gertrud Koch, ähnlich wie Schöning, nach formalen Ausschlussmomenten, die mit dem Anliegen einer narrativen Schließung einiger Zeugen- und Traumakonzepte einhergehen. Koch verweist auf den Begriff des Überlebens, den u.a. Caruth in ihrer Revision von Freuds Traumatheorie stark macht. »I will argue in what follows«, schreibt Caruth, »that trauma is not simply an effect of destruction but also, fundamentally, an enigma of survival. It is only by recognizing traumatic experience as a paradoxical relation between destructiveness and survival that we can also recognize the legacy of incomprehensibility at the heart of catastrophic experience.«38 Caruth betont weniger den Schock, sondern erklärt das Überleben zur Bedingung des Traumas. Diese Privilegierung des Überlebens, die das Traumakonzept Caruths konstituiert, übergeht damit aber zwangsläufig das Moment der (totalen) Vernichtung, das zur prägenden Erfahrung des 20. Jahrhunderts gehört. Koch meldet daher Vorbehalte gegenüber Caruths Traumakonzeption an: »Wenn sich der Holocaust überleben läßt, dann behauptet sich das Leben immer wieder von neuem – der Optimismus entspringt dem Überleben des Holocaust.«39 Dass der Begriff des Überlebens in Bezug auf Auschwitz aber hoch ambivalent ist und sich kaum für moralische Lehren eignet, geht 36 Ebd., S. 149. 37 Hartman: The Longest Shadow, S. 152. Hartman führt diesen Aspekt in zahlreichen Aufsätzen an. 38 Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History, London 1996, S. 58. 39 Gertrud Koch: »Handlungsfolgen: Moralische Schlüsse aus narrativen Schließungen. Populäre Visualisierungen des Holocaust«, in: dies. (Hg.), Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung, Wien 1999, S. 295-313, S. 312. Vgl. ferner Berel Lang, der Vorbehalte gegen eine Schließung ausspricht. Berel Lang: Post-Holocaust. Interpretation, Misinterpretation, and the Claims of History, Bloomington u.a. 2005, S. 84.
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nicht zuletzt aus den Schriften von Elias Canetti, Jean Améry oder Imre Kertész hervor. Deutet Canetti das Überleben in seiner Beziehung zum Tod als »Augenblick der Macht«, der in einem »Gefühl des Triumphes«40 resultiert, so thematisieren Améry und Kertész konkret das Überleben des Opfers im politischen und kulturellen Fortlauf der Gesellschaft und Geschichte, dem – anders als den Tätern – keine Genugtuung zukommt.41 »Weil sich die Weltordnung auch nach Auschwitz nicht geändert hat« (DK 122), bedeutet das Überleben für die Opfer eine Demütigung. »Man hatte kein Recht, das Überstehen zu überstehen«,42 urteilt Lefeu, der Protagonist in Amérys gleichnamigen Roman. Wenn Martin Gilbert seine Holocaust-Studie diesbezüglich mit dem Fazit schließt, »[m]erely to give witness by one’s own testimony was, in the end, to contribute to a moral victory. Simply to survive was a victory of the human spirit«,43 so trifft dieses Urteil auf Autoren wie Améry oder Kertész explizit nicht zu. Zeugnis versus Erzählung Es gibt gute Gründe, warum der Literatur im Kontext des Zeugenschaftsdiskurses eine hohe Aufmerksamkeit zukommt – beispielsweise indem Autoren wie Elie Wiesel oder Primo Levi explizit schreiben, um Zeugnis abzulegen. Trotz allem ist die Beziehung zwischen Zeugnis und Literatur als erzählender nicht evident. Mehr noch: Das narrative Moment gehört dem Zeugnis formal nicht an. Zunächst macht Caruth im Kontext des Traumas darauf aufmerksam, dass Zeugnis (sowie Trauma) und Narration in keiner notwendigen Beziehung zueinander stehen. Ist das Trauma eine »Struktur der Erfahrung und Wahrnehmung«, die gerade noch keine narrative Form gefunden hat, so gilt das gleiche für das Zeugnis: »Um aber zum
40 Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980, S. 249. 41 Vgl. Jean Améry: »Ressentiments«, in: ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 102 129. 42 Jean Améry: Lefeu oder der Abbruch. Roman-Essay, Stuttgart 1974, S. 186. 43 Martin Gilbert: The Holocaust. The History of the Jews of Europe during the Second World War, New York 1985, S. 828. Vgl. ferner Langer: Holocaust Testimonies, S. 162ff.
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Zeugnis zu werden und zur Heilung zu gelangen, muss das Trauma in Erinnerungs- und Erzählstrukturen integriert werden.«44 Das Trauma und das Zeugnis gehen der Narration zeitlich und strukturell voraus. Ausgehend vom Trauma und Zeugnis kommt der Erzählung und Narration demnach nur sekundär bzw. in instrumenteller Funktion eine Bedeutung zu. »Das Zeugnis schreibt die Geschichte nicht selbst, sondern klagt ein Gehör ein.«45 Erzählung und Narration geben lediglich Mittel zur Hand, die mit dem Zeugnis im Dienst der Mitteilung und Klage stehen oder mit dem Trauma »eine Umwandlung [...] in narrative Erinnerung«46 ermöglichen. An sich geht es im Zeugnis jedoch um einen bloßen Sprechakt, unabhängig vom Inhalt und der Form der Mitteilung: »[D]as Bezeugen teilt nichts mit, es hat keinen mitteilbaren Inhalt, es bezeugt nicht etwas Bestimmtes, das in der Form eines Inhalts weitergegeben zu werden vermag, es erzählt keine Geschichte, keine Geschichtsschreibung vermag sich auf es zu stützen.«47 Die Erzählung ist dem Zeugnis somit rein äußerlich. Steht die Erzählung in der Zeugenschaftsliteratur im Dienst des Bezeugens, so kündigt sich hier bereits an, dass das Zeugnis nur unzulänglich über die Bedingungen und Strukturen narrativer Vermittlung Aufschluss gibt. Diese Hypothese erhärtet sich ferner, kehrt man in einem ersten Schritt zur Studie von Felman und Laub zurück. Die Lektüre zeigt, dass die Narration allenfalls eine Strategie unter anderen ist, die dem Zeugnis aber eindeutig nachgeordnet ist. In der Hierarchie der Gattungen rangiert das Zeugnis über der Erzählung: »To testify is thus not merely to narrate but to commit oneself.«48 Der Zeugenschaftsdiskurs, der nach der Beziehung »between art and witness«49 fragt, interessiert sich primär für andere Kategorien, die den Rahmen der Erzählung in entscheidender Hinsicht überschreiten. Ausgehend von der Hypothese, dass das Trauma, von dem die Überlebenden Zeugnis ablegen, sämtliche repräsentationsbedingte und institutionelle Register destabilisiert,
44 Cathy Caruth: »Trauma als historische Erfahrung«, S. 94. 45 Schöning: »Geschichte überschreiben«, S. 149. Vgl. ferner Young: Beschreiben des Holocaust, S. 44: »Aus dieser Sicht ist es weniger der Schreiber als vielmehr das Ereignis selbst, das den Text erzeugt [...] was letztlich heißt, im Akt des Erzählens erzeugte Bedeutung zu vernachlässigen.« 46 Caruth: »Trauma als historische Erfahrung«, S. 94. 47 García Düttmann: Uneins mit Aids, Frankfurt a.M. 1993, S. 102. 48 Felman/Laub: Testimony, S. 204 (Herv. P.S.). 49 Ebd., S. 205 (Herv. i.O.).
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machen Felman und Laub eingangs die Transdisziplinarität und, was die Repräsentation anbelangt, die Multimedialität zum Programm: »The various chapters cover a whole spectrum of concerns, issues, works and media of transmission, moving from the literary to the visual, from the artistic to the autobiographical, and from the psychoanalytical to the historical. In the end, what is maintained is the multilayered vision offered by all these perspectives.«50 – So der methodische Zugriff, der der destrukturierenden Bewegung des Traumas durch sämtliche Register zu folgen sucht. Nur der multiperspektivische Blick mehrerer Disziplinen und medialer Repräsentationsformen vermag einzufangen, was dem Zugriff anders entgeht. In dem Maß, wie die Repräsentation des Ereignisses mit den bestehenden Diskursformen (wie denen des Rechts, der Geschichte und der Literatur) und den traditionellen, ästhetischen Mitteln gefährdet ist, bedarf es jedoch weiterer Kompensationsstrategien. In dieser Hinsicht erhält die Performativität – die Felman in Auseinandersetzung mit Claude Landmanns Film Shoah einführt – essenzielle Bedeutung.51 »The uniqueness of the narrative performance of the testimony in effect proceeds from the witness’s irreplaceable performance of the act of seeing.«52 Mit der Performativität geht es – in der Differenz zur Repräsentation – nicht nur um eine Ausdrucksform, die unmittelbarer ist. Vielmehr impliziert die Performativität zugleich Singularität. Derart vermag die performative Reinszenierung in Shoah laut Felman das traumatische Ereignis mit der Stimme der Zeugen nochmals unmittelbar – d.h. prälinguistisch und pränarrativ – zu äußern, indem das Ungesagte eingeholt wird: »What makes the power of the testimony in the film and what constitutes in general the impact of the film is not the words but the equivocal, puzzling relation between words and voice, the interaction, that is, between words, voice, rhythm, melody, images, writing, and silence. Each testimony speaks to us be-
50 Ebd., S. XV. In diesem Sinn sind auch die eingefügten Fotografien und Portraits der Autoren von Camus oder de Man zu lesen, die keineswegs illustrativ sind, sondern (als Zeugnis oder Evidenz?) substanziell Aufschluss über die Autoren und deren Texte geben sollen. 51 Vgl. Zangl: Poetik nach dem Holocaust, S. 200: Seit den 90er Jahren gewinnen die Konzepte von »Performance, Performativität und Reenactment auch im Zusammenhang mit Fragen der Repräsentation des Holocaust zunehmend an Bedeutung«. 52 Felman/Laub: Testimony, S. 206.
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yond its words, beyond its melody, like the unique performance of a singing, and each song, in its repetitions, participates in the searching refrain and recapitulates the musical quest of the whole film.«53
Felman räumt dem Film respektive der Kunst die Möglichkeit einer gelungenen Vermittlung ein, weniger als Repräsentation, sondern als performative Präsentation. Die traumatische Lücke ist damit trotz allem noch nicht verwunden. Vielmehr bedarf auch die performative Vermittlung letztlich eines ethischen Gebots, das sowohl die Zeugen als auch die Adressaten in die Pflicht nimmt. In einer lévinasschen Formulierung beschreibt Felman diese ethische Dimension der von einem Überlebenden gesungenen und gesehenen Lieder in Shoah, die die Zuschauer zum Hören verurteilen: »[A] song that [...] wins life and, like the film, leaves us [...] both empowered, and condemned to, hearing.«54 Unabhängig davon, ob der Lektüre einer gelungenen Vermittlung als »return of the voice« folgt, ist nicht nur der Einsatz deutlich geworden, den die »Rückkehr der Stimme« erfordert, sondern vor allem das Anliegen der Lektüre: Wo das Trauma im Netz der Kommunikation und Vermittlung eine Lücke schlägt, geht es darum, die Leerstelle (performativ) einzuholen, um sie erneut zu schließen. Für die Lektüre der Literatur als Zeugnis gilt es derart ein Gespür als Sprechakt und »act of faith«55 zu entwickeln. Die Literaturwissenschaftler müssen ähnlich wie Psychoanalytiker agieren, die (wie im zitierten Beispiel Laubs angedeutet) darauf trainiert sind, das Unausgesprochene als das ›Eigentliche‹ zu hören und zu Gehör zu bringen.56 Zwar betrifft die Konzeption des Zeugnisses als Sprechakt auch den Erzähler. In dieser Hinsicht ist der Zeugenschaftsdiskurs für das Verständnis des Erzählers durchaus aufschlussreich. In dem Maß, wie die Autorität des Erzählers nach Auschwitz erschüttert ist, rückt die Erzählung als sprachliche Äußerung ins Bewusstsein – noch vor und unabhängig von jeglichen Erwägungen über die Form und den Inhalt der Aussage. Auch Kertész spricht diesbezüglich vom Zeugnis. Ich re-
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Ebd., S. 277f. (Herv. P.S.). Ebd., S. 282 (Herv. P.S.). Derrida: »A Self-Unsealing Poetic Text«, S. 188. Vgl. ferner Zangl: Poetik nach dem Holocaust, S. 222, die zwar die strukturellen und epistemologischen Bedingungen der Narration diskutiert, ihre Poetik aber trotz allem im Anliegen schreibt, »ein Instrumentarium zu entwickeln«, um »Zeugenberichten Gehör zu verschaffen«.
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feriere Kertész’ Überlegungen und die Differenz von seiner Position zum Zeugenschaftsdiskurs, wie er soweit erörtert wurde, um an dieser Stelle möglichen Einwänden, dass Kertész ebenfalls diesem zuzuschlagen sei, vorzubeugen. Anders als im Zeugenschaftsdiskurs, der mit dem Zeugnis nach der Adressierung und Anerkennung fragt, geht es Kertész gerade nicht um das diskutierte Vermittlungsproblem zwischen dem Zeugen und der moralischen Gemeinschaft. Vielmehr wirft er die Frage der Transzendenz bzw. des Verlusts einer transzendentalen Ordnung auf, die die Stimme des Zeugen – und des Erzählers – nicht mehr ohne Weiteres legitimiert. Kertész’ Ausführungen beziehen sich auf die Selbstbezüglichkeit der Rede. Diese Problematik äußert sich u.a. in der Frage: »[W]er sieht durch uns?« (IEA 73, Herv. i.O.) Mit der dritten Person plural eröffnet Kertész hier keinen Graben zwischen Sender und Empfänger, sondern er zielt auf die Selbstreferenz des Subjekts. »Warum ich am Ende des Galeerenbuchs so viel über Gott rede«, fragt der Erzähler zuvor: »Hier allerdings ist die Frage falsch gestellt, denn über Gott kann man meines Erachtens nicht reden, Gott ist weder Person noch Gegenstand, es ist zu befürchten, dass wir es mit einem Sprachproblem zu tun haben. Ich spreche davon, dass der Mensch in bestimmten Situationen Gott denken muß beziehungsweise über Gott nachdenken muß – es handelt sich also schlicht um ein Zeugnis, ein ›documentum humanum‹, um nichts weiter.« (IEA 68f., Herv. i.O.)
Gott bildet laut Kertész – so lässt sich diese Passage zusammenfassen – eine hypothetische Konstruktion, um einem Sprachproblem zu begegnen. Es handelt sich um ein Referenzproblem, wie die Instanz (als Ich) der Rede zu denken ist. Die Sprache erlaubt eine Form der Selbstbezüglichkeit, weil sich das Aussagesubjekt auf sich selbst beziehen kann und dem Denken somit »so etwas wie Sein, wie Welt«57 erschließt. Die Sprache produziert somit die Erfahrung einer linguistischen Transzendenz. Oder, anders gewendet, offenbart die Erfahrung der Sprache zugleich »die ursprünglich sprachliche Struktur der Transzendenz«.58 Innerhalb der materialistischen Ideologien des Totalitarismus bietet die Sprache dem Schreiber somit ein Refugium, um seine
57 Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, Frankfurt a.M. 2007, S. 51. 58 Ebd.
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biopolitische Bestimmung zu überschreiten. Unabhängig vom Trauma geht es in dieser Form des Zeugnisses aber allein um die sprachlich vermittelte Erfahrung einer Transzendenz, die mit der linguistisch vermittelten Selbstbezüglichkeit des Subjekts einhergeht – von der letztlich auch der (reine) Akt des Schreibens ein Zeugnis ablegt. Als Zeugnis und »documentum humanum« kündigt dieser Akt demnach von der Idee einer Transzendenz, mit der das Subjekt (insbesondere in der Diktatur) gegen seine biopolitische Bestimmung aufbegehrt: Es kann vermittels der Sprache über sich selbst als Subjekt und Individuum nachdenken. Dies vollzieht sich jedoch als rein sprachtheoretisches Phänomen, unabhängig von der kommunikativen und gesellschaftlichen Sphäre, wie sie soweit für den Zeugen im Zeugenschaftsdiskurs geltend gemacht wurde. Zeugenschaftsliteratur als Gattungsfrage Der Einwand, dass das Zeugnis als Kategorie nur begrenzt Aufschluss über die Strukturen und Schwierigkeiten der Erzählung nach Auschwitz liefert, lässt sich schließlich anhand von Robert Eaglestones Studie The Holocaust and the Postmodern komplettieren. Im Unterschied zu den meisten Kritikern, die den Begriff der Zeugenliteratur undefiniert lassen, versucht Eaglestone den Anspruch eines eigenständigen literarischen Gattungsbegriffs tatsächlich einzulösen: »Literary, historical, and philosophical writing since 1945 are involved in a new genre, testimony, with its own form, its own generic rules, its own presuppositions.«59 Um den Nachweis vom Zeugnis als neuer, eigenständiger Gattung zu liefern, erstellt Eaglestone einen Katalog mit Merkmalen. Neben Kriterien wie dem des historischen Bezugs, der Verwendung von dokumentarischem Material, der Ironie und einem offenen Ende bildet die Identifikation seine zentrale Kategorie. Der Begriff der Identifikation erlaubt es ihm, die Zeugenschaftsliteratur als solche überhaupt erst zu bestimmen, während sie zugleich auf das Postulat der Adressierung und Anerkennung des Zeugenschaftsdiskurses antwortet. Anders als bei Felman, bei der die Integration und Identifikation mit der Wiederkehr der Stimme gelingt, beharrt Eaglestone jedoch auf einem Bruch: »To read these texts as testimonies, to read
59 Robert Eaglestone: The Holocaust and the Postmodern, Oxford u.a. 2004, S. 6.
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the genre, is to refuse the identification.«60 Nach wie vor referiert der Begriff der Identifikation auf das Verhältnis zwischen Zeugnis und Leser bzw. Adressat, auch wenn keine Integration erreicht wird. Der Begriff der Identifikation bleibt letztlich jedoch äußerst unscharf. Das Argument, dass die Zeugenschaftsliteratur kein »pleasure of identification«61 bietet, lässt sich zunächst nur schwerlich als Maßstab einlösen: Das Kriterium trifft ebenso – oder vielmehr eher – auf moderne und avantgardistische Texte zu, während es fraglich ist, ob die Lektüre von Robert Antelme,62 Tadeuz Borowski oder Ruth Klüger keinen Lustgewinn birgt.63 Eaglestone vermag die vereitelte Identifikation nur zu beschwören und installiert letztlich ein ethisches Gebot. Die Identifikation soll verhindert, d.h. sie darf vom Leser nicht nachvollzogen werden: »To understand testimonies as a genre in their own right is to play a part in erecting a dyke against their easy consumption. Specifically, it means denying the possibilitiy of identification. It is this sort of reading and the texts that inspire it that marks out testimony as a genre.«64 Die unterbundene Identifikation formuliert sich derart als Leseanweisung, nicht als textimmanentes Kriterium: »Holocaust fiction [...] names not only texts, but a way of reading: a genre. It is to be read with specific range of questions, responses, demands, and issues in mind.«65 Unabhängig vom ethischen Diktum, das diesem Ansatz eingeschrieben ist, ist zu fragen, inwiefern die Identifikation der Leser mit dem Text überhaupt ein hinreichendes, formales Kriterium für die Lektüre von Texten darstellt. Eaglestones Argumentation antwortet zwar auf das diskutierte Dilemma, wie den Zeugen Gehör zu verschaffen ist, ohne sie und ihr Zeugnis zu vereinnahmen oder unter einer bestimmten Zweckbestimmung zu instrumentalisieren. Eaglestone nimmt die Leser demnach selbst dort in die Pflicht, wo keine Integration garantiert ist. Trotz diesem nachvollziehbaren Anliegen ist es jedoch fragwürdig, ob dieser Ansatz den Texten gerecht
60 Ebd., S. 40. 61 Ebd., S. 38. 62 Zur Lektüre von Robert Antelmes Das Menschengeschlecht vgl. Sarah Kofman: Erstickte Worte, Wien 2005, S. 52 u. 78f. 63 Laut Hartman verschafft die Zeugnislektüre eine »ästhetische Befriedigung« und bildet die Bedingung für die Erinnerungsarbeit und Solidarität. Vgl. Hartman: »Intellektuelle Zeugenschaft«, S. 39. 64 Ebd., S. 41 (Herv. P.S.). 65 Ebd., S. 107.
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wird, und ob es sich allgemein um ein fruchtbares Dispositiv für eine Literatur handelt, die explizit nicht auf die Tagebuch- und Memoirenliteratur Überlebender beschränkt bleibt. Das Paradigma der Zeugenschaftsliteratur stößt daher insbesondere dort auf Einwände, wo unklar bleibt, welche Literatur der Gattung tatsächlich zuzurechnen ist, eine Frage, die auch Eaglestones Studie aufwirft.66 Anders als Felman und Laub, die mit Albert Camus und Paul de Man auch Autoren und Texte anführen, die von Nicht-Betroffenen geschrieben sind, behandelt Eaglestone zunächst tatsächlich fiktionale und nicht-fiktionale Texte von Überlebenden oder Autoren, die sich explizit mit dem Holocaust auseinander setzen. Aber bereits der anfangs enger gefasste Korpus, anhand dessen Eaglestone eine Taxonomie von Kriterien erarbeitet, wirft Probleme auf. Das ist beispielsweise mit Kertész’ Roman eines Schicksallosen der Fall, den Eaglestone anführt.67 Denn Kertész bedient sich explizit der Gattung des Romans – eine Lektüre, die Eaglestone an anderer Stelle selbst vertritt: »I argue that Kertész uses the possibilities offered by the form of novel to think through, aesthetically, issues of fate, agency, and choice in a way that would be impossible in a testimony.«68 Anders als das Zeugnis, erlaubt der Roman philosophische Fragestellungen im Rahmen ästhetischer Kategorien zu verhandeln, die nicht unter dem Primat der Identifikation, Adressierung und Anerkennung stehen. In seiner späteren Studie nivelliert Eaglestone diese Differenz.
66 Nach dem anfangs enger gefassten Korpus verliert Eaglestones Begriff an Klarheit und Schärfe, wenn er Texte von Sebald, Bernhard Schlinks Der Vorleser oder Patrick Süskinds Das Parfüm gleichfalls als Zeugenschaftsliteratur anführt. 67 Vgl. Eaglestone: The Holocaust and the Postmodern, S. 52. Vgl. ferner Margit Frölich, die den Roman unter dem Stichwort der Zeugenschaft diskutiert, ohne den Begriff am Text nachzuweisen. Vielmehr zeigt sie entgegen der eigenen Aussage auf, inwiefern der Roman substanziell dem Zeugen- und Zeugnisbegriff entgegen steht. Vgl. Margit Frölich: »Jenseits der Tatsachen und Erinnerungen. Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen als literarisches Zeugnis des Holocaust«, in: Elm u.a. (Hg.), Zeugenschaft des Holocaust, S. 230-245. 68 Robert Eaglestone: »The Aporia of Imre Kertész«, in: L. Vasvári/S. T. De Zepetnek (Hg.), Imre Kertész and Holocaust Literature, West Lafayette 2005, S. 38-50 (Herv. P.S.). Vgl. ferner Adam Zagajewski: »Über die Treue. Imre Kertész’ geduldige Arbeit am Mythos des Romans«, in: Sinn und Form 6 (2009), S. 751-756, S. 755: »Kertész’ Glaube an die Literatur [...] bewahrt ihn davor, in die Zeugenrolle gedrängt zu werden.«
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Folgt man in diesem Zusammenhang ferner Mieke Bals Hinweis, dass im Zeugnis »[t]he question whether the story it tells is invented can no longer be asked«,69 dann lässt sich auch hier der Begriff der Zeugenschaftsliteratur schlecht auf den Ungar anwenden. Wiederholt kommt Kertész darauf zu sprechen, dass er Auschwitz nochmals erfinden musste, um über Auschwitz zu schreiben – und widerspricht so dezidiert dem Authentizitätspostulat, das (worauf Bal verweist), konstitutiv für die Zeugenschaftsliteratur ist: »Die Welt der Fiktion ist eine souveräne Welt, die im Kopf des Autors geboren wird und den Gesetzen der Kunst, der Literatur gehorcht. Und das ist ein großer Unterschied, der sich in der Form, der Sprache und der Handlung des Werkes widerspiegelt. Bei der Fiktion sind alle Details vom Autor erfunden, jedes Moment [...] / Du willst doch nicht sagen, dass du Auschwitz erfunden hast? / Und doch ist es in einem gewissen Sinn genau so. Ich mußte im Roman Auschwitz für mich neu erfinden.« (DK 13, Herv. i.O.)70
Kertész entwirft hier ein überspitztes Modell ästhetischer Autonomie. Ästhetik und Realität stehen zweifelsfrei in einem Austauschverhältnis. Entscheidend ist jedoch, dass die Eigengesetzlichkeit der Kunst für Kertész absolut vorgängig und bestimmend ist – selbst (oder gerade) dort, wo es sich mit der Shoah um ein Ereignis handelt, das für ein Reales schlechthin steht. In Fiasko schreibt der Erzähler, Steinig, diesbezüglich, dass das »sogenannte[] Erlebnismaterial« ihn bei seiner Arbeit »stört« und »behindert« (F 93). »So ist es mit der Fiktion. Ihre Gesetze sind gnadenlos.« (DK 15) Ironisch schildert er, wie diese Dynamik ihm unerwartet ihre eigene Dramaturgie diktiert: »Ohne dass ich es bemerkt hätte, hatte ich angesetzt und einen großen Sprung gemacht und war mit einem einzigen Satz vom Persönlichen im Objektiven, im Allgemeinen gelandet; nun aber blickte ich mich verdutzt um. [...] [A]uch ich wollte vermitteln. [...] Nur eines hatte ich – vielleicht naturgemäß – nicht bedacht: dass man sich niemals selbst vermitteln kann.« (93f.)
69 Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto u.a. 2009, S. 27. 70 Vgl. in diesem Kontext ferner den Eintrag im Galeerentagebuch: »Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht« (GT 253).
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Ausgehend von der Eigengesetzlichkeit des Romans wird die Vermittlungsfrage zu einem zentralen Problem. Anders als im Zeugenschaftsdiskurs ist für Kertész demnach weder die Vermittlung zwischen Zeugen und Adressaten noch die der historischen Wahrheit von primärer Bedeutung (so beispielsweise, wenn er freimütig einräumt Auschwitz neu zu erfinden). Die Vermittlungsthematik stellt sich vielmehr aufgrund des spezifischen Mediums des Romans. Der Zeugenschaftsdiskurs – das haben die vorhergehenden Erläuterungen gezeigt – versucht der scheiternden Selbstvermittlung des Zeugen mit der Adressierung und Anerkennung anhand von textexternen Kriterien beizukommen. Kertész fragt hingegen ausgehend von der Gattung des Romans nach den Gesetzen der Fiktion, d.h. nach den textinternen und poetologischen Bedingungen und Funktionsweisen der literarischen Vermittlung. Der Unterschied ist ein substanzieller. Während im Zeugenschaftsdiskurs die äußeren Umstände und die Rezeptionsbedingungen an Bedeutung gewinnen, kehrt sich die Literatur mit dem Krisenbewusstsein des Erzählers auf sich selbst zurück – wie im metareflexiven Gestus Steinigs in Fiasko, der sich im Roman seiner Position als Erzähler und des Mediums, dessen er sich bedient, plötzlich gewahr wird. Diese selbst- und metareflexive Ebene geht konstitutiv in die Struktur der Erzählung ein. Während die Konzentration mit der Figur des Erzählers derart auf dem Medium der Erzählung liegt, bildet sie für den Zeugen nur ein sekundäres Mittel, das unter dem Primat der Adressierung und Anerkennung instrumentalisiert wird. Die Krise der Vermittlung, die eine gemeinsame Problematik von Erzähler und Zeuge bildet, unterliegt derart höchst differenten formalen Bedingungen und Fragestellungen. Versucht man im Anschluss an diese Ausführungen konkret Aufschluss über den Erzähler – als Krisenfigur, d.h. im Bewusstsein seiner defizienten oder aporetischen Vermittlungsposition – zu erhalten, so scheint es nahe liegend, die Narratologie und Erzähltheorie zu befragen. Es wird sich allerdings zeigen, dass diese gerade die Problematik einer Krisenkonstellation, die nach der spezifischen Situation des Erzählers nach ’45 fragt, ausblendet. Trotz allem ist dieser Umweg erhellend, um sich der Problematik des Erzählers in einem weiteren Schritt ex negativo anzunähern.
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1.2 D ER E RZÄHLER IM D ISKURS DER N ARRATOLOGIE Die Erzähltheorie analysiert als »Wissenschaft vom Erzählen« allgemein »die wesentlichsten Elemente des Erzählens und ihren strukturellen Zusammenhänge«.71 Bei aller (inzwischen unvereinbaren) Vielzahl von narratologischen Ansätzen,72 zielt sie auf eine »systematische Modellbildung und Beschreibung von Textstrukturen mittels eines eindeutigen metasprachlichen Bezugsrahmens«.73 Erarbeitet die Narratologie einerseits eine Fülle von textinternen Funktionen, die die Struktur von Erzählungen anbelangt, so stellt sie zugleich grundsätzliche Fragen, die den Begriff der Erzählung und die Differenz zwischen erzählendem und nicht-erzählendem Diskurs betreffen. Anstatt diesem breitgefächerten Themenspektrum zu folgen, interessiert im hiesigen Kontext jedoch ausschließlich wie die Narratologie den Erzähler definiert. Dass Erzähler und Erzählung in einem notwendigen Zusammenhang stehen, scheint zunächst evident: »Im Deutschen ist [...] der Begriff der Erzählung eng mit dem Sprechakt des Erzählens verbunden und somit mit der Figur eines Erzählers. Man könnte also Erzählung als all das definieren, was ein Erzähler erzählt.«74 Was nach einer common sense Bestimmung klingt, gestaltet sich jedoch komplexer. Die Hierarchie und Kausalbeziehung, die sich bei Monika Flundernik andeutet, wenn sie den Erzähler als Subjekt der Aussage der Erzählung ausweist, stellt die Erzähltheorie in Frage. Als Agent oder Produzent der Erzählung kommt dem Erzähler allenfalls als illusionistisch-vorstellende Instanz eine Rolle zu. Bei Franz Karl Stanzel fungiert der Erzähler hingegen dezidiert als Mittler, nicht als Produzent der Erzählung: »Wo eine Nachricht übermittelt, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme eines Erzählers hör-
71 Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, 4. Aufl. Göttingen 1989, S. 14. 72 Nünnings sprechen von »Narratologies« anstatt von »Narratologie« im Singular. Vgl. Ansgar/Vera Nünning: »Von der strukturalistischen Narratologie zur ›postklassischen‹ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen«, in: dies. (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 1-33, S. 17. 73 Nünning: »Von der strukturalistischen Narratologie«, S. 6. 74 Monika Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, S. 11.
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bar.«75 Stanzel denkt die Erzählung vorgängig zur Instanz des Erzählers; dem Erzähler kommt mit der Vermittlungsfunktion nur eine sekundäre Bedeutung zu. Stanzels Definition leitet sich mit ihrem Vermittlungsbegriff aus der Gattungstradition ab, wie sie in Deutschland von Goethe geprägt ist. Von den drei »Naturformen« Epik, Lyrik und Drama bestimmt erstere den Begriff der Narrativität. Die Funktionsbestimmung des Erzählers als Mittler leitet sich in diesem Modell zunächst aus der Differenz zwischen der Epik und dem Drama als handlungsspezifischer Gattung ab. Während das Drama die Handlung unmittelbar auf der Bühne präsentiert, ist in der Erzählung eine Figur zwischengeschaltet, über die die Handlung vermittelt und fokalisiert wird.76 Der Erzähler wird nun allein aufgrund seiner textinternen Mittlerfunktion beschrieben, die Stanzel anhand von drei Erzählsituationen differenziert: auktorialer, Ich- und personaler Erzähler.77 Was sich soweit bei Stanzel abzeichnet, kann allgemein für die Bestimmung der Erzählinstanz in der Erzähltheorie geltend gemacht werden: Der Erzähler wird aufgrund seiner textinternen Vermittlungsfunktionen definiert, als »logico-linguistic center for all spatio-temporal and personal references occuring in the discourse«.78 Das stanzelsche Modell vermag damit aber keine Aussage über den generativen Moment der Erzählung zu treffen. Das Erzählgeschehen wird a priori gesetzt, während der Erzähler, mehr oder weniger als Funktion der Erzählung, den einen oder anderen Blick auf das Handlungsgeschehen wirft – einen Blick, der sich mit dem stanzelschen Begriff der Perspektive in erkenntnistheoretischer Hinsicht zudem als anachronistisch erweist (dazu unten mehr). Bereits hier kündigt sich die periphere Rolle an, die die Figur des Erzählers in der Erzähltheorie einnimmt. Im Cambridge Companion of Narrative aus dem Jahr 2007 taucht der Erzähler neben Kategorien wie »Story, plot, and narration«, »Time and Space«, »Character«, »Dialogue«, »Focalization« und »Genre« als ei-
75 Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 15. In diesem Modell sind auch Diskurse ohne Erzähler möglich (ein Beispiel ist die historische Chronik). 76 Spätere Ansätze differenzieren drei narrative Funktionen: »doing, seeing and saying«. Jede Funktion korrespondiert mit einer Rolle: »narrative agent, focalizier [...] and narrator«. Vgl. Uri Margolin: »Narrator«, in: P. Hühn/W. Schmid/J. Schönert/J. Pier (Hg.), Handbook of Narratology, Berlin u.a. 2009, S. 351-369, S. 352. 77 Vgl. Stanzel: Theorie des Erzählens, S. 31ff. 78 Margolin: »Narrator«, S. 351.
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genständige Kategorie gar nicht mehr auf.79 Für den hiesigen Kontext leitet sich daraus die Hypothese ab, dass die Erzähltheorie das »Krisenbewusstsein des Erzählers« theoretisch nicht zu fassen vermag. Die Narratologie blendet den Erzähler aus, indem sie ihn über textinterne Vermittlungsfunktionen definiert, ohne ihm Aufmerksamkeit als textgenerierende Instanz zukommen zu lassen. Der tote Winkel, der die generative Funktion des Erzählers bei Stanzel verstellt, herrscht gleichfalls bei Gérard Genette vor, auch wenn sich Genettes erzähltheoretischer Ansatz gegenüber dem Typenmodell Stanzels zunächst erfolgreicher durchgesetzt hat. Als fruchtbar hat sich insbesondere Genettes Begriff der Erzählung (récit) erwiesen. Genette differenziert (im Anschluss an Émil Benveniste und Tzvetan Todorov) zwischen der Geschichte bzw. Diegese (als narrativem Inhalt, den der Erzähler erzählt), der Erzählung (als dem Text in seiner Gesamtheit) und der Narration (als Akt des Erzählens).80 In einem weiteren Schritt unterscheidet Genette den »Modus« von der »Stimme«. Der Modus beschreibt u.a. die verschiedenen Möglichkeiten der narrativen Fokalisation (was bei Stanzel die Erzählperspektive leistet). Mit der Stimme gibt Genette u.a. vor, die »Produktionsinstanz des narrativen Diskurses«81 zu beschreiben. Bezeichnet die Stimme »quasi hinter dem Rücken der Figuren – die Möglichkeit der Distanznahme des Erzählers zum Blickwinkel der Figuren«,82 so bleibt sie – entgegen der Aussage von Genette – als generative Instanz jedoch merkwürdig unterbelichtet. Zwar geht die Stimme als organisierendes Prinzip in Genettes strukturalistisches Modell ein: Die Stimme bildet letztlich den archimedischen Punkt, um die einzelnen Erzähl- und Zeitebenen zu differenzieren. Genette setzt die Stimme als Instanz jedoch voraus, ohne sie selbst zu diskursivieren: »Genette never problematises the idea of voice. Whilst the manifestations of narrative voice can be classified, voice itself simply exists as an essence.«83 Führt Genettes Konzeption der Stimme für Andrew Gibson aus poststrukturalistischer Perspektive eine unzulässige Präsenz ein, die den Text hierarchisch fixiert, so ist
79 Vgl. David Herman (Hg.): The Cambridge Companion to Narrative, Cambridge 2007. 80 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München 1994, S.16. 81 Ebd., S. 152. 82 Silvio Vietta: Der europäische Roman der Moderne, München 2007, S. 26. 83 Andrew Gibson: Towards a Postmodern Theory of Narrative, Edinburgh 1996, S. 144.
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im hiesigen Kontext bedeutsam, dass der narratologische Ansatz die Erzählstimme thetisch setzt und somit dem theoretischen Zugriff entzieht.84 Die Erzählstimme lässt sich aber gerade als jene Instanz identifizieren, die im Zug der Erzählkrise problematisiert wird. Damit bestätigt sich der Verdacht, dass die Narratologie mit einem »Werkzeug der Beschreibung« (Genette) arbeitet, die ihrem Gegenstand – wo es um die Instanz des Erzählers geht – nicht gerecht wird. Auf diese Unzulänglichkeit der Erzähltheorie, die sich insbesondere im Begriff der (Erzähl-)Stimme äußert, macht ferner Josef Vogl in einem Aufsatz zu Kafka aufmerksam. Vogl geht zunächst von der These aus – die bereits Adorno artikuliert –, dass der »Einzug ästhetischer Distanz« (NL 46) das Signum der Erzählkrise um die Jahrhundertwende bildet. Am Beispiel von Kafka konstatiert Adorno diesen Einzug der Distanz zuerst im »Verhältnis zum Leser«: »[B]ald wird der Leser draußen gelassen, bald durch den Kommentar auf die Bühne, hinter die Kulissen, in den Maschinenraum geleitet.« (NL 45) Der diagnostizierte Distanzverlust, der hier die Relation zwischen Text und Leser betrifft, gerät aber gleichfalls auf textimmanenter Ebene ins Wanken. Die Ebenen der »ästhetischen Darstellungen« sowie die Differenz zwischen »Imaginärem und Realem« verwischen sich: Es gibt keinen »›typischen‹ mittleren Sachverhalt« mehr, der das Geschehen adäquat repräsentieren könnte oder sich auf eine einheitsstiftende Instanz eines Erzählers zurück führen ließe (NL 46). Wo sich keine Instanz mehr ausmachen lässt, die für die einheitliche Organisation des Textes verantwortlich zeichnet, rückt aber jene Konzeption der Stimme in den Blick, die Genette als textgenerierende Funktion identifiziert, ohne sie jedoch zu diskursivieren. In fast gleichem Wortlaut wie Adorno merkt nun Vogl an, dass »Kafkas Erzählweise [...] eine Aufhebung ästhetischer Distanz«85 vollzieht. Wie bei Adorno resultiert auch bei Vogl der Einzug der Distanz
84 Gleiches geschieht auch im Handbuch der Narratologie 2009. Zwar geht Uri Margolin auf sogenannte »Unnatural Voices« ein, die mit Texten wie denen von Beckett keine Rückführung auf eine einheitliche Erzählstimme zulassen; Konsequenzen werden daraus jedoch keine gezogen. Der Erzähler wird nach wie vor als »presumed innertextual originator of the discourse« ausgewiesen, der als Basis der Analyse dient. Vgl. Margolin: »Narrator«, S. 351 u. S. 354f. 85 Joseph Vogl: »Vierte Person. Kafkas Erzählstimme«, in: DVjs 68/4 (1994), S. 745-756, S. 745.
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aus dem Verlust eines »kohärente[n] Zentrum[s] des Erzählens«. Wo nichts »durch einen ›Erzähler‹ geklärt«86 wird und Erzähltes und Erzählung nicht in Einklang gebracht werden können, wird der Erzähler seiner Rolle als vermittelnde Instanz aber kaum noch gerecht: »Es gibt keine Stetigkeit, keine räumliche, geometrische Ordnung der Erzählsituation.«87 Indem Vogl den Einzug ästhetischer Distanz in Bezug zur Narratologie setzt, verweist er explizit auf das Defizit narratologischer Prämissen: »Denn die Metaphern des Sehens und der Perspektive – mit denen die Erzähltheorie die Bedingungen der Subjektphilosophie fortgeschrieben und fixiert hat – bezeichnen nur einen illusionären Kurzschluss von Ich und Welt, Subjekt und Beschreibung, und reichen nicht hin, die Anordnung, die Schichtung und die Abfolge der narrativen Aussagen zu beschreiben.«88 Um ihre methodologische Beschreibung überhaupt leisten zu können, setzt die Narratologie Kategorien voraus, die spätestens mit den epistemologischen Erschütterungen der Jahrhundertwende in Zweifel gezogen werden: Das betrifft sowohl die geometrische Struktur der Erzähltheorie als auch den Subjektbegriff. Gibt die Erzähltheorie vor den Erzähler als konkretes Subjekt zunächst aus dem Text zu eliminieren, um eine neutrale Erzählinstanz zu installieren, so führt sie das Subjekt als ›Ich‹ schlussendlich wieder ein – ohne die Mittel und das Bewusstsein, diesen thetischen Akt zu reflektieren. Der Erzähler, so Genette, ist unabhängig von seiner grammatikalischen und rhetorischen Form »per definitionem virtuell in der ersten Person«89 präsent. Die Differenzierungen und Distanzierungen der Erzählinstanz (hetero- und homodiegetisch und extra- und intradiegetisch) gründen bei Genette letztlich in einem synthetisierenden ›Ich‹; Genette hat die Einheit dieses Ichs nie preisgegeben. Die Irritation, die das Subjekt und der Erzähler im Zuge der Erzählkrise erfahren, wird von der Narratologie mit dieser Ich-Setzung als einheitsstiftender Instanz strukturell ausgeblendet. Wenn Vogl von der »vierten
86 87 88 89
Ebd., S. 751. Ebd., S. 748 u. 750. Ebd., S. 746. Genette: Die Erzählung, S. 175. Diese Prämisse findet sich auch unverändert bei Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999/2009, S. 81 (Herv. i.O.): »Da jede Erzählung per definitionem von jemandem erzählt wird, ist sie, sprechpragmatisch gesehen, immer in der ersten Person abgefaßt (selbst wenn der Erzähler die grammatische erste Person an keiner Stelle seines Textes verwendet).«
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Person« bei Kafka spricht, dann bringt er hingegen den Nachweis, dass gerade die Präsenz einer Erzählstimme in der ersten Form nicht mehr gegeben ist:90 »Das ›ich‹ als ›perspektivisches‹ Zentrum ist bereits in ein ›er‹ übergegangen.«91 An die Stelle des Ichs tritt »das Man, die vierte Person, die neutrale, aphonische und unmenschliche Stimme«.92 Kafka mag in dieser Hinsicht radikal sein, fügt sich aber dezidiert in ein breites Feld experimenteller Literatur um 1910, die nach dem Ersten Weltkrieg um 1925 nochmals konzentriert aufgenommen wird.93 Namhafte Autoren (C. Einstein, A. Döblin, R. Musil und Autoren der historischen Avantgarde) nehmen die neuen erkenntnistheoretischen Prämissen und die kulturellen Umbrüche und Neuerungen in ihrem Schreiben auf. Stellvertretend artikuliert Hugo Ball diese Zäsur: »Die Prinzipen der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut.«94 Gemeinsam ist diesen Autoren, dass sie die erkenntniskritischen Revisionen über die Struktur von Sprache und Subjekt, aber ebenso von Raum und Zeit, narrativ reflektieren – u.a. mit der Folge, dass sich keine zentrale, einheitsstiftende Instanz der Rede mehr identifizieren lässt. Mit der Destabilisierung basaler epistemologischer Kategorien kommt es aber unweigerlich zum Bruch mit klassischen Erzählpositionen. »Wenn Zeit- und Subjektkonzept sowie die referentielle Funktion der Sprache keine sicheren Konstanten des Erzählens mehr sind, wie kann man dann überhaupt noch erzählen?«95 Nimmt der Krisendiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits zahlreiche strukturelle Fragestellungen vorweg, die in den Debatten nach ’45 wiederkehren, so ist hier vor allem von Interesse, dass in Reaktion auf die epistemologischen und kulturellen Umbrüche der Erzähler bzw. dessen Funktion in den Blick rückt und problematisiert wird. Wo die Narratologie den Erzähler als generative Instanz ausblendet, indem sie ihn als Funktion der Erzählung vorbehaltlos setzt, gilt es
90 Bereits Blanchot konstatiert bzgl. Kafka: »Das erzählerische ›Er/Es‹ entthront jedes Subjekt [...]. Die Erzählstimme ist Neutrum.« Maurice Blanchot: Von Kafka zu Kafka, Frankfurt a.M. 1993, S. 148f. 91 Vogl: »Die Vierte Person«, S. 749 u. 750. 92 Ebd., S. 755. 93 Vgl. Sabine Kyora: eine poetik der moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens, Würzburg 2007. 94 Hugo Ball: »Kandinsky. Vortrag, gehalten in der Galerie Dada«, in: ders., Der Künstler und die Zeitkrankheit, Frankfurt a.M. 1984, S. 41-53, S. 41. 95 Sabine Kyora: eine poetik der moderne, S. 8.
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diesen im Anschluss an die Krisendiagnosen als Instanz zu beschreiben, die zwar Aufschluss über textimmanente Funktionen gibt, zugleich aber (textexterne) Prämissen der Erzählung und Narration mit reflektiert. Anstatt den Erzähler und die Erzählung ausgehend von dem Krisendiskurs der Jahrhundertwende zu kontextualisieren, sollen im weiteren chronologischen Rückschritt jedoch lediglich die Debatten referiert werden, wie sie in der Bundesrepublik der 60er Jahre geführt werden. Anders als im Zeugenschaftsdiskurs und der Narratologie werden dort Erzähler und Erzählung explizit als problematische Kategorien diskutiert. Doch auch hier erweisen sich die Erträge, was die Figur und Funktion des Erzählers angeht, letztlich als unzulänglich. Die meist ideologisch geführten Debatten haben – politisch-ideologisch gewendet in den 60er Jahren, dann in der Stimmung eines allgemeinen Katastrophismus in den 80er Jahren – kaum an theoretischer Präzision gewonnen. Trotz allem ist die Rekapitulation für die Diskussion notwendig. Nicht in der Absicht, die inzwischen weitgehend gehaltlosen Endformeln vom Tod der Literatur, des Erzählers oder des Subjekts nochmals zu bemühen, vielmehr gilt es erneut den Kern dieser Schlagwörter freizulegen. Nicht zuletzt ist damit aber ein erster Einsatzpunkt benannt, der mit der Figur des Erzählers ein diskursives Feld eröffnet, das als Dispositiv für eine Literatur nach ’45 Anwendung finden soll.
1.3 D IE K RISE
DES
E RZÄHLERS
Die Rede von der Krise der Literatur und des Erzählers nach ’45 ist kaum vom Namen Adornos zu trennen. Adornos Reflexionen sind theoretisch ebenso anspruchsvoll, wie sie – bei aller feuilletonistischen Nivellierung – diskursprägend sind. Die »Adorno-Folgen« (Martin Walser) fordern nach der verzögerten Rezeption des Satzes zu Gedichten nach Auschwitz aus dem Jahr 195196 von Hans Magnus Enzens-
96 Der Vollständigkeit halber sei der Satz Adornos an dieser Stelle in seiner ersten Fassung zitiert: »Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben«. Theodor W. Adorno: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I. GS Bd. 10.1, Frankfurt a.M. 2003, S. 11-30, S. 30.
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berger und Alfred Andersch 1959 bis in die BRD der 80er Jahre ihren Zoll.97 Mit erstaunlicher Autorität bildet der Satz gerade für jene Autoren, die in der Nachkriegszeit ihre Karriere beginnen, die Legitimationsschwelle hin zu einer reflektierten und engagierten Literatur. Adornos Diktum verlangt Autoren sämtlicher Couleur seine Geltung ab, egal ob sie sich mit dem Frankfurter Theoretiker identifizieren oder nicht. – Dass Adornos Reflexionen selbst den Ungarn und AuschwitzÜberlebenden Kertész herausfordern, mutet dabei nur insofern ironisch an, als dass Kertész, trotz wiederholter Ablehnung des Satzes, das Postulat mit seiner negativen Poetik konsequent umsetzt. So spricht Kertész zuletzt 2006 in Dossier K. affektiv von Adornos Satz als »eine[r] moralische[n] Stinkbombe, die die ohnehin schlechte Luft überflüssigerweise noch mehr verpestet« (DK 120).98 Was bei dem philosophisch versierten Autor – der u.a. Freud, Nietzsche und Wittgenstein ins Ungarische übersetzt – als philosophische Fehlleistung erstaunt, beschreibt die stereotype Aufnahme der Adorno-Lektüre unter den Autoren der Bundesrepublik allgemein. So pflichtgetreu die Autoren Stellung beziehen, so sehr überfordert sie Adornos Position.99 Letztlich zirkulieren Adornos Thesen, wie der Satz über Gedichte nach Auschwitz, in einer inhaltsleeren Verkürzung, denen eher intuitiv als theoretisch begegnet wird.100 Bei aller Entstellung, die Adornos Überlegungen erfahren, lassen sich die Debatten über die Krise und den Tod der Literatur zunächst jedoch in einer Frage bündeln: Ist Literatur noch möglich und wenn ja, unter welchen Prämissen? Die Diskussion reduziert sich – wo es um den Roman und die Prosa geht – auf den Begriff des Realismus. Die Realismusdebat97
Vgl. Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart 2006. 98 Földényi argumentiert, Kertész opponiere nicht gegen Adornos Ästhetische Theorie, sondern gegen den »Gemeinplatz« zu dem Adornos Zitat verkommen ist. Vgl. László Földényi: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész Wörterbuch, Reinbek b.H. 2009, S. 288. 99 Vgl. Keith Bullivant/Klaus Briegleb: »Die Krise des Erzählens – ›1968‹ und danach«, in: K. Briegleb/S. Weigel (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 12. Gegenwartsliteratur seit 1968, München u.a. 1986, S. 302-339, S. 308 u. 329. 100 Hier ist nicht der Raum, um Adornos Position zu erörtern. Zu einer konzisen Analyse, sowohl die lange Rezeptionsgeschichte als auch die Auslegung des Adorno-Satzes betreffend, vgl. Stefan Krankenhagen: Auschwitz darstellen, Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser, Köln u.a. 2001, S. 21-81.
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ten schließen nur bedingt an den Begriff des bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts an. Allgemein geht es vielmehr um die (mimetischen) Fähigkeiten der Literatur, die Gesellschaft erzählerisch darzustellen, wobei die jeweilige Interpretation der gesellschaftlichen Zustände ausschlaggebend ist. »Das Ende ist am Anfang und doch macht man weiter«: Deutsche Krisendebatten nach 1945 Selbst für Adorno, der die Möglichkeit der Kunst mit ungewöhnlicher Radikalität in Zweifel zieht, kommt mit der Rede vom Ende der Kunst kein literales Ende in Betracht. Vielmehr fordert gerade die Aussicht einer realen Abschaffung der Kunst mit umso größerer Dringlichkeit deren Fortsetzung: »Die Frage nach der Möglichkeit von Kunst hat derart sich aktualisiert, dass sie ihrer vorgeblich radikaleren Gestalt: ob und wie Kunst überhaupt noch möglich sei, spottet. An ihre Stelle tritt die nach ihrer konkreten Möglichkeit heute.« (ÄT 503) Die periodisch wiederkehrenden Einwände, dass die Empirie den Krisendiskurs angeblich widerlege, verfehlen somit die Problematik der Endformeln. Vielmehr formuliert sich die Rede vom Ende dezidiert als Frage nach den gesellschaftsfunktionalen Bedingungen von Literatur, und ob ihr diesbezüglich eine Rolle zukommt oder nicht. Zielt die Rede vom Ende der Kunst auf ihre gesellschaftsfunktionale Einbindung, so formuliert das Ende der Kunst und Literatur in den Debatten der 60er Jahre den Gegenbegriff zu einer affirmativen Literatur, die in einer realistischen Schreibweise ihren angemessenen Ausdruck findet. Die Frontlinien, ob Kunst möglich sei oder nicht, verlaufen demnach auf dem Feld des Realismus: »Das am Roman empfundene Defizit ist also die Folge der für den Roman auch unter den Bedingungen der problematischen Moderne fortbestehenden realistischen ›Auflage, Spiegel der zeitgenössischen Lebensverhältnisse zu sein‹.«101 Diktiert der Begriff des Realismus das breite Literaturverständnis, so ist seine Verwendung aber – ebenso charakteristisch wie irritierend – undifferenziert. Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, bedeutet Realismus in den Debatten um den Tod der Literatur die mimetische Widerspiegelung der Realität. Den prominenten Antipoden zu Adorno bildet in diesem Kontext Georg Lukács, dessen
101 Olaf Meier: Im Labyrinth der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 59.
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Realismusbegriff gerade auch in seiner simplifizierenden, trivialmarxistischen Wendung – als Abbild der gesellschaftlichen Realität in ihrer revolutionären Entwicklung – eine nicht zu unterschätzende Wirkmacht entwickelt. Allgemein lässt sich die Dominanz des realistischen Literaturbegriffs zunächst aber auch für den Literaturmarkt und die Lesererwartungen geltend machen, die sich nach wie vor »an einem bestimmten historischen Modell von Erzählliteratur [orientieren], nämlich dem bürgerlichen realistischen Roman [...]. Die Formen des konventionellen, ›realistisch‹ erzählten Gesellschaftsromans halten sich [...] hartnäckig in Massen- und Trivialliteratur und bestimmen, quantitativ gesehen, das Bild der Literatur des 20. Jahrhunderts.«102 Auch hier schließt der Begriff des Realismus nur im weitesten Sinn an die ästhetischen Prämissen der Epoche des bürgerlichen bzw. poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts an. Gleiches gilt aber auch für die Literaturkritik und für viele engagierte Autoren. Der kritische Gestus, der gerade in den 60er Jahren mit einer zunehmenden Politisierung der Autoren einhergeht, führt nur selten zu avancierten Schreibweisen, sondern wird eher mit einem naiven Realismus sozialistischer Provenienz kurzgeschlossen, wie er beispielsweise mit einer neuen »Literatur der Arbeitswelt« nach dem Vorbild von Günther Wallraffs Reportage-Berichten populär wird. Adornos Distanzierung von den politischen Forderungen und Aktionen der 68er Studenten, die ihn öffentlich in Misskredit bringt, führt zusätzlich zu einem empfindlichen Legitimationsverlust für Vertreter einer avancierten Ästhetik. Selbst Schriftsteller wie ein Martin Walser oder Peter Handke, die ihren Karrierestart in der Nachkriegszeit verzeichnen, lassen ihre experimentellen Anfänge rasch fallen und kehren in unterschiedlichen Formen zu ›realistischen‹ Schreibweisen zurück. Die Rückwendungen zum Realismus werden in der Öffentlichkeit mit der entsprechenden Erleichterung gewürdigt: »Es darf wieder erzählt werden«, so fasst der Werbespruch des Suhrkamp Verlags 1972 die Debatten der 60er Jahre (ironisch) zusammen. Selbst der bereits erwähnte Reinhard Baumgart optiert bereits 1967, als ausgewiesener Adorno-Schüler, in seinen Frankfurter Vorlesungen für einen neuen Realismus: Nach »dem Ende der Literatur« bedeuten »die Aussichten
102 Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität, Tübingen, 1988, S. 7.
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des Romans [...]: Aussichten des Realismus.«103 Ein Autor wie Wolfgang Hildesheimer, der die Schreibkrise zunehmend radikalisiert, indem er sie wörtlich fasst, stößt in dieser Zeit auf Unverständnis, in der Öffentlichkeit wie unter Kollegen.104 Auch dort, wo die Rede vom Ende der Literatur Konjunktur feiert – Signum ist das legendäre Kursbuch vom November 68 – scheint der tatsächliche Schreibstopp aus der Welt zu sein. Daran ändert sich auch in den 80er Jahren wenig, wo die Formel vom Tod der Literatur im Zuge eines apokalyptischen Tons in der Öffentlichkeit wiederkehrt. Bildet der Realismus die Reflexionsfolie der Krise, so stellt der Ästhetikdiskurs zugleich die Frage nach dem Zustand der Gesellschaft. Pointiert gewendet: Was sich als ästhetische Debatte ausgibt, formuliert sich letztlich als ideologische Auseinandersetzung über die Verfassung der Gesellschaft. Darauf verweist Christoph Menke: Der Streit um das richtige Verständnis des Realismus »ist ein Streit um das richtige Verständnis vor allem des Zustands einer Gesellschaft, weniger des Geschehens in der Literatur«.105 Der Realismus dient als Projektionsfläche, um die ästhetisch-politischen Fragen zu positionieren: Inwiefern lässt sich die Gesellschaft als ganze literarisch bzw. ästhetisch (noch) abbilden, und inwiefern erlaubt es diese Repräsentationsleistung kritisch Position zur Gesellschaft zu beziehen? Die Diskussionen werden in der bestimmten soziohistorischen Konstellation allerdings mit dem Blick auf die Gesellschaft, weniger auf die konkrete Literatur, die produziert wird, angegangen. Exemplarisch zeigt sich diese Überlagerung eines politischen und ideologischen mit einem ästhetischen Diskurs wiederum in der Auseinandersetzung zwischen Adorno und Lukács. Diskreditiert Lukács die Avantgarde pauschal aufgrund ihres ›Realitätsverlusts‹, der in einer »Weltlosigkeit der Darstellung«106 resultiert, so deutet Adorno den Avantgardismus – in einer polemischen
103 Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Neuwied u.a. 1968, S. 18. 104 Vgl. Stephan Braese: »›... as some of us have experienced it‹. Wolfgang Hildesheimers ›The End of Fiction‹«, in: ders. u.a. (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur, S. 331-349, S. 336 ff. 105 Christoph Menke: »Der Stand des Streits«, in: H.-D. König (Hg.), Neue Versuche Becketts Endspiel zu verstehen, Frankfurt a.M. 1996, S. 63-92, S. 63. 106 Georg Lukács: Wider den missverstandenen Realismus, Hamburg 1958, S. 31.
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Wendung gegen Lukács – als ›wahren‹ Realismus. Adornos Bürge ist Beckett: »Beckett ist realistischer als die sozialistischen Realisten, welche durch ihr Prinzip die Wirklichkeit verfälschen.« (ÄT 477) Dabei nimmt Becketts Steigerung des Realismus, ausgehend von seinem »antirealistische[n] Moment« (NL 43), letztlich aber eine Negation des Realismus vor. »Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten.« (NL 43, Herv. i.O.) Christoph Menke spricht hier von einem »Realismus zweiter Stufe«,107 der sein Abbild nicht, wie bei Lukács, am Bild einer kommenden sozialistischen Gesellschaft nimmt, sondern vielmehr das retardierende Moment hervorkehrt, im Blick auf das, was in der gegenwärtigen Gesellschaft in einer katastrophisch gedeuteten Permanenz fehl gelaufen ist. ›Realistisch‹ ist die Kunst in Bezug auf ihren Gegenstand, der bei beiden Theoretikern jedoch ein anderer bzw. ein anders gedeuteter ist. Adorno spricht der zeitgenössischen Literatur ihre Bedeutung demnach dort zu, wo sie die Konventionen, aber zugleich auch ihre gesellschaftsfunktionale Integration, negiert. Wo der herkömmliche Realismus »die Fassade reproduziert« (NL 43), gilt es nun, den Schein zu durchstoßen und den allgemeinen »Verblendungszusammenhang« (Adorno) offen zu legen. Trotz allem dient der Realismusbegriff auch Adorno als Maßstab, um die Kunst hinsichtlich jener Strategien zu beschreiben, die die Kategorien von Sinn und Sprache destruieren. Die Krise des Romans lässt sich soweit als Problematik präzisieren, ob (und wie) ein realistisches Schreiben ›noch‹ angemessen ist. Die Frage nach der Möglichkeit der Kunst speist sich dabei nach wie vor aus einem Kunstverständnis wie es sich im 18. Jahrhundert bildet: »[W]er künstlerische Werke schreibt, adressiert sie an alle und an niemanden, ist gebunden an die subjektive Formulierung individueller Welterfahrung und -deutung und gestaltet gerade dadurch allgemeine ›Wahrheit‹. Um an dem universellen Anspruch festhalten zu können, radikalisiert die Moderne noch die Subjektivität des Kunstwerks.«108
107 Menke: »Der Stand des Streits«, S. 65. 108 Hans Gerd Winter: »Das ›Ende der Literatur‹ und die Ansätze zu operativer Literatur«, in: L. Fischer (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 10. Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München u.a. 1986, S. 299-317, S. 299.
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Dass der Anspruch der idealistischen Ästhetik nicht nur in seiner Radikalisierung, sondern mit Adorno schließlich auch in seiner Negation nach wie vor aufrecht erhalten werden kann, verrät, welche immensen Hoffnungen an die Kunst gebunden sind. Möglich ist dieser Schritt, weil die Kunst und Literatur sich im 18. Jahrhundert als eigenständiges System ausdifferenziert.109 Auch in der Konzentration auf den Roman beerbt die Erzählkrise in diesem Zusammenhang die Ästhetik des 18. Jahrhunderts: »Das bis dahin verkümmerte Ansehen der Gattung steigt plötzlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts wie in einer Fieberkurve auf den Höchstwert. In keiner Zeit vorher und nachher wurde dem Roman so viel zugemutet, zugeschrieben an äußerer Wirksamkeit und Magie wie von seiten der Frühromantiker.«110 Wo die Kunst zum »Statthalter einer besseren Praxis als der heute herrschenden wird« (ÄT 26), ohne diese Funktion jedoch länger emphatisch-affirmativ vertreten zu können, bewahrt sie ihren Anspruch bei Adorno auch in der Schutzhülle der Negation auf, um so »vielleicht zu überwintern« (NL 293). Die (idealistische) Ästhetik vermengt sich in den Krisendebatten als Ideologie des Ästhetischen demnach mit politischen Positionen. Selbst dort, wo die ästhetischen Kategorien aufgerufen werden, um verabschiedet zu werden, zehren sie nach wie vor von ihrem Erbe. Im Zusammenhang der Realismusdebatten ist nicht zuletzt der Gattungsbegriff einzuführen. Zwar wiederholen sich mit diesem zunächst einige bereits aufgezeigte Positionen, weil auch der Gattungsbegriff an den des Realismus anschließt. Trotz allem kommt der Gattung als Kategorie eine diskursstiftende Bedeutung zu. So wird die Figur des Erzählers, wie im Kontext der Erzähltheorie angemerkt, allgemein in Bezug zur Gattung bestimmt. Insbesondere ist der Gattungsbegriff hier jedoch aufgrund seiner geschichtsphilosophischen Auslegung signifikant, der es Theoretikern wie Lukács, Benjamin oder Adorno erlaubt, Roman und Erzähler überhaupt als paradigmatische Größen zu verhandeln, an denen sich geschichtsträchtige Verläufe und Brüche ablesen lassen. Aber auch hier wird der Gattungsbegriff, abhängig vom geschichtsphilosophischen Überbau, in Rückkopplung zum Realismus unterschiedlich instrumentalisiert. Adorno rückt mit dem Realismus-
109 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989, S. 280ff. 110 Hildebrand: Theorie des Romans, S. 142.
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begriff maßgeblich das bürgerliche Subjekt ins Zentrum des Romans, um im Rückschluss die Gattung als Spiegel der bürgerlichen Realität zu lesen. Maßstab ist dabei »[d]as in sich kontinuierliche und artikulierte Leben, das die Haltung des Erzählers einzig gestattet« (NL 42). Die Begriffskonstellation von Gattung, Realismus und Erzähler lässt sich jedoch auch anders arrangieren. Die Gegenüberstellung von Adorno und Benjamin dient dazu, zwei unterschiedliche Konzeptionen des Erzählers anhand dieses Begriffsgefüges zu skizzieren. Der Erzähler bei Benjamin und Adorno Benjamins Aufsatz über Nikolas Lesskow gibt als prominente Referenz im Krisendiskurs des Erzählers Aufschluss darüber, wie weit sich die Pole in der Relation von Gattung und Erzähler spannen lassen. Benjamin datiert den »Tod des Erzählers« auf das »Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit«,111 also ungefähr um 1600. Definiert sich der Begriff des Erzählers über die Gattung, so basiert Benjamins Gattungsbegriff primär auf der Differenz von mündlicher und schriftlicher Erzählung, mit der Vorrangstellung des Epos, das sich aus einer mündlichen Tradition ableitet. Der Roman stellt aufgrund seiner Produktions- und Rezeptionsbedingungen sowie seiner Zeitstruktur bereits eine ›Verfallsform‹ dar. Der »Buchdruck ist der Sündenfall«,112 der mit der Vereinsamung und dem »Verstummen des inneren Menschen«113 einhergeht. Zwar gestalten sich die gattungsgeschichtlichen Übergänge fließend, Benjamin bindet die Figur des Erzählers jedoch klar an das »mündlich Tradierbare«,114 so wie er insgesamt die »epische Kleinform wie Märchen, Anekdote, Gleichnis oder Kalendergeschichte«115 bevorzugt. Diese Position ist nur bedingt anachronistisch, denn es geht Benjamin sehr wohl darum – wie bereits in seiner Auseinandersetzung mit Döblins Montageroman Berlin Alexanderplatz –
111 Walter Benjamin: »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders., GS (= Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/ H. Schweppenhäuser) Bd. II.2, Frankfurt a.M. 1991, S. 438-465, S. 442. 112 Christoph Bode: Der Roman, Tübingen, Basel, 2005, S. 308. 113 Walter Benjamin: »Krisis des Romans«, in: ders., GS Bd. III, Frankfurt a.M. 1991, S. 230-236, S. 231. 114 Ebd., S. 230. 115 Alexander Honold: »Nachwort«, in: ders. (Hg.), Walter Benjamin. Erzählen, Frankfurt a.M. 2007, S. 303-342, S. 315.
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das vormoderne Konzept des Erzählers an modernen Erzählformen (wie der Montage) zu prüfen. In diesem Punkt kommt er mit Autoren wie Alfred Döblin oder Robert Musil, aber auch mit Lukács in der Theorie des Romans insofern überein, als dass auch sie die »Krisis des Romans« in Bezug zum Epischen als großen einheitsstiftenden Weltentwurf problematisieren. Wie diesen Autoren geht es demnach auch Benjamin letztlich um »neue, sehr epische Möglichkeiten«,116 eine Frage, die sich in Reaktion auf die allgemeine Krisendiagnostik der Jahrhundertwende formuliert. Die Krise des Romans referiert in dieser Situation kurz gefasst den Verlust des Epischen. Charakteristisch findet sich bei Benjamin, was auf die Rede vom Ende des Erzählers allgemein zutrifft: Wo nicht mehr – episch – erzählt werden kann, dispensiert sich automatisch die Kategorie des Erzählers. Das Ende des Erzählers leitet sich demnach hierarchisch aus der Krise der Erzählung ab. Diese Konsequenz – und auch das liest sich präzise bei Benjamin ab – ist die Folge eines gesamtgesellschaftlichen sozialen und medienbedingten Wandels. Speisen sich die ästhetischen Reflexionen aus der geschichtsphilosophischen Deutung über die Verfasstheit von Gesellschaft und Medien, so werden die ästhetischen Phänomene zugleich als Seismograph gesellschaftlicher Erschütterungen gelesen. Für das Ende des Erzählers gilt somit, dass er sowohl ein Symptom als auch eine signifikante Reflexionsfigur des gesellschaftlichen Wandels darstellt. Konkret ist über die Figur des Erzählers damit freilich noch immer wenig ausgesagt. Trotz allem taucht hier ein ebenso allgemeiner wie bedeutsamer Befund auf, der sich erhärtet: Der Erzähler definiert sich über seine Rolle als Vermittler. Anders als in der Narratologie bestimmt Benjamin den Erzähler aber über seine textimmanente und textexterne Vermittlungsfunktion. Benjamin und Adorno sind hier gleichermaßen von Lukács 1916 verfasster Theorie des Romans beeindruckt, als spekulativem, geschichtsphilosophischem Entwurf, der die geistige Befindlichkeit der Gesellschaft am Stand der literarischen Gattungen abliest. Beide Theoretiker kommen jedoch zu höchst differenten Positionen. Benjamin geht mit dem Erzähler von einer mündlichen Vermittlung aus. Misst Benjamin der Erzählung eine starke gemeinschaftsstiftende Funktion zu, so fasst er seinen erzähltheoretischen Vermittlungsbegriff ebenso konkret wie pragmatisch. In der Funktion »Erfahrungen
116 Benjamin: »Krisis des Romans«, S. 232.
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auszutauschen«117 bringt der Erzähler mit der Kunde ferner Länder globales Wissen zurück in die Heimat. Der narrative Transfer dient der Weitergabe von Rat und Weisheit. Das Paradigma der Erzählung, das Wissen in Form von Weisheit birgt, ist das Märchen: »Der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen. Wo guter Rat teuer war, wußte das Märchen ihn.«118 Die Erzählung definiert sich dabei über ihre Merkfähigkeit und Mitteilbarkeit: »Geschichten erzählen ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen.«119 Die Funktion von Erzähler und Erzählung dient hier der Implementierung von Tradition als narrativer Textur, die das Gemeinwesen der Menschen garantiert. Der Erzähler »stiftet das Netz«120 ebenso wie er in einem komplexen Gewebe von Vermittlungen steht. Neben einer konservativen Leistung geht es dabei um die integrative Funktion, das Leben als Einheit zu begreifen. Des Erzählers »Begabung ist: sein Leben, seine Würde: sein ganzes Leben erzählen zu können«. »Ein Leben übrigens, das nicht nur die eigene Erfahrung, sondern nicht wenig von fremder in sich schließt. Dem Erzähler fügt sich auch das, was er vom Hörensagen vernommen hat, seinem Eigensten bei.«121 Was sich bei Benjamin aus einem vormodernen Verständnis speist, geht über den Begriff der Epik jedoch konstitutiv in die monumentalen Romane der (Spät-)Moderne ein. Die Romane von Thomas Mann oder Musil, aber auch von Döblin, Joyce oder Proust arbeiten sich explizit an einer solchen integrativen Konzeption ab, die sich nicht weniger zum Ziel setzt, als die Gesellschaft im Gesamten darzustellen und zu synthetisieren, vermittelt durch die Erfahrung eines Individuums: »The great European novel of the early twentieth century – Proust, Mann, Musil – was able to weave together myth and history, psychological insight and social commentary, ethics and politics, satire and spirituality, comedy and tragedy, realist narrative and a fantasia of the unconscious. As such, it offered to bring together the various domains – aesthetics, politics, ethics, history, psychology, mythology – which modernity itself has split off into so many uncommunicating fragments.«122
117 118 119 120 121 122
Benjamin: »Der Erzähler«, S. 439. Ebd., S. 458. Ebd., S. 446f. Ebd., S. 453. Ebd., S. 463 u. 464. Terry Eagleton: The English Novel, Oxford 2005, S. 336.
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Zwar unterziehen bereits Autoren wie Musil den Begriff der Epik einer Kritik, aber das Epische wird allenfalls preisgegeben, um es durch alternative narrative Strategien zu kompensieren. So führt Musil beispielsweise den Begriff des Netzwerks ein, um das Prinzip der Linearität und Kausalität zu ersetzen.123 Das Netzwerk zielt als »unendlich verwobene Fläche«124 nach wie vor auf eine Gesamtschau. Findet sich der Gedanke einer integrativen Leistung auch bei Adorno, so ist das Prinzip im Rahmen der negativen Ästhetik jedoch umgestülpt: Die zeitgemäße Kunst fokussiert das, was nicht mehr möglich ist. Wie Benjamin analysiert auch Adorno den »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman« (NL 41-48) ausgehend von den gesellschaftsbedingten Möglichkeiten des Romans. Hinsichtlich seiner Produktionsbedingung ist der Roman als Gattung zunächst durch den kompetitiven medialen Kontext bedroht: »Der Roman müsste sich auf das konzentrieren, was nicht durch den Bericht abzugelten ist.« (NL 41) Aber auch dort, wo er seine Kompetenzen noch ausspielen könnte, indem er Erfahrungen zu artikulieren und synthetisieren sucht, zerfällt die Erzählung zwischen Extremerfahrungen wie jenen des Kriegs einerseits und den standardisierten Lebensverhältnissen innerhalb der Kulturindustrie andererseits. Bereits der Roman Prousts, der noch einen Innenraum des Individuums zu eröffnen vermochte, war vom Verlust der Vermittlungsfunktion geprägt: Der Innenraum des Subjekts gestaltet sich in Abgrenzung zur Gesellschaft, nicht integrativ. Wo der Erzähler vormals – als moralische Instanz – in »Parteinahme für oder gegen Romanfiguren« (NL 45) in Beziehung zur Erzählung trat und derart eine kommentierende und unterweisende Funktion gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit (und seiner Leser) einnehmen konnte, rückt er mit Autoren wie Proust und Kafka unvermittelt ins Zentrum: »Die neue Parteinahme ist gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst.« (NL 45) »Lügenhaft« ist die Darstellung laut Adorno, weil der Erzähler die Erzählung zwar nochmals bedient, sie als Form aber zugleich diskreditiert. So heißt es etwa im Mann ohne Eigenschaften, dass »öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nichts einem ›Faden‹ mehr
123 Vgl. Kristin Keel: Narrative Negotiations. Information Structures in Literary Fiction, Göttingen 2009, S. 54ff. 124 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek b.H. 2003, S. 156f. u. 650.
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folgt«125 – was Musil aber nicht daran hindert, diese »unerzählerische« Öffentlichkeit trotz allem nochmals narrativ zu vermitteln. Darin liegt demnach die Aporie des modernen Erzählers: »Es lässt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans die Erzählung verlangt.« (NL 41) Nur indem sich der Erzähler unter dem Distanzverlust der ästhetischen Reflexion selber ins Spiel bringt und gegen seine eigene Form vorgeht, vermag er laut Adorno das Projekt des bürgerlichen Romans nochmals fortzusetzen. In dem Maß, wie die Erzählung ihre Legitimation eingebüßt hat, verliert der Erzähler jedoch seine Autorität. Anders als Benjamin, der in dieser Situation auf eine vormoderne Konzeption des Erzählers zurückgreift, mobilisiert Adorno den Erzähler und die Erzählung nun aber gerade in deren Scheitern. »Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert beim Wort genommen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen.« (NL 43) Es ist dieser Moment, der die strukturelle Aporie von Erzähler und Roman zur produktiven Ausgangsposition erklärt, der sich für die Analyse der Autoren Bernhard, Sebald und Kertész als fruchtbar erweist. Wie der Legitimationsverlust die Instanz des Erzählers und die Form der Erzählung im Einzelnen affiziert, gilt es im Folgenden im Detail aufzuzeigen.
125 Ebd., S. 650.
2. Negationen des Erzählers Auf meine Rolle in der Geschichte reduziert, bin ich ebenso verkannt wie ich betrügerisch war, als ich in meinem Bewusstsein erschien.1
»Der Krieg und ich sind einander in einer drastischen Weise begegnet, die zugleich hart an das Komische grenzt«2 – so schildert der Hypochonder Zeno Cosini auf den letzten Seiten von Italo Svevos gleichnamigem Roman den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er ist mit seiner Frau aus der Kur nach Lucinico, Triest, zurückgekehrt, nimmt am Morgen sein Karlsbader Salz ein, um sich anschließend auf seinen »gewohnten kleinen Spaziergang vor dem Frühstück zu machen«.3 Auf dem zweistündigen Fußmarsch, der ganz im Zeichen seiner Gesundheitsobsession steht – er probiert sich im Gehen an der »Lungengymnastik nach der Methode Niemeyer«,4 – wird er unversehens vom Ausbruch des Kriegs überrascht und gerät hinter die Frontlinie. Mit der zunehmenden Gewissheit, dass der Krieg tatsächlich Triest erreicht hat, steigt die Nervosität: »Ich beschleunigte meine Schritte, um endlich zu meinem Kaffee zu kommen.«5 Doch an den Militärposten führt kein Weg vorbei. Der Rückweg zu Frau und Frühstückstisch ist ver-
1 2 3 4 5
Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg u.a. 1987, S. 368. Italo Svevo: Zeno Cosini, Reinbek b.H. 2007, S. 562. Ebd., S. 562. Ebd., S. 564. Ebd., S. 566.
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sperrt: »Ich hatte verstanden. Es war nicht leicht, auf den Kaffee zu verzichten, von dem ich kaum einen halben Kilometer entfernt war.«6 Svevo vermag den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht nur in ein persönliches Verhältnis zum Protagonisten zu setzen (»Der Krieg und ich«), sondern in der Psychopathologie von Zenos Alltagsleben stellt der Krieg nicht mehr als eine Irritation in einer langen Kette von Reizen dar, die das nervöse Seelenleben des neurotischen Bürgers der Jahrhundertwende plagen. Kaum mehr als die letzten 15 Seiten des knapp 600 Seiten starken Textes handeln vom Ersten Weltkrieg. Ohne Weiteres fügt sich auch dieses Ereignis in den psychotherapeutischen Diskurs des Romans ein. Nachdrücklich sieht sich Zeno durch die körperliche Herausforderung, die der Krieg mit der erzwungenen Ausdehnung des Spaziergangs an seinen Körper stellt, in seiner neuen Diätiktheorie bestätigt: Der Hunger ist gesundheitsfördernd, weil er die Herztätigkeit anregt, die wiederum ein Wohlbefinden auslöst, »welches den ganzen Organismus durchstrahlt. Meine Theorie sollte sich noch am selben Tag bewähren. Ich wurde gezwungen zu hungern, was mir außerordentlich gut tat.«7 So lautet das persönliche Fazit Zenos zum Advent des Ersten Weltkriegs in Triest. Wenig mehr als drei Jahrzehnte später, im frühen Sommer 1944, wird ein Budapester Junge auf ähnlich überraschende Weise vom Kriegsgeschehen eingeholt. »Am nächsten Tag passierte mir eine kuriose Geschichte. Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe mich wie immer auf den Weg zur Arbeit gemacht« (RES 47), erzählt der Protagonist Gyuri Köves in Kertész’ Roman eines Schicksallosen. Der 15-jährige Junge wird nach einem Putschversuch der Gendarmerie unerwartet im Bus zur Arbeit aufgegriffen.8 Auch hier gerät zunächst nur die Alltagsroutine eines Einzelnen aus dem Ruder. »Ich wußte auf einmal gar nicht mehr, wo mir der Kopf stand, und ich erinnere mich nur daran, dass ich die ganze Zeit fast auch ein bißchen lachen musste.« (RES 67) Nachdem der Einbruch in die Alltagsordnung mit Humor genommen wird, muss auch er gegen Abend an die verpasste Mahlzeit zu Hause denken, und »das Gesicht meiner Stiefmutter, wenn sie heute Abend merken würde, dass sie mit dem Abendessen umsonst auf mich wartete« (RES 67). Kurz darauf steht Köves jedoch auf der Rampe in Auschwitz – und nichts wird mehr sein wie zuvor. Obwohl 6 7 8
Ebd., S. 569. Ebd., S. 562. Zur historischen Situation vgl. DK 9f.
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sich auch hier die anfängliche Szene zunächst ebenso geschmeidig wie ironisch in den Fluss der Erzählung fügt. Schließlich eine dritte Episode im Nachkriegsdeutschland: Diesmal reflektiert ein lyrisches Ich seine Geburt am Ausgang des Zweiten Weltkriegs, scheinbar völlig unversehrt »am Nordrand der Alpen, wie mir heut scheint, / aufgewachsen ohne einen Begriff der Zerstörung« (NN 76). Die Irritation resultiert in Sebalds autobiografisch kaum kaschiertem Gedicht Nach der Natur nicht aus der Konfrontation zwischen Krieg und Individuum, sondern aus dem Fehlen dieser Kollision. Gerade dass der Autor ohne ein Zeichen der unmittelbar zurückliegenden Destruktionsgeschichte aufwachsen konnte, bereitet nachträglich Unbehagen. Die Schürfwunden des Kindes, die schließlich zum Signum der ›Katastrophe‹ für das lyrische Ich werden, kehren die Verlegenheit aber nur hervor – die Leser lassen sich jedenfalls kaum darüber hinweg täuschen, dass die Assoziation zwischen den Schürfwunden und der »lautlosen Katastrophe«, die in diesem Kontext auf den Zweiten Weltkrieg referiert, kaum trägt: »[D]aß ich vielfach auf der Straße gestürzt / und mit einbandagierten Händen oft im Fenster / bei den Fuchsienstauden gesessen bin, / auf das Nachlassen der Schmerzen gewartet / und stundenlang nichts als hinausgeschaut habe, / brachte mich früh auf die Vorstellung / von einer lautlosen Katastrophe, die sich / ohne viel Aufhebens vor dem Betrachter vollzieht.« (NN 76f., Herv. P.S.)
Die drei Episoden, die durch radikale zeitgeschichtliche Zäsuren und sozialpolitische Situationen getrennt sind, reflektieren allesamt den irritierenden Moment der Interpolation zwischen dem Individuum und einem kollektiven Geschehen als traumatischer Zeitgeschichte. Gemeinsam ist diesen Szenen, dass sie das Missverhältnis von Geschichte und persönlichem Erleben artikulieren. Dieses Phänomen, dass das »Räderwerk der Geschichte« (UH 157) das bürgerliche Subjekt entfremdet, sowohl in seiner gesellschaftlichen Einbindung als auch sich selbst gegenüber, ist vertraut. Liefert das Trauma den Begriff für den Schock, der das Bewusstsein des Einzelnen sprengt – sei es die Erfahrung des modernen Großstadtlebens oder später die Materialschlacht des Ersten Weltkriegs –, so gerät das Individuum als Träger geschichtlichen, narrativen Sinns spätestens im Ausgang des 19. Jahrhunderts zunehmend in Verdacht.
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Mit der Gegenüberstellung der Szenen soll nicht die Erwartung geweckt werden, dass hier der soziohistorische oder ästhetische Verlauf eines Krisenphänomens nach gezeichnet wird – trotz der Irritation, die gerade auch die Kontinuitäten innerhalb der literarischen Darstellungen aufwerfen. Auch wenn der Roman eines Schicksallosen zweifelsfrei mit einer düstereren Note schließt als Svevos Zeno Cosini, so sind neben den Differenzen insbesondere auch die Gemeinsamkeiten – vor allem in formalästhetischer Hinsicht – frappierend. Die Gegenüberstellung deutet an, dass die Ich-Erzählung in ihrer Vermittlung von Individuum und Geschichte an ihre Grenzen gerät. Der Mangel dessen, was die subjektive Perspektive ausblendet, ist in dieser Hinsicht ebenso aussagekräftig, wie die Momente, die in die Darstellung mit eingehen. Wie das Beispiel Sebalds nahe legt, ist aber auch die Nachgeschichte gleichermaßen von der kollektiven Zerstörungsgeschichte und der Frage nach den Spuren, die sie hinterlässt, affiziert. Die traumatische Leerstelle, die den Bruch zwischen der individuellen Erfahrung und der kollektiven ›Katastrophe‹ markiert, wird in Sebalds Prosagedicht schließlich durch das (mittelalterliche) Tafelgemälde Lot und seine Töchter (1537) von Albrecht Altdorfer überbrückt, das nachträglich das Anschauungsbild liefert, um die biografische und historische Lücke zu kitten: »[E]in furchtbares Feuer [lodert] /, das eine große Stadt verdirbt / [...] Im Mittelpunkt ist ein Stück / grüne idyllische Landschaft/ [...] Als ich dieses Gemälde / [...] zum ersten Mal sah, / war es mir, seltsamerweise, / als hätte ich all das / zuvor schon einmal gesehen / und wenig später hätte ich / bei einem Gang über / die Friedensbrücke fast / den Verstand verloren.« (NN 74)
Wo die Alltagssprache versagt, füllt nun die anachronistische Bildersprache, die mit der Malerei das Alte Testament zitiert, den Graben zwischen Individuum und traumatischer Geschichte.9 Wie bei Svevo und Kertész steht letztlich auch bei Sebald nicht die Historizität des Ereignisses zur Diskussion, sondern die erkenntnistheoretische Leistung der literarischen Repräsentation, die sich in den genannten Beispielen nach wie vor im Horizont des Individuums voll-
9
Vgl. auch Kertész, der darüber sinniert, ob es nicht wieder einer biblischen Sprache bedürfe, um die Nach-Auschwitz Realität zu schildern (GT 35).
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zieht. Die Literatur gerät dort ins Wanken, wo sie die Schrecken des kollektiven Geschehens nicht mehr zu taxieren vermag. Charakteristisch für die Zäsur ›nach Auschwitz‹ scheint der Umstand, dass die Geschichte und damit die Erfahrung als Ganze zur Disposition steht. Die »tradierten Mittel der Ästhetik« (LL 67) erweisen sich in der Folge als unzulänglich. Aber nicht nur die sprachlichen und formalen Grenzen der Literatur rücken derart in den Blick, vielmehr steht ihre Struktur und Leistung an sich auf dem Prüfstand. »An ›Literatur‹, an Fiktion glaube ich immer weniger« (GT 35), schreibt Kertész. Ähnlich lapidar formuliert Sebald: »story, character, plot – that’s not my style« und bestätigt damit, was er an anderer Stelle vermerkt: dass die »Beschreibung der Katastrophe«, »dort wo sie Gültigkeit beanspruchen kann, notwendig die dem bürgerlichen Weltbild verpflichtete Form romanhafter Fiktion durchbricht« (CS 88). Nicht zuletzt diskreditiert Bernhards Protagonist Karl in Ungenach »den ganzen Romanunsinn, der im neunzehnten und im halben zwanzigsten Jahrhundert geschrieben worden ist« (U 56), um sich genau jener Zäsur der Nachkriegsliteratur zu bedienen, die mit den Wendungen vom Ende der Literatur nach 1945 bereits zitiert wurden. Ausgehend von diesem skizzierten Problemhorizont erörtert dieses Kapitel, wie die Autoren sich und ihr Schreiben zeithistorisch und gesellschaftsfunktional jeweils selbst verorten, d.h. wie die Autoren eine »reflexive Vergegenwärtigung des eigenen Standorts aus dem Horizont der Geschichte im ganzen« (Habermas) leisten. Die Ausgangssituation gestaltet sich hierbei für alle drei Autoren vorab dilemmatisch: Die Geschichte stellt einen determinierenden Destruktionszusammenhang dar, in den der Erzähler und die Erzählung unwillkürlich eingebunden sind. Zugleich entzieht sich die Geschichte aber als Ermöglichungsgrund der Erzählung aufgrund ihrer (traumatischen) Struktur dem narrativen Zugriff und verhindert derart, dass der Erzähler produktiv an diese anknüpfen kann. Von dem problematischen Rückbezug ist aber unwillkürlich die Fortschreibung der Geschichte betroffen. Das Erzählen vollzieht sich in dieser Situation – so der geführte Nachweis – aporetisch. Die einzelnen Positionen und Begründungszusammenhänge der aporetischen Konstellationen gilt es im Folgenden aufzuzeigen.
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2.1 B ERNHARD – D IE S USPENSION DES E RZÄHLERS Die Geschichte stellt sich bei Bernhard durchgängig als degenerativer und destruktiver Prozess dar. Mit derselben Vehemenz, mit der die Geschichte als »furchterregende Last« (U 9) erlebt wird, verliert sie ihren Wert als sinn- und ordnungsstiftende Kategorie. »Die Endzeit«, kommentiert Georg Jansen, ist in Bernhards Literatur »zum permanenten Zustand gemacht. Jeder seiner Romane kann als ein Endspiel der Natur, des Intellektuellen, der Zivilisation oder aber des Romans selber gelesen werden.«10 Haben die End- und Untergangsszenarien Bernhards bereits breite Aufmerksamkeit gefunden, so soll es in diesem Kapitel weniger um die geschichtsphilosophischen Theoreme gehen, als vielmehr um die Übermittlungs- und Übertragungsdynamiken, in die die Protagonisten gestellt sind. Programmatisch verhandelt Bernhard die Problematik von Übermittlungs- und Tradierungsprozessen anhand der Erbschafts- und »Nachfolgefrage« (A 505). Bei allen formalen und inhaltlichen Entwicklungen der Prosa kehrt die Erbschaftsthematik in zahlreichen Varianten vom Früh- bis zum Spätwerk wieder und gewinnt somit an exemplarischem Stellenwert für das Gesamtwerk.11 Dabei stellt der Erbschaftsantritt formal eine Zäsur dar, an der die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten der (Familien-)Geschichte und deren narrativer Vermittlung akut wird. Allgemein lässt sich der Genealogiebegriff, der mit der Erbschaftsthematik zum Tragen kommt, in zwei Richtungen funktionalisieren. Zum einen ist er retrospektiv ausgerichtet, um die Tradition und den Sinn eines Geschichtsverlaufs auszustellen, zum anderen prospektiv, als generierende Funktion.12 Die gestörten Erbschaftsfolgen, die Bernhard beschreibt, affizieren beide Momente. In dem Maß, wie die Ge-
10 Georg Jansen: Prinzip und Prozess Auslöschung. Intertextuelle Destruktion und Konstitution des Romans bei Thomas Bernhard, Würzburg 2005, S. 10. 11 Das gilt explizit für Amras, Frost (mit Einschränkungen), Verstörung, Ungenach, Das Kalkwerk, Watten, Korrektur, Auslöschung, Der Untergeher, Alte Meister. 12 Vgl. Sigrid Weigel: »Generation, Genealogie, Geschlecht. Zur Geschichte des Generationenkonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts«, in: L. Musner/G. Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung-Praxis-Positionen, Freiburg 2003, S. 161-190, S. 163.
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nealogie rückwendend keine Kontinuität mehr stiftet, sondern mit einem zerstörten Erbe nur noch allgemein einen Zerfall attestiert, verliert sie unwillkürlich auch ihr generatives und zukunftserschließendes Potential. Pointiert formuliert: Wo die Erbschaftsverhältnisse keine Kontinuität mehr stiften und die Genealogie einen destruktiven Zusammenhang darstellt, zerbricht der Tradierungsprozess als Familien- und als Kollektivgeschichte. Anhand der Erbschaftsproblematik lässt sich zugleich konkretisieren, wie die Geschichte mit der Narration verknüpft und wie die Erzählung als Übertragungs- und Tradierungsprozess gedacht wird. Mit der Frage nach den Vermittlungsprozessen, rückt aber nicht zuletzt die Figur des Erzählers – in seiner dilemmatischen Vermittlungsfunktion – in den Blick. Tödliche Erbschaftsfolgen Bevor die Dynamik der Nachfolgefrage konkret anhand eines Textes analysiert wird, ist vorab auf den allgemeinen Stellenwert der Erbschaftsthematik bei Bernhard zu verweisen. Typischerweise geht es um ein materielles Erbe, das in den Besitz eines Sohnes fällt. In diesem ereignishaften Moment bündelt sich eine Problemlage, die auf unterschiedliche Art und Weise das Verhältnis von Kontinuität und Nachfolge aufwirft. Marcus Hahn differenziert drei verschiedene Strategien der Söhne, mit dem materiellen Erbe zu verfahren: Erstens der vollständige Entzug vom Erbe, zweitens im Entzugsmodus mit dem Erbe zu leben, beispielsweise indem das Erbe finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht, sowie drittens die Umwandlung der Erbschaft in Gegenprojekte, wie die Abschenkung des Erbes in Ungenach und Auslöschung oder der utopische Kegelbau in Korrektur.13 Das materielle Erbe ist aber in keinem dieser Fälle vom ›geistigen‹ Erbe zu trennen, d.h. die Verweigerung der Söhne, das Erbe anzutreten, leitet sich explizit aus der gestörten Identifizierung mit der Vergangenheit ab. Nicht als materielles, rechtliches Problem ist die Nachfolge demnach konflikthaft, sondern weil sie das Individuum in eine negative symbolische Ordnung einschreibt. Als symbolische Ordnung nimmt sich das Erbe ausschließlich destruktiv aus, übt aber gerade aufgrund seiner Dysfunktionalität eine negative Wirkmacht aus, die die Nachkommen
13 Vgl. Marcus Hahn: Geschichte und Epigonen. 19. Jahrhundert/Postmoderne, Stifter/Bernhard, Freiburg i.B. 2003, S. 240.
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affiziert und in vielerlei Hinsicht determiniert. Die Familiengeschichte lässt sich dabei als kleinste funktionelle Einheit der Gesellschaft lesen, die als »Agentur der Gesellschaft«14 auf die kollektiven, sozialen Strukturen referiert. So steht etwa der Familiensitz Wolfsegg in Auslöschung explizit im Bezugsverhältnis mit der Sozialgeschichte Österreichs und dem Kontinuitätsbegehren der Tätergeneration.15 Gemeinsam ist den Nachkommen, dass sie das Erbe als todbringende Hypothek wahrnehmen, das spätestens mit der Nachfolgefrage eine veritable Krise auslöst. Die Befreiung von Eltern und Tradition wird somit zum erklärten Ziel der Söhne. In Beton heißt es: »[J]edes Elternerbe [ist] todbringend und wer die Kraft dazu habe, solle diese ererbten Elternhäuser- und Elternerben so schnell er kann, abstoßen und sich von ihnen befreien, denn sie schnüren nur seinen Hals zu und verhindern in jedem Fall seine Entfaltung.«16 Bei allen unterschiedlichen Strategien, mit dem Erbe zu verfahren, misslingen die Befreiungsschläge jedoch in der Regel. Die Nachkommen bleiben den »Herkunftskomplexen« mit deren patriarchalischen Strukturen verhaftet. Was genealogisch als Gewalt erfahren wird, setzt sich als Destruktions- und Selbstdestruktionsspirale im Sozialisationsprozess der Erben fort.17 Besonders die dissidenten Nachkommen, wie Robert in Ungenach oder Murau in Auslöschung, streiten in diesem Kontext jede sinnund kohärenzstiftende Leistung von Geschichte und Erzählungen ab. Von besonderem Interesse ist diesbezüglich, dass diese Negation der (Familien-)Geschichte ihre Entsprechung in der Negation der Erzählung findet. Der Moment des Antritts und der Verwaltung des Erbes lässt sich dabei in auffallend vielen Prosatexten Bernhards als Krisenmoment identifizieren, der den Erzählprozess initiiert. Dies ist auch im
14 Jürgen Habermas: Struktur und Wandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1990, S. 111. 15 Vgl. Robert Menasse: Die Sozialpartnerschaftliche Ästhetik, Wien 1996, S. 109: Menasse argumentiert, dass Bernhards Romane »von einer realen historischen Gewordenheit weder tangiert [werden], noch zeigen sie sich an realen historischen Ereignissen interessiert«. In der Forschung herrscht trotz unterschiedlicher Wertungen inzwischen hingegen weitgehend Konsens über den historischen und politischen Gehalt von Bernhards Prosa. 16 Thomas Bernhard: Beton, Frankfurt a.M. 1988, S. 121. 17 Vgl. Robert Menasse: Land ohne Eigenschaften, Frankfurt a.M. 1995, S. 73: »Katastrophale Kontinuitäten und Wiederholungszwang – das heißt in Österreich Tradition.«
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frühen Text Ungenach (1968) der Fall,18 der einleitend dazu dient, den Problemkomplex der Erbschaftsfolgen bei Bernhard darzulegen. »Geschichtemacher, Geschichtebetrüger« Ungenach beschreibt die Auflösung der Familie Zoiss samt deren feudalem Anwesen Ungenach. Zeichnet sich der Zerfall aus langer Hand ab, so versammelt der Text nur noch zusammenhangslose, disparate Fragmente der Familiengeschichte. Zu Beginn kehrt der in die USA emigrierte Robert Zoiss zur Beerdigung seines Vaters in die Heimat zurück und sucht als »Universalerbe« (U 212) umgehend die »Auflösung, Abschenkung usf.« (U 8) des Erbes in die Wege zu leiten: »[D]en Notar Moro aufzusuchen [...], dem ich meine Absicht, Ungenach, das durch den plötzlichen Tod meines Vormunds und die ein Jahr vorher bekannt gewordene Ermordung Karls gänzlich auf mich übergegangen ist, folglich juristisch wie praktisch, oder vielmehr praktisch wie juristisch, alles, was mit Ungenach zusammenhängt, aufzugeben, abzuschenken [...], weil mir Ungenach außer einer furchterregenden Last nichts mehr ist.« (U 8f.)
Nachdem Robert die Beerdigung in Gmunden verpasst, sucht er den Familiennotar auf und fährt anschließend direkt zu seinem Onkel Zumbusch nach Chur, wo er den schriftlichen Nachlass des in Afrika ermordeten Halbbruders Karl sichtet und sich an die Niederschrift des (vorliegenden) Textes macht. Besteht der erste Teil mit der Niederschrift aus einem Protokoll des Notargesprächs mit Moro, so setzt sich der zweite Teil aus disparaten Notizen, Briefen und Aphorismen aus Karls Nachlass zusammen, die alle unter der Herausgeberschaft Roberts veröffentlicht werden. Zunächst verweist der Notar Moro auf den Nexus zwischen der Familiengeschichte Zoiss und der Geschichtsschreibung als allgemeiner. Nächtelang studiert der Notar die »Papiere« der Familie Zoiss. Ist »die Entschlüsselung aller dieser Zusammenhänge, ihre Familie betref-
18 Die Prosatexte Bernhards werden häufig in drei Schaffensphasen gegliedert. Ungenach wird mit Amras, Frost und Verstörung (1967) einer ersten Phase zugerechnet. Watten (1969) markiert den Eintritt in eine zweite Werkphase, dessen Abschluss Korrektur (1975) bildet, bevor die autobiografischen Schriften 1975 eine dritte Phase einleiten. Vgl. Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard, Stuttgart u.a. 1995, S. 29.
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fend« (U 14) sein Ziel, so kommt er zu folgendem Schluss: »[D]ie Zoiss haben tatsächlich Geschichte gemacht, diese Geschichte gemacht [...] die Geschichte des ganzen Landes, dieser im Grunde vollkommen unübersichtlichen Landschaft, Bevölkerung usf....«; »aus diesen Papieren, mehreren Tausenden, ist alles herauszulesen, diese Geschichte.« (U 15f.) Zwar sind Moros Aussagen nur bedingt glaubwürdig, trotz allem liefern sie ein Indiz, dass die Familiengeschichte den Mikrokosmos bildet, der die gesellschaftlich-geschichtlichen Strukturen (zumindest aus der Sicht der Protagonisten) spiegelt. Ausgehend von diesem Befund skizziert der Text mit den Protagonisten Robert, Karl und Moro drei exemplarische Positionen, die darin übereinkommen, dass eine narrative Bewältigung oder Fortführung der Vergangenheit nicht mehr gegeben ist (Karl und Moro) oder explizit ausgeschlossen wird (Robert). Zuerst zu Karl: Karl versucht den Kreis der Familie zu verlassen, um ein anthropologisches, geschichtsphilosophisches Verständnis der Menschheitsgeschichte zu gewinnen. Das wissenschaftliche Interesse geht mit der existenziellen Suche eines biografischen Neubeginns einher. Ohne Zukunftsperspektive in Europa erklärt Karl: »Afrika ist meine einzige Existenzmöglichkeit.« (U 46) Das Auswanderungsland gibt bereits Auskunft darüber, dass Karl mit Afrika einem Ursprungsmythos auf der Spur ist. Dementsprechend beschäftigt er sich mit der Schedelschen Weltgeschichte und Studien zu »Erbänderungen« (U 73), dem »Teritärmenschen«, dem »Pekingmenschen« und der »ganze[n] Fossilienkunde« (U 75). Das ambitionierte Vorhaben, eine Ursprungsgeschichte zu rekonstruieren, kommt jedoch nicht über die »Konfusion der Zusammenhänge« (U 86) hinaus. »Angesichts der Komplexität der Geschichte muss der wissenschaftliche Totalitätsanspruch des ›alles erforschen‹ zu einer endlosen Sichtung der Vergangenheit führen. Dieses aberwitzige Unterfangen endet bei Karl jedoch damit, dass er sich unrettbar in der Geschichte verliert, wobei sich seine paläontologischen Studien schon wie eine Satire auf den Historismus lesen.«19 Karls Scheitern reflektiert jedoch nicht nur den Historismus, wie Helms-Derfert nahe legt, sondern liest sich ebenso schlüssig als ironischer Kommentar zur »Anthropologie als Gegenwartsphilosophie«, wie sie in der Nachkriegszeit der 50er und 60er Jahre an
19 Hermann Helms-Derfert: Die Last der Geschichte. Interpretationen zur Prosa Thomas Bernhards, Köln u.a. 1996, S. 83.
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Bedeutung gewinnt.20 Wie Aleida Assmann anmerkt, ist diese Hinwendung zur Anthropologie in der Nachkriegszeit zeithistorisch bedingt: »Die traumatische Erfahrung einer katastrophisch beschleunigten Geschichte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gebannt durch einen anthropologischen Diskurs. [...] Das Programm dieses anthropologischen Diskurses war eine bewusste ›Entspannung durch Enthistorisierung‹.«21 Die Anthropologie erlaubt es, eine (moralische) Konfrontation mit der unmittelbaren Vergangenheit zu umgehen, indem sie als unmittelbare Zeitgeschichte still gestellt wird. Mit Hilfe eines Ursprungsmythos soll die traumatische Geschichte derart neutralisiert werden. Lässt sich Karls Geschichtsinteresse aufschlussreich in dieser Beziehung lesen, so äußert sich in der Emigration zugleich das Begehren, einen neuen, ›unbelasteten‹ Boden zu betreten. Beide Substitutionsbewegungen scheitern jedoch: sowohl die Rekonstruktion einer Ursprungsgeschichte als auch der biografische Neubeginn. Mündet der Versuch der Selbstverortung in der Desorientierung, so endet der existenzielle Neubeginn im Mord. Damit misslingt aber das Projekt, die biografische Geschichte in eine übergeordnete, anthropologisch fundierte Geschichte einzuschreiben oder die Biografie durch die Anthropologie zu ersetzen. An die Stelle von Wissen und Mythos treten Irritation und Chaos, die jede kontinuitäts- und sinnstiftende Ordnung als Bedingung der Erzählung destruieren: »Geschichte. Verständnislosigkeit« (U 91), urteilt Karl. Die Geschichte dient nicht länger als Rahmen der Biografie oder Erzählung. Entgegen dem kompensatorischen Bemühen Karls, vertritt Robert eine progressive Position. Der Chemieprofessor ist der jüngere, erfolgreichere der beiden Brüder. Während Karl sich dem Andenken seines Vaters noch verpflichtet fühlt, versucht Robert einen radikalen Schnitt zur familiären Herkunft zu setzen. Allein die Wahl der USA zeugt von einem progressiven Geschichtsverständnis, das, gemäß dem amerikanischen Mythos, in der neuen Welt die Möglichkeit der Selbsterfindung, unabhängig von der Herkunft, verspricht (zumal Robert im Wes-
20 Mit Max Scheler und Helmut Plessner gewinnt die Anthropologie bereits seit Ende der 20er Jahre an Bedeutung; dominant wird sie in den 50er Jahren von Arnold Gehlen vertreten. 21 Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit der deutschen Vergangenheit nach 1945, Stuttgart 1999, S.105 (in der Fußnote).
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ten, in Stanford, angestellt ist). Darüber hinaus gestaltet sich die Abschenkung als revolutionäres Projekt. So referiert zumindest Moro Roberts Vorhaben: »[W]ir machen diese Revolution, sagen sie, [...] weil wir heute in einer Periode leben, in welcher wieder Revolution gemacht werden muß, aus dem Gedanken, sagen sie, machen wir eine Wirklichkeit.« (U 22) Revolutionär ist das Vorhaben nicht nur, weil es eine Veränderung der Erbschaftslogik initiiert, sondern auch in sozialpolitischer Hinsicht überschreibt Robert den feudalen Familienbesitz an die angestammten Pächter und Bewohner der Liegenschaft. Die neuen Besitzverhältnisse werden ohne Rücksicht auf die sozialen Stellungen der Betroffenen festgelegt. Auffällig sind vielmehr die Randpositionen der Anwärter, unter denen sich zahlreiche Straffällige, Sonderlinge und psychisch Kranke befinden (vgl. U 36-41). Robert gibt die Geschichte Ungenachs, die an den Familiennamen Zoiss gebunden war, damit einer Dispersion preis. Wenn Moro von der Abschenkung als Vernichtung spricht, trifft der Befund insofern zu, als dass die ›Kollektivgeschichte‹ Ungenach mit der Entäußerung und Zersplitterung des Familienerbes in eine Vielzahl von unzusammenhängenden Einzelschicksalen und -geschichten zerfällt. Steht mit Robert zum einen die Möglichkeit der individuellen Handlungsfreiheit zur Disposition, so rekurriert er in seinem Vorgehen jedoch explizit auf keinen Geschichts- oder Erinnerungsdiskurs. Vielmehr ist auch hier die Geschichte den rein amtlichen Regularien einer materiellen, testamentarischen Überschreibung gewichen. Was in seinem marxistischen Gestus und in der Konsequenz revolutionär sein mag, entspringt letztlich aber nur dem ›Protokoll‹ eines aktenkundigen Schriftverkehrs. »Wegen der festgehaltenen Merkmale, die sich größtenteils aus ihrer pragmatisch-lebensweltlichen Funktion und dem sie umgebenden institutionell definierten Kommunikationszusammenhang ergeben, lassen Testamente im Regelfall, was insbesondere die Textkonstruktion betrifft, [...] relativ wenig Raum für die Individualität des jeweiligen Verfassers.«22
Allein die Artikulation des Willens, wie mit dem Erbe verfahren werden soll, lässt im Testament Raum, um eine ›Autorintention‹ zu formu-
22 Imre Kurdi: Reden über den Tod hinaus. Untersuchungen zum ›literarischen‹ Testament, Frankfurt a.M. 2007, S. 37.
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lieren.23 Der scharfe Schnitt mit der Herkunftsgeschichte folgt damit aber keinem geschichtlichen oder narrativen Denken, sondern im Zentrum steht das testamentarische Anliegen der Überschreibung. Scheitert Karl in seinen Selbstvermittlungsversuchen (mit seinen Notizen und Briefen), so strebt der Testator Robert eine solche gar nicht erst an. Im amtlichen Schriftverkehr nimmt das Subjekt nur die Funktion innerhalb eines bürokratischen Verfahrens ein. So disparat die Familiengeschichte endet, so scheidet die Vermittlung des biografischen Subjekts Robert mit der protokollarischen Aufzeichnung von vornherein aus. Neben den Ansätzen der Brüder, die sich beide von der Herkunftsgeschichte zu lösen suchen, ein Mal regressiv, das andere Mal progressiv, vertritt Moro als dritter ein konservatives, reaktionäres Geschichtsverständnis. Besonders Roberts zielstrebiges Vorgehen entlarvt in der Konfrontation mit Moro dessen fatalistischen Reaktionismus. Subtrahiert man die metaphysischen bzw. naturalistischen Überhöhungen von Moros Monolog, so liest sich seine Metaphorik zunächst analog zur Konzeption des Posthistoire als rasendem Stillstand: »[...] hasten ganze Geschichtsepochen einfach durch, unter Umständen, wie wir sehen, ganze halbe, ja ganze ganze Jahrhunderte kopflos [...] wir sind Geschwindigkeitsfanatiker, darin schöpferisch [...] laborieren in Geschwindigkeitsfiebern.« (U 9f.) Letztlich erweist sich die Bewegung jedoch als Stillstand und Kristallisation: »[G]eschlossene Eiskästen, sogenannte Erdteilekühlschränke [...], in welchen die Vergangenheit wie die Zukunft auf die Dauer hineingestellt sind.« (U 19) Ähnlich wie im Posthistoire tritt auch hier anstelle einer linearen Zeitstruktur eine »antagonistische Doppelbewegung von Beschleunigung und Verlangsamung«.24 Die Kältemetaphorik schreibt die Geschichte in eine ebenso vage wie überdeterminierte Endzeitvision ein.25 Zwar verlieren Moros Aussagen entgegen dem Posthistoire jede diagnostische Urteilskraft dort, wo sie in naturgeschichtliche und metaphysische Verläufe eingespannt werden. Die Erfahrung einer absoluten Gegenwart, auf-
23 Das dem Protokoll eingefügte Testament enthält nur eine Liste der beteiligten Personen und von Robert angefügte biografische Notizen zu den einzelnen Anwärtern. 24 Dietmar Kamper: »Nach der Moderne. Umrisse einer Ästhetik des Posthistoire«, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Würzburg 1988. S. 163-174, S. 168. 25 Vgl. Helmut Lethen: »Geschichten zur ›kristallinen Zeit‹«, in: D. Kamper/ C. Wulf (Hg.), Die sterbende Zeit, Darmstadt u.a. 1987, S. 83-99.
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grund einer auf Dauer gestellten Geschichte, formuliert sich trotz allem analog.26 Ebenso wenig wie die Vergangenheit zu bewältigen ist, lässt sich eine Zukunft erschließen. »Wir handeln«, äußert Moro, »und verändern, ohne handeln und verändern zu können [...] ein Feinmechanismus von Elementarteilchen eines absurden Größenwahnsinns.« (U 10) Wird die Geschichte in ihrem aufklärerischen Sinn als »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont«27 mit diesem Urteil storniert, so wendet sich Moro aber im gleichen Atemzug gegen eine potentielle Veränderung der Verhältnisse, wie sie mit Roberts Abschenkung droht. Der Klage, dass sich nichts verändern lässt, steht die Angst vor jeglicher Veränderung gegenüber: »Wo wir hinhören, Umstürzlerstimmen, wenn wir die Zeitungen aufmachen etc., von Umsturz.« (U 16) Helms-Derferts These scheint plausibel, dass Moros Diskurs (mit diesem Zitat) als Ausdruck von Revolutionsängsten im Kontext der politischen Situation Ende der 60er Jahre zu lesen sei.28 Lassen sich die widersprüchlichen Aussagen Moros letztlich nicht vereinen, so gewinnt der Monolog seine Spannung jedoch weniger aufgrund seines Inhalts, als vielmehr vermöge seiner formalen Struktur und Rhetorik. Für Moros Diskurs gilt, was Karl von seinem Vater erinnert: Dem ›Wie‹ der Rede kommt mehr Bedeutung zu als dem ›Was‹. »[A]ber nicht was er gesprochen hat, das höre ich nicht mehr, immer nur wie, aber nicht was.« (U 57, Herv. i.O.) Folgt man mit dem Wie der rhetorischen Dimension, so erweist sich Moros Diskurs letztlich als tautologisch. Der Verweis von Bernhard Sorg auf die lateinische Wurzel von Moro – mors = Tod – ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich.29 Die Assoziation zum Tod lässt sich nicht nur auf die negative, historische Zeiterfahrung übertragen, sondern auch seine Redeweise entlarvt Moro als ›lebenden Toten‹. Zum einen entpuppt er sich lediglich als Sprachrohr unterschiedlicher Stimmen, maßgeblich des verstorbenen »Vormunds« (U 8). Zum anderen sperrt er sich aber mit seiner Rhetorik gegen jede tatsächliche Konfrontation mit der Vergangenheit und damit zugleich gegen jegliche regenerativen Momente. Das wird beispielsweise deutlich, wenn sich Moro durch rhetorische Winkelzüge gegen Roberts »revolutionäres« Vorhaben sperrt: »Die
26 Vgl. Regine Meyer-Arlt: Nach dem Ende. Posthistoire und die Dramen Thomas Bernhards, Hildesheim u.a. 1997. 27 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1989, S. 264. 28 Vgl. Helms-Derfert: Die Last der Geschichte, S. 70. 29 Vgl. Bernhard Sorg: Thomas Bernhard, München 1977, S. 123.
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Verwirklichung [...] ist ja die Zerstörung der Verwirklichung« (U 21f.), argumentiert Moro. Mit der Aussage streitet er aber nicht nur die Möglichkeit einer qualitativen Veränderung ab; indem die Verwirklichung mit der Zerstörung der Verwirklichung gleichgesetzt wird, ist aus dem Denken der Begriff des Werdens an sich verbannt. »Gehen und Denken, diese Gleichzeitigkeit« (U 26) beinhaltet kein Fortkommen mehr. Jede Erscheinung figuriert in Moros Rede nur als Phänomen eines längst Dagewesenen. Vor aller inhaltlichen Einlassung sperrt sich sein Diskurs aufgrund seiner Struktur gegen Neues – und selbst diese Einsicht geht, ohne dass eine Konsequenz daraus gezogen würde, in Moros’ Monolog ein: »Unser Kopf das logische Produkt einer Tautologie.« (U 10) Irritierend ist das Eingeständnis als eine Form des Denkens, das seinen Bezug zur Realität verloren hat und sich damit zugleich gegen jede Kritik zu immunisieren weiß. Gebärdet sich Moro als Anwalt des Todes, so ist seine Rede als Diskursform aufschlussreich. Sein Diskurs zeugt von einer negativen Zeiterfahrung, die jegliche traditionellen Kategorien geschichtlichen Denkens – Freiheit, Handlung, Fortschritt etc. – negiert hat. Es verwundert daher nicht, dass laut Moro »alles vorausgedruckt« (U 12) ist. Eine Diskreditierung der Geschichte als Produkt der »Geschichtemacher, Geschichtebetrüger, Geschichtswechselbetrüger« (U 13, Herv. i.O.) verliert aus dieser Perspektive ihren kritischen Gehalt. Die politischen Systeme erweisen sich für Moro als Oberflächenphänomen eines immergleichen Naturprozesses. Helms-Derfert stellt Moros Rede deshalb in Abrede: »Der frappierende Widerspruch zwischen politischem Bewusstsein und philosophischer Attitüde demaskiert den inneren Tod des Notars. Zwar vertritt Moro durchaus Positionen, die denen Thomas Bernhards recht nahe stehen, aber eine ironische Distanz des Autors wird schon in der Namensgebung – mors (lat.) = der Tod – erfahrbar.«30 Legt man das Augenmerk jedoch auf die rhetorische Form der Rede, nicht den Inhalt, dann nimmt nicht nur die Namensgebung eine ironische Distanzierung vor, sondern die Selbstdistanzierung ist bereits in der Konstruktion eines Denkens angelegt, das sich selbst als Tautologie ausweist. Kritisch reflektiert wird diese Geisteshaltung ferner in der Figurenkonstellation von Moro, Karl und Robert. Anders als die Brüder, die auf eine »Erbänderung« der Geschichte drängen, verwehrt sich Moro kategorisch der Möglichkeit einer Veränderung. Zwischen
30 Helms-Derfert: Die Last der Geschichte, S. 71.
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der rückwärtig gewandten, anthropologisch-existenzialistischen Ausrichtung Karls und der amtlich-formalen Zukunftsausrichtung Roberts, ist Moro innerhalb einer übermächtigen Gegenwart paralysiert. Die Beschwörung der Vergangenheit lässt sich in dieser Situation als Kompensation diffuser Zukunftsängste lesen. Irritierend an dieser Figurenkonstellation ist, was für Bernhards Werk insgesamt gilt: Zwischen den Protagonisten findet keinerlei produktive Kommunikation oder Interaktion statt. Auch das legt nahe, dass es Bernhard weniger um inhaltlich-diskursive Aussagen der Protagonisten im Einzelnen geht, als vielmehr um die Konstellation unterschiedlicher Denk- und Diskursformen, die gegeneinander gestellt werden. Differenzieren sich die Protagonisten durch die typischen Positionen, so kommen sie darin überein, dass die Möglichkeit eines funktionalen geschichtlichen Denkens verabschiedet wird. Amtliche Schriftsätze: Protokoll und Nachlass Seine Stärke gewinnt der Text letztlich aber, weil er die Negation geschichtlichen Denkens in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart formal umsetzt. Das Scheitern (Karls und Moros) sowie die Verweigerung (Roberts) auf geschichtliche Kategorien zu rekurrieren, ist in Schriftsätze eingeschrieben, die das literarische Schreiben in formalisierte und institutionalisierte Schriftformen transferiert hat. Die Schriftformen, die Bernhard mit »Notizen« (U 7), »Papieren« (U 14), »Akten, Grundbuchauszüge[n] usf. mit [...] Listen, Aufstellungen und Berechnungen« (U 12), sowie allgemein der Aufzeichnung, dem Protokoll und dem Nachlass aufruft, gehören allesamt einem amtlichen Diskurs an. Mit Horst Belke lässt sich diesbezüglich von »Gebrauchstexten« sprechen, deren Operations- und Kommunikationsweise »einerseits vom Gegenstand, vom Zweck, andererseits vom Adressaten«31 bestimmt wird. Der Funktionszusammenhang der Gebrauchstexte unterminiert nicht nur die Autorinstanz und -intention, die kennzeichnend für literarische Texte sind, sondern die Gebrauchstexte unterscheiden sich auch inhaltlich und formal von literarischen. 31 Horst Belke: »Gebrauchstexte«, in: H.L. Arnold/V. Sinemus (Hg.), Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd.1, München 1973, S. 320341, S. 323. Zur inzwischen datierten Debatte des ›Kanzeleistils‹ bei Bernhard, vgl. Franz Eyckeler: Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards, Berlin 1995, S. 115ff.
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In Ungenach wird das Schreiben in diesem Zusammenhang selbst dort vom aktenkundigen Schriftverkehr bestimmt, wo mit den Notizen und Briefen als »Papiere[n] Karls« (U 45) Fragmente personalisierter Schrifttypen versammelt werden. Denn diese werden dem Protokoll Roberts als Dokumente lediglich angefügt. Indem der Erzähler als Nachlassverwalter auftritt, wird der gesamte Text der Logik der Akten als entpersonalisiertem Modus unterworfen. »Algorithmisch wie Akten sind, verdanken sie ihre Entstehung also nicht etwa Autoren. Akten sind im Unterschied zu Büchern und anderen Schrifterzeugnissen ›prozessgeneriert‹, wie die Archivwissenschaft es nennt.«32 Das Schreiben Roberts wird als testamentarisches m.a.W. inhaltlich und formal »durch Voraussetzungen bestimmt, die das Amt ihm vorschrieb«.33 Wo die Leser sich im Skript eines Textes befinden, der einem geregelten Verfahren folgt, liegt damit aber vorab die Vermutung nahe, dass die verhandelten Begriffe des Romans mit den Kategorien von Geschichte und Subjekt innerhalb der amtlichen ›Schriftsätze‹ nur noch Leerformeln sein können. Zwar erfahren diese Textsorten mit der Transposition in die Literatur zweifelsfrei eine kategoriale Umschreibung. Allein der Untertitel der »Erzählung« weist darauf hin, dass das institutionalisierte Schreiben mit der literarischen Gattung gegengelesen werden muss. Die amtlichen Schriftsätze legen jedoch nahe, dass ein Erzählen im konventionellen, emphatischen Sinn konterkariert wird. Nicht der vermittelnde Selbstentwurf eines Protagonisten nach dem Schema des Romans, sondern das Protokoll als amtliche, institutionalisierte Schriftform, bildet also das Sediment des Textes.34 Dementsprechend weist auch das Textmaterial, bestehend aus Notizen und Nachlass, kein übergeordnetes Erzählschema mehr auf. Der Suspension eines funktionalen Geschichtsbegriffs in Auseinandersetzung mit der problematischen Herkunftsgeschichte entspricht auf narrativer Ebene die fragmentarische, ateleologische Struktur des Textes. Der erste Satz setzt abrupt mit drei Auslassungspunkten ein: »...« (U 7); er umgeht damit gezielt den thetischen Akt eines Anfangs, wie ihn konventionell die Erzählung setzt. Allein der datierte Tod des Vaters (bzw. dessen Beerdigung) markiert gemäß dem protokollarischen Kon-
32 Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000, S. 23. 33 Vgl. Franz Kafka: Amtliche Schriften, Frankfurt a.M. 2004, S. 11. 34 Den Hinweis, dass Bernhards Schreiben im Kontext institutionalisierter Schriftformen zu verstehen ist, verdanke ich Juliane Vogel.
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zept eine Zäsur innerhalb eines ungeordneten Geschehens, um die sich die nachfolgenden, durch den ›Einbruch‹ des Todes provozierten Handlungen, nun ungeordnet gruppieren. Die für Bernhard durchaus typische, auf den Tod einsetzende Suade, übernimmt in Ungenach Moro. Dieser narrative Einsatz erweist sich nun einmal mehr als Vollzug eines institutionalisierten Prozesses. Robert geht ohne jegliches Zögern zur amtlichen Handlung über und initiiert die Abschenkung, die es schriftlich umzusetzen und demnach zu dokumentieren gilt.35 Der Tod markiert in Ungenach keinen Einbruch in eine bestehende Ordnung, sondern offenbart im Vollzug der geregelten Prozesse lediglich die vorherrschende Krise. Amtliche Formalitäten und existenzielle Fragen schließen sich dabei nicht aus, im Gegenteil.36 Trotz allem ist es auch vor diesem Hintergrund bezeichnend, dass der Text keinen Versuch unternimmt, die Aussagen und Handlungen nachträglich durch eine Erzählstruktur einzuholen und zu ordnen. Dieser Verzicht einer narrativen Ordnung spiegelt sich signifikant im Einzug einer lokalisierbaren Erzählinstanz. Der ›Ich-Erzähler‹ Robert tritt (nach seinen einleitenden Bemerkungen auf den ersten zweieinhalb Seiten) nur als Protokollant und Nachlassverwalter in Erscheinung; ansonsten taucht er nur zitiert in den Diskursen von Moro und Karl auf, jedoch ohne eine vermittelnde oder intervenierende Funktion wahrzunehmen.37 Durch die Zwischenschaltung der weiteren Instanzen von Moro und Karl wird der Verzicht einer Vermittlungsleistung besonders deutlich. Der »Versionenwiderspruch«38 in Karls Nachlass, der zwei unterschiedliche Todesdaten des Vaters angibt, erst 1963 (U 72), dann 1965 (U 88),39 wird vom Er-
35 Nur an einzelnen Stellen greift Robert als mittelnder Erzähler ein und referiert beispielsweise das Eintreten einer der beiden Sekretärinnen während der Unterredung mit dem Notar (U 12, 31). 36 Vgl. Kurdi: Reden über den Tod hinaus, S. 37. 37 Zwei Stellen, an denen Robert als Mittler interveniert, steigern nur die Irritation, der (ansonsten) unterlassenen Interventionen. So merkt Robert an, dass Moro anstatt vom Mord davon spricht, dass Karl »ausgeschieden« (U 12) sei; anstelle »Strafanstalt Stein« sagt Moro »Hirsamgut« (U 32); diese Differenzierungen Roberts muten innerhalb von Moros Tirade in ihrer arbiträren Selektion unverständlich bzw. willkürlich an. 38 Vgl. Margarete Kohlenbach: Das Ende der Vollkommenheit. Zum Verständnis von Thomas Bernhards »Korrektur«, Tübingen 1986, S. 63f. 39 Auf den Widerspruch macht auch Helms-Derfert aufmerksam. Vgl. Helms-Derfert: Die Last der Geschichte, S. 73.
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zähler weder kommentiert noch korrigiert. Auch erfahren die hoch erratischen Diskurse von Moro und Karl – selbst dort, wo sie als Kommentatoren und Vermittler Roberts auftreten – keine Intervention. Allenfalls wird der Eintritt der Sekretärin notiert (U 12, 31). Aber auch dieser Eingriff liest sich letztlich nur als protokollarischer Vermerk. Was gemessen an einer Erzählung als mangelnde Vermittlungsleistung eines Erzählers irritiert, liest sich somit schlüssig als amtliche Schriftform. Die für Bernhard typische gestaffelte Erzählsituation40 unterliegt in Ungenach damit gleichfalls einer Logik des Protokolls. Indem Bernhard den Erzähler durch den Protokollanten ersetzt, wird nicht nur die Textkonstellation in ihrer Gesamtstruktur destabilisiert – Bernhard stellt ferner die Suspension der Erzählinstanz offensiv aus. Diese Suspension des Erzählers verhandelt der Text nicht zuletzt metaphorisch, indem er von einer »abwesenden Anwesenheit« Roberts spricht. Einprägsam findet sich dieses Bild einer abwesenden Anwesenheit, wenn Onkel Zumbusch die Beerdigungszeremonie, die Robert verpasst, folgendermaßen wiedergibt: »Alle Augen seien, naturgemäß, sagte Zumbusch, während der ganzen Zeit, auf mich [Robert, P.S.] gerichtet gewesen. Auf den Abwesenden.« (U 92) Was in seiner literalen Bedeutung unsinnig ist, dass die Augen der Gäste auf den abwesenden Robert gerichtet seien, gewinnt als Metapher seinen Gehalt: Durch die Suspension des Erzählers, der nur durch die Rede und das Zitat der Protagonisten ›präsent‹ ist, entzieht Bernhard dem Text sein fokales Zentrum. Die Zentrierung der Blickachsen auf das abwesende Zentrum (Robert) kehrt die Negation des narrativen Fokalpunkts umso deutlicher hervor und führt zur Irritation der Trauergäste respektive der Leser. Ohne die Möglichkeit, das perspektivische Zentrum zu identifizieren, lässt sich der Text aber nicht gemäß narratologischer Verfahrensweisen perspektivieren und strukturieren (vgl. Kapitel 1). Empirisch liest sich der Bericht Zumbuschs in dieser Beziehung anschaulich: Alle Gäste warten auf das Eintreffen des Alleinerben als zentraler Figur der Beerdigungszeremonie. In Erwartung des Ausbleibenden schauen die Anwesenden wiederholt in alle Richtungen (vielleicht kommt er aus einer anderen Richtung, als angenommen, vielleicht hat man ihn nur übersehen etc.). Die Irritation der Gäste ist dadurch gesteigert, dass Robert mit seiner Verspätung unentschuldigt fehlt; man weiß also
40 Vgl. Eva Marquardt: Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards, Tübingen 1990, S. 40.
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nicht, weshalb er abwesend ist, ob intendiert oder nicht. Die Zeremonie nimmt zwar ihren Verlauf, aufgrund der rituellen Ordnung lässt sie sich auch ohne die Zentralfigur abspielen. Trotz allem bleibt die Hauptfigur gerade in ihrem Fehlen als Irritation bestimmend. (Und das in einem entscheidenden Sinn nicht zu unrecht, denn Robert bespricht zeitgleich die »Auslöschung« Ungenachs.) Die Erzählposition destabilisiert Bernhard also in zweierlei Hinsicht: Alle Aktanten kommen nur vermittelt über eine zweite Instanz zur Sprache (Karl und Moro vermittelt durch Robert, Robert hingegen vermittelt durch Karl und Moro). Damit ist eine identifizierbare, synthetisierende Erzählinstanz aufgehoben.41 Seinen radikalen Vollzug erfährt die Suspension der Erzählinstanz zweitens in dem Verzicht auf eine kohärente, synthetisierende Erzählstruktur, die sich konsequent aus der Negation einer zentralen Erzählinstanz ableitet. Die erkenntnistheoretischen Bedingungen dieser Situation, die die Narration und eine Geschichtsschreibung scheitern lassen, spricht Karl aus: »Dazu wäre aber eine dritte Person notwendig, als ein neutrales Gehirn notwendig, die oder das es naturgemäß nicht gibt.« (U 49) Mit der »dritten Person« fehlt jene Instanz, die traditionell der Erzähler einnimmt, um das Geschehen zu organisieren und zu orientieren. Der Mangel der Vermittlungs- und Synthetisierungsleistung spiegelt sich nicht zuletzt im zweiteiligen Textaufbau. Die beiden Teile (Protokoll und Nachlass) stehen unvermittelt nebeneinander. Die Abschnitte beginnen ebenso abrupt mitten im Satz (»...«), wie sie im literalen Sinn ›unvermittelt‹ mit einem Zitat enden. Weder wird der Text durch einen thetischen Akt eingeleitet noch (mit dem Zitat am Ende) abgeschlossen.42 Auf radikale Weise unterläuft Bernhard bereits mit diesen formalen Elementen die Erwartung einer teleologisch strukturierten Narration. Was bleibt, sind lediglich Fragmente, Zitate und Satzbruchstücke.
41 Man darf sich auch keinen virtuosen Autor vorstellen, der, analog zu Benjamins Schachspielautomaten mit einer »Puppe in türkischer Tracht«, die Fäden im Verborgenen letztendlich doch triumphierend in Händen hält und die Kontrolle über seine Figuren garantiert. Vgl. Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., GS Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1978, S. 691-704, S. 693. 42 Allenfalls das (den Vormund zitierende) Schlusswort »Irrsinn« (U 44) aus Teil 1 korrespondiert mit dem Schlusssatz aus Teil 2, dass alles ein »irrationaler Idiotismus« (U 93) sei – belegt damit aber auch inhaltlich, dass die Form zu keinem sinnfälligen Ende kommt.
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Wird die Familiengeschichte zu keinem (identifizierbaren) Ende hin erzählt, so gibt der Nachlass ebenso wenig Aufschluss über die Vorgeschichte, wie er die Möglichkeiten einer Fortführung und Zukunft erschließt. Mit der Destruktion konventioneller Narrationsprinzipien legt Ungenach demnach nahe, dass die Geschichte – und damit auch die Vergangenheit – keine epistemologische und existenzielle Größe (mehr) bildet, um das Subjekt narrativ zu verorten: »[W]ir meinen, das Ganze sei eine Lehre gewesen, und war doch nichts als Unfug« (U 93), resümiert Karl. Dass der Schlag sich gleichermaßen gegen Geschichtskonzeptionen wie gegen die narrative Gattung des Romans richtet, geht aus der bereits anzitierten Notiz Karls hervor, wenn er an seine Lektüre-Erfahrungen erinnert: »[...] [A]n diese Hunderte und Tausende von schlaflosen Nächten habe ich denken müssen, in die ich viel zu viel sinnlose Gedanken hineingestopft habe, in welchen ich den ganzen Romanunsinn, der im neunzehnten und im halben zwanzigsten Jahrhundert geschrieben worden ist, in mich hineingelesen habe, diese unvorstellbar nichtssagenden und nichtsbedeutenden Produktionen.« (U 56)
Mit der Zäsur verortet Bernhard seinen Text präzise innerhalb jener Debatten um den Tod des Romans, wie er in Kapitel 1 im Kontext des deutschen Nachkriegsdiskurses erörtert wurde. Die Anordnung der Protagonisten ergibt sich in Ungenach noch relativ unproblematisch. Das ändert sich mit der Reflexion Bernhards auf die Kontinuitäten von Nationalsozialismus und Katholizismus. Vor allem der unbedarfte Gestus Roberts, der als Testator frei über das Erbe und die (Familien-)Geschichte verfügt, erfährt in Auslöschung Komplikationen. Zwar tritt Murau in Auslöschung ähnlich wie Robert als dissidenter, rebellischer Sohn und »Universalerbe« auf, der eine Abschenkung des Familienerbes einleitet. Die Verstrickungen mit der (Familien-) Geschichte erweisen sich für Murau jedoch als schwieriger, als dass sie durch eine notarielle Überschreibung sowie einen biografischen Neubeginn gelöst werden könnten. Bevor die Sprache auf Auslöschung kommt, lässt sich vorab jedoch Bernhards poetologisches Programm anhand seiner Selbststilisierung als »Geschichtenzerstörer« präzisieren und generalisieren.
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Eine Prosa der Geschichtenzerstörung Mit dem Begriff der Geschichtenzerstörung hat Bernhard eine suggestive Formulierung bereit gestellt, die die Rezeption maßgeblich beeinflusst hat. Dass die Selbstaussagen des Autors jedoch relativ wenig zur Klärung beigetragen haben, bestätigt ein Blick auf die Sekundärliteratur, die unter dem Begriff der Geschichtenzerstörung sämtliche disparaten Phänomene subsumiert.43 Die unvereinbare Diskrepanz der Deutungen lässt sich vor allem auch darauf zurückführen, dass kein Konsens herrscht, wie die Kategorien der Geschichte und Zerstörung zu definieren sind, und wie sie in einem weiteren Schritt die Konvention der Erzählung allgemein, und die Bernhards im Speziellen, betreffen. Um die Aussage deuten zu können, muss aber geklärt werden, wogegen sie sich mit welchen Mitteln richtet. Das hier entwickelte Argument lautet, dass der Begriff der Geschichtenzerstörung sehr wohl Anlass gibt, über eine ›Poetologie‹ Bernhards zu spekulieren. Allerdings liefert sie keinen Schlüssel zur Lektüre der Prosa (indem sie etwa den Nachweis liefert, dass Bernhard mit seiner Prosa tatsächlich eine Geschichtenzerstörung betreibt). Vielmehr sind Bernhards Selbstaussagen als Erweiterung des Werks zu lesen, d.h. dass sie als Selbstinszenierung in gleicher Weise den Gesetzen der Hermeneutik unterliegen wie die Prosa. Der Begriff der Geschichtenzerstörung fällt im Filminterview »Drei Tage« aus dem Sommer 1970, das Bernhard mit dem Regisseur
43 Vgl. u.a. Helms-Derfert: Die Last der Geschichte, S. 68, der von einer »Poetologie des Fragments« spricht. Mariacher nennt ebenfalls den Fragmentcharakter, beschreibt aber zugleich mehrere Phänomene als Geschichtenzerstörung: »Dazu gehört zum Beispiel das Zurücktreten der äußeren Handlung zugunsten der Darstellung von Bewusstseinsvorgängen, die Biographielosigkeit der Figuren, der Fragmentcharakter (vor allem der frühen Erzählungen), die ›Unterhöhlung des epischen Gebots der Gegenständlichkeit‹ und die damit zusammenhängende Mehrdeutigkeit von Schauplätzen und Räumen sowie die Betonung der Künstlichkeit« der Prosa. Barbara Mariacher: »Umspringbilder«. Erzählen – Beobachten – Erinnern, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 170. Vgl. auch: Marquardt: Gegenrichtung, S. 63. Peter Kahrs: Thomas Bernhards frühe Erzählungen. Rhetorische Lektüren, Würzburg 2000, S. 49. Anne Betten, »Thomas Bernhard unter dem linguistischen Seziermesser«, in: M. Huber/W. Schmidt-Dengler (Hg.), Wissenschaft als Finsternis? Jahrbuch der Thomas Bernhard-Privatstiftung, Köln u.a. 2002, S. 181-194, S. 185; Oliver Jahrhaus, »Von Saurau zu Murau«, ebd., S. 65-82, S. 70f.
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Ferry Raddax aufnimmt – eine Zusammenarbeit die kurz darauf im Filmprojekt Der Italiener fortgesetzt wird. Der Autor stimmt der Veröffentlichung des Interviews zwar zu, distanziert sich zugleich aber in der »Notiz« des Nachwortes davon. Das Interview sei nicht nur »in einem Zustand äußerster Irritation« »zufällig und zusammenhanglos« entstanden, sondern, so Bernhard: »Vieles habe ich auf der Bank [...] so und nicht anders gesagt, wenn ich es auch vollkommen anders hätte sagen können.« (I 91, Herv. i.O.) Wenn hier also von einer Poetologie Bernhards die Rede ist, dann spiegelt der Begriff keineswegs den Anspruch des Autors, sondern abstrahiert selektiv von dessen Monolog. Der Passus, aus dem der Begriff stammt, lautet nun: »Ich bin ein Geschichtenzerstörer, ich bin der typische Geschichtenzerstörer. In meiner Arbeit, wenn sich irgendwo Anzeichen einer Geschichte bilden, oder wenn ich nur in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer Geschichte auftauchen sehe, schieße ich sie ab.« (I 83f., Herv. i.O.)
Inszeniert sich der Autor martialisch als Revolverheld, so leitet er die Aussage, dass er »kein Geschichtenerzähler« sei, aus einem Affekt ab, weil er »Geschichten hasse« (I 83). Das Geschichtenerzählen identifiziert er zuvor mit einer heiteren Disposition. Im Anschluss an die zitierte Passage überträgt er den Topos der Zerstörung ferner auf die Struktur von Sätzen: »Es ist auch mit den Sätzen so [wie mit den Geschichten, P.S.], ich hätte fast die Lust, ganze Sätze, die sich möglicherweise bilden könnten, schon im vorhinein abzutöten.« (I 84, Herv. i.O.) Vor allem der letzte Satz stellt hermeneutisch vor Schwierigkeiten. Bildet auch hier ein diffuser, affektiver Moment den agens der Handlung (der Hass hat sich nun in eine »Fast-Lust« gewandelt), so wird dem Schützen das zum Abschuss freigegebene Objekt durch hypothetische Konstruktionen (»möglicherweise«, »im vorhinein«) entzogen, bevor es überhaupt zum tödlichen Schuss kommen könnte. Bereits im Satz zuvor richtete sich der Gewehrlauf des Autors aber allein auf die »Andeutungen einer Geschichte« (I 83), die »in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel« (I 83) auftauchen. Der Schuss erledigt demnach nur nachträglich, was der Prävention entging. Folgt man den Aussagen des Autors, dann positioniert er sich an keinem Schießstand, an dem die Figuren mechanisch vorüberziehen (um so etwa seine Schießkunst unter Beweis zu stellen oder seinen Schießdrang zu stillen), sondern – um im Bild zu bleiben –, er antizipiert die komplette
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Stillstellung der Maschinerie, die automatisch immer wieder Figuren an die Oberfläche befördert. Damit wäre aber weniger das Programm einer schriftstellerischen Schieß- und Vernichtungsarbeit, als vielmehr eine Prosa benannt, die die Geschichte und bestimmte Formen von Sätzen bereits hinter sich gelassen hat. Nun bleibt diese Schreibweise jedoch aus zunächst nicht weiter geklärten Gründen ihrer alten Form verhaftet, so dass der gewaltsame Eingriff notwendig bleibt – und das Nietzsche-Wort bestätigt, dass der »Krieg [...] der Vater der guten Prosa«44 sei. Geschichten und Sätze tauchen immer wieder unwillkürlich auf und die Vermutung liegt nahe, dass diese vertikal gerichtete Bewegung des Auftauchens nicht nur eine Zielscheibe darbietet, sondern dass der anfängliche Hass, der die Geschichtenzerstörung affektiv initiiert, sich gerade gegen diese Form der vertikalen Bewegung richtet. Komplettieren ließe sich der Kampf gegen die Vertikalität durch die Verabschiedung von Totalität, die in der Absage an »ganze Sätze, die sich möglicherweise bilden könnten« artikuliert wird.45 Wenig später heißt es demgemäß: »Es darf nichts Ganzes geben, man muß es zerhauen.« (I 87) Die Konstruktionen von Vertikalität und Totalität verhandelt der Autor bereits wenige Seiten zuvor in einem wesentlich einfacher strukturierten Bild: und zwar in einem an Freud gemahnendes Fort/DaSpiel. Hier werden »Sätze« und »Wörter« »wie ein Spielzeug« übereinander aufgebaut, um sie, kaum hat man »das Ganze« durchschaut, wieder »wie ein Kind […] zusammenzuhauen« (I 80). Bringt man beide Bilder zusammen und liest das Gewehr des »typischen Geschichtenzerstörers« als eine sublimierte Form des infantilen Spiels mit Bauklötzen, dann ist die Organisationsform mit dem fortgeschrittenen Sozialisationsprozess zwar komplexer (analog zur Komplexitätssteigerung von Sätzen zu Geschichten, die sich nicht das Kind, erst der Gewehrschütze vornimmt), die zugrunde liegende Dynamik ist aber nach wie vor identisch: Der Konflikt um den Aufbau und die Konstruktion einer Formtotalität wird kompensatorisch ausgetragen. Entscheidend
44 Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft. KSA 3, Berlin 1999, Nr. 92, S. 448. Bei Nietzsche bezieht sich die Metapher auf den Widerstreit der Prosa mit der Poesie. 45 Zu den Begriffen der Vertikalität und Totalität vgl. Jansen, der davon spricht, dass Bernhards Schreiben den Verlust von »Sinn, Totalität und Form« ausstellt. Vgl. Jansen: Prinzip und Prozess Auslöschung, S. 203. Meine Lesart ist unter Verwendung derselben Begriffe jedoch eine andere.
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ist jedoch, dass der aufgeklärte Autor das Fort/Da-Spiel nicht mehr unbewusst ausagiert; er ist sich der Triebstruktur bewusst und reagiert entsprechend. Die Prosa beschränkt sich also weder auf die Dialektik von Aufbau und Destruktion noch strebt sie deren Sublimation oder Aufhebung an. Vielmehr unterläuft Bernhard die Dialektik von vornherein. Was vertikal aus dem Fluss der Prosa ragt wird ebenso diskreditiert wie eine Struktur, die Totalität impliziert. Der Satz – so kann an dieser Stelle gefolgert werden – bildet dabei als syntaktische und semantische Einheit die operative Basis der Geschichte, beide sind strukturanalog. »Auf einer bestimmten Ebene«, schreibt Roland Barthes, »ist eine Erzählung wie ein Satz. Ein Satz lässt sich im Prinzip endlos katalysieren.«46 Dass der Angriff sich gleichsam gegen Sätze47 wie gegen Geschichten richtet, ist demnach konsequent; beides Mal geht es um die Elimination einer bestimmten syntaktischen und semantischen Organisationsform, die in ihrer vertikalen Ausrichtung auf Signifikanz und in ihrer Form auf Geschlossenheit zielt.48 Verabschiedet Bernhard das Geschichtenerzählen zugunsten einer anderen Schreibweise, so ließe sich das Geschichtenerzählen an dieser Stelle vom Begriff der Prosa differenzieren. Die Prosa wäre die Schreibform, die der Signifikanz, oder genauer, einem letzten Signifikat und damit zugleich einer Totalität der Form entsagt. Es ist in diesem Kontext nicht unerheblich, dass sich Bernhard von der Gattung des Romans explizit distanziert: »Ich habe nie einen Roman geschrieben, sondern einfach mehr oder weniger lange Prosatexte, und ich werde mich hüten, sie als Romane zu bezeichnen, ich weiß nicht, was das Wort bedeutet.«49 Was Derrida für die Schrift und letztlich alle Zeichensysteme geltend macht,50 trifft in besonderem Maß auf Bernhard zu: Indem sich kein letztes Signifikat postulieren lässt, sondern jedes Zeichen in einem unfixierbaren Verweissystem figuriert, ist auch
46 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988, S. 247. 47 Vgl. zur Rolle und Bedeutung des Satzes bei Bernhard auch Kap. 3, S.163ff. 48 Die »Kritik der Höhe« (Kap. 4, S. 291ff.) nimmt dies erneut auf. 49 Thomas Bernhard: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard, hg. v. S. Dreissinger, Weitra 1992, S. 104-113, S. 107 (Herv. P.S.). Das Interview führt Jean-Louis Rambures. 50 Vgl. Jacques Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972, S. 422-442.
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keine Totalität mehr zu haben. Der unendlichen Struktur des Textes bei Derrida entsprechen demnach »mehr oder weniger lange Prosatexte« bei Bernhard, die sich nicht mehr einfach durch einen Gattungsbegriff begrenzen lassen. Wenn Derrida von der Prämisse ausgeht, dass die Zeichen in ihrer metonymischen Verkettung keine starken Vertikalitäten aufbauen (allenfalls dort, wo eine Präsenz simuliert wird) und selbst gattungsspezifische Organisationsformen letztlich keine Differenz markieren, so ergibt sich daraus die Problematik für den Prosaschreiber Bernhard weniger aus dem destruktiven, sondern aus dem konstruktivistischen Moment der Schrift bzw. Dekonstruktion. Spätestens dort, wo die Dekonstruktion produktiv in eine neue Schreibweise überführt werden soll, stellt sich heraus, dass sie sich nicht flach, sondern nach wie vor »hügelig« (in Form von »Prosahügeln«) strukturiert, weil sich unwillkürlich bestimmte Bedeutungen aufbauen; die Sprache kann sich ihres semantischen Gehalts kaum entledigen.51 Die Hügel bergen in ihrer vertikalen Ausrichtung aber stets die Gefahr, dass sich ein Überschuss an signifikanter Bedeutung aufbaut. Wenn der Gewehrlauf des Autors sich präventiv auf aufsteigende Silhouetten und Schatten richtet, dann trägt er nicht zuletzt der Einsicht Derridas Rechnung, dass die Dekonstruktion unwillkürlich ihrem metaphysischen Erbe verschuldet bleibt. Affektiv richtet sich der Gewehrlauf des Autors in dieser Situation – so darf man vermuten – aber nicht zuletzt gegen den unbelehrbaren Blick, den schon Nietzsche so vehement seinen Mitmenschen vorhielt, weil sie hinter der Welt eine zweite vermuten und diese zudem für die Wahre halten. Auch in dieser Hinsicht gilt es demnach den Finger locker auf dem Abzug zu halten, um die aufkeimende Vermutung nach starken Bedeutungen sogleich auszumerzen. Wo die »Andeutungen einer Geschichte« »hinter einem Prosahügel« auftauchen, eliminiert der Geschichtenzerstörer damit aber nicht zuletzt den illusionistischen Tiefenraum, den die Literatur und Fiktion im 19. Jahrhundert traditionell ausmisst.
51 Maurice Blanchot (Das Unzerstörbare, München 1991, S. 91) definiert die Prosa als »kontinuierliche Linie« und bezieht sich damit auf die etymologische Bedeutung des lateinischen Adverbs bzw. Adjektivs prorsum bzw. prorsus (›vorwärts‹, ›geradewegs‹, ›geradeaus gekehrt‹). (Vgl. Karl Ernst Georges: »prorsum/prorsus«, in: H. Georges (Hg.), Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 2. Band, Darmstadt 2003, S. 2021f.) Bernhard verweist im Unterschied dazu auf die Ausschläge in dieser Linie.
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Zwar ist mit dieser Programmatik bisher kaum etwas über die konkrete Form der bernhardschen Prosa ausgesagt. Trotz allem ist ersichtlich, dass sich die Poetologie soweit leicht auf die Lektüre von Ungenach rückwenden lässt – auch dort, wo in Ungenach vor allem die amtlichen Schriftsätze Thema waren. Wie Ungenach zeigt, bildet sich die Prosa über den parasitären Zusammenschluss verschiedener – amtlicher und literarischer – Schriftsätze. Spätestens mit der Transposition der institutionalisierten Schriftformen in die Literatur kehren demnach literarische Erblasten wieder. Ohne an dieser Stelle näher auf die Überlagerung der Diskurse einzugehen, wird auch hier deutlich, warum der Autor zu seinen gewaltsamen Eingriffen genötigt bleibt: Der Text ist auch in seiner Hybridform konventionellen Strukturen von Signifikanz und Totalität verhaftet. Nicht zuletzt ist die protokollarische Schreibweise derart voll von »Andeutungen einer Geschichte«.52 Die Prosa vermag sich ihres Erbes – sei es als Erzählung, sei es als Roman – demnach nicht so leicht zu entledigen: »[M]an [kann] ohne Schwierigkeit die Bewegung eines Negierens erkennen sowie die Ohnmacht, dieses in der Dauer zu verwirklichen; als ob die Literatur, die seit einem Jahrhundert versucht, ihre Oberfläche in eine Form ohne Erbschaft zu verwandeln, nur noch Reinheit finden könnte durch das Fehlen aller Zeichen.«53 Was Barthes an der »Schreibweise im Nullzustand« als Schreibprogramm der Nachkriegszeit diagnostiziert, benennt präzise die Problematik der bernhardschen Poetologie: Die Prosa wird unwillkürlich von ihrem Erbe eingeholt und gefährlich in ihrer Oberflächenstruktur gestört. Kehrt die Erbschaftsthematik in diesem Kontext auf textimmanenter bzw. als Gattungsfrage auf theoretischer Ebene wieder, so verweist der Konnex auf die ebenso banale wie folgenreiche Einsicht, dass der Roman und die Prosa, aber gleichfalls der Begriff der Geschichte in einer Tradition und Erbschaftsfolge stehen. Die zitierte Disqualifikation des Romans in Ungenach reagiert in diesem Kontext kaum zufällig auf die gattungsgeschichtliche Hypothek, ohne zu verbergen, dass der Text von seinem ›Romanerbe‹ zehrt. – Und so tragen nicht nur die
52 Die Übertragung der amtlichen Schreibweise in die Literatur macht natürlich auch rückwirkend deutlich, dass die angeblich neutrale Schreibweise des Protokolls voll von Andeutungen von Geschichten ist – und der Literatur vielleicht oftmals näher steht, als vielleicht vermutet. 53 Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, Literatur oder Geschichte, Kritik und Wahrheit, Frankfurt a.M. 2006, S. 11 (Herv. P.S.).
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Interpreten gerade erneut jene Prämissen an den Text, von denen er sich vehement frei zu sprechen sucht, sondern der Text selbst bleibt dem Roman verhaftet und konstruiert sich letztlich erst durch die gattungsgeschichtlichen Anleihen, die er in seinem Vollzug zugleich wieder zu destruieren sucht. Was einerseits eine »Ohnmacht« (Barthes) darstellt, benennt somit andererseits den produktiven Moment, der nicht nur die Vektoren der Narration strukturiert, sondern dem Schreiber zugleich das notwendige Material an die Hand gibt, um eine Geschichtenzerstörung überhaupt ins Werk setzen zu können. Die Dynamik der Negation findet sich auch in dieser Hinsicht präzise im Ansatz von Derridas Dekonstruktion formuliert: »Das Problem des Status eines Diskurses, der einer Überlieferung [un héritage] die erforderlichen Hilfsmittel [les ressources] entlehnt, die er zur De-konstruktion eben dieser Überlieferung benötigt, muss ausdrücklich und systematisch gestellt werden. Dies ist ein Problem der Ökonomie und Strategie.«54 Die Erbschaftsbeziehungen bilden als negativ konnotierte in dem Moment die Bedingung der Fortschreibung, wo weder die Restitution einer zerstörten Tradition in Frage kommt noch die Substitution von Tradition und Erbe möglich ist. Die Strategie dieser Schreibweise folgt der post-metaphysischen Einsicht, dass die Dekonstruktion sich vom Objekt ihrer Kritik nicht ablösen kann: »Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen.«55 So wie die Dekonstruktion trotz der Kritik an der Metaphysik, deren Postulate und Begriffe sie nicht einfach verlassen oder ersetzen kann (ohne wieder in metaphysische Kategorien zurückzufallen), bleibt auch Bernhard zwangsläufig den Kategorien von Geschichte und Erzählung bzw. dem Roman verhaftet. In Ungenach löst Bernhard diese Problematik, wie dargelegt, durch unterschiedliche Verfahrensweisen, sowohl inhaltlich als auch formal. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist hier insbesondere der Einzug der Erzählinstanz von Interesse. Lässt sich Ungenach als Text der Frühphase noch einer Poetik des Fragments zurechnen, so geht Bernhard Ende der 60er Jahre zu organischen Textorganisationen über, die
54 Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«, S. 427 (Herv. i.O.) (Orig. »La structure, le signe et le jeu«, in: L’Écriture et la Différence, Paris 1967, S. 409-428, S. 414). 55 Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 45.
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folglich andere Ökonomien und Strategien erfordern. Bernhard führt auch in diesen Texten die Poetik der Geschichtenzerstörung mit einer Vielzahl von subtilen Mitteln und Modellen fort und irritiert konventionelle Erzählkonstellationen. In Hinleitung zur Lektüre von Auslöschung in Kapitel 3, soll demnach abschließend die Erzählkonstellation in Auslöschung skizziert werden, die mit einer minimalen Geste der Verdoppelung der Erzählinstanz die Textorganisation diesmal auf andere Art und Weise destabilisiert – und somit die negative Poetik der Geschichtenzerstörung gleichfalls umsetzt und fortführt. Die Verdoppelung des Erzählers: Auslöschung Auslöschung beschreibt die Abrechnung des Aristokraten Franz-Josef Murau mit seinem »Herkunftskomplex«, sowohl als Familien- als auch als Kollektivgeschichte. Zu Beginn des Romans erreicht den WahlRömer Murau das Telegramm vom plötzlichen Tod seiner Angehörigen, den Eltern und dem Bruder. Der erste Teil (»Das Telegramm«) des Romans besteht aus Muraus Reflexionen, während er am Fenster seiner römischen Wohnung steht und die Familienhistorie Revue passieren lässt. Der zweite Teil (»Das Testament«) schildert die Vorbereitungen der Beerdigungszeremonie auf dem Anwesen Wolfsegg, beginnend mit dem Eintreffen Muraus im Geburtshaus. Während Murau die 650 Seiten, die als Auslöschungsbericht »alles auszulöschen versuchen« (A 542), als Ich-Erzähler bestreitet, wird die Erzählsituation durch einen Er-Erzähler, der durch einen Einschub von nur wenigen Wörtern im ersten und letzten Satz des Textes auftaucht, komplettiert. Was als Rahmenkonstruktion eines »anonym verbleibenden Er-Erzählers«56 erscheint, gestaltet sich jedoch komplexer, als auf den ersten Blick ersichtlich sein mag. Als Grundlage für die Analyse zitiere ich zu Beginn den ersten und letzten Satz ausschnitthaft: »Nach der Unterredung mit meinem Schüler Gambetti, mit welchem ich mich am Neunundzwanzigsten auf dem Pincio getroffen habe, schreibt Murau, Franz-Josef, um die Mai Termine für den Unterricht zu vereinbaren [...] erhielt
56 Silke Schlichtmann: Das Erzählprinzip ›Auslöschung‹, Zum Umgang mit Geschichte in Thomas Bernhards Roman »Auslöschung. Ein Zerfall«, Frankfurt a.M. 1996, S. 31.
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ich gegen zwei Uhr mittag das Telegramm, in welchem mir der Tod meiner Eltern und meines Bruders Johannes mitgeteilt wurde.« (A 7, Herv. P.S.)
Nach diesem Anfangssatz endet der Text nach 650 Seiten: »Von Rom aus, wo ich jetzt wieder bin und wo ich diese Auslöschung geschrieben habe, und wo ich bleiben werde, schreibt Murau (geboren 1934 in Wolfsegg, gestorben 1983 in Rom), dankte ich ihm für die Annahme.« (A 651, Herv. P.S.)
Für Silke Schlichtmann birgt die Konstellation als narrative Rahmung keine Probleme. Während der Ich-Erzähler für die Erzählung verantwortlich ist, kommt dem Er-Erzähler die Funktion zu, die Eckdaten zu bestimmen und den Text in pragmatischer Hinsicht einzuleiten und zu beenden. Weil Murau stirbt, bedarf es eines Mittlers, um den Text zu publizieren. Entgegen der pragmatisch-funktionalen Deutung Schlichtmanns, spricht J. J. Long der Vermittlung als Akt der Rettung eine hohe Signifikanz zu. Erst der extradiegetische Erzähler sichert den gefährdeten, narrativen Akt der Übermittlung: »[B]y his act of framing the narrative, he brings it into the public domain.«57 Die Rolle des extradiegetischen Erzählers ist für Long dabei in einer doppelten Funktion signifikant: Nur durch die Autorität des extradiegetischen Erzählers in seiner »absolute, self-sustaining legitimacy« und »noncontextualized authority«58 kann der Bericht des intradiegetischen Erzählers Murau beendet und legitimiert werden. Dies bildet wiederum die Voraussetzung für die Weitergabe der Erzählung, die sich laut Long in Auslöschung dadurch auszeichnet, dass sie zugleich abgeschlossen und offengehalten wird (indem der extradiegetische Erzähler die Leser am Ende in einer rekursiven Schleife zurück an den Anfang führt). Dass dieser Akt der narrativen Vermittlung in seiner Leistung jedoch unklar ist, deutet Georg Jansen an, wenn er hinsichtlich der Herausgeberfiktion anmerkt, dass sie den Text zugleich rettet und auslöscht.
57 J.J. Long: The novels of Thomas Bernhard: Form and its Function, Rochester u.a. 2001, S. 187. Für Long handelt es sich bei der extradiegetischen Instanz demnach explizit um einen Erzähler, keinen Herausgeber. 58 Ebd., S. 185 u. 186.
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Jansen argumentiert, dass Bernhard poetologisch reflektiert und inszeniert, was sich zwischen Kafka und dessen Herausgeber Max Brod tatsächlich ereignet hat: Erst der Eingriff des Herausgebers rettet das Werk, führt aber zugleich das Scheitern des Autors an seinem Werk vor Augen.59 Der editorische Eingriff gestaltet sich ambig, weil er erstens den Autor in seinem Scheitern ideell verrät und sich (damit) zweitens manipulativ ausnimmt. Jansen verweist in diesem Kontext auf die Möglichkeit, dass der Text Auslöschung, der dem Leser vorliegt, mit dem extradiegetischen Herausgeber die Spuren massiver, redigierender Eingriffe trägt.60 Kommt für Long die Erzählung durch die zweite Erzählinstanz nochmals zu einem geglückten Ende, so markiert der (korrigierende) Eingriff des Nachlassverwalters für Jansen die Entstellung des Textes. Dieser gelangt nur durch den gewaltsamen Eingriff des fiktiven Herausgebers zu einem willkürlichen Abschluss. Tatsächlich weist der Text jedoch kein Ende auf.61 Die Dynamik beschreibt nach Jansen kein Epiphänomen, sondern die Poetologie des Romans: das Schreiben als unabschließbaren Prozess. Die Installation des extradiegetischen Erzählers markiert nach dieser Lektüre zugleich die Unverfügbarkeit eines ursprünglichen Textes und die Unabschließbarkeit des nachgelassenen Textmaterials. Folgt man Longs Interpretation, fällt zunächst auf, dass er nicht anzugeben vermag, warum der extradiegetische Erzähler – worauf Oliver Jahrhaus verweist – »nicht, wie z.B. in einer Herausgeberfunktion, abgehoben, sondern als bloße Formel in den Text verwoben«62 ist. Die Satzkonstruktion, die mit dem »intradiegetischen« Erzähler einsetzt und den »extradiegetischen« Erzähler ohne temporale oder syntaktische Markierung mitten im Satz einführt, steht in direktem 59 Die intertextuellen Referenzen, die Jansen geltend macht, um die starke Parallelisierung zu legitimieren, gestalten sich zu vielfältig und komplex, um hier erörtert zu werden. 60 Im Text gibt es einige Hinweise, dass dem Auslöschungsbericht eine Vielzahl von losen Notizen zugrunde liegt. So spricht Murau davon, »daß wir so viele Hunderte und Tausende von Zetteln vollgeschrieben haben über diese Thematik« (A 201); später äußert er: »so bezeichne ich selbst mich auch nach den Hunderten von Schriften, die ich schon versucht und die ich schon verfaßt habe, nicht als Schriftsteller« (A 615). 61 Vgl. in diesem Kontext zur Gattung des Nachlasses Uwe Betz: Polyphone Räume und karnevalisiertes Erbe. Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme, Würzburg 1997, S. 186. 62 Oliver Jahrhaus: »Die Geburt der Kommunikation aus der Unerreichbarkeit des Bewusstseins«, in: A. Honold/M. Joch (Hg.), Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen, Würzburg 1999, S. 31-41, S. 32.
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Widerspruch zu Longs These, dass hier eine absolute, thetische Erzählinstanz eingeführt wird. Dass die Hierarchien zwischen den beiden Erzählinstanzen uneindeutig sind, darauf verweisen ferner Günter Butzer,63 Steffen Vogt64 und Claude Haas. Sie argumentieren, dass »der Text die Hierarchie zwischen seinen Erzählinstanzen sowohl etabliert als auch einreißt«.65 Die Einschreibung der zwei Instanzen in den Text erlaubt es derart nicht, eine Hierarchie zu postulieren. Wenn aber unklar ist, »ob der fiktive Herausgeber Muraus Schrift präsentiert oder ob er selbst nur ein Produkt dieser Schrift ist«,66 eine Ambiguität, die nicht zuletzt durch die Präsensstruktur erzeugt wird, dann lässt sich der murausche Text nicht mehr ohne Weiteres auf einen extradiegetischen Erzähler als übergeordnete Instanz zurückführen. Haas spekuliert sogar, »dass Murau den Herausgeber erfunden haben könnte, um seinen eigenen Tod mitzuteilen«, d.h. »die Mitteilung dieses Todes [muss] [...] diesem Tod vorläufig sein. [...] Den Tod hat es gar nicht gegeben.«67 Haas’ Deutung demonstriert, dass sich die hierarchischen Strukturen beliebig vertauschen lassen, mit der Konsequenz, dass die ›extradiegetische‹ Instanz nahtlos in der ›intradiegetischen‹ aufgeht und vice versa. Die narratologische Terminologie und ihre Hierarchisierungsprinzipien versagen an dieser Stelle. Auf – scheinbar – paradoxe Weise ist es gerade die Einführung einer zusätzlichen Instanz, die zu einer Destabilisierung der gesamten Erzählsituation führt. Diese Verdoppelung der Erzählinstanz – oder mit Derrida gesprochen, die Einführung einer Differenz – am Anfang und Ende des Textes, umgeht den bisherigen Ausführungen zufolge das Problem, thetisch einen Anfang zu setzen. Anfang und Ende bilden keine Fixpunkte (oder perspektivisch gesprochen Fluchtpunkte), sondern gestalten sich ohne auf eine bestimmbare, letzte Instanz zurückgeführt werden zu können aporetisch und ursprungslos. Damit suspendiert Auslöschung eine zentrale, den Text autorisierende und organisierende In-
63 Vgl. Günter Butzer: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1998, S. 248ff. 64 Vgl. Steffen Vogt: Ortsbegehungen. Topographische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards ›Der Italiener‹ und ›Auslöschung‹, Berlin 2002, S. 127. 65 Claude Haas: Arbeit am Abscheu. Zu Thomas Bernhards Prosa, München 2007, S. 209. 66 Vogt: Ortsbegehungen, S. 127. 67 Haas: Arbeit am Abscheu, S. 209.
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stanz: «[M]an ahnt bereits, dass ein Ursprung, dessen Struktur als Signifikant des Signifikanten zu entziffern ist, sich mit seiner eigenen Hervorbringung selbst hinwegrafft und auslöscht.«68 Die dekonstruktivistische Einsicht Derridas, dass das perspektivische Zentrum eines Textes allenfalls durch die Simulation einer Präsenz erzeugt wird, ist dem Text Bernhards strategisch eingeschrieben. Weist Derrida nach, dass der Ursprung nur als Verdoppelung – als Repräsentation einer Repräsentation – zu haben ist, so setzt Bernhard dieses Wissen mit einer minimalen Geste um. Indem er die Erzählinstanz verdoppelt, dispensiert er eine selbstidentische, präsente Instanz, an die der Text zurückgebunden werden könnte. Bereits in dieser Binnenstruktur der Erzählkonstellation nimmt der Text derart eine (erste) Auslöschung vor. Zugleich bleibt er aber gerade aufgrund seiner Erzählkonstellation der Konvention des Romans hörig. Zusammenfassend stellt Muraus Auslöschungsvorhaben die Möglichkeit einer narrativen Vermittlung und Selbstvermittlung infrage, indem mit der anonymen Instanz die Kategorien von Erzähler und Erzählung in ihrer Vermittlungsfunktion zwar nochmals aufgerufen, zugleich aber problematisiert werden. Im Übergang vom Ich- zum ErErzähler ist der Text gerahmt und reiht sich als geschlossener Text nochmals in die Tradition des Romans mit seinem Anliegen der Vermittlung. Liest man den Er-Erzähler jedoch als Verdoppelung der Instanzen, die keine Hierarchisierung mehr zulässt (bzw. nur ein fiktives Produkt des Ich-Erzählers darstellt), schreibt der Text den Roman fort. Die Fortschreibung greift in einer zweifachen Bewegung die Romangattung auf, um sie zugleich zu negieren. Nun hat nicht mehr der Romanerzähler in seiner Vermittlungsleistung, sondern der Prosaschriftsteller das letzte Wort, für den sich der Text unendlich strukturiert. Wäre eine Lesart, dass der (›intradiegetische‹) Erzähler Murau als (›extradiegetischer‹) ›Prosaist‹ überlebt (analog zur These von Haas), so legt die absolute Reduzierung des ›extradiegetischen‹ Erzählers nahe, dass auch der Prosaist ohne Erzähler – als notwendige »Prothese« (Derrida) seines Diskurses – an ein Ende kommt (sei es auch nur das Ende, das die Schwelle zu einem Unsagbaren markiert). Die Unentscheidbarkeit welche der beiden Instanzen zu privilegieren ist, legt die Vermutung nahe, dass beide nur in der Interdependenz funktionieren. Muraus Auslöschungsprojekt bedarf der Einschreibung in einen ande-
68 Derrida: Grammatologie, S. 17.
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ren Text (den Roman), dieser andere Text wird aber zugleich destruiert. Der extradiegetische Erzähler stellt das Problem der narrativen Vermittlung aus, anstatt es (im Sinne Longs) zu schlichten. Dass der Text – in Übereinstimmung mit Ungenach – eine Fortschreibung ins Werk setzt, die sich starken signifikanten Zuschreibungen konsequent entledigt, wird in Kapitel 3 weiter ausgeführt. Bereits hier wird jedoch deutlich, dass die Fortschreibung von Erzählung und Geschichte auf keine Restitution des geschichtlichen und literaturhistorischen Erbes mehr spekuliert.
2.2 S EBALD – D ER
ERZÄHLER IM FREIEN FALL
Die Zerstörung ist leicht als zentrales Thema von Sebalds Werk zu identifizieren. Von seinen ersten literaturwissenschaftlichen Studien zu Carl Sternheim und Alfred Döblin über seine poetischen Anfänge bis hin zu seiner Prosa beschäftigt sich Sebald mit der Beschreibung destruktiver zivilisatorischer und gesellschaftlicher Prozesse. Ferner interessiert er sich für den Konflikt des Autors und Erzählers, der in diese destruktiven historischen Kontinuitäten gestellt ist. Innerhalb der fatalen Dynamik formuliert sich die Situation des Schriftstellers aporetisch. Vorab lassen sich diesbezüglich zwei Problemkomplexe differenzieren: die Beschreibung der Zerstörung einerseits, die (Selbst-) Verortung des Autors und Erzählers andererseits. Nimmt man Sebalds Schaffen in diesem Zusammenhang einschließlich seiner frühen Arbeiten in den Blick, offenbart sich eine aufschlussreiche Konstante. Sebald bringt die gleiche Fragestellung in verschiedenen zeithistorischen Konstellationen in Anschlag: Wie kann der Schriftsteller, der in die destruktiven Prozesse involviert ist und diese zugleich zu schildern sucht, eine kritische Distanz zum kollektiven Bewusstsein seiner Zeit einnehmen? Mit Carl Sternheim und Alfred Döblin wählt Sebald zwei Schriftsteller vor dem Zweiten Weltkrieg und analysiert, wie sie trotz versuchter Distanznahme zu schlechten Repräsentanten ihrer Ära werden. Beide sprechen der faschistischen Ideologie das Wort, obwohl sie diese kritisch zu kommentieren suchen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Sebald erneut in Luftkrieg und Literatur. Auch hier analysiert Sebald das Versagen der Autoren, die sich als unfähig erweisen, die ›Katastrophe‹ zu beschreiben – nun als Augen- und Zeitzeugen eines gegenwärtigen Geschehens. In Sebalds eigenem Werk, angefangen mit Nach der Natur, liegt das trau-
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matische Ereignis schließlich im Rücken. Zwar vollzieht sich hier der bedeutsame Rollentausch vom Wissenschaftler zum Schriftsteller, aber die Fragestellung bleibt identisch: Wie positioniert sich der Autor innerhalb der destruktiven, gesellschaftlichen Prozesse? Anstatt dieser Chronologie zu folgen, bietet sich der Einstieg über Luftkrieg und Literatur an. Die Destruktion im Zuge des Zweiten Weltkriegs stellt das einschneidende Ereignis dar, das sowohl die Vorgeschichte als auch die Nachgeschichte prägt und eine produktive Fortschreibung der Geschichte sowie die Rolle des Erzählers, nachhaltig irritiert. Dieser Umweg über die literaturwissenschaftlichen Arbeiten schärft nicht nur den Blick für Sebalds Prosa, sondern liefert zudem den Nachweis, der bisher kaum Eingang in die Sekundärliteratur gefunden hat: Die Erzählsituation Sebalds entspringt dem Bewusstsein einer tiefen, historisch bedingten Legitimationskrise. Die Naturgeschichte der Zerstörung: Luftkrieg und Literatur Den Begriff der »Naturgeschichte der Zerstörung« adaptiert Sebald laut eigener Aussage von Solly Zuckermann, einem Journalisten und Piloten der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg, der unter diesem Titel die Eindrücke vom Luftkrieg zu schildern suchte – ein Vorhaben, das sich nie realisierte.69 Im Kontext der »Züricher Vorlesungen« greift Sebald die Wendung erneut auf, um den Rückfall einer Geschichte und eines Geschichtsdenkens zu markieren, die sich nicht länger in Kategorien von Vernunft, Sinn oder Fortschritt beschreiben lassen. Der Begriff der Naturgeschichte erfährt in Sebalds Prosa zwar signifikante Erweiterungen und Umdeutungen; im Kontext der Vorlesungen fasst er jedoch vorab präzise die Problematik einer Literatur zusammen, die unmittelbar von den Folgen des Zweiten Weltkriegs betroffen ist. Den Anlass für den Begriff der Naturgeschichte gibt zunächst das Alltagsleben in den zerbombten Metropolen Deutschlands. Die Existenz der Menschen zwischen den Trümmern gleicht einem naturhaften Geschehen. Das Leben wird vom Selbsterhaltungstrieb dominiert; der
69 Die Terminologie schließt demnach nicht an den Begriff einer Naturgeschichte an, wie er im 18. Jahrhundert beispielsweise von Carl von Linné geprägt wird.
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Instinkt tritt an die Stelle der Vernunft; jegliche zivilisierte Gesellschaftsformation löst sich auf: »Wir befinden uns in der Nekropole eines fremden, unbegreiflichen Volks, herausgerissen aus seiner zivilen Existenz und Geschichte, zurückgeworfen auf die Entwicklungsstufe unbehauster Sammler.« (LL 43) Wo herkömmliche Modi der Beschreibung nicht mehr greifen, um diesen kollektiven Kollaps des sozialen Gefüges zu fassen, führt Sebald nun die Naturgeschichte als Ordnungskategorie ein, um das Unbegreifbare, das sich keiner Vernunft fügt, auf einen Nenner zu bringen. Per Definition verweist die Naturgeschichte der Zerstörung auf ein irrationales Geschehen. Sebald verzichtet aber auf keine Erklärung, sondern nimmt eine negative Perspektivierung vor. Die Naturgeschichte »ist wohl die einzige Form, in der der Erzähler es sich erlaubt, diese Dinge zu erklären«.70 Im Entwurf der Naturgeschichte bleibt die Geschichte – »Zwischen Geschichte und Naturgeschichte« (CS 69-100), so der Titel eines früheren Essays – demnach mit der Naturgeschichte vermittelt. Die Naturgeschichte bildet die Folie, auf der sich das zeitgeschichtliche Geschehen vollzieht und so gerade in seiner Irrationalität sinnfällig wird. »Aber es ist meines Erachtens tatsächlich so, dass der Augenblick der Katastrophe der Augenblick ist, in dem Gesellschaftsgeschichte und Zivilisationsgeschichte sich auflösen und der weitere Zusammenhang, nämlich die naturgeschichtlichen Abläufe, absehbar wird.«71 Pointiert formuliert zeichnet sich an der Schnittstelle von Geschichte und Naturgeschichte derart ein Paradigmenwechsel ab. Wenn Hans Erich Nossack ausführt, wie Ratten und Fliegen die Trümmerstadt beherrschen, so sieht Sebald in diesem »Bild von der Vermehrung der sonst auf jede Weise unterdrückten Arten [...] ein seltsames Dokument des Lebens in einer Ruinenstadt« (LL 42). Die Beschreibung, wie die »natürliche[] Ordnung der Städte« erliegt, während die »parasitäre[] Kreatur« (LL 42) überhand nimmt, führt eine Verkehrung der hierarchischen Ordnung vor, die von einem Kontrollverlust des Menschen zeugt. In merkwürdigem Kontrast steht der Vorsatz einer aufgeklärten Nation, die sich »die vollständige Säuberung und Hygie-
70 Andrea Köhler: »Katastrophe mit Zuschauer. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller W.G. Sebald«, in: Neue Züricher Zeitung (272), 22.11.1997, S. 52. 71 Ebd.
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nisierung Europas« (LL 41) zum Ziel gesetzt hatte und nun auf eine archaische Existenzform, umgeben von »Geruch und Fäulnis« (LL 42), zurückgeworfen ist. Wird die Naturgeschichte der Zerstörung letztlich unlesbar, »weil Naturgeschichte keinen Sinn hat«,72 so kann die Lesbarkeit in dieser Perspektive nur aufrecht erhalten werden, weil Geschichte und Naturgeschichte dialektisch vermittelt bleiben. In dem Maß, wie die Differenz zwischen Geschichte und Naturgeschichte nivelliert wird, erreicht die Beschreibung jedoch einen toten Punkt, an dem das Erzählen unmöglich wird – oder umschlägt. Auch dieser Moment wird zum Tragen kommen. Der Erzähler nimmt eine Mythologisierung des Geschehens vor, das sich mit rationalen Mitteln nicht mehr fassen lässt. Dient die Naturgeschichte als Paradigma, wie eine Beschreibung der »totalen Zerstörung« hätte aussehen können, so zieht Sebald über die Versuche der Autoren, die als Augenzeugen schreiben, jedoch großteils negative Bilanz. »Aber was sich tatsächlich zugetragen hat, davon gibt es kaum irgendwelche realen Berichte, jedenfalls weder in der Literatur noch in der Familiengeschichte. Es ist nicht erzählbar.« (LL 61) Diese These ist in mehrfacher Hinsicht kritisiert worden.73 An dieser Stelle interessiert jedoch weniger die Tragfä-
72 Ebd. 73 Besonders im Feuilleton wurden zahlreiche Gegenargumente und -beispiele genannt. Vgl. Reinhard Baumgart: »Das Luftkriegtrauma der Literatur«, in: Die Zeit, 29.4.1999. Dieter Forte: »Menschen werden zu Herdentieren«, in: Der Spiegel, 5.4.1999. Joachim Güntner: »Der Bombenkrieg findet zur Sprache«, in: Neue Züricher Zeitung, 7.12.2002. Aleida Assmann (in: Der lange Schatten der Vergangenheit, München 2006, S. 185) liest Sebalds Stellungnahme als symptomatisch für die Auflösung einer Latenzphase in der BRD, der der Bombenkrieg als Tabuthema unterlag. Dies übergeht jedoch die Tatsache, dass Sebalds Thesen zur Zeit der Vorlesungen bereits 15 Jahre alt waren. Auch hatte bereits Hans-Magnus Enzensberger (in: Europa in Ruinen, Frankfurt a.M. 1990) eine Dekade zuvor ähnliche Thesen wie Sebald formuliert. Christian Schulte (in: »Die Naturgeschichte der Zerstörung: W.G. Sebalds Thesen zu ›Luftkrieg und Literatur‹«, in: Text + Kritk 158 (2003), S. 82-94, S. 94) argumentiert demnach, dass Sebald vor allem eine polemische Debatte zu initiieren suchte. Eine kritische Lektüre im zeithistorischen Kontext liefert ferner Susanne VeesGulani: »W.G. Sebald, the Airwar, and Literatur«, in: S. Denham/M. McCulloh (Hg.), W.G. Sebald. History – Memory – Trauma, Berlin u.a. 2006, S. 335-349. Im Folgenden interessiert mich aber weniger die These in literaturhistorischer oder kultureller Hinsicht, sondern der Begriff der Literatur, den Sebald im zeithistorischen Kontext in Anschlag bringt. Peter Morgan argumentiert diesbezüglich, dass Sebald einen romantischen Lite-
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higkeit dieser These, sondern die formalen Kriterien, die Sebald in Anschlag bringt, um seine Kritik zu lancieren. Die literaturtheoretische Kritik, die Sebald an den Schriftstellern äußert, kann anhand von drei Komplexen gefasst werden. In Konfrontation mit der kollektiven Zerstörung versagen die konventionellen Kategorien von Gattung, Sprache und Erzählperspektive. Zuerst zur Gattung. Der bürgerliche Roman versagt als literarische Form: »Aus dem Vergleich des Kasackschen Romans mit dem Prosatext Nossacks erhellt, dass der Versuch einer literarischen Beschreibung kollektiver Katastrophen, dort, wo er Gültigkeit beanspruchen kann, notwendig die dem bürgerlichen Weltbild verpflichtete Form romanhafter Fiktion durchbricht.« (CS 88) Der Roman, der auf dem Konzept des bürgerlichen Individuums und der Fiktionalität beruht, reicht an »die Katastrophe« nicht heran. Die formale Kritik geht bei Sebald aber zugleich mit einer ethischen Position einher. Demgemäß lautet das Verdikt: »[T]raditionelle literarische Verfahrensweisen, die auf die Homogenisierung kollektiver und persönlicher Katastrophen hinarbeiten – der Roman vom Dr. Faustus stellt das zeitgenössische Paradigma –, [sind] nicht mehr erlaubt.« (CS 81) Weil das Individuum nicht mehr als Projektionsfläche dient, um die Geschichte und das kollektive Geschehen zu explizieren, ist der Roman als Gattung hinfällig. Aber nicht nur der Roman, sondern die Literatur an sich gerät an ihre Grenzen. In Auseinandersetzung mit der europäischen Destruktionsgeschichte ist der Schriftsteller mit »der tradierten Ästhetik inkommensurablen Material[s]« (LL 67) konfrontiert. Dabei geht es um keine geschichtsphilosophischen Aussagen, sondern zur Debatte steht zunächst was die Literatur, und im Speziellen der Roman, vermag und was nicht. Eine Lösung stellt die Dokumentation im Gegensatz zur
raturbegriff verwendet; gemessen an diesem Literaturverständnis hätten die Schriftsteller versagt, die Nation zu erlösen. Vgl. Peter Morgan: »Literature and National Redemption in W.G. Sebald’s On the Natural History of Destruction«, in: G. Fischer (Hg.), W.G. Sebald. Schreiben ex patria/ Expatriate Writing, New York 2009, S. 213-229, S. 228: Sebald »[i]mplies, the nation would have redeemed itself in human terms, rather than repressing its humanity in favour of the inhuman and uncultured efficiency and productivity of the West German Wirtschaftswunder und Leistungsgesellschaft«. Diese These teile ich nicht. An keiner Stelle spricht Sebald der Literatur diese unmittelbare Wirkmacht zu; vielmehr geht es ihm allgemein um die Kritik- und Beschreibungsfähigkeit der Literatur.
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Fiktion in Aussicht. Hans Erich Nossack ist einer der wenigen Autoren, der die Unzulänglichkeit der Fiktion früh erkennt und nach neuen literarischen Formen sucht: »In diametralem Gegensatz zur tradierten fiktionalen Komposition experimentiert Nossack mit dem prosaischen Genre des Berichts, der Aufzeichnung und der Untersuchung, um Platz zu schaffen für die den Bereich der Romankultur sprengende historische Kontingenz.« (CS 81) In der dokumentarischen Literatur (wie sie sich in den 60er Jahren erfolgreich etabliert),74 »kommt die deutsche Nachkriegsliteratur eigentlich erst zu sich« (LL 65). Erst hier gewinnt Schreiben laut Sebald wieder an Legitimation. Die Dokumentarliteratur zeichnet sich vor allem durch die neue Verwendung der Sprache aus. Sprache, die den Schrecken zu schildern sucht, scheitert, wo sie »innerhalb der von den sprachlichen Konventionen gezogenen Grenzen« (LL 32) bleibt. Die Beschreibung kann demnach nur gelingen, wo sie die Konvention negiert. »Das anscheinend unbeschadete Weiterfunktionieren der Normalsprache in den meisten Augenzeugenberichten ruft Zweifel herauf an der Authentizität der ihnen aufgehobenen Erfahrung.« (LL 32) Zwar versuchen einige der Autoren den »Verallgemeinerungen« und »stereotypen Wendungen« (LL 32) eine Sprache entgegen zu setzen, aber Sebald diagnostiziert auch hier ein Versagen. Kasack, der »ganz im Stil seiner Zeit, mit pseudohumanistischen und fernöstlichen Philosophismen und unter Aufbietung von viel symbolistischem Brimborium hinwegsetzt über die unerhörte Realität der kollektiven Katastrophe« (LL 56), verfälscht durch Überhöhung der Sprache, ebenso wie Nossack »durch Abstraktionskunst und metaphysischen Schwindel« (LL 56) das Geschehen neutralisiert. Sebalds Urteil ist eindeutig: Kasacks »Wort- und Begriffswahl zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, dass die von der inneren Emigration angeblich kultivierte Geheimsprache weitgehend identisch war mit dem Code der faschistischen Gedankenwelt.« (LL 56) Aber auch dort, wo die Sprache faschistischem Gedankengut kein »Asyl« (ND 416) bietet, scheitert sie, wo sie sich in »Sprachaktionismus« und Selbstinszenierungen verliert; in Bezug auf Arno Schmidt spricht Sebald abwertend von »linguistischer Laubsägearbeit« (LL 64). Dem Ästhetizismus setzt Sebald den »weitgehenden Verzicht auf Kunstübung« (LL 58) entgegen: »Das Ideal des Wahren, das in seiner,
74 Vgl. Hans Gerd Winter: »Dokumentarliteratur«, in: Fischer (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 10, S. 379-402, S. 383.
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über weite Strecken zumindest, gänzlich unprätentiösen Sachlichkeit beschlossen ist, erweist sich angesichts der totalen Zerstörung als der einzig legitime Grund für die Fortsetzung der literarischen Arbeit.« (LL 59) Auch hier dient der Dokumentarismus als Vorbild. Zwar ist das »Ideal des Wahren« ebenso konstruiert wie eine Kunstsprache. Sebalds Invektiven richten sich jedoch vornehmlich gegen eine mystifizierende Verwendung der Sprache. Wenn er in pseudohumanistischen Wendungen und östlichen Philosophismen eine Nähe zum Faschismus aufspürt, dann liegt diese in einem Sprachgebrauch, der seinen Aussagegehalt nicht aus der Kongruenz von Wortinhalt und Bedeutung ableitet. Entsprechend heißt es in Adornos Definition des Jargons, dass das Wort »transzendent gegenüber der eigenen Bedeutung« (ND 418) gesetzt wird. Das Wort wird im Jargon mit einer Bedeutung überladen, die semantisch nicht eingeholt wird. In der Beschreibung der Zerstörung resultiert die mythische Sprache derart in einer »Sinngebung des Sinnlosen« (LL 55). Das konkrete Geschehen wird in einem ebenso allgemeinen wie gehaltlosen Signifikanten aufgehoben und damit verschleiert bzw. lässt sich die mythische Sprache ungeschützt mit ideologischem Gehalt füllen. Der dokumentarische Stil impliziert dagegen eine Sprache, die im Konkreten verharrt. Während Nossack mit seinen »Philosophismen scheitert, gelingt die Beschreibung, wo sie sich eines dokumentarischen Tons bedient«: »[D]ie weite Entfernung zwischen dem Subjekt und den Objekten des erzählerischen Prozesses« überzeugt, weil darin »eine naturgeschichtliche Perspektive« (CS 81f.) impliziert ist. Stehen Sprache und Erzählhaltung in einem wechselseitigen Verhältnis, so kann die Verwendung der Sprache schließlich nicht von der Position des Erzählers abgelöst werden. Eine ideale Distanz des Erzählers zur Beschreibung der »Totalität der Zerstörung« findet Sebald bei Alexander Kluge.75 Bei ihm kommt zunächst ein zeitlicher Abstand hinzu, den er durch Recherche und Archiv produktiv nutzt. »Die retrospektive Ermittlung dessen, was sich zutrug, orientiert sich [...] nicht an dem, was der Autor mit seinen eigenen zwei Augen gesehen hat und was ihm etwa von den Ereignissen noch erinnerlich ist, sondern an den Vorgängen im Umfeld seiner damaligen und heutigen Existenz, beruht doch die Intention des Textes insgesamt [...] auf der Einsicht, dass Erfahrung im realen Sinn auf-
75 Als Positivbeispiel ist Kluge nicht mehr Gegenstand der Kritik von LL.
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grund der überwältigenden Rapidität und Totalität der Zerstörung schlechterdings nicht möglich war und erst auf dem Umweg über späteres Lernen zu machen ist.« (CS 90)
Die totale Zerstörung kann laut Sebald nicht unmittelbar gefasst werden. Die Aussagen des Augenzeugen bleiben demnach gehaltlos, wo die sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten des Einzelnen aufgrund der traumatischen Ereignisse überfordert sind – auch aus dieser Perspektive sind Vorbehalte gegen die Figur des Zeugen, wie sie in Kapitel 1 beschrieben wurde, anzumelden. Aber auch unabhängig von der Schockwirkung handelt es sich um Ereignisse, an denen die individuelle, sinnliche und kognitive Erfahrung abgleiten muss. Wie gehabt dient das einzelne Subjekt nicht länger als narrativer Träger geschichtlichen Geschehens. Erst die nachträgliche Recherche liefert hingegen Material und Bilder, die etwas vom Ausmaß der kollektiven Ereignisse vermitteln, eine Erkenntnis, die Kluge einzulösen sucht. Das Material wird jedoch nicht zur Rekonstruktion der Ereignisse zusammengefügt, sondern dient dazu die Missproportion und den Schock auszustellen, die dem Geschehen innewohnen. Weil das »Ausmaß der Bedrohung« im Angesicht der Katastrophe nicht taxiert werden kann, müssen die Ereignisse jeglichen vorhandenen rationalen Rahmen sprengen. In den Versuchsanordnungen Kluges bestätigt sich somit das Diktum Brechts, »dass der Mensch durch Katastrophen soviel lerne wie das Versuchskaninchen über Biologie« (CS 94). In das harsche Bild geht sicher die Prämisse ein, die auch Adornos negativer Ästhetik zugrunde liegt, dass die Kunst der realen Kälte mit einem gleichen Maß an Kälte begegnen muss. Zielt Sebald an dieser Stelle auch auf ein didaktisches Moment, so handelt es sich aber weniger um eine Pädagogik des Kälteschocks, sondern eher um den Versuch einer kühlen, »retrospektive[n] Überprüfung der Bedingungen der Zerstörung« (CS 95). Kluge dient als Modell nicht zuletzt deshalb, weil er an den Postulaten der Aufklärung festhält. »Die Rekonstruktion des Unglücks, die Kluge solchermaßen [...] zustande bringt, lässt sich gleichsetzen mit der Enthüllung der rationalistischen Struktur dessen, was von Millionen von Menschen als ein irrationaler Schlag des Schicksals erfahren wurde.« (CS 97, Herv. P.S.) Der reflexiven Durchdringung der Ereignisse bei Kluge, stehen demnach die Überhöhungen und Abstraktionen der kritisierten Schriftsteller gegenüber. Anstelle einer »Sinngebung des Sinnlosen« tritt der
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aufklärerische Gestus in der Einsicht, dass »allein die Aufrechterhaltung einer kritischen Dialektik zwischen Gegenwart und Vergangenheit einen Lernprozess einleiten kann« (CS 98). Man mag an dieser Stelle davon absehen, dass Sebald den Eintritt eines Lernprozesses generell äußerst niedrig veranschlagt, beispielsweise wenn er mit Blick auf Peter Weiss fragt, ob das Schreiben nicht mehr als eine »Bußleistung« darstellt, »wenigstens selber schuldlos zu werden«.76 Letztendlich stellt sich das Überleben des Menschen innerhalb der entfesselten Destruktionsprozesse zufällig ein. Nichtsdestotrotz wird der Versuch der reflexiven Durchdringung der Zerstörung in dieser Situation von der psychotherapeutischen Einsicht geleitet, eine »Antizipation der Zukunft« zu erwirken, »die nicht schon von der aus der verdrängten Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre« (CS 95). Der aufklärerische Impetus Kluges bildet hier den Gegenpol zum mangelnden Reflexionsvermögen der kritisierten Autoren und ihrer Anfälligkeit für regressive, kleinbürgerliche Affekte: Sie werden zu Repräsentanten schlechten bürgerlichen Bewusstseins. Diese These vertritt Sebald in Bezug auf Alfred Döblin. Die scharfe Kritik darf dabei weniger als Invektive gegen den Autor gelesen werden, sondern sie bildet zugleich ein Modell, wie auch in der literaturwissenschaftlichen Rezeption eine kritische Dialektik zwischen Gegenwart und Vergangenheit vollzogen werden kann – und gemäß Sebald sollte – , um den besagten Lernprozess wenigstens retrospektiv einzuleiten. Die Naturphilosophie Döblins Die Döblin-Monografie von 1980 ist im hiesigen Kontext aufschlussreich, weil sich Sebald bereits hier eingehend mit dem Begriff der Naturgeschichte bzw. Naturphilosophie auseinander setzt, wie er später für seine eigene Prosa zentral wird. Zwar macht Sebald das Scheitern Döblins maßgeblich an dessen naturphilosophischen Spekulationen fest. Diese Kritik speist sich jedoch weniger aus einer großen Distanz, sondern vielmehr aus einer all zu großen Nähe zwischen Sebalds Interesse an der Natur und Döblins naturphilosophischen Spekulationen. Döblins Naturphilosophie ist zunächst von seinem »Bemühen, die Zusammenhänge des natürlichen Kreislaufs in einer qualitativen Inter76 W.G. Sebald: »Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss«, in: Frankfurter Rundschau (292), 15.12.1990, S. 3 (ZB).
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pretation zu erfassen« (MZD 94) inspiriert. Sie erweist sich laut Sebald jedoch als unzulänglich, weil Döblin keinen »Bezug [...] auf die historische Entwicklung des naturphilosophischen Weltbilds« nimmt, sondern meist »phantastische Konjekturen« (MZD 95) anbringt. Anachronismus und eine schlechte »rationale Analyse der Welt« (MZD 95) stellen somit die zentrale Schwäche von Döblins Naturphilosophie dar – ein Aspekt, der im Vergleich zwischen Döblin und Sebald wiederkehren wird. Gliedert sich der Naturbegriff traditionell gemäß einer hierarchischen Ordnung aus »lebloser, belebter und geistiger Materie« (MZD 97), so kritisiert Sebald nicht Döblins naturphilosophisches Engagement an sich, sondern die Tatsache, dass Döblin die Natur als tote Materie privilegiert. Sebald erkennt darin einen »regressiven Drang zum Anorganischen« (MZD 109), der von einer negativistischen Lebenseinstellung zeugt. Seinen Subjektbegriff manövriert Döblin dabei in eine erkenntniskritische Sackgasse. Die Natur wird als anonym und ohne Beziehung zum Subjekt beschrieben: Damit ist »der Sinn individueller Existenz [...] nicht mehr dingfest zu machen« (MZD 100). Wo sich Mensch und Natur fremd gegenüberstehen und allenfalls im Tod zueinander finden, lässt sich für den Erzähler nicht mehr bedeutsam sprechen. An dieser Stelle verfällt Döblin in eine Mythologisierung: »Wenig Wunder, dass Döblin dabei schließlich auf die Kategorie des ›Ursinns‹ stößt, jenen ebenso großartigen wie nichtssagenden Begriff.« (MZD 100) Der Ursinn ermöglicht es Döblin zwar zu sprechen, wo es sich eigentlich nicht mehr bedeutsam reden lässt (und das äußerst produktiv und wortreich), aber dieser Ort der Sprache bleibt in seinen mythischen Qualitäten gehaltlos. Döblins »Flip-Flop-Sprache« (MZD 99) schlägt an diesem Punkt ins Mythische um. Der erkenntniskritische Nullpunkt gegenüber der Natur als dem radikal Anderen wird mit einem metaphysischen Sinn aufgeladen und überlagert. Was in Bezug auf die Kategorie des »Ursinns« an eine schlechte Lebensphilosophie gemahnt, entlarvt sich mit seiner Fixierung auf dem Tod in seiner fatalistischen Disposition. Sebald geht hier (wie auch sonst) von keiner binären Konstellation von Subjekt und Natur aus; vielmehr ist »›reine Natur‹ im Bereich der Literatur nicht eine physikalische, sondern eine moralische Kategorie« (BU 169). Dieser moralische bzw. ethische Naturbegriff bildet letztlich die Grundlage für Sebalds Kritik gegenüber Döblin (aber auch gene-
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rell). Ausgehend von diesem moralisch gefassten Naturbegriff vermag Sebald der Poetik Döblins eine affirmative Beziehung zur Beschreibung der Apokalypse vorhalten: »Es liegt etwas Komfortables in der Beschwörung des Desasters, wie Döblin es [...] vorführt, Freude an der Zerstörung und nicht Entsetzen darüber.« (MZD 57f.) In Betracht der historischen Konstellation erweist sich diese Poetik als ebenso blind wie folgenschwer. Vor dem »Hintergrund einer Gesellschaft, die Naturkatastrophen in eigener Regie herzustellen und den Glauben an den Sinn wissenschaftlichen Fortschritts einzubüßen begann« (MZD 98), zeigt Döblin seine Komplizenschaft mit zeitgenössischen Tendenzen. Sebalds Urteil könnte schärfer kaum ausfallen: Der »tiefe Fatalismus« von Döblins philosophischen Ausführungen »antizipiert [...] die Liquidierung des Lebens als eine Möglichkeit politischer Praxis« (MZD 104). Die Kehrseite der regressiven Lebensvorstellung, die ihren Zufluchtsort im Untergang findet, bildet eine nach außen gekehrte Todessehnsucht, wie sie auch der nazistischen Ideologie immanent ist. Döblin erweist sich damit als Repräsentant spätbürgerlichen Bewusstseins, aus dem schließlich die fatalen Ideologien erwachsen. Bereits der kurze Rekurs genügt, um Sebalds Ansatz kenntlich zu machen. Sebalds Urteil ist ethisch und politisch motiviert. Weil die Literatur sowohl eine Beziehung zur Ethik als auch zur politischen Praxis unterhält, kann Sebald Döblins Scheitern als Schriftsteller an dessen Unfähigkeit festmachen, »reflektiert und politisch zu reagieren« (MZD 53). Obwohl Sebalds Einschätzung, was die tatsächliche, gesellschaftliche Wirkung der Literatur angeht, ambivalent bleibt, muss der Autor sich laut Sebald den politischen Implikationen seines Schreibens bewusst sein. Der Manövrierraum, der sich dem Subjekt in der Literatur erschließt, mag dabei noch so minimal sein. Sebald lässt jedoch keinen Zweifel, dass das Schreiben kein unschuldiges Geschäft ist. Gemäß der Geste Adornos in der Negativen Dialektik (vgl. ND 9) spricht auch Sebald davon, dass der Erzähler seine Karten auf den Tisch legen muss.77 Vielerorts lesen sich die Einwände, die Sebald gegen Döblin vorbringt, allerdings wie Beschreibungen seiner eigenen Prosa. – Bei-
77 Vgl. Marco Poltronieri: »Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald«, in: Morgenpost (25), 17.6.1993. Das Interview ist ferner abgedruckt in Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 35-40.
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spielsweise wenn Sebald von Döblins »Präokkupiertheit« (MZD 46) mit dem Untergang spricht, von »naturgeschichtlichen und mythischen Kategorien« der Döblinschen Gesellschaftskritik, die ihr Korrelat in Überlegungen einer »fehlprogrammierten Evolution« (MZD 18) haben oder schließlich vom »distanzlosen, suggestiven und autosuggestiven Beschreibungsstil« (MZD 15) Döblins. Der Unterschied liegt für Sebald zunächst aber in der Haltung des Autors. Döblins Fokus auf der Natur als toter Materie findet ihre Entsprechung in der Beschwörung des Untergangs, beides Momente, gegen die Sebald entschieden opponiert. Die Reflexion von Geschichte und Mythos muss oder müsste hingegen – wie Sebald an Kafka expliziert – »die Permanenz der Krise und die damit notwendig werdende Mutation der Menschheit begreifbar«78 machen. Im Kontext von Die Ringe des Saturn (in Kapitel 3) wird näher darauf zurück zu kommen sein, inwiefern Sebald an die Stelle der Natur als toter Materie, die Natur als belebte zu setzen sucht – als notwendigen Gegenpol zur apokalyptischen Dimension einer Naturphilosophie und -geschichte der Zerstörung. Vorab gilt es im Übergang zu Sebalds Prosa aber den zeithistorischen Moment zu bestimmen, der den Einsatz von Sebalds Schreiben markiert. Weil sich die historischen Koordinaten für Sebald nach Auschwitz geändert haben, müssen die Begrifflichkeiten, die die Selbstverortung des Erzählers ausloten, neu eruiert werden. Sebalds Prosa: Schreiben ›nach der Katastrophe‹ Die zeithistorischen Koordinaten haben sich für Sebald grundsätzlich geändert. Während Sebalds Kritik an Döblin von der Antizipation auf den Zweiten Weltkrieg informiert ist, geht es nun in erster Linie um eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und um ein Schreiben nach »der Katastrophe«.79 Selbst Sebalds Vorbild Kluge ist diesbezüg-
78 W.G. Sebald: »Tiere, Menschen, Maschinen. Zu Kafkas Evolutionsgeschichten«, in: Literatur und Kritik 21 (1986), S. 194-201, S. 201. 79 Insofern ist die Frage von Graham Jackman in Bezug auf Luftkrieg und Literatur, warum Sebald nicht die Arbeit leiste, die er den Schriftstellern vorwirft (indem er u.a. das Leid der Opfer des Bombenkriegs selbst beschreibt), falsch gestellt. Weil die zeithistorische Situation eine andere ist, erfordert sie nun einen anderen Schreibansatz. Vgl. Graham Jackman: »›Gebranntes Kind‹? W.G. Sebald’s Metaphysik der Geschichte«, in: German Life and Letters 57 (2004), S. 456-471, S. 468.
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lich anders als Sebald zu verorten. Im Unterschied zu Kluge, der Erinnerungen an seine Heimatstadt Halberstadt besitzt, auch wenn er diese zugunsten von intensiven Recherchen zurückstellt, erschließt sich die Geschichte für Sebald ausschließlich aus zweiter Hand und aus dem Archiv. Zwar bedeutet der zeitliche Abstand einen potentiellen Zuwachs an faktischem Wissen, zugleich geht er aber mit einem Legitimationsverlust einher. Nach eigener Aussage erfährt Sebald erst spät vom Zweiten Weltkrieg, sowohl von der Vernichtung der Juden als auch vom Bombenkrieg. Wenn Sebald in dem autobiografisch konnotierten Gedichtzyklus »Die dunckle Nacht fahrt aus« die Schürfwunden des Kindes mit der Vorstellung »einer lautlosen Katastrophe« vergleicht, dann zeugen diese Zeilen von der Irritation, auf welche Art und Weise sich ein kollektives Trauma, wie das des Kriegs, auf das Individuum überträgt. Muten Schürfwunden eines Kindes grotesk an, wo sie zu Boten der kollektiven Destruktion werden, so ist in diesen Strophen zugleich etwas von der Verunsicherung des lyrischen Ichs zu spüren, das sich in einer Geschichte impliziert weiß, die sich ebenso unheimlich und determinierend auf den Spätgeborenen auswirkt, wie sie sich dem empathischen Zugriff entzieht. Wie ist es möglich, im Allgäu in einem dörfischen Idyll aufgewachsen zu sein, ohne Evidenzen der destruktiven Zeitgeschichte? Der Kindheitsort, kommentiert Sebald, »ist wie in einem Einweckglas geblieben«.80 Die Schilderung der eigenen Geburt in Nach der Natur begegnet diesem Vakuum, indem Sebald Legitimierungsstrategien bemüht, die den Autoritätsverlust des lyrischen Ichs gerade mit der »Maske des Autobiografischen«81 nur umso deutlicher hervor kehren. Die Geburt an Christi Himmelfahrtstag 1944 wird sowohl mit dem Zweiten Weltkrieg als auch mit einer Naturkatastrophe kurzgeschlossen, beides Ereignisse, die zudem astrologisch rückgebunden werden. Während einer Prozession ereignet sich ein »in der Dorfgeschichte / unerhörtes Ereignis zu Beginn meines Lebens« (NN 76), berichtet das lyrische Ich: »nicht ahnend, / dass der kalte Planet Saturn die Konstellation / der Stunde regierte und dass über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug.« (NN 76) Im Gegensatz zu Goethes Wahrheit und
80 Poltronieri: »Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe?«. 81 Vgl. Paul de Man: »Autobiografie als Maskenspiel«, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a.M. 1993, S. 131-146, S. 140.
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Dichtung steht die Geburt des Nachkriegsautors unter unheilvollen Sternen. Reiht sich Sebald einerseits in eine »lange naturphilosophisch-literarische Adelskette«82 ein, so ist die Selbstverortung andererseits explizit als Legitimationsstrategie zu lesen, die den zeithistorischen Ort seines Schreibens reflektiert. In der Anknüpfung an die Geschichte und die (literarische) Tradition bleiben aber nach wie vor Übermittlungsprobleme bestehen. Beim Schwangerschaftsbeginn des lyrischen Ichs, der auf den Bombenangriff auf Nürnberg datiert, handelt es sich um ein pränatales Ereignis, das selbst die Eltern nicht erinnern. Dieser Gedächtnisverlust zeugt vom Schock einer kollektiven ›Katastrophe‹, die in keine gängige Sprache Eingang finden konnte. Bereits im Kindesalter hatte der Autor nach der Lektüre von Märchen geahnt, dass es Schrecken gibt, die sich dem kognitiven Zugriff sperren: »Eine lange Reihe winziger Schrecken / aus der ersten und zweiten Vergangenheit, / nicht übersetzbar in die gesprochene / Sprache der Gegenwart.« (NN 78) Die Repräsentations- und Vermittlungsproblematik hat demnach einen Vorlauf. Wo weder die sinnliche Wahrnehmung oder Erinnerung noch die gegenwärtigen Repräsentationsmedien den Schrecken einzuholen vermögen, schließt im Gedicht das Gemälde Albrecht Altdorfers Lot und seine Töchter die Lücke, auf das der Autor im Kunsthistorischen Museum Wien zufällig stößt. Gut 50 Jahre später evoziert das Bild den Bombenangriff auf Nürnberg am 23. August 1943, also an jenem Tag, an dem die Mutter mit dem Spätgeborenen schwanger ging: »[E]in furchtbares Feuer [lodert] /, das eine große Stadt verdirbt / [...] Im Mittelpunkt ist ein Stück / grüne idyllische Landschaft/ [...] Als ich dieses Gemälde/ [...] zum ersten Mal sah, / war es mir, seltsamerweise, / als hätte ich all das / zuvor schon einmal gesehen / und wenig später hätte ich / bei einem Gang über / die Friedensbrücke fast / den Verstand verloren.« (NN 74)
Der Schock wird erst nachträglich erlebt. Die traumatische Leerstelle, die der Brand geschlagen hat, wird nun zeitweise durch ein Bild kompensiert, das bemerkenswerter Weise in keinerlei faktischer Beziehung
82 Sigrid Löffler: »›Melancholie ist eine Form des Widerstands‹. Über das Saturnische bei W.G. Sebald und seine Aufhebung in der Schrift«, in: W.G. Sebald, Text + Kritik 158 (2003), hg. v. H.L. Arnold, S. 103-111, S. 105.
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zum tatsächlichen Ereignis steht. Es ist bedeutsam, dass der fotophile Autor keine Fotografie von Nürnberg, die ihm zweifelsfrei vorliegt, sondern ein Gemälde von der Zerstörung von Sodom und Gomorra, das die mittelalterliche Sprache der Bibel spricht, als »Erinnerungsbild« bedient.83 Analog zum posttraumatischen flashback, (re-)produziert das Gemälde den Schock, der Vergangenheit und Gegenwart kurzschließt und ermöglicht mit der Bereitstellung des fehlenden Bildes nun zugleich die narrative Organisation der Biografie. Die Identifikation, die im Gedicht zwischen Geburt und Geschichte nochmals geleistet wird, um die Genese des Autors zu lokalisieren, bemüht allerdings ein diskursives Feld von einer schwindelerregenden Spannweite. Zwar darf man dem Gedicht durchaus (selbst-)ironische Züge beimessen; trotz allem bleibt die ausgestellte Problematik dieselbe. Die tatsächliche Biografie liefert nur noch die Fußnoten zu Daten, die nicht nur tief aus dem kulturellen Gedächtnis der westlichen Zivilisation schöpfen, sondern zugleich kosmische Konstellationen bemühen. Die olympische Distanz, aus der sich das Ich der poetischen Autobiografie in den Blick nimmt, ist bereits in den ersten Zeilen gesetzt, wenn die Metapher der Entschlüsselung von Fossilien, »geflügelten Wirbeltiere[n] / der Vorzeit« (NN 71), aufgerufen wird: »Seh ich aber die Nervatur / des vergangenen Lebens vor mir / in einem Bild, dann denk ich immer, / es hätte etwas mit der Wahrheit / zu tun.« (NN 71) Wo die eigene Biografie analog zu fossilen Versteinerungen gelesen wird, sind der Diskurs moderner Subjektivität und deren Selbstschreibung verabschiedet. Hier entstammt die Gravur, die die Lebenslinie nachzeichnet, keiner Schreibfeder mehr, die ihre Genese unter dem Vorzeichen einer Selbstidentität generiert,84 sondern sie wird im Kosmos, in der Konstellation der Sterne, auf »Schiefertafeln« (NN 71) und
83 Vgl. Sebalds Hierarchisierung zwischen Fotografie und Malerei bzw. Schrift: »Photographien sind die Mementos einer im Zerstörungsprozess und im Verschwinden begriffenen Welt, gemalte und geschriebene Bilder haben ein Leben in die Zukunft hinein und verstehen sich als Dokumente eines Bewusstseins, dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist« (BU 178). 84 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart u.a. 2005, S. 8: »Das wesentliche Moment der Autobiographie, ihr prominentes Strukturmerkmal ist gewiss das der behaupteten Identität von Erzähler und Hauptfigur, von erzählendem und von erzähltem Ich: Auto – bio – graphie (αυτο = ›seiner, ihrer selbst‹ - βιος = ›Leben, Lebenszeit‹ - γραϕειν = ›ritzen, malen, schreiben‹).«
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in außernatürlichen Ereignissen ebenso aufgesucht und abgelesen, wie in einer spezifischen Familiengeschichte. Ironisch klingt in diesem Kontext die Nachfrage nach den eigenen Ursprüngen: »Wie weit überhaupt muss man zurück, um / den Anfang zu finden.« (NN 71) Die drei Generationen umfassende Familiengeschichte, die mit den Großeltern einsetzt, bildet jedenfalls eine marginale Phase innerhalb »des großen Diluviums« (NN 88). Wo in naturgeschichtlichen Dimensionen gedacht wird, hat die Familiengenealogie ihre explikatorische Größe eingebüßt, ebenso wie moderne Formen von Subjektivität. Das »Elementargedicht« deutet eingangs entscheidende Vektoren von Sebalds Schreiben an. Die wenigen Hinweise lassen bereits erahnen, dass Sebald im Rückgriff auf naturphilosophische Prämissen die Geschichtsphilosophie, die primär auf die Kategorie von Subjekt und Vernunft setzt, verlässt bzw. zu überschreiten sucht. Die naturphilosophischen Spekulationen Sebalds legen in der Folge die Spur zur Naturgeschichte als Gegenmodell, das Sebald bemüht, um der Naturgeschichte der Zerstörung eine anschlussfähige Naturkonzeption gegenüber zu stellen. In dieser Hinsicht ist weder die Naturgeschichte als »eco-critical turn«85 oder als »natural history of presence«86 von Interesse, noch »Sebalds’s own descriptions of landscape [...] as a historically marked space that provides a living archive of the history of catastrophes for which mankind is responsible«.87 Beide Momente – Sebalds produktive Wendung der Naturgeschichte als auch die Naturgeschichte als materielle Beschreibung der Zerstörung – sind bereits Gegenstand zahlreicher Studien. Stattdessen soll die Naturgeschichte im Folgenden als Modell beschrieben werden, das spezifisch auf die aporetische Erzählsituation Sebalds als einem Schreiben ›nach der Katastrophe‹ antwortet. Sebalds Schreiben ist, wie bereits angedeutet, von maßgeblich zwei negativen Momenten bestimmt: die Einbettung des Erzählers in die destruktiven Kontinuitäten der europäischen Moderne einerseits und die daraus re-
85 Anne Fuchs: »›Ein Hauptkapitel der Geschichte der Unterwerfung‹: Representations of Nature in W.G. Sebald’s Ringe des Saturn«, in: dies./J.J. Long (Hg.), W.G. Sebald and the Writing of History, Würzburg 2007, S. 121-138, S. 137. 86 Eric Santner: On creaturely Life. Rilke, Benjamin, Sebald, Chicago u.a. 2006. 87 Fuchs: »›Ein Hauptkapitel der Geschichte‹«, S. 129.
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sultierende traumatische Leerstelle zwischen dem Subjekt der zweiten Generation und der Geschichte andererseits. Allgemein weist der Begriff der Naturgeschichte bei Sebald mindestens zwei Aspekte auf: zum einen handelt es sich um eine kritischen Geschichtsschreibung, zum anderen um den Versuch, die Geschichte erneut in einen spekulativen, metaphysischen Rahmen einzuschreiben. Im Folgenden geht es hauptsächlich um den ersten Moment. In Referenz auf Benjamin (und Adorno) bildet die »Idee der Naturgeschichte« ein erhellendes Dispositiv,88 das auf die aporetische Situation des sebaldschen Erzählers antwortet. Konkret gibt die Naturgeschichte als »Perspektivenänderung«89 Sebald ein operatives Verfahren an die Hand, das es dem Erzähler und Spätgeborenen erlaubt, erneut produktiv an die Geschichte und Vergangenheit anzuknüpfen. Allegorische Lektüren: Die Ringe des Saturn Die grundlegende »Idee der Naturgeschichte« versucht laut Adorno zunächst die Begriffe von Geschichte und Natur in ein neues Wechselverhältnis zu setzen, um sie produktiv zu nutzen: »Wenn die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geschichte ernsthaft gestellt werden soll, bietet sie nur dann Aussicht auf Beantwortung, wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als naturhaftes Sein zu begreifen, oder wenn es gelänge, da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als geschichtliches Sein. [...] Die Rückverwandlung der konkreten Geschichte in dialektische Natur ist die Aufgabe der ontologischen Umorientierung der Geschichtsphilosophie: die Idee der Naturgeschichte.«90
Verkürzt formuliert geht es darum, Geschichte als naturhaftes Geschehen und Natur als geschichtlichen Moment zu lesen. Dieser Ansatz 88 Im Folgenden beziehe ich mich recht frei auf Adornos Benjamin-Interpretation. Dass die »Idee der Naturgeschichte« »Adorno als Schüler Benjamins« ausweist, darauf verweist u.a. Rolf Tiedemann: Mythos und Utopie. Aspekte der Adornoschen Philosophie, München 2009, S. 99. Adornos Benjamin-Interpretation ist häufig kritisiert worden; hier spielt dieser Aspekt aber keine Rolle. 89 Theodor W. Adorno: »Die Idee der Naturgeschichte«, in: ders., Philosophische Frühschriften. GS Bd. 1, Frankfurt a.M. 2003, S. 345-365, S. 356. 90 Adorno: »Die Idee der Naturgeschichte«, S. 355.
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speist sich aus der Einsicht, dass geschichtliche Momente als kulturelle Praxen in einen scheinbar naturhaften Stand als zweite Natur übergehen, während sich geschichtlich gedeutete Phänomene als naturhaft und invariabel erweisen. Die Matrix der Dechiffrierarbeit, die Geschichte als Natur und Natur als Geschichte deutet, bildet – für Benjamin – die Allegorie. Im allegorischen Objekt, in das sowohl die Natur als nicht-kontingenter als auch die Geschichte als kontingenter Moment eingegangen sind, sind dem »historischen Materialisten« auf dieser theoretischen Grundlage Geschichte und Vergangenheit erneut zugänglich. Besondere Bedeutung kommt dem allegorischen Objekt in seiner Vergänglichkeit und im Zerfall zu, »als tiefste[m] Punkt, in dem Geschichte und Natur konvergieren«.91 In seiner mutilierten Form erhält das Objekt volle Geltung und ermöglicht nun als Signifikant ohne Signifikat den erschließenden Zugriff des Allegorikers. Dient das allegorische Objekt als Speicher eines bestimmten geschichtlichen Erfahrungsgehalts, der gerade im Moment seiner Auflösung geborgen werden kann, so erlaubt der fragmentarische Charakter zugleich, einen neuen (subjektiven) Sinn in die Allegorie zu legen.92 Diese Vorgehensweise Benjamins, die Vergangenheit gerade dort, wo sie den Bezug zur Gegenwart scheinbar verloren hat, auf originäre Weise zugänglich und lesbar zu machen, ist für Sebalds Prosa von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Wurde es als das Problem des sebaldschen Erzählers identifiziert, dass er von der Vergangenheit zugleich getrennt und betroffen ist, ohne zu wissen, wie das Subjekt in dieser Geschichte impliziert ist, so bietet das Modell der Naturgeschichte nun einen Einsatzpunkt, der es ermöglicht, die Vergangenheit erneut zu erschließen. Das ist umso gewichtiger, wo sich die sinnlichen und kognitiven Leistungen des Subjekts als Mittel der Bewältigung als unzureichend erweisen. Auch dieser Aspekt wurde bereits angeführt. Ist der Zugang zur Vergangenheit
91 Ebd., S. 358. 92 An dieser Stelle grenzt sich Adorno entschieden von Benjamin ab. Während Benjamin den arbiträren Charakter der allegorischen Lesart eingesteht, versucht Adorno diesen Moment zu tilgen: »Das Allegorische ist nicht ein zufälliges Zeichen für einen darunter befaßten Inhalt; sondern zwischen Allegorie und allegorisch Gemeintem besteht eine Sachbeziehung«. Ebd., S. 358.
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und Tradition aufgrund der traumatischen Ereignisse unterbrochen, so werden nun nach dem Vorbild Benjamins Bruchstücke, die im Fortlauf der Geschichte übersehen und liegen geblieben sind, zum materiellen Träger bedeutenden geschichtlichen Gehalts. Weil die allegorische Lesart dem Objekt erst als Fragment volle Potentialität zumisst – das »Bruchstück« ist gemäß Benjamin »die edelste Materie der barocken Schöpfung«93 – wird der Distanz des nachträglichen Blicks eine überlegene Rolle eingeräumt und zwar explizit dort, wo es sich um Randständiges und Anachronistisches handelt. Sebalds Verfahren in Die Ringe des Saturn, die Geschichte über periphere, ebenso disparate wie arbiträre Fundstücke zu erschließen, entzündet sich in diesem Zusammenhang an der Idee der Naturgeschichte Benjamins. Erfolgt in Kapitel 3 eine eingehende Lektüre von Die Ringe des Saturn, so belegt ein vorläufiger, kursorischer Exkurs, dass der Text ohne diese Vorlage konzeptuell kaum denkbar wäre. Die melancholische Wallfahrt der Ringe konstruiert eine Topografie der europäischen Geschichte, die die zivilisatorischen Prozesse in ihrer Gesamtheit zu rekapitulieren sucht, bevor sie im 20. Jahrhundert mit der Vernichtung der Juden kulminiert. Der Text setzt aus der Retrospektive ein, nachdem der Erzähler nach einer einjährigen Wanderung mit einem Bandscheibenvorfall ins Krankenhaus eingeliefert wird und nun »in Gedanken zumindest« (RS 11) seine Reise aufzeichnet – die tatsächliche Niederschrift erfolgt ein Jahr später. Der Anspruch der Prosa könnte höher kaum gesteckt sein. Stationen des Zivilisationsund Kulturprozesses werden neben den zahlreichen literarischen Vorlagen und intertextuellen und -medialen Verweisen, die mit eingefügten Fotos, Gemälden, Graphiken und Zeitungsausschnitten belegt werden, ebenso verhandelt, wie ein Themenspektrum, das von den Anfängen der modernen Wissenschaftsgeschichte und Medizin über die Kolonialgeschichte der Nationalstaaten, die Industrialisierung bis hin zur Massenvernichtung von Tieren und Menschen reicht. Im krassen Gegensatz zum erschöpfenden Geschichtspanorama, das entscheidende Stationen der europäischen Kulturgeschichte aufruft, verläuft die Wallfahrt im anachronistischen Bewegungsmodus einer Fußwanderung, in Form eines »achtlosen Dahingehens« (RS 205), das sich im-
93 Walter Benjamin: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., GS Bd. I.I, Frankfurt a.M. 1991, S. 203-430, S. 354.
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mer wieder verirrt, entlang der englischen Küste in Suffolk, vollkommen abseits der entscheidenden Schauplätze von der europäischen Geschichte. Das Unterfangen aus dem ebenso arbiträren wie beschränkten Material, das dem Erzähler auf seinem Fußmarsch in die Hände fällt, die Geschichte der europäischen Zivilisation zu rekapitulieren, muss konzeptuell scheitern. Der Entwurf lässt sich nur aufgrund des skizzierten Modells der Naturgeschichte umsetzen, als einem Verfahren, das es erlaubt, die Geschichte konsequent von ihren Residuen und Rändern her zu erzählen. Was sich unter einer normalen Perspektive als inakzeptables Problem darstellt – eben dass die Vergangenheit nur noch in unzuverlässigen Spuren in die Gegenwart reicht – wird nun unter dem Blick des Allegorikers plötzlich zur Voraussetzung der Interpretation. Aber auch hier ermöglicht es wiederum nur die benjaminsche Verfahrensweise, das allegorische Objekt in seinem Zerfall mit subjektiver – und letztlich mit manipulativer – Bedeutung aufzuladen, um marginale und arbiträre Objekte in Beziehung zur Geschichte als ganzer zu setzen. In Kapitel VI. der Ringe dient Sebald eine (zu Beginn des Kapitels auch fotografisch abgebildete) Brücke über den Blyth als Objekt, um eine Überleitung zu China herzustellen, die zugleich die Kolonialgeschichte Englands einschließlich des Opiumhandels aufruft. Die 1875 errichtete, »schmale, eiserne Brücke« (RS 165) bildet nun den narrativen Knotenpunkt, der dem Erzähler den direkten Übergang von der (Erzähl-)Gegenwart in die kolonialgeschichtliche Vergangenheit erlaubt und sich somit als materieller Gedächtnisspeicher lesen lässt, der vom Erzähler als Allegoriker intentional erschlossen wird. »Unweit der Küste zwischen Southwold und der Ortschaft Walberswick führt eine schmale eiserne Brücke über den Blyth« (RS 165), so lautet der Einstieg ins Kapitel, auf der Spur der Fußwanderung. Nach einer knappen Beschreibung der Gegend folgt ein geschichtlicher Aufriss der Brücke, der den Bericht von »verschiedenen Lokalhistorikern« (RS 165) referiert, die von einer ursprünglichen Bestimmung der Brücke für einen Kaiser von China sprechen. Vermittels »längerer Nachforschungen« gibt der Erzähler daraufhin aus den »unsicheren Quellen« (RS 165) den kolonialgeschichtlichen Hintergrund wieder. Während die Erzählung den zeitlichen und örtlichen Wechsel in nur weni-
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gen Zeilen installiert, nimmt die historische Rekapitulation knapp 20 Seiten ein.94 Als allegorisches Objekt lässt sich die Brücke lesen, weil ihre narrative Einbindung in das Textgewebe zwar auf einem konkreten geschichtlichen Gehalt basiert, dieser unterliegt in seiner Ausdeutung jedoch dem spezifischen Blick des Erzählers. So wie die Brücke ikonisch auf der Fotografie zu Beginn des Kapitels zu sehen ist, verweist sie zunächst auf keinen bestimmten Gehalt. Wie das allegorische Objekt ist sie ihres Signifikats verlustig gegangen und harrt nun als »Totenmaske« (Benjamin) darauf, unter dem Blick des Allegorikers zu neuem Leben erweckt zu werden. Dass es sich bei der (allegorischen) Auslegung zumindest bedingt um einen arbiträren Exkurs handelt, gesteht Sebald ein, wenn er 20 Seiten später die Wanderung erneut aufnimmt und sinniert: »– Derlei Gedanken hatte auch ich im Kopf, als ich von der Brücke über den Blyth ein Stück weit entlang der aufgelassenen Bahnstrecke ging.« (RS 186) Es hätten sich immer auch andere, mehr oder weniger extensive Gedankengänge anschließen lassen. Die Beispiele der allegorischen Lesart disparater Objekte sind in Die Ringe derart zahllos, dass mit der Zeit die Quantität, weniger die Qualität einzelner narrativer Verknüpfungen und Ausführungen die Interpretation herausfordert. Die Geschichte von Roger Casement im vorhergehenden Kapitel V., deren Beginn der Erzähler zufällig abends in einer BBC Dokumentation sieht, bevor er in den ersten Zeilen des Kapitels »durch mein allmählich sich auflösendes Bewusstsein« (RS 125) weg dämmert, funktioniert wie das diskutierte Beispiel. Auf den nächsten 37 Seiten folgen Variationen bekannter Themen: Kolonisation, Macht, Homosexualität, Schreiben etc. Deutlicher als in anderen Kapiteln und Passagen fällt hier jedoch auf, dass sich der Exkurs nicht konsekutiv in die Narration und Rekapitulation der europäischen Zivilisationsgeschichte einfügt, sondern additiv. Zudem muss der Erzähler die »damals [...] verschlafene Geschichte aus den Quellen einigermaßen [...] rekonstruieren« (RS 126f.). Es wird nicht nur der enorme Aufwand deutlich, den die allegorische Geschichtskonstruktion erfordert, sondern ebenso die prekäre Beziehung zwischen dem Allegoriker und seinem Objekt, die an dieser Stelle in ihrer Brüchigkeit sichtbar
94 Fuchs argumentiert, dass Sebald mit dieser Form der Verknüpfung, die »Interdependenz von Lokalgeschichte und Weltgeschichte« ausstellt. Vgl. Anne Fuchs: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W.G. Sebalds Prosa, Wien u.a. 2004, S. 99.
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wird, wenn Sebald – wohlgemerkt aus dem Schlaf und Traumbewusstsein heraus – beschwörend postuliert, dass es sich bei der Fernseherzählung über Casement um »eigens für mich bestimmte Worte« (RS 126) handele. Nicht nur der Zufall, zu dieser Zeit an diesem Ort den Fernseher zu bedienen, sondern auch der Schlaf widerspricht der notwendigen oder auch nur bedeutsamen Fügung der Verknüpfung. Eingegliedert wird die Episode wiederum durch den interpretatorischen Eingriff des Erzählers, der den geschichtlichen Gehalt des Materials in Bezug auf die Gegenwart deutet.95 Wie verhält es sich nun aber mit einer Verkettungslogik, die sich – zumindest auf einer Ebene – rein summarisch in den Text fügt? Legt man einen Maßstab narrativer Ökonomie zugrunde, dann liefert das Kapitel m.E. nur Variationen bereits verhandelter Themen. Dass Die Ringe bewusst mit jeglicher narrativer Ökonomie brechen, entlastet dabei nicht von der Frage nach der Logik der Verknüpfungen. In Kapitel 3 wird ausgiebig zur Sprache kommen, wie Sebald die Verkettungslogik der Sätze reflektiert, indem er die Elaboration zum zentralen Element der Prosa erklärt, um sie zwischen den Polen der Erkenntnis und des Irrtums einerseits, der Paranoia und dem Zufall andererseits, changieren zu lassen. Zunächst bietet jedoch Benjamin einen Hinweis auf die Verwendung eines additiven, anstelle eines akkumulativen Verfahrens, wenn er im Trauerspiel-Buch auf die stereotype Addition der Bruchstücke in der barocken Dichtung zu sprechen kommt: »Denn jenen Dichtungen ist es gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen.«96 Was in der barocken Dichtung in der »unablässigen Erwartung eines Wunders«97 aufgetürmt wird, wandelt sich bei Sebald nun in eine Ansammlung von »Entsetzensschauer[n]« (RS 15). An dieser Stelle äußert sich der drohende Kontrollverlust des Erzählers, dem die konventionellen Ordnungsschemata, basierend auf den Kategorien von Vernunft und Ge-
95 Diese Passage ließe sich ferner in Bezug zum Surrealismus lesen, als wichtige Referenz für Sebald. Die écriture automatique bedient sich methodisch des Zustands zwischen Schlafen und Wachen, Traum und Wirklichkeit. Die derart gestifteten Bezüge sind für die Surrealisten bedeutsam und notwendig, trotz der irrationalen bzw. vorrationalen Logik. Auch die surrealistische Kategorie des »objektiven Zufalls« ließe sich diesbezüglich vielerorts auf Sebald anwenden. 96 Benjamin: »Trauerspiel«, S. 354. 97 Ebd.
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schichte, nicht mehr zur Verfügung stehen, um die Trümmer der Geschichte narrativ zu strukturieren. In Erwartung stets neuer, sich letztlich auch selbst reproduzierender Schrecken, wandelt sich im »Beziehungswahn des Erzählers«98 potentiell alles in eine Bedrohung. Kaum zufällig stößt der Erzähler ständig auf Wahnsinn und Paranoia, ohne sich selber davon auszunehmen. Signum der kognitiven Überforderung ist bei Sebald der Schwindel (der Titel des ersten Prosawerks Schwindel.Gefühle ist in dieser Hinsicht kennzeichnend für das Gesamtwerk). Sebald führt das Subjekt mit dem Schwindel bewusst an die Grenzen seiner kognitiven Fähigkeiten und illustriert einmal mehr die prekäre Verfasstheit der subjektiven und kollektiven Erinnerungs- und Gedächtnisvermögen. Davon ist aber zugleich die Möglichkeit der Narration betroffen. Die Frage nach der narrativen Perspektive rückt an dieser Stelle ins Zentrum des sebaldschen Erzählverfahrens. Gestaltet sich der Einsatz des Erzählers aufgrund der zeithistorischen Situation prekär, so geben im Folgenden Sebalds Verfahren der Perspektive in Die Ringe Aufschluss über die Krise des Erzählers, beschreiben aber zugleich auch erste Kompensationsstrategien. Die Fälschung der Perspektive Sebald begegnet der Unzulänglichkeit des Subjekts – die ihr Pendant in der Legitimationskrise des Erzählers findet – mit versatilen Strategien, die sich zunächst als eine Kritik der Perspektive formulieren. Dass die »Fälschung der Perspektive« identisch mit der »Kunst der Repräsentation der Geschichte« (RS 152) ist, beschreibt die epistemologischen Bedingungen einer Epoche, der die erkenntnistheoretische Skepsis immanent ist. »Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war.« (RS 152) Lässt sich mit der Ungewissheit und dem »Rätsel« (RS 29), wie die Dinge zusammenhängen, der Irrtum nicht ausschalten, so konstruiert der jeweilige Blick trotz allem reale Machtverhältnisse. Wenig originär verzeichnet Sebald die Weichenstellung, die konstitutiv für die Moderne ist, mit Descartes: »Bekanntlich lehrte Des-
98 Marcel Atze: »Koinzidenz und Intertextualität. Der Einsatz von Prätexten in W.G. Sebalds Erzählung ›All’estero‹«, in: F. Loquai (Hg.), W.G. Sebald, S. 151-175, S. 153.
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cartes in einem Hauptkapitel der Geschichte der Unterwerfung, dass man absehen muss von dem unbegreiflichen Fleisch und hin auf die in uns bereits angelegte Maschine.« (RS 26) Anhand von Rembrandts Gemälde Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaas Tulp (1632) beschreibt Sebald den geistesgeschichtlichen Moment, an dem das Auge vom konkreten Körper abgleitet und »freilich haarscharf, an ihm vorbei [blickt] auf den aufgeklappten anatomischen Atlas, in dem die entsetzliche Körperlichkeit reduziert ist auf ein Diagramm, auf ein Schema des Menschen« (RS 23). Helmut Lethen macht es sich an dieser Stelle zu einfach, wenn er Sebald einen Dualismus unterstellt, der Dunst und Atmosphäre binär gegen das Raster, als »zwei sich ausschließende Wahrnehmungsweisen«, ausspielt: »Der amorphe ›Dunst‹, in der Nähe als Leibesausstrahlung, in der Ferne als Atmosphäre, bildet im Text den Gegenpol zum Raster.«99 Anders als Lethen argumentiert, korreliert Sebald jedoch Dunst und Raster. Sein Gewährsmann ist hier (wie im gesamten Text) Thomas Browne (1605-1682), der kaum zufällig als Zeitgenosse von Descartes (1596-1650) auftritt. Der englische Arzt und Naturwissenschaftler Thomas Browne arbeitet ebenfalls mit Diagrammen und mathematischen Modellen, vor allem der »sogenannten Quincunx« (RS 31).100 Das in diagonalen Linien strukturierte Raster soll zeigen, »mit welch eleganter Hand die Natur geometrisiert« (RS 32). Formal besteht der Quincunx aus einer Überkreuzstellung von 5 Punkten; die X-Struktur lässt sich endlos katalysieren. Dient der Quincunx einerseits als Raster geometrischer und (mystischer) zahlentheoretischer Überlegungen, so kommt ihm kulturgeschichtlich eine signifikante Bedeutung zu, die Wirklichkeit zu erschließen.101 Für Browne ist der Quincunx das Paradigma der Wahrnehmung schlechthin: »[A]ll things are seen Qunicuncially; For at the
99
Helmut Lethen: »Sebalds Raster. Überlegungen zur ontologischen Unruhe in Sebald die Ringe des Saturn«, in: M. Niehaus/C. Öhlschläger (Hg.), W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 13-30, S. 19 u. 20. 100 Lethen übergeht die Referenz im Text und liest das Raster in Referenz zu Rosalind Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam u.a. 2000, S. 51-66. 101 In der Moderne erlebt der Quincunx eine Konjunktur, prominent mit Beckett. Vgl. Monika Bönisch: Archaische Formen in Samuel Becketts Romanen, Frankfurt a.M. u.a. 1984, S. 13-45. Zur Herkunft und Bedeutung vgl. ferner Bianca Theisen: »A Natural History of Destruction: W.G. Sebald’s The Rings of Saturn«, in: MLN 121 (2006), S. 563-581, S. 567ff.
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Abbildung 1: Quincunx, RS 31
eye the Pyramidical rayes from the object receive a decussation, and so strike a second base upon the Retina, or hinder coat, the proper organ of Vision.«102 Wie Anne Fuchs erklärt, schließt Browne hier an einen kosmologischen und neoplatonischen Diskurs an, dem es »um den Nachweis […] alles Seienden geht«,103 das allen sichtbaren Phänomenen als ontologisches Prinzip und Struktur zugrunde liegt. Browne steht hier aber zugleich in einer Wissenschaftstradition, in der Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst nach wie vor eine Einheit bilden. »Ohne Einsicht in Proportion und Geometrie keine Einsicht in die Ordnung der Dinge, kein Vermögen zur Naturgemäßheit der Darstellung und kein Wissen der Schönheit«104 – so lautet der Lehrsatz der holistischen Wissenschaftspraxis. Nicht die Geometrie oder das Raster
102 Thomas Browne: »The Garden of Cyrus«, in: ders., The Prose of Sir Thomas Browne, New York 1968, S. 287-344, S. 326. 103 Fuchs: Die Schmerzensspuren, S. 101. 104 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, S. 17.
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an sich bilden demnach das Übel, sondern die konkrete, wissenschaftliche Verfahrensweise.105 Mit der Methode Brownes konterkariert Sebald folglich den »starren cartesischen Blick« (RS 27), der nicht nur bewusst die »Ausgrenzung des doch offen zur Schau gestellten Körpers« (RS 26) provoziert, sondern die Abstraktion absolut setzt. Dem abstrakten Modell im »anatomischen Atlas« entspricht in der Konstruktion der Zentralperspektive die Substituierbarkeit des empirischen Betrachters durch eine imaginär konstruierte, ideale Betrachterinstanz. Zwar gilt es auf ein Schema als Bedingung von Erkenntnis überhaupt zu rekurrieren.106 Sebald kontrastiert diesbezüglich aber das subjekt- und zentralperspektivische Verfahren Descartes’107 mit dem Prinzip des Quincunx und darüber hinaus allgemein mit dem Modell des »Netzwerk[s]« (RS 113), beides Strukturen, die die Dinge untereinander zentrumslos in Beziehung setzen, anstatt sie einem hierarchischen Fokalpunkt zu unterwerfen. Zudem subsumiert Browne die Phänomene dem Schema nicht blind, sondern er verfährt zweigleisig. Neben der Frage nach der »Ordnung der Dinge« (RS 30) betreibt er zugleich das »neugierige Verfolgen singulärer Phänomene« (RS 33). Indem Browne auf diese Art und Weise das geometrische Modell mit einer »umfassende[n] Pathologie« (R 33), als zweitem, formal anders strukturierten Klassifizierungssystem ergänzt, begegnet er nicht zuletzt der Gefahr, den singulären Gegenstand durch Abstraktion und Substitution systematisch auszulöschen.108 Die stupende Anzahl von idosynkratischen Einzelgängern und abnormen Persönlichkeiten, die Sebalds Prosa bevölkern, beerbt nicht nur in dieser Hinsicht Brownes Katalog von Singularitäten und Abnormalitäten. 105 Saturn und Geometrie sind in der mythologisch-astrologischen Ordnung liiert und zeugen von der Fähigkeit der saturnischen Messkunst. Vgl. R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt a.M. 1990, S. 468ff. 106 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Kants Werke. Akademische. Textausgabe III, Berlin 1968, 135/ B. 179f. 107 Auf die Parallele von Descartes’ Philosophie und der Zentralperspektive, die beide auf das ego cogito, als imaginären Flucht- und Fixpunkt zulaufen, verweist Jens Schröter: »Digitale Perspektive«, in: K. Röttgers/M. Schmitz-Emans (Hg.), Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Essen 1999, S. 139-165, S. 145: »Der Cartesianismus ist genuin zentralperspektivisch.« 108 Fuchs spricht von einer doppelten Perspektive Brownes, die sich dem empirischen Studienobjekt und zugleich einer metaphysischen Weltsicht verschreibt. Vgl. Fuchs: Die Schmerzensspuren, S. 103.
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Abbildung 2: Krankenhausfenster, RS 12
Geht es allgemein um die Frage nach einer Ordnung der Dinge, so liefert die erste Fotografie im Text das Bild, das in methodischer Hinsicht die Wahlverwandtschaft zu Browne und dessen Korrelation von Dunst und Raster ausstellt. Der Blick aus dem Krankenhausfenster, der nur ein »farblose[s] Stück Himmel« (RS 10) zeigt sowie Wolken, die das untere Blickfeld des Fensters zu knapp zwei Dritteln einnehmen, bevor sie nach oben hin ausfransen, ist mit einem »schwarzen Netz« (RS 11) verhängt, das sich als Variation der Qunicunx-Struktur verstehen lässt.109 Ob und inwiefern der Text die Erwartung einlöst und nochmals ein Schema liefert, das aufzeigt, wie die Dinge im Innersten zusammenhängen, ist zunächst zweitrangig.110 Deutlich ist, dass der Text
109 Vgl. Steinaecker: Literarische Foto-Texte, S. 262f. Steinaecker weist nicht nur auf diese Korrespondenz hin, sondern spricht vom »wiederkehrenden Muster« und »Bauplan« für den Text, der in diesen Rastern angelegt ist. 110 Vgl. Fuchs: Die Schmerzensspuren, S. 103ff. Fuchs bespricht die zugleich kritische und emphatische Distanz Sebalds zu Browne unter Gesichtspunkten der Intertextualität.
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Abbildung 3: Chinesische Wachtel, RS 50
die Frage nach Ordnungsschemata, die sich auf geometrische Strukturen zurückführen lassen, konstruktiv zur Disposition stellt; auch wenn der schwarze Rahmen, der das Foto Sebalds umschließt, die potentiell endlose Struktur des Rasters (analog zur rahmenlos dargestellten Qunicunx) massiv begrenzt und somit die Frage nach den Grenzen bzw. der Rahmung aufwirft. Mit der Verkehrung der offenen in eine mit ihrer schwarzen Umrandung geschlossene Form, setzt Sebald m.E. gleich eingangs den für den gesamten Text wesentlichen Ton der Trauer und Melancholie. Wenn schließlich aber das Raster als Gitter auf einer weiteren Fotografie wiederkehrt und eine »einsame chinesische Wachtel« zeigt, »die – offenbar in einem Zustand der Demenz – in einem fort am rechten Seitengitter ihres Käfigs auf und ab lief und jedesmal, bevor sie kehrtmachte, den Kopf schüttelte, als begreife sie nicht, wie sie in diese aussichtslose Lage geraten sei« (RS 50), dann regen sich zwischenzeitlich Zweifel, ob nochmals eine Ordnung gefunden wird, die Aufschluss über die Wirklichkeit gibt, oder ob dem Verstand mit seinen »Geisteskonstruktionen« (RS 217) der Zutritt zu den Dingen nicht versperrt ist.111 Ohne die Überlegungen an dieser Stelle weiter fortzuset-
111 Auf dem Foto ist hinten im Käfig noch ein zweiter Vogel zu sehen; der Text spricht nur von einem. Es bleibt ungeklärt, ob das Foto fingiert oder die Erinnerung fehlerhaft ist. Noch mindestens drei weitere Abbildungen
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zen, gibt Sebalds Kritik an der Zentralperspektive erste Aufschlüsse über alternative Perspektivierungsstrategien, die dem Herrschaftsverhältnis über die Natur zu entkommen suchen. Die doppelte Perspektivierung von geometrischer Struktur einerseits, dem Katalog singulärer Phänomene andererseits, verhandelt Sebald zudem auf einer weiteren Ebene vermittels gegenläufiger Distanzierungsstrategien der Ferne und Nähe. In einem weiteren Schritt ist demnach zu zeigen, wie Sebald einen erhöhten Betrachterstandpunkt konsequent mit einem radikalen Einzug von Distanz kontrastiert. Die Levitation des Erzählers Erste Distanzierungsversuche Sebalds kamen bereits in Nach der Natur zur Sprache, wenn das lyrische Ich die eigene Biografie analog zu einer fossilen Versteinerung zu entziffern sucht. In Die Ringe wird die Distanznahme mit der Metaphorik der Höhe nun wörtlich eingelöst. Zunächst liefern erneut die Schriften Brownes eine Vorlage, die auf die Bedeutung des erhöhten Betrachterstandpunkts hinweist: »Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung, nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selber den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht.« (RS 30)
Ein ähnlicher Blick wie ihn Sebald an Kluge schätzt, wenn dieser seine Geschichten vom kühlen Blick des wissenschaftlichen Experimentators aus perspektiviert, wird auch hier hypostasiert: »das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt eines Außenseiters [...] mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten.« (RS 29) Einmal mehr zeigt sich, dass Sebald nicht per se den indifferenten, wissenschaftlichen Blick diskreditiert, sondern vielmehr eine Abstraktionsfähigkeit, die sich selbst gegenüber blind
zeigen zudem Raster- bzw. Netzwerkstrukturen, die hier jedoch nicht diskutiert werden. Vgl. S. 113, 218 u. 277. Die Erstausgabe ist zudem mit gerasterten Karten von Suffolk flankiert.
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bleibt. Zahlen und Formeln stellen durchaus ein probates Mittel dar, um den Schrecken versuchsweise zu taxieren.112 Wo Dunst und Atmosphäre ein Korrektiv zu Struktur und Diagramm bilden, kommt der Vogelperspektive als Traum- und Rauschzustand demnach ebenso Geltung zu, wie dem Schema.113 Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Erzähler nach der Einnahme von Schmerzmitteln in Assoziation zu Stifters Erzählung Der Condor »wie ein Ballonreisender [...] schwerelos dahingleitet«, »das Bewusstsein von [...] Dunstschleiern verhangen« (RS 28). Ziel ist es beides Mal, eine Gesamtschau zu erhalten, in der Gefahr, dass der Blick jeder Zeit ins Unheimliche kippt sowie im Einverständnis, dass letzte Gewissheit nicht zu haben ist. Denn der konstruierte Blick von »einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt« (RS 128) ist per Definition fallibel: »Wenn wir uns aus solcher Höhe betrachten, ist es entsetzlich, wie wenig wir wissen über uns selbst, über unseren Zweck und unser Ende.« (RS 114) Die künstliche Elevation erlaubt zwar eine Dissoziation, die den Betrachter zeitweilig den bedrückenden Umständen enthebt, der unheimliche Blick in den Abgrund verursacht jedoch (wie schon bei Stifter) eine nachhaltige Entfremdung. Während sich der Erzähler im Fortlauf der Fußwanderung in einer Heidelandschaft verirrt, wähnt er sich einmal mehr »am obersten Punkt der Erde« (RS 207). In diesem »Heidetraum« erfasst aber auch ihn (anders als unter der sedativen Wirkung der Medikamente im Krankenhaus) der Schrecken: »in meinem Heidetraum [...] stand ich zu gleicher Zeit auch draußen, einen Fuß nur vom äußersten Rand, und
112 Sebald spricht von der Melancholie als Widerstand, die »starren Blicks, noch einmal nachrechnet, wie es nur so hat kommen können« (BU 12). Wohl kaum zufällig hat das Quadrat bzw. Raster in Dürers Kupferstich Melencolia I (den Die Ringe auch nennt) die Funktion, mit Hilfe der mathematischen Kompetenz als magischem Zahlenquadrat den unheilvollen Einfluss Saturns abzuwenden. Vgl. Hartmut Böhme: Albrecht Dürer – Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung, Frankfurt a.M. 1989, S. 28f. 113 Die Analyse des ersten Fotos ließe sich hier noch weiter spinnen: neben Kafka referiert der Text Stifter. In der Erzählung Stifters steigt der Erzähler im Anbruch der Nacht zu seiner »Warte herauf«, einem »Dachfenster«, von dem er schließlich einen Heißluftballon mit Cornelia hoch oben im Himmel zu erblicken meint, bevor der Ballon in die Wolken eintaucht. Der Inhalt des Bildes, die Wolken in der unteren Bildhälfte, der Himmel oben, fänden hier ein Echo. Vgl. Adelbert Stifter: »Der Condor«, in: ders., Stifters Werke in vier Bänden. Bd. 1, Berlin 1973, S. 1-25, S. 12.
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war mir bewußt, wie schlimm es ist, so tief hinabzuschauen.« (RS 207) Der Beobachter kommt nicht mehr in den von Lukrez und Hans Blumenberg beschriebenen »Genuß des eigenen unbetroffenen Standorts«,114 sondern er ist unmittelbar von dem Geschehen affiziert: »Ich stand also sozusagen auf einem perforierten Stück Land, das jeden Moment nachgeben konnte.« (RS 87) Die Kehrseite der erhöhten Position, die Sebald hier auf einer Klippe an der englischen Küste einnimmt, ist mit dem löchrigen Grund, der jederzeit nachgeben kann, der freie Fall des Erzählers. Glaubt er bereits eingangs im Krankenhauszimmer stehend »von einer Klippe aus hinabzublicken« (RS 13), so bleibt es vorerst offen, ob das schwarze Netz, das über das Krankenhausfenster gespannt ist (in erkenntnistheoretischer Hinsicht) eine Struktur bildet, die den Fall des Erzählers aus den Wolken potentiell aufzufangen vermag. Die soweit geschilderten Maßnahmen, die auf eine Gesamtschau der Dinge zielen, kontrastiert Sebald im Gegenzug durch eine radikale Auflösung der Distanz. Bleiben die soweit geschilderten Distanzmechanismen den Kategorien der Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie weitgehend verhaftet (auch der Traum und Rausch bildet nur die Kehrseite der Vernunft), so steht der Distanzverlust explizit im Zeichen der Auflösung einer anthropomorphen, zugunsten einer kreatürlichen Perspektive.115 Die Inszenierung des Erzählers zu Beginn der Ringe als Gregor Samsa-Figur formuliert sich daher programmatisch.116 »In der krampfhaften Haltung eines Wesens, das sich zum erstenmal von der ebenen Erde erhoben hat, stand ich dann gegen die Glasscheibe gelehnt und mußte unwillkürlich an die Szene denken, in der der arme Gregor, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickt in undeutlicher Erinnerung, wie es heißt, an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen.« (RS 13)
114 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1979, S. 28. 115 Dieser Moment bildet ein Hauptinteresse von Eric Santners Studie. Vgl. Santner: On creaturely life. 116 Auch der Erzählung »Der Condor«, die Sebald eingangs aufruft, ist der Blicktausch mit einem Tier eingeschrieben. Als der Erzähler Stifters im ersten Abschnitt aus dem Dachfenster schaut, blickt er in die Augen seiner Katze. Vgl. Stifter: »Der Condor«, S. 1.
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Gleich eingangs projiziert sich der Erzähler als jene Figur Kafkas, die eine Verwandlung hin zum Tier, oder genauer, zum Insekt durchläuft, das in der Folge nicht nur einen kreatürlichen, sondern zugleich einen Blick von unten auf die Dinge wirft. Der aufrechte Gang der Familienangehörigen kontrastiert in Kafkas Erzählung radikal mit Gregors Froschperspektive des Insekts auf dem (Fuß-)Boden. Zieht man zusätzlich zu diesem Subtext Sebalds Deutung zu Kafkas Metamorphosen hinzu, so wird die Tragweite der Referenz vollends deutlich. Die Kehrseite der »Selbstzerstörung« der Kafkaschen Verwandlungen schreibt Sebald, ist »vom Standpunkt einer souveräneren Intelligenz her jedoch auch als ein auf Weiterentwicklung ausgerichtetes, naturhistorisches Experiment [zu lesen], als der Versuch eines in der Aussichtslosigkeit der eigenen Spezies sich gefangen wissenden Wesens, auszubrechen in den Bereich, in dem ein bereits verurteiltes Leben vielleicht doch noch fortsetzbar wäre«.117 Die literale Lesart der Kafkaschen »Mutationen«118 legt nahe, dass auch die Strategien der Angleichung des sebaldschen Erzählers als Probeläufe hin zu einer kreatürlichen Perspektive verstanden werden müssen. Mit diesem Ansatz entfernt sich der Text am radikalsten von subjekt- und zentralperspektivisch organisierten Ordnungsmustern. Plakativ demonstriert Sebald die Verkehrung der Ordnung zwischen Mensch und Tier bzw. Kreatur in einer weiteren Szene in Kapitel III, in einer Episode, die auf die biblische Geschichte der Heilung eines Besessenen anspielt.119 Bevor eine Herde von Schweinen am Rand hoher Klippen über dem Meer die Parabel evoziert, beschreibt der Erzähler die Begegnung mit einem Schwein, mit einer Zärtlichkeit, die Sebald sonst nur den missglückten Liebesbeziehungen beimisst: »Langsam öffnete es, als ich mich niederbeugte zu ihm, sein kleines, von hellen Wimpern umsäumtes Auge und blickte mich fragend an.« (RS 85) Wo die Sinne nicht länger unter dem Diktat der Ratio stehen, »fügt kontinuierlich Gleiches die Dinge und Lebewesen aneinander«.120 Während im Blicktausch und der Berührung mit dem Tier eine emphatische Begegnung stattfindet, die den Erzähler veranlasst, über den »kranken Menschenverstand« zu sinnieren, der der biblischen Parabel zugrunde liegt, in
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Sebald: »Tiere, Menschen, Maschinen«, S. 195. Ebd., S. 195. Vgl. Die Bibel: Markus 5:1-20; Lukas 8:26-39; Matthäus 8:28-34. Böhme: Natur und Subjekt, S. 217.
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der die Schweine als unreine Tiere verdammt werden, erblickt er von den Klippen herab eine Freudsche Urszene, ein kopulierendes Paar unten am Strand. Das menschliche Liebespaar beschreibt er nun in diametralem Gegensatz als »vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach den Nüstern entströmendem Atem seinem Ende entgegendämmert« (RS 88). Was sich hier in der hierarchischen Verkehrung holzschnittartig ausnimmt, inszeniert eine kreatürliche Perspektive, die sich als »Einübung in die Entäußerung« (UH 147) lesen lässt. »Voller Bestürzung« flieht der Erzähler die »unheimlich gewordene[] Stelle« (RS 88) – und verrät mit dem misanthropischen Blick die Allianz der Affinitäten, die in der Prosa austariert werden.121 Unterliegt die emphatische Identifikation mit Personen und Dingen einem kalkulierten Selektionsprozess der Sympathien, so folgt auch die Angleichung einem bestimmten Mechanismus. Wiederholt bedient sich Sebald auf narrativer Ebene der »merging identity«122 seines Erzählers. Am meisten Aufmerksamkeit hat die Identitätsverschmelzung in der Passage über den Dichter Michael Hamburger gefunden, wo »the voice and the text of Hamburger and Sebald’s narrator fuse«.123 Ohne die Sprecherinstanzen zu differenzieren, fließt die Stimme des Erzählers über in die des emigrierten Dichters. Die Grenzverwischung der Sprecherinstanzen wird zum einen auf grammatikalischer und syntaktischer Ebene durchgeführt, sie findet ihre Entsprechung aber gleichfalls auf inhaltlicher Ebene, wenn von der Wesensverwandtschaft beider die Rede ist:
121 Die Misanthropie nimmt sich hier polemisch aus. Von einem naturalistischen Standpunkt ist letztlich auch der Mensch als Produkt der Natur nur ein Exempel dieser Gewalt. Die antihumanistischen Invektiven, die bei Sebald in einer starken ethischen Disposition verwurzelt sind, richten sich wohl eher gegen die destruktive Domestizierung der Natur durch den Menschen. Sympathien finden hingegen die Außenseiter sowie die Kreatürlichkeit des Menschen, wo diese als solche zur Geltung kommt. 122 Marc McCulloh: Understanding W.G. Sebald, Columbia, SC 2003, S. 74. 123 Patrick Lennon: »An Intertextual Approach to W.G. Sebald and Laurence Sterne«, in: Denham u.a. (Hg.), W.G. Sebald, S. 91-104, S. 93. Die gleiche Feststellung findet sich auch bei André Aciman: »›Out of Novemberland‹. Review of The Rings of Saturn by W.G. Sebald«, in: New York Review of Books, 3.12.1998, S. 44-47, S. 46.
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»[D]ass wir beide den Sinn unserer Arbeit bezweifeln und dass wir beide an einer Alkoholallergie leiden, das ist nicht weiter verwunderlich. Aber warum ich gleich bei meinem ersten Besuch bei Michael den Eindruck gewann, als lebte ich oder als hätte ich einmal gelebt in seinem Haus, und zwar in allem gerade so wie er, das kann ich mir nicht erklären.« (RS 218)
Definiert sich der Individuierungsprozess des modernen Subjekts aufgrund von Abgrenzung und Differenz, so rekurriert Sebald auf vormoderne, magische Denkmuster, die auf Angleichung und Ähnlichkeit basieren. »Begleitet einen der Schatten Hölderlins ein Leben lang, weil man zwei Tage nach ihm Geburtstag hat? Ist man deshalb immer wieder versucht, die Vernunft abzulegen wie einen alten Mantel, Briefe und Gedichte unterthänigst zu zeichnen als Scardanelli.« (RS 217, Herv. P.S.) So wie der Name Hölderlins mit der Signatur »Scardanelli« in die Schrift eingewandert ist, ohne dass sich die Identität dieses Namens bestimmen ließe (sei es in Bezug auf Hölderlin oder die Dialektik von Vernunft und Wahnsinn), so wenig lässt sich die diffundierte Stimme des Erzählers in dieser Passage verorten. Die Erzählerstimme geht auch hier (wie in Referenz auf Kafka in Kapitel 1 angedeutet) in eine unidentifizierbare, neutrale über.124 Die Zusammenfassung der perspektivischen Anordnungen ergibt soweit eine komplexe Konfiguration. Zum einen verhandelt Sebald mit der Frage nach der Ordnung der Dinge das Verhältnis von Struktur und Phänomen. Das Darstellungsproblem ist in dieser Hinsicht dezidiert ein epistemologisches. Zum anderen tariert Sebald die Distanzverhältnisse zwischen Erzähler und Erzählgegenstand aus. Die makroskopische Perspektive des erhöhten Betrachterstandpunkts wird mit einer mikroskopischen korreliert. Die Frage, inwiefern sich die Vektoren dieser Fluchtlinien letztlich zu einer schlüssigen Perspektive bündeln lassen, ist Gegenstand von Kapitel 3. An dieser Stelle sei nur auf das Unbehagen verwiesen, das der sebaldsche Erzähler im Anbetracht der doppelten Perspektive äußert, die ihr Pendant im Riss eines Textgefüges aufweist, das keine narrative Schließung vornimmt. Die Irritation über eine Erzählung, in der die Ebenen der Darstellung nicht zusammen finden, äußert der Erzähler in Referenz auf eine »argentinische Schrift« (RS 89), Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Or124 Vgl. Theisen: »A Natural History of Destruction«, S. 573. Theisen bringt diese Passage gleichfalls in Bezug zur »neutralen Stimme«, wie sie in Kap. 1, S. 49ff. mit Joseph Vogls Kafka-Interpretation Erwähnung fand.
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bis Tertius, die »gegen offenkundige Tatsachen verstoßen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte in einer Weise, die es wenigen Lesern – sehr wenigen Lesern – ermöglichen sollte, die in dem Erzählten verborgene, einesteils grauenvolle, andernteils gänzlich bedeutungslose Wirklichkeit zu erahnen« (RS 90). Das Dilemma einer doppelten Perspektive wird hier als Unbehagen gegenüber einer Repräsentation des Schrecklichen interpretiert, das zugleich in einer vollständigen Bedeutungslosigkeit belassen wird. Borges begegnet dem horror vacui, indem er sich in Widersprüche verstrickt, die Knoten bilden, um den Fall der (wohl unaufmerksamen) Leser zu bremsen. Dass der Schrecken vor dem nihilistischen Sturz durch die narrativen Maschen vor allem auch ein Schrecken des Lesers Sebald ist, geht aus einem Interview hervor: »But it seemed to me [...] we somehow need to make sense of our nonsensical existence.«125 Wenn Sebald hier wie an anderen Stellen auf einer Sinnstiftung beharrt, so leitet er den Sinnverlust vom Mangel tragfähiger Mythen ab. In Bezug auf Kafka, der von einem »durch keinerlei Mythen mehr gesichertem Stadium«126 spricht, kommt Sebald gleichfalls auf die produktive Funktion von Mythen zu sprechen, die »von Anbeginn an sehr konkrete Regulationsfunktionen, die unserem Leben nicht nur sein psychologisches, sondern auch sein wirtschaftliches, soziales und rechtliches Gepräge gaben«.127 Mit der Frage nach der Sinnstiftung und dem Mythos erhärtet sich die skizzierte Tendenz der sebaldschen Prosa, die die negative Konzeption einer Naturgeschichte der Zerstörung zu kompensieren sucht. Vorab lässt sich die Aporie des sebaldschen Erzählers soweit jedoch schlüssig zusammenfassen. Im Anschluss an eine traumatische Geschichte stehen dem Erzähler kaum Anknüpfungspunkte und vor allem kein sinnstiftendes Ordnungsgefüge zur Verfügung, um eine Fortschreibung von Geschichte und Literatur zu begründen. Anders als Bernhard insistiert Sebald in dieser Situation jedoch auf einer produktiven Kategorie der Geschichte und zwar als transhistorischer Konzeption, die vor allem die Natur als Ordnungskategorie zugrunde legt. Zeigt die Lektüre von Die Ringe in Kapitel 3, dass Sebald »im vollen Bewusstsein [...] [der] antimetaphy-
125 Vgl. Joe Cuomo: »The Meaning of Coincidence – An interview with the writer W.G. Sebald«, in: The New Yorker, 3.9.2001. 126 Sebald: »Tiere, Menschen, Maschinen«, S. 200f. 127 Ebd., S. 199.
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sischen Erkenntnis die metaphysische Spekulation nicht aufgibt« (UH 158) und letztlich eine metaphysische Erfahrung zu rehabilitieren sucht, die das Subjekt in Beziehung zum Kosmos setzt, so sind die Pole der Fortschreibung der Geschichte soweit aufgezeigt. Die Naturgeschichte der Zerstörung beschreibt jene Destruktionsgeschichte, die einen Kulminationspunkt im 20. Jahrhundert findet und einen apokalyptischen Verlauf erahnen lässt. Wo der Erzähler Sebalds wider Willen in die kollektiven, destruktiven Prozesse der Geschichte und Zeitgeschichte verstrickt ist, bildet die Idee der Naturgeschichte nach Benjamin ein Modell, das es dem Erzähler erlaubt, nochmals an eine traumatisch strukturierte Vergangenheit anzuschließen. Die Frage, ob sich erneut eine Konzeption der Geschichte erlangen lässt, in der das Subjekt in Kommunikation mit der Natur und dem Kosmos zu treten vermag, indem sich die Ordnung zeitweise verkehrt und »die Dinge uns ansehen« (UH 158), ist Thema in Kapitel 3. Soweit befindet sich der Erzähler nach wie vor in der Schwebe, auf dem perforierten Stück Land über dem Abgrund.
2.3 K ERTÉSZ – D IE D OPPELBINDUNG DES ERZÄHLERS Analog zu Bernhard und Sebald, steht auch das Schaffen von Kertész im Zeichen einer destruktiven Moderne. Die Zerstörung, so Kertész, hat sich in diesem Jahrhundert als »eigentliche Aufgabe« (GT 201) und somit als Telos von Gesellschaft und Geschichte erwiesen. Anders als für Bernhard und Sebald ist die geschichtsphilosophische Zäsur für den Ungarn mit Auschwitz jedoch eindeutig indiziert. Anstelle eines geschichtsphilosophischen, degenerativen Narrativs, reevaluiert Kertész die europäische Kulturgeschichte »im Schwefellicht« von Auschwitz. Als radikale Zäsur betrifft Auschwitz dabei gleichermaßen die Vor- wie die Nachgeschichte, mit der Konsequenz, dass sämtliche Begriffe, sowie das Selbstverständnis des Menschen, neu gedacht werden müssen: »Ich habe im Holocaust die Situation des Menschen erkannt, die Endstation des großen Abenteuers, an der der europäische Mensch nach zweitausend Jahren ethischer und moralischer Kultur angekommen ist.« (ES 252) Markiert Auschwitz einen Endpunkt der abendländischen Kulturgeschichte, so ist davon gleichfalls die Literatur betroffen: »Wenn jemand über Auschwitz schreibt, muss er sich darüber im klaren sein,
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dass Auschwitz die Literatur – wenigstens in einem gewissen Sinn – aufhebt.« (ES 251) Zwar vermag die Literatur, »als Produkt[] eines plötzlichen Innehaltens, eines Zauderns angesichts der eigentlichen Aufgabe der Zerstörung« (GT 201), die Destruktion nochmals zu reflektieren. Ihren kulturstiftenden Dienst büßt sie jedoch ein. Im Folgenden geht es darum, eben jenen Begründungszusammenhang zu analysieren, der den Fortbestand der Literatur laut Kertész gefährdet. Das Scheitern einer Fortschreibung lässt sich auch hier – wie schon bei Bernhard und Sebald – prägnant an der Figur des Erzählers ablesen. Auschwitz als Gleichnis Zunächst ist Auschwitz eine Folge des Totalitarismus, den Kertész – ohne an dieser Stelle zwischen den Totalitarismen näher zu unterscheiden –128 als zeitgeschichtlich neues Phänomen der Moderne beschreibt: »Der Totalitarismus ist die große Neuheit dieses Jahrhunderts, diese ungeheuerliche, bis in die Grundfesten erschütternde Erfahrung.« (ES 58) Indem Kertész’ Interesse am Totalitarismus auf den Erfahrungsbegriff zielt, den die totalitären Regime zeitigen, fällt seine Beschäftigung weitgehend apolitisch und ahistorisch aus: »Mich interessiert das sogenannte historisch Spezifische dieser gewissen Geschichte höchstens am Rande.« (ES 118) Zwar teilt Kertész die Einsicht, dass der Totalitarismus allein aufgrund der modernen Gesellschaftsstrukturen möglich war, als Phänomen der Massengesellschaft sowie eines bestimmten Niveaus der Technisierung und Bürokratisierung. Insofern kommt Kertész’ mit seiner Bewertung der Moderne tendenziell mit Bernhard und Sebald, aber darüber hinaus auch mit frühen Theoretikern des Totalitarismus wie Adorno, Horkheimer oder Hannah Arendt überein. Kertész geht es jedoch weniger um die Herleitungsgründe, als vielmehr um die Konsequenzen des Totalitarismus, und zwar nicht im Hinblick auf die Manifestationen von Masse und Macht, sondern bezüglich der Konstitution und Bedeutung des Individuums, wie sie insbesondere der Humanismus prägte. Der Totalitarismus – so eine zentrale These von Kertész – zielt auf die Auslöschung
128 In »Die Unvergänglichkeit der Lager« (ES 42-52) kommt Kertész auf die Differenz zu sprechen. »Der Gulag«, so Kertész, »ist trotz aller Ähnlichkeit eine andere Erzählung« (ES 52). Trotz allem interessiert sich Kertész auch hier kaum für die Differenz der Systeme aus historischer Perspektive.
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des Subjekts als Individuum.129 »Dieses Ich-lose Wesen ist die Katastrophe, das wahre Böse.« (L 64) Dieses Ich-lose Subjekt, das der Totalitarismus produziert, bildet für Kertész den neuralgischen Punkt. Die Krise von Geschichte und Erzählung findet letztlich hier ihre Begründung: »Denn eben das ist die große Magie [...], das Dämonische: dass die totalitaristische Geschichte unseres Jahrhunderts von uns die ganze Existenz fordert, uns aber, nachdem wir sie ihr restlos gegeben haben, im Stich lässt, einfach weil sie sich anders, mit einer grundlegend anderen Logik fortsetzt. Und dann ist für uns nicht mehr begreiflich, dass wir auch die vorhergehende begriffen haben, das heißt, nicht die Geschichte ist unbegreiflich, sondern wir begreifen uns selbst nicht.« (ES 117)
Die individuelle Existenz und der Lauf der Geschichte treten im Totalitarismus unrettbar auseinander, während ›die Geschichte‹ das Subjekt zugleich in ungekanntem Ausmaß determiniert. In der Folge zerfallen die Kategorien, die eine sinnstiftende Erzählung des Menschen über sich selbst ermöglichen würden. Was im Totalitarismus angelegt ist, findet seine Kristallisation in Auschwitz, wo die Auslöschung des Individuums der totalitären Ordnung als ›Gesetz‹ eingeschrieben ist. Gibt Auschwitz Auskunft über den Totalitarismus als der prägenden Erfahrung des 20. Jahrhunderts, so entscheidet sich dort zugleich, welche Bedeutung diesem Ereignis zukommt: »Ich sehe darin das einzige ernste Problem, über das zu entscheiden ist: ob die Erfahrung der Konzentrationslager im 20. Jahrhundert eine universale oder eine marginale Frage ist.« (DK 122) Das zeitgenössische Selbstverständnis erschließt sich demnach aus der Frage, welche Bedeutung der Shoah zukommt. Formal konstruiert Kertész Auschwitz als Knotenpunkt: Signalisiert es einerseits ein Ende einer bestimmten Erzählung des Menschen über sich selbst, so muss es andererseits als Ausgangspunkt für alles weitere kulturelle und geistige Leben betrachtet werden. »In diesen Flammen wurde alles zerstört, was wir bis dahin als europäische Werte
129 Leo Löwenthal beschreibt den Transformations- und Auslöschungsprozess des Individuums im Totalitarismus in sechs Stadien. Vgl. Leo Löwenthal: »Individuum und Terror«, in: D. Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988, S. 15-25.
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schätzten, und an diesem ethischen Nullpunkt, in dieser moralischen und geistigen Finsternis, erweist sich als einziger Ausgangspunkt gerade das, was diese Finsternis erzeugt hat: der Holocaust.« (ES 216) In dem Maß, wie der kathartische Durchgang zum Scheitern verurteilt ist, konstituiert sich Auschwitz aber antinomisch. Einen Pol bildet Auschwitz als unvergleichlich destruktives Geschehen, das alle bestehenden Werte auslöscht; dem gegenüber steht es als Ereignis, das »durch unermeßliches Leid zu unermeßlichem Wissen geführt hat« (ES 216). Ähnlich formuliert Kertész die Gegenläufigkeit an anderer Stelle: »Ich wurde durch mein Judentum in die allumfassende Welt der negativen Erfahrung eingeweiht; denn alles, was ich aufgrund meiner jüdischen Geburt durchmachen mußte, betrachte ich als Initiation; eine Initiation in das höchste Wissen um den Menschen und die Situation des Menschen unserer Zeit.« (ES 144) Extremer könnte die Polarität, mit der Kertész Auschwitz fasst, kaum ausfallen. Finden sich durchaus Ansätze, die eine Sakralisierung nahe legen, so schreibt Kertész den Holocaust jedoch keineswegs als absolutes, negatives Ereignis transzendental fest. Vielmehr geht es ihm dezidiert um eine sinnstiftende Transformation der Auschwitz-Erfahrung, die das Subjekt wieder in eine sinnfällige Beziehung zu sich selbst und zur Geschichte als ganzer setzt. Zuvor ist jedoch zu klären, inwiefern Auschwitz tatsächlich ein universales Problem bzw. ein »universales Erlebnis« (ES 58) darstellt. Die Universalität des Holocaust steht für Kertész – zumindest aus europäischer Perspektive – außer Frage. Kertész ist dabei jedoch kaum an der Präzedenzlosigkeit von Auschwitz als historischem Ereignis interessiert. Vielmehr geht es ihm um ein ethisches und rationales Verständnis. Demgemäß spricht er von Auschwitz als »universalem Gleichnis« (ES 45), »Welterfahrung«, »europäischem Trauma« (ES 216) und dass man Auschwitz »vielleicht einmal als den Beginn einer neuen Zeitrechnung betrachten wird« (ES 145). Die Wendungen zielen allesamt auf eine Allgemeingültigkeit von Auschwitz als ethischem Ereignis: »Ich [habe] mich in erster Linie [...] mit den ethischen Folgen des Erlebens und Überlebens befasst.« (DK 78, Herv. i.O.) Dieses Interesse konterkariert die Anliegen historischer Forschungen, die den Holocaust primär als historisches Ereignis verstanden wissen wollen. Der Historiker Dan Diner unterscheidet in diesem Zusammenhang »eine historisch argumentierende Perspektive, wie sie vor allem von den Opfern eingenommen wird; und [...] eine eher ins Universelle drängende, anthropologisch geleitete Wahrnehmung des Geschehens.
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Letzter [Ansatz, P. S.] fokussiert dessen Bedeutung für die Gattung als solche. Beide Perspektiven sind notwendig ungleich.«130 Diner spricht sich nun dagegen aus, anthropologische Lehren aus Auschwitz zu ziehen, weil »[e]ine derartige Befragung [...] Geschichte durch Anthropologie ersetz[t]«, mit dem Resultat, dass Auschwitz seine (historische) Singularität verliert und »zum bloßen Exempel [...] – zu einem Genozid unter anderen Genoziden mutier[t]«.131 Entgegen dieser historischkritischen Perspektive, votiert Kertész dezidiert für eine anthropologische oder, genauer, für eine ethische Perspektive, die in einer Terminologie von Auschwitz als »Gleichnis«, »Metapher« oder »AuschwitzMythos« (GT 32) explizit auf ein Verständnis und eine Verallgemeinerung zielt, die Diner zu verhindern sucht. »Ich war also bei der Entstehung des neuen Mythos zugegen« (ES 66), äußert Kertész – eine Begriffswahl, die positiv zu lesen ist. Erst als Gleichnis verdichtet sich für ihn in Auschwitz der geistige und kulturelle »Bankrott« der europäischen Zivilisation. »Der Holocaust ist nämlich – dem Wesen seiner Charakteristika nach – kein Geschichtsereignis, so wie es andererseits kein Geschichtsereignis ist, dass der Herr auf dem Berge Sinai Moses eine Steintafel mit eingravierten Schriftzeichen übergab.« (ES 87) Um den zivilisatorischen Tiefpunkt zu qualifizieren, reduziert Kertész Auschwitz bewusst zu einem gleichnishaften Geschehen und bringt es ferner in Beziehung zum mosaischen Gesetz und Kreuzestod Christi, als zwei prägenden ›Metaphern‹ der abendländischen Kultur. Bevor das 5. Gebot des mosaischen Gesetzes, »Du sollst nicht töten«, in das römische Gesetz eingeht, artikuliert sich in der Erzählung von der Verkündigung der zehn Gebote eine Wertstiftung des gewöhnlichen Lebens, die in vielerlei Hinsicht das geistig-moralische Fundament der abendländischen Kultur bildet. Der Nationalsozialismus konzentriert sich in diesem Kontext konsequent auf die Vernichtung der Juden: »Ich muss kaum daran erinnern«, schreibt Kertész, »dass das Judentum ursprünglich als moralische Kultur zu Ruhm kam: Es hat der Welt den Monotheismus geschenkt.« (ES 59) Mit der Vernichtung der Juden zielen die Nationalsozialisten zugleich auf die Aufhebung des Tötungsverbots und damit auf die Etablierung einer neuen Ordnung: »In diesem Schwefellicht [von Auschwitz, P. S.] erneuerte der Geist
130 Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 14. 131 Ebd., S. 18.
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der Erzählung die in Stein gemeißelten Worte; in dieses bedrückende neue Licht hat er nun die uralte Geschichte gestellt und aus dem Gleichnis Wirklichkeit werden lassen.« (ES 59) Von universaler Bedeutung ist Auschwitz demnach, weil sich der Angriff mit der Aufhebung des Tötungsverbots gegen das Grundverständnis der europäischen Zivilisation richtet und den nach Kertész bisher unwiderlegten Nachweis brachte, dass der Mord eine mögliche Lebensform darstellt. Der Zivilisationsforscher Gunnar Heinsohn kommt dieser These im Befund nahe, wenn er argumentiert, »dass der Mord an den Juden aus Fleisch und Blut der Versuch gewesen ist, die Ethik des Judentums zu beseitigen, die ihren überwältigenden Kerngedanken in dem aus der Opferverwerfung resultierenden Recht auf Leben hat«.132 Wie Heinsohn zeigt, geht die Negation mit der Inthronisierung einer neuen Wertekonzeption einher, die als Weltanschauung ebenso von universalem Anspruch ist wie das Tötungsverbot, das ausgehend vom Judentum in das abendländische Gesetz Eingang gefunden hat: »Die Judenbeseitigung sollte das Recht auf Töten wiederherstellen. Auschwitz war ein Völkermord für die Wiederherstellung des Rechts auf Völkermord.«133 In Übereinstimmung mit Heinsohns These schreibt gleichfalls Kertész, dass »[d]er Mord als Weltanschauung, der Mord als Verhaltensform« (ES 123) sich mit dem Nationalsozialismus institutionell legitimieren konnte. Auschwitz ist präzedenzlos, weil das Tötungsverbot nicht nur aufgehoben, sondern ideologisch und institutionell durch ein naturalistisches, archaisches Recht ersetzt wurde. Ohne die historischen und sozialen Entwicklungen des nationalsozialistischen Antisemitismus näher in Betracht zu ziehen, ist der Angriff von Hitler auf das Judentum aus dieser Perspektive ›konsequent‹, weil das Judentum historisch und geistig den Ursprung einer Moral markiert, die das schwache Leben schützt und ihm um seiner selbst Willen einen Wert zuschreibt. Das Skandalon von Auschwitz liegt nun aber weniger in der Intention das Tötungsverbot aufzuheben, als vielmehr darin, dass der Mord als Verhaltens- und Lebensform tatsächlich implementiert werden konnte. »Es hat sich erwiesen, dass die Daseinsform des Mordens eine
132 Gunnar Heinsohn: Warum Auschwitz? Reinbek b.H. 1995, S.18. Anders als Kertész, der das mosaische Gesetz explizit als Gleichnis versteht, sucht Heinsohn nach einem historischen Ursprung, der die Heiligsprechung des Lebens mit dem »umraunte[n] Verbot der Kindestötung« (S. 13) inauguriert. 133 Ebd., S.18.
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lebbare und mögliche Daseinsform, dass sie also institutionalisierbar ist.« (ES 123, Herv. i.O.) Auch in dieser Hinsicht ist Auschwitz von universellem Belang. Als Gleichnis verdichtet sich hier eine Erfahrung, die seitdem unabweisbar wurde: Mit Auschwitz muss der Mord als mögliche – soziale – Existenzform des Menschen gedacht werden. »Wie die Offenbarung des Johannes steht sie vor uns [...] die furchtbare, aus dem europäischen Geist der Erzählung nicht mehr zu vertreibende Lehre.« (ES 46) Als Lehre liegt die Bedeutung des Holocaust im Bereich der Ethik – auch wenn diese Lehre sich (gemessen an herkömmlichen Maßstäben) absolut negativ formuliert und von einer Realität zeugt, von der wir besser nichts gewusst hätten. Wie lässt sich Auschwitz in seiner ethischen Bedeutung jedoch näher bestimmen? Oder, anders formuliert: Wie lässt sich genau beschreiben, was sich mit Auschwitz als ethischem Ereignis vollzogen hat? Ethik ›nach Auschwitz‹ Rolf Zimmermanns Studie Philosophie nach Auschwitz, die Auschwitz aus moralphilosophischer Perspektive diskutiert, ist an dieser Stelle aufschlussreich. Zimmermann beschreibt begrifflich, inwiefern Auschwitz keine Grenzerfahrung, sondern eine Grenzüberschreitung markiert und damit einen Paradigmenwechsel im strengen Sinn. Was die pauschalen Thesen von Kertész nur unscharf artikulieren, beispielsweise wenn er davon spricht, dass mit Auschwitz eine »unübertretbare Demarkationslinie« (ES 251) überschritten wurde, oder dass sich das Menschenbild, das der Humanismus des 18. und 19. Jahrhunderts entwarf, nicht mehr aufrecht erhalten lässt (vgl. ES 146), analysiert Zimmermann als Philosoph Schritt für Schritt. Folgt man der These, dass im Nationalsozialismus mit der Negation des Verbots zu töten auch ein neues Recht – das Recht auf Töten – inauguriert wurde, dann muss man Auschwitz anhand einer doppelten Bewegung fassen: als Gattungsversagen und als Gattungsbruch.134 Die Tatsache, dass Auschwitz nicht verweigert wurde, sondern von der Bevölkerung toleriert und getragen, bezeichnet Zimmermann als Gattungsversagen. Die Menschen haben den »Gattungsnegativismus« des Nationalsozialismus, der die Vernichtung der Juden intendierte, akzep-
134 Rolf Zimmermann: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek b.H. 2005, S. 10.
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tiert. Aber der Nationalsozialismus verkörperte zugleich eine neue Weltanschauung.135 Mit dem Entwurf einer »neuen Lebensform«, eines »wahren Sozialismus« und schließlich der Umgestaltung des Menschen, die nicht zuletzt durch ein weitflächiges Erziehungsprogramm implementiert wurde, nimmt sich die nazistische Ideologie als Utopie aus. »Diese Sachverhalte unterstreichen die von Hitler selbst gesehene Erziehungsaufgabe seiner Bewegung und bekräftigen den Tatbestand, dass so etwas wie eine nazistische Transformationsmoral oder eine Konzeption von epochaler moralischer Transformation zum Kern der nazistischen Weltanschauung gezählt werden muss.«136 Weil der Nationalsozialismus sich als Weltanschauung formuliert und mit dem Tötungsrecht das herkömmliche moralische Verständnis ersetzt, spricht Zimmermann von einem Gattungsbruch. Es hat sich erwiesen, »dass die Transformierbarkeit des Menschen in eine andere moralische Welt real möglich erschien«.137 Die herkömmlichen, moralischen Kategorien vermögen dieses »moralische Anderssein« nicht auszudrücken. Sind beide Momente, Gattungsversagen und -bruch, notwendig, um hinreichend zu beschreiben, wie und was sich mit Auschwitz als moralischem Ereignis vollzogen hat, so liegt das nachhaltige Skandalon im zweiten Moment, dem Gattungsbruch. Wie Zimmermann darlegt, zeichnet sich die Zäsur in Bezug zu Kants Gattungstraditionalismus ab. Für Kant ist es undenkbar, dass der Mord eine institutionelle Lebensform des Menschen darstellt. Kants Gattungstraditionalismus geht davon aus, dass sich die Achtung eines jeden Menschen als Menschen im Einzelnen als inhaltliches und universales Postulat verankern lässt. Zwar hat der Mensch eine natürliche
135 Zygmunt Baumann verweist darauf, dass der Nationalsozialismus auch als konstruktiver und kreativer Akt verstanden werden muss. Baumann bedient sich illustrativ einer Gartenmetaphorik: »a gardener’s vision, projected upon a world-size screen«. Zygmunt Baumann: Modernity and the Holocaust, Oxford 1989, S. 91ff. Vgl. ferner Saul Friedländers Begriff des »Erlösungsantisemitismus«. Friedländer skizziert eine Form des Antisemitismus, der vom frühen 19. Jahrhundert bis zu Hitler reicht und der seinen Impetus aus dem Kampf gegen die Juden nimmt. Die Befreiung von »den Juden« kommt einer Erlösung der »arischen Welt« gleich, wodurch der Beseitigung der Juden eine sinn- und gemeinschaftsstiftende Funktion zukommt. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Verfolgung und Vernichtung 1933-1945, Bonn 2006, S. 101ff. 136 Zimmermann: Philosophie nach Auschwitz, S. 38. 137 Ebd., S. 10.
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Anlage zum Bösen, die sich gegen die sittliche Ordnung richtet, aber das Böse vollzieht sich bei Kant stets im Rahmen eines festen moralischen Ordnungsgefüges. Dank seiner Vernunft weiß der Mensch, was gut ist, kraft seiner Vernunft strebt er nach dem Guten. Bei Kant, so die Formulierung Zimmermanns, ist das Moralgesetz gemäß dem kategorischen Imperativ »so tief in die menschliche Natur qua Vernunftnatur verankert, dass auch der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewöhnt ist«,138 keine Möglichkeit hat, sich der vernünftigen Einsicht in seine moralischen Bindungen zu entziehen. Apriori und universal ist das Moralgesetz gleichsam anthropologisch im Menschen fundiert. Lässt sich dieser Moment als Gattungsuniversalismus bezeichnen, der eine grundsätzliche Aussage über den Menschen trifft, so zerbricht dieses Bild, das den Inhalt eines moralischen Universalismus mit der Idee eines Gattungsuniversalismus begrifflich zusammenbringt, nachhaltig. Kants Begriff des Bösen zielt nur auf den Moment des Sittenbruchs.139 Der Nationalsozialismus vollzieht sich aber nicht nur als banales Verbrechertum (Arendt), sondern zugleich als »nichttriviale Wertekonzeption«,140 die eine neue moralische Ordnung etabliert. Es ist wieder der zweite Moment, der qualitativ neu ist: die Möglichkeit eines brutalen Naturalismus als konstitutive Weltanschauung. Damit kündigt sich eine »weit radikalere Art des Bösen« an, die »in der Aufkündigung des Moralgesetzes selbst, in der Zerschlagung der Rahmenordnung des kategorischen Imperativs, in der Postulierung anderer Imperative oder anderer Werte«141 steht. Zimmermann kommt zu folgendem Schluss: »Der moralische Gattungsbruch des Nazismus ist im Rahmen von dessen Weltanschauung zu sehen, die ein moralisches Transformationsprojekt des Menschen impliziert, zu dessen konstitutivem Bestandteil der antijüdische Gattungsnegativismus gehört: Wie immer im Einzelnen weiter interpretierbar, liegt in diesem Sachverhalt die ›objektive Bedeutung‹ der mit dem Holocaust verbundenen moralischen Zäsur.«142
138 Ebd., S. 10. 139 Wie Zimmermann darlegt, trifft auch Arendt – die von Kant her argumentiert – mit ihrer Wendung der Banalität des Bösen »allenfalls einen Teilaspekt der umfassenderen Problematik«. Ebd., S. 31. 140 Ebd., S. 31f. 141 Ebd., S. 31. 142 Ebd., S. 39.
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Zimmermanns Ausführungen sind erhellend, weil sie begrifflich präzisieren, inwiefern Auschwitz ›objektiv‹ als Grenzüberschreitung gedacht und beschrieben werden kann. Zudem stimmt Zimmermanns Befund mit Kertész in der bedeutsamen These überein, dass Auschwitz als Daseinsform von einem moralischen Anderssein zeugt, das ein qualitativ neues Moment darstellt. »Auch das Böse besitzt eine Ethik« (GT 14), schreibt Kertész und legt damit gleichfalls nahe, dass der Nationalsozialismus als produktive Ethik und Moral gedacht werden muss. Wenn Zimmermann diesbezüglich vom Nazismus als Versuch spricht, »eine Welt zu schaffen, die moralisch gesehen einem anderen Planetensystem zuzurechnen ist«,143 findet auch diese Metapher ihre exakte Entsprechung bei Kertész: »Auschwitz ist ein anderer Planet.« (L 121)144 Nicht nur der Begriff des Bösen muss anders gedacht werden; weil die Vorstellungen von gut und böse sich nicht länger in der Natur des Menschen verankern lassen, ändert sich damit auch das Selbstbild des Menschen. Zimmermann zieht daraus den Schluss, in einer pragmatischen Wende Grundlagen für einen neuen Gattungsuniversalismus zu schaffen. Weil Auschwitz sich als mögliche Daseinsform des Menschen jederzeit wiederholen kann, muss es verhindert werden. Der moralphilosophische Ansatz von Zimmermann gründet dabei auf dem Urteil, dass Auschwitz als mögliche Daseinsform des Menschen zwar Rechnung getragen werden muss, aber auszuschließen ist. An dieser Stelle lässt sich nun Kertész’ Position differenzieren. Während Zimmermann aus der Außenperspektive ein Urteil über Auschwitz fällt, dem wohl keiner widersprechen will – dass Auschwitz sich nicht wiederholen darf –, beharrt Kertész aus einer radikalen Innenperspektive auf der Erfahrung von Auschwitz, als einem Ereignis, über dass sich nicht oder nicht so leicht ein Urteil fällen lässt. Es ist in diesem Kontext von nicht geringer Bedeutung, dass Zimmermann in seinem moralphilosophischen Entwurf nicht auf die Erfahrung des La-
143 Ebd., S. 10. 144 Die Metapher ist freilich kaum originär. Raul Hilberg berichtet, dass Überlebende oft den Ausdruck »Planet Auschwitz« verwendeten. Trotz allem kommt ihr hier durch die Kontextualisierung eine präzise Bedeutung zu, die auf einen qualitativen bzw. strukturellen Unterschied verweist. Vgl. Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer, Frankfurt a.M. 1992, S. 208.
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gers und des sogenannten »Muselmanns«145 eingeht. Denn was aus der Außenperspektive gegeben ist, die Möglichkeit ein Urteil zu fällen, gestaltet sich aus der Innenperspektive ungleich schwieriger – so lautet zumindest eine zentrale These von Kertész (u.a. in Übereinstimmung mit Agamben). Das gilt nicht nur für die unmittelbare Erfahrung des Lagers, die im Ausschluss jeglicher Außenperspektive besteht, sondern auch das Überleben entzündet sich an der Problematik, welcher Stellenwert der Erfahrung aus der Innenperspektive zukommt. Während Zimmermann nachträglich ein Urteil über das Geschehen fällt, setzt Kertész die Erfahrung des Lagers aus der Innenperspektive primär. Damit erweist sich aber auch der Weg zurück in eine sanktionierte, moralische Ordnung als problematisch. Aus der Innenperspektive rührt das Dilemma für Kertész daher, dass das Bild des Menschen mit der Erfahrung und dem Wissen von Auschwitz eine Revision des existenziellen und ethischen Selbstverständnisses erfordert. Dabei ist es für Kertész charakteristisch, dass er kaum zwischen der Erfahrung der Täter und der Opfer differenziert. Mit derselben Vehemenz, mit der er sich als Überlebender gegen einen Opferstatus wehrt, akzeptiert er das Verdikt der Täter-Erfahrung: Die Welt ist eine Welt von Mördern (L 125), heißt es demgemäß in Liquidation. So unvereinbar die Erfahrungen sind, so zeugen sie beide von einem moralischen Anderssein, das von allgemeiner Bedeutung ist. In dem Maß, wie diese Einsicht als Grundlage genommen werden ›muss‹, um den Menschen nach Auschwitz (neu) zu denken, dient das traditionelle, moralische Verständnis, an dem Zimmermann nach wie vor festhält, auch wenn er es nicht mehr transzendental zu begründen weiß, Kertész gerade nicht mehr als Referenz. Während Zimmermann das moralische Anderssein begrifflich beschreibt, um es dann als unerwünschte Daseinsweise in pragmatischer Hinsicht auszuschließen, dient die destruktive Erfahrung Kertész als Grundlage eines existenziellen Erfahrungsbegriffs, den es fruchtbar zu machen gilt. Diese Situation bezeichnet für Kertész zudem die Ausgangslage des Schriftstellers und Erzählers nach Auschwitz. Wo aber kein ethischer und narrativer Rahmen zur Verfügung steht, der es erlauben würde, die Auschwitz-Erfahrung narrativ zu verorten, ist die Erzählung, oder genauer, die »Erzählbarkeit« (DK 183) von Auschwitz be-
145 Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 28f. Vgl. ferner Agamben: Was von Auschwitz bleibt?, S. 36-75.
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droht. Die Erzählung scheitert an diesem Punkt aufgrund des Mangels einer gültigen Moral. Auf den strukturellen Zusammenhang zwischen Erzählung bzw. Erfahrung und Moral verweist bereits Musil in einer ironischen Wendung: »Der General begriff nicht recht«, heißt es im Mann ohne Eigenschaften, »warum man keine Erlebnisse haben sollte, wenn man keine Moral habe.«146 Es ist dieser Mangel an einer – bei Kertész allgemeingültigen – Moral, der die Erfahrung von Auschwitz aus der Innenperspektive in Frage stellt. Nichts anderes verhandelt Kertész in seinem schriftstellerischen Werk, beginnend mit dem Erstlingswerk Der Roman eines Schicksallosen. Vom Glück der Konzentrationslager: Der Roman eines Schicksallosen Der Roman eines Schicksallosen bringt die Unvereinbarkeit der Auschwitz-Erfahrung, die sich in keine gültige moralische Ordnung fügen lässt, provokant zur Sprache. Der 1975 veröffentlichte Roman, an dem Kertész mehr als zwölf Jahre arbeitet, schildert die Deportation des 15-jährigen Budapesters Gyuri Köves, der eines Tages auf dem Weg zum Arbeitsdienst festgenommen und erst ins Konzentrationslager Auschwitz, dann nach Buchenwald und Zeitz transportiert wird. In bewusster Abgrenzung zur Autobiografie bedient sich Kertész explizit der Gattung des Romans, präziser, des deutschen Bildungsromans.147 Die Prämissen der Gattung, vor allem die Kategorie des bürgerlichen Subjekts, dienen Kertész als Vorlage, um die Erzählung zu strukturieren, auch wenn diese im Verlauf der Erzählung negiert werden. Folgt man Gerhart Mayer, dann beruht der Bildungsroman auf der »Idee der Bildsamkeit des Individuums: dessen Fähigkeit, sich während der Jugendzeit und Adoleszenz in Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Umwelt zur personalen Identität, zum Bewusstsein der Konsistenz und Kontinuität des Ichs zu entwickeln. Daraus ergibt sich als zentrale Thematik der
146 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 568. 147 Vgl. László Földényi: »Der Identitätslose und sein Ich«, in: Du 757 (5), Juni 2005, S. 42; Sándor Radnóti: »Auschwitz als geistige Lebensform. Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«, in: M. SzegedyMaszák/T. Scheibner (Hg.), Der lange, dunkle Schatten, Studien zum Werk von Imre Kertész, Wien 2004, S. 181-194, S. 182.
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Romanart die erfolgreiche Suche eines jugendlichen Protagonisten nach existenzsichernden Orientierungsmustern.«148
Mayer fährt fort: »Die Richtung des Bildungsprozesses zielt auf zunehmende Selbstständigkeit des Ichs gegenüber den determinierenden Mächten von Natur, Gesellschaft und Kultur, auf eine Mündigkeit, die an der wachsenden Fähigkeit des einzelnen zu individuellen Problemlösungen sichtbar wird.«149 Christoph Bode verweist ferner auf die Korrelation von Bildung und Erzählung: Die Erzählung ist das Medium, das die Vermittlung von »Kontingenz und Notwendigkeit«150 substanziell konstituiert. Die wenigen Hinweise reichen aus, um die polare Gegenläufigkeit des kertészschen Projekts kenntlich zu machen. Unter den verkehrten Vorzeichen eines Bildungsromans erzählt Der Roman eines Schicksallosen die Entsubjektivierung des Protagonisten, die in eine Spaltung von Individuum und Gesellschaft mündet. »Die Geschichte eines Persönlichkeitsverlustes, sich ebenso langsam und unerbittlich entfaltend wie vom Werden einer Persönlichkeit« (GT 24f.) – so notiert Kertész die Methode in seinem Tagebuch. Die Narration dient nicht mehr als Medium der Sinn- und Kohärenzstiftung, sondern sie ist in ihrer Linearität Signum des totalitären Determinismus, der jeglichen Handlungsraum des Protagonisten kontinuierlich eliminiert, bis er schließlich selbst aus seinem eigenen Inneren vertrieben wird. Entscheidend für die Konzeption ist, dass der Roman die Liquidation des Subjekts weniger repräsentiert, sondern als Ereignis präsentiert: »Der Text ist nicht Beschreibung, sondern selbst Ereignis, nicht Erklärung, sondern Gegenwart – besitzt immer und überall substanzielle Funktion, niemals ›äußerliche‹.« (GT 27) Die Virulenz dieser Romantechnik wird ersichtlich, wenn man die ethischen Prämissen freilegt, auf der die ästhetische Konstruktion basiert. Ágnes Prokska argumentiert, dass sich der Text im Horizont einer »Entscheidungssituation«151 vollzieht, die es nicht erlaubt, ein (endgültiges) Urteil über die Ereignisse zu fällen. Was aufgrund der totalitären Struktur diktiert 148 Gerhart Mayer: Der deutsche Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 13. 149 Ebd., S. 13. 150 Bode: Der Roman, S. 64. 151 Ágnes Prokska: »Entscheidung und Urteil. Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen«, in: Szegedy-Maszák u.a. (Hg.), Der lange, dunkle Schatten, S. 139-164.
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wird, vollzieht sich in ethischer Dimension als offener Transformationsprozess, der das Subjekt (erst) zu dem werden lässt, oder besser, als das erkennbar werden lässt, was der Totalitarismus dem Subjekt als (neues) Gesetz einschreibt: »ein dem Totalitären ausgeliefertes, substanzloses Wesen.« (GT 23) Die irritierende Dynamik des Romans, die Prokska mit der Suspension der Entscheidungsdimension benennt, besteht nun darin, dass der Transformationsprozess des Protagonisten wertfrei aus der Innenperspektive erzählt wird, ohne das Urteil einer Außenperspektive zuzulassen. »Ich lasse jeden Gesichtspunkt gelten, um den Preis, das ich leben darf« (RES 287), erklärt Köves und legt damit die perspektivische Formel des Romans frei, die jegliches Urteil über das Ereignis namens Auschwitz aufhebt. Strukturell setzt Kertész dieses Verfahren durch eine radikale Ich-Perspektive und die Erzählzeit im Präsens um. Im Horizont der Entscheidung, die sich stets punktuell in der Gegenwart vollzieht, fehlt dem Protagonisten zunächst die Verfügungsgewalt eines Urteils in zeitlicher Dimension, aber auch als (moralisches) Wissen, das es erlauben würde, eine abschließende Aussage über das Geschehen zu treffen. Ohne Außenperspektive mangelt es Köves an begrifflichen Kategorien, um das Geschehen verlässlich zu bewerten und in einen strukturellen Rahmen einzuordnen. Die kognitiven und moralischen Kriterien werden immer nur ad hoc, mit und aufgrund der formativen Ereignisse, konstruiert. »All das habe ich nicht auf einmal, sondern eher nach und nach erfahren, durch immer neue Einzelheiten ergänzt, von denen einige angezweifelt, andere aber bestätigt, ja, sogar noch um weitere ergänzt wurden« (RES 124), so resümiert der Protagonist seinen Lernprozess, hier die Information über die Existenz der Gaskammern. Was retrospektiv aus der Außenperspektive als undenkbar erscheint, erschließt sich schrittweise aus der vorurteilslosen Perspektive des Protagonisten als »natürlich«, »naturgemäß«, »verständlich«, »das sah ich ein« – so die ständig wiederkehrenden, kognitiven Adaptionsmuster. »Man akzeptiert eine erfundene Ordnung, eine Spielregel, und gründet auf diese Spielregel sein Leben, als sei sie die Ordnung des Lebens oder der Natur.« (GT 58) Entsprechend dieser Logik schließt Köves: »Es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde.« (RES 287) Wird mit der Zeit auch die Lagerrealität zur zweiten Natur, so ist allein die Kategorie der Zeit problematisch, die der
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spezielle Transformationsprozess des KZs dem Insassen abverlangt.152 Dementsprechend beschwert sich der Protagonist, dass man ihm nicht genug Zeit gibt, um ein »guter Häftling« zu werden: »Und ich kann sagen, es hat jedenfalls – bei mir – nicht an Bemühung, nicht an gutem Willen gemangelt: das Problem ist, dass sie einem dafür zuwenig Zeit lassen, ganz einfach.« (RES 172) Bildet das sukzessive Vergehen der Zeit die Bedingung der Transformation – »Stufe um Stufe und indem ich mich an jede Stufe immer wieder einzeln gewöhnte – [...] habe ich dann eigentlich doch nichts wahrgenommen. Und dabei hatte ich mich offenbar selbst auch verändert« (RES 171) – so fehlt dem Protagonisten aus der Innenperspektive die (moralische) Referenz, um die Ereignisse zu beurteilen. Anstatt Wahrheiten nach und nach aufzubauen, wie es der konventionellen Erzählung eigen ist, baut Kertész sie kontinuierlich ab.153 Eklatant unterläuft Kertész die Lesererwartungen, indem er die Differenz zwischen Täter- und Opferperspektive nivelliert und auch hier den Nachweis bringt, dass ein Urteil aus der Innenperspektive nicht so leicht zu haben ist. So findet er zunächst die Vorurteile, die er von zu Hause mitbringt, im Lager bestätigt und versteht »auf einmal jene Art Respekt [...], mit der man zu Hause allgemein von den Deutschen gesprochen hatte« (RES 94). In seiner Vorurteilslosigkeit, die jeden Gesichtspunkt gelten lässt, bzw. die nach wie vor auf die »tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Menschenantlitz trägt«154 vertraut, findet er die Handlungsweise der Täter verständlich, selbst dort, wo die »Juden« ausgegrenzt werden. Nach seiner Ankunft in Auschwitz trifft er in der Tat auf ›Sträflinge‹: »Tatsächlich, sie sahen aus wie Juden, in jeder Hinsicht. Ich fand sie verdächtig und insgesamt fremdartig.« (RES 90) Der Protagonist nimmt die ›Realität‹ nicht nur so hin, wie sie sich ihm aus seiner ›neutralen‹ Perspektive unmittelbar präsentiert und prä-
152 Vgl. Bataille, der den Prozess ganz ähnlich beschreibt, wenn er davon spricht, »dass nur eine rhythmische Verschiebung beim Verfall der Menschen existiert«. Georges Bataille: Henker und Opfer, Berlin 2008. 153 Vgl. László Földényi: »Große Wahrhaftigkeit. Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész«, in: Szegedy-Maszák u.a. (Hg.), Der lange, dunkle Schatten, S. 103-115, S. 106. 154 Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a.M. 1987, S. 163. Erst Auschwitz hat dieses Vertrauen in eine intuitive Solidarität erschüttert, so Habermas.
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sentiert wird, sondern er bildet sich immer wieder ein eigenes, vorläufiges Bild. Allerdings hat das Lager in diesem Fall bereits die Realität geschaffen, die die nazistische Ideologie propagiert. Die ›Wirklichkeit‹ – hier als physische Erscheinung der Juden – bestätigt nun tatsächlich die antisemitische Ideologie: Die »Juden« sind als »Juden« erkennbar und unheimlich. Dem gegenüber bewundert Köves wiederholt die »schöne« physikalische Erscheinung der Deutschen und bestätigt unwillkürlich den biologischen Rassismus, der der nazistischen Ideologie innewohnt. Auch zum Arzt, der an der Rampe die Selektion vornimmt, fasst Köves sofort Zutrauen: »Zu dem Arzt hatte ich auch gleich Vertrauen, weil er von angenehmer Erscheinung war und ein sympathisches langes, glattrasiertes Gesicht hatte [...] gütig blickende Augen.« (RES 98) Selbst dort, wo Köves hinter den Betrug kommt, mit dem die Deutschen ihre Opfer blenden, muss er ihnen nach wie vor Respekt zollen, »wie geschickt« (RES 125) sie ihre Sache pragmatischen Überlegungen zu Folge machen. Auch hier findet er für die Taten, bis hin zur Vergasung, problemlos eine passende Erklärung: »Einer kommt dann auf die Idee mit dem Gas: ein anderer dann gleich auf die Idee mit dem Bad, ein dritter auf die mit der Seife, ein vierter wiederum fügt die Blumen hinzu, und so weiter. Ein paar Ideen hatten sie vielleicht etwas länger diskutiert, länger daran herumgefeilt, andere dagegen gleich freudig aufgenommen [....], – all das ließ sich lebhaft vorstellen, zumindest was mich angeht.« (RES 126)
Die Absicht dieses verstörenden Erzählverfahrens liegt auf der Hand: Die Außenperspektive, die es erlaubt hätte, das Lager als Ausnahmezustand zu erklären, wird aus der geschlossenen Innenperspektive eliminiert. Alles transformiert sich nach und nach in ein ›natürliches‹ Geschehen, das nur die Realität kennt, wie sie sich darstellt, mit dem Resultat, dass sich die ›Realität‹ unter den Umständen des Lagers allmählich in einem neuen, bedrückenden Licht zeigt. Verwandelt sich Auschwitz aus der radikalen Innenperspektive des Protagonisten in ein ›natürliches‹ und ›vernünftiges‹ Geschehen, so erweisen sich in der Konsequenz die traditionellen Begrifflichkeiten gegenüber der Realität des Lagers schließlich als irreführend und unzulänglich – kaum zufällig bedient sich Kertész immer wieder der Anführungszeichen, um die hypothetische Setzung seiner Wörter zu sig-
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nalisieren.155 Wenn Köves von der »Langeweile« im Lager spricht und sich mit einem Gefühl des »Heimwehs« nach dem Lager vornimmt, das nächste Mal vom Glück in den Lagern zu berichten, dann wird deutlich, dass die Begriffe – »Langeweile«, »Glück«, »Freude« – hier eine Verwendung und Ausdehnung gefunden haben, die sich kaum mit der konventionellen Erfahrung und Sprachverwendung der Leser decken lässt. »Auch ich habe Buchenwald bald liebgewonnen« (RES 143), heißt es lapidar, nachdem Köves das Lager gewechselt hat, um schlussendlich mit der bekannten Äußerung zu enden: »Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.« (RES 287) Natürlich halten die Leser den Roman, der vom Glück der Lager berichtet, in Händen; »lächeln« und »lachen« sind die wohl häufigsten Verben, zumindest in der ersten Hälfte des Romans. Indem Kertész vom Glück und Heimweh nach dem Lager spricht, gelingt ihm eine unvergleichliche Provokation: Denn die Leser können – wollen – diese Aussage nicht ernst nehmen und tatsächlich akzeptieren, dass auch das Lager eine Vorstellung vom Glück bereithält. Unversöhnlich zeigt sich Kertész gerade darin, dass er sich nicht auf unser Sprachspiel einlässt: »Statt zu klagen, zu protestieren, seine Leiden zu schildern oder sich zu entrüsten, erzählt er ihnen [seinen Zuhörern, P.S.] vom ›Glück der Konzentrationslager‹; statt wie sie zu sagen: nein, nein, nie wieder, liest er ihnen was vor von der Abenddämmerung und vom purpurnen Himmel«,156 der Stunde des Heimwehs nach dem Lager. Lászlo Földényi beschreibt die in einer Lesung erfahrene Reaktion deutscher Leser wie folgt: »Er [Kertész] hat zwar das Lager überlebt, aber wir wissen besser, wie schrecklich es ist.«157 Kertész erschüttert in der Folge jegliche Gewissheiten, die die Leser über Auschwitz zu haben meinen und das auf einer Ebene, die gerade verhindert, dass über Auschwitz allgemein ein Urteil gefällt werden könnte. Dieses Verfahren stellt aber nicht nur eine Provokation dar, sondern beschreibt den sprachtheoretischen Sachverhalt, dass sich die Begriffe in Abhängigkeit von der sozialen Realität verändern. »Ich möchte behaupten, dass wir bestimmte Begriffe erst in einem Konzentrationslager wirklich verstehen« (RES 182), erklärt Köves. Der Roman
155 Vgl. Földényi: Schicksallosigkeit, S. 20f. 156 Földényi: »Große Wahrhaftigkeit«, S. 105. 157 Ebd. (Herv. i.O.).
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folgt (zumindest auf einer Ebene) der banalen Einsicht (ohne dass auch die Konsequenzen trivial wären), dass es auch im Lagerleben Gutes und Schlechtes gibt. Nur so können die Insassen überleben: »Es gibt eine bestimmte Zeit des Tages, zwischen der Rückkehr aus der Fabrik und dem Abendappell, eine besondere, stets lebendige und zwanglose Stunde, die ich im Lager immer am meisten erwartete und liebte« (RES 158) – jene Stunde, an die der Protagonist auch nach seiner Befreiung mit Heimweh denkt. Es ist diese Differenzierung innerhalb der Lagerrealität, die die Inkommensurabilität des Lagerlebens grell hervorkehrt und nahe legt, dass der Roman ein Sprachspiel etabliert, das sich nicht mit der Erfahrung der Leser in Deckung bringen lässt. »Erst in Zeitz bin ich dahintergekommen, dass auch die Gefangenschaft ihren Alltag hat.« (RES 151) So wie die herkömmlichen Begrifflichkeiten von ›gut‹ und ›böse‹ für den Häftling nur relativ als Lot dienen, um die Realität des Lagerlebens zu vermessen, so vollziehen sich sämtliche Erfahrungen in einer ethischen Dimension, die von der herkömmlichen Erfahrung ebenso minimal wie absolut divergiert.158 Akut wird die Frage, ob und wie sich die Lagererfahrung integrieren lässt, letztlich jedoch erst mit der Rückkehr aus der Gefangenschaft. Erst nachdem Köves wieder mit der alten Ordnung und deren ›Sprachspiel‹ konfrontiert ist, wird die Unvereinbarkeit der (Sprach-) Ordnungen evident. Das Verdrängen, wie es der Journalist rät, dem Köves unmittelbar nach seiner Ankunft begegnet, kommt für ihn ebenso wenig in Frage, wie das Vergessen, wie es die Bekannten Steiner und Fleischmann fordern. Als der Journalist fragt, ob er »über die Hölle der Lager« (RES 271) berichten wolle, antwortet Köves, dass er »die Hölle« weder kenne, noch sich vorstellen könne. Während er sich die Hölle als einen Ort vorstellen müsse, »wo man sich nicht langweilen kann« (RES 272), sei in Auschwitz die Zeit das Problem. Sie ermöglicht einerseits die Gewöhnung an eine Realität, die man, offenbarte sie sich auf einmal, kaum aushalten könne; »andererseits [...] sei da gerade der Fehler, ich könnte sagen Nachteil, dass man die Zeit auch irgendwie verbringen muss.« (RES 273) Auch hier kehrt der Gedanke wieder, dass das Leben im Lager analog zum Leben außerhalb
158 Jan Philipp Reemtsma vergleicht diese traumatische Erfahrung bzw. die Erfahrung des Traumas mit dem Erscheinen des Messias: »Alles sei wie zuvor, nur um ein Winziges verschoben.« Jan Philipp Reemtsma: Der Keller, Reinbek b.H. 2005, S. 220f.
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des Lagers strukturiert ist und dass gerade diese Übereinstimmung die Unvereinbarkeit der Realitäten provoziert, weil die Sprache die Differenzen nur unzulänglich zu markieren vermag. Köves steht demnach keine angemessene Sprache zur Verfügung, um die Lagerrealität zu vermitteln und somit die Differenz der Perspektiven zu markieren. Zwar entscheidet er sich letztlich die Lagererfahrung als sein eigenes Schicksal zu begreifen. Aber selbst dort, wo Köves sie vermittels einer existenzialistischen Entscheidung bejaht und als Schicksal auf sich nimmt, bleibt das Vermittlungs- und Integrationsproblem bestehen. Der Roman eines Schicksallosen endet in dieser Hinsicht offen. Köves steht es noch bevor an die Auschwitz-Erfahrung anzuknüpfen. Das Überleben erweist sich dabei aber – in gewissem Sinn – als das nachhaltigere Problem. Erst die nachfolgenden Romane diskutieren, inwiefern die Auschwitz-Erfahrung integrierbar ist bzw. eine Sprache zur Verfügung steht, um diese Erfahrung zu vermitteln. Die Lektüre von Liquidation in Kapitel 3 – so viel sei vorausgeschickt – lässt diesen Weg jedoch radikal scheitern. Die Exilierung des Erzählers Endet der Roman eines Schicksallosen mit der Frage nach der Fortführung der Lagererfahrung offen, so lässt sich das Dilemma, das über das Gelingen der Erzählung entscheidet, soweit trotz allem präzise benennen. Der Roman vollzieht mit seinem Protagonisten schrittweise die Negation bestehender Werte und ethischer Gewissheiten. Zugleich stellt er damit die Inkommensurabilität der Auschwitz-Erfahrung aus. Gerade die Affirmation der Lagererfahrung, die Köves am Ende des Romans vornimmt, kehrt ihre Unvereinbarkeit umso einprägsamer hervor. Wenn Köves affirmativ vom Glück der Lager spricht, wird deutlich, dass sich die Lagererfahrung aus der Innenperspektive der Vermittlung und Mitteilung sperrt: »Überdies ist die Brücke nicht zu überschreiten, und wer es dennoch versuchen würde, hätte es mit seiner Kreativität zu bezahlen. Die wirkliche Frage ist, ob man meine Worte drüben, auf der anderen Seite, verstehen kann, ohne dass ich selbst über die Brücke hinüber muß«,159 so artikuliert Kertész diese Inkommensurabilität. An dieser Stelle lassen sich zwei allgemeine
159 Imre Kertész: »Vorwort«, in: ders., Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt, Reinbek b.H. 2002, S. 9-13, S. 10.
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Problemkomplexe differenzieren: die Problematik der narrativen Perspektive einerseits, ein sprachtheoretisches Dilemma andererseits. In Übereinstimmung mit Bernhard und Sebald lässt sich die Krise des Erzählers zunächst allgemein als Problem der (Erzähl-)Perspektive bzw. der Erzählstimme beschreiben. Für Kertész leitet sich das Dilemma unmittelbar aus der Erfahrung des Totalitarismus ab. »Wie können wir eine Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären vornehmen, ohne den Blickwinkel des Totalitären zum eigenen Blickwinkel zu machen?« (GT 21) In dem Maß, wie der Totalitarismus die Realität absolut determiniert, schwindet nicht nur die Möglichkeit, Perspektiven zu differenzieren, sondern der Begriff der Perspektive wird an sich gehaltlos. Aus dem Blickwinkel des Totalitären ordnet sich alles der »STRUKTUR« (GT 27, Herv. i.O.) der totalitären Ordnung unter, die mit der Auslöschung des Individuums zugleich das Gesetz des Totalitarismus beschreibt. Die »Undarstellbarkeit des funktionalen Menschen« (GT 21) resultiert in diesem Kontext nicht nur aus dem dramaturgischen Problem, das Individuum in seinem Persönlichkeitsverlust zu schildern. Vielmehr lässt sich aus der (Innen-)Perspektive des Totalitarismus dieser Verlust als solcher gar nicht beschreiben, weil die ethischen Kategorien, um das Schicksal beispielsweise als ›tragisches Schicksal‹ zu qualifizieren, fehlen. Indem Kertész im Roman eines Schicksallosen vom »Glück der Lager« erzählt (und nicht etwa vom Leid oder der Tragik), kommt er nicht zuletzt diesem perspektivischen Dilemma nach, dass eine tragische Perspektive aus der Sicht der Lager nicht gegeben ist – aus den genannten Gründen, dass die ethische Ordnung von Auschwitz die Kategorie des Tragischen auslöscht.160 In dieser Hinsicht artikuliert die Erzählung vom Glück der Lager die Unversöhnlichkeit der Perspektiven: Innen- und Außenperspektive sowie Vor- und Nach-Auschwitz-Perspektive schließen sich gegenseitig aus. Die Unvereinbarkeit der Perspektiven bringt Kertész ferner auf die Formel von der Exilierung und Exterritorialisierung des Erzählers. Das zitierte Bild der Brücke schließt hier an das Bild von Auschwitz als
160 Vgl. Zangl: Poetik nach dem Holocaust, S. 196: »Angesichts des Holocaust sind Handelnde nicht gleichzeitig Leidende, wie dies etwa in den Tragödien der Fall ist, sondern Handeln und Leiden werden in dem Ausmaß aus ihrem Zusammenhang gerissen, in dem Glück und Unglück nicht weiter im ethischen Bereich verankert sind.« Vgl. ferner Kap. 3, S. 246ff.
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einem anderen Planeten an: Beide Metaphern beschreiben die Inkongruenz der Perspektiven als Exilierung. Ist das Subjekt mit Auschwitz auf einen anderen Planeten versetzt, so ist die Pointe von Kertész nun die, dass sich der Planet, auf dem wir die ganze Zeit zugegen waren, plötzlich als ein anderer, fremder herausgestellt hat. Demnach gilt es nun diesen neuen (alten) Planeten urbar zu machen, wobei der Mensch allgemein – als Überlebender – nach Auschwitz auf den anderen Planeten jenseits der Brücke versetzt ist. Auch aus diesem Grund wird Kertész’ Erzähler zögern, die Brücke zu betreten. Die Inkommensurabilität, die in den Bildern der Brücke und des Planeten veranschaulicht ist, äußert sich aber zudem auf einer weiteren Ebene: als sprachtheoretisches Problem. In seinem Aufsatz »Die Exilierte Sprache« artikuliert Kertész die Aporie wie nach Auschwitz zu sprechen und zu schreiben sei, indem er eine tonale von einer atonalen Sprache differenziert. Den Begriff der Atonalität entlehnt Kertész Arnold Schönberg, um die Differenz zwischen einer Vor- und NachAuschwitz Sprache zu beschreiben: »Was für eine Sprache ist das? Ich habe sie [...] als atonale Sprache bezeichnet. Sehen wir nämlich die Tonalität, die einheitliche Tonart, als eine allgemein anerkannte Konvention an, dann deklariert Atonalität die Ungültigkeit von Übereinkunft, von Tradition. Auch in der Literatur existierte einmal der Grundton, eine auf eine allgemein anerkannte Moral und Ethik gestützte Wertordnung, die das Beziehungsgeflecht von Sätzen und Gedanken bestimmte.« (ES 212)
Mit der Differenz von tonaler und atonaler Sprache artikuliert Kertész das Dilemma, dass zwar ein unterschiedlicher Gebrauch der Sprache möglich ist (atonal und tonal), letztlich aber nur eine Sprache zur Verfügung steht. Die tonale Sprache verhält sich affirmativ zur vorherrschenden Ordnung und erhält hier ihre Sanktion. Für Kertész ist dieser Konsens mit Auschwitz jedoch diskreditiert. Die atonale Sprache nimmt in dieser Situation ein negatives Verhältnis zur bestehenden Ordnung ein, indem sie eine »Ungültigkeit von Übereinkunft, von Tradition« artikuliert. Sie kann (als Sprache der Minderheit) ihren Dissens aber nur negativ ausdrücken; sie vermag keine positivistische Gegensetzung vornehmen. Auch aus diesem Grund lässt sich die Lagererfahrung nicht ohne Weiteres als tragische Erfahrung qualifizieren: selbst »wenn es ihm [dem Einzelnen, P.S.] tatsächlich gelingt zu überleben«, schreibt Kertész in diesem Zusammenhang, wird »mit Sicher-
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heit lange Zeit vergehen, ehe er in der Lage ist sich – wenn überhaupt – eine persönliche und einzig authentische Sprache zurückzuerobern, in der er seine Tragödie erzählen kann; und es kann sein, er wird sich dann bewusst, dass diese Tragödie nicht erzählbar ist.« (ES 209f.) Die Exilierung des Schriftstellers rührt daher, dass ihm keine Sprache zur Verfügung steht, die in einer gültigen moralischen Ordnung verankert ist. Damit kann die negative Erfahrung in ihrer Negativität aber nicht (oder nur bedingt) sanktioniert werden. Der Erzähler ist damit in eine radikale Heimatlosigkeit versetzt (die Metapher des anderen Planeten kommt auch hier wieder ganz wörtlich zum Tragen), weil seinem Schreiben kein Ort zukommt. Die Heimatlosigkeit impliziert demnach keine Vertreibung aus einer Heimat (Kertész spricht folglich von Exilierung anstatt Exil), sondern in dem Maß, wie der Schriftsteller Auschwitz als Ausgangspunkt nimmt, hat er mit Auschwitz niemals eine Heimat besessen. »Wo aber findet das Bewusstsein des Holocaust seine Heimat, welche Sprache kann von sich sagen, allgemeines Subjekt des Holocaust, dominantes Ich des Holocaust, Sprache des Holocaust zu sein?« (ES 216) Ein positivistisches Schreiben ist nicht möglich, weil sich Auschwitz in keine »vorhandene Kultur einbetten« lässt – was bedeuten würde, Auschwitz in eine identitätsstiftende Erfahrung ummünzen und als Grundlage einer neuen ethischen Ordnung zu betrachten. Was soweit als sprachtheoretisches Dilemma darstellt wurde, gilt es in einem letzten Schritt auf den Begriff und die Bedeutung der Geschichte und der Geschichtsschreibung zu übertragen. Die Doppelbindung des Erzählers Die sprachtheoretischen Überlegungen zeigen, inwiefern sich in Bezug zu den allgemeingültigen Normen nur negativ über Auschwitz sprechen und denken lässt. Darüber hinaus unterläuft Auschwitz aber gleichfalls gängige Geschichtskonzeptionen. Spricht eine Negation der Geschichte vereinfacht vom Verlust eines Telos der Geschichte, wie er sich traditionell in Kategorien der Linearität, Kontinuität oder dem Fortschritt artikuliert, so stellt sich die Problematik mit der Geschichtslosigkeit verschärft da: »Die Shoah ist also nicht Teil der Geschichte – wenn nach ihr überhaupt noch die Vorstellung von einer einheitlichen Geschichte aufrechterhalten werden kann, – sondern gerade jene Ausnahme, die eine Fortsetzung der vorherigen Geschichte als einheitliche
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Geschichte unmöglich macht.«161 Lässt sich Auschwitz als geschichtliches Ereignis nicht zureichend fassen, so stellt es zugleich die Möglichkeit geschichtlichen Denkens an sich in Frage. Weil sich der begriffliche und ethische Rahmen, der allein eine Einheit und Fortsetzung der Geschichte garantieren könnte, verschoben hat, lassen sich herkömmliche Geschichtskonzeptionen kaum mehr aufrecht erhalten. Die These, dass Auschwitz das geschichtliche Denken negiert, ist wohl am radikalsten von Jean-François Lyotard vertreten worden. Er verweist darauf, in welchem Ausmaß das geschichtliche Denken nach wie vor einem Hegelianismus und einer teleologischen Struktur verschuldet ist. Weil sich die Geschichte über die Kategorie der Kontinuität definiert, bedarf sie einer Logik, die es erlaubt, die Ereignisse zu ›verketten‹. Eine Verkettung der Ereignisse impliziert aber, dass jedes Ereignis, um überhaupt in eine sinnfällige Beziehung miteinander gebracht werden zu können, vermittels eines »Resultats«162 gedacht werden muss. Dienten bisher Kategorien wie Vernunft, Freiheit oder Fortschritt dazu, die Geschichte als gerichteten Prozess zu beschreiben, so versagt diese Denkweise in der Auseinandersetzung mit Auschwitz. Auschwitz – so die These von Lyotard – verweist als Ereignis auf nichts Weiteres. Mit der Vernichtung der Juden gibt Auschwitz keinen Anlass, das Ereignis zu einem anderen Ende hin zu denken.163 Die These, das Auschwitz sich der Kategorie des Sinns verweigert und verweigern muss, ist geläufig. Sarah Kofman vertritt u.a. diese Position hinsichtlich der Erzählung: »Über Auschwitz und nach Auschwitz ist keine Erzählung möglich, wenn man unter Erzählung versteht: eine Geschichte von Ereignissen erzählen, die Sinn ergeben.«164 Ohne die Kategorie des Sinns (Kofman) und des Resultats (Lyotard) ist der Erzählung und Geschichte mit Auschwitz ein Ende gesetzt. Lyotard zieht daraus den Schluss, dass Auschwitz nur mit einer Geste der Negation (als »nicht negierbarem Negativ«165) zu referieren ist: »Die einzige Erzählung, die noch zu erzählen bleibt, ist, wie bei Wiesel, die
161 Prokska: »Entscheidung und Urteil«, S. 144. 162 Jean-François Lyotard: Streitgespräche, oder: Sprechen nach Auschwitz, Bremen 1986, S. 13ff. 163 In letzter Instanz versagt sich Auschwitz dem Denken an sich, weil mit der Vernichtung der Juden auch der Referent des Ereignisses ausgelöscht ist. 164 Kofman: Erstickte Worte, S. 29. 165 Lyotard: Streitgespräche, S. 13.
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Erzählung von der Unmöglichkeit aller Erzählung.«166 Kertész kommt in seinen Romanen zwar wiederholt zum selben Urteil. Im Unterschied zu Lyotard ist ihm jedoch an einer Transformation und Integration von Auschwitz gelegen. Die zentrale Frage lautet für Kertész folglich, ob der »Holocaust Werte schaffen« (ES 216) kann. Selbst dort, wo seine Erzählungen in der Negation enden, sucht Kertész im Durchgang durch Auschwitz die negative Erfahrung in »geistig-moralischem« und »kulturellem Sinn« (ES 216) als Wert zu begreifen, um sie zu transformieren. So bezeichnend es ist, dass Kertész, wenn er nach einer Lehre oder einem Wert von Auschwitz fragt, kaum darauf eingeht, dass Auschwitz in der Ethik, Politik oder im Recht einen Niederschlag gefunden hat, so findet die Haltung ihre Erklärung in den genannten Argumentationslinien: Weil Auschwitz eine qualitativ neue Erfahrung ist, die mit der herkömmlichen Konvention und Tradition bricht, bedarf es einer neuen, ethischen Ordnung und letztlich einer ›neuen Sprache‹. Die Institutionen und kulturellen Praxen, in die der Holocaust Eingang gefunden hat, bewertet Kertész dabei bis auf Ausnahmen skeptisch. »Die Realität [nach Auschwitz P.S.] hat Katharsis nicht ermöglicht, unsere tagtägliche Wirklichkeit, das Leben, das wir führen.« (ES 261) In gleichem Tonfall schließt Kertész, »dass von Freiheit, von Befreiung, der großen Katharsis und so weiter, von all dem also, was Intellektuelle, Denker und Philosophen in glücklicheren Gegenden nicht nur im Munde führten, sondern woran sie offenbar auch glaubten, nicht die Rede sein konnte« (ES 85). Obwohl Kertész aus der Perspektive des ungarischen Sozialismus spricht, haben seine Urteile sehr wohl eine gesamteuropäische Situation im Blick. Die Kriterien für eine Katharsis lassen sich zwar schwer in Anschlag bringen. Trotz allem macht Kertész die Erzählbarkeit von Auschwitz letztlich davon abhängig, welcher Wert diesem in der kulturellen Praxis zukommt – und in Zukunft zukommen wird: »Wenn ich also über die traumatische Wirkung von Auschwitz nachdenke, denke ich paradoxerweise eher über die Zukunft als die Vergangenheit nach.«167 Das Fortbestehen einer geistigen und moralischen Kultur entscheidet sich demnach am konstruktiven Umgang mit Auschwitz.
166 Jean-François Lyotard: Heidegger und »die Juden«, Wien 1988, S. 90 (Herv. P.S.). 167 Kertész: Eine Gedankenlänge Stille, S. 12.
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Gleichermaßen entscheidet sich hier – prospektiv – die Möglichkeit der Erzählung und des Romans nach Auschwitz. Stehen eine Entscheidung und ein Urteil über Auschwitz nach wie vor aus, so belässt die Situation den Erzähler soweit in einem doublebind. Die Erzählung von Auschwitz verlangt eine Affirmation oder Sanktion der Auschwitz-Erfahrung, die Auschwitz als sinn- und identitätsstiftendes Ereignis begreift. Was sich auf individueller Ebene praktizieren lässt – wenn Köves im Roman eines Schicksallosen seine Erfahrung als Ausgangspunkt seines weiteren Lebens erklärt – hängt letzten Endes jedoch von der moralischen Gemeinschaft und dem narrativen Rahmen ab, den diese zur Verfügung stellt: »dass es stets wieder eines vernünftigen Allgemeinen bedarf, um den Subjekten eine erfüllte Weise der Selbstverwirklichung innerhalb der Gesellschaft zu ermöglichen.«168 Ist die Setzung der individuellen Erfahrung durch einen allgemeinen Erfahrungsbegriffs bedingt, so negiert der Erzähler die narrative (Selbst-)Vermittlung dort, wo die individuelle Erfahrung nicht sanktioniert wird. Diese Negation affiziert die Position des Erzählers bzw. spiegelt sich hier sein Legitimationsverlust. »Das Paradox der Autorität des Autors in den Texten von Kertész beruht darauf, dass sie sich auf der Basis aufbauen müsste, von der wir ständig lesen, dass es sie nicht gibt.«169 Diese aporetische Figur des Erzählers bildet demnach den neuralgischen Moment, der über die prekäre Verfassung der Erzählung und Literatur innerhalb der spezifischen zeithistorischen Verläufe Auskunft gibt. Wie sich diese Negationen des Erzählers als Fortschreibungen von Geschichte und Literatur jeweils konkret ausbuchstabieren, ist Thema des nächsten Kapitels.
168 Axel Honneth: »Eine soziale Pathologie der Vernunft. Zur intellektuellen Erbschaft der Kritischen Theorie«, in: ders., Pathologien der Vernunft, Frankfurt a.M. 2007, S. 28-56, S. 56. 169 Anna Gács: »Was zählt’s, wer vor sich hinmurmelt? Fragen über die Situation und Autorisation in der Prosa von Imre Kertész«, in: SzegedyMaszák u.a. (Hg.), Der lange, dunkle Schatten, S. 263-292, S. 279.
3. Fortschreibungen der Literatur Die Negativität [ist] das Lösungsmittel, das nicht zerstört, sondern neue 1
Strukturen hervortreibt.
Die Wendungen vom Verschwinden und Tod des Autors sind mit den Thesen von Roland Barthes2 und Michel Foucault3 zeitweilig zu Stereotypen (post-)strukturalistischer Theoreme geworden. Die Postulate, die traditionelle Autorkonzeptionen in Frage stellen (Barthes) bzw. die Autoren als Funktion ihrer Diskurse verstehen (Foucault), vollziehen sich im Zuge eines Spektrums von Endformeln, die vom Ende der »großen Erzählungen«4 bis hin zum Tod des Subjekts reichen. Mit dem Einstieg in das hiesige Kapitel über poststrukturalistische Prämissen interessieren aber nicht die Ätiologie, die Argumente oder das
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Julia Kristeva: Die Revolution der Sprache, Frankfurt a.M. 1978, S. 114. Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 57-63. Seán Burke kritisiert Barthes’ These, die ein theokratisches Autorkonzept dekonstruiert. Vgl. Seán Burke: The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida, Edinburgh 2008, S. 25f. Michel Foucault: »Was ist ein Autor«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt 2003, S. 234-270. Foucault zitiert zwar den Tod des Autors, greift das Postulat aber nur bedingt auf. Nachhaltiger ist die These in Die Ordnung der Dinge artikuliert, sowohl in der Dominanz der epistemischen Ordnung als auch in der Vision vom Verschwinden des Subjekts. In »Was ist ein Autor« kehrt der Autor als transdiskursive Instanz hingegen wieder zurück. Zur Kritik der foucaultschen Autorkonzeption vgl. Burke: The Death and Return of the Author, S. 86-95. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Wien 1986, S. 13.
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Schicksal der Endformeln, sondern die Tatsache, dass sie in ihrer Wirkmacht oftmals dazu tendierten, den Blick auf das Krisenbewusstsein von Erzähler und Erzählung zu verstellen, wie es soweit skizziert wurde und im Weiteren erörtert werden soll. Zwar überschneiden sich die Diskurse und Denktraditionen zweifelsfrei – so hat sich im letzten Kapitel Derrida äußerst aufschlussreich für das Verständnis einer Poetologie und Lektüre von Bernhard erwiesen. Sebald ist ein aufmerksamer Leser Foucaults. Ein ähnliches Phänomen, wie es bereits für die Krisendebatten der Nachkriegsliteratur in Deutschland um den Tod der Literatur diagnostiziert wurde, lässt sich auch hinsichtlich vieler End-Theoreme des Poststrukturalismus geltend machen. Als Schlagwörter wurden die Endformeln oftmals auf sämtliche Phänomene und Philologien angewandt, meist jedoch ohne sie in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand angemessen zu differenzieren.5 Zwar steht außer Frage, dass hier wie dort grundsätzliche Kategorien in Frage gestellt werden; die Konstellation der verhandelten Problematik ist trotz allem eine andere. Sebalds Thematisierung des Erzählers hat demnach nur wenig mit einem »Verschwinden des Erzählers«6 gemein, wie es sich vermeintlich aus poststrukturalistischen Prämissen ableitet. Gleiches gilt aber auch für die Kategorien der Geschichte oder des Subjekts. Das letzte Kapitel hat mit der Konstellation der drei Autoren vielmehr gezeigt, dass es trotz der prononcierten Thesen über die Negativität der Geschichte, die zugleich die Position des Erzählers angreift, um differenzierte Konzeptionen geht, die die Wechselverhältnisse von Kontinuitäten und Diskontinuitäten ausloten. Das Ziel ist demnach keine Auflösung von Geschichte, Erzählung oder Subjekt als theoretischen Kategorien an sich. »In der Rede vom Schwinden des Ich und dem Sterben der Natur sind historische Prozesse getroffen.«7 Wie Hartmut Böhme nahe legt, ist die Auflösung der Kategorien im Zuge des 20. Jahrhundert explizit mit einem historischen Index versehen. Der Kontext und die Koordinaten, an denen sich das Dilemma der Fortschreibung demnach entzündet, gilt es anhand konkreter Textlektüren aufzuzeigen.
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Vgl. Burke: The Death and Return of the Author, S. 20f. Vgl. Lethen: »Sebalds Raster«; vgl. ferner Claudia Albes: »Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W.G. Sebalds ›englische Wallfahrt‹ Die Ringe des Saturn«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279-305. Böhme: Natur und Subjekt, S. 7.
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3.1 B ERNHARD – A USLÖSCHUNG Bernhards Auslöschung beschreibt die radikale Abrechnung des knapp 50-jähringen Aristokraten Franz-Josef Murau mit seinem »Herkunftskomplex«, sowohl als Familien- als auch als Kollektivgeschichte. Wie bereits in Kapitel 2 skizziert, besteht der Roman aus zwei Teilen. In Teil I – »Das Telegramm« – erreicht den Wahl-Römer Murau zu Beginn des Romans die Nachricht vom Unfalltod seiner Angehörigen. In Teil II – »Das Testament« – trifft Murau in seinem Geburtsort ein, wo bereits die Woche zuvor seine Schwester ihre Heirat gefeiert hat und beobachtet nun die Vorbereitungen der Beerdigungszeremonie. Als typischer bernhardscher Protagonist zieht Murau mit seinen extensiven Reflexionen ebenso vehement gegen seine Umwelt wie gegen sich selbst zu Feld. Dabei dient ihm sein Privatschüler Gambetti, den er in Rom als Deutschlehrer unterrichtet, regelmäßig als Projektionsfläche, um seine anarchistisch-negativistische Weltsicht zu erproben. Der Roman selber formuliert sich als »Antiautobiografie« (A 188, Herv. i.O.), ein Schreibprojekt, das Murau von seinem dissidenten Onkel Georg ›erbt‹. Hatte bereits dieser an einer Antiautobiografie als Abrechnung mit der eigenen Herkunftsgeschichte geschrieben, ohne diese jedoch fertig zu stellen, so setzt Murau dieses Vorhaben nun um. Die Hypothese der folgenden Lektüre lautet, dass Auslöschung einen globalen »Zustand der Ausweglosigkeit« (A 619) skizziert, der jede produktive, sprachliche Fortsetzung von Geschichte und Literatur verneint. Damit zieht Muraus Schreibprojekt die Konsequenz aus einer gesellschaftlichen, medial bedingten Kommunikationssituation, die keine gelungene sprachliche Vermittlung mehr zulässt, weder zwischen Individuum und Gesellschaft noch zwischen Individuum und Geschichte, die hier konkret im Schatten des Nationalsozialismus steht. Reflektiert der Text die Fortschreibung der Geschichte im Anschluss an den Nationalsozialismus, so lässt sich diesbezüglich jedoch kein singulärer Kausalzusammenhang geltend machen, wie ihn etwa Christoph Kappes nahe legt: »Es ist die Geschichte des Nationalsozialismus, die Muraus literarische Form als negative, die die Autobiographie als Antiautobiographie, die das Schreiben als Auslöschung be-
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gründet.«8 Zwar bildet die negative Erfahrung des Nationalsozialismus einen integralen Moment des Romans, er lässt sich jedoch nicht darauf reduzieren. Jansen führt dagegen zwei Ursachen an: Zum einen ist das Auslöschungsvorhaben autobiografisch in der partikularen Herkunftsgeschichte Muraus begründet, zum anderen geschichtlich, wobei hier neben dem Nationalsozialismus der Katholizismus eine Determinante bildet,9 die die Politik und Gesellschaft der Zweiten Republik Österreichs prägt. Biografie und Geschichte markieren somit die außertextuellen Referenzen, die ins Medium der Literatur transponiert werden: »Das Unternehmen Auslöschung stellt sich hierbei als Auslöschung der Kategorien von Literatur, der Konventionen des Literaturbetriebs sowie ganz allgemein den Bedingungen, unter denen Bücher geschrieben und gelesen werden, dar, aber auch der damit in der Regel verbundenen Ansprüche auf Ruhm und Glück bzw. Erkenntnis und Bildung.«10 Zwar widerspricht der vorliegende Ansatz dieser Auslegung nicht im Resultat; er bringt mit der Kommunikationssituation und dem öffentlichen, fotomedialen Diskurs aber einen wesentlich anderen Begründungszusammenhang ins Spiel. Nicht das Prinzip der Auslöschung steht hier zur Diskussion, sondern die Ausweitung der Kampfzone einer sprachlichen und symbolischen Ordnung, die den öffentlichen Diskurs dominiert. Die korrumpierte Sprachordnung auf Wolfsegg, die in einer ungebrochenen Kontinuität mit dem Nationalsozialismus steht, wird von einer Sprachordnung überboten, die im Zuge der fotomedialen Praxis den Zugang zu einer sinnlichen, authentischen Wahrnehmung und Erfahrung irreversibel verstellt. Muraus Antiautobiografie findet zwar nochmals eine Form, um auf diese Kommunikationssituation zu reagieren. Die Bilanz über die Leistung der Literatur fällt jedoch ernüchternd aus: Die Möglichkeit einer produktiven Fortschreibung von Geschichte und Literatur wird negiert. In einem ersten Schritt gilt es demnach, den Kampfplatz der Sprache zu skizzieren, um Muraus Sprachverständnis darzulegen.
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Christoph Kappes: Schreibgebärden. Zur Poetik und Sprache bei Thomas Bernhard, Peter Handke und Botho Strauß, Würzburg 2006, S. 58. 9 Auf die postulierte, problematische »Komplementariät zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus« verweist Haas: Arbeit am Abscheu, S. 106f. 10 Jansen: Prinzip und Prozess Auslöschung, S. 11.
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»Das sind die Sätze, Wörter«: Das tödliche Medium Sprache Dass die Struktur und Verwendung der Sprache das Sediment der bernhardschen Prosa bildet, ist in der Forschung Konsens.11 Ebenso herrscht Einvernehmen darüber, dass Bernhard an die Tradition der modernen Sprachskepsis anschließt.12 Dabei betrifft die Sprachskepsis sowohl die erkenntnistheoretische als auch die kommunikative Leistung der Sprache. Die zentrale Referenz der bernhardschen Sprachreflexion bildet Ludwig Wittgenstein.13 Der Versuch des frühen Wittgensteins, im Tractatus logico-philosophicus anhand einzelner Sätze die Welt rational darzulegen und abzubilden, erweist sich als äußerst fruchtbare Vorlage für das subversive Schreibprogramm des Autors, sowohl in der Früh- als auch in der Spätphase. Selbst dort, wo Bernhard mit seinen Sätzen eine radikale Demontage betreibt, bleibt er den konstruktiven Versuchen des Wiener Philosophen verhaftet. Bei aller »große[n] Varianzbreite«14 der bernhardschen Spracharbeit, lässt sich seine Prosa demnach als ein Denken in Sätzen definieren. Der Satz bildet die syntaktische und semantische Einheit, die dem strukturellen Aufbau der Prosa zugrunde liegt, seien es die nicht enden wollenden Satzgebilde über ein, zwei Seiten, oder isolierte Sätze bzw. Satzverstümmelungen, wie sie vor allem in der frühen, fragmentarischen Prosa auftreten. Dass der Satz die funktionale Einheit der bernhardschen Prosa bildet, gilt auch dort, wo Bernhard seine intensive Spracharbeit an einzelnen Wörtern leistet, sei es in Form von Neologismen, »Wortkombinatorik«15 oder »Worttransmutationen« bzw. »Komposita-Konstruktionen«.16 Stand lange Zeit die Wort-Ding-Beziehung im Blick
11 Vgl. Betten: »Thomas Bernhard«, S. 181. 12 Vgl. Franz Eyckeler: Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards, Berlin 1995. Vgl. ferner Aldo Giorgio Gargani: Der unendliche Satz. Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann, Wien 1997, S. 19ff.; Kahrs: Thomas Bernhards frühe Erzählungen, S. 15. 13 Zur Wittgenstein-Rezeption Bernhards vgl. Inge Steutzger: »Zu einem Sprachspiel gehört eine ganze Kultur«. Wittgenstein in der Prosa von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard, Freiburg i.B. 2001, S. 208f.: Steutzger spricht von einer »›komprimierende[n]‹ Umschrift« der wittgensteinschen Philosopheme, die sich von Text zu Text jedoch verändert. 14 Betten: »Thomas Bernhard«, S. 185. 15 Kahrs: Bernhards frühe Erzählungen, S. 157. 16 Vgl. Betten: »Thomas Bernhard«, S. 185.
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der Sprachkritik, etwa bei Nietzsche, wenn dieser die Begriffe kritisiert, weil sie vom phänomenalen Gegenstand abstrahieren, so geht in die Linguistik und Sprachphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt die Einsicht ein, dass die sprachlichen Zeichen relational strukturiert sind, wobei hier der Satz die funktionale Einheit bildet.17 Der Satz ist aber nicht nur die grammatikalische, syntaktische und semantische Einheit, sondern er referiert zugleich auf die Sprache als ganze, d.h. den Diskurs. Auch diese Einsicht liegt der wittgensteinschen Philosophie (der mittleren und der späten Phase) zugrunde: »Das Zeichen (der Satz) erhält seine Bedeutung von dem System der Zeichen, von der Sprache, zu dem es gehört. Kurz: Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.«18 Kommt dem Satz mit dieser Definition eine paradigmatische Funktion zu, um die erkenntniskritische Denkarbeit zu leisten, so referiert der Satz sowohl auf einzelne Wörter und Wortkonstruktionen, als auch auf den Diskurs, als Verkettung von Sätzen zu einer Einheit. Die therapeutische, in der Selbstbefragung regressive Denk- und Satzbewegung Wittgensteins verkehrt sich bei Bernhard dabei typischerweise ins Aggressive, Überbordende: »Das sind die Sätze, Wörter, die man aufbaut. Im Grunde ist es wie ein Spielzeug, man setzt es übereinander [...]« (I 80) – nur um diesen Aufbau anschließend wieder zu zertrümmern. Die Passage war bereits Gegenstand der Analyse in Kapitel 2, zitiert hier aber nochmals die grundsätzlich gewaltvolle Disposition gegenüber der Sprache. Diese gewaltvolle oder gar letale Verfassung der Sprache tritt in Auslöschung deutlicher zutage als in anderen Romanen. Die Sprache erweist sich als hoch infektiöses, kontaminierendes Kommunikationsund Vermittlungsmedium. Das Bewusstsein über die zerstörende Wirkung der Sprache ist in Auslöschung ubiquitär. Der Satz, »Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen« (A 17, Herv. i.O.), den Murau zuvor gegenüber seinem Schüler Gambetti äußert und nun, eingangs, am Fenster seiner Wohnung stehend wiederholt, bildet das Beispiel eines tödlichen Satzes. »Mit diesem Satz«, so der Prota-
17 Vgl. Émil Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 144 u. 149. Jakobson will die Kompetenz der Linguistik allerdings über den Satz als höchste Einheit hinaus verstanden wissen. Vgl. Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 83-121, S. 87. 18 Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a.M. 1984, S. 21.
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gonist, »kannst du es nicht aufnehmen [...], mit diesem Satz wirst du leben müssen« (A 18). So unverständlich der Satz in seiner tödlichen Wirkung zunächst erscheinen mag, er artikuliert eingangs in nuce die vernichtende Macht der Sprache, die nicht so sehr von außen in die Sprache eindringt, als dass sie ihr konstitutiv innewohnt. Das liest sich daran ab, dass Muraus Eltern bereits tot sind, d.h. Muraus Vernichtungswunsch hat sich ›eigentlich‹ erfüllt. Der Satz bleibt nun aber trotz allem wirkmächtig und entwickelt gerade in dieser Virtualität seine letale Macht, die über den physischen Tod der Eltern hinaus reicht. Dies zeigt, dass die Sprache ihr tödliches Potential primär im Feld der symbolischen Ordnung entfaltet. Mit dem Wunsch der Vernichtung des Anderen ist dem Satz ein exzessives Begehren eingeschrieben, das – wie Slavoj Žižek argumentiert19 – jeden diskurstheoretischen Ansatz, der die Sprache als neutrales oder gar versöhnendes Medium fasst, für nichtig erklärt. Wo der Satz eine Schlichtung ausschließt, vermag zunächst nur die Überführung der Sprache in die Theatralität die Letalität des Satzes zu bannen. Indem Murau den Satz laut wiederholt, »so, als sei ich ein Schauspieler, der den Satz zu proben hat, weil er ihn vor einem größeren öffentlichen Auditorium vorzutragen hat« (A 18), bietet Muraus Kopftheater einen Simulationsraum, der die Gewalt zeitweise zu bändigen vermag. Dass die Kommunikation kaum als Mittel der Mitteilung und Vermittlung dient, sondern vielmehr einen tödlichen Gewaltzusammenhang darstellt, darüber lässt Auslöschung keinen Zweifel. Die Mutter, »unsere Gesprächszusammenschlagerin«, resümiert Murau, »hat jedes Gespräch immer schon gleich am Anfang zerstört« (A 573). Wenn die Mutter die anderen durch ihr »Geplapper beherrscht« (A 100), dient ihr die Sprache als Machtinstrument. Den Ehemann hat sie als »Hampelmann« (A 49) symbolisch kastriert. Die Schwestern sind zu »Marionetten« (A 73) und »Puppen« (A 100) degradiert, die die Mutter im feindlichen Sprachabtausch zudem als propagandistische Stimmen instrumentalisiert: Sie »hatten sich mit der Zeit zu den zwei gefährlichsten Sprachrohren meiner Mutter entwickelt. Diese Sprachrohre stan-
19 Laut Žižek produziert die Sprache eine exzessive Gewalt: »[L]anguage [...] is the first and greatest divider, it is because of language that we and our neighbors (can) ›live in different‹ worlds even when we live on the same street. What this means is that verbal violence is not a secondary distortion, but the ultimate resort of every specifically human violence«. Slavoj Žižek, Violence: Six sideways Reflections, London 2008, S. 57; vgl. ferner S. 51.
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den, lagen und saßen ununterbrochen auf der Lauer.« (A 103) Der ältere Bruder Johannes wird auf kannibalische Weise von Wolfsegg »nicht nur durchdrungen, sondern bald beherrscht, wie ich meine, aufgesaugt und aufgefressen« (A 83). Im tödlichen Sprachfluss der Familie bieten zunächst nur einzelne Wörter Residuen, um der Macht der Sprache zu entkommen. In Muraus diffiziler Taxonomie der Wörter zirkulieren »Lieblingswörter« (A 83), »Zauberwörter« (A 385), »Stichwörter« (A 626), »Ehrenwörter« (A 118), »abgeschmackte Wörter, die ich [...] zu sagen gezwungen bin (A 439) und »aufzusagende Wörter«, die »quälen« (A 319). An anderer Stelle führt ein »Wortspiel« (A 485) zu einem Verwirrspiel. Vor allem treten Wörter als Eigennamen auf. Prägend sind für Murau jene Wörter, die mit dem Onkel Georg und den Büchern aus den Bibliotheken von außen in die geschlossene Familiensphäre eindringen. Als Georg zu Besuch war »fielen auf einmal Wörter wie Tolstoi oder Paris oder New York oder Napoleon« (A 40). »Manchmal machte er, wenigstens in den ersten Tagen seines Aufenthalts, einen Versuch, warf er beispielsweise das Wort Goethe mehr oder weniger unvermittelt auf den Tisch; aber sie [die Familienangehörigen, P.S.] konnten damit nichts anfangen. Geschweige denn mit Wörtern wie Voltaire, Pascal, Sartre.« (A 43) Den Wörtern kommt ihr Wert hier nicht als Münzen zu, die sie einem Tauschwert – und damit der Gefahr der Entwertung – unterwerfen würden, sondern sie zirkulieren als Eigennamen. Zeichnet sich der Eigenname durch eine paradoxale Struktur aus, indem er »offenbar macht und verdunkelt in ein[em]«,20 so verfügt er über komplexe bzw. mysteriöse21 Ein- und Ausschlussmechanismen. Als Eigennamen öffnen sich die Wörter dem Einen, während sie sich dem Zugang des Anderen versperren. Die Wörter provozieren somit zwar Missverständnisse, schützen damit aber zugleich vor dem Zugriff auf eine existenzielle Realität. So beispielsweise das Wort »Siebenkäs« (A 264f.), das der junge Murau gegenüber der Mutter äußert, als sie ihn eines Mittags nach seinem zu späten Erscheinen zum Abendessen zur Rede stellt. Noch Jahrzehnte später denkt die Mutter, das Wort sei der Phantasie Muraus entsprungen, um sie zu verärgern. Dieses Wort verwei-
20 Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt a.M. 1979, S. 46. 21 Bernd Stiegler spricht vom »Mysterium[] der Identität des Eigennamens«. Bernd Stiegler: Die Aufgabe des Eigennamens. Zur Funktion der Eigennamen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, München 1994, S. 11.
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gert sich nicht nur dem Verständnis der Mutter und erregt deshalb ihren Zorn. Es eröffnet Murau, wenn er sich in der »Bibliothek verschanzt« (A 264), vielmehr einen ebenso realen wie imaginären Zufluchtsort, der ihn der Familie zeitweise entkommen lässt. Bilden die Wörter heterotopische Miniaturräume, so ist diese Raummetaphorik von Wörtern und Sprache durchaus wörtlich zu verstehen: Wörter sind begehbar wie Räume. Wo einzelne Wörter imaginäre Räume bilden, eröffnen sie dem Einen, was sie dem Anderen verschließen. Zwar führt dies zu Miss- und Nichtverständnissen. Die Kehrseite der scheiternden Kommunikation ist jedoch der Selbstschutz des Einzelnen vor bedrohlichen Vereinnahmungen. Indem die Wörter wie Räume ›begangen‹ werden, werden sie weniger als Signifikanten verhandelt, die auf einen konkreten Inhalt verweisen, sondern sie bilden – analog zum begeh- und bewohnbaren Raum – die strukturierende und somit unhintergehbare Matrix, die einen Erfahrungsraum erst als solchen ausweist. Der phantasmatische Wortgehalt geht dabei nahtlos in den realen über und vice versa. Wörter wie »Paris« oder »Rom« werden in der Phantasie bewohnt, bevor sie zum realen Wohnort werden; auch als Murau schließlich in Rom lebt, behält das Wort seinen symbolischen Mehrwert bei. Ähnliches gilt aber auch für den bei Bernhard typischen signaturhaften Gebrauch von Autorennamen und Büchern, wie er in Auslöschung bereits auf der ersten Seite auftaucht. Auf der Lektüreliste, die Murau seinem Schüler Gambetti empfiehlt, sind die Bücher auf Autoren und Titel reduziert und finden analog zu den Wörtern nur als Eigennamen Eingang in den Text: »Ich hatte Gambetti fünf Bücher gegeben [...] Siebenkäs von Jean Paul, Der Prozeß von Frank Kafka, Amras von Thomas Bernhard, Die Portugiesin von Musil, Esch oder Die Anarchie von Broch.« (A 7f.) Was in der Abbreviatur der Autoren- und Denkernamen sowie ihrer Werke semantisch nur angedeutet ist, verweist auf einen existenziellen Denkund Lebensraum, weniger auf einen hermeneutischen Sinn, der darauf harrt, analytisch dekodiert oder diskursiviert zu werden.22 Juliane Vogel hat darauf verwiesen, dass Bernhard im signaturhaften Gebrauch der Autoren das bildungsbürgerliche Lektüremodell gegen ein rhetorisches bzw. liturgisches ausspielt. Anstatt die Lektüre als
22 Zur Abbreviatur vgl. ferner Jansen: Prinzip und Prozess Auslöschung, S. 60ff. Andreas Gößling: Die »Eisenbergrichtung«: Versuch über Thomas Bernhards »Auslöschung«, Münster 1988, S. 14.
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»Weltaneignung« im Prozess der »Selbstbildung« zu lesen, wird sie im signaturhaften Gebrauch als »Gebetsbuch« rezitiert. Der Aneignung des Buchstabens im hermeneutischen Prozess steht die Fixierung der Bedeutung im liturgischen Gebrauch gegenüber. Bildungsbürgerlicher und liturgischer Wortgebrauch stehen somit agonal zueinander.23 Das bildungsbürgerliche Lektüremodell wird in Auslöschung nun desavouiert. Zynisch karikiert Murau das humanistische Bildungsideal, wenn er von der »Knetmasse Johannes« spricht, die zum »Idealbild« (A 354) der Eltern geformt wird. Bildung entpuppt sich als gewaltvolle Zurichtung, die nichts von der Vorstellung eines autonomen Subjekts übrig lässt. Darüber hinaus nehmen die »Gebetsbücher der Philosophen« – im Gegenzug zum hermeneutischen Modell – in der Kampfarena der Kommunikation eine präzise Funktion ein, die dem Selbstschutz dient. Die infektiöse Sprache der Mutter wird hier mit einem Antidot bekämpft. Die Öffnung der Bibliotheken durch den Onkel Georg verströmt plötzlich »fürchterliches«, »tödliche[s] Gift« (A 148f.) und stellt somit das Antidot gegen die mütterliche Sprachgewalt zur Verfügung. Ohne hermeneutische (Selbst-)Bildungsarbeit oder Auslegungsquerelen vermag der junge Protagonist nur mit einer handvoll Wörtern bewaffnet somit erstmals seinen »Gegenweg« (A 147, Herv. i.O.) anzutreten. Dient dem jugendlichen Protagonisten das Antidot als Mittel der Befreiung, so holt ihn die Wirkung der Droge jedoch wieder ein. Es gibt kein Regularium oder Rezept, das über eine gefahrlose Dosierung des Gegengifts verfügen könnte. Die Risiken oder Nebenwirkungen des Pharmakons zeigen sich maßgeblich im Bereich des Denkens und der Philosophie, bzw. sie sind dort strukturell angelegt. Bei Bernhard steht gemeinhin keine mimetische Darstellung der Wirklichkeit zur Disposition,24 sondern ausgehend von der skeptischen Prämisse, dass eine Erkenntnis und sprachliche Vermittlung der Realität gar nicht erst möglich ist, geht es um die kognitive Bewältigung der Existenz, die sich in der Sphäre des Denkens, das insbesondere in der Sprache veräußert ist, ereignet. Den-
23 Vgl. Juliane Vogel: »Die Gebetsbücher des Philosophen – Lektüren in den Romanen Thomas Bernhards«, in: MAL 21/3 (1988), S. 173-187. 24 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard, Wien 2010, S. 12ff. Bianca Theisen: »The Art of Erasing Art. Thomas Bernhard«, in: MLN 121/3 (2006), S. 551-562, S. 561f. Theisen spricht in Bezug auf Luhmann von »second-order observations«.
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ken und Philosophie lösen letztlich nichts,25 sondern sie bilden oder spiegeln die kognitive Tätigkeit, derer sich die Geistesmenschen typischerweise zur Existenzbewältigung bedienen. Folglich spricht Murau von »philosophierenden Gedanken, die allerdings zu nichts führten« (A 190, Herv. i.O.). Das Denken ist darum bemüht, ein Equilibrium zwischen Ratio und Realität herzustellen, ein Unterfangen, das Bernhard in seiner Instabilität vorführt. Anfällig ist das kognitive System, weil das Denken keinen Zugriff auf die Wahrheit erlaubt bzw. genauer, weil es sich durch keinen letzten Signifikanten stabilisieren lässt. In Die Kälte heißt es: »Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist, jeder Irrtum ist nichts als die Wahrheit.«26 Der kontradiktorische Satz zielt weniger auf die pauschale Vernichtung von Erkenntnis, sondern er verortet die Wahrheitssuche innerhalb eines dynamischen Kontexts mit wechselnden Koordinaten, die unwillkürlich den Wahrheitsbegriff affizieren. Seine Prägnanz erhält ein solcher Satz demnach innerhalb der skizzierten Kampfzone der Sprache. Wo sich eine hermeneutische Auslegung, die auf einen inhaltlichen Sinn zielt, dem feindlichen Diskurs unweigerlich aussetzt, bietet der formale Gedanke – neben dem Gebrauch vom Wort als Eigennamen – einen Schutz vor dem Zugriff auf die existenzielle Realität.27 Allerdings verweist die paradoxale Formulierung bereits darauf, dass die formale bzw. rhetorische Denkweise instabil ist; weil sie sich nicht kontrollieren lässt, mündet sie unweigerlich in eine negative Spirale: »Wir glauben, wir haben es schon so weit gebracht, dass wir eine Denkmaschine sind, aber wir können uns auf das Denken dieser unserer Denkmaschine nicht verlassen. Sie arbeitet ununterbrochen im Grunde gegen unseren Kopf.« (A 157f.) Wo die Begriffe ohne stabile Rückbindung an ein Signifikat unterschiedslos vertauscht werden können, läuft das Denken Gefahr sich leer zu laufen oder sich ungeschützt gegen sich selbst zu kehren. 25 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus/Tagebücher 1914-1916/Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1 (=WA Bd. 1), Frankfurt a.M. 1984, S. 10. 26 Thomas Bernhard: Die Kälte. Eine Isolation, München 2005, S. 69. 27 Die Problematik lässt sich auch anders formulieren: Die hermeneutische Deutung gewinnt die Legitimation ihrer Sinnsetzung nur in Rückbindung auf den dominanten, gesellschaftlichen Konsens, dem es sich hier gerade zu entziehen gilt. Ohne diese konsensuelle Verankerung ist aber die Setzung eines positiven Gegen-Sinns vorab einem Scheitern ausgesetzt.
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Sobald die »Denkmaschine« ihr Momentum einmal erreicht hat, ist der Wahnsinn demnach nicht fern. Besonders die formale Struktur des Denkens erlaubt es nicht, den Wahnsinn von der Vernunft abzugrenzen. Vielmehr ist der Vernunft der Wahnsinn als ihr Anderes vorab eingeschrieben. Bekanntlich hat es Wittgenstein als späte Errungenschaft angesehen, den philosophischen Gedanken nach eigenem Willen jederzeit abbrechen zu können.28 Die Geistesmenschen Bernhards bringen diese Selbstdisziplin jedoch nur selten auf. Allenfalls wissen sie sich mit alternativen Selbstschutzmechanismen zu helfen. In Frost legt sich der Maler Strauch eine »Selbstzensur« 29 auf, indem er seinen Pascal nur zu lesen vortäuscht; Reger in Alte Meister erweist sich als »hochgradig talentierte[r] Umblätterer[], also ein [] Mann[], der lieber umblättert, als liest«.30 Wiederholt wird hier ein »liturgisches« Lektüremodell eingesetzt, das den Buchstaben dem diskursiven, signifikanten Zugriff entzieht und damit sicherstellt. Auch für Murau ist somit »das geheimgehaltene Denken, [...] das entscheidende« (A 161). Als Deutschlehrer kann er jedoch nicht auf Techniken der Selbstzensur zurückgreifen, weil er notgedrungen über seine Geistesvorbilder referieren muss. In der Folge gerät er unweigerlich in die tödliche Denkspirale, die ihn wiederholt zum Eingeständnis seiner vollkommenen Verständnislosigkeit zwingt: »Montaigne, sagen Sie, Gambetti, und ich weiß im Augenblick gar nicht, was das ist [...] Descartes? Ich weiß es nicht. Schopenhauer? Ich weiß es nicht. Ebenso könnten Sie Butterblume sagen und ich wüßte nicht, was es ist.« (A 159, Herv. i.O.) Im tödlichen Kommunikationssystem Wolfsegg konnten sich die Literatur und die Philosophie als Immunabwehr noch bewähren. In Rom entpuppt sich die Geistesexistenz nun, gekoppelt mit dem Lehrauftrag, in ihrer selbstdestruktiven Logik, der letztlich keine affirmative, identitätsstiftende Sprache zur Verfügung steht und damit ein Korrektiv zur tödlichen Denkspirale. An dieser Stelle gilt es, die Argumentationslinien vom öffentlichen Kampfplatz der Sprache erneut aufzugreifen – denn nicht nur die Familie wird von oppressiven Sprachdynamiken bestimmt, sondern der gesamte öffentliche Diskurs.
28 Wittgenstein: WA Bd. 1, S. 305/§ 133. Vgl. ferner Thomas Bernhard: Gehen, Frankfurt a.M. 1971, S. 26. 29 Vogel: »Die Gebetsbücher«, S. 177. 30 Thomas Bernhard: Alte Meister, Frankfurt a.M. 1985, S. 39.
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Die Ausweitung der Kampfzone: Die Sprache im öffentlichen Diskurs Neben der Literatur, der eine heterotopische Funktion zukommt, um sich der Familie zu entziehen, findet der junge Murau ferner bei den einfachen Dorfleuten und insbesondere bei den Gärtnern einen weiteren Zufluchtsraum. Der friedliche, reduzierte Sprachgebrauch wird stereotyp mit den Gärtnern und deren pflegendem Umgang mit der Natur assoziiert: »[I]hre Bewegungen waren die unbedingt notwendigen, beruhigenden, immer nützlichen, ihre Sprache war die einfachste, klarste.« (A 166) In diametralem Gegensatz dazu »überfielen« die Jäger auf Wolfsegg Murau, »mit ihrer protzigen, auftrumpfenden Art, mit ihren lauten versoffenen Stimmen« (A 191). Mit ihrer gewaltvollen Disposition verantworten die Jäger die gesellschaftliche Repression und insbesondere die nazistische Gewaltherrschaft: »Die Jäger waren die Faschisten, die Jäger waren die Nationalsozialisten [...]. Im Ort unten führten während der Naziherrschaft die Jäger das große Wort.« (A 192) Die Jäger waren es auch, die Muraus Vater »zum Nationalsozialismus sozusagen erpreßt haben« (A 192).31 Dieser demagogische und despotische Sprachgebrauch äußert sich ferner, wenn die Jäger sich eigenständig zu ihrem Recht verhelfen. Wenn ihnen jemand nicht passt, schießen sie ihn im Wald nieder und behaupten später vor Gericht, sie hätten ihn für ein Stück Wild gehalten (Vgl. A 192). Gewalt und Sprache sind hier identisch. Dass die Jäger alleinigen Zugang zum Büro und zu den Akten haben, ruft in der Metaphorik der Jäger als Nationalsozialisten nicht zuletzt die Allianz von Bürokratie und Diktatur auf: »Nur die Jäger hatten im Büro [des Vaters] ungehinderten Zutritt, sonst niemand.« (A 605) Auch der verwaltungstechnische Schriftverkehr ist demnach von der Gewalt affiziert. In der Gegenüberstellung von Gärtnern und Jägern scheint zunächst auch die Differenz zwischen einem gewaltlosen und einem gewaltvollen Sprachgebrauch markiert zu sein und damit die Möglichkeit, zwischen beiden zu differenzieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Denn das Gegenmodell der Gärtner ist weniger in einem gewaltlosen Sprachgebrauch verkörpert, als im Verzicht auf die Sprache an sich.
31 An anderer Stelle erweist sich der Vater allerdings als loyaler Nationalsozialist; er ist vom Rang her Oberst (A 590) und war »jahrzehntelang Landesjägermeister« (A 413, Herv. i.O.).
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So hat sich Murau auch »ohne viel Wörter verstanden« (A 191) und ganz »wortlos« (A 317). Wo die semiologische Praxis mit Gewalt identifiziert wird, bildet das Gegenmodell der Sprachverzicht und das Schweigen. Verspricht die Aufhebung der Sprache eine gewaltlose Kommunikation,32 so greift Murau bei seinem Amtsantritt zunächst auf die Lektion der Gärtner zurück: »nicht mit Wörtern, allein durch mein Verhalten, das nicht näher erklärt werden kann« (A 386) – so will er seinen Amtsantritt als neuer »Herr von Wolfsegg« begehen. Der Versuch scheitert jedoch. Das liegt nicht nur daran, dass Murau auf die Sprache rekurrieren muss, um seinen Willen mitzuteilen. Vielmehr ist er bereits in eine symbolische Ordnung eingeschrieben, die sein Reden und Handeln vorab diktiert. So macht er sich allein mit einer beiläufigen »Äußerung zum Herren von Wolfsegg« (A 400); »diese Bezeichnung [war] ganz natürlich von meinem Vater auf mich übergegangen.« (A 408) Nehmen die Worte mit Muraus Amt unvermittelt eine neue Bedeutung an, so verweist die Ironie auf einen realen Komplex, wenn er sich mit einer weiteren Äußerung unversehens zum Landwirt macht, »der ich aber nicht sein wollte« (A 482). Das Amt usurpiert Muraus Identität, indem nun er – wie zuvor sein Vater – plötzlich Landwirt ist: »wahrscheinlich verlangen sie jetzt alle von mir, dass ich Landwirt bin, schon bin, dachte ich.« (A 482) Das Aussagesubjekt ist an diesem Punkt auf einen Körper reduziert, der restlos in der symbolischen Ordnung eingegliedert ist. Was Murau mit dem Amtsantritt am eigenen Leib erfährt, bestätigt aber nur, was er zuvor beobachtete: Im symbolischen und institutionellen Sprachgebrauch verliert das Aussagesubjekt seinen (autonomen) Subjektstatus. So beispielsweise bei der katholischen Ehe. Mit dem »Eheja« (A 347) nimmt die katholische Kirche »diejenigen, die dieses Ja gesprochen haben, vollständig in Besitz« (A 348). Dabei geht es nicht nur darum, dass das Eheja gemäß Murau »verlogen ist« und trotz allem in seiner Verlogenheit und Inauthentizität das »Ehejoch« beschließt. Vielmehr ist es die affirmative Bindung des Jas, das die Ehe-
32 Ob sich das Schweigen der semiologischen Praxis und damit der Gewalt entzieht, darf natürlich bezweifelt werden. Vgl. Stefan Krammer: »Ritualisierte Kommunikations-Macht-Spiele. Zu einer Semiotik des Schweigens im dramatischen Werk Thomas Bernhards«, in: Franziska Schößler/Ingeborg Villinger (Hg.), Politik und Medien bei Thomas Bernhard, Würzburg 2002, S. 95-102, S. 98.
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leute sowohl untereinander als auch fatal an die Institution der Kirche bindet. Der performative Sprechakt führt in dieser Situation unwillkürlich zur Preisgabe von Identität: »Und nichts sehnen die Menschen mehr, als sich Ja zu sagen und aufzugeben und zu vernichten.« (A 347) Genau diese Erfahrung macht Murau – mit dem Unterschied, dass ihn die symbolische Ordnung einholt, bevor er eine Wahl treffen könnte, das Amt anzunehmen oder nicht. Mit dem Tod des Vaters und Bruders ist er bereits vereinnahmt: Er ist Herr von Wolfsegg. Die Nachfolgefrage hatte schon über den Vater die Oberhand gewonnen und ihn durch die Heirat einerseits, die Korruption der Jäger andererseits, vernichtet. Murau wird nun nicht in dieselbe »Falle« (A 104) gehen. In dieser Situation erhält das Auslöschungsvorhaben seine Virulenz. Anders als Jansen nahe legt, erhält Muraus Auslöschungsvorhaben nicht »kurioserweise in dem Moment den entscheidenden Anstoß, als ihm mit dem Tod der Eltern und des Bruders der Kern des Anschauungsmaterials entzogen wird«.33 Vielmehr wird mit dem Erbantritt und Muraus Wandel vom dissidenten Sohn zum »Herrn von Wolfsegg« (A 408, 562) die »Nachfolgefrage« (A 505) auf natürliche Art und Weise akut, weil er plötzlich zum symbolischen Träger des verhassten, »gigantische[n] Besitzklumpen[s]« (A 37) wird. Die Distanz, die er sich mit seinem römischen Exil geschaffen hatte, ist plötzlich aufgehoben. Die Worte Georgs, »so können wir mit Wolfsegg fertig werden, aus der Ferne« (A 58), haben ihre Gültigkeit für Murau schlagartig verloren. Entweder setzt Murau die genealogische Linie fort, »mit diesem Besitzklumpen zu einer furcht- und ekelerregenden Einheit verschmolzen« (A 38), oder er versucht sich von der vernichtenden symbolischen Ordnung zu befreien. Die Möglichkeiten der Befreiung sind jedoch zugleich in den größeren Zusammenhang des (foto-)medialen Diskurses eingeschrieben, dem es an dieser Stelle mit der »Teufelskunst« (A 243) der Fotografie zu folgen gilt. »Das Teufelswerkzeug« Fotografie: Die Sprache in der fotomedialen Ordnung Muraus ›Theorie‹ der Fotografie lässt sich als integraler Moment des Romans lesen, indem sie in direktem Bezug zur Sprache und dem Pro-
33 Jansen: Prinzip und Prozess Auslöschung, S. 24.
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jekt der Antiautobiografie gebracht wird.34 So übertrieben Muraus Polemik zunächst erscheinen mag, so erschöpfen sich seine Invektiven weder in Gemeinplätzen, wenn Murau beispielsweise von der Fotografie als »ungeheuerliche[r] Naturverfälschung« (A 26) spricht, noch handelt es sich schlichtweg um »Blödsinn«35 oder um »hyperbolische Tiraden«.36 Vielmehr ist Muraus Fototheorie – gerade in ihrem globalen Anspruch – symptomatisch in jenen Strömungen zu verorten, die mit Theoretikern wie Jean Baudrillard, Nobert Bolz, Vilém Flusser oder Paul Virilio Mitte der 80er Jahre die Fotografie ins Zentrum der Medientheorie rücken.37 Was Bernd Stiegler für die genannten Medientheoretiker geltend macht, trifft gleichermaßen auf Bernhard zu: »[D]ie Theorie der Photographie, wie sie in der allgemeinen Medien-
34 Einige Autoren verweisen zwar in die Richtung der hier veranschlagten Lektüre, behandeln die Fotografie dabei jedoch als Epiphänomen. So Gößling: »Die Eisenbergrichtung«, S. 12-22 und Eyckeler: Reflexionspoesie, S. 245-247: Beide sprechen davon, dass die Fotos die Wahrheit hinter den Erscheinungen verstellen und einen verzerrten Diskurs über die Familie generieren. Vgl. ferner J.J. Long: »›Die Teufelskunst unserer Zeit‹? Photographic Negotiations in Thomas Bernhard’s Auslöschung«, in: MAL 35 (2002), S. 79-96. Schlichtmann: Das ›Erzählprinzip‹ Auslöschung, S. 62f. und Helms-Derfert: Die Last der Geschichte, S. 163-173. Marquardt argumentiert, dass die Repräsentationsleistung der Kunst mit der Fotografie an sich infrage gestellt wird. Vgl. Marquardt: Gegenrichtung, S. 89 f. Windrich behauptet zwar, die Fotografie ins Zentrum seiner Interpretation zu rücken, kann jedoch weder die formale noch die mediale Spezifität dieses Mediums ausweisen. Vielmehr wiederholt die Fotografie die Künstlichkeit, die bereits der Theateralität eigen ist. Bernhard führt dies in einer »dynamischen Darstellung« vor und bestätigt somit sein »poetologisches Programm« als theatralisches, so Windrich. Vgl. Johannes Windrich: Technotheater. Dramaturgie und Philosophie bei Rainald Goetz und Thomas Bernhard, München 2007, S. 29-52. 35 Andreas Herzog: »Auslöschung als Selbstauslöschung oder Der Erzähler als theatralische Figur«, in: Honold u.a (Hg.), Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen, S. 123-131, S. 126. 36 Detlef Kremer: »Ekphrasis. Fensterblick und Fotografie in Thomas Bernhards später Prosa«, in: Schößler u.a. (Hg.), Politik und Medien bei Thomas Bernhard, Würzburg 2002, S. 197-207, S. 198. Das Problem, Muraus Äußerungen gerade in ihrer Übertreibungsrhetorik nicht ernst zu nehmen, führt dazu, dass sämtliche Äußerungen relativiert werden müssten und in ihrem Status fragwürdig bzw. potentiell gehaltlos werden. 37 Vgl. Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 391.
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theorie entworfen wird, [neigt] zu einem hyperbolischen Zugriff auf die Mediengeschichte als solche.«38 In Differenz zu den genannten Medientheoretikern entwickelt Bernhard freilich keine Medien- oder Fototheorie im strengen Sinn, die letztere als technisches Medium analysieren würde. Die Fotografie findet nur in ihrem massenmedialen Gebrauch Beachtung und zwar vor allem als Medium, das die (Selbst-)Wahrnehmung des Subjekts nachhaltig verändert. Dabei steht bei aller Übertreibungsrhetorik die Richterskala der Katastrophen für Murau fest. Schärfer als die österreichische »Machtmischmethode« (A 291) von Nationalsozialismus und Katholizismus, aber auch allgemein als die Industrialisierung und Technisierung der Moderne, verdammt Murau die Fotografie als »das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts« (A 30). Kann Murau es mit den apokalyptischen Geistern seiner Zeit ohne Weiteres aufnehmen, so provoziert seine Aussage vor allem im spezifischen Kontext, der die Fotografie in Parallele zum Nationalsozialismus diskutiert. Im Verbund mit dem Nationalsozialismus mischt sich die Fotothese merkwürdig unmotiviert in den geistesgeschichtlichen Krisendiskurs. Was für ein Unglück soll die Fotografie verkörpern, dass sie schwerer wiegt, als die verübten Massenmorde, vorne weg die Vernichtung der europäischen Juden? Die Frage nach dem Vergleich von Unglück und Verbrechen führt unweigerlich auf Glatteis. Trotz allem soll hier die Hypothese vertreten werden, dass der globale Anspruch von Muraus Aussage durchaus sinnfällig ist, wenn auch nicht in komparativer Absicht. Universalen Anspruch erhebt die Diagnose – so die Folgehypothese – weil Murau die Fotografie für den Verlust der Natur verantwortlich macht: »[A]lles ist Kunst, es gibt keine Natur mehr.« (A 126) Die Fototheorie beschäftigt sich seit dem frühen 19. Jahrhundert mit der Differenz zwischen Natur und Kunst.39 Dieser Diskurs kehrt 38 Ebd. 39 Gerhard Plumpe beschreibt die »semantischen Oppositionen« der Fotografie innerhalb der Ästhetik des 19. Jahrhunderts anhand von Binärbegriffen wie: Mensch/Maschine, Schöpfung/Kopie, Leben/Tod, Tiefe/Oberfläche, Wahrheit/Lüge etc. Gerhard Plumpe: Der Tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990, S. 48. Bernd Stiegler bietet eine differenziertere Analyse, die nicht nur der Vielfältigkeit des fotografischen Diskurses im 19. Jahrhundert nachgeht, der zu einer neuen Diskursivierung der Wahrnehmung an sich führt; auch die »Interferenzen von photographischen und literarischen Diskursen« gestalten sich insgesamt reziprok. Vgl. Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photografische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert, München 2001, S. 13.
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auch bei Bernhard wieder, wenn Murau der Fotografie die Verfälschung der Natur vorwirft. Natur und Natürlichkeit bilden bei Bernhard Binärbegriffe zur Kunst und Künstlichkeit. Zeugt die Natur – wie sie u.a. von den Gärtnern verkörpert wird – von der Möglichkeit sinnlicher, unmittelbarer Wahrnehmung, so schneidet die Künstlichkeit den Zugang zur Realität ab. Der Verlust der Realität manifestiert sich paradigmatisch in der Fotografie: »Ich habe noch auf keiner Fotografie einen natürlichen und das heißt, einen wahren und wirklichen Menschen gesehen, wie ich noch auf keiner Fotografie eine wahre und wirkliche Natur gesehen habe.« (A 30) Trotz dieser Privilegierung der Natur spielt Bernhard die Kunst aber nicht einfach in einer binären Konstellation gegen die Natur aus. Angesichts einer unerträglichen Realität kommt der Fotografie potentiell eine therapeutische Funktion zu: »Wir leben in zwei Welten, sagte ich zu Gambetti, in der wirklichen, die traurig und gemein ist, letzten Endes tödlich und in der fotografierten, die durch und durch verlogen, aber für den Großteil der Menschheit, die gewünschte und die ideale ist.« (A 128) Wohnt der Natur nicht zuletzt mit dem Tod ein unkontrollierbarer, unerträglicher Moment inne, dem die Fotografie – in vielerlei Hinsicht nicht anders als die Kunst – als Sedativ zu begegnen vermag, so erfährt die fotogenerierte Künstlichkeit in Auslöschung trotz allem eine apodiktische Absage. Dies liegt insbesondere daran, dass das fotografische Abbild – in Anlehnung an Jean Baudrillards Terminologie – eine Sphäre der Simulation produziert, die ihrer Referenz zur Außenwelt vollständig verlustig gegangen ist. Formuliert sich Baudrillards Simulationstheorie in ihrer historischen und theoretischen Ableitung, die auf der ökonomischen Ordnung und Produktion von Zeichen basiert, komplexer als Muraus Invektiven, die sich auf die massenmedienbedingte (Selbst-) Wahrnehmung des Subjekts beschränken, so zielen trotz allem beide mit der These von der Generierung einer referenzlosen Ordnung auf ein vergleichbares Phänomen.40 Mit der Unfähigkeit die Zeichen auf einen Referenten zurückzuführen, wird auch die traditionelle Unterscheidung zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹, ›real‹ und ›künstlich‹ etc.
40 In Der symbolische Tausch und der Tod skizziert Baudrillard ein historisches, dreistufiges Entwicklungsmodell von der Renaissance über das Industriezeitalter zum Informations- und Medienzeitalter, mit einer hyperrealen Ordnung, in der die Simulation total ist. Später distanziert sich Baudrillard jedoch von diesem entwicklungsgeschichtlichen Narrativ.
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hinfällig. Vielmehr ist die Illusion bereits ununterscheidbar in den Begriff der Realität eingewandert: »Kunst ist daher überall, denn das Künstliche steht im Zentrum der Realität.«41 Unabhängig von der Ätiologie und Plausibilität von Muraus These, ist zunächst der Befund und dessen Deutung ausschlaggebend: »Dadurch, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist alles so chaotisch. So falsch. So unglücklich. So tödlich konfus. Wo keine Natur mehr ist, kann auch keine Naturbetrachtung mehr stattfinden.« (A 126) Der Verlust der Natur, der sich anhand der Fotografie kristallisiert, bildet einen neuralgischen Punkt im Text: Der apokalyptische Ton, der zunächst an den Herkunftskomplex Wolfsegg gebunden ist, wird mit dem Tod der Natur transzendiert und unumkehrbar besiegelt. Dieser Moment, der mit dem Tod der Natur einen irreversiblen Entwicklungsgang verzeichnet, hat im Text jedoch einen mediengeschichtlichen Vorlauf. An dieser Stelle ist ein Exkurs zwischenzuschalten, der zunächst nochmals von der Fotografie wegführt und der Vollständigkeit halber das Theater, als weiteren Topos, der in Auslöschung verhandelt wird, einflicht. Dabei geht es weniger um die Kunstform, sondern Murau beschreibt die habituellen und rituellen Ordnungen auf Wolfsegg vermittels einer Theatermetaphorik. Über das Begräbnis der Eltern heißt es: »Begräbnisse sind immer nur ein Theater.« (A 532, Herv. i.O.) Diese Theaterordnung steht insofern im Zusammenhang mit der Fotografie, weil sie als mediale Ordnung bestimmend ist, bevor sie von der Fotografie chronologisch abgelöst wird. Mit der Fotografie als iconic turn verzeichnet Auslöschung einen medialen Ordnungswechsel: »alle Anzeichen stehen dafür, dass die Welt in kürzester Zeit sich so verändert, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen ist.« (A 610) Auf Wolfsegg dominiert hingegen nach wie vor die alte Ordnung: »Die Tatsache ist doch, [...] dass die Welt sich augenblicklich in einem chaotischen Zustand befindet, während in Wolfsegg die Ordnung herrscht [...] noch immer die Ordnung herrscht.« (A 369) Werden hier zwei Ordnungen gegeneinander gestellt, so vollzieht sich der mediale Wandel von der Bühne zum Bild in seiner Repräsentationslogik (und dem Verhältnis zwischen Kunst und Natur) letztlich graduell. Zunächst verzeichnet Murau mit der Begräbniszeremonie
41 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin 2008, S. 119.
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seiner Eltern jedoch ein definitives Endspiel des Theaters und damit das Ende der theatralischen Bühnenordnung: »Mehr oder weniger ist das Schauspiel hier zuende, habe ich gedacht, die Nebenfiguren meiner Schwestern haben jetzt, da die Hauptfiguren tot sind und schon aufgebahrt in der Orangerie, nichts mehr auf diesem Theater zu suchen. Der Vorhang ist zugegangen, dachte ich. Noch nicht ganz, dachte ich, sozusagen das Satyrspiel hat begonnen. Das Schwierigste des ganzen.« (A 432)
Wolfsegg ist der letzte Hort, auf dem das Theater noch herrscht.42 Nun findet mit dem Satyrspiel jedoch auch hier nur noch eine scherzende Tragödie als Nachspiel statt. Von Interesse ist nun, dass dieses Endspiel in vielerlei Hinsicht vorwegnimmt, was sich mit der Fotografie zuspitzt und zementiert: der Ausschluss der Natur. Das Begräbnisritual, das »wie ein Schauspiel [...], wie ein Festspiel« (A 321) geprobt und inszeniert wird, zeigt, dass der Tod – als Ereignis und Referent schlechthin – sich seinem Wesen nach der symbolischen Ordnung entzieht, indem er vollständig vom Zeremoniell absorbiert wird. Der Tod markiert keinen Bruch, sondern gibt vielmehr den Anlass für den finalen Akt. Nachdem mit Muraus Schwester und dem Weinstöpselfabrikanten die Woche zuvor ›Hochzeit‹ gespielt wurde, steht nun die Inszenierung ›Begräbnis‹ auf dem Plan und folglich gilt es, »die Hochzeit in ein Begräbnis zu verwandeln« (A 322). Die alten Spielpläne werden nochmals aus den Schubladen gezogen, die Rollenverteilung festgelegt und Auftritte antizipiert: »Für alle Arten von Festen gibt es in Wolfsegg einen genauen Plan, diese Pläne hat meine Mutter immer in ihrem Schreibtisch in der obersten rechten Lade aufbewahrt.« (A 322) Die Theatralität folgt nach wie vor einer festgeschriebenen Regie. Alles ist in diesem Schauspiel zugegen – bis auf den Referenten dieses Schauspiels, den Tod. Mit dem verunglückten Körper der Mutter ist der Tod dem Geschehen gleich zweifach entzogen: Der Sarg ist nicht nur verschraubt, sondern die Mutter ist enthauptet. Muraus Versuche, »die Verstümmelte noch einmal anzuschauen« (A 452), indem er den Sarg wieder-
42 Ferner werden sowohl der Katholizismus (A 635) als auch der Nationalsozialismus aufgrund seines militärischen Wesens (A 590) in Analogie zu dieser Theatermetaphorik gelesen. D.h. dass auch diese Systeme von dem medialen Ordnungswechsel betroffen sind.
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holt gewaltsam aufzubrechen sucht, scheitern. Als romantisches Symbol der Natur par excellence, liest sich die Unverfügbarkeit der Mutter als Unverfügbarkeit der Natur. Das System Wolfsegg ist gegen den Einbruch der Natur respektive den Tod in einer Art und Weise abgedichtet, die das Subjekt gar nicht mehr befähigt, mit ihr in eine bedeutsame Kommunikation zu treten. In dem Maß, wie der Tod ein Moment der Natur ist, nimmt er jenen beklagten Verlust der Natur vorweg, den die Fotografie irreversibel besiegelt. In der theatralen Ordnung der Bühne kündigt sich demnach nicht nur der Ausschluss der Natur an, den die Fotografie fatal verfestigt. Zugleich lässt sich der Wandel erst aufgrund des Vergleichs zweier Ordnungen als solcher überhaupt erkennen und beschreiben. Vor diesem Hintergrund ist erneut die Fotodiskussion aufzunehmen. Wie lässt sich Muraus These, dass die Fotografie einen unumkehrbaren Ausschluss der Natur produziert, nun jedoch plausibilisieren? Es handelt sich hier, wie gehabt, um eine spekulative These, die letztlich eine kulturanthropologische Diagnose ausstellt. Gößling, der als erster die formale Bedeutung der Fotografie in Auslöschung kommentiert, leitet die Fotokritik Bernhards aus den Kontroversen des 19. Jahrhunderts zwischen Realismus und romantischen Strömungen ab, die einen positivistischen Wissenschaftsbegriff mit einem metaphysisch-spekulativen Denken konfrontieren: »In diesem Prozeß fügte sich auf technischem Gebiet die Erfindung der fotografischen Kamera: ein Symbol des epochalen Wandels, der Abkehr vom Inwendigen, von den verborgenen Zusammenhängen und geheimen Qualitäten; ein Medium, das sich […] ›an die Oberfläche der Dinge klammert‹ und ›inwendiges Leben‹, ›geistige Belange‹ negiert.«43
Die Fotografie wird in diesem Zug für den Verlust von »schöpferischer Fantasie« und »innerem Erleben« verantwortlich gemacht.44 Muraus Fotoschelte nimmt hier zwar zweifelsfrei ihre Genese; Bernhard führt diesen Diskurs aber keineswegs unverändert fort. Denn einen Naturbegriff, der im Verbund mit Subjektivität und Innerlichkeit steht, hat Bernhard längst verabschiedet. Dies trifft vor al-
43 Gößling: Die »Eisenbergrichtung«, S. 18. 44 Ebd., S. 19.
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lem dort zu, wo die Sprache, wie dargelegt, ein defizitäres Erkenntnisund Kommunikationsmedium darstellt, das bereits einen Verdinglichungsprozess einleitet.45 Wo die Skepsis gegenüber der Sprache aber so negativ zu Buch schlägt, relativiert das unwillkürlich die Bedeutung und den Einfluss der neuen technischen Medien.46 Die Fotografie, die als technisches Medium »›jene große Dame Natur‹, wie ein ganzes neunzehntes Jahrhundert sie beredet und nie gesehen hatte«47 liquidiert, wiederholt demnach nur, was bereits in der Sprache als semiologischem System angelegt ist: Eine Repräsentationsleistung, die vom phänomenalen Gegenstand abstrahiert. Was die Fotografie allerdings deutlicher als die Sprache vor Augen zu führen scheint, ist die irreversible Auslöschung der Realität, die die semiotische Abstraktionsleistung der Fotografie nach sich zieht. »Die Photographie ist das effizienteste Mittel der Auslöschung der Realität«,48 so kommentiert Stiegler die Fotothese Bernhards. Dies impliziert auch, dass die Fotografie Murau eine attraktive Vorlage für das Vorhaben einer repräsentationsbedingten – schriftlichen – Auslöschung liefert.49 Zugleich treten hier jedoch nicht triviale Folgeerscheinungen auf, weil die Fotografie einen irreparablen Prozess einleitet, der auch die Schrift und das Schreiben nachhaltig betrifft. Der Paradigmenwechsel, den die Fotografie inauguriert, eröffnet keine Dichotomie zwischen Wort und Bild. Vielmehr reproduziert sich in der Fotografie, was bereits in der Sprache angelegt ist: eine fatale Abstraktion vom phänomenalen Gegenstand. Der Vorbehalt gegenüber der Fotografie wiederholt somit einen Topos, der bereits zum Repertoire der Sprachkritik gehört: die Sprache verführt das Denken. Von Nietzsche bis Wittgenstein und darüber hinaus besteht der starke Ver-
45 Vgl. hier ferner Kap. 2, »Amtliche Schriftsätze«, S. 80-85. 46 Auch wenn man davon ausgeht, dass die Fotografie insofern einen Paradigmenwechsel inauguriert, als dass sie ein Medium darstellt, das die Selbsteinschreibung der Natur vermittels des mechanisch-chemischen Bildes indexikalisch und in diesem Sinn ›objektiv‹ leistet und ferner ein Medium darstellt, dass von jedem bedient werden kann, so reflektiert Bernhard gerade nicht diese technischen Eigenschaften der Fotografie. 47 Friedrich A. Kittler: Grammphon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 178. 48 Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt a.M. 2006, S. 45. 49 Diesen Moment macht Lars Jacob stark. Vgl. Lars Jacob: Bildschrift – Schriftbild. Zu einer eidetischen Fundierung von Erkenntnistheorie im modernen Roman, Würzburg 2000, S. 259ff.
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dacht,50 dass die Sprache das Denken »verhext« (Wittgenstein). Der Grund liegt in der Bildhaftigkeit der Sprache. Die »logische ›Verlegenheit‹«,51 die die Metapher für den begrifflichen Diskurs der Philosophie (und Wissenschaft) darstellt, gewinnt mit Nietzsche kulturtheoretische Relevanz: Metaphern prägen Diskurse und Weltbilder; auf ihrem Boden wachsen hegemoniale Ideologien. Wittgenstein hat die Verführung, die in der bildhaften Struktur der Sprache verankert ist, auf einen viel zitierten Satz gebracht: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und es lag in unserer Sprache.«52 Versucht Wittgenstein die formalen, erkenntniskritischen Grenzen der Sprache aufzuzeigen, so trägt er zugleich der Einsicht Rechnung, dass es ohne Bilder letztlich nicht geht: »dass ein Bild am Grunde alles Denkens zu akzeptieren und nicht als Aberglaube zu verwerfen sei«.53 Bilder sind notwendig, um Diskurse zu begründen und zu strukturieren. Der Übergang vom Bild der Sprache zum Abbild der Fotografie bleibt formal letztlich unscharf. Bei Bernhard ist die Differenz jedoch gezielt eingeschmolzen.54 Die Ikonografie ist längst in Bernhards Sprache und deren sprachlich verfasste Bildhaftigkeit eingewandert; mar-
50 Das Motiv der Verführung ließe sich noch weiter verfolgen. Selbst in der (sprach-)analytischen Philosophie setzt es sich fort. Vgl. Werner Konitzer: Sprachkrise und Verbildlichung, Würzburg 1995, S. 14. 51 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1988, S. 10. 52 Wittgenstein: WA Bd. 1, S. 300/§115. 53 Daniel Steuer: Die Stillen Grenzen der Theorie. Übergänge zwischen Sprache und Erfahrung bei Goethe und Wittgenstein, Köln u.a. 1999, S. 276. 54 Vilém Flusser versucht mit seiner Theorie des »Technobilds« den Übergang von einem Codesystem der Sprache hin zu dem des technisch generierten Bildes zu fassen. Flussers Theorie ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, weil er einen ähnlich radikalen Wandel wie Bernhard diagnostiziert, der alle Sphären der Gesellschaft betrifft. Aufgrund der neuen »Technoimagination« wird das Bewusstsein der Menschen neu »programmiert«. Analog zu Bernhard spricht Flusser vom »katastrophischen« Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft, die in eine Phase des Post-Histoire übergetreten sei. Dafür ist das neue Codesystem des »Technobildes« verantwortlich. Die Fotografie steht auch hier an der Schwelle der neuen Ordnung: »Und da wir, wenn auch unbewußt, fotografieren, und da wir von Fotografien programmiert sind, so erleben, erkennen und werten wir die Welt tatsächlich anders als früher, auch wenn wir uns dessen nur selten und mit Mühe bewußt werden.« Vilém Flusser: Kommunikologie. Schriften Bd. 4, Mannheim 1996, S. 189.
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kant in der Metaphorizität und Literalisierung der Metaphern, für die Bernhards Prosa bekannt ist. Das Zitat der Schwestern in Auslöschung dient auch hier nochmals kursorisch als Beispiel: Sie »hatten sich mit der Zeit zu den zwei gefährlichsten Sprachrohren meiner Mutter entwickelt. Diese Sprachrohre standen, lagen und saßen ununterbrochen auf der Lauer.« (A 103) Der Satz konstruiert keinen Vergleich, sondern vergegenständlicht die Schwestern vermittels einer figuralen Sprache.55 Die Analogiebildung, die der Sprache inhärent ist, führt den Autor weder in Verlegenheit oder Denkkrämpfe – wie Wittgenstein – noch in die Verzweiflung – wie Kafka –, sondern Bernhard ergreift die Flucht nach vorn, indem er die Metapher wörtlich, d.h. bildhaft, nimmt. Findet sich dieser Sprachgebrauch bereits in der frühen Prosa, so wird er in Auslöschung mit der Fotodiskussion in seiner medienund gesellschaftskritischen Relevanz jedoch explizit thematisiert. Die fotokritische Hypothese, die einen Vorlauf in der Sprachkritik findet, lässt sich soweit folgendermaßen zusammenfassen: War es zuvor schon schwer, der suggestiven Bildhaftigkeit der Sprache zu widerstehen (Wittgensteins Denken ist dafür nur eine prominente Referenz), so hat es die Entfesselung der Fotografie im massenmedialen Gebrauch vollends unmöglich gemacht. Die These formuliert wohlgemerkt kein formales Problem, als vielmehr eine kulturkritische Diagnose, die sich charakteristischer Weise der Krankheitsmetaphorik bedient: »Das Fotografieren ist eine gemeine Sucht, von welcher nach und nach die ganze Menschheit erfaßt ist, weil sie in die Verzerrung und die Perversität nicht nur verliebt, sondern vernarrt ist und tatsächlich vor lauter Fotografieren mit der Zeit die verzerrte und die perverse Welt für die einzig wahre nimmt.« (A 29) Nicht nur das quantitative Gewicht, das die Fotografie im medialen Diskurs gewinnt, ist entscheidend, sondern der gesteigerte böse Zauber, den sie auf Wahrnehmung und Verstand wirft. Analog zu Baudrillard hält Murau einen kritischen Umgang mit den neuen Medien für unmöglich. Am Beispiel der berühmten Fotografie Einsteins, der »seine bösartige, listige Zunge« (A 244) herausstreckt, illustriert Murau wie sich das fotografische Abbild als Signifikant vor den Gedanken schiebt und diesen blockiert: »[I]ch lese etwas von Einstein und ich bin vollkom-
55 Im Übergang vom ersten zum zweiten Satz wird die Metapher literalisiert. Nun treten die »Sprachrohre« ohne Rekurs oder Referenz auf die Schwestern auf. Die deiktische Formel »Diese« verstärkt die Literalisierung.
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men besessen von der herausgestreckten Zunge, die er der ganzen Welt [...] zeigt.« (A 245) Die Pointe der Fotokritik liegt also darin, dass die Suggestion und Verzerrung der Fotografie in höherem Maß als der Sprache eigen ist, zugleich aber negativ auf die Sprache und das Denken zurückwirkt. »Die Abbildung ist gewiß gebieterischer als die Schrift, sie zwingt uns ihre Bedeutung mit einem Schlag auf«,56 so beschreibt Barthes die Hierarchie zwischen Bild und Schrift. Anders als bei Barthes, für den sich das Bild »in dem Augenblick, da es bedeutungsvoll wird, zu einer Schrift«57 rückverwandelt, insistiert Murau jedoch auf der unverändert verführerischen Ikonizität des Bildes. Einerseits dient Murau die Fotografie als effizientes Medium der Realitätslöschung zwar als Vorlage für sein Schreibprojekt; andererseits vernichtet sie jedoch jegliche Alternativen einer anderen Schreibweise. Der letzte Moment ist insofern der nachhaltige, als dass auch Murau und sein Schreibprojekt diesem zum Opfer fallen. Eine Sprache, die sich in einer fotomedialen Praxis bewegt und von dieser bestimmt wird, verstrickt sich noch hoffnungsloser in der Abstraktion der Bildhaftigkeit, die ihr strukturell eigen ist. »Ich kann nicht an Einstein denken, ohne dass ich seine Zunge sehe.« (A 244) – Darin liegt also das Wesen der »Teufelskunst« (A 243) Fotografie: Sie verzaubert den gesamten medialen und kulturellen Diskurs, bis hin zum Denken und Bewusstsein des Einzelnen. Genau diesen Nachweis führt Bernhard in Auslöschung, indem der Roman plakativ demonstriert, wie die neue ikonische Praxis Bewusstsein und Denken zugleich dominiert und entstellt. Nachdem Murau das einzeilige Telegramm vom Tod der Eltern zu Beginn des Romans erhalten hat, wandern seine Gedanken nochmals zu Gambetti, zur Lektüreliste für den Deutschunterricht und damit zur alten kulturellen Praxis des Worts, bevor er die Fotografien der verunglückten Eltern und des Bruders aus der Schreibtischschublade zieht. Die »grotesken«, »komischen« Abzüge, die nichts als »eine heimtückische Fälschung« (A 26) darstellen, bilden nun die Denkvorlage für den ersten Teil des Romans – und zwar gerade, indem sie in ihrer »ungeheuerliche[n] Naturverfälschung« und »gemeine[n] Unmenschlichkeit« (A 27) bedient werden.
56 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 87. 57 Ebd. Vgl. ferner Kapitel 4, wo die Hierarchie von Schrift und Bild in Bezug zu Adorno weiterführend erörtert wird.
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Der Griff in die Schublade geht dabei unter der Hand einher mit dem medienbedingten Wechsel, der mit der Fotografie das Familienalbum zum familiären Gedächtnisspeicher erhoben hat. Wie das Album, das »auf dem Prinzip der variablen Anordnung basiert[t]«,58 dreht, wendet und überlagert Murau die Fotografien. Mit der Fotografie als disponibler Vorlage für die Erinnerung, folgt diese nun keinem narrativen Gesetz mehr, basierend auf Chronologie und Konsekutivität, sondern wird nach Belieben montiert und arrangiert: »Ich legte die drei Fotografien jetzt so übereinander auf den Schreibtisch, dass, obwohl er darauf gar nicht abgebildet ist, weil das Foto ja nur meine beiden Schwestern in Cannes zeigt, mein Onkel Georg zuoberst und also über meinen Eltern sozusagen als erster eingeordnet war, unter meinen Eltern mein Bruder Johannes. Mit einem Schlag waren jetzt alle tot. Was, fragte ich mich, hat sie miteinander und mit mir verbunden?« (A 54)
Die Logik des Albums, das mit dem Schnitt die Figuren aus dem angestammten, narrativen Kontinuum löst, und dem Montageprinzip folgend sowohl neue Anordnungen erlaubt als dass es die gewohnten Verknüpfungen in Frage stellt, erklärt Matthias Bickenbach wie folgt: »Die Bilder werden nicht eingeheftet oder geklebt, sondern bleiben lose gekoppelte Elemente, deren Austausch jederzeit möglich ist. Das ermöglicht Bildfolgen ebenso wie Umordnung, Aktualisierung, aber auch Revision.«59 Murau, als Kind und Theoretiker einer ikonografischen Praxis, ist sich der manipulativen Wirkung des neuen Mediums bewusst. Aber in geradezu karikierender Weise bildet er den Antipoden zu Wittgenstein. Anstatt der Suggestion der Bilder zu widerstehen und einen Schritt zurück zu treten, um sich nicht in die Irre führen zu lassen, wie es der Gedankengang Wittgensteins unermüdlich demonstriert, immer darauf bedacht, die Sprache und den Gegenstand begrifflich zu kontrollieren, gibt Murau sich hemmungslos dem Bild hin und nimmt es gerade in seiner Verzerrung als Reflexionsgrundlage. Dass Teil I nach 300 Seiten mit der Bemerkung Muraus schließt, »dass die darauf Abgebildeten so nicht beurteilt werden können« (A 310, Herv. i.O.), ist eine Iro-
58 Matthias Bickenbach: »Erinnerung. Nadar und das Pantheon«, in: J. Fohrmann/A. Schütte/W. Voßkamp (Hg.), Medien der Präsenz, Köln 2001, S. 87-128, S. 100. 59 Ebd.
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nie, die an den Slapstick grenzt. Eine Revision bleibt jedenfalls aus und muss gemäß der Logik Muraus auch ausbleiben. Allenfalls findet die Verzerrung in der tautologischen Ordnung der Simulation ihre Bestätigung, wenn Murau zwischendurch äußert: »Die spöttischen Gesichter meiner Schwestern auf dem Foto [...] sind meine Schwestern.« (A 240, Herv. i.O.) So wie sich die Wahrheit in den Irrtum wenden lässt und der Irrtum in Wahrheit, so ist in der fotomedialen Praxis der phänomenale Gegenstand als Referenz eliminiert, der das Bild bzw. den Bildgehalt kontrollieren könnte. In dem Maß, wie die Fotografie die Realität als Referenz auslöscht, bleibt der Sprache aber nichts anderes übrig, als diesen Abstraktionsgestus zu wiederholen.60 Weil das Bild die semiotische Praxis dominiert, ist die Sprache davon irreversibel betroffen. Wie Friedrich Kittler (in einer Murau durchaus würdigen Terminologie) bemerkt, verändern neue Technologien nicht nur die Schrift, sondern sie stellen auch vor das Problem, dass sich die Veränderung nicht mehr feststellen lässt: »Technologien aber, die die Schrift nicht bloß unterlaufen, sondern mitsamt dem sogenannten Menschen aufsaugen und davontragen, machen ihre Beschreibung unmöglich.«61 Muraus Übertreibungsrhetorik leitet sich (auch) aus der Fotopraxis ab, die unwillkürlich in das Räderwerk der Sprache eingreift und dieses verändert. Führt der Sprachgebrauch Muraus vor, wie das fotografische Abbild als Denkvorlage das Denken und die Sprache entstellt, so ist der phänomenale Gegenstand adäquat gar nicht mehr zu haben. Dass die verzerrten Bilder sowie der Übertreibungsdiskurs in den Selbstwiderspruch führen, belegt dabei nur die These, dass der verzerrte und verfälschte Diskurs seinen Gegenstand begrifflich verfehlt. Wenn sich Muraus Urteile über Wolfsegg, die Mutter oder die Beschreibungen des Unfalls in der Zeitung diametral widersprechen, so wird deutlich, dass die Kontradiktionen in der Übertreibungsrhetorik keine gemeinsamen Schnittmengen aufweisen. Die Übertreibung zielt nicht kalkuliert am Gegenstand vorbei, sondern sie
60 Vgl. Jean Baudrillard: »Das radikale Denken«, in: ders., Short Cuts, Frankfurt a.M. 2003, S. 173-191, S. 180: »So wie die Fotografie Auslöschung konnotiert, den Tod des Dargestellten, was ihr ihre Intensität verleiht, so verleiht dem Geschriebenen [...] die Leere seine Intensität, das filigrane Nichts, die Illusion des Sinns, die ironische Dimension der Sprache – sie entspricht der der Tatsachen selbst, die niemals das sind, was sie sind.« 61 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 4.
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ist unfähig, ihren Gegenstand überhaupt zu erfassen.62 Allenfalls in zweiter Instanz kommt ihr demnach eine heuristische Funktion zu. Es verhält sich nicht so, dass die Übertreibungsrhetorik einen Sachverhalt ausdrückt, der anders nur schwer ersichtlich oder artikulierbar wäre; anschließend subtrahiert man den semantischen ›Überschuss‹ der Rhetorik, um wieder den Sachverhalt klar in Händen zu halten. Vielmehr führt ausgehend von der verzerrten, abstrahierten Bildvorlage kein Weg zurück zum Gegenstand der Betrachtung – weshalb laut Murau alles »so tödlich konfus« ist. Was sich als erkenntniskritische Prämisse formuliert, verschärft sich ferner durch den medialen Kontext, der die Verführungskraft von Bild und Sprache instrumentalisiert. Parodistisch führt Muraus Zeitungslektüre diesen Zwiespalt zwischen Verführung und Widerstand vor, der von Medienbildern und Schlagzeilen ausgeht. Im medialen Diskurs gerät das »Ungeheuerliche« (A 26), der Unfalltod der Familienangehörigen, zur Sensation: »Familie ausgelöscht und darunter Drei Konzertbesucher bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt lautete eine der Schlagzeilen. Ausführlicher Bildbericht im Innern des Blattes las ich und ich suchte gleich selbst nach diesem Bildbericht. Mit der größten denkbaren Schamlosigkeit.« (A 404f., Herv. i.O.) Was sich formal im Rückgang von der Abstraktion zur Konkretion nicht lösen lässt, wird im Verführungsdiskurs der Medien vollends unmöglich gemacht. Die Einsicht Muraus ist an dieser Stelle ebenso banal wie grundsätzlich: Der öffentliche Diskurs unterliegt dem Diktat des Spektakels: »Das Fürchterliche unseres Unglücks ist ja längst von seinem Sensationellen abgelöst worden.« (A 484) Auch in diesem Sinn muss das Denken folglich den phänomenalen Gegenstand verfehlen, indem es ihn – in Übereinstimmung mit dem massenmedialen Sprachgebrauch – als sensationelle Nachricht artikuliert. Die Kehrseite der Übertreibung ist demnach die Reduktion und Verstümmelung.63
62 Vgl. Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler, S. 245. SchmidtDengler problematisiert den gängigen Ansatz, Bernhards Übertreibung als »als eine höhere Stufe der Authentizität« zu werten bzw. zu »feiern«. 63 Vgl. ferner A 298: »[W]eil uns ein anderes Denken viel zu schwierig ist, zu kompliziert, einfach unmöglich; wir vereinfachen die Sache und sagen, sie ist ein böser Mensch, unsere Mutter, und haben daraus einen lebenslänglichen Gedanken gemacht. An dieser Frau sind wir alle böse geworden.«
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Signifikant ist jedoch, dass sich dieser Sprachgebrauch auch hier nicht ohne Weiteres auf den medialen Diskurs einschränken lässt bzw. dass eine Trennung von öffentlich-medialem und privatem Sprachgebrauch eliminiert ist. Wenn sich ebenso ironisch wie unerklärlich eine private Fotografie Muraus unter die Bilder in den Zeitungen mischt, dann wird deutlich, dass die Differenz von privater und öffentlicher Sphäre kassiert ist. Die »Osmose privater und öffentlicher Bilder«64 im Familienalbum, auf die der Fotografiehistoriker Jean Sagne verweist, lässt sich demnach nicht auf das private Album beschränken; sie ereignet sich in sämtlichen öffentlichen Medien und Speichern. Nicht zuletzt zeigt sich die Prägung der Wahrnehmung durch die technischen Medien, wenn Murau die anderen Menschen um ihn her wie Filmakteure wahrnimmt: »Selbstverständlich hatte Spadolini Caecilias Arm genommen, dachte ich. Eine Filmszene, dachte ich. Filmgesichter, dachte ich. Filmschauspieler.« (A 590f.)65 Die Kunst ist gemäß dem Simulationsprinzip auch hier in die Wahrnehmung der Realität eingewandert: »[D]ie Realität selbst – vollständig von einer Ästhetik geprägt, die von ihrer eigenen Strukturalität abhängt – [ist] mit ihrem eigenen Bild verschmolzen.«66 Kittler beschreibt die Wirkung des Films auf die Wahrnehmung wie folgt: »Zwischen Technik und Körper, Reiz und Reaktion stellt der Film Kurzschlüsse her, die imaginäre Vermittlungen erübrigen.«67 Aus der Verzerrung und Abstraktion, die von der Sprache und dem Bild in das Denken und Bewusstsein des Einzelnen übergegangen ist, führt unter dem Einfluss der technischen Medien auch hier kein Weg zurück. In dieser Situation steht Murau als Autor unweigerlich in Konkurrenz zu den technischen Medien, insbesondere zur Fotografie. Auch dort, wo er der Fotografie nochmals die Spitze zu brechen vermag, bleibt er dem Bild jedoch unterlegen. Den Plan, sich durch »die Abfassung einer Schrift über die spöttischen Gesichter meiner Schwestern« 64 Zit.n. Bickenbach: »Erinnerung. Nadar und das Pantheon«, S. 101. 65 Auslöschung nimmt in vielerlei Hinsicht Bernhards Filmskript Der Italiener auf; insofern bildet der Film ein weiteres Dispositiv für den Text, auf das ich hier jedoch nicht näher eingehe. Vgl. hierzu Vogt: Ortbegehungen. 66 Baudrillard: Der symbolische Tausch, S. 119. Für Baudrillard bedeutet das zugleich den Tod der Kunst, weil sie (u.a.) ihrer kritischen Transzendenz verlustig gegangen ist. Auch wenn die Kunst bei Bernhard keine ästhetische Gegenwelt mehr zu setzen vermag, so bildet sie gemäß der vorliegenden Lektüre trotz allem ein Reflexionsmedium. 67 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1983, S. 316.
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(A 245) von deren fotografischen Abbildern zu befreien, lässt er ebenso fallen, wie das Vorhaben, die Fotografien »mit der Schere in Tausende von kleinen Schnitzeln [zu] zerschnetzel[n]« (A 246). Weder auf dem einen noch auf dem anderen Weg lässt sich der familiäre und kollektive fotografische Gedächtnisspeicher umkodieren. Sind der Schrift klare Grenzen gesetzt, so exponiert Auslöschung derart die Ohnmacht der Schrift gegenüber den Bildmedien. Hier liegt ein Hauptmotiv von Muraus apokalyptischer Vision: »Die fotografischen Bilder [...] haben diesen weltweiten Verdummungsprozeß in Gang gebracht [...]. An der Jahrtausendwende wird dieser Menschheit Denken gar nicht mehr möglich sein.« (A 646) Murau vermag zwar nochmals seine Theorie der Fotografie in Szene zu setzen. Bernhards ikonoklastische Schreibpraxis, die ein mimetisches Abbildungsverhältnis mit ihrer Übertreibungsrhetorik konsequent auflöst, irritiert zwar mitunter auch den Abbildrealismus der Fotografie und vermag darauf verweisen, dass das scheinbar mimetische Abbild der Fotografie gleichfalls künstlich konstruiert ist. Den irreversiblen Gang, der sich mit der Fotografie als unfehlbarem Auslöschungsmedium ereignet, vermag Murau respektive Bernhard jedoch nicht zu stoppen. Seine Schrift ist somit zugleich unweigerlich Abbild und Ausdruck dessen, was er der Fotografie zur Last legt: Die, »die fotografieren[,] begehen eines der gemeinsten Verbrechen, die begangen werden können, indem sie die Natur auf ihren Fotografien zu einer perversen Groteske machen. Die Menschen sind auf ihren Fotografien lächerliche, bis zur Unkenntlichkeit verschobene, ja verstümmelte Puppen.« (A 29) Murau macht sich dieses »Verbrechens« mit seinem Schreibprojekt ebenso schuldig, wie er der Verstümmelungsrhetorik selbst zum Opfer fällt. Allenfalls ist er den anderen um den Schritt der Selbsterkenntnis voraus: »Ich bin ein verstümmelter Mensch.« (A 339) Eine Sprache, die assertorisch setzen könnte, was der Verzerrungsdiskurs verfehlt, ist aber nicht mehr gegeben. Ihr emanzipatorisches Potential haben die Sprache und die Literatur damit eingebüßt. Sie vermögen allenfalls zu wiederholen, was der fotomediale Diskurs ihnen diktiert. Nachspiele: Antiautobiografie und Testament Das Schreibprogramm, das Murau in dieser Situation bedient, ist die Antiautobiografie nach dem Vorbild seines Onkels Georg. Bevor diese
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»selbstgeschaffene Tradition der Anti-Autobiografie«68 erläutert wird, ist es vorab jedoch aufschlussreich, eine weitere Gattung in den Blick zu nehmen: die Poesie. Diese wird mit Muraus Bekannter und Freundin Maria – für die Ingeborg Bachmann Modell steht –69 eingeführt. Die Poesie Marias bildet den Gegenpol zu Muraus Prosa. Die Dichterin und der Prosaschreiber stehen in einem freundschaftlichen Konkurrenzverhältnis. »Prosa Schreiben«, so Murau über Maria, »sei immer ihr Traum gewesen, alle ihre Versuche in diese Richtung aber seien gescheitert.« (A 230) Laut Sartre stellt die Poesie einen gegenläufigen Schreibakt zur Prosa dar. Während die Sprache der Prosa in der Alltagssprache angesiedelt ist und es mit Bedeutungen zu tun hat, verweigert sich die Poesie dem Alltagsgebrauch: »Dichter sind Menschen, die sich weigern, die Sprache zu benutzen.«70 Im Zentrum der Poesie steht vielmehr ein schöpferischer Akt. Das poetische Wort »schafft einen Gegenstand«.71 Das schaffende Wort der Poesie nimmt unwillkürlich einen sinnstiftenden Akt vor und unterscheidet sich damit von der Prosa – insbesondere von der Prosa der Geschichtenzerstörung, die sich nicht nur parasitär in vorhandene Diskurse und Schriftsätze einschreibt, sondern zugleich jede signifikante Zuschreibung dementiert (vgl. Kapitel 2). Als schöpferischer Schreibakt gestaltet sich die Poesie zudem utopisch. Notwendig rekurriert sie als schöpferischer Akt auf einem utopischen Ort des Schreibens, an dem es Murau gerade mangelt. Murau verortet sein Schreibprojekt in der letalen Sprachordnung Wolfsegg und innerhalb des öffentlichen und fotomedialen Diskurses. Damit steht ihm kein ›Ort‹ zur Verfügung, der sein Schreiben fundieren oder beheimaten könnte. Maria beharrt hingegen auf einer alternativen Ordnung. Trotz der tödlichen Realität, die auch sie ihrer Umwelt bescheinigt, gründet sie ihr Schreiben affirmativ auf die Kategorien von Natur und Heimat. Die geglückte Vermittlung zwischen Natur, Heimat
68 Daniel Steuer: »Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall Zum Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung, Autobiographie und Roman«, in: Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, hg. v. O. Durrani/J. Preece, New York 2001, S. 61-77, S. 63. 69 Bernhards Umgang mit der biografischen Vorlage gestaltet sich allerdings frei. So macht er u.a. aus der Protestantin Bachmann eine Katholikin. 70 Jean-Paul Sartre: »Was ist Literatur?«, in: ders., Schriften zur Literatur. GW Bd. 2, Reinbek b.H. 1986, S. 16 (Herv. P.S.). 71 Ebd., S. 19.
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und Kunst bildet derart sowohl die Prämisse als auch die Legitimation ihrer Poesie. Diese Kategorien beziehen sich mit dem Begriff der Utopie jedoch weniger auf eine Vergangenheit, sondern formulieren sich als Zukunftsprojektion, d.h. der Heimatbegriff Marias ist als utopischer ein Zukunfts-, kein Ursprungsort. In einer Verlautbarung bestätigt Ingeborg Bachmann die Notwendigkeit der Utopie für ihr Schreiben, indem sie eine solche Zukunftsdimension geltend macht: »Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört, seit so viel tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich nicht mehr daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.«72 Hält Bachmann/Maria entgegen der eigenen Einsicht, die sich aus der Vergangenheit ableitet, an einer Utopie fest, so hat der Apokalyptiker Murau die Utopie als Bedingung eines affirmativen und schöpferischen Schreibens preisgegeben.73 Murau lehnt den Heimatbegriff vehement ab: »[D]enn das Wort Heimat gerade aus ihrem [Marias, P.S.] Mund ist immer genauso grotesk gewesen, wie aus dem meinigen, nur spreche ich es niemals aus.« (A 236) In Muraus Dystopie kommt dem Schreiben damit kein Ort zu. Damit ist die Poesie für Murau als alternative Schreibpraxis aber hinfällig. Weder ist sie fähig, die symbolische Ordnung von Wolfsegg als Ort der Kollaboration zu überschreiben noch bietet sie das Gegenmodell eines Schreibens, das gegen die aufgezeichneten destruktiven Zeitverläufe opponieren könnte. Wo ein positivistischer Bezug nicht gegeben ist, bietet demnach allein die Negation Anknüpfungsmöglichkeiten für Muraus Schreibprogramm. Die Vorlage bietet hier die besagte Antiautobiographie. Mit dem »Anti« ist der Gattungsbezeichnung die Negation konstitutiv eingeschrieben und bildet gerade deshalb ein produktives Dispositiv für Muraus Vorhaben. Daniel Steuer beschreibt die Negationsbewegung, die sich in dem Gattungsneologismus ereignet, folgendermaßen: »Aus Autobiographie wird Antiautobiographie, das positive Wissen wird
72 Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, hg. v. Christine Koschel u.a, München u.a. 1983, S. 145. 73 Zur Bestimmung der Poesie vgl. auch Hans-Georg Gadamer: »Mythopoietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien«, in: ders., Gesammelte Werke 9, Tübingen 1993, S. 289-305, S. 294: »Alle dichterische Rede ist Mythos, das heißt, sie beglaubigt sich selbst durch nichts als ihr Gesagtsein.« Der Erzähler der Erzählkrise problematisiert hingegen genau diesen thetischen Akt der Selbstlegitimation.
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zum konstruierten (und verfälschten) und aus der Dichtung wird der bloße Akt des Schreibens.«74 Anders als die häufigen Einwände nahe legen, Bernhard schreibe die Erzählung entgegen dem Postulat der Auslöschung unbeschadet fort,75 kreiert Bernhard demnach eine Form, die auf die Situation der Nachkriegsliteratur, die die Möglichkeiten und Leistungen der Literatur grundsätzlich in Frage stellt, antwortet. Die Antiautobiografie fällt demnach weder zurück in eine konventionelle Erzählung noch handelt es sich lediglich um eine »Schriftlöschung, welche paradoxerweise die ursprüngliche Lesbarkeit dessen begründet, was sie durchstreicht«.76 Vielmehr folgt die Schreibweise einer präzisen Programmatik. Seine Virulenz erhält das Schreibprojekt zunächst im Moment des Amtsantritts, der Murau unwillkürlich in die tödliche (symbolische) Ordnung einschreibt, gegen die er revoltiert. Wenn Murau sich entschließt, den kondolierenden Altnazis – den »Blutsordenträger[n], […] SS-Obersturmbannführer[n] an ihren Krücken und auf ihre Stöcke gestützt, die nationalsozialistischen Helden« (A 649, Herv. i.O.) – bei der Beerdigung nicht die Hand zu reichen, dann entschließt er sich bereits hier zur Revolte, den Fortlauf der Geschichte als »Herr von Wolfsegg« genealogisch zu beenden. »Ich hatte mir vorgenommen, keinem der an mir Vorbeidefilierenden meine Hand zu geben. So war es auch.« (A 647) Am Ende von Auslöschung steht Muraus Rebellion in ihrem strategischen Kalkül bereits fest. Neben der Auslöschungsschrift ist der Entschluss der Schenkung des Erbes an die Israelische Kultusgemeinde gefasst.77 »Dieses Gespräch [über die Abschenkung, P.S.] habe ich schon zwei Tage nach dem Begräbnis mit Eisenberg […] geführt und Eisenberg hat mein Geschenk
74 Steuer: »Thomas Bernhards Auslöschung«, S. 63. 75 Vgl. u.a. Kappes: Schreibgebärden, S. 92: »Offensichtlich ist Muraus übersteigerte Vorstellung, mit seinem Bericht alles, insbesondere seine Familie auszulöschen, nicht ernst zu nehmen.« Vgl. ferner Erika und Wieland Schmied: Thomas Bernhards Österreich, Salzburg, Wien 2000, S. 28; Mariacher: »Umspringbilder«, S. 159; Hans-Ulrich Treichel: Auslöschungsverfahren. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne, München 1995, S. 62. Treichel spricht vom »Glück einer gelungenen Sublimierung«. 76 Derrida: Grammatologie, S. 190. 77 Ich gehe hier nicht auf den kontrovers diskutierten Akt der Abschenkung ein. Der harschen Kritik von Heidelberger-Leonard: »Auschwitz als Pflichtfach« wurde bereits mehrfach widersprochen. Vgl. u.a. Steuer: »Thomas Bernhards Auslöschung«, S. 70ff.
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im Namen der Israelitischen Kultusgemeinde angenommen.« (A 651f.) Das Ende der Schrift und das Ende der (Familien-)Genealogie gehen somit Hand in Hand: Ist »die Genese der Schrift (im geläufigen Sinn) fast überall und am häufigsten an die Sorge um die Genealogie gebunden«,78 so vollzieht sich diese »Sorge« mit Murau nun unter verkehrten Vorzeichen: Die Verschränkung von Genealogie und Schrift wird instrumentalisiert, um die genealogische Linie vermittels der Schrift radikal zu beenden. Trotz allem weist die Fortschreibung notwendig einen produktiven Moment auf, auch dort, wo sie auf eine radikale (Selbst-)Auslöschung zielt. Steuer kehrt hier als wesentlichen Moment die Schutzfunktion der Antiautobiografie hervor, um die »Biographie vor Mißbrauch zu schützen«.79 Diese Funktion – die sich aus der Logik der negativen Poetik ableitet –80 lässt sich kursorisch in Relation zur beschriebenen Dynamik der Wörter als Eigennamen beschreiben, die eine Schutzhülle im tödlichen Sprachfluss der Familie bilden bzw. innerhalb eines formalen, rhetorischen Diskurses, der sich signifikanten Zuschreibungen und damit der öffentlichen Kampfzone der Kommunikation entbindet. Steuer bringt dieses Programm, das das Individuum dem Schreiben gezielt entzieht, folgendermaßen auf den Punkt: »[N]och schreiben zu können, also verwundbar zu sein, aber gleichzeitig das Individuum zu schützen.«81 Die Reduktion des autobiografischen Selbst-Schreibens auf einen bloßen Schreibakt, eine Form der écriture, zieht das Individuum – so die hier argumentierte Lesart – jedoch unwillkürlich in Mitleidenschaft. Dies geschieht nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern vor allem dort, wo sich das Schreiben in Konkurrenz zu weiteren Entwicklungen vollzieht, wie sie laut Murau die Fotografie zeitigt. Zwar sind
78 Ebd., S. 218. Vgl. auch Sigrid Weigel: »Zur Dialektik von Geschlecht und Generation um 1800. Stifters Narrenburg als Schauplatz von Umbrüchen im genealogischen Denken«, in: dies. u.a. (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005, S. 109124, S. 111. 79 Steuer: »Thomas Bernhards Auslöschung«, S.74. Vgl. ferner Christian Peters, der »vom Schutz der biografischen Substanz« spricht. Christian Peters: »Thomas Bernhard: ›Es stimmt, weil alles stimmt‹«, in: Christian Schärf (Hg.), Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte, Tübingen 2002, S. 131-153, S. 136. 80 Dieser Aspekt wird ausführlich in Kap. 4 aufgenommen. 81 Ebd., S. 74.
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in diese Auslöschung der phänomenalen Realität alle Repräsentationsformen, insbesondere auch die Sprache und das Schreiben, involviert. Die Fotografie spitzt diesen Auslöschungsprozess jedoch auf fatale Art und Weise zu. In einer omnipräsenten fotomedialen Zeichenordnung ist das Subjekt der Manipulation und Auslöschung demnach mehr oder minder schutzlos ausgesetzt. Jenseits dieser »Oberflächenstruktur« (Frost) der (foto-)medialen Ordnung kommt dem Individuum keine substanzielle Seinsweise mehr zu. Davon sind aber direkt die Sprache und das Schreiben betroffen. Die Kehrseite der Sprache als Schutzhülle ist somit der Zwang einer Sprache, die das Individuum vermittels der Übertreibungsrhetorik notwendig ins Groteske und Perverse überzeichnet. Geht man ferner mit Paul de Man davon aus, dass die Autobiografie keine Textgattung darstellt, sondern eine »Lese- und Verstehensfigur«,82 die als spezifische Rhetorik das biografische Subjekt überhaupt erst produziert, dann stellt auch hier die Autobiografie keinen Bürgen für die Referenzialität des biografischen Subjekts dar. Die Gattungsbezeichnung dient allenfalls dazu, jene Rhetorik der Autobiografie innerhalb der spezifischen historisch und kulturell indizierten Diskursbedingungen zu analysieren. Bernhard führt in diesem Zusammenhang den demonstrativen Nachweis, dass das biografische Subjekt den vorherrschenden tödlichen Kommunikationsbedingungen unwillkürlich ausgeliefert ist. Auslöschung referiert in dieser Hinsicht die Gewalt eines Diskurses, dem innerhalb eines totalen Machtzusammenhangs, d.h. jenseits der Dichotomie von privater und öffentlicher Sphäre, allenfalls mit Gegengewalt zu begegnen ist. »Und ich dachte, dass ich, obwohl ich anders denke, mich selbst in der Zwischenzeit zu ihrem Abschaffer und Auslöscher gemacht habe und also so denke, wie zu denken ich den andern als inkompetent und unzulässig vorwerfe.« (A 368) Wenn Murau ferner von sich selbst als »verstümmeltem Menschen« spricht, dann wird deutlich, dass die Exekution der diskursiven Gewalt sich nicht nur gegen ihn selber richtet, sondern dass sie auf die (biografischen) Subjekte allgemein zurückwirkt.83 Die Antiautobiogra-
82 De Man: »Autobiografie als Maskenspiel«, S. 134. 83 Claude Haas ist einer der wenigen, der dezidiert gegen die Deutung eines gelungenen »Prinzips und Prozesses« der Auslöschung argumentiert. Vgl. Haas: Arbeit am Abscheu, S. 103. Gängig sind nach wie vor positive Lektüren, etwa als »therapeutischer Schreibakt« der Befreiung, vgl. Schlichtmann: Das Erzählprinzip ›Auslöschung‹, S. 136, oder als Akt der Rekon-
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fie bildet damit aber kein anschlussfähiges Schreibprogramm, sondern vermag allenfalls eine finale Geste der Auslöschung zu vollziehen. In der Antizipation einer neuen Ordnung erreichen Telegramm und Testament die Leser unter diesen Voraussetzungen schlussendlich als telegraphisch-testamentarische Nachricht eines Schriftzeitalters, das von einer fotomedialen Praxis abgelöst wird. Der Text nennt sogar ein präzises Datum des Untergangs, wenn Murau den Rat »an den denkenden Menschen« ausspricht, »sich vor der Jahrtausendwende umzubringen« (A 646, Herv. i.O.). Zwar entwirft die Antiautobiografie nochmals ein Endspiel der Literatur, indem Bernhard das Ende der Genealogie mit dem der Schrift kurzschließt. Auch hier verweisen Telegramm und Testament aber letztlich nur auf technische und amtliche Schriftsätze, die – wie bereits im Kontext mit Ungenach diskutiert – die Begriffe von Geschichte und Literatur von Anfang an ihres emphatischen und signifikanten Gehalts entkleidet haben. Die Vermittlung »literarische[r] Liegenschaften« (A 615) ist mit dem Telegramm in Medienkanäle und Datenflüsse eingespeist, die die Schrift in einen technischen Kode84 überführt haben. Goethes klassisches Schreibprogramm ist im Kontrast dazu bestenfalls »Seelenmarmelade« (A 575). Es ist eine Literatur für »Lebensopportunisten« (575), die den »Scharlatan« Goethe einnehmen »wie eine Medizin und glauben an ihre Wirkung, an ihre Heilkraft; Goethe ist im Grunde nichts anderes, als der Heilpraktiker […] der erste deutsche Geisteshomöopath.« (A 576) Gegenüber einem klassischen Literaturbegriff steht das Schreiben Muraus innerhalb neuer medialer Bedingungen, die dieses traditionelle Literaturverständnis irreversibel affizieren. Die Botschaft »Eltern und Johannes tödlich verunglückt. Caecilia, Amalia« (A 7, Herv. i.O.), die den »Auslöschungsbericht« einleitet, ist demgemäß auf einen einfachen antinarrativen Kode reduziert. »Was das Telegramm bedeutete, wusste ich« (A 310), so schließt Teil I und desavouiert den Monolog der vorhergehenden 300 Seiten. Das Telegramm bedeutet, dass Murau zum Alleinerben avanciert ist und das wiederum ermöglicht ihm juris-
struktion und Aufbewahrung, vgl. Mariacher: »Umspringbilder«, S. 159. Ähnlich argumentiert Vogt, der von einer Durcharbeitung der (traumatischen) Erfahrung spricht, die nebenbei eine gelungene Rekonstruktion der Geschichte leistet. Vgl. Vogt: Ortsbegehungen, S. 26. 84 Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 211f. Vgl. ferner Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993, S. 183f.
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tisch seinen Willen, Wolfsegg auszulöschen, in die Tat umzusetzen. Auch der testamentarische Wille lässt sich auf einen simplen Informationsgehalt reduzieren: Wolfsegg soll als Geschenk an die Israelitische Kultusgemeinde in Wien überschrieben werden. Zwischen telegrafischer Todesnachricht und testamentarischer Überschreibung eröffnet sich vor dem Abgang Muraus zwar nochmals das Endspiel eines umfassenden geistesgeschichtlichen Erbes, das über 600 Seiten weit ausholend historisch und kulturell verortet wird. Letztlich verkürzt sich der Bericht aber auf das Urteil über den »Zustand der Ausweglosigkeit«, der Muraus Schreibprojekt von vornherein negativ determiniert. Kehrt man zur Frage zurück, inwiefern die Fotografie in diesem Kontext »das größte Unglück des 20. Jahrhunderts« darstellt, so lässt sie sich nun dahingehend beantworten, dass die fotomediale Praxis die Möglichkeit einer ernsthaften sprachlich-kommunikativen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insbesondere was die Verbrechen des Nationalsozialismus betrifft, endgültig vereitelt. Auslöschung stellt nicht Unglück gegen Unglück, sondern spricht von dem spezifischen Unglück, das eine genuine Auseinandersetzung mit dem realen Leid in der spezifischen zeithistorischen Situation nicht (mehr) zulässt. In dem Maß, wie kein schadloser Anschluss an die Geschichte gewährleistet ist, scheitert nicht nur die Fortführung der Geschichte, sondern auch die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit überhaupt. Der Ansatz der typischen Zeugen- und Erinnerungsliteratur, der in einem affirmativen Akt der Selbstbehauptung auf der Besonderheit des Individuums und dessen Erleben positivistisch insistiert, geht aus dieser Perspektive fehl. Die Frage, die Paul de Man in anderem Zusammenhang stellt, behält demnach auch hier ihre Virulenz: »Warum sollte man sich mit der Sprache beschäftigen, wenn die Priorität der Erfahrung vor der Sprache so offenkundig zutage liegt?«85 Die Antwort dürfte unter den diskutierten Prämissen deutlich geworden sein: Weil die Sprache das Subjekt und dessen Erfahrung auf vielfältige Weise vorstrukturiert, beraubt eine schlichte positivistische Setzung von Subjekt und Erfahrung, die notwendig auf die Legitimation im Rahmen des dominanten Diskurses angewiesen ist, das Individuum gerade um jene Eigenschaften, die alleine einen Begriff der Individualität und Selbstheit gewährleisten könnten. Eine ›Rettung‹ des Subjekts durch das affirmative Zu-
85 Paul De Man: »Epistemologie der Metapher«, in: A. Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, S. 414-437, S. 415.
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geständnis an die allgemeine Ordnung mündet demnach paradoxal im Verlust von Identität. Auch dieser »Falle« gilt es sich demnach zu entziehen, besonders dort, wo die Menschen »nichts [mehr] sehnen [...], als sich Ja zu sagen und aufzugeben und zu vernichten« (A 347). Eine Alternative zur Negation bietet Bernhard jedoch nicht. So wie die Prosa im ersten Satz gesetzt und im letzten wieder kassiert wird, attestiert die Antiautobiografie sowohl der Geschichte als auch der Literatur ihr ultimatives Ende. Wie in Kapitel 2 dargelegt, vollzieht sich diese Suspension bereits mit der Verdoppelung der Erzählinstanzen. Die Ambivalenz, ob Murau am Ende der Schrift tatsächlich tot ist oder nicht, belegt dabei allenfalls das erfolgreiche Verschwinden Muraus innerhalb einer katastrophalen Kommunikationssituation – aber nicht als »Befreiung der Sprache«,86 sondern höchstens als Suspendierung von der Sprache und Kommunikationssituation, wie sie fatal den privaten und öffentlichen Diskurs dominiert. Auch hier lässt sich die Situation Muraus nochmals präzise mit Baudrillard benennen: »Im Grunde genommen bleibt nichts, worauf man sich verlassen könnte. Es bleibt uns nichts als die theoretische Gewalt. Diese Todesspekulation, deren einzige Methode die Radikalisierung aller Hypothesen ist. […] – man müßte sich schrittweise dem Diskurs entziehen können.«87
– »Entziehen, sich allem entziehen, dachte ich, ich hatte keinen anderen Gedanken mehr« (A 644), schreibt Murau kurz vor dem Ende, ein Ende, das als solches jedoch nicht fixiert werden kann: »Denn was stirbt, wird in der linearen Zeit gelöscht, was verschwindet, geht jedoch in Konstellationen ein. Es wird Ereignis eines Zyklus, der es vielfach wiederkehren lassen kann.«88 Baudrillards Differenz zwischen dem Tod und dem Verschwinden als Konstellation ohne Fixpunkte trifft auch auf Muraus Auslöschungsschrift zu. Mit dem Verschwinden spekuliert die Negation demnach auf keinen Umschlag mehr, sondern unterläuft jede Dialektik. Eine Restitution des geschichtlichen und literaturhistorischen Erbes ist jedenfalls aus der Welt. Was bleibt, ist die finale Darstellung einer Ausweglosigkeit. Allenfalls triumphiert das bernhardsche Subjekt nochmals, indem es sein Verschwinden mehr
86 Vgl. Jansen: Prinzip und Prozess Auslöschung, S. 66. 87 Baudrillard: Der symbolische Tausch, S. 14. 88 Jean Baudrillard: Cool Memories, 1980-1985, Berlin 1989, S. 103.
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oder minder erfolgreich – und gemäß Murau vor allem rechtzeitig – inszeniert. Das Epitaph auf Georgs Grab könnte demnach auch Muraus Auslöschungsschrift zieren: »Auf seinem Grabstein, den ihm der gute Jean hatte setzen lassen, sollten nur sein Name und folgende Wörter stehen: der zu dem richtigen Zeitpunkt die Barbaren hinter sich gelassen hat.« (A 44, Herv. i.O.)
3.2 S EBALD – D IE R INGE
DES
S ATURN
Die Ringe des Saturn lesen sich – mit Sebalds Selbstkommentar als Beschreibung der »Abberation einer Spezies«89 – über weite Strecken als ein Abgesang auf die abendländische Zivilisation. Sowohl als Abirrung im zivilisatorischen als auch als Abbildungsfehler im optischen Sinn, spricht der Begriff wörtlich vom »Bild unserer irren Anwesenheit auf der Erde, / einer in abschüssigen Bahnen / verlaufenden Regeneration« (NN 23). Die Abberation eröffnet als Abweichung aber zugleich den Horizont einer Alternative und legt nahe, dass die Rekapitulation der Geschichte jene Orte aufsucht, die potentiell Weichenstellungen verzeichnen, um einen anderen Verlauf der Dinge in Aussicht zu stellen. Die Ringe verhandelt diesen Problemkomplex primär in erkenntnistheoretischer und poetologischer Hinsicht. Wie Sebald die einzelnen Dimensionen entfaltet, soll im Anschluss an Kapitel 2 anhand des Erzählers und der Textur des Textes erörtert werden, d.h. ausgehend von der Frage wie die Verweis- und Bedeutungszusammenhänge im Textverlauf arrangiert werden, wobei es jeweils zu zahlreichen semantischen Verschiebungen und Überlagerungen kommt. Leitend ist hierbei die Tatsache, dass die Beschreibung und der Gegenstand der Beschreibung sich in der Figur des Erzählers überlagern. Der etymologischen Bedeutung des Textbegriffs folgend ist der Erzähler in das Textgewebe, das er produziert, ›verstrickt‹.90 Davon ist aber unmittelbar die Problematik der Fortschreibung der Geschichte im Medium der Literatur betroffen, weil sich kein Standpunkt außerhalb der literarischen Textproduktion beziehen lässt. M.a.W. bildet die Literatur keine 89 Uwe Pralle: »Mit einem kleinen Strandspaten Abschied von Deutschland nehmen«, in: SZ, 22.10.2001. 90 »[T]he etymology of the concept »text« goes back [...] to the Latin »textus« (»cloth«), which is, in turn, derived from the verb »textere« (to weave)«. Schmidt-Hannsia: »The Aberration of a Species«, S. 42.
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privilegierte Sphäre mehr. Vielmehr steht der Schriftsteller vor dem Dilemma, dass er seinen Text stets aus sich selbst heraus legitimieren muss – nicht zuletzt gegenüber einer literarischen Erblast, die davon zeugt, dass die Literatur in der Destruktionsgeschichte der Moderne involviert ist. Den Weg der »Wallfahrt« gilt es entsprechend zu rekapitulieren. Nachdem der Ich-Erzähler aufgrund eines Bandscheibenvorfalls ins Krankenhaus eingeliefert wurde, setzt die Erzählung in der Retrospektive ein. Wie bereits angemerkt, steht der Modus der Fußwanderung in der englischen Grafschaft Suffolk durch eine »entlegene Gegend« (RS 11) in einem irritierenden Gegensatz zum globalen Anspruch des Textes, der die gesamte europäische Zivilisations- und Kulturgeschichte als melancholische tour dʼhorizon der Moderne durchmisst. In der Sekundärliteratur wird der Text typischerweise anhand einzelner Passagen diskutiert. Die Ringe liefert diesbezüglich die Vorlage für ein Spektrum an Themen, die von der Zivilisationskritik,91 über eine Wissenschafts- und Rationalitätskritik,92 verschiedene Konzeptionen der Geschichte, sei es in geschichtsphilosophischer,93 repräsentationsbedingter94 oder kritischer Hinsicht95 bis hin zu Gedächtnis-
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Vgl. Fuchs: »Ein Hauptkapitel der Geschichte«; Claudia Öhlschläger: »Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau: W.G. Sebalds poetische Zivilisationskritik«, in: Niehaus u.a. (Hg.), W.G. Sebald: Politische Archäologie, S. 189-204; Mary Cosgrove: »Sebald for our Time: The Politics of Melancholy and the Critiqiue of Capitalism in his work«, in: Fuchs u.a. (Hg.), The Writing of History, S. 91-110. Die Übergänge der folgenden Zuordnungen sind selbstverständlich fließend. J.J. Long: »Disziplin und Geständnis: Ansätze zu einer foucaultschen Sebald-Lektüre«, in: Niehaus u.a. (Hg.), W.G. Sebald. Politische Archäologie, S. 219-239. Vgl. Maya Barzilai: »Melancholia as World History: W.G. Sebald’s Rewriting of Hegel in Die Ringe des Saturn«, in: Fuchs u.a. (Hg.), The Writing of History, S. 73-89. Helen Finch: »›Die irdische Erfüllung‹: Peter Handke’s Poetic Landscapes and W.G. Sebald’s Metaphysics of History«, in: Fuchs u.a. (Hg.), The Writing of History, S. 179-197. John Beck: »Reading Room: Erosion and Sedimentation in Sebald’s Suffolk«, in: J.J. Long/A. Whitehead (Hg.), W.G. Sebald. A Critical Companion, Edinburgh 2006, S. 75-87. Russel J. A. Kilbourn: »›Catastrophe with Spectator‹: Subjectivity, Intertextuality and the Representation of History in Die Ringe des Saturn«, ebd., S. 139-162. J. J. Long: »W.G. Sebald’s Miniature Histories«, in: Fuchs u.a. (Hg.), The Writing of History, S. 111-120.
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und Erinnerungskonzeptionen reichen;96 ferner dienen Stichwörter wie die Wanderung,97 der Spaziergang,98 das Labyrinth99 oder die Intertextualität100 als Ansatzpunkte. Bietet der hoch assoziative Text eine dankbare Fundgrube für sämtliche kultur- und literaturwissenschaftliche Themen, so ist die Konzeption der Ringe als Textganzem bisher jedoch unerläutert geblieben. Eine schlüssige Lektüre, die den Text ganzheitlich in den Blick nimmt, fehlt – und damit die Frage, inwiefern die einzelnen Themenkomplexe untereinander in Beziehung stehen und welche Rolle der Literatur und allgemein der Ästhetik dabei zukommt. Gerade dieser Aspekt ist aber zentral. Wie in Kapitel 2 angedeutet, sucht der Text nicht nur nach einer narrativen und epistemologischen Ordnung der Dinge, sondern verhandelt diese Problematik stellvertretend im Medium der Schrift. Dies lässt sich aber nur in Relation zu einem Textganzen erörtern.101 Der Text bildet in dieser Hinsicht, trotz der Assoziationswut, die er auf zahlreichen Neben- und Umwegen entfaltet, eine fruchtbare Vor-
95
Hans-Walter Schmidt-Hannisa: »Abberation of a Species: On the Relationship between Man and Beast in W.G. Sebald’s Work«, in: Fuchs u.a. (Hg.), The Writing of History, S. 31-57. Santer: On Creaturely Life. 96 Fuchs: Schmerzensspuren; Hannes Veraguth: »W.G. Sebald und die alte Schule. Literarische Erinnerungskunst in vier Büchern«, in: W.G. Sebald, Text + Kritik 158 (2003), S. 30-42. 97 Thomas Kastura: »Geheimnisvolle Fähigkeit zur Transmigration. W.G. Sebalds interkulturelle Wallfahrten in die Leere«, in: Arcadia 31 (1996), S. 197-216. Massimo Leone: »Textual Wanderings: A Vertiginous Reading of W.G. Sebald«, in: Long u.a. (Hg.), A Critical Companion, S. 89101. Margaret Bruzelius: Romancing the Novel. Adventure from Scott to Sebald, Lewisburg 2007, S. 196-205. J.J. Long: W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, Edinburgh 2007, S. 132-137. 98 Albes: »Die Erkundung der Leere«. 99 Vgl. Anja K. Johannsen: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008. 100 Susanne Schedel: »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?« Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald, Würzburg 2004. Vgl. auch: Fuchs: Die Schmerzensspuren, S. 69-107. 101 Die vorliegende Lektüre beschränkt sich dezidiert auf Die Ringe als Text, der sich wesentlich von den anderen Sebalds unterscheidet. Wenn Ruth Klüger urteilt, »[m]an könnte die Behauptung aufstellen, dass Sebald immer dasselbe Buch geschrieben hat«, dann äußert sich darin eine symptomatische Haltung, die m.E. die Differenz der einzelnen Texte unterschlägt. Ruth Klüger: »Wanderer zwischen falschen Leben. Über W.G. Sebald«, in: W.G. Sebald, Text + Kritik 158 (2003), S. 95-102, S. 100.
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lage für ein close reading – und bestätigt vorab, dass er in seiner Gesamtkonzeption zu erschließen ist. Die Seide und Seidenraupe bildet den Ariadnefaden, der konventionell durch das Buch führt. Zwar haben Kommentatoren vereinzelt auf die Seidenraupe verwiesen.102 Als semantisch strukturierender Trope ist sie in ihrer Komplexität bisher jedoch nicht diskutiert worden. Auf zwei zentrale Themenkomplexe, die sich metaphorisch und symptomatisch in der Seidenraupe verdichten, verweist Claudia Öhlschläger: die Rolle des Schriftstellers und die Zivilisationskritik.103 Hinzu kommt die Thematik der Trauer. Mit der Trauer stellt sich schlussendlich die Frage, inwiefern Die Ringe in Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte eine Lösung in Aussicht stellt. Zuvor gilt es jedoch, die einzelnen Argumentationsstränge freizulegen. Zunächst ist der Text mit der Seide gerahmt. Zudem taucht sie über den gesamten Text verstreut auf: als »purpurfarbene Fetzchen Seide« (RS 39), »Fetzchen schwarzer Seide« (RS 131) und »bunte[] Seidenmaschen« (RS 151). In Kapitel I. wird die Seide mit Thomas Browne, dem »Sohn eines Seidenhändlers« (RS 19/21), eingeführt. Ebenso schließt das Kapitel mit einem ersten Verweis auf die Signifikanz der Seide, als einem Forschungsgegenstand Brownes: »Und weil der schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen Ende unserer Natur, sucht Browne unter dem, was der Vernichtung entging, nach den Spuren der geheimnisvollen Fähigkeit zur Transmigration, die er an den Raupen und Faltern so oft studiert hat. Das purpurfarbene Fetzchen Seide aus der Urne des Patroklus, von dem er berichtet, was also bedeutet es wohl?« (RS 39)
102 Kastura benennt die Seide als formales und inhaltliches Leitmotiv, geht jedoch nicht näher darauf ein. Vgl. Kastura: »Geheimnisvolle Fähigkeit zur Transmigration«, S. 211. Steinaecker identifiziert die Seide als »Metapher für den Text selbst, das Gewebe des Buches also« und als Signum der Destruktionsgeschichte. Vgl. Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografie in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld 2007, S. 262f. Friedrichsmeyer thematisiert in diesem Kontext die Ausbeutung der Tiere. Vgl. Sara Friedrichsmeyer: »Sebalds Heringe und Seidenwürmer«, in: M. Sigrud/I. Wintermeyer (Hg.), Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds, Würzburg 2007, S. 11-26. 103 Vgl. Öhlschläger: »Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau«.
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Werden die Leser aus dem ersten Kapitel mit der Frage nach der Bedeutung des purpurfarbenen Fetzchens Seide entlassen, so wird die Erwartung eingelöst, auch wenn sich die Spur als komplex erweist. Die entscheidenden Hinweise sind jedoch gegeben: Die Seide führt zur Melancholie, zum Ende der Natur, zur Vernichtung, zur Transmigration, zur Trauer und im purpurfarbenen Fetzchen birgt sich nicht zuletzt ein Schein vom Schönen, als Frage nach der Rolle der Kunst und Ästhetik innerhalb einer Naturgeschichte der Zerstörung. Verdichten und überlagern sich in der Seidenraupe derart die zentralen Themen und Argumentationsstränge des Textes, so stellt sich zunächst die Herausforderung, wie dies geleistet wird. Folgt man der Seidenraupe als Metaphorik des Schreibens, verstrickt man sich unwillkürlich in der Textualität eines »Papieruniversum« (RS 18), »das seine Ausgänge in sich enthält«.104 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass einige Kommentatoren von einem reinem Textkonstrukt sprechen, das jede außertextuelle Referenz abgeschnitten hat.105 Diese Lesart greift jedoch zu kurz. Die Ringe reflektiert explizit die Relation zwischen Literatur und Realität; der Text findet seine Begründung unmissverständlich in der Geschichte der Moderne. Auch hier bildet die Seidenraupe die Trope, die die Verbrechen des 20. Jahrhunderts referiert. Folgt der Text der Seidenzucht von ihren Ursprüngen in China über die Schwellenzeit des 18. Jahrhunderts bis hin zum Seidenbau im Nationalsozialismus (ein Moment, der später nachgezeichnet wird), so beschreibt Sebald anhand der Seidenzucht einen kumulativen Prozess der zivilisatorischen Zerstörung. Indem die Seidenraupe sowohl die Schreibtätigkeit als auch den Schrecken der Geschichte verkörpert, sind diese beiden Momente untrennbar miteinander verquickt. Es ist diese irritierende Engführung zwischen Gewaltgeschichte und Schreiben – so die Hypothese dieser Lektüre – die der Text zentral austrägt. Mit Adorno gesprochen verhandelt Sebald die Rolle von Kunst und Literatur innerhalb der destruktiven Kulturalisierungsprozesse als einer »Verstricktheit« aus der zunächst »kein[] Ausweg« (MM 29) führt. Jede Lesart, die einen Argumentationsstrang privilegiert, unterschlägt, was im Text als unlösbares Dilemma bestehen bleibt.
104 Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt a.M. 2003, S. 139. 105 Vgl. Lethen: »Sebalds Raster«. Vgl. ferner die »postmodern pastiche« als Beschreibung von Sebalds Prosa. Zit.n. Santner: On creaturely life, S. xiv.
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Der Stoff der Prosa Der Einstieg in den Text gestaltet sich mit seinen zahlreichen intertextuellen Bezügen offensichtlich als Einstieg in ein Reich der Zeichen. Es liegt somit nahe mit dem Thema der Textualität zu beginnen. In einer metonymischen Verkettung schreitet der Text, der sich mit den ersten Seiten extensiv in einen literarischen Kanon einschreibt, von einer Referenz zur nächsten, verdichtet sich jedoch um Thomas Browne. Gustav Flaubert, dessen Name in Hinführung zu Browne fällt, verdient insofern eine besondere Erwähnung, weil hier das Prinzip der Verkettung, das der Text selbst praktiziert, erstmals kritisch reflektiert wird. Von Flaubert heißt es: »Zu solchen Zeiten [...] schien ihm nicht nur jedes zukünftige Schreiben völlig ausgeschlossen, sondern er war darüber hinaus davon überzeugt, dass alles bisher von ihm Geschriebene nur aus einer Aneinanderreihung der unverzeihlichsten, in ihren Auswirkungen unabsehbaren Fehler und Verlogenheiten bestehe.« (RS 17)
Zweifel gegenüber dem Sinn und Zweck des Schreibens ziehen sich durch den gesamten Text. In erster Linie problematisiert die Passage jedoch wie narrative Verknüpfungen vorzunehmen sind. Basiert die Narration auf der Aneinanderreihung einzelner Sätze, so bildet die Elaboration die wesentliche Dimension des Schreibens: »writing and creating something is about elaboration«,106 so Sebald in einem Interview: »You have a few elements. You build something.« Die Elaboration gestaltet sich jedoch prekär. Sie ist nicht nur »absolutely fantastic«, sondern zugleich »the device of paranoia«. Wo die Bedeutung und Beziehung der Sätze und Dinge nicht mehr gegeben ist, ist auch das Schreiben gefährdet: »You can see from that«, so fährt Sebald im zitierten Interview fort, »that the degree of elaboration is not a measure of truth. And that is exactly the same problem, certainly, in prose fiction: you have to elaborate.«107 Die Elaboration ist der Stoff, aus dem die Prosa gemacht ist. Als produktive und reproduktive Verknüpfungstechnik droht ihr jedoch mit jedem Fortschritt der Fehltritt, sei es als Wahrheits- oder als Reali-
106 Cuomo: »The Meaning of Coincidence – An interview«. 107 Ebd.
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tätsverlust. Der Irrtum ist besonders dort akut, wo die Prosa keinem gegebenen Regelsystem oder einer gültigen Gattungsvorlage folgt, die eine Verkettungslogik, wie die Sätze aneinandergereiht werden, vorgibt. Auch in dieser Hinsicht ist Sebalds Ablehnung des Romans, einschließlich der Konventionen von Protagonist und Handlung, bedeutsam.108 Unwillkürlich rückt mit der Elaboration als Strukturmerkmal somit die Praxis und der Akt des Schreibens, als écriture, selbst in den Blick – noch vor allem Inhalt. Wenn Sebald den prekären Moment der Elaboration prominent hervorkehrt, dann findet darin zugleich »der Tod der Rhetorik« (Barthes) einen Widerhall, der (freilich nicht erst) für die Autoren der Moderne konstitutiv ist. Klassisch besteht die Rhetorik gerade darin, verschiedene Techniken an die Hand zu geben, die nicht nur den Redner, sondern auch den Schreiber im Aufbau seines Textes leiten. Die inventio, dispositio und elocutio befassen sich als techné rhetorike zunächst mit dieser Gestaltung der Rede und Prosa. Es geht darum, das Sagende zu finden (inventio), dieses anzuordnen (dispositio) und es schließlich mit Wörtern und Redewendungen auszuschmücken (elocutio). Wenn die inventio (und dispositio) anfangs von einem »sehr festen Vertrauen in das Vermögen einer Methode, eines Weges«109 getragen werden, dass sie ihre Argumente treffend an ihrem Material zu entwickeln vermögen, so ist diese Sicherheit in der Moderne verloren gegangen. Für Barthes ist das »Schreiben« als écriture nun jener Begriff, der die moderne Kondition markiert. Der Wissenschaftler und Autor der Moderne kennt »keinen gesicherten Ort« mehr, so Barthes, der die eigene Schreibpraxis legitimiert. Das Schreiben wendet sich in diesem Moment auf sich selbst zurück und muss sich aus sich selbst heraus, d.h. aus der Sprache, begründen: »Das Schreiben ist die Wahrheit, nicht der Person (des Autors), sondern der Sprache.«110 Wo die Sprache das Schreiben fundiert und sich dieses allein über die Sprache rückversichern kann, kündigt sich jener tautologische Zirkel an, den Sebald in Referenz auf Flaubert anspricht: Die eigene Schreibpraxis ist von einer grundsätzlichen Skepsis durchdrungen, weil jegliche Instanzen einer (meta- oder außertextuellen) Rückversicherung fehlen.
108 Vgl. Robert McCrum: »Characters, plot, dialogue? That’s not really my style...«, in: The Observer Review, 7.6.1998. 109 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 54. 110 Ebd., S. 12.
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Die Ringe spitzen diese Problematik zu, indem sie das Schreiben in dieser Situation in einer Richtung auf einen naturhaften Prozess reduzieren. »Alles ist kurz vor dem Niedersinken«, heißt es im Gespräch, das der Erzähler mit Michael Hamburger führt: »[N]ur das Unkraut wächst weiter, die Ackerwinden erwürgen die Sträucher, die gelben Wurzeln der Brennnesseln kriechen unter der Erde fort [...] die Braunfäule und die Milben breiten sich aus, und sogar das Papier, auf dem man mühselig Wörter und Sätze aneinanderreiht, fühlt sich an, als sei es vom Mehltau überzogen.« (RS 216)
Ist die Elaboration das Element des Schreibens, so benennt die Natur in dieser Passage das Gesetz der Produktion und Reproduktion, das auch die Aneinanderreihung der Sätze diktiert. Die geistige Produktion entpuppt sich damit aber als naturhafter Prozess. Das Schreiben tendiert unwillkürlich gegen einen Nullpunkt, an dem die Differenz zwischen einer natürlichen und einer rhetorischen oder vernünftigen Ordnung hinfällig wird. »Wenn man danach befragt würde«, wüsste man nicht, warum man weiter schreibt oder was das Schreiben überhaupt bewirkt, so heißt es weiter, »ob man durch das Schreiben klüger oder verrückter wird« (RS 216f.). Der Imperativ des Beckettschen Dilemmas »man muss weitermachen, ich werde weitermachen«,111 ist an diesem Punkt einer blinden Gesetzmäßigkeit gewichen. Das Schreiben folgt nicht mehr, wie in der Rhetorik, einem »Netz der argumentativen Formen«, »die technisch geschickt über das Material« geworfen werden, in der Überzeugung, »den Inhalt eines glänzenden Diskurses einzufangen«.112 Vielmehr dominiert die Skepsis gegenüber dem (potentiellen) ›Leerlauf‹ der eigenen Geistesarbeit, der jede Methode und jeder Maßstab, um ihr ›Material‹ zu ordnen, verloren gegangen ist. »[N]ie werden [wir] begreifen können«, so heißt es weiter, ob die »Geisteskonstruktionen« (RS 217) eine Erkenntnis abwerfen oder nicht. Auch hier gilt es demnach, wie bei Wittgenstein und Bernhard, das Denken zum richtigen Zeitpunkt abzubrechen. Denn wo man der Gesetzmäßigkeit auf die Spur zu kommen sucht, droht der Wahnsinn: »Jedenfalls habe ich sie [die Gedanken der Wahlverwandtschaft, ob ich vor langer Zeit schon mal im
111 Samuel Beckett: Der Namenlose, Frankfurt a.M. 1995, S. 176. 112 Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 54-55.
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ihm fremden Haus Michael Hamburgers gelebt habe, P.S.] während der inzwischen vergangenen Jahre nicht weiterverfolgt, vielleicht weil man sie, ohne irrsinnig zu werden, gar nicht weiterverfolgen kann.« (RS 220) Mit der Ineinssetzung von Schreiben und Natur ist ein Pol des sebaldschen Schreibens benannt, der einen Nullpunkt markiert. Der Rückfall in die Natur zeugt von einem Realitätsverlust, der bestenfalls in einer erkenntnistheoretischen Sackgasse endet. Der Naturalismus (als vollkommener Sinnverlust) und die Paranoia (als Überdetermination) beschreiben soweit zwei Pole, die das prekäre Verhältnis des Schreibens in seinem Realitätsbezug bestimmen. Das Schreiben der Moderne muss diese Pole zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit sowie Referenz und Referenzlosigkeit unwillkürlich ausmessen – Grenzen, die das Reich der Vernunft abstecken, sind keine mehr gegeben. Sebalds Naturalismus perspektiviert die Beziehung von Text und Realität sowie geistiger Produktion und empirischer Wirklichkeit hierbei von seiner negativen Seite her. Auf eine konstruktive Angleichung an die Natur wird in Bezug auf Astrologie und Aberglaube noch einzugehen sein. Zunächst beschreibt die Ästhetik als Lehre der Schönheit jedoch eine weitere Dimension, die ein zusätzliches Ordnungskriterium in die Diskussion einführt – das ebenfalls, wie zu zeigen ist, die Relation zwischen Text und Realität verhandelt. Wie eingangs angedeutet, stellt das Stoffgewebe etymologisch und metaphorisch den Begriff und das Bild für den Text und die Textarbeit dar. Sebald führt diese Metaphorik ein, indem er wiederholt auf die Tätigkeit der Weber zu sprechen kommt. Die Weber beherrschen die Kunst der Verknüpfung, indem sie Stoffe produzieren »von wahrhaft phantastischer Vielfalt und einer in sich leicht changierenden, mit Worten kaum zu beschreibenden Schönheit [...], ganz als seien sie hervorgebracht worden von der Natur selber wie die Federkleider der Vögel« (RS 335). Mit dem Begriff der Schönheit taucht ein weiterer Ordnungsbegriff auf, der sich ebenfalls aus der Rhetorik ableitet. Diesmal steht nicht die inventio und dispositio im Zentrum, sondern die elocutio. Als »Vorfahr der ›Literatur‹« wird die Prosa bereits in der Antike dem rhetorischen Code unterworfen. »So entsteht eine dritte Gattung […], die epideiktische: das Auftauchen einer schmückenden, aufwendigen Prosa«,113 erläutert Barthes. Die Schönheit legitimiert zwar das
113 Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 21 (Herv. i.O.).
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Weben respektive Schreiben. Aber auch die elocutio gestaltet sich spätestens in der Moderne als problematisch. Vielleicht ist das Kunstschaffen nur »die Kehrseite« zur »Geisteserkrankung der Weber« (RS 335) sinniert der Erzähler entsprechend. Weiter heißt es: »Man macht sich, glaube ich, nicht leicht einen Begriff davon, in welche Ausweglosigkeiten und Abgründe das ewige, auch am sogenannten Feierabend nicht aufhörende Nachsinnen, das bis in die Träume hineindringende Gefühl, den falschen Faden erwischt zu haben, einen bisweilen treiben kann.« (RS 335) Oszilliert das Schreiben auch in dieser Passage zwischen Irrtum und Wahrheit, so kehrt auch in Bezug auf die Schönheit der naturalistische Moment der Textproduktion wieder. Dies geschieht an jenen Stellen, wo der Schriftsteller nicht nur mit dem Weber, sondern explizit mit der Seidenraupe identifiziert wird. Dies ist u.a. mit dem Dichter Algernon Charles Swinburne der Fall. In Bezug auf den englischen Dichter wird die Schönheit aber noch in einer anderen Hinsicht problematisiert. Mit der Schönheit ist die Kunst nicht nur vom Realitätsverlust bedroht, sondern sie unterhält als kreativer Akt zugleich eine Beziehung zur Zerstörung. Einer kulturkritischen Deutung wird die Literatur in diesem Kontext in Kapitel VI. unterworfen, mit Swinburne, der als mehrfacher Besucher von Dunwich, wo auch der Erzähler auf seiner Fußwanderung Zwischenstation macht, eingeführt wird. Spürt das Kapitel bereits zuvor den Ursprung der Seidenzucht in China auf, so tritt nun auch der schwermütige, von »quasi-epileptischen Anfällen« wiederholt heimgesuchte Schriftsteller, die ihn im Anschluss an die »Geistesanstrengung bei der Komposition seiner mit wundervollem poetischen Bombast ausstaffierten Tragödien und Dichtungen« (RS 192) ereilen, nicht als Weber, sondern als Seidenraupe auf. Von Putney, Swinburnes Gefährten, heißt es: »Wiederholt [...] habe er beim Anblick Swinburnes an die aschgraue Seidenraupe, Bombyx mori, denken müssen.« (RS 198) Der Körperbau sowie die Bewegungs- und Verhaltensweisen des englischen Dichters werden nun verschiedentlich mit der Seidenraupe verglichen; das letzte Kapitel gibt zudem Aufschluss über die spezifische Raupe »Bombyx mori«: Sie »zählt zu den Bombycidae oder Spinnern, [...] die einige der schönsten aller Nachtfalter aufweist«; darunter findet sich auch der »Prozessions- oder Hainbuchenspinner Saturna carpini« (RS 324, Herv. i.O.) – womit unter der Hand der Faden von der Seide zum Saturn und zur Melancholie gelegt wäre.
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Swinburne ist also einer jener Sonderlinge, für die Sebald besondere Vorliebe hegt: Ein »lebensuntüchtiges Geschlecht«, »beständig in der Gefahr des Nervenzusammenbruchs schwebendes Wesen« (RS 195), das schließlich, nach gescheiterten Träumen einen Heldentod zu sterben, »endgültig an seinem unterentwickelten Körper gescheitert«, »sich rückhaltlos in die Literatur und damit in eine vielleicht nicht minder radikale Form der Selbstzerstörung« (RS 196) warf. Die letzte Zeile ist bedeutsam, weil Swinburne an dieser Stelle mit den Seidenraupen gleichgesetzt wird, die kurz zuvor als »beinahe transparente[] Wesen«, beschrieben werden, die »bald ihr Leben lassen würden für den feinen Faden, den sie spannen« (RS 183). Schriftsteller und Seidenraupe gehen hier unterschiedslos ineinander über: Beide üben eine Form der Produktion aus, die autodestruktiv ist. Zudem kassiert Sebald mit der Analogie zwischen Schriftsteller und Seidenraupe einmal mehr die Differenz zwischen ›Kunst‹ und ›Natur‹.114 Die Destruktivität bleibt jedoch nicht auf die Sphäre des kunstschaffenden Individuums beschränkt. Dieser Moment ist entscheidend. Dies wird deutlich, wenn Swinburne nicht nur mit den Seidenraupen verglichen wird, sondern im selben Kapitel mit der Kaiserin Tzʼu-hsi, die ihrerseits in die Seidenzucht involviert ist. Die Beziehung zwischen Dichter und Kaiserin installiert Sebald u.a. über eine jener Zufallskorrespondenzen, die im Text immer wieder mehr oder minder sinnfällige Bezüge stiften. So erfahren wir, dass Swinburnes »Lebens-
114 Im Schlusskapitel wird diese Analogie nochmals aufgegriffen. Dies geschieht zum einen in einem ironischen Ton, wenn davon die Rede ist, dass »die Raupe ein weitläufiges, unordentliches, unzusammenhängendes Gewebe« spinnt, »indem sie immerfort den Kopf hin und her bewegt und so einen ununterbrochenen, nahezu tausend Fuß langen Faden aus sich heraushaspelt« (RS 326). Diese Passage liest sich als Persiflage des Autors auf sich selbst. Zum anderen klingt dort das Motiv der Metamorphose bzw. Transformation an: »Die Raupe hört jetzt auf zu fressen, läuft rastlos herum, strebt gegen die Höhe und, gleichsam die niedere Welt verachtend, gegen den Himmel an, bis sie den rechten Platz gefunden hat und beginnen kann mit ihrem Gespinst, das sie aus den harzigen, in ihrem Inneren hergestellten Säften entwickelt« (RS 326). Diese Bewegung vollzieht sich jedoch in ihrer »verachtenden« Abkehr von der »niederen Welt« etc. ambivalent. Zwar stellt das Schreiben eine Sublimationsleistung dar; wo sie sich in Abkehr zur empirischen Realität vollzieht, kommt der Literatur aber kaum der Ort einer emanzipierten Wirklichkeit zu.
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spanne aufs Jahr beinahe zusammenfiel mit derjenigen der Kaiserwitwe« (RS 194). Zuvor beschreibt Sebald die »Fresslust« der Seidenwürmer, während die Kaiserin hingebungsvoll lauschte »auf das leise, gleichmäßige, ungemein beruhigende Vertilgungsgeräusch, das von den ungezählten, das frische Maulbeerlaub zernagenden Seidenwürmern kam« (RS 183). – In exakter Entsprechung heißt es von Swinburne: »he eats like a caterpillar« (RS 198, Herv. i.O.), um, »nach Beendigung des Mittagsmahls«, zu »neuem, von elektrischer Energie durchzuckten Leben« (RS 198) zu erwachen und in seiner Bibliothek, kaum einen Fuß auf dem Boden, umher zu geistern. Die Existenzweise des Schriftstellers als Seidenraupe wirft nun in Parallele zur Kaiserin ein höchst ambivalentes Licht. Während den »Seidengöttern Blutopfer« dargebracht werden und es den Seidenraupen der Kaiserin nicht an »frischem Grün« (RS 182) mangeln darf, verhungert ihr Volk auf elende Weise. Im Anblick des tatsächlichen Leids, ist die Seidenraupenzucht nicht nur grotesk. Nichts spricht so sehr für die Entfremdung von Masse und Macht, wie die Sorge, die die Kaiserin um die Seidenwürmer trägt, während ihr Volk elend verendet. Nicht zuletzt die aus den Seidenraupen gewonnenen Gewänder und Kostüme der Kaiserin sind in dieser Situation gerade in ihrer unglaublichen Schönheit das Symbol der entgleisten Macht (vgl. RS 327). Folgt man dieser Gegenüberstellung von Poesie und Politik, fällt unweigerlich ein Schatten auf die schriftstellerische Tätigkeit. Auch die artifizielle Schönheit des Textes, an der der Schriftsteller bis zur Selbstzerstörung versessen arbeitet, muss sich auf seine Relation und Diskrepanz zum realen Leid und Elend hin befragen lassen. Dies vollzieht sich zunächst über die besagte Engführung zwischen Swinburne und Tzʼu-hsi. Beide hegen in ihrer Abkehr von der sie umgebenden Realität und allgemein der lebenden Materie gleichermaßen eine Faszination für künstliche Welten. Was der »Dichter der Atlanta« (RS 195) in seinem Schreiben lediglich erträumt, verwirklicht die Kaiserwitwe mit ihren Palastbauten jedoch real. »Allein ihr Privathaushalt […] verschlang alljährlich die damals wahrhaft horrende Summe von sechs Millionen Pfund Sterling. […] Schlaflos wanderte sie in der Nacht in der bizarren Schattenlandschaft des Palastgartens herum zwischen künstlichen Felsengebirgen, Farngrün und dunklen Thujen und Zypressen. Am Morgen früh nahm sie als erstes eine zu Pulver zerstoßene Perle zu sich als Elixier zur Bewahrung der Unverletzlichkeit, und untertags stand sie,
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die an leblosen Dingen das größte Vergnügen fand, manchmal stundenlang an den Fenstern ihrer Gemälde und starrte hinaus auf den stillen, einem Gemälde gleichenden nördlichen See.« (RS 180-181)
Irritierend an der Analogie von Dichter und Kaiserin ist, dass die phantastische Weltabgewandtheit des Dichters auf unheimliche Art und Weise mit der realen Macht der Kaiserin korreliert. Beide leben in ihrer Faszination für künstliche Welten in einer Phantasiewelt. Während die Phantasie des Künstlers (nur) zur Selbstdestruktion führt, implementiert die Kaiserin die ihre hingegen real. Nur die Tat trennt das Werk des Künstlers an diesem Punkt vom Unheil, das die Phantasie der Kaiserin als politische Realität nach sich zieht. Die Entgleisung ist in beiden Fällen jedoch in der (weltabgewandten) Imagination des Subjekts (bzw. mit der Kaiserin ferner in den dynastischen Strukturen) angelegt. Die Fäden, die es erlauben, ein Urteil über die Kunst und Literatur zu fällen, lassen sich an dieser Stelle nur schwer entwirren. Der Kunst wird hier jedenfalls keine autonome Sphäre mehr zugebilligt, die unbefragt als »Statthalter« (Adorno) für eine emanzipierte Wirklich einsteht. Kunst und Literatur sind aber auf eine weitere Art und Weise in die dunkle Kehrseite der Kultur involviert. Oder anders formuliert: Indem Kunst und Literatur als Institution Teil der Kultur sind, sind sie unweigerlich in soziale und politische Belange integriert. In dieser Hinsicht muss sich auch die Kunst fragen lassen, ob sich ihre kulturelle Produktion nicht auf Kosten sozialer Ungleichheit vollzieht, oder ob sie nicht zur Entfremdung der gesellschaftlichen Strukturen beisteuert. In Die Ringe führt Sebald diesbezüglich die nachhaltige Beziehung zwischen Museen und dem Kolonialhandel an: »[...] viele bedeutende Museen wie das Mauritshuis im Haag oder die Londoner Tate Gallery [gehen] auf Stiftungen von Zuckerdynastien zurück [...] oder [sind] sonst irgendwie mit dem Zuckergeschäft verbunden [...]. Das im 18. und 19. Jahrhundert durch verschiedene Formen der Sklavenwirtschaft akkumulierte Kapital, sagte de Jong, läuft nach wie vor um, trägt Zins und Zinseszins, vermehrt und vervielfacht sich und treibt aus eigener Kraft andauernd neue Blüten. Eines der probatesten Mittel zur Legitimierung solchen Geldes ist von jeher die Förderung der Kunst.« (RS 230)
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Im Einklang mit Benjamins Satz, dass jedes Dokument der Kultur zugleich ein Zeugnis des Barbarei darstellt,115 bestätigt Sebald die Aussage in einem Interview: »Culture is not the antidote to the mayhem we wreak – expanding the economy or waging wars [...]. Art is a way of laundering money. It still goes on. [...] Literature is also affirmative of society – it oils the wheels.«116 Sebalds Vorliebe für das Schreiben als psychopathologisches Symptom vereinzelter Sonderlinge – dieser »sonderbaren Verhaltensstörung, die jedes Gefühl in Buchstaben verwandeln muss und mit erstaunlicher Präzision vorbeizielt am Leben«117 – nimmt sich entgegen der sozialen und politischen Verhältnisse, in die sie verstrickt ist, harmlos aus. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mutet eine positivistische Haltung gegenüber Kunst und Literatur aus soziohistorischer Perspektive demnach naiv an. Die Analogie von Schriftsteller und Seidenraupe hat in einer komplexen Schichtung soweit den prekären Moment des Schreibens in verschiedenen Bezügen beleuchtet: vom Rückfall in die Natur über den Realitätsverlust und Wahnsinn bis hin zur Partizipation des Schreibens innerhalb der Kultur als Moment des Destruktionszusammenhangs. Insbesondere die Parallelisierung von Kunst und Politik wirft die Frage auf, ob die Kunst, wo sie als autonome Sphäre der Ausdifferenzierung versagt, noch Mittel für eine Gesellschafts- bzw. Zivilisationskritik an die Hand gibt. Sebald versucht in Die Ringe trotz aller Vorbehalte genau dies zu leisten. Auch hier weist die Seidenraupe den Weg. Folgt man dieser Spur, um die Zivilisations- und Kulturkritik zu erörtern, ist jener skizzierte Komplex jedoch im Auge zu behalten, der das Schreiben – und damit Sebalds eigene Position – nicht länger als privilegierte Sphäre ausweist, sondern vorab einer basalen Kritik unterzieht, die dem Schreiber und Erzähler kaum den Boden unter den Füßen lässt. Demgemäß gilt es nun der Seidenraupe als Trope der Kulturkritik zu folgen. Nicht zuletzt gibt diese Analyse weiteren Aufschluss über das narrative Verfahren, wie Sebald seinen Text organisiert.
115 Vgl. Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, S. 696. 116 Maya Jaggi: »Recoverd Memories«, in: The Guardian, 22.9.2001, S. 5. 117 W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, Frankfurt a.M. 2003, S. 6.
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Aus dem Lehrbuch des Seidenbaus: Sebalds ›Dialektik der Aufklärung‹ Der Ursprung der Seidenzucht liegt zunächst in China. Führt die (bereits in Kapitel 2 erwähnte) Brücke in Kapitel VI. über den Blyth nach Osten, so erweist diese Verknüpfung ihre Tragweite erst im Schlusskapitel. Dort ist von der Transmigration der Seidenraupe die Rede, die in einem »als Wanderstab dienende[n] Bambusrohr, in dessen Inwendigem, zur Zeit des byzantinischen Kaisers Justitian, zwei persische Mönche, die sich zur Ergründung der Geheimnisse des Seidenbaus lange in China aufgehalten hatten, die ersten Eier der Seidenraupe glücklich über die Reichsgrenzen und in den westlichen Weltteil brachten« (RS 324). Während Adorno und Horkheimer ihre Urgeschichte des Subjekts mit Homers Odyssee um 800 B.C. beginnen lassen, datiert Sebalds Kulturalisationskritik mit der Seidenzucht – nach chinesischer Geschichtsschreibung – auf 2700 B. C. Mit Kaiser Hoang-ti, der sich den Seidenwürmern widmet, um »das Glück des Volkes vermehren zu helfen« (RS 327), wird die Seidenzucht bereits in ihren Anfängen zu einem Politikum erhoben. In Übereinstimmung mit der Einstellung der Kaiserin Tzʼu-hsi (Mitte des 19. Jahrhunderts) ist die düstere Ironie dieses Züchtungsprogramms offenkundig: »Ihrer Nützlichkeit halber aber hat der Mensch sie [die Seidenraupe] unter seine Pflege genommen.« (RS 327) In den Westen kommt die Seidenraupe im Bambusstab der Mönche jedoch erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends. Es dauert aber nochmals »ein weiteres Jahrtausend« (RS 328) bis der Seidenbau in Europa Fuß fasst und sich alle bedeutenden Nationen, Frankreich, Italien, England und auch Deutschland mit der Seidenzucht befassen. Obwohl sich die jeweiligen Höfe und Herrscher an der Seidenzucht versuchen, scheitern die meisten früher oder später. Auch im »eher rückständigen Deutschland« will die Zucht nicht so recht gelingen. Der »alte Kunstschönfärber Seybolt« (RS 339) wird engagiert, der »Staatsrath Joseph Hazzi« legt ein »Lehrbuch des Seidenbaus für Deutschland« vor, weitere Publikationen folgen, eines mit dem Titel die »Erziehung der Seidenraupe« (RS 343). Die Deutschen stehen dem Kaiser Hoang-ti in nichts nach; der Seidenanbau soll auch hier als sittenförderndes Instrument Anwendung finden. Die Erziehung der Seidenraupe wird zur Erziehung durch die Seidenraupe, um »eine moralische Umwandlung der Nation« (RS 344) zu erwirken. Die Rau-
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penzucht lehrt u.a. »die strengste Disziplin und Hygiene« (RS 344). Joseph Hazzis Vision fand zwar noch »keinen Anklang, wurde aber, nach hundertjähriger Remission, mit der den deutschen Faschisten in allem, was sie verfolgten, eigenen Gründlichkeit wieder aufgegriffen« (RS 345). Was in Langes »Deutscher Seidenbau« propagiert wird (Leistungskontrolle, Auslese und Ausmerzung zur Vermeidung rassischer Entartung etc.), findet seine präzise Entsprechung im Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten. Demgemäß endet der Exkurs mit der Massenvernichtung: »Drei Stunden müssen die in flachen Körben ausgebreiteten Kokons [...] liegenbleiben, und wenn man mit einer Menge fertig ist, so fährt man mit der nächsten fort, so lange, bis das ganze Tötungsgeschäft vollendet ist.« (RS 348) Die Kulturgeschichte des Seidenbaus gipfelt in einem Massaker. Die Verweise auf Adorno und Horkheimer haben bereits die veranschlagte zivilisationskritische Lesart dieser Kulturgeschichte des Seidenanbaus angedeutet. Ähnlich wie die Frankfurter Sozialtheoretiker vertritt Sebald die These, dass der Holocaust »eine Art pathologische Reaktion auf eine als traumatisch empfundene Modernisierung war. Seine Ursachen liegen demgemäß im Modernisierungsprozess, in der Durchkapitalisierung der Industrie, und in der dafür charakteristischen Zweckrationalität.«118 Long verweist ferner darauf, dass die Weichen für die gesellschaftlich-institutionellen Strukturen gemäß Sebald bereits im Ausgang des 18. Jahrhunderts gestellt werden, eine These, die insbesondere auf die Ringe zutrifft. Ausgehend vom Topos der Seidenraupe ist hier jedoch weniger die inhaltliche Kritik, als die formale Repräsentation von Interesse. Denn auch in dieser Hinsicht bietet die Dialektik der Aufklärung eine Folie für den Entwurf einer Geschichtsschreibung, die von den Ursprüngen der Kulturgeschichte in schwindelerregender Reduktion über nur einige wenige Stationen in Auschwitz mündet. Lassen sich die Ringe einerseits in Parallele zur Dialektik der Aufklärung lesen,119 so ist Sebalds Verfahren in seiner Exekution andererseits dezidiert vom Entwurf der Frankfurter Theoretiker zu unterscheiden. Der originäre und nach wie vor provokative Moment der Dialektik der Aufklärung ist der Kurzschluss, der erzeugt wird: Die Gegenwart wird in die Vergangenheit hinein projiziert, um im Umkehr-
118 Long: »Disziplin und Geständnis«, S. 219f. 119 Vgl. ferner Fuchs: »›Ein Hauptkapitel der Geschichte‹«, S. 125.
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schluss aus dieser Vergangenheit erneut die Gegenwart zu explizieren. Adorno und Horkheimer zwingen zusammen, was nicht beieinander liegt, um drastisch augenfällig zu machen, was anders in dieser Art und Weise kaum sinnfällig gemacht werden könnte: Die autodestruktive Konstitution des bürgerlichen Subjekts ist bereits in dessen Ursprüngen (bei Homer) angelegt – Kapitalismus, Antisemitismus und Faschismus stellen den fatalen Kristallisationspunkt dieser selbstdestruktiven Logik dar. Neben der extremen Verkürzung des kulturkritischen Narrativs scheint Sebald zunächst auch die Argumentationsweise der Dialektik der Aufklärung zu übernehmen. Der im Kontext mit Sebald häufig verwendete Begriff der Rekonstruktion der Geschichte und Erinnerung, ist daher nicht nur an dieser Stelle unpräzise. Wie bei Adorno und Horkheimer geht es auch bei Sebald weniger um eine Rekonstruktion der Vergangenheit, als vielmehr um eine motivierte Konstruktion, die das Narrativ einer selbstdestruktiven Dynamik präsentiert. Die Konstruktion der Geschichte gründet dabei auf keiner diskursiven Stringenz, sondern auf der Suggestivität der Darstellung. Besonders für Sebald gilt: Weder die Seidenzucht und Kulturgeschichte unterliegen einer kausalen Verknüpfung noch die Seidenzucht und die Massaker im 20. Jahrhundert. Im Vergleich zu Adorno und Horkheimer, die nach der »Verschlungenheit« der Aufklärung im Mythos fragen, indem sie ihrem Narrativ eine strukturell bedingte Entwicklung zugrunde legen, die den Nazismus und Antisemitismus antizipiert, verfährt Sebalds Text jedoch ungleich einfacher. Die Seidenzucht liest sich maßgeblich als Symptom einer Entwicklung, das die Pathologien der Moderne aufzeigt. Als Ausdruck einer pathologischen Moderne zielt der Text auf die Darstellung, weniger auf die Explikation einer Fehlentwicklung. Demgemäß gilt es, die Erzählstrategien der Prosa näher zu beleuchten. War in Kapitel 2 bereits von der an Benjamin geschulten allegorischen Lesart die Rede, so ist an dieser Stelle ferner Freuds Theorie des Traums und des Unbewussten als Referenz für Sebalds Textorganisation aufschlussreich. Topografie und Verkettungslogiken Was bei Sebald vermittels Verdichtung und Verschiebung an überdeterminierter Bedeutung in einzelnen Phänomenen symptomatisch angelegt ist, entfaltet sich über zahlreiche Assoziationen und Verknüpfungen im Verlauf der Narration. Verschiedene Stationen der Seiden-
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raupe, anhand derer punktuell kulturelle Entwicklungen expliziert werden, wurden bereits angeführt. Die Verfahrensweise erlaubt es Sebald vor allem über das zu sprechen, was sich anders nur schwer darstellen ließe: die Vernichtung der Juden sowie andere Massenmorde. »It was also clear«, sagt Sebald über sein Verfahren, »you could not write directly about the horror of persecution in its ultimate forms [...]. So you have to approach it from an angle.«120 Wie das Symptom in der Psychoanalyse führt die Seidenraupe in einer metonymischen Verkettung schrittweise zum traumatischen Nexus der Narration. Was unter dem Aspekt der Repräsentation jedoch unweigerlich auf Probleme stößt, löst Sebald durch die der Psychoanalyse und Rhetorik entliehene Technik der Verdichtung und Verschiebung respektive der Metapher und Metonymie,121 wobei letztere für Sebald von primärer Bedeutung ist. Konkret übernimmt die Metonymie zweierlei narrative Funktionen: Sie beschreibt erstens eine erstaunliche Verkettungstechnik, die es vermag, höchst disparate Phänomene wie die Vorliebe der Kaiserwitwe für Seidenraupen mit der schriftstellerischen Tätigkeit des Dichters Swinburne zu verknüpfen und das alles letztlich im Nationalsozialismus und Holocaust zusammenlaufen zu lassen – nicht, wohl gemerkt, um kausale Argumentationslinien zu verfolgen, sondern um die europäische Kulturgeschichte im Licht von Auschwitz zu spiegeln, gemäß der Einsicht Adornos, dass Auschwitz die Nachgeschichte gleichermaßen betrifft wie die Vorgeschichte. Indem auf diese Art und Weise ein narratives Gewebe gesponnen wird, ermöglicht die Metonymie zweitens den Referenten zu umgarnen, ohne ihn bildhaft repräsentieren oder als Signifikat fixieren zu müssen. Dieses Verfahren erlaubt es demnach, das zur Sprache zu bringen, was einer Zäsur oder einem Gesetz der Undarstellbarkeit unterliegt. Löst die Metonymie somit zwei wesentliche, narrative Funktionen der Textorganisation, die spezifisch auf Sebalds Erzählsituation antworten, so ist sie zugleich ein Element des diskutierten Verkettungsprinzips der Elaboration. Weil die Metonymie sich strukturell auf Neben- und Umwegen bewegt, neigt sie unwillkürlich zur Extension.
120 Sebald: »The last word«, in: Guardian, 21.12.2001, S. 2. 121 Auf die Parallele zwischen Rhetorik und Psychoanalyse verweist Jacques Lacan: »L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud«, in: ders., Écrits I, Paris 1966, S. 249-289, S. 269.
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Was auf dem Webschiffchen der Metonymie einmal ins Gleiten geraten ist, lässt sich aber schwerlich wieder kontrollieren. Die extensive Tendenz der Ringe, einschließlich der Frage, inwiefern sich manche Passagen notwendig oder arbiträr in die Textkomposition einfügen, schließt aus dieser Perspektive erneut an den Begriff der Elaboration an. Ihre Begründung findet die assoziative Textorganisation in der epistemologischen Unsicherheit – so das Argument in Kapitel 2 – wie das Subjekt in der Geschichte bedeutet ist, die sich ebenso determinierend auf das Subjekt auswirkt, wie sie sich dem emphatischen und kognitiven Zugriff entzieht. Bildet die Allegorie nach der Vorlage Benjamins ein Modell, das es dem Erzähler erlaubt, die Geschichte und Vergangenheit auf originäre Art und Weise zu erschließen, so ist mit dem Weg über das randständige Objekt der Allegorie der Erzählung die Kontingenz unweigerlich eingeschrieben. An dieser Stelle gewinnt die Frage, wie der Erzähler die disparaten Momente verknüpft und zu einem Textganzen fügt, erneut zentrale Bedeutung. In seiner assoziativen Montagetechnik folgt der Text keiner linearen oder kausalen Entwicklung, sondern entwirft ein weitflächiges Netz. Schon der Blick in das Inhaltsverzeichnis auf der ersten Seite kündet von einer »Irrfahrt«, die mehr Verwirrung als Ordnung stiftet: »Im Spital – Nachruf – Irrfahrt des Schädels Thomas Brownes – Anatomische Vorlesung – Levitation – Quincunx – Fabelwesen – Feuerbestattung« (RS 5) – so lautet der Fahrplan der ersten 28 Seiten. Die Kreuzungspunkte der Passagen geben retrospektiv zwar Auskunft über wichtige Stationen des Textes, folgen aber keiner evidenten Route. Das Verflechtungsraster »des sogenannten Quincunx« (siehe Kapitel 2) bietet allenfalls in seiner Flächigkeit und Offenheit ein Schema für die narrative Struktur der Ringe. Die Kreuzungspunkte, die der Text vorzeichnet, fallen jedoch disparater aus, als dass sie sich auf einem geometrischen Raster verorten ließen, auch wenn Sebald die Fugen und Sprünge meist auf erstaunliche Weise zu glätten weiß. Bedeutsam ist in diesem Kontext, dass Sebald – und hier ist die Analogie mit dem mathematischen Raster durchaus treffend – die zeitlichen Dimensionen aus dem Text weitgehend eliminiert. Die Traumlogik Freuds bildet auch in dieser Hinsicht die Vorlage für das Modell einer narrativen
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Struktur, aus der sowohl die biografische als auch die historische Zeit abgeflossen ist.122 In Analogie zum Traum (und Unbewussten) konstruiert Sebald eine Topografie, die die zeitliche Dimension eliminiert. Die flächig angelegte Karte der europäischen Kulturgeschichte lässt Vergangenheit und Gegenwart in unmittelbare Nähe rücken, bzw. überlagern sich unterschiedliche Zeitschichten in ein und demselben Objekt. So vermag der Erzähler die Brücke über den Blyth in Kapitel VI. zugleich als Übergang verwenden, der ihn nahtlos aus der Gegenwart ins England des 18. Jahrhunderts und mit einem weiteren Schritt nach China und in dessen Hegemonialgeschichte der Kaiserreiche führt. Was in Kapitel 2 in Analogie zur Allegorie Benjamins gelesen wurde, lässt sich somit gleichfalls in Relation zu Freuds Konzeption des Unbewussten setzen, wenn Freud das Unbewusste externalisiert und mit dem historischen Rom vergleicht, das dem Betrachter präsentisch vor Augen liegt: »Dabei brauchte es vielleicht nur eine Änderung der Blickrichtung oder des Standpunktes von seiten des Beobachters, um den einen oder den anderen Blick hervorzurufen.«123 Diese Vision des Psychoanalytikers, allein mit einer Verschiebung des Blickwinkels in der Gegenwart sämtliche historische Schichten Roms aufzudecken, findet bei Sebald (wie im Beispiel der Brücke über den Blyth) eine direkte Umsetzung. Folgt man dem Erzähler im chronologischen Fortlauf seiner Wanderung nun weiter, so mündet die Reise schließlich in eine postapokalyptische Szenerie. Bevor sich das Schlusskapitel X. etwas ungelenk an den vorhergehenden Textkorpus anschließt, kommt die Wanderung des Ich-Erzählers bereits in Kapitel IX. an ein Ende. Nach seiner letzten Station in Hedeham ruft der Erzähler seine Lebensgefährtin an, um abgeholt zu werden. Damit wäre der Ring der »konzentrischen Kreise«124 geschlossen und der Text könnte mit dem postapokalyptischen Landschaftsbild am Morgen nach einem nächtlichen Sturm formschön schließen. Am Ende des Kapitels findet sich in etwa jene Stimmung, die der Text anfangs mit dem imaginären Blick aus dem »mit einem 122 J.J. Long verfolgt hier einen anderen Ansatz, indem er den Aufschub (digression) zum strukturierenden Topos der Elaboration erklärt. In Longs Deutung kommt der Zeitlichkeit als Retardation die zentrale Funktion zu. J.J. Long: »W.G. Sebald: The Ambulatory Narrative and the Poetics of Digression«, in: Fischer (Hg.), Schreiben ex patria, S. 61-71. 123 Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt a.M. 1999, S. 419-506, S. 428. 124 Pralle: »Mit einem kleinen Strandspaten«.
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schwarzen Netz verhängten Krankenhausfenster« evoziert (auch wenn sich dort keine Landschaft, sondern eine Stadtsilhouette abzeichnet). Hier wie dort wirft der Erzähler einen Blick auf eine »für immer entschwundene Wirklichkeit« (RS 13): »Nur Sumpfgras, dessen Samen wer weiß wie lang in der Tiefe gelegen hatten, gingen büschelweise in der bald völlig verbackenen Erde auf. Die Einstrahlung der Sonne, durch nichts mehr abgehalten, zerstörte in kürzester Frist sämtliche Schattengewächse des Gartens, und immer mehr war es einem, als lebe man am Rand einer Steppe. Wo vor kurzer Zeit noch bei Anbruch des Tages die Vögel so zahlreich und so lauthals gesungen hatten [...] da vernahm man jetzt kaum noch einen lebendigen Laut.« (RS 318f.)
Das Verschwinden der Vögel, die zahlreich durch den Roman flattern und die zudem in Bezug zur Seide gelesen werden müssen – in Kapitel X. folgt ein Artenstammbaum des »Seidenvogel[s]« (RS 324) –, signalisiert in dieser Passage die postapokalyptische Stimmung wohl noch sinnfälliger als das weniger originelle Bild der verbrannten Erde. So figurieren die Vögel an anderer Stelle als potentielle Retter bzw. kündet ihre Gegenwart von einer geheimnisvollen Ordnung der Dinge. Der Erzähler – stets von der Frage getrieben, was die Dinge vereint – sinniert, während er Schwalben über dem Meer beobachtet: Ich habe »mir vorgestellt, dass die Welt nur zusammengehalten wird von ihren durch den Luftraum gezogenen Bahnen« (RS 87).125 Dabei erinnert er sich an Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius-Erzählung, die »von der Rettung eines ganzen Amphitheaters durch ein paar Vögel« (RS 87) erzählt. Zugleich wird er sich seiner eigenen prekären Position als Erzähler gewahr: »Ich stand also sozusagen auf einem perforierten Stück Land, das jeden Moment nachgeben konnte.« (RS 87) Im Bild des Erzählers auf brüchigem Untergrund auf einer Klippe, kehrt einmal mehr die Kritik und Skepsis gegenüber des eigenen, in der Destruktionsgeschichte involvierten Betrachterstandpunkts wieder. Mit dem Verschwinden der Vögel wäre nun – in Kapitel IX. – ferner die Hoffnung auf eine Rettung (in Form einer geheimen Ordnung der Dinge) kassiert. Fasst man die verschiedenen Momente zusammen, die
125 Zu den Vögeln vgl. auch RS 210 u. 216. An anderer Stelle verweist Sebald ferner auf die Bedeutung der Vögel im Schamanismus. Vgl. BU 180.
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anhand der Seidenraupe entwickelt wurden, so enden Die Ringe soweit als Variation eines Beckettschen Endspiels. Der Erzähler vermag zwar den Destruktionszusammenhang nochmals – anhand der dargestellten Techniken der Allegorie und Metonymie etc. – darzustellen. Das Schreiben bietet jedoch keinen Ausweg. Dies gilt insbesondere dort, wo man die zuvor aufgestellte Bilanz in Rechnung stellt, dass der Erzähler darum weiß, dass die eigene Tätigkeit des Schreibens nicht nur anfällig für den Irrtum ist, sondern zugleich ein integraler Moment der allgemeinen Naturgeschichte der Zerstörung. Der Text endet hier jedoch nicht. – Der Niedergang ist nicht das letzte Wort. Im Einklang mit der Kritik an Döblin (vgl. Kapitel 2) macht sich Sebald also nicht mit der Beschwörung des Untergangs gemein, indem er eine Naturgeschichte beschreibt, innerhalb der der Mensch allenfalls ein Epiphänomen bildet. Auch bei Sebald gilt es demnach den »Wechsel von dieser apokalyptischen Aussicht zu jenem helleren Begriff von der Endzeit« (BU 183) nachzuvollziehen. Darf man den Erzähler auf seinem erhöhten, durchlöcherten Standort auf der Klippe mit dem Verschwinden der Vögel in Kapitel IX. im freien Fall vermuten, so kehren die Vögel – als Seidenvögel – in Kapitel X. wieder und damit die Frage nach einer alternativen Ordnung, die einen Weg aus dem Destruktionszusammenhang weist. Mit den Vögeln tritt zudem Thomas Browne erneut auf. Anders als Dante entlässt Sebald seinen Virgil nicht. Die Seide legt nun eine weitere Spur und wirft die Frage auf, ob sich das Netz der textuellen Verknüpfungen nicht doch zu einem anderen Ende hin fügt. Demnach gilt es nun dem »Fetzchen schwarzer Seide« (RS 131) nachzugehen. Die Textur der Trauer Mit der Trauer schließt Sebald allgemein an einen Diskurs an, der im Anschluss an den Nationalsozialismus in Deutschland mit Alexander und Margarete Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern initiiert wurde und der inzwischen »a new universalism of mourning patterns«126 zeitigte. Für den hiesigen Kontext ist jedoch von Interesse, dass die Trauerarbeit als literarische – in Analogie zum Topos der Schönheit – auf einer artifiziellen und aufwendigen Verknüpfungstechnik beruht. D.h. auch die Trauerarbeit organisiert sich in inzwischen gewohnter
126 Bernhard Giesen: Triumph and Trauma, Boulder u.a 2004, S. 3.
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Manier über die Frage der Satzformationen und -verkettungen. Auf die Beziehung von Satzstruktur und Trauer kommt Sebald gleich zu Beginn der Ringe, in Referenz auf Browne, zu sprechen: »Wie die anderen Schriftsteller des englischen 17. Jahrhunderts führt auch Browne ständig seine ganze Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheuren Zitatenschatz und die Namen aller ihm vorausgegangenen Autoritäten, arbeitet mit weit ausufernden Metaphern und Analogien und baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit.« (RS 30)
Diese Analyse Sebalds liest sich zunächst präzise als Kommentar zum eigenen Text und legt damit den dritten Komplex des Schreibens frei, mit der Frage, ob dem Text nicht noch eine andere, restaurative Ordnung zugrunde liegt. Die mäandernden Sätze Sebalds, die sich manchmal über ein, zwei Seiten ziehen, in einem Text, der nur durch wenige Paragraphen unterbrochen ist, nehmen alles, mit dem sie in Berührung kommen, in sich auf und binden es in den Trauerzug der Sätze ein – selbst die Fotografien und das Bildmaterial werden mitunter durch die Textformatierung typografisch in den Marsch eingereiht.127 Die additive Häufung der Verknüpfungen, die in Kapitel 2 als Ansammlung von Entsetzensschauern zur Sprache kamen, nehmen nun unter dem Topos der Trauer eine rituelle Ordnung an: Die Quantität der Zeichen – und ihrer Verknüpfungen – wandelt sich derart in Qualität, indem jene Momente, die in »der Geschichte der Unterwerfung« (RS 26) bisher übergangen wurden, erneut aufgesucht und in den Trauermarsch eingereiht werden. Weniger die Fortschreibung der Geschichte wäre in dieser Formation das Ziel, sondern das Vorhaben, die traumatischen Schauplätze der Vergangenheit aufzusuchen, um sie einer Trauerprozession einzugliedern. Es ist in diesem Kontext nicht unbedeutend, dass Sebald das Motiv der Wanderschaft an anderer Stelle – in Bezug auf Stifter und Handke – als heilsgeschichtliches Motiv deutet: »[D]ie Wanderschaft [wird] zur Kunst zu einer Art Pilgrimʼs Progress und ihre Stationen zu denen einer imaginierten Heilsgeschichte.« (BU 181) Wie lässt sich diese Transformation vom Schrecken über das verübte Unrecht zur Trauer jedoch vollziehen?
127 Zur Verwendung der Fotografien vgl. Kap. 4, S. 294-296.
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Wie die Kunst und die Literatur unterliegt zunächst auch die literarische Trauerarbeit einer grundsätzlichen Kritik. Die Vorbehalte finden sich u.a. in Kapitel IX., wo ebenfalls die Seide den Faden zur Trauer spinnt: »schwarze[] Seidenbänder« (RS 301) flattern am Hut von Charlottes Ives, die Trauer um ihre Mutter trägt, als sie nach 27 Jahren den Vicomte Chateaubriand aufsucht. Trotz heftiger Zuneigung füreinander haben Ives und der Vicomte damals nicht geheiratet, weil Chateaubriand kurz zuvor eine unglückliche Liaison eingegangen war. Das Schreiben nimmt für den Autor daraufhin den Platz der unverwirklichten Liebe ein. Was wäre gewesen, wenn er sich damals »verwandelt« und die Ehe mit Charlotte eingegangen wäre, fragt Chateaubriand: »Wahrscheinlich hätte ich dann niemals auch nur ein einziges Wort zu Papier gebracht.« (RS 300) Zwar kommt dem Schreiben ein therapeutischer Effekt zu. Als Erinnerungsarbeit erweist es sich jedoch doppelbödig. Es ist eine Arbeit, die geleistet werden muss, weil wir ohne die Erinnerung nicht imstande wären, »die einfachsten Gedanken zu ordnen«, »das gefühlvollste Herz verlöre die Fähigkeiten, einem anderen sich zuzuneigen« (RS 303). Die Erinnerung ist notwendig, weil sie Kohärenz stiftet und die Bedingung der Empathie bildet. Trotz dieser positiven Funktion bleibt Chateaubriand jedoch skeptisch: »Wie oft habe ich darum meine Erinnerung und die Übertragung der Erinnerung in die Schrift als ein erniedrigendes, im Grund verdammenswertes Geschäft empfunden!« (RS 303) Chateaubriand bewertet die schriftstellerische Erinnerung nicht nur mit Vorbehalten, weil das Schreiben als Sublimation ein bloßes Surrogat des Lebens darstellt, sondern er fragt zudem, ob er Charlotte »schreibenderweise nicht abermals und endgültig verriet und verlor« (RS 302). Das Vergessen ist ein integraler Moment des Erinnerns. Insbesondere die schriftliche Erinnerungsarbeit ist in ihrer paradoxalen Struktur jedoch dilemmatisch.128 Die Schrift dient wesentlich der Konservierung, sie geht aber zugleich mit einem Erinnerungsverlust einher. Man darf vermuten, dass es hier um das Zusammenspiel von Erinnerung und Imagination geht, die mit der Imagination als Neuschöpfung zu einem Verlust der ursprünglichen Erinnerung führt.129 Sebald zitiert mit Chateaubriand jedoch eine weitere Problematik.
128 Vgl. Lyotard: Heidegger und »die Juden«, S. 38. 129 Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 105. Dieses Dilemma führt
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Den Widerspruch zwischen Trauerarbeit und Literatur hat KarlHeinz Bohrer auf die Formel der »poetischen Trauer«130 gebracht, die die Gegenwart im Moment des Schreibens augenblicklich in Vergangenheit verwandelt. Bohrer skizziert einen literarischen Trauerdiskurs, der mit der Romantik einsetzt, der aber auch für die spätmoderne Literatur nach wie vor Gültigkeit besitzt. Als selbstreferentieller Diskurs beschreibt die poetische Trauer eine paradoxe Figur, die die Verschriftlichung der Vergangenheit nicht einzuholen und in die Gegenwart zu überführen vermag. Verkürzt formuliert geht es um einen Verlust von Präsenz. Als existenzielle Erfahrung handelt die »subjektive poetische Zeitreflexion«131 von einer negativen Epiphanie, die als Zeiterfahrung ebenso vom Verschwinden der Präsenz zeugt, wie sie diesen Verlust betrauert. »Wir haben es hier mit einer signifikanten Bewusstseinsverschiebung zu tun: Trauer wird nicht aufgehoben, sondern intensiviert.«132 Bohrers Definition einer linguistischen und existenziellen Erfahrung beschreibt treffend das Dilemma Chateaubriands, das Sebald referiert. Während Bohrer die poetische Trauer aber auf den Verlust der Präsenz reduziert und ihr so die Fähigkeit abspricht, ihren soziohistorischen Kontext zu reflektieren, versucht Sebald die zeitliche Dimension mit ihrem subjektiv-linguistischen Horizont zu transzendieren. Damit leistet Sebald – wie zu zeigen ist – jene Reflexion eines »objektiven Zeitwissens«,133 die Bohrer in seinem Ansatz ausschließt. Die Frage, inwiefern die Literatur zum Medium historischer Trauer werden kann, stellt sich konkret im Schlusskapitel, wo Sebald diese Thematik auf das eigene Schreiben überträgt. Dort heißt es: »Indem ich jetzt, wo ich dies niederschreibe, noch einmal unsere beinahe nur aus Kalamitäten bestehende Geschichte überdenke, kommt es mir in den Sinn, dass einst für die Damen der gehobenen Stände das Tragen schwerer Roben aus schwarzem Seidentaft oder schwarzer Crêpe de Chine als der einzige angemessene Ausdruck tiefster Trauer gegolten hat.« (RS 350)
130
131 132 133
auch Kertész an, wenn er schreibt, dass mit dem Schreiben der Roman an die Stelle der ursprünglichen Erinnerung von Auschwitz getreten sei. Karl-Heinz Bohrer: »Historische Trauer und poetische Trauer«, in: B. Liebsch/J. Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln u.a. 2001, S. 111127, S.113f. Ebd., S. 121. Ebd., S. 120. Ebd., S. 123.
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Wenn Bohrer die strukturellen Bedingungen einer poetischen Trauer, die ihre Selbstreferentialität übersteigt, an »einer Aufhebung der unmittelbaren Innerlichkeit ins Ritual«134 festmacht, dann reflektiert Sebald mit dem Zitat der Trauerrituale genau diesen Schritt. Auch Browne tritt erneut als kundiger Zeremonienmeister auf und stiftet ein weiteres Bild, wenn er von einer ehemaligen Sitte in Holland spricht, bei der »im Hause des Verstorbenen alle Spiegel und alle Bilder auf denen Landschaften, Menschen oder die Früchte der Felder zu sehen waren, mit seidenem Trauerflor« verhängt wurden: »[D]amit nicht die den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick, sei es durch den ihrer bald auf immer verlorenen Heimat.« (RS 350) Die Perspektive auf das eigene Schreiben als Trauerarbeit, die sich selbstreferentiell gestaltet, ist hier dem Ausdruck kollektiver Trauerrituale gewichen. Wenn Bohrer im Anschluss an die aufgeworfene Frage nach der kollektiven Trauerarbeit moniert, dass gegenwärtig kein Langzeitgedächtnis mehr zur Verfügung stünde, das eine Transzendierung der verinnerlichten Lebenszeit ermöglicht und »alles von einer subjektiven Erfahrbarkeit abhängig gemacht«135 wird, so spricht Sebald hier explizit von der Notwendigkeit eines kollektiven, geschichtlichen Rahmens und Raums und kommt somit dem Schritt nach, den Bohrer implizit einfordert. Die Möglichkeit einer Trauerarbeit, die einen geschichtlichen Tiefenraum einbezieht, entscheidet sich nun aber daran, ob Konventionen zur Verfügung stehen, die es erlauben, die Trauerarbeit in einen verbindlichen Rahmen einzuschreiben. Sebalds Zitate der Trauersitten zeugen ebenso von deren Notwendigkeit wie vom Mangel gültiger Trauerrituale, die es erlauben, die individuelle Trauer produktiv in eine kollektive Form zu überführen. Sowohl Sebald als auch Bohrer misstrauen hierbei einer Trauerarbeit, die sich innerhalb des zeitgenössischen soziopolitischen Diskurses vollzieht – für Bohrer ist es ein bundesrepublikanischer, für Sebald wohl eher ein europäischer. Wo weder die »Pathetisierung der Innerlichkeit«136 einen Weg bietet, wie sie notorisch Martin Walser in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit praktizierte und damit laut Bohrer das Scheitern einer historischen so-
134 Ebd., S. 126. 135 Ebd., S. 127. 136 Ebd.
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wie kollektiven Trauerarbeit sinnbildlich verkörpert, noch die politischen Praxen Vertrauen finden, stellt sich das Problem für Sebald mit der Frage nach einem Ort umso dringlicher, als Fundament, der das Schreiben (als Trauerarbeit) legitimiert. Das Modell einer Naturgeschichte dient nun auch hier dazu eben jenen mangelnden Ort des Schreibens zu reflektieren. Legt das Schlusskapitel die Spur zur Trauer, so findet sich dort zugleich die Engführung von Trauer und Naturgeschichte respektive Astrologie. Bevor Sebald den Text mit der Referenz auf Browne und dessen Schrift Pseudodoxica Epidemica mit dem zitierten Hinweis auf die holländische Trauersitte schließt, entwirft er einen Geschichtsdurchlauf, der ebenfalls im Zeichen der Trauer steht, nun aber einer grundsätzlich anderen Verkettungslogik folgt. Anders als die bisher beschriebenen assoziativen und symptomatischen Verknüpfungen, bilden nun Datumskorrespondenzen die Knotenstellen zwischen den Ereignissen und zwar ausgehend von der Fertigstellung der Aufzeichnungen des Textes am 13. April 1995. In der Fluchtlinie der Datumskorrespondenzen, die so unterschiedliche Ereignisse wie das »Edikt von Nantes« von Heinrich IV. vor 397 Jahren, die Uraufführung von Händels »Messias« vor 253 Jahren oder das Massaker von Amistar in Indien zitieren, steht der Tod von Claras Vater: »[W]ie wir noch nicht wußten, ist Gründonnerstag, der 13. April 1995 auch der Tag, an dem Claras Vater [...] aus dem Leben geholt wurde.« (RS 349f.) Unterlag die brownesche Verkettungslogik der Trauer der Gelehrsamkeit des Autors, der sich auf die »Namen aller ihm vorausgegangenen Autoritäten« stützt, während er seine Sätze »labyrinthisch« in »weit ausufernden Metaphern und Analogien« einspannt, so folgt die Datumskorrespondenz Sebalds einer zunächst simplen irrationalen Verkettungslogik. Zwar hat man sich Dank der ständigen Wiederkehr von Korrespondenzen, Astrologie und Aberglaube an die Verweise gewöhnt, trotz allem irritiert die Passage und stellt erneut die Frage nach deren Funktion und Bedeutung – besonders im Kontrast zum epistemologischen Interesse des Textes und von Sebalds Position allgemein. Auf den Einsatz, der mit der Verkettung von Sätzen einhergeht, verweist zunächst Lyotard: »[D]as Denken, die Erkenntnis, [...] die Geschichte, das Sein [steht] von Fall zu Fall an den Nahtstellen zwischen den Sätzen auf dem Spiel.«137 Basiert jede Satzverknüpfung auf einer Entscheidung,
137 Lyotard: Der Widerstreit, S. 11.
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so gibt sie zugleich Aufschluss über die »Integrität des Denkens«. Folgt man diesem Hinweis, stellt sich nochmals dezidiert die Frage, welcher Einsatz den sebaldschen Satzverkettungen zugrunde liegt, die auch hier wiederum über die Seide erschlossen werden. Unter den Opfern des Massakers von Amritsar 1921 vermutet der Erzähler im Seidenbau beschäftigte Arbeiter: »Nicht wenige der damaligen Opfer mögen beschäftigt gewesen sein in dem damals in der Gegend von Amritsar wie in Indien überhaupt auf den einfachsten Grundlagen sich entwickelnden Seidenbau.« (RS 349) Die Schlusspassage nimmt dabei Verknüpfungen vor, die so gewichtige Komplexe wie Trauer, Tod und Massenmord vermittels des astrologischen Rasters zusammenführt. Besonders diese Passage wirft demnach die Frage nach dem Einsatz der »astrologische[n] Kalkulation« (RS 177) auf, die ein – vermeintlich objektives – Verknüpfungssystem an die Hand gibt, das alles mit allem zu verbinden weiß. Nicht zuletzt geht die Frage, inwiefern die Datumskorrespondenz eine Sinnsetzung suggeriert, mit dem Dilemma einher, ob das astrologische Raster eine Nivellierung der Ereignisse nach sich zieht, besonders dort, wo der Massenmord mit dem natürlichen Tod interpoliert wird. Um die Funktion und Bedeutung von Astrologie und Aberglaube zu analysieren, gilt es jedoch den Trauerdiskurs zeitweise zu verlassen. In einem letzten Schritt ist jene Dimension aufzunehmen, die danach fragt, inwiefern der Text selbst – als Statthalter – jenen Ort der Trauer einnimmt. Diese Frage ist jedoch, wie zu zeigen ist, strukturell mit dem Stellenwert der Astrologie verbunden. Mythopoetik: Astrologische Kalkulationen Die Astrologie nimmt in der Literaturgeschichte einen keinesfalls unbedeutenden Platz ein. Barbara Hunfeld zeigt wie der Blick ins All in der Frühmoderne als Reflexionsgegenstand Auskunft über die Reichweite sämtlicher Zeichenprozesse und -ordnungen liefert. In der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts etabliert sich der »nachkopernikanische Himmel als ästhetischer Gegenstand«.138 Autoren wie Jean Paul, Goethe oder Stifter folgen mit ihrem astrologischen Interesse einem semiotischen Paradigma: »Es geht um eine ästhetische Kon-
138 Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter, Tübingen 2004, S. 1.
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stellation, die das Lesen von Zeichen selbst zum Thema hat.«139 Dieser Blick in den Kosmos, der zugleich ein Blick auf den Text und dessen Struktur ist, findet bei Sebald eine Wiederaufnahme. Zunächst lassen sich Astrologie und Aberglaube diesbezüglich an die Überlegungen zur Fälschung der Perspektive in Kapitel 2 anschließen. Sebald stellt dem »starren cartesischen Blick«, der subjekt- und zentralperspektivischen Modellen folgt, mit Thomas Browne alternative Wissens- und Ordnungsmuster gegenüber. Ferner wurden selbstreflexive, narrative Strategien der Perspektive des sebaldschen Erzählers erörtert. Die Problematik ist in beiden Fällen eine ähnliche: Anhand der Perspektive reflektiert Sebald wie die Phänomene zueinander in Beziehung zu setzen sind. Die Referenz auf Descartes ist jedoch in weiterer Hinsicht bedeutsam. Folgt man Foucaults Analyse in Die Ordnung der Dinge, so steht Descartes an der zeitgeschichtlichen Schwelle, wo das »Zeitalter des Ähnlichen [...] im Begriff [ist], sich abzuschließen«.140 »[M]an kann [...] sagen, dass das siebzehnte Jahrhundert das Verschwinden der alten magischen oder abergläubischen Anschauung und den Eintritt der Natur in die wissenschaftliche Ordnung bedeutet.«141 Mit Descartes setzen Die Ringe demnach präzise in jenem wissenschaftsgeschichtlichen Moment ein, der eine moderne, naturwissenschaftliche Betrachtung der Natur inauguriert – und somit einen Schatten voraus wirft auf jene »bald auf immer verlorene[] Heimat« (RS 350), die die Schlussworte von Sebalds Text bilden.142 Mit Astrologie und Aberglaube stellt sich in diesem Zusammenhang konkret die Frage nach einem epistemologischen Ordnungsschema, das es erlaubt, Subjekt und Natur (respektive Kosmos) erneut in ein sinnfälliges Kommunikationsverhältnis zu setzen.143 Die Astro-
139 140 141 142
Ebd. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, S. 83. Ebd., S. 87. Vgl. ferner Sebalds Interviewaussage in Poltronieri: »Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe?«: »Natur ist der Kontext, in den wir ursprünglich hineingehört haben und aus dem wir sukzessive und in rapidem Maße […] evakuiert und vertrieben worden sind.« 143 Vgl. in dieser Hinsicht Rosalind Krauss’ Analyse des Rasters (in Analogie zur Quincunx) in Krauss: Die Originalität der Avantgarde, S. 57: Das Raster »ist eine Struktur, die einen Widerspruch zwischen den Werten der Wissenschaft und jenen des Spiritualismus zuläßt und es diesen Werten damit erlaubt, im Bewusstsein der Moderne [...] fortzuexistieren.«
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logie gibt dabei in funktionaler Hinsicht eine Matrix zur Hand, die eine Verknüpfungslogik vorgibt. Derart vermag Sebald aufgrund der Datumskorrespondenzen sämtliche disparaten Phänomene aus der fernen und nahen Geschichte zu verknüpfen und diese ferner an die eigene Schreibarbeit rückzubinden. Zum anderen referiert die Lehre des Ähnlichen aber eine signifikante Wissensform, die nachhaltig aus dem modernen Wissenschaftsdiskurs ausgeschlossen wurde. Zwar lässt sich dieser zweite Moment in seiner Gewichtung für Die Ringe letztlich nur schwer bewerten. Trotz allem legt die Dramaturgie des Textes – ausgehend von der aufgezeigten Ausweglosigkeit des Erzählers – den Schluss nahe, dass die »astrologischen Kalkulationen« einen signifikanten Moment bilden. Zunächst spricht die erwähnte geistesgeschichtliche Konstellation, die Die Ringe mit Descartes und Browne programmatisch aufsuchen, für diese Deutung. Darüber hinaus forscht der Erzähler aber immer wieder nach einer »geheimen Ordnung«. Den Impuls, »die Vernunft abzulegen« (RS 217), beobachtet er nicht nur an Vorbildern wie Michael Hamburger oder Hölderlin, sondern er übt sich selbst in magischen Denkweisen und zeigt sich empfänglich für übersinnliche Ordnungsmuster. Gleich zu Beginn des Textes merkt der Erzähler an, »es [erscheint] mir jetzt, als ob der alte Aberglaube, dass bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers sich mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundssterns in uns festsetzen, möglicherweise seine Berechtigung hat.« (RS 11) Kurz darauf fragt er, ob »die scheinbare Unordnung [...] in Wahrheit so etwas wie eine vollendete oder doch der Vollendung zustrebende Ordnung darstelle« (RS 19), um wenig später einen Kondensstreifen am Himmel als Omen zu lesen (RS 29). Astrologie und Aberglaube dienen in diesem Zusammenhang wiederholt als positive Bezugsgrößen.144 Wenn Sebald nicht zuletzt davon spricht,
144 Ich unterscheide im Folgenden nicht zwischen Astrologie und Aberglaube, sondern behandele beide als Formen eines esoterischen Wissens. Zum Aberglaube vgl. Sigmund Freud: Zur Psychologie des Alltagslebens. GS IV, Frankfurt a.M., S. 286: »[Ich] glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. Der Abergläubische umgekehrt: er weiß nichts von der Motivierung seiner zufälligen Handlungen und Fehlleistungen, er glaubt, daß es psychische Zufälligkeiten gibt; dafür ist er geneigt, dem äußeren Zufall eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich im realen Geschehen äußern wird, im Zufall ein Ausdrucksmittel für etwas draußen ihm Verborgenes zu sehen.«
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dass die Metaphysik nach wie vor ein legitimes Anliegen darstellt,145 dann darf man auch hier davon ausgehen, dass Die Ringe das esoterische Wissen in signifikanter Funktion zur Disposition stellen. So pflichtet Sebald Gerhard Roth bei, »dass man standhaft an verlorenen Positionen festhält und sich seinen Aberglauben nicht nehmen lässt«, um sich als Verfasser mit Worten Jean Pauls ebenfalls zu seinem eigenen Aberglauben zu bekennen, der froh sei, »in einigem Aberglauben erzogen worden« (UH 161) zu sein. In der Tat leisten Astrologie und Aberglaube als funktionelle und signifikante Ordnungsraster bequem, was als Problem des Erzählers identifiziert wurde. Resultiert die Exilierung von der eigenen Geschichte in einer Legitimationskrise, weil keine Traditionen bereit stehen, um produktiv daran anzuknüpfen, so stellen Astrologie und Aberglaube ein übergeordnetes Schema zur Verfügung. Zugleich tritt das Subjekt erneut in eine sinnfällige Beziehung zur Umwelt. Wenn Sebald ferner wiederholt auf einer Sinnstiftung insistiert, dann bilden die astrologischen Assoziationen das Sediment, aus dem potentiell eine Sinnsetzung erwächst. In Bezug auf Kafka schreibt er, dieser schaffe »irreale Strukturen, die [...] in einen metaphysischen, jenseits der sensorisch erfahrbaren Wirklichkeit liegenden Bereich projiziert werden, damit sich über den dort zurückgeholten Sinn, der defizitäre Haushalt eines aus der Krise entstandenen und auf eine andere Krise zusteuernden Lebens ausgleichen lasse«.146 Lässt sich gerade mit der Astrologie eine ähnliche Bewegung in Die Ringe ausmachen, so gewinnt nun nicht zuletzt das Schreiben erneut an Gewicht. Den zahlreichen Aussagen, die das Schreiben nicht nur hinsichtlich der spezifischen Situation nach ’45 hinterfragen, sondern die Tätigkeit auf einen biologischen oder pathologischen Ursprung reduzieren, steht ein einsamer Satz Sebalds (zur Prosa Gerhard Roths) gegenüber, der Mythologie und Aberglaube als Legitimation des Schreibens reklamiert, weil sie »der Kunst des Schreibens viel von ihrer Würde zurückg[eben]« (UH 161). Obwohl Astrologie und Aberglaube ein Ordnungsgefüge bereitstellen, an dem es dem Erzähler der Erzählkrise strukturell mangelt, muss diese Referenz jedoch verstören. Ebenso erstaunt in diesem Zusam-
145 Vgl. Cuomo: »The Meaning of Coincidence – An interview«. 146 Sebald: »Tiere, Menschen, Maschinen«, S. 194.
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menhang die enthusiastische Rezeption, die Sebalds »Monismus«147 und »Holismus«148 als Errungenschaft preist. Symptomatisch wird hier die erkenntniskritische und poetologische Problematik ausgeblendet, die Sebald verhandelt. Die Lösung kann demnach nicht darin bestehen, dass Sebalds »Koinzidenzpoetik«149 die Rationalität durch die Freilegung »nicht-rationale[r] und halluzinatorische[r] Korrespondenzen«150 ausspielt. Irrationalismus und Esoterik sind als Reaktion auf die Aporien der Moderne hinreichend bekannt – sie bilden aber kaum eine Lösung.151 Irritierend ist der Rückgriff auf irrationale Wissensformen aber vor allem, weil er – scheinbar – in direktem Widerspruch zu Sebalds aufklärerischem Gestus steht (vgl. Kapitel 2). Anders als seine Kritiker reflektiert Sebald die metaphysische Spekulation demnach wiederholt mit Vorbehalten – besonders dort, wo es um das heikle Thema der Geschichtsschreibung geht. In einem Interview merkt er an: »Das ist sicher eine Gefahr in der Beschreibung von Katastrophen: dass die Katastrophe das paradigmatisch Sinnlose ist und dass deshalb die Versuchung besonders akut ist, irgendeinen Sinn aus diesen kataklysmischen Ereignissen zu destillieren. Das halte ich im Prinzip für illegitim, sinnlos, vergeblich – den Versuch also, das in mythische Dimensionen einzuordnen, ganz gleich welcher Art.«152
Man wird der Prosa Sebalds mit der Anerkennung, dass sie auf wunderbare Art und Weise eine Integration leistet, die nochmals alles mit allem zu verknüpfen weiß, demnach nicht gerecht. Wie lässt sich der Widerspruch zwischen Sebalds Insistenz auf einer rationalen Analyse einerseits, seinen irrationalen Spekulationen mit Astrologie und Aberglaube andererseits, jedoch erklären? Folgt man der Hypothese, dass Sebald den Anspruch einer rationalen Analy-
147 McCulloh: »Understanding W.G. Sebald«. 148 Riordan Colin: »Ecocentrism in Sebald’s After Nature«, in: Long u.a. (Hg.), A Critical Companion, S. 45-57. 149 Atze: »Koinzidenz und Intertextualität«, S. 173. 150 Anne Fuchs: »›Phantomspuren‹: Zu W.G. Sebalds Poetik der Erinnerung in Austerlitz«, in: German Life and Letters 56 (2003), S. 281-298, S. 281. 151 Vgl. Priska Pytlik: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn u.a. 2005. 152 Köhler: »Katastrophe mit Zuschauer«.
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se der Geschichte und Gesellschaft ernsthaft stellt, so kehrt gerade der Befund dieser Analyse die Pathologien einer historisch gewachsenen Vernunft hervor, die nun in ihrem Versagen ausgewiesen wird. Jürgen Habermas hatte den Autoren der Dialektik der Aufklärung in diesem Zusammenhang einen »performativen Widerspruch« vorgeworfen, weil sie ihre Kritik an der instrumentellen Vernunft notwendig mit denselben Mitteln (der Ratio) durchführen, die sie pauschal diffamieren.153 Sebald, der gerade in Die Ringe einen ähnlich düsteren globalen Zivilisationsprozess entwirft wie Adorno und Horkheimer, scheint in dieser Situation vermittels Astrologie und Aberglaube einen eigenen Ausweg aus dieser Aporie zu suchen: Die Einsicht in die Entwicklungen und Deformationen der modernen Vernunft führt ihn nun dazu – so der Schluss – deren Parameter zu verlassen. In einer paradoxen Wendung ist es also gerade die rationale Analyse der pathologischen Verfasstheit der Vernunft, die Sebald zum Rückgriff auf irrationale Wissensordnungen veranlasst. Das Dilemma der rationalen Analyse resultiert aber nicht nur aus dem Zirkelschluss, dass die Ratio sich jener Prämissen und Mittel bedienen muss, die sie mit ihrer Kritik in Abrede stellt. Vielmehr steht mit der katastrophischen Bilanz kein Moment mehr zur Verfügung, der einen positiven Gegenpol bilden könnte. Hatte Sebald Döblin vorgeworfen, dass dieser den Untergang, den er beschreibt, zugleich befördert bzw. beschwört, so stellt sich für Sebald die Frage, was er der Naturgeschichte der Zerstörung entgegen stellt. In Döblins Konzeption der Natur als toter Materie lag laut Sebald maßgeblich dessen politischer Fatalismus begründet. Dem gegenüber ist es konsequent, dass Sebald die Natur als »lebendige[] und tote[] Materie« (RS 31, Herv. P.S.) aufruft. Die Natur (als ethische und politische Kategorie) dient derart dazu, gegen die eigene Diagnose des Destruktionszusammenhangs zu opponieren. Sebald setzt diesen Ansatz nun vermittels eines mythopoetischen Schreibentwurfs um. Diese mythopoetische Konzeption, die im Schreiben den »Gedanken einer künstlichen Bewahrung der Schöpfung« (BU 181) zu leisten sucht, gilt es demnach in ihrem strukturellen Stellenwert aufzuzeigen.154
153 Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 144. 154 Vgl. Martin Swales: »Theoretical Reflections on the Work of W.G. Sebald«, in: Long u.a. (Hg.), A Critical Companion, S. 23-30. Finch diskutiert die utopische Dimension des Schreibens in Austerlitz. Vgl. Finch: »›Die Irdische Erfüllung‹«.
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In Die Ringe weist diesen Weg einer Mythopoetik eine »exilierte[] Seidenweberfamilie« aus Frankreich, deren »Musterbücher[] in den Vitrinen des kleinen Museums Strangers Hall« ausliegen. Es handelt sich um Exemplare verschiedener Seidenstoffe, die von »geheimnisvollen Ziffern und Zeichen« (RS 335) flankiert sind. »Bis zum Niedergang der Norwicher Manufaktur gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts lagen diese Musterkataloge, deren Seiten mir immer als Blätter aus dem einzig wahren, von keinem unserer Text- und Bildwerke auch nur annähernd erreichten Buch erschienen sind, in den Kontoren der Importeure überall in Europa.« (RS 337f.) Sebald evoziert mit dem »einzig wahren Buch« in dieser Passage das »absolute Buch« der Romantiker: »for Novalis and Friedrich Schlegel the absolute book was a restorative project; a project which aimed to reinstate the lost unity and totality of religion, science and art as it was simultaneously bible, encyclopedia and novel.«155 Anders als Schmidt-Hannisa argumentiert, der die Musterkataloge als ahistorischen, ästhetizistischen Gegenentwurf zu Sebalds eigener Prosa liest, die in der Folge als »nothing more than illusion and pretty appearance«156 entlarvt werden, bilden sie jedoch gerade eine zentrale Vorlage für Die Ringe. Wie dargelegt, vermag Sebald im Spiegel der Geschichte zwar keine »nach allen Regeln der Kunst abgesicherte Schönheit« (BU 175) mehr zu produzieren. Kurz vor den Musterbüchern werden die »an Foltergestelle oder Käfige erinnernden Webstühle« (RS 334) dargestellt, die einmal mehr den bereits diskutierten Konnex zwischen Ästhetik und (Selbst-)Zerstörung zitieren. Unter diesen Umständen sind weder Schönheit noch Totalität einfach zu haben. Trotz allem versucht der Erzähler auf seiner Wallfahrt genau diesen Weg zu beschreiten, »unterwegs zu einer Utopie der Kunst, in deren Zentrum Kreativität und Restauration zum Gedanken einer künstlichen Bewahrung der Schöpfung zusammentreten« (BU 181). Mit Sebalds selbstkritischer Sicht auf die Verstrickung der Kunst und Literatur in die Gewaltgeschichte der Moderne, kann sich die Kunst nur Eingedenk ihrer Partizipation an der Zerstörung fortschreiben. Aber nicht nur das: Will sie sich in diesem Moment nicht mit dem Untergang gemein machen, muss sie notwendig einen Gegenpol aufzeigen, um dieser Zerstörung zu widerstehen. Der »sinnstiftende[n] Intervention[] des Autors« (UH
155 Schmidt-Hannisa: »Abberation of a Species«, S. 42 (Herv. P.S.). 156 Ebd., S. 43.
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152) kommt demnach eine wesentliche Rolle zu. Wenn Helen Finch in Bezug auf Sebalds Handke-Rezeption argumentiert, Sebald blende die politische Dimension in Handkes utopischer Poetik aus, so trifft Finchs Urteil vielleicht auf Sebalds Handke-Lektüre zu, nicht jedoch auf die utopische Konzeption der eigenen Prosa.157 Im Gegenteil erweist sich gerade die »ins Metaphysische weisende Dimension des Textes« (BU 181), die Sebald im mythopoetischen Entwurf seiner Prosa einzulösen sucht, als ethisch und politisch motivierte Haltung, indem sie sich gegen die allgemeine Naturgeschichte der Zerstörung stellt. In diesem Zusammenhang gewinnt nicht zuletzt der Begriff der Bastelei (bricolage), den Sebald zur Beschreibung seiner eigenen Prosa von Claude Lévi-Strauss entlehnt, seine Bedeutung.158 Die Bastelei legt – als Form einer spekulativen Wissenschaft159 – einmal mehr den Fokus auf die (textuelle) Anordnung und das Gewebe, das der Bastler mit dem Material, das ihm »zur Hand ist«, erstellt: »[D]ie Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen.«160 Die Bastelei bildet eine intellektuelle Tätigkeit, gestaltet sich darüber hinaus aber laut Lévi-Strauss explizit als eine mythopoetische, die aus dem gegebenen, heterogenen Material eine Totalität schafft: »So trägt er [der Bastler, P.S.] dazu bei, ein Ganzes zu bestimmen, das es zu verwirklichen gilt.«161 An dieser Stelle ist nun erneut der Faden der Trauer aufzunehmen. In Referenz auf Bohrer lässt sich soweit argumentieren, dass Sebald mit der mythopoetischen Konzeption, die ihr epistemologisches Ordnungsgefüge in der astrologischen Kalkulation findet, die eigene erkenntnistheoretische Problematik des Textes reflektiert. Wo der Text sich innerhalb einer Naturgeschichte der Zerstörung nicht mehr verorten lässt, ohne selbst ein Moment dieser destruktiven Dynamik zu
157 Vgl. Finch: »›Die Irdische Erfüllung‹«, S. 186ff. 158 Sigrid Löffler: »›Wildes Denken‹. Gespräch mit W.G. Sebald«, in: Loquai (Hg.), W.G. Sebald, S. 136: »Ich arbeite nach dem System der Bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.« 159 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973, S. 29. 160 Ebd., S. 30. 161 Ebd., S. 31.
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werden, sucht Sebald nach einem alternativen Ordnungsgefüge, um den Text dort rückzubinden. An die Stelle der Reflexion über den Verlust der Zeit als uneinholbare Präsenz (Bohrer), tritt damit die Reflexion über den Verlust der Natur als Ort, der das Schreiben ›ursprünglich‹ beheimatet bzw. notwendig beheimaten muss, um es sinnfällig zu gründen. Mit dem Verlust der Natur als Heimat ist jene Kategorie eliminiert, die die Produktionsbedingungen eines versöhnten, affirmativen Kunstschaffens garantiert. Die Natur als (erste) Schöpfung steht hier in einem direkten Wechselverhältnis mit der Kunst als Akt einer (zweiten) Schöpfung. In poetologischer Hinsicht trägt der Text damit dem Umstand Rechnung, dass die Kunst weniger an der Kategorie der Zeit, sondern aufgrund ihrer Heimat- und Ortlosigkeit scheitert. Liest man Leonard-Heidelbergers Sebald-Rezeption, die emphatisch davon spricht, dass »diese ganze Metawelt, halluzinatorisch vernetzt mit der Erzählerbiografie, [sich] verdichtet [...] zu einer magischen Trauermythologie an der der verführte Leser sich berauscht«,162 dann wird auch hier die erkenntnistheoretische Problematik verkannt, die Sebald strukturell verhandelt. Als wüsste der Autor um die Verführungskraft seiner Texte, spricht er sich entschieden gegen die Gefahr des »Melodramatischen« in seiner Prosa aus.163 Die Bilanz der Ringe besteht hingegen darin, dass sie die konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit einer Trauerarbeit in erster Linie als poetologisches Dilemma thematisiert und austrägt. Damit ist zugleich ausgesagt, dass die Trauerarbeit in keinem »Pathos der Innerlichkeit« verharren kann, sei es als »private[s] Gefühl der Beseligung« (BU 176) oder als »Mechanismus der Kunstproduktion zur Beruhigung des Gewissens« (BU 178), indem die Literatur in rezeptionsästhetischer Hinsicht einen einvernehmlichen Pakt mit den Lesern eingeht. Ebenso wenig vertraut Sebald aber einer politischen und institutionellen Erinnerungs- und Trauerarbeit, die unweigerlich in dem Verschuldungszusammenhang verstrickt bleibt, der die destruktive Dynamik der modernen Zivilisation mit begründet und perpetuiert. Auch in dieser Situation bleibt der Literatur nur der Rückbezug auf sich selbst bzw. die Ausflucht auf ein alternatives Ordnungsschema, um die eigene Schreibarbeit dort rückzuversichern.
162 Leonard-Heidelberger: »Melancholie als Widerstand«, S. 12. 163 Vgl. Volker Hage: »Ich fürchte das Melodramatische«, in: Der Spiegel (11), 12.3.2001, S. 233.
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Zusammenfassend eröffnen Die Ringe zugleich eine historische Tiefenperspektive und eine astrologische Überblicksperspektive und überschreiten damit die reine Zeitlichkeit einer poetischen Trauerkonzeption wie sie Bohrer konzipiert. Die Problematik einer literarischen Trauerarbeit stellt sich vielmehr als eine des Orts, d.h. als Verortung und Rückverankerung des Schreibens. Sebald bestimmt in dieser Situation die Natur, bzw. genauer ein sinnfälliges Kommunikationsverhältnis zwischen Natur und Subjekt, als Bedingungsmöglichkeit des Schreibens überhaupt (was wiederum die Voraussetzung für eine literarische Trauerarbeit bildet). Indem Sebald das Schreiben auf sich selbst rückfaltet, buchstabiert er im schreibenden Nachvollzug nochmals diese Prämissen des Schreibens aus. Astrologie und Aberglaube kommt dort eine funktionale und signifikante Bedeutung zu, wo der Text die eigenen Prämissen, die er als Bedingungsmöglichkeit des Schreibens anführt, nicht mehr einzuholen vermag. An diesem Punkt versucht die Prosa vermittels der »astrologischen Kalkulation« einen »metaphysische[n] Augen- und Überblick« zu provozieren, »in welche[m] sich eine zeitlang unser Verhältnis zur Welt verkehrt« (UH 158). Sebald macht die Fortschreibung der Geschichte mit dem Verlust der Natur als Ort künstlerischer Produktion demnach von einem ›objektiven‹ Pol abhängig. Ziel ist eine Verkehrung der Hierarchien zwischen Subjekt und Natur: Wo »die Dinge uns ansehen« (UH 158), wird das Subjekt als subjectum zum Unterworfenen, das sich in die Ordnung der Dinge fügt, anstatt sie zu beherrschen. Mythopoetisch ist dieser Entwurf, weil er auf ein sinnfälliges Kommunikationsverhältnis zwischen Natur und Subjekt spekuliert und in dieser Hinsicht von einem ganzheitlichen, kosmischen Ordnungsgefüge, als wesentliche Bedingungsmöglichkeit einer konstruktiven Fortschreibung der Literatur, ausgeht bzw. eine solche seiner Poetik zugrunde legt.
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3.3 K ERTÉSZ – L IQUIDATION Liquidation ist die Probe auf das vom Autor statuierte Exempel, ob der Roman nach Auschwitz noch eine Zukunft hat. Wurde bereits im vorhergehenden Kapitel analysiert, inwiefern Kertész Auschwitz als Zäsur deutet, die unmittelbar auf die Rolle des Erzählers zurück wirkt, so markiert Liquidation in vielerlei Hinsicht einen Schlusspunkt der »Tetralogie« (vgl. DK 217): Der Roman eines Schicksallosen, Fiasko, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind und Liquidation. Alle Romane verhandeln Auschwitz als inkommensurable Erfahrung und zwar ausgehend vom Dispositiv der Gattung des (bürgerlichen) Romans. In Fiasko, das auf das Debüt folgt, reflektiert Kertész die Schriftstellerei und Romanproduktion innerhalb des ungarischen Kommunismus und damit die materiellen, vor allem aber auch die geistigen Produktionsbedingungen des Schreibens innerhalb der Diktatur: »Das kreative Leben erweist sich als unausweichlicher Fluch, und das Ergebnis ist Scheitern, Fiasko« (DK 140), so kommentiert Kertész den Roman, in dessen Mittelpunkt ein KZ-Überlebender steht. In Kaddisch, ein Text der in seinem Duktus deutlich von Bernhard inspiriert ist,164 rekapituliert der Erzähler, warum er nicht Vater geworden ist.165 So apodiktisch die Absage an die Vaterschaft ausfällt,166 so tritt »der ganze Lebenskreis des Romans nicht über den Kreis der bürgerlichen Welt hinaus. Die Basis dieses Kreises ist Arbeit und Ehe, seine Leitidee die Rationalität, um mit Kierkegaard zu sprechen, umkreist er das ethische Stadium.«167 Liquidation setzt schließlich nach dem Zerfall des Ostblocks ein und verhandelt Auschwitz im Spiegel der neuen so-
164 Vgl. Imre Kertész: Briefe an Eva Haldimann, Reinbek b.H. 2009, S. 35: Kertész schreibt, er sei »beim Schreiben von Kaddisch stark inspiriert, äußerlich, stilistisch« von Bernhards Ja. 165 Liquidation liest sich in vielerlei Hinsicht als Fortsetzung von Kaddisch. Kaddisch setzt mit einem Waldspaziergang des Erzählers und dem Philosophen Dr. Obláth ein. Dr. Obláth taucht erneut in Liquidation auf und zitiert jenen Waldspaziergang (L 24). Trotz allem ist es fraglich, ob der Erzähler in Kaddisch mit B. in Liquidation identisch ist. 166 In das Vaterschaftsmotiv geht zugleich auch ein Autorschaftsbegriff ein. Bei beiden handelt es sich um Autoritätsbegriffe, denen sich der Erzähler in Auseinandersetzung mit Auschwitz verweigert. 167 Sándor Radnóti: »Auschwitz als geistige Existenzform. Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«, in: Szegedy-Maszák u.a. (Hg.), Der lange dunkle Schatten, S. 181-194, S. 188.
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ziohistorischen Situation. Vor allem die drei Romane Roman eines Schicksallosen, Fiasko und Liquidation lassen sich somit im Hinblick auf die politischen und ideologischen Regimewechsel lesen: Nationalsozialismus, Kommunismus und Kapitalismus. Die ernüchternde Diagnose liest sich bereits aus den Titeln ab: Auf die Schicksallosigkeit folgt das Fiasko und schließlich die Liquidation, die u.a. einen Endpunkt der Literatur besiegelt. Im 40-jährigen Rückblick zieht Liquidation ein vernichtendes Fazit über die europäische Geistesgeschichte.168 Der Plot des Romans ist schnell skizziert, auch wenn sich die einfache Handlung durch ihre Selbstbezüge, sowie den geschichtlichen Hintergrund, verkompliziert: Keserű, ein Verlagslektor, rettet den Nachlass seines Schriftstellerfreundes B., der Selbstmord begangen hat und begibt sich anschließend auf die Spur eines »verschwundenen Roman[s]« (L 33). Diesen, so stellt sich heraus, hat Judit, B.s ehemalige Frau, auf dessen Anweisung hin jedoch verbrannt. Dieser verlorene Roman bildet das neuralgische Moment des Textes. Er organisiert nicht nur Keserűs (mitunter detektivische) Recherche, die Schritt um Schritt an den Abgrund führt, der sich erst mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und schließlich mit Auschwitz in seinem Rücken eröffnet. Er zeugt ferner von einer Geschichtslosigkeit, die zugleich das Indiz vom Scheitern der Erzählung ist. Demgemäß formuliert sich die zentrale These des Romans: »dass alle Geschichten zu Ende sind« (L 33). Der Hintergrund der Handlung wird zudem vermittels einer Komödie von B. erzählt, aus der insbesondere zu Beginn z.T. seitenweise zitiert wird. Die Komödie trägt ebenfalls den Titel »Liquidation« und gibt Aufschluss über einige Hintergründe sowie über weitere im Roman beteiligte Figuren: Sára, die Geliebte B.s zum Zeitpunkt seines Todes, und Dr. Obláth, ein Philosoph. Insbesondere nimmt die Komödie aber den Selbstmord B.s – und einige von dessen Begründungszusammenhängen – vorweg. Die Komödie stammt aus B.s Nachlass, beschreibt aber in prophetischem Vorgriff nicht nur B.s Selbstmord, sondern zugleich die Liquidation des staatlichen Verlags, in dem Keserű Lektor und B. Autor ist. Der Titel »Liquidation« bezieht sich demnach
168 Die Position lässt sich freilich nicht mit der des Autors gleichsetzen. In den Briefen lautet ein Fazit im Januar 1990: »Vielleicht ist eine niederdrückende und unterjochende Epoche zu Ende gegangen. 40 Jahre!« Kertész: Briefe an Eva Haldimann, S. 13.
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zugleich auf diese Verlagsauflösung als Bankrotterklärung der Literaturproduktion im Kommunismus und auf B.s Selbstmord, der seinem Leben als morphiumsüchtiger mit einer Überdosis schließlich ein Ende setzt. Es ist nun diese Engführung von Literaturproduktion und Liquidation die im Zentrum des Romans steht. In diesem Sinn lässt sich auch der von Hermann Burger geprägte Neologismus der »Suizidiographie« auf Liquidation anwenden, als die »Darstellung eines Lebens, die sich auf die Kausalketten beschränkt, die letztlich zur Selbstauslöschung führen«.169 Auch bei Kertész unterliegen die Ursachen für den Selbstmord einer strikten Logik: »Allem muss man sich von seiner Eigengesetzlichkeit her nähern« (DK 141), so kommentiert Kertész die Konzeption seiner Romane – die es in Liquidation demgemäß freizulegen gilt. »Suizidiographie« Als Suizidiographie entbehrt der Roman als Kommentar zum Sozialismus und zur Post-Auschwitz-Realität zunächst jeglicher Subtilität. Was im Roman eines Schicksallosen im Durchgang durch Auschwitz noch überraschend offen endete – mit dem jugendlichen Protagonisten, der nach der Befreiung aus Auschwitz stolz das Angebot der Amerikaner in die Vereinigten Staaten zu gehen, um dort zu studieren, ausschlägt, den provokativen Gedanken im Kopf, eines Tages vom Glück der Lager zu berichten –, erhält nun in der 40-jährigen Revision eine düstere Wendung. Der Versuch, die Auschwitz-Erfahrung zur Grundlage eines (neuen) Lebens (in der ›Freiheit‹ des kapitalistischen Systems) zu erklären, ist gescheitert (bzw. er wird gar nicht erst unternommen). Dass Liquidation sein Vorbild auch an der tragischen Figur Jean Amérys nimmt (vgl. DK 181), der seinen ersten und einzigen vollendeten Roman Lefeu oder der Abbruch nach seinem Erscheinen und der Frustration über die unbefriedigende Rezeption zerreißt und wenig später Selbstmord begeht, bildet zwar eine aufschlussreiche Referenz; der Anspruch des Romans lässt sich jedoch nicht auf diese biographische Vorlage verkürzen. Vielmehr zielt Liquidation – wie alle Romane von Kertész – in seiner philosophischen Konzeption auf einen allgemeinen Anspruch, die Zeit, gemäß dem Hegelschen Diktum, in
169 Hermann Burger: Tractatus logico-suicidalis. Über die Selbsttötung, Frankfurt a.M. 1988, S. 19.
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Gedanken zu fassen. Der Titel Liquidation (Felszámolás) fasst den Roman diesbezüglich präzise als Aufrechnung der Geschichte, die zugleich deren Auflösung bedeutet, zusammen: »Ich habe begriffen, dass alle Geschichten zu Ende sind, dass unser aller Geschichte eine unerzählbare ist.« (L 33) Die zeitgeschichtlichen Bezüge sind hierbei vielschichtig. Zwar setzt der Roman 1999 in der postsowjetischen Ära ein und kommentiert mit B.s Selbstmord 1990 unmittelbar den Zerfall des Ostblocks. Trotz allem steht auch in diesem Roman Auschwitz im Mittelpunkt. Zum einen ist der in Birkenau gebürtige B. ein Kind und Überlebender des Holocaust. Zum anderen ist für Kertész, wie in Kapitel 2 darlegt, Auschwitz die Apotheose der modernen Totalitarismen. In Bezug auf seine eigene Erfahrung spricht Kertész ironisch vom Kommunismus als dem verwässerten Nachspiel des faschistischen Totalitarismus. Der Kommunismus dient dem Autor als proustsche Madeleine, die ihm nachträglich das Wesen von Auschwitz und des Totalitarismus’ erst zu verstehen hilft (ES 247).170 Nicht zuletzt ist Liquidation auch in diesem Sinn ein Roman über Auschwitz. Anders als der Roman eines Schicksallosen rekapituliert er die ethische und existenzielle Bedeutung von Auschwitz jedoch aus der Retrospektive – die zugleich eine Aussage über die Zukunft einer Fortschreibung der Literatur und Geschichte trifft. Die Frage nach der Möglichkeit der Integration und Fortschreibung der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und des Holocaust im Speziellen, stellt sich explizit an den genannten historischen Bruchstellen: einmal 1945 mit der Befreiung aus Auschwitz, das andere Mal 1989 mit dem Zerfall des Ostblocks. Bildet Auschwitz die Apotheose des modernen Totalitarismus, so erhofft sich Keserű nach dem Ende des Kommunismus nun Aufschluss über die (existenzielle) Bedeutung der Diktatur von B. Er ahnt, dass die Frage nach der Kontinuität seines Lebens nach dem Zerfall des sozialistischen Regimes ihr konzentriertes Vorspiel in B.s künstlerischer Auseinandersetzung mit Auschwitz findet, als Frage, »ob nach Auschwitz noch sich leben lasse« (ND 355). Geht Keserűs Versuch, die Geschichte B.s zu erzählen, mit dem Anliegen einher, die eigene Geschichte nach dem Zerfall des Totalita170 Die Nivellierung von Nazismus und Sozialismus ist aus historischer Sicht kaum akzeptabel. Auch hier geht es Kertész jedoch nicht um eine historische, sondern um eine ethische Problematik.
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rismus zu verstehen und erzählbar zu machen, so nimmt die allgemeine Frage nach der Möglichkeit der Erzählung des Lebens im Totalitarismus ihr Modell am Schriftsteller B. Dementsprechend gestaltet sich die Motivation von Keserű: »Ich darf nicht vergessen, dass ich die Geschichte B.s erzählen will (wenn auch vielleicht nur, um aus ihr meine eigene Geschichte zu retten).« (L 53) B.s Schicksal‹ kommt hierbei – gerade als Schriftsteller – ein exemplarischer Stellenwert zu: »Mir kam in den Sinn«, resümiert Keserű, »dass allein die Literatur imstande ist, die Kontinuität, die Ungebrochenheit des Lebens wiederherzustellen.« (L 105) Genau diese Frage verhandelt aber der verschollene Roman – das ist zumindest die Hoffnung Keserűs: »Deshalb musste ich nach dem verschwundenen Roman forschen. Weil er vermutlich all das enthalten hat, was ich wissen müsste, was es überhaupt noch zu wissen gibt.« (L 33) Die Suche nach dem verlorenen Roman führt demnach direkt zum Erzähler, der mit B. den paradigmatischen Erzähler von und nach Auschwitz verkörpert. ›Name‹ und ›Pharmakon‹ Auschwitz Sind mit dem verlorenen Roman die Spuren gelegt, denen es zu folgen gilt, so verkompliziert sich die Situation zunächst aufgrund der Erzählkonstellation. Ähnlich wie Bernhard in Auslöschung arbeitet auch Kertész mit einer Verdoppelung der Erzählinstanzen. Gerahmt ist die Erzählung durch einen extradiegetischen Erzähler, der mit Keserű dem »Helden dieser Geschichte, Keserű« (L 9) folgt. Als Rahmenerzählung ist Liquidation ein Roman über einen verlorenen Roman. Gedoppelt sind die Erzählinstanzen insofern, als dass mit der Auslöschungsschrift des verbrannten Romans jedoch ein zweiter – ›eigentlicher‹ –Erzähler ins Spiel kommt. Dies ist B., der in Auschwitz geboren ist; die Tätowierung trägt er auf dem Schenkel. Er ist »der berufene Künstler der Auschwitz-Existenz« (L 121). Folgt man den Werken vom Roman eines Schicksallosen zu Liquidation, so steht auch im späten Text mit B. nach wie vor ein Erzähler der Auschwitz-Existenz im Mittelpunkt. Die narrative Vermittlung ist jedoch durch die Einführung von Keserű als weiterer Instanz problematisiert. Als gerahmte Erzählung findet eine Staffelung und derart eine Verschiebung von einer Innen- zu einer Außenperspektive statt. Der Weg führt den Leser nun nicht mehr vermittels einer Ich-
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Perspektive durch den »anderen Planeten Auschwitz« (bzw. durch die Nach-Auschwitz-Existenz), um dann (wie im Roman eines Schickallosen) die Inkommensurabilität der Lager-Erfahrung als Integrationsproblem auszustellen. Vielmehr hat Kertész mit Keserű die Brücke (weg vom Planeten Auschwitz) überschritten. Liquidation installiert somit vorab eine Außenperspektive, die, ohne die beschriebenen Ambivalenzen Bernhards, hierarchisch fixiert ist. Trotz allem stellt sich auch hier die (Selbst-)Vermittlungsthematik mit der gedoppelten Erzählkonstellation gleich eingangs. Denn der Erzähler, an dem sich die Frage nach der Möglichkeit der Erzählung nach Auschwitz entscheidet, liegt bei B. und dessen Roman – die beide dem narrativen Zugriff entzogen sind. Als Erzähler identifiziert sich B. vollständig mit seiner Herkunft. Augenfällig findet die Identifikation ihren Ausdruck im Namen bzw. der Variation der Kürzel B./Be/Bé.171 Diese – so darf man vermuten – beziehen sich im Roman auf den Geburtsort Birkenau.172 Zwar hat B. noch einen Taufnamen, dieser bleibt jedoch ungenannt. Der Taufname – als Bürge und Garantie der Identität – ist, so darf man weiter vermuten, gewaltsam usurpiert. Die determinierte Identität findet ihr Bild demnach im Namen »B.«. Was Bernd Stiegler über die Funktion der Eigennamen schreibt, trifft auch hier zu: »Individualisierung kann unter bestimmten Bedingungen zur Totalisierung werden.«173 Lässt sich der Bezug des Eigennamens zur Identität nur dialektisch bestimmen – Namen bezeichnen und schaffen zugleich Identität –,174 so pendelt die Dialektik des Eigennamens im Totalitarismus aus: Die Fremdbestimmung ist mit der Zuschreibung des ›fremden‹ Namens B[irkenau] absolut. Verbirgt sich die Identität der Fremdbestimmung im Namen Birkenau, so nimmt B. diesen Namen nun in einer affirmativen Identifizierung an: Zum einen, weil die Suche nach Selbsterkenntnis in diesem Fall identisch mit der Erkenntnis ist, die der Name AuschwitzBirkenau beinhaltet; zum anderen, weil nur so die Möglichkeit besteht, wieder Macht über die Fremdzuschreibung zu gewinnen. »Der Name
171 Fortan verwende ich B. Eine Logik, wann im Roman welches Kürzel verwendet wird, ist nicht erkennbar. 172 Tatsächlich dienten die Buchstaben zur Klassifizierung der Gefangenen. »B« steht hier für politischer Gefangener (Vgl. L 37). 173 Stiegler: Die Aufgabe des Namens, S. 16. 174 Vgl. ebd., S. 12.
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hat somit identitätsstiftende Funktion einzig durch die Erinnerung und das Gedächtnis, genauer durch eine Beziehung zur Sprache selber. Er ist der Ort, an dem das Individuum und die Sprache sich begegnen, wechselseitig durchdringen und an dem mimetische Erfahrung zur Erfahrung der Sprach(geschicht)e wird.«175 Stiftet der Name nach wie vor eine Kontinuität, sei es auch die mit der traumatischen Herkunft, so ist B. auch in diesem Sinn als Doppelgänger von Köves zu lesen. Beide Protagonisten versuchen die Schicksallosigkeit durch die Affirmation der Auschwitz-Erfahrung in ein persönliches, identitätsstiftendes Schicksal zu wenden. In beiden Fällen gilt: Nur wenn es dem Subjekt gelingt, sich die – ›zufällige‹ – Fremdbestimmung als individuelles Schicksal erneut anzueignen, vermag das Individuum sich als Individuum zu begreifen und aus der Ich-losigkeit herauszutreten. Bildet »[d]er Eigennamen [...] immer schon die sprachliche Form des Überlebens«,176 so wird das Überleben zugleich vom Begriff der Identität des Subjekts abhängig gemacht. In diesem Sinn liegt für B. der Schlüssel zu seiner Existenz und Identität in Auschwitz: »Er empfand es so, dass er grundlos geboren und grundlos am Leben geblieben sei und seine Existenz nur dadurch zu legitimieren wäre, wenn er die Chiffre namens Auschwitz entschlüsselte.« (L 121) Von dieser Entschlüsselung hängt zunächst ab, ob das Individuum sich nochmals als solches zu begreifen vermag. Die Annäherung an die fremdbestimmte Identität vollzieht B. existenziell, indem er die Erfahrung von Auschwitz zu reproduzieren sucht. Er ist 1944 im Lager geboren und hat beide Eltern verloren; er erzählt demnach als Augenzeuge, auch wenn er keine unmittelbaren Erinnerungen hat. Für die Ermöglichung und Glaubwürdigkeit des Erzählers ist das jedoch kein Hindernis; oder, um die Aussage zu modifizieren: Das persönliche Erlebnis von Auschwitz qualifiziert den Überlebenden nicht automatisch für die Rolle des Erzählers. Ein Motto von B. stammt von einem Überlebenden, der schreibt: »Und auch die, die selbst dort gewesen sind, kennen Auschwitz nicht. Auschwitz ist ein anderer Planet, und wir, die Menschen, die den Planeten Erde bewohnen, besitzen keinen Schlüssel, um die aus dem Wort Auschwitz bestehende Chiffre zu entschlüsseln.« (L 121) Wie in Kapitel 2 diskutiert, markiert Auschwitz eine Zäsur, die eine qualitativ neue Erfah-
175 Ebd., S. 20. 176 Ebd., S.105.
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rung zeitigt und sich nicht ohne Weiteres erschließt. Vielmehr bedarf es einer Erkenntnisarbeit, die vom Subjekt fordert, rücksichtslos gegen sich selber vorzugehen. Von B. heißt es nun: »Er aber wollte sie [die Chiffre Auschwitz] dennoch entschlüsseln, er hat sein Leben daran gesetzt [...]. Er suchte Auschwitz in seinem eigenen Leben dingfest zu machen, in dem alltäglichen Leben, das er lebte. Er wollte die zerstörerischen Kräfte, den Überlebenszwang, die Mechanismen der Anpassung an sich selber registrieren [...], so wie sich Ärzte früher selbst Gift verabreichten, um dessen Wirkung am eignen Leib zu erproben.« (L 121f.)
Mit der Selbstapplikation des ›Pharmakons‹ Auschwitz verfolgt B. mindestens zwei Strategien. Zum einen − um sich der psychoanalytischen Terminologie zu bedienen − provoziert B. die Aggression, wie sie dem Traumatisierten zuteil wurde. Anders als der Traumatisierte, der die Aggression unbewusst wiederholt, vollzieht B. sie jedoch bewusst, um aus der Erfahrung eine Erkenntnis (des Namens und der Identität) zu gewinnen. Zum anderen leitet sich daraus der Moment der ›existenziellen Bewusstwerdung‹ ab. Diese führt jedoch zu einem tödlichen Wissen, das den Erzähler zu vernichten droht. Es handelt sich um jene Erkenntnis der »Auschwitz-Ebene«, eine Erfahrung, wo »man seine Haltung, seinen Willen verliert, seine Ziele aufgibt, sich selbst verliert« (L 119). Der Leitspruch, der über der abendländischen Geistesgeschichte steht, hat sich mit diesem Wissen, das die Totalitarismen zeitigen, verkehrt. Das Credo der Selbsterkenntnis enthüllt sich nun als Fluch: »Dieses Ich-lose Wesen ist die Katastrophe, das wahre Böse. [...] Man darf nicht in solche Situationen geraten, man darf nicht erfahren, wer man ist« (L 64), resümiert B. – Es ist eine ähnliche Erfahrung, die in milderer Form auch Keserű während seiner Gefangennahme macht: »vor die Alternative gestellt, entweder zusammengeschlagen zu werden oder das Papier zu unterschreiben, hätte ich wahrscheinlich die Unterschrift gewählt« (L 63), schließt Keserű und erkennt, wie leicht er seine ethischen Überzeugungen preiszugeben im Stande ist. Geht es nun darum, gerade dieser destruktiven Erfahrung erneut Herr zu werden, so erfolgt deren existenzielle Aneignung maßgeblich über die Kunst. Der Künstler respektive der Romancier ist die paradigmatische Figur, nicht nur um diese Erfahrung zu konfrontieren, sondern um sie zu transformieren. Historie und Philosophie – im Ro-
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man durch die Figur Dr. Obláths repräsentiert – werden von B. im Vergleich ebenso diskreditiert wie die (Auto-)Biografie: Sie geben beide keinen hinreichenden Aufschluss über die ›Realität‹ der Erfahrung. Die Ausnahme, die der Historiker zum Zweck seiner Geschichtskonstruktion unterschlagen muss, tritt beim Autobiografen nicht aus dem Bannkreis des Besonderen und damit dem Unbedeutenden, Anekdotischen heraus. »Jede einmalige Geschichte ist Kitsch, weil sie sich dem Gesetzmäßigen entzieht.« (DK 150) Legitimation erhält das autobiografische Material allenfalls dort, wo es sinnfällig am allgemeinen Lauf der Geschichte abgeglichen wird.177 An dieser Stelle kristallisiert sich das spezifische Dilemma von B.s Biografie. Keserű urteilt zunächst: »Be hatte wenigstens eine Geschichte, auch wenn diese Geschichte unerzählbar und unbegreiflich war.« (L 33) Das Besondere − nach Adorno die Voraussetzung für die Erzählung (vgl. NL 42) − zeichnet die Geschichte von B. jedoch nicht mehr aus, sondern disqualifiziert sie. B. hat zwar eine biografische Geschichte, aber sie entzieht sich der Erzählung im strengen Sinn. Es ist die Geschichte eines Säuglings, der in Auschwitz geboren ist und überlebt hat. Als solche ist die Geschichte »Kitsch«, »Ausnahme«, »Anekdote« (L 40). Kurz, nach den genannten Prämissen ist sie nicht erzählbar: »Wo hätte die nach dem nicht existenten B. benannte Ausnahme-Erfolgsstory ihren Platz innerhalb der allgemeinen großen Vernichtungsgeschichte?« (L 40) Ironisch kommentiert B. diese »Kitschgeschichte«: »Die Kapos legen ihre Stöcke und Peitschen weg und heben den greinenden Säugling gerührt in die Höhe. Dem SS-Kommissar kommen Tränen in die Augen.« (L 40) Wo das ›Gesetz‹ der Geschichte mit dem Totalitarismus die Auslöschung des Individuums beschreibt, taugt der einzelne, zufällig Überlebende nicht als Vorbild dieser Erzählung. »Jeder einzelne Überlebende zeugt von einer Betriebspanne. Nur die Toten haben recht, sonst niemand.« (DK 151) Mit diesem Verdikt (das auch Primo Levi geltend macht) ist aber die Fortführung von B.s Existenz grundsätzlich in Frage gestellt. Dementsprechend heißt es von B.: »Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst aber gab es noch [...]. Entweder musste er seine Geschichte fortsetzen, was
177 Einmal mehr wird an dieser Stelle deutlich, dass Kertész andere Prämissen als die einer Zeugenschaftsliteratur geltend macht (vgl. Kap. 1, S. 2945). Nicht das individuelle Erleben ist von Belang, sondern das allgemeine Gesetz der Geschichte: »So ist jedes Leben ein Beispiel, und jedes Leben muss als Beispiel gelebt werden« (GT 248).
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sich als unmöglich erwies, oder er musste eine neue Geschichte anfangen, was sich als ebenso unmöglich erwies.« (L 16) Eine Fortführung des Lebens ist unter diesen strikt logischen Prämissen kaum möglich. Ressentiments oder vom Hass auf die Kultur Dieses negative Diktum der Fortführung von Leben und Literatur wird in einem weiteren Schritt durch die Referenz auf Améry und dessen Begriff des Ressentiments gesteigert. Die rationalen Prämissen des Romans, die soweit skizziert wurden, werden an dieser Stelle durch den moralischen Anspruch, der sich im Ressentiment pauschal gegen den Fortlauf der Geschichte nach Auschwitz richtet, überhöht.178 Améry restituiert den Begriff des Ressentiments in Auseinandersetzung mit Nietzsche. Hatte Nietzsche das Ressentiment moralisch als lebensfeindliche Haltung diskreditiert, so rekurriert Améry auf den Begriff als moralischer Kategorie, um dem Schwächeren dort zur Geltung zu verhelfen, wo ihm kein Recht zukommt. Im Ressentiment erhebt das Opfer als Opfer Einspruch. Dabei richtet sich der Protest für Améry in der spezifischen historischen Konstellation maßgeblich gegen den scheinbar ungebrochenen Fortlauf der Geschichte in der westlichen Demokratie, die, entgegen allen Beteuerungen, den Opfern keine Gerechtigkeit zukommen ließ. 179 Diese Ablehnung gegenüber der Kultur, die auch nach Auschwitz keine Heimat für den Überlebenden bereitstellt, referiert Kertész in Bezug auf Améry: »Er fand, wie so viele andere, keinen Ausweg aus der Kultur, er wechselte aus der Kultur nach Auschwitz und von Auschwitz wieder zur Kultur wie von einem Lager in das andere, und die sprachliche und geistige Welt der eigenen Kultur umschloss ihn wie der Stacheldrahtzaun Auschwitz.«180 Prägnant äußert sich hier das Unbehagen und die Wut, dass die dominante Ordnung nach Auschwitz 178 Vgl. DK 181. B. weist ebenso Parallelen zum Ich-Erzähler des KaddischRomans auf; dort findet sich die Version einer Beziehung zwischen B. und Judit aus der Ich-Perspektive. Es ist allerdings fraglich, ob der Kaddisch-Roman als der fehlende Roman in Liquidation gelesen werden kann. Ich gehe dieser Frage hier nicht nach. 179 Die Prämissen, die Améry in seinem Aufsatz ausarbeitet, finden ferner in seinem Roman Lefeu oder der Abbruch einen literarischen Niederschlag. 180 Imre Kertész: »Die Fruchtbarkeit der Negation«, in: Michael Assmann (Hg.), Jahrbuch Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Göttingen 1998, S. 97-99, S. 99.
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dem Opfer keine Legitimation und Heimat zu bieten weiß. Dass es mit dieser Forderung um eine moralische Empörung geht, der letztlich nicht beizukommen ist, geht aus Amérys Erklärung hervor, wenn er argumentiert, dass die zwölf Jahre der Hitlerdiktatur rückgängig gemacht werden müssten, um das Ressentiment zu befriedigen.181 Es liegt auf der Hand, dass dieser Anspruch zu keiner Lösung gelangen kann. Trotz allem äußert sich gerade in dieser Maßlosigkeit die Ohnmacht des Opfers. Im Übertrag auf Liquidation überschreitet das Ressentiment in dieser Hinsicht den rationalen Begründungszusammenhang letztlich und verwischt die klaren Kausalitätslinien im Roman. Der Suizid B.s lässt sich an dieser Stelle sowohl auf das Gesetz der Geschichte respektive Auschwitz zurück führen als auch auf das Ressentiment, dem letztlich – wie schon bei Améry – nur die Selbstdestruktion als angemessene Reaktion erscheint, um den unversöhnlichen Anspruch geltend zu machen. Entsprechend heißt es in B.s Abschiedsbrief an Sára: »Ich muß hier verschwinden, mit allem, was ich – wie soll ich es nur sagen – wie die Pest in mir habe. Ich habe unglaubliche Zerstörungskräfte in mir, die ganz Welt ließe sich mit meinen Ressentiments zerstören.« (L 84, Herv. i.O.)
In Liquidation spielt das Ressentiment zuvor aber in der Beziehung zwischen B. und seiner Frau Judit eine entscheidende Rolle. Zunächst war Judit von B. fasziniert, weil dieser ihr ein Verständnis von Auschwitz eröffnet hat und für die Bedeutung, was es heißt, Jude zu sein. Zum Bruch in der Beziehung kommt es jedoch, als Judit sich gegen B.s Willen entschließt, eine Reise nach Florenz zu unternehmen, zum einen um die neu gewonnene Freiheit zu nutzen, die mit der Entspannung der politischen Situation in Ungarn eintritt, zum anderen um der selbstdestruktiven Existenz mit B. zeitweise zu entgehen. Als Judit B. ihren Entschluss mitteilt, folgt eine bernhardsche Tirade, in der B. seinen Hass auf die westliche Kultur und deren ungebrochener Kontinuität nach Auschwitz äußert. »Er verstehe diesen großen und unverzeihlichen Irrtum nicht, dass ich so tue, als sei die Welt nicht eine Welt von Mördern, und mich hübsch gemütlich darin einrichten wolle. Er verstehe nicht, wie ich mir vorstellen könne, dass Florenz nicht eine Stadt von Mördern sei.« (L 125) Diese Sätze zitieren das besagte Res-
181 Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 125.
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sentiment gegen die Kultur. Die Passage ist aber zudem von Interesse, weil Kertész hier den für den Roman wesentlichen Begriff der Liebe einführt. Die Liebe bildet – potentiell – einen Gegenpol zu Negativität und Ressentiment. Zwar ist B. selbst nicht bereit, das Phänomen der Liebe als Gegenbeweis gegen eine totale Negativität der Welt zu akzeptieren. Genau an diesem Punkt scheitert jedoch die Beziehung zu Judit. Während die Liebe laut B. die Realität verkennt, bildet sie für Judit den Moment, der destruktiven Existenzweise B.s zu entkommen. Zwar widerspricht Judit ihrem Mann in seinem Urteil einer totalen Negativität nicht prinzipiell: »Sicherlich hast du recht«, so schreibt sie in einem Brief, »die Welt ist eine Welt von Mördern.« (L 128) Anders als B. entscheidet sich Judit trotz allem, diese Einsicht nicht zu verabsolutieren: »[A]ber ich will die Welt trotzdem nicht als eine Welt von Mördern sehen, ich will die Welt als einen Ort sehen, an dem man leben kann.« (L 128) Demgemäß entschließt sie sich nicht nur nach Florenz zu gehen, sondern sie trifft dort ihren zukünftigen Mann, mit dem sie später Kinder haben wird. Der Name ihres neuen Liebhabers – Ádam (als der ›erste‹ oder ›neue‹ Mensch) – macht die Polarität zu B. überdeutlich. Judit weist in diesem Kontext einen Weg aus der Destruktivität – auch wenn Judits Wahl für B. ein unzulässiges Geständnis an eine schlechte Realität ist. In Liquidation findet Keserű nun jedenfalls heraus, dass B. den fehlenden Roman tatsächlich geschrieben hat. B. hat das unveröffentlichte Manuskript jedoch verworfen und kurz vor seinem Selbstmord Judit übergeben, mit der Anweisung, dieses zu verbrennen. Judit ist dem Auftrag nachgekommen. Dieser Roman vermag die persönliche Beziehung zwischen B. und Judit derart nochmals zu schildern – beschließt sie jedoch zugleich. Die Leser erhalten nur eine Paraphrase des Inhalts (die Judit in einem Brief an Ádam aufschreibt): »Der Kampf zwischen einem Mann und einer Frau. Anfangs lieben sie sich, später will die Frau ein Kind von dem Mann und das verzeiht er ihr nie. Er unterwirft die Frau verschiedenen Torturen, um ihr Vertrauen in die Welt zu erschüttern […]. Er treibt sie in eine schwere seelische Krise, fast schon bis zum Selbstmord, und als er sich dessen bewußt wird, begeht er selbst Selbstmord anstelle der Frau.« (L 116f.)
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Der Roman verhandelt in etwa die Beziehung zwischen B. und Judit – und greift bereits auf B.s Selbstmord voraus. Die Liebe scheint zwar kurzzeitig ein anderes Schicksal zu ermöglichen, bestätigt aber letztlich nur das unabdingbare Scheitern einer gelungenen individuellen Existenz, spätestens in dem Moment, wo Judit sich mit der Mutterschaft für ›das Leben‹ entscheidet. Dieses Zugeständnis an das Leben, die Kultur und allgemein an die bürgerliche Existenz lehnt B. hingegen vehement ab. Demgemäß heißt es in seinem Abschiedsbrief: »Wirf alles ins Feuer, auf dass es verbrenne, denn durch das Feuer gelangt es dahin, wo es hingehört [...] Meine Vorstellung war unzureichend, meine Mittel haben nicht ausgereicht, und es tröstet mich nicht, dass auch andere die Mittel nicht fanden [...] Dir kommt es zu, diese Schrift zu verbrennen, mit der ich Dir unsere erbarmenswerte und vergängliche Geschichte in die Hände lege.« (L 131, Herv. i.O.)
Der Roman vermag die Sphäre des persönlichen Vermächtnisses zwar zu fassen, aber er übersteigt diese nicht und besiegelt somit die Hinfälligkeit des Romans und Erzählers. Die persönliche Existenz bleibt, ohne dass sie vom Gesetz der Geschichte bestätigt wird, für B. ohne Sinn und damit, wie es im Brief heißt, »erbarmenswert und vergänglich«. Der (verbrannte) Roman erzählt (wie schon B.s Biografie) bestenfalls eine »Anekdote« und »Kitsch«. Im Umkehrschluss erhält dieser Roman (als geschriebener) daher nur in der Verbrennung seine Bestimmung. Nur in diesem Sinn – in seiner tatsächlichen Vernichtung – bildet er den »Geheimbund« zwischen B. und Judit: »Die Erfüllung unserer Beziehung, ihr feierlicher Sinn, ihre Apotheose.« (L 115) Er ist das Zeugnis der radikalen Destruktivität, die jede Form zerstören muss und allenfalls im materiellen Akt der Vernichtung ihren angemessenen Ausdruck findet. Was angesichts dieser Destruktivität zu erzählen bleibt, ist »die Erzählung von der Unmöglichkeit aller Erzählung«.182 Dies kann der verbrannte Roman aber nicht mehr konstruktiv leisten, sondern nur ein Roman über diesen Roman, in dessen Zentrum eine nicht zu schließende oder zu vermittelnde Lücke klafft.
182 Lyotard: Heidegger und »die Juden«, S. 90.
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»Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?« Die Koordinaten der Negation, die die Liquidation von Erzähler und Roman begründen, werden im Roman zudem auf einer weiteren Ebene etabliert und zwar als Gattungsfrage. Dies geschieht zum einen in der Gegenüberstellung von Roman und Drama, zum anderen von Komödie und Tragödie. Ist das Scheitern des Romans zunächst aufgrund der historischen und ethischen Situation festgeschrieben, so ist die Komödie nach wie vor möglich. Weil die Komödie ohne tragische Entwicklung auskommt, die letztlich auf wertstiftenden Kategorien rekurriert, lässt sie sich fortschreiben – etwa als jene Erzählung über die Unmöglichkeit der Erzählung. Weder die Komödie noch die Tragödie werden demnach als formale Gattungskonventionen verhandelt, sondern letztlich – wie zu zeigen ist – in ethisch kodierte Begriffe umgemünzt. Im schriftstellerischen Nachlass B.s – der u.a. der »berufene Übersetzer« (L 65) Thomas Bernhards war – finden sich zwar zahlreiche Dokumente und Schriftformen: »Prosa und Aufzeichnungen, Tagebuchauszüge und Erzählanfänge (nun, und natürlich das Theaterstück, die ›Liquidation‹).« (L 19) Die Hierarchie der Gattungen steht jedoch fest: »Nur gerade das Wesentliche fehlte« (L 19) – es ist jener Roman, der an anderer Stelle auch als »Vollendung« und »Apotheose« (L 76) beschrieben wird. Der Roman (der letztlich der Tragödie zugeschlagen wird) bildet demnach auch die Referenz des Dramas: »›Die Existenzbasis des Theaterstücks [...] ist ein Roman‹.« (L 138) Eine (literaturtheoretische oder -historische) Erörterung dieser aufgestellten Gattungshierarchie erweist sich im hiesigen Kontext als wenig fruchtbar. Trotz allem ist die eingeführte Differenz von Komödie und Tragödie informativ, weil sie das für Kertész zentrale Problem der Wertstiftung aufwirft. Schließt die Diskussion einerseits an die Frage an, inwiefern Auschwitz mit der Hinfälligkeit des humanistischen Weltbilds den Verlust einer ethischen Ordnung darstellt, so erlaubt sie andererseits einen kritischen Blick auf den spezifischen – ästhetischen – Wertbegriff zu werfen, den Kertész in Referenz auf die Tragödie geltend macht. In Liquidation wird das Dilemma der Geschichtslosigkeit im Zuge der Diktatur zunächst gelöst, indem die Erzählung in eine Komödie überführt wird. Dies geschieht zum einen mit B.s Komödie Liquidation, eine »Komödie in drei Akten« (L 12), die den ersten Teil des Romans dominiert. Zum anderen wird aber auch der Roman – zumindest
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tendenziell – in eine Komödie überführt bzw. ist er letztlich als eine solche zu lesen. Diese Spur wird mit Keserűs Reflexionen über die Obdachlosen, die den Roman einleiten und abschließen, gelegt und am Ende des Romans explizit mit der Komödie in Verbindung gebracht. Keserű steht einer neuen Gewohnheit gemäß in seiner Wohnung und blickt hinaus, um die Obdachlosen vor dem Supermarkt zu beobachten: »Keserű war sich darüber im klaren, dass die zwanghafte Beziehung, die sich bei ihm neuerdings, man könnte sagen, ohne sein Wissen und Einverständnis, zu den Obdachlosen entwickelt hatte, etwas Beunruhigendes hatte.« Und weiter heißt es: »Keserű argwöhnte, dass hinter dieser merkwürdigen Leidenschaft irgendein erklärbarer Sinn steckte. Ja, er hatte das Gefühl, wenn es ihm gelänge, diesen Sinn zu begreifen, würde er auch sein Leben besser begreifen.« (L 11) Die Obdachlosen werden nun zum Sinnbild nicht nur von Keserűs Situation, sondern – so die Einsicht am Ende des Romans – zu der der Überlebenden überhaupt: »Es waren Menschen ohne Geschichte.« (L 140, Herv. i.O.) Hier geht es nicht um die biografische Geschichte des Einzelnen, sondern, wie gehabt, um den Selbstbezug des Individuums zu sich selbst in Relation zum Begriff geschichtlicher Erfahrung: »Natürlich wußte er [Keserű] wohl, dass jeder von ihnen [den Obdachlosen, P.S.] eine Geschichte hatte, seine jeweils eigene traurige Geschichte, die ihn bis hierher gebracht hatte; aber Keserű stellte sich vor, dass diese Geschichte, bis sie bis hier angekommen waren, längst ihre Bedeutung verloren hatte (wenn solche Geschichten überhaupt eine Bedeutung haben können).« (L 140)
Kommt der biografischen Geschichte nur dort Bedeutung zu, wo sie an eine dominante Geschichte anknüpft, so orientieren sich die Lebensläufe der Obdachlosen nicht länger sinnfällig am Lauf der geschichtlichen und gesellschaftlichen Normen. Ohne diese Rückbindung an die gesellschaftliche Praxis lassen sich die Charaktere aber nur noch als Komödie darstellen. Ihre »Spiele und Rituale« (L 140) weisen zwar durchaus einen Unterhaltungswert für den am Fenster stehenden Lektor auf, ihre Auftritte zeugen in ihrer reinen Selbstbezüglichkeit der Gesten jedoch von einer transzendentalen Obdachlosigkeit, die jedes geschichtlichen, bedeutsamen Referenzrahmens verlustig gegangen ist: »Allmählich ging ihm [Keserű, P.S.] auf, dass es nichts gab, was diese Menschen dazu brachte, melancholisch zu sein, da sie keine Erinnerungen mehr hatten – sie hatten sie entweder verlo-
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ren oder annulliert –, und so besaßen sie im Grunde genommen keine Vergangenheit; allerdings auch keine Zukunft. Sie lebten in jenem Zustand dauernder Gegenwart […].« (L 140) Was für die Obdachlosen gilt, trifft aber nicht nur auf Keserű und die Existenz im Sozialismus allgemein zu. Es beschreibt letztlich die Situation der Überlebenden nach Auschwitz generell. Nicht nur die Biografie Keserűs ist mit dem Zusammenbruch des Sozialismus an ein Ende gelangt, sondern die Möglichkeit an sich, die persönliche Biografie geschichtlich zu fundieren. In diesem Sinn wird die Fortführung der Existenz arbiträr: »Gehe weiter / Abbrechen« (L 142), so lauten die Schlussworte des Romans, die auf dem Computerbildschirm flackern. Wie das Programm des Computers, das auf einer binären Logik der Ziffern 0 und 1 beruht, mündet letztlich auch der Roman als Prüfstein der Fortschreibung der Existenz in die Ausschließlichkeit einer Ja/Nein Entscheidung, die auf der Ebene der Komödie jedoch gehaltlos bleibt. Innerhalb des »staatlichen Massenschicksals und seinen wimmelnden Zufällen« (GT 123) bleibt die Urteilskompetenz des Individuums folgenlos. Liefert die Komödie in diesem Kontext das Paradigma der Geschichtslosigkeit, so bildet die Tragödie auf der Kehrseite den Maßstab, mit dem sich die Demarkationslinien zwischen Geschichte und Geschichtslosigkeit sowie Sinnstiftung und Sinnlosigkeit nochmals verzeichnen lassen. In Verbindung mit dem Begriff des Schicksals informiert der Begriff der Tragödie bzw. des Tragischen das Schreiben von Kertész von Anfang an. Im Galeerentagebuch heißt es: »Was bezeichne ich als Schicksal? Auf jeden Fall die Möglichkeit der Tragödie.« (GT 17) Im Roman eines Schicksallosen verweigert es Kertész mit der Negation des Schicksals explizit die Leiden im Lager als tragisch zu bezeichnen. »Schicksal, zumal tragisches, gibt es nur, wo die eigene Tätigkeit des Subjekts dessen Unheil hervorbringt.«183 Die Lager-Erfahrung verhindert aber genau diese Möglichkeit, dass sich das Subjekt zu seinem eigenen Tun und dessen Folgen, gerade auch wo es im Unheil mündet, selbstständig verhalten kann, bzw. dass ein verbindlicher Zusammenhang zwischen den Handlungen und deren Folgen besteht. Aber auch B. urteilt noch ganz gleich über seine Existenz: »Wollte ich etwa Tragödie sagen? / Lächerlich.« (L 85, Herv. i.O.)
183 Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt a.M. 2005, S. 22.
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Die These vom ›Tod‹ der Tragödie zirkuliert bereits im 19. Jahrhundert. Was die Beziehung von Tragödie und Auschwitz jedoch angeht, räumt selbst Christoph Menke, der die These, dass die Tragödie in der Moderne laut Hegel »ein Vergangenes« sei, für die Gegenwart zu widerlegen sucht, eine Ausnahme ein. In Referenz auf Kertész merkt er an, dass das System der Lager die Erfahrung des Tragischen ausschließt.184 Wenn Menke von der Gegenwart der Tragödie spricht, macht er demnach, wie Kertész, »die geschichtliche Verfassung unserer Praxis«185 für die Funktionsweise und Aktualität der Tragödie verantwortlich. Die Tragödie zeugt von einem Erfahrungsgehalt, der aufgrund seines Handelns, »das stets auf sein Gelingen aus ist, [...] allein durch sich selbst, daher notwendig, sein Misslingen, dadurch das Unglück des Handelnden hervor[bringt]«.186 Ist diese tragische Ironie einerseits von der gesellschaftlichen Praxis bedingt, so verdankt sie sich andererseits der ästhetischen Form, die sie in der Darstellung als solche überhaupt erst erzeugt. Menkes Ausführungen beschreiben soweit treffend die Konzeption von Kertész – auch wenn Kertész im Unterschied zu Menke die Gegenwart mit und nach Auschwitz zunächst per se als untragisch definiert. Dass Kertész die gegenwärtige Gesellschaft als untragisch auffasst, liegt insbesondere daran, dass er die Tragödie neben ihrer ästhetischen Dimension primär an eine ethische, weniger an eine politische Praxis (wie Menke) rückbindet (auch hier dienen die Obdachlosen als Beispiel). Der Mangel des Tragischen entspricht demnach dem Verlust einer ethischen Ordnung: »If there is no sense of value, there is no tragedy.«187 Ein Wertezerfall wird zwar nicht erst nach ’45 beklagt, trotz allem liegt für Kertész hier der neuralgische Punkt, der es verhindert, Auschwitz als wertstiftendes Ereignis produktiv zu transformieren. »Nicht die Werte sind zusammengebrochen, ihre Brauchbarkeit ist fragwürdig geworden« (GT 51), so beziffert Kertész diesen Verlust einer ethischen Ordnung (vgl. Kapitel 2). Was nun die ästhetische Dimension des Tragischen angeht, so schließt Kertész diese – nach dem Vorbild der Existenzialisten Albert Camus und Jean-Paul Sartre – ins-
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Ebd. (in der Fußnote). Ebd., S. 7. Ebd. Terry Eagleton: Sweet Violence. The Idea of the Tragic, Oxford 2003, S. 215.
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besondere mit dem Roman, weniger mit der griechischen Tragödie, kurz.188 Der Roman ist für die französischen Existenzialisten, und mehr noch für Kertész, die bevorzugte Gattung, die es in ihrer spezifischen Art erlaubt, die Erfahrungen des Individuums nach der Maßgabe eines idealistisch-ästhetischen Entwurfs zu bilden. Im Übertrag von der nicht-ästhetischen zur ästhetischen Erfahrung wird der Lauf des Individuums den »Gesetzen der Fiktion« unterworfen und damit dem Reich der Empirie entzogen. Folgt der Roman einer immanenten Logik, so nimmt er zugleich eine Korrektur an der Wirklichkeit vor. Kertész folgt an dieser Stelle maßgeblich Camus: »Die Einheit in der Kunst erwächst [...] aus der Umformung, die der Künstler dem Wirklichen auferlegt.«189 Als »unerkannte[r] Gesetzgeber der Welt« (ES 44)190 übt der Künstler Widerstand, indem er gegen die Empirie revoltiert. Der Roman bezieht aber nicht nur eine antithetische Position zur Wirklichkeit, sondern er ist ferner das Medium, das das tragische Bewusstsein als solches überhaupt erst hervorbringt. »Was ist der Roman, wenn nicht die Welt, wo die Handlung ihre Form findet, wo die Schlußworte ausgesprochen werden, die Wesen einander ausgeliefert sind, wo jegliches Leben das Gesicht des Schicksals annimmt.«191 Zunächst wurzelt also die Norm von Tragik und Schicksal im Roman. Zugleich produziert der Roman aber überhaupt erst »ein Schicksal nach Maß«.192 Aufgrund dieser Prämissen ist das tragische Bewusstsein allein in der Sphäre des Ästhetischen möglich. Wie sich diese Konzeption – insbesondere in der Relation von ästhetischer und nichtästhetischer Sphäre – vollzieht, zeigt sich erhellend an Sartre und dessen Roman La Nausée. Der Roman und dessen Protagonist Antoine Roquentin bilden nicht nur eine präzise Vorlage für Kertész, sondern sie verweisen zugleich auf die problematischen Prämissen, die Kertész mit dem Existenzialismus beerbt.193
188 Auch hier divergiert Kertész von Menke, indem er den Roman, nicht die Tragödie (bzw. wie Menke die Aufführungspraxis moderner Tragödien) als (primäre) tragische Gattung auffasst. Diese tragische Auffassung des Romans übernimmt Kertész maßgeblich von Camus. 189 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek b.H. 1969, S. 218. 190 Kertész zitiert Shelley, der wiederum von Camus zitiert wird. 191 Camus: Der Mensch in der Revolte, S. 213. 192 Ebd., S. 214. 193 »Meine Wurzeln reichen in den Boden dieses Nachkriegs-Existenzialismus« (GT 111). Kertész bezieht sich hier auf Sartre.
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Der Ekel der Kontingenz: Existenzialistische Einsätze Der Ekel aus dem Jahr 1938 bildet den Schlüsselroman des französischen Existenzialismus. Der Text hält in Tagebuchform die Alltagserfahrungen und Gedanken des Protagonisten und Historikers Antoine Roquentin fest, der in zunehmender Befremdung seiner Umwelt gegenüber darauf stößt, dass der Existenz allein als geistige ihre Wirklichkeit und Bedeutung zukommt. An sich ist die Realität hingegen bedeutungslos: »Alles ist grundlos, dieser Park, diese Stadt und ich selbst.«194 In einer Vision, die zur (geistigen) ›Erweckung‹ des Protagonisten führt, erkennt Roquentin nun, »dass sein Denken der einzige Grund für seine Existenz und die der Welt ist«.195 Hat er bisher als Historiker an einer Biografie über den Marquis de Rollebon gearbeitet und seine eigene Arbeit durch die historische Existenz Rollebons gerechtfertigt, so erkennt er jetzt, dass die Historizität der Ereignisse keine Rechtfertigung darstellt, weder für das historische Objekt (in diesem Fall für Rollebon) noch für ihn selbst. »[N]ie kann ein Existierender die Existenz eines anderen Existierenden rechtfertigen.«196 Vermag die Vergangenheit die Gegenwart nicht zu legitimieren, so gilt es folglich die Gegenwart zum Ausgangspunkt der Existenz zu erklären. Nur weil Roquentin existiert, existiert auch alles andere. Die existenzialistische Prämisse lʼexistence precede lʼ essence – dass die Existenz dem Wesen der Dinge vorgängig ist –, findet sich hier ausbuchstabiert. Damit tritt aber eine Verkehrung der Wirklichkeitsauffassung ein: Wo der Realität ihr Wirklichkeitsgehalt und ihre Bedeutung nicht vermittels der Substanz (oder Geschichtlichkeit) der Dinge zukommt, sondern erst durch das Subjekt und dessen Bewusstsein, trägt das Individuum die Verantwortung für die Dinge. In Der Ekel ist nun Roquentin für Rollebon und dessen historische Existenz verantwortlich. Aber nicht nur das: In letzter Konsequenz ist Roquentin für alles, was auf ihn zukommt, verantwortlich. Darauf verweist Martin Suhr: »Weil sein Denken nicht nur für den Augenblick existiert, hält er auch Vergangenheit und Zukunft in seiner Verantwortung.«197 Der Roman endet mit der Entscheidung Roquentins seine Tätigkeit vom
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Jean-Paul Sartre: Der Ekel, Reinbek b.H. 2003, S. 149. Martin Suhr: Jean Paul Sartre. Zur Einführung, Hamburg 2001, S. 40. Sartre: Der Ekel, S. 199. Ebd., S. 40.
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Historiker zum Künstler zu wechseln. Anstatt einer historischen Biografie nimmt er sich nun vor, einen Roman über Rollebon zu schreiben. Bezieht die historische Biografie ihre – für den Existenzialisten fadenscheinige – Legitimation aus der Vergangenheit (›dass es so war‹), so rechtfertigt sich der Roman allein in der Gegenwart aufgrund dessen, was er erschafft. Weil der Existenzialist die Wirklichkeit nicht substanziell fasst, sondern erst schöpferisch kreieren muss, verkörpert der Künstler die paradigmatische Figur des Existenzialismus. Die kontingenten Ereignisse der empirischen Realität müssen erst – wie im Kunstwerk – zu einer Einheit geformt werden, um eine Kohärenz und Bedeutung zu erlangen, die nun dem Postulat einer (relativen) Notwendigkeit folgen. Gestaltet sich die empirische Realität für den Existenzialisten »absurd«, so ist sein Feindbild in diesem Zusammenhang die Kontingenz. Der Ekel Roquentins ist (im Zuge seiner Konversion) der Ekel vor der unerträglichen Kontingenz der Phänomene, die sich unter dem Blick des Subjekts auflösen. Die bekannte Szene in Der Ekel ist die Betrachtung der Wurzel eines Kastanienbaums, die unter dem Blick Roquentins zur Unkenntlichkeit zerfließt und seinen Ekel provoziert: »[Z]urück blieben monströse und wabbelige Massen, ungeordnet – nackt, von einer erschreckenden und obszönen Nacktheit.«198 – So der Blick auf die Phänomene, die sich in ihrer Alltäglichkeit ›enthüllen‹, ohne das schützende Kleid von Begriffen und Wörtern bereit zu stellen. Im Anbetracht dieser sinnfreien, chaotischen Wirklichkeit, kommt es nun dem Existenzialisten zu, diese Wirklichkeit zu formen und zur Grundlage seiner eigenen Existenz zu machen. Diese existenzialistischen Prämissen finden nun ihre direkte Aufnahme bei Kertész: »Was ist Wirklichkeit? Verkürzt gesagt: wir selbst« (GT 15), so lautet ein frühes Credo des Autors.199 Und an anderer Stelle heißt es, »dass nur eine Wirklichkeit existierte: ich selbst,
198 Sartre: Der Ekel, S. 145. 199 Ähnliches mag Kertész bei Schopenhauer aufgegriffen haben, dessen Gesamtwerk nach eigener Aussage auf dem Bücherregal steht. Vgl. Arthur Schopenhauer: »Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen«, in: ders., Parerga und Paralipomena I, Berlin 2006, S. 201-224, S. 206 (Herv. i.O.): »Denn nicht in der Weltgeschichte, wie die Professorenphilosophie es wähnt, ist Plan und Ganzheit, sondern im Leben des Einzelnen. Die Völker existieren ja bloß in abstracto: die Einzelnen sind das Reale.«
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und dass ich aus dieser einmaligen Wirklichkeit meine einmalige Welt erschaffen musste« (ES 97). Insbesondere im letzten Zitat klingt Roquentins Koversionserlebnis nach, wenn er zur Erkenntnis gelangt, dass die Wirklichkeit an sich sinnfrei ist und es nun in seiner Verantwortung steht, diese zu formen, wobei er zugleich die Referenz dieser selbsterschaffenen Wirklichkeit bildet. Wie für Roquentin ist auch für Kertész hier der Künstler das Modell: »Und dabei habe ich noch nicht von der absurdesten Gestalt gesprochen: dem schöpferischen Menschen.« (ES 132) Zwar reflektiert Kertész – anders als der frühe Sartre – diesen existenzialistischen Entwurf durchaus im Spiegel der Totalitarismen. Während Sartre die Dialektik von Determiniertheit und Freiheit als Kategorien sich selbst als Schicksal zu wählen rein ideell festschreibt, bindet sie Kertész an die historische Erfahrung des Totalitarismus zurück. Damit ist der existenzialistischen Prämisse potentiell eine Grenze gesetzt: Im Lager wird die Wahl sich selbst zu wählen gehaltlos. Das Subjekt ist auf ein Ich-loses Wesen reduziert, das gerade der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung beraubt ist. Dies ändert sich erst mit der Auflösung des Lagers, wenn die (absolute) Determiniertheit ihre »historische Gültigkeit« verloren hat und »von allen geleugnet« (GT 18) wird. Erst in diesem Moment hat Köves tatsächlich die Wahl, diese Geschichte – wie Roquentin – eigenverantwortlich auf sich zu nehmen und zur Grundlage seiner Existenz zu machen. – Es ist die gleiche Problematik mit der B. und Keserű in Liquidation nach dem Zusammenbruch des Sozialismus konfrontiert sind. Im Roman eines Schicksallosen vollzieht Köves genau diesen Schritt nach der Rückkehr aus Auschwitz, indem er diese Erfahrung als Ausgangspunkt seines weiteren Lebens ›frei‹ wählt. Stellt sich die Beziehung von Determiniertheit und Freiheit bei Kertész aufgrund der Fundierung in der historischen Erfahrung ungleich realiter dar als beim frühen Sartre, so nimmt sich der Versuch, die historische Determiniertheit in ein individuelles Schicksal zu verwandeln, m.E. aber umso irritierender aus, wenn Kertész an dieser Stelle Auschwitz zum Ausgangspunkt des individuellen Lebensentwurfs erklärt (und nicht die historische Existenz einer historischen Figur, wie Sartre). »Wie kann er«, Köves, fragt Kertész in diesem Kontext, »ein Schicksal aus der eigenen Determiniertheit gestalten. Diese Determiniertheit lässt sich ja nicht fortsetzen: sie verliert ihre historische Gültigkeit und wird von
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allen geleugnet.« (GT 18) Ebenso irritierend wie paradox liegt das Hauptproblem an dieser Stelle weniger im Eintritt, sondern im Austritt aus dem Lager. Nicht Auschwitz, sondern die Nach-Auschwitz-Existenz bildet das nachhaltige Dilemma. Zwar mag es zunächst plausibel klingen, dass Köves sich verweigert, Auschwitz als zufälliges, episodisches Ereignis zu fassen. Weder ist Auschwitz vorbei (wie der Journalist nahe legt), noch empfiehlt sich das Verdrängen (wie es die Bekannten fordern). Insofern ist Köves’ Insistenz auf seiner Erfahrung nachvollziehbar. Ebenso erscheint die Forderung nach einem kohärenten Lebensentwurf einleuchtend: »Auch ich habe ein gegebenes Schicksal durchlebt. Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt – und ich begriff nicht, warum es ihnen nicht in den Kopf ging, dass ich nun eben etwas damit anfangen, es irgendwo festmachen, irgendwo anfügen mußte, dass es jetzt nicht mehr genügen konnte, mir zu sagen, dass es ein Irrtum, ein Unfall, so eine Art Ausrutscher, oder dass es eventuell gar nicht stattgefunden hat.« (RES 284f.)
Köves ist einerseits daran gelegen, das historische Ereignis konkret und sinnfällig im individuellen Erleben und Bewusstsein zu verankern. Andererseits geht es ihm um einen einheitlichen Lebensentwurf. Die Kontinuität sichert in diesem Fall die Korrelation zwischen der individuellen und der geschichtlichen Erfahrung, indem die individuelle Erfahrung an die geschichtliche rückgebunden wird. Ist an diesem Anliegen – allgemein gefasst – kaum etwas auszusetzen, so ist der philosophische Überbau jedoch fragwürdig, der mit dem Begriff des Schicksals die Verfügungsgewalt über die biografische und historische Vergangenheit ins Subjekt verlagert.200 Dieser Schritt ist umso verstörender, als dass auch hier die Entscheidung, Auschwitz als individuelles Schicksal zu wählen, letztlich von der Überzeugung getragen wird, dass Auschwitz seine Realität und Kohärenz als ästhetischer Lebensentwurf erst im Bewusstsein des Einzelnen zukommt – analog zur Vorlage Roquentins, für den die Geschichte erst in der Überführung von der Historie in die Kunst (und vom Allgemeinen ins Individuelle) an Bedeutung – und Wirklichkeit – gewinnt. 200 Charles Taylor vertritt die Position, dass die Narrativität des individuellen Lebens normativ zu fassen ist. Für Taylor bedeutet das u.a. einen kohärenten, einheitsstiftenden Lebensentwurf, der auch die Kindheit mit einbezieht. Vgl. Charles Taylor: Sources of the Self, Cambridge 1989, S. 51f.
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Ironisch nimmt sich dabei (auch wiederum im Vergleich zu Roquentin) die Furcht von Köves vor einer willkürlichen Realität und Geschichte aus. Kaum ist er dem Lager entronnen, erteilt er dem Zufall eine kategorische Absage. Nach der absoluten Determiniertheit des Lagers mutet nichts unerträglicher an, als die Kontingenz der neuen Freiheit: »Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht«, erklärt Köves kurz nach seiner Befreiung aus dem Lager, »und ich behaupte mit Anstand. [...] Ob sie denn wollten, dass diese ganze Anständigkeit und alle meine vorangegangenen Schritte nun ihren ganzen Sinn verlören.« (RES 284)201 Wie Roquentin erklärt Köves den Zufall zum Übel, der die Erfahrung des Lagers und damit seine Existenz für hinfällig erklären könnte: Auschwitz als »Irrtum«, »Unfall« oder »eine Art Ausrutscher« (RES 284). Natürlich verbirgt sich hinter dieser (streitbaren) Haltung, dass die Kontingenz eine »unhaltbare«, »unerträgliche Betrachtungsweise« (K 91) der menschlichen Existenz darstelle, auch der Vorbehalt, dass mit dem Zugeständnis an den Zufall, Auschwitz zu einem episodischen und damit (potentiell) bedeutungslosen Ereignis erklärt werden könnte. Trotz allem sind die Prämissen, die in diese Konzeption eingehen, wenig ersichtlich. Im Unterschied zur Argumentation von Lyotard oder Kofman, dass Auschwitz per Definition keine Sinnstiftung erfahren kann und darf, insistiert Kertész auf deren Notwendigkeit. Die Alternativen zwischen Notwendigkeit und Kontingenz stellen sich hierbei aber in einer merkwürdigen Ausschließlichkeit dar. Entweder ist alles notwendig und sinnfällig oder gar nichts – analog zum binären Code am Ende des Romans: »Gehe weiter / Abbrechen.« (L 142) In seinem Tagebuch resümiert der Autor demgemäß: »Zufall, das bedeutet größtes Lebensungeschick, vollkommener Bankrott.« (GT 266) Kertész bleibt letztlich einem teleologischen Denken verhaftet, auch dort, wo er es mit Hegel trauernd verabschiedet (vgl. ES 43). Was Terry Eagleton in Bezug auf Hegel schreibt, trifft demnach gleichermaßen auf Kertész zu: »Adversity and affliction in Hegelʼs eyes are not the final point: what matters is the victory of Reason«.202
201 Vgl. erneut Taylor: Sources of the Self, S. 51: »To repudiate my childhood as unredeemable in this sense is to accept a kind of mutilation as a person; it is to fail to meet the full challenge involved in making sense of my life.« 202 Eagleton: Sweet Violence, S. 43.
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»– [O]h Gott! –,« schreibt der Protagonist in Kaddisch, »dass alles mir lediglich als Mittel der Erkenntnis in der Aneinanderreihung meiner Erkenntnisse dient.« (K 93) In dem Maß, wie sich »in der Tatsache names ›Auschwitz‹ [...] der ›Weltgeist‹ realisiert hätte« (K 50), ist die gewonnene Erkenntnis mit Auschwitz in seiner absoluten Negativität zwar unerträglich und unbrauchbar – trotz allem wird der Maßstab einer zwingenden Rationalität nochmals an das Ereignis angelegt. Demgemäß lautet die wiederkehrende Formel der Protagonisten von Kertész »Auschwitz als geistige Existenzform« (K 155) zu begreifen, eine Leistung, die über die Vorlage der Kunst in die Verfügungsgewalt des Subjekts eingeht.203 Diese Konzeption, die das Individuum zum Träger und Produzenten geschichtlichen und ethischen Sinns kürt, stellt nun aber m.E. das größte Problem im Schreiben von Kertész dar. Die existenzialistischen Prämissen buchstabieren sich in der Auseinandersetzung mit Auschwitz in dieser Beziehung zweifelhaft aus. Indem Kertész den Mangel einer ethischen Ordnung über den Begriff der Tragik artikuliert, mündet die Konzeption in einer fragwürdigen Heldenmoral. Dass es sich bei der Konzeption um eine »Elitegeste« (GT 128) handelt, darüber ist sich Kertész mit der Wahl der Terminologie im Klaren: »Das Leben ist nur etwas für wenige. Die Mehrheit weiß nichts anzufangen damit, weiß sozusagen nicht, dass sie
203 Mit Susan Neiman ließe sich die hier verhandelte Problematik auch als eine der Theodizee begreifen. Hannah Arendts Position mit ihrer Wendung von der »Banalität des Bösen« beschriebe hier einen gegenläufigen Ansatz zu dem von Kertész. Anders als Kertész verbindet Arendt die Freiheit mit der Kontingenz, anstatt den Zufall als Fluch zu betrachten – auch wenn damit gerade der »Banalität des Bösen«, die Eichmann verkörpert, ein Spielraum eingeräumt werden muss. Wie Neiman ausführt, bedeutet dies aber gerade nicht, dass die Existenz an sich banal ist, sondern nur der Preis, um den sie verspielt werden kann, ist äußerst gering. Vgl. Susan Neiman: Das Böse denken, Frankfurt a.M. 2006, S. 437ff. Vgl. ferner Hannah Arendt: Ich will verstehen, München u.a. 2006, S. 42: »Man hat vielfach versucht, [...] den Nationalsozialismus in die Tiefen der deutschen oder sogar der allgemein europäischen geistigen Vergangenheit zu verfolgen. Ich halte diese Versuche für falsch und auch für verderblich, weil sie das eigentliche Phänomen, nämlich seine bodenlose Niveaulosigkeit, wegdisputieren. Dass etwas gleichsam aus der Gosse geboren werden kann, ohne allen Tiefgang, und doch Macht über nahezu alle Menschen gewinnt, das ist doch gerade das Furchtbare an dem Phänomen.«
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lebt« (GT 196) – so lautet ein Eintrag im Galeerentagebuch. Mit dem antiken Helden zitiert Kertész ein Vorbild, das die Kompetenz der Urteilsgewalt über die eigenen Handlungen ins (selbstverschuldete) Individuum verlagert. »Der Held der Tragödie ist der sich selbst hervorbringende und zu Fall bringende Mensch. Der Mensch heute jedoch paßt sich nur an.« (GT 8) Die Tragödie dient hier, wie gehabt, als Kriterium, um die geschichtlichen Handlungen vermittels ethisch-ästhetischer Kategorien nach dem Maß individueller Handlungskompetenzen abzuwägen. Problematisch ist die Vorlage, weil Kertész die Tragödie als individualistisch-moralische Kategorie in Anschlag bringt – und nicht etwa als Modell, um nach der gesellschaftlichen Verfassung des Rechts zu fragen, wie es bei Ödipus, als Exempel des tragischen Helden schlechthin, geschieht. Wie Menke nachweist, vollzieht sich Ödipus’ Suche nach Wissen und Selbsterkenntnis in erster Linie im Rahmen gültiger Rechtsformen. Einerseits bringt Ödipus’ Orakeldeutung »die Form rechtlichen Untersuchens und Urteilens hervor«,204 andererseits führt Ödipus’ Urteil zum Zusammenbruch der rechtlichen Konventionen. Kertész verkürzt den Begriff des Tragischen hingegen auf eine ästhetisch-ethische Kategorie, die maßgeblich die Konstitution des Individuums betrifft. Anstatt die totalitären Verhältnisse als politisches Unrecht zu qualifizieren, werden sie bei Kertész zur ontologischen Seinsbedingung des Subjekts. In diesem Kontext ist es nicht unbedeutend, dass Kertész das widerfahrene Unrecht wiederholt als »Schmach« und »Schande«205 bezeichnet – nicht als politisches Unrecht. Ausgehend vom Modell der Tragödie wird das widerfahrene Unrecht durch die Nationalsozialisten, das zur Schande führt, in eine quasi-metaphysische »Schuld« umgemünzt. Erst der Schuldbegriff erlaubt es dem Überlebenden – analog zum Held der Tragödie – seine Handlungen als eigenverantwortliche und damit selbstverschuldete zu begreifen, als Bedingung dafür, das Leben in ein Schicksal zu verwandeln. Indem der Protagonist die unerträgliche Schmach als Schuld fasst und in ein Schicksal wendet, gewinnt er seinen Subjektstatus eigenverantwortlich zurück. Dieses Verhalten zeugt von »wirklicher Größe« (GT 127), aus der sich letztlich ein Wert ermessen ließe. In diesem Sinn ist auch der Roman eines
204 Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 25. 205 Vgl. ES 109, GT 172, IEA 123, L 117ff.
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Schicksallosen ein »stolzes Buch« (GT 65); »Köves ist kein Opfer.« (GT 79) Dieses Modell der Tragödie erweist sich als ästhetischethische Konzeption aber nicht nur in der Auseinandersetzung mit Auschwitz als problematisch. Giorgio Agamben argumentiert (gleichfalls in Reaktion auf Auschwitz), dass der Begriff der Schuld generell der Sphäre des Rechts, nicht der der Ethik angehört: »Schuld und Verantwortung zu übernehmen – was manchmal notwendig sein kann – bedeutet, den Bereich der Ethik zu verlassen, um den des Rechts zu betreten.«206 Agambens Konzeption, die einer langen, dominanten Tradition der Moralphilosophie widerspricht, ist nicht frei von Kritik. In Gegenüberstellung zu Kertész problematisiert die Position Agambens den Entwurf eines ästhetisch-metaphysischen Ethikbegriffs jedoch erhellend. Kertész fasst Schuld und Verantwortung als ästhetisch-ethische bzw. quasi-ontologische Begriffe und verlagert die Urteils- und Handlungskompetenz damit ins Subjekt. Dieser Zug sichert nicht nur die Subjektivität des Subjekts, sondern nimmt zugleich eine Wertstiftung vor, indem das Subjekt als urteilsfähige Instanz restituiert wird. Die Kehrseite dieser Konzeption mündet hingegen in der kaum haltbaren Konsequenz, dass der Einzelne das politische Unrecht der totalitären Regime kompensieren muss. Zwar lassen sich gute Gründe anführen, warum Kertész mit Tragik und Schicksal existenzialphilosophische Prämissen anwendet. Wo das Recht (im Totalitarismus) von einem Unrechtsstaat verwaltet wird, ist das Vertrauen in die staatlichen Verfassungen sowie die Politik kaum mehr gegeben. Kertész bildet seine Begriffe von Schuld und Schicksal in dieser Situation nach ästhetischen Maßstäben, um den politischen und zeithistorischen Kontext zu transzendieren. Ferner geht die Aufwertung, die das Individuum erfährt, damit aber auf Kosten der ›Masse‹. Auch diese Position hat offensichtliche Gründe, die sich zunächst aus existenzialistischen Prämissen ableiten. Die Stigmatisierung des Individuums als ›Herdentier‹ ist für den Existenzialismus konstitutiv. Kertész macht die Masse als Phänomen der Moderne, aber vor allem auch für den Totalitarismus und letztlich für Auschwitz, verantwortlich. Das (existenzialistische) Individuum versucht sich in dieser Situation im Antagonismus zur Massenexistenz zu behaupten. Trotz allem ist die Abwertung der Masse signifikant. Ebenso irritierend wie iro-
206 Agamben: Was von Auschwitz bleibt?, S. 21.
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nisch wiederholt die elitäre Konzeption die Gewalt, die zuvor der Totalitarismus am Individuum verübte. Indem den Einzelnen in der Masse ihr Status als Individuum abgesprochen wird, kommt ihnen per Definition kein Wert zu. Die Nichtachtung des Einzelnen in der Masse hat ihre Kehrseite aber in der Überforderung des existenzialistischen Subjekts, das das fremdbestimmte Schicksal eigenverantwortlich auf sich nehmen muss, um seinen Status als Individuum überhaupt erst zu erlangen. In Auseinandersetzung mit Auschwitz ist dieser Entwurf kaum tragbar. Indem die historische und ethische ›Wirklichkeit‹ als geistige in die Verfügungsgewalt des Subjekts gelegt wird, mit der durchaus monströsen Konsequenz, dass das Individuum genötigt ist, die Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen, muss die Fortführung und -schreibung der Geschichte scheitern. Dass die Protagonisten bei Kertész wiederholt an dieser Projektion zerbrechen, darf demnach nicht weiter verwundern. Die Negation und Liquidation des Erzählers und Subjekts leitet sich trotz allem konsequent aus eben jenen existenzialphilosophischen Prämissen ab. Zwar muss durchaus dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Kertész stellenweise eine polemische Position einnimmt, wenn er sein Schreiben beispielsweise auf die Rache zurück führt. »Vielleicht fing ich an zu schreiben, um an der Welt Rache zu nehmen [...] und um ihr zu entreißen, wovon sie mich ausgeschlossen hat.« (ES 81) Gerade in Liquidation findet diese Haltung in Anlehnung an Améry explizit Eingang. Zudem nimmt Kertész immer wieder eine ›schwache‹ Position ein, indem er vermittels eines ironischen Grundtons die eigene Position unterläuft.207 Die Ironie weicht die logischen Prämissen auf. Trotz allem widerspricht die vorliegende Lektüre der häufig vorgebrachten Äußerung, dass Kertészʼ Position letztlich undogmatisch208 oder frei von Vorurteilen sei.209 Vielmehr konstituiert sich das Schreiben vermittels starker Thesen. Auch dort, wo der ironische Gestus die eigene Position abschwächt, rekurrieren die Argumentationsgänge des Ungarn auf kategorischen Prämissen. Das Scheitern der Erzählung ist in Liquidation demnach diskursiv festgeschrieben. Die Negation nimmt ihr Maß an einem normativen
207 Vgl. Sára Molnár: »Imre Kertész’ Aesthetics of the Holocaust«, in: Vasvári u.a. (Hg.), Imre Kertész and Holocaust Literature, S. 162-181. 208 Vgl. Zagajewski: »Über die Treue«, S. 754. 209 Földényi: »Große Wahrhaftigkeit«, S. 103-115, S. 107f.
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Begriff des Romans, der in verschiedenen Konstellationen analysiert wurde. Während die Rahmenerzählung mit der Suche nach dem verlorenen Roman nochmals einen reflexiven Nachvollzug von der Unmöglichkeit der Erzählung leistet, verbleibt sie als Erzählung allenfalls im Bereich der Komödie. Als Komödie vermag der Roman die Geschichtslosigkeit auszustellen; dieser Roman artikuliert sich aber nicht als Erzählung im strengen Sinn, die eine sinn- und kontinuitätsstiftende Verknüpfung vornimmt, die die individuelle Erfahrung an die geschichtliche Erfahrung rückzubinden wüsste. Mit dem verschwundenen Roman im Inneren des Romans fällt Liquidation letztlich eine düstere Diagnose. Während im Debüt die Fortschreibung der LagerErfahrung noch aus einer radikalen Innenperspektive zur Disposition steht, fällt das retrospektive Fazit in Liquidation negativ aus. Im Roman eines Schickallosen zeichnet sich das Scheitern der Vermittlung zwischen Innen- und Außenperspektive ab – jedoch mit einem offenen Ausgang. In Liquidation hat sich die Perspektive dagegen verkehrt. Nun ist es die Außenperspektive, die an der Vermittlung der Innenperspektive – symbolisiert im verlorenen Roman – zerbricht. Was nach dem postulierten Ende der Erzählung bleibt, ist somit nur ein Erzählen über die Unmöglichkeit des Erzählens. Der Zugang zum ›eigentlichen‹ Erzählen, als Vermittlung von individueller und sinnlicher Erfahrung, bleibt dem Zugriff mit dem verbrannten Roman vorab entzogen. Der Graben zwischen Innen- und Außenperspektiven erweist sich in Liquidation als unüberbrückbar. In diesem Sinn kündet der Selbstmord des Erzählers in Liquidation – soweit – von einem radikalen Scheitern einer Fortschreibung der Geschichte nach Auschwitz. Dass dies jedoch nicht das letzte Wort ist, gilt es im abschließenden Kapitel zu zeigen. Zuvor wird jedoch die Ästhetische Theorie Adornos skizziert, um das Schreiben der Autoren auf der Vorlage von Adornos Entwurf einer negativen Poetik miteinander in Beziehung zu setzen.
4. Fallhöhen des Schreibens Das Land braucht oben viel Platz, damit seine seligen Geister über den Wassern ordentlich schweben können. An manchen Stellen geht es über 1
dreitausend Meter weit hinauf.
Das Interesse an der Negation und Negativität bildet eine Konstante im theoretischen Diskurs des 20. Jahrhunderts. Das gilt auch den gegenläufigen Tendenzen zum Trotz, die verstärkt ab Mitte der 50er Jahre u.a. in Reaktion auf die restriktiven Vorgaben der ästhetischen Moderne mit affirmativen Setzungen vollzogen werden – sei es im Zuge des »›reinen‹ Realismus«,2 der Affirmation des Populären,3 der »Neuen Subjektivität«,4 den Konzeptionen von Mikroerzählungen oder der
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Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten, Reinbek b.H. 1995, S. 7. So beispielsweise Alfred Andersch, der bereits Ende der 40er Jahre in Der Ruf »das knappe, einfache, unreflektierte Erzählen amerikanischer Autoren wie Ernest Hemingway, John Steinbeck« als Vorbild deklariert. Karl Esselborn: »Neubeginn als Programm«, in: Briegleb u.a. (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 12, S. 230-262, S. 233. Vgl. Leslie Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne«, in: Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, S.57-74. Ausführlich analysiert Thomas Hecken die Differenz zwischen »avancierter« und »populärer« Kunst, die anfangs (unter verkehrten Vorzeichen) einem gleichen Werteschema folgt. Zur Genese des Konzepts und der Terminologie in den 60ern vgl. Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld 2009, S. 51-60. Vgl. Herman Schlösser: »Subjektivität und Autobiographie«, in: Briegleb u.a. (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 12, S.
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Pluralität.5 In seiner Studie Der Roman spricht Christoph Bode in der Retrospektive, die zugleich eine Zukunft des Romans entwirft, diesbezüglich von einem »ästhetisch frei geschalteten Roman«, der »gerade keine kohärente Illusion mehr bieten muss und keiner ProgrammÄsthetik gehorcht, weil er auf alle vorgängigen Ästhetiken freien, spielerischen, damit aber auch: ästhetisch-distanzierenden Zugriff hat«.6 Entgegen diesen Gesten der Affirmation lässt sich jedoch mehr oder weniger zeitgleich ein theoretisches Interesse verzeichnen, das sich auf die Negation und Negativität konzentriert. »During the last two decades«, schreiben Sanford Budick und Wolfgang Iser in ihrem 1989 erschienen Sammelband Languages of the Unsayable. The Play of Negativity in Literature and Literary Theory, »most of us have grown accustomed to recognizing the negative gestures that seem to be implicit in virtually all poetic, philosophical, and even historiographical language.«7 Mit dem Begriff des Unsagbaren schließen die Beiträge zum einen an die ästhetische Moderne an und diskutieren Autoren wie Blake, Baudelaire oder Beckett. Zum anderen verdankt sich der Band aber dem Unternehmen des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion. Der Poststrukturalismus und bestimmte Strömungen der Postmoderne kommen als Strategien darin überein, dass sie auf die konstitutive Bedingung und Funktion der Negation und Negativität hinsichtlich von Sprache, Texten und Repräsentationsformen verweisen. »It is a pre-originary negativity that lies beyond the bounds of what may be conceived of as originary, if such a thing can even be thought or spoken. Such a pre-originary negativity is the eventhorizon, the disruptive singularity, through which the word must pass.«8 Negation und Negativität bilden gemäß diesem Ansatz, der von
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404-423, S. 410. Schlösser datiert die »neue Subjektivität« auf den Anfang der 70er Jahre. Nach dem Ende der großen Erzählungen fordert (der frühe) Lyotard: »vervielfachen wir also die Mikrologien«. Jean-Françoise Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 7. Auch bei Eco wird wieder alles möglich, insofern es »mit Ironie, ohne Unschuld« geschieht. Umberto Eco: Nachschrift zum »Namen der Rose«, München 1986, S. 78. Bode: Der Roman, S. 322. Sanford Budick/Wolfgang Iser (Hg.): Languages of the Unsayable. The Play of Negativity in Literature and Literary Theory, New York u.a. 1989, S. xi. Daniel Fischlin: »Introduction«, in: ders. (Hg.), Negation, Critical Theory, and Postmodern Textuality, Dordrecht u.a. 1994. S. 1-37, S. 3 (Herv. P.S.).
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einer zur Sprache vorgängigen Negativität ausgeht, die Bedingung für sämtliche Sprechakte und Repräsentationsprozesse. Dies geht in den poststrukturalistischen Negationstheorien mit dem Befund einher, dass Präsenz letztlich nicht zu haben ist. Derrida spricht von der Negativität als Form einer Abwesenheit, die sich allein »als irreduzible Abwesenheit in der Anwesenheit der Spur gegenwärtigt«.9 Daniel Fischlin konstatiert im Anschluss der Postmoderne an die Moderne in diesem Zusammenhang eine gesteigerte »Nostalgie am Negativen« – »an attempt to identify the theoretical ›space‹ of the negative«.10 Die Vertreter der Postmoderne, die Fischlin im Horizont des Poststrukturalismus diskutiert, interessieren sich zum einen für formale Operationen der Negation, die sich in Texten ereignen. »Literature in its postmodern critical incarnation entails a ›tracing‹ of the conjunction between what is affirmed and what is negated, what is spoken (expressible) and what is left unspoken (unexpressible).«11 Zum anderen formuliert sich der Diskurs als Kritik okzidentaler Rationalitätskonzepte. »Such a critical reevaluation profoundly implicates notions of silence, nothingness, voicelessness, inexpressibility, and negation, in the pursuit – and (de)construction – of the rational.«12 Besonders mit der Vernunftkritik referiert der Negativitätsdiskurs unwillkürlich auf ontologische und quasi-ontologische Fragestellungen.13 Oder, um diesen Sachverhalt anders zu formulieren: Indem die poststrukturalistischen Negationskonzepte die linguistische Struktur des Subjekts und der Rationalität problematisieren, rücken mit der Befragung struktureller ›Grenzen‹ der Sprache zugleich ontologische Problemstellungen in den Blick (wie die zitierte Wendung einer prälinguistischen Negativität
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Derrida: Grammatologie, S. 82. Derridas Konzeption der Spur ist von Dieter Mersch luzide kritisiert worden. Dieter Mersch: »Spur und Präsenz. Zur ›Dekonstruktion‹ der Dekonstruktion«, in: S. Strätling/G. Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift, Würzburg 2006, S. 21-39. Fischlin: »Introduction«, S. 2. Ebd., S. 4. Ebd., S. 1. Für Derrida bilden der Text und die Sprache jenes Feld und Medium, das den (negativen) Horizont der Transzendenz eröffnet. Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989, S. 48: »Der Name Gottes (ich sage nicht Gott, doch wie vermeiden, hier Gott zu sagen, sobald ich den Namen Gottes sage?) läßt sich nicht anders sagen als in der Modalität dieser geheimen absprechenden Verneinung: ich will vor allem dies nicht sagen.«
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zeigt). Die Sprache erweist sich (ausgehend von der Prämisse der Fülle und Präsenz) typischerweise als mangelhaft, bildet aufgrund ihrer defizitären Struktur zugleich aber die Bedingung einer – linguistisch bedingten – Transzendenz. Zwar lassen sich die negative Ästhetik Adornos sowie die negativen Poetiken der Autoren Bernhard, Sebald und Kertész, wie sie soweit implizit und explizit beschrieben wurden, in Beziehung zu diesen Problemstellungen setzen.14 Wie bereits in Kapitel 1 angedeutet, fragt beispielsweise Kertész nach einer linguistisch strukturierten Transzendenz. Seine Wendung von Gott als Sprachproblem unterhält durchaus Affinitäten zu Derridas Reflexionen über die negative Theologie – auch wenn Kertész wohl anders als Derrida darüber hinaus an einer transzendentalen Bestimmung des Subjekts gelegen ist. Gleichfalls spricht aber auch Derrida vom (freilich unaussprechlichen) »Geheimnis« und der »Spur« in der symbolischen Ordnung, die er mit dem Namen Gottes und einem Begriff dessen, was es heißt, als Mensch ein mit Sprache begabtes Wesen zu sein, in Verbindung bringt.15 Trotz diesen Konvergenzen dient die Kontextualisierung an dieser Stelle jedoch maßgeblich zur Abgrenzung. Ohne die Affinitäten und Differenzen der Negationskonzepte selbst zum Thema zu machen, dienen (Negations-)Begriffe wie sie mit dem Schweigen, dem Nichts, der Stimmlosigkeit und dem Unsagbaren formuliert werden vorab, um den hier vertretenen Ansatz einer negativen Poetik zu kontrastieren. Im Gegenzug gilt das Interesse auch hier der Negation als Geste, die auf destruktive soziohistorische Prozesse reagiert. Wo »die Möglichkeit, sich als Subjekt zu bilden, wirklich gegen Null tendier[t]«16 und zwar weniger als Folge theoretischer Konzeptionen, sondern aufgrund historischer und soziokultureller Verläufe, erhält die Frage nach der Negativität und Negation aber eine andere Ausrichtung. Im Gegenteil ist es weniger die der Sprache inhärente Negativität, die mit der negativen Poetik wiederholt in den Blick gerät, als vielmehr ein nicht auszulöschender Positivismus. Dieser gehört der Sprache, ähnlich wie die Negativität, formal an. Dies gilt insbesondere auch für die Sprache als Kommunikationsmittel. Auf diesen assertori-
14 Ein Beitrag in Budick/Iser: Languages of the Unsayable widmet sich Adorno. Daniel Fischlin erwähnt Adorno ebenfalls; ein Aufsatz in seinem Band verhandelt ferner Bernhard. 15 Vgl. Derrida: Wie nicht sprechen, S. 32f u. 48. 16 Böhme: Natur und Subjekt, S. 7.
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schen Moment der Sprache verweist Barthes, wenn er konstatiert, dass »der Diskurs [des ›Negativen‹, P.S.] trotz seiner intendierten Negativität als Bejahung vereinnahmt zu werden droht«. »Dieses ›Negative‹ wird unaufhörlich ins Positive ›umgepolt‹, sobald man zu sprechen anfängt.«17 Barthes Anmerkungen artikulieren ausgehend von einem der Sprache inhärenten Positivismus erhellend die strukturelle Problematik einer jeden negativen Poetik, die stets benennen muss, was sie zu negieren sucht. Nicht zuletzt in der öffentlichen Arena läuft sie damit aber Gefahr, gegen ihren Willen vereinnahmt zu werden. Diese Problematik kam bereits auf verschiedene Art und Weise zur Sprache: Sei es Bernhard respektive Murau, der sich der öffentlichen Kampfarena der Sprache aussetzt, Sebald der analysiert wie Autoren trotz gesuchter Distanznahme zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung dieser das Wort sprechen oder Kertész, der mit der Terminologie einer tonalen und atonalen Sprache darauf hinweist, dass die negative Erfahrung innerhalb des dominanten Sprachgebrauchs vereinnahmt wird, bzw. dieser keine identitätsstiftende Wirkmacht zukommt. Alle diese Momente zeugen demnach von der Einsicht, dass die Sprache – und mit der Sprache das Subjekt – wider Willen von einem dominanten Sprachgebrauch konditioniert und beherrscht wird, gegen den es sich folglich zu wehren gilt. Über die konkreten Begründungszusammenhänge und Konzeptionen einer derart ausgerichteten negativen Poetik, die als Vorlage für einen abschließenden Vergleich der Autoren dient, gibt zunächst aber Adorno Aufschluss.
4.1 V ERWEILEN
BEIM
N EGATIVEN
Die negative Ästhetik Adornos bildet die Vorlage, um die Modalitäten der Negation in Bezug auf die Autoren abschließend zu beschreiben. Dabei ist der Rahmen der Ästhetik zunächst insofern zu überschreiten, als dass Adorno die Negation nicht nur auf die Kunst und Ästhetik anwendet, sondern sie mit seiner Negative[n] Dialektik zum Modus der Philosophie und des Denkens schlechthin kürt. Der Negation kommen hierbei wesentlich zwei Funktionen zu: Erstens leistet sie eine Kritik, die zweitens Widerstand impliziert, als »Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte« sowie die »Auflehnung gegen die Zumutung jedes Unmittelbaren, ihm sich zu beugen« (ND 28). Was die Ablehnung gegen die
17 Roland Barthes: Das Neutrum, Frankfurt a.M. 2005, S. 91-92.
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gegenwärtigen Zustände betrifft, so »wird kein kritisches Urteil über rechtliche, politische, moralische oder historische Aspekte im Einzelnen gefällt, sondern der bestehende Zustand insgesamt als falsch charakterisiert«.18 Die Negativität beruht demnach auf der sozialen Realität in ihrem Gesamtzusammenhang. Adorno opponiert gegen die bestehenden Verhältnisse an sich, mit der Konsequenz, dass auch die Philosophie selbst angegriffen und in Zweifel gezogen wird. Das philosophische Denken gestaltet sich nun aporetisch: »[D]as zerbombte Bewusstsein [hat] keinen Ort [...] mehr« (NL 286), von dem aus es die geschichtlichen Ereignisse unbeschadet reflektieren könnte. Im Folgenden sollen maßgeblich drei diskursive Ebenen der Negation differenziert werden. Den Ausgangspunkt bildet die Negativität als Dispositiv philosophischen Denkens, das einerseits in einer philosophischen Tradition steht, andererseits aber auf eine soziohistorische Situation antwortet, die für Adorno mit der Erfahrung des Nationalsozialismus und Kapitalismus ihre zeit- und soziohistorische Prägung erfährt, auf die jede zeitgenössische philosophische Anstrengung eingehen ›muss‹. Die Postulate der Philosophie überträgt Adorno ferner auf das Feld der Kunst und Ästhetik. Ist die Kunst, ähnlich wie die Philosophie, von einer Legitimationskrise betroffen, so bringt sie nicht nur die Aporien der Spätmoderne zum Ausdruck, sondern sie steht zugleich für einen besonderen – ästhetischen – Erfahrungs- und Wahrheitsbegriff ein. Die Negativität beschreibt in diesem Zusammenhang sowohl die antithetische Stellung der Kunst zur Gesellschaft als auch ihre formale Beschaffenheit. In einem letzten Schritt sollen schließlich »konkrete Verfahrungsweisen« (ND 10) der ästhetischen Negation skizziert werden: »Denn auf der Ebene der Technik und der Schrift ist Negativität ohne konkrete Verfahren nicht vorstellbar.«19 Beschreiben die ersten beiden Aspekte einige Begründungszusammenhänge und Prämissen der negativen Ästhetik, so geht es im dritten Punkt weniger um die Herleitung, als um den Vollzug der Negation im Werk – und damit um eine Folie, die zum Schreiben der Autoren überleitet. Vorab ist jedoch der Begriff der Negation bzw. der Negativität zu klären.
18 Rüdiger Bubner: »Adornos Negative Dialektik«, in: L. Friedeburg/J. Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a.M. 1983, S. 35-40, S. 37. 19 Peter Zima: Ästhetische Negation, Würzburg 2005, S. 120.
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Zum Begriff der Negativität Während bisher hauptsächlich der Begriff der Negation verwendet wurde, spricht Adorno meist vom Negativen bzw. der Negativität. Michael Theunissen verweist auf die Doppeldeutigkeit der Wortverwendung von ›negativ‹: »Wir sprechen von Positivem und Negativem zum einen in Hinblick auf den Unterschied von Sein und Nichtsein, zum anderen mit Rücksicht auf den von Sollen und Nichtsollen.«20 Das Nichtseiende ist demnach vom Nichtseinsollenden zu unterscheiden. »Dort ist das Negative einem Positiven entgegengesetzt, in dessen Begriff das ponere, über die subjektive Setzung hinaus, bloß Sein als objektives Gesetztsein meint. Hier bildet es den Gegensatz zu einem Positiven, in dem zum ponere ein affirmare hinzukommt; es opponiert also eigentlich dem Affirmativen, durch Einverständnis Affirmierten.«21 Im Gegensatz zur Negationstheorie der philosophischen Tradition, die sich maßgeblich mit dem ersten, ontologischen Begriff der Negativität befasst, zielt Adornos Denken auf den zweiten Moment. Die Negativität formuliert sich hier maßgeblich als sozialer Negativismus. Als Beispiel dieser Negativität dient der für Adorno zentrale Begriff des Identitätszwangs, den er »im einfachsten Sinn negativ« (ND 146) nennt. Damit lässt sich Adornos Position aber keinesfalls einem Nihilismus oder Pessimismus zuschlagen. Vielmehr versteht die Negative Dialektik sich als Kritik an der Gesellschaft; zugleich (bzw. zuerst) leistet sie aber eine Selbstkritik der Philosophie. Dies führt zum ersten Punkt: zur Beziehung von Philosophie und Negativität. Negative Bestimmungen der Philosophie Der Begriff der Negativität ist zwar keineswegs neu, erhält mit Adorno jedoch erneut Prominenz und ist vor allem als Reaktion auf den zeithistorischen Kontext zu lesen. In der Spätmoderne zeichnet sich eine totalisierende Dynamik ab, die gemäß dem »allherrschende[n] Identitätsprinzip«22 zur Auslöschung von Differenz und damit von Identität und Partikularität führt. Besorgniserregend ist diese Entwicklung, weil 20 Michael Theunissen: »Negativität bei Adorno«, in: Friedeburg u.a (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, S. 41-65, S. 41. 21 Ebd., S. 41. 22 Theodor W. Adorno: »Gesellschaft«, in: ders., GS Bd. 8, Frankfurt a.M. 1980, S. 9-19, S. 13.
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sie sich gemäß der These von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung konsequent aus dem Projekt der Aufklärung ableitet. »Im Siegeszug der Aufklärung gewahren Horkheimer und Adorno deren Gegenteil. Vernunft wird zum Herrschaftsmittel. Wissenschaftliche Rationalität wird zum starren, geschlossenen System, dem alles subsumiert werden soll, ob es hineinpasst oder nicht, dem höchsten, vorstellbaren Maß an Destruktivität, dem Krieg und der industriell organisierten, massenhaften Vernichtung von Menschen.«23 Hat sich im 20. Jahrhundert die Destruktion als die fatale Kehrseite der Aufklärung manifestiert, so führen die Autoren den Nachweis, dass es keinen natürlichen Ausweg aus der Dialektik von Fortschritt und Regression gibt, »weil der Schauplatz dieser Dialektik die menschliche Subjektivität selbst ist; im Subjektwerden der Menschen ist auf eine dialektisch verhexte Weise schon die Abschaffung des Menschen angelegt.«24 Verantwortlich für diesen Prozess zeichnet maßgeblich eine Form instrumenteller Rationalität, die als Mittel der Naturbeherrschung und zur Selbsterhaltung unwillkürlich zum Herrschaftsprinzip des Menschen über sich selbst – und die Natur – wird. Die Kritik instrumenteller Rationalität »beschreibt in Adornos Gedankenwelt das Urmodell einer Aporie«,25 die auch der Ästhetische[n] Theorie eingeschrieben ist. Es ist hier nicht der Ort, um darauf einzugehen, inwiefern Adorno und Horkheimer mit ihrer Kritik den okzidentalen Rationalitätsbegriff nivellieren26 oder auch jene Momente aus ihrer Gesellschaftstheorie ausschließen, die als Korrektiv einer Pathologie der Vernunft dienen könnten.27 Vielmehr geht es in erster Linie um den Tatbestand, dass die Frankfurter Theoretiker die Geschichte bewusst von ihrer dunkelsten Seite her schreiben. In der Negativen Dialektik bringt Adorno diesen Ansatz auf eine bekannte Formel: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.« (ND 314) 23 Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno. Zur Einführung, Hamburg 1996, S. 42. 24 Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Essays und Vorträge, Frankfurt a.M. 1983, S. 141. 25 Martin Asiáin: Theodor W. Adornos: Dialektik des Aporetischen, Freiburg u.a. 1996, S. xx. 26 Vgl. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 135ff. 27 Vgl. Axel Honneth: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1989, S. 70ff.
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Indem die Autoren die pathologischen Entwicklungen der Moderne auf diese Art und Weise mit der Ausformung gesellschaftlicher Rationalität kurzschließen, wird zwangsläufig auch der eigene, philosophische Standort angegriffen. Adornos negative Dialektik sucht sich genau dieser Herausforderung zu stellen. Der Titel der Negativen Dialektik beerbt in dieser Beziehung zwar den Begriff der Negation von Hegel bis Marx, erteilt jedoch gerade der Hegelschen Dialektik und dessen Negationsbegriff eine Absage. Anders als Hegel und Marx insistiert Adorno auf einer Negativität der Realität, der das Prinzip der Versöhnung nicht bereits als Telos eingeschrieben ist. »Die Wirklichkeit ist nicht letztlich – im Wesentlichen und im ganzen – versöhnt und nur in ihrem faktischen, gegenwärtigen Zustand defizient.«28 Vielmehr erscheint die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit unter dem Bann des Falschen. Adorno verweigert sich, das Negative von einem ausstehenden Positiven, versöhnten Zustand her zu deuten. Wo Leid und Entfremdung bei Hegel und Marx auf einer Grundlage der Versöhnung gedacht werden, steht bei Adorno die Unversöhnlichkeit. Nichts garantiert, dass sich die Dinge zum Besseren wenden. Die negative Dialektik hält zwar (als Dialektik) letztlich an einem Gegenbegriff des Positiven fest; sie verweigert sich jedoch, diese dialektische Denkbewegung in der Spekulation auf ein besseres Ende hin aufgehen zu lassen, die dem Lauf der Dinge immanent wäre. In diesem Sinn problematisiert die negative Dialektik als Negationstheorie die Beziehung und den Übergang vom Negativen zum Positiven. Ohne die Stellung und Rolle der Philosophie weiter zu erörtern, ist in der Überleitung zur Kunst und Ästhetik von Interesse, dass Adorno die aporetische Konstellation der Philosophie – sowohl in Reflexion auf ihre eigenen strukturellen Prämissen als auch in Reaktion auf die Sozialkritik –, mit der Kunst verknüpft. »Kunst und Philosophie sind für Adorno notwendig aufeinander verwiesen; erst im Zusammenspiel beider wird ermöglicht, was die gesellschaftliche Entwicklung zunehmend verwehrt: eine nicht restringierte Erkenntnis.«29 Die Kunst ist jener Moment, der das Defizit der Philosophie als begriffliches Den-
28 Emil Angehrn: »Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno«, in: Kohler u.a. (Hg.), Wozu Adorno?, S. 267-291, S. 267. 29 Martin Lüdke: »Anmerkungen zu einer ›Logik des Zerfalls‹«: Adorno – Beckett, Frankfurt a.M. 1981, S. 11.
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ken aufzubrechen weiß – während die Kunst als begriffslose zugleich darauf angewiesen ist, von der Philosophie erschlossen zu werden. Auch hier geht es im gegebenen Kontext weniger um die problematischen Züge dieser Konzeption – die wohl häufigste Kritik ist die, dass Adorno eine Ästhetisierung der Philosophie vornimmt30 und die ästhetische Erfahrung in ihrer Funktion zweckentfremdet31 bzw. überstrapaziert.32 Stattdessen folgt hier eine Rekapitulation der negativen Ästhetik sowie einiger ihrer Prämissen. Adornos negative Poetik Die negative Ästhetik zielt vornehmlich in zwei Richtungen: die Negation der Gesellschaftsordnung einerseits, andererseits die Negation von Kunst und Ästhetik, die in Formen der Selbstnegation münden. Beide Momente gilt es voneinander zu unterscheiden, auch wenn sie sich wechselseitig bedingen. Ähnlich wie die Negative Dialektik steht zunächst auch die Kunst in einem gesellschaftsfunktionalen Zusammenhang. Dieser zeichnet sich im Spätkapitalismus durch seine Negativität aus: »Angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden.« (ÄT 10) Steht die Kunst traditionell in einer affirmativen Beziehung zur Gesellschaft, so wird die Beziehung im Hoch- und Spätkapitalismus zunehmend zwiespältig. Der ursprünglich affirmative Charakter geht aus einer Epoche hervor, in der die Kunst für eine soziale Emanzipation eintreten und diese bildhaft verkörpern konnte. Dieser affirmative Entwurf geht auf, solange die Kunst der Empirie einen Schritt voraus ist und ihr emanzipatorischer Charakter nach wie vor durch die gesellschaftlichen Verhältnisse rückversichert ist. In dem Moment, wo sich der Zweifel gegenüber dem gesellschaftlichen Fortschritt und der Emanzipation jedoch durchsetzt, gerät die Kunst in Verdacht. Mit einem Utopieversprechen, dem kein Rückhalt in der ge-
30 Vgl. Günter Wohlfart: »Anmerkungen zur ästhetischen Theorie Adornos«, in: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), S. 370-391, S. 383. 31 Asiáin wendet sich ebenso ausführlich wie vehement gegen die Ästhetisierung der Philosophie (die dadurch ihren Status als Theorie aufgibt), wie gegen die Indienstnahme der Kunst vermittels der Philosophie, die diese dadurch verfehlt bzw. zweckentfremdet. Asiáin: Theodor W. Adorno. Dialektik des Aporetischen, S. 296-307 u. S. 321. 32 Vgl. Habermas: Der philosophische Diskurs, S. 148f. u. 155.
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sellschaftlichen Realität mehr zukommt, macht sie sich zunehmend unglaubhaft. In dieser Situation kündigt die Kunst ihren sozialpartnerschaftlichen Vertrag auf. Ihre gesellschaftsfunktionale Ausrichtung vermag sie nur aufrechtzuerhalten – so die Prämisse der negativen Ästhetik –, wo sie ihren unmittelbaren Dienst an der Gesellschaft versagt. »Adornos negative Ästhetik fordert alle Literatur- und Kunsttheorien heraus, die vom Kunstwerk erwarten, dass es ideologische, didaktische oder affektive Nachrichten vermittelt. In seinen Augen zählt nur die Kunst, die sich durch ihre Vieldeutigkeit und ihre hermetische Gestalt selbst aus dem von der Kulturindustrie verwalteten Kommunikationssystem ausschließt.«33 An die Stelle einer funktionalen Einbindung tritt die Funktionslosigkeit, die den autonomen Status der Kunst zu wahren sucht, besonders dort, wo sie von den Mechanismen der Kulturindustrie vereinnahmt wird: »Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit.« (ÄT 336) Indem die Kunst das Kommunikationssystem aufkündigt, um der Vereinnahmung zu entgehen, droht ihr jedoch unweigerlich die Isolation. Die paradoxe Formulierung von der »Funktion der Funktionslosigkeit« insistiert im Moment der Kommunikationsverweigerung trotz allem auf einer (sozialen) Wirkmacht negativer Kunst. Wie Christoph Menke in Opposition zu Habermasʼ Kritik an der Ästhetischen Theorie Adornos nahe legt, liegt die Virulenz der negativen Ästhetik dabei nicht in der gesteigerten Kompetenz, die Adorno der Sphäre des Ästhetischen gegenüber nicht-ästhetischen Diskursen einräumt. So wenig wie die Kunst Träger eines substanziellen Wahrheitsbegriffs ist, so wenig halten Kunst und Ästhetik die Lösungen für die Aporien der Moderne bereit. Die Negativitätserkenntnis der Kunst liegt vielmehr in der ästhetischen Erfahrung, die sie in der Differenz gegenüber der empirischen Realität und der nicht-ästhetischen Erfahrung vermittelt.34 Wie Menke darlegt, kommt der ästhetischen Erfahrung ihre unverzichtbare Funktion nicht deshalb zu, »weil sie die ausdifferenzierte, moderne Gestalt der Vernunft als Lösung ihrer Probleme überstiege, sondern weil erst sie die Vernunft mit einem unlösba-
33 Zima: Negative Ästhetik, S. 112. 34 Vgl. ÄT 14: »Nur vermöge der Trennung von der empirischen Realität, die der Kunst gestattet, nach ihrem Bedürfnis das Verhältnis von Ganzem und Teilen zu modeln, wird das Kunstwerk zum Sein zweiter Potenz.«
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ren Problem konfrontiert«.35 Die Relevanz des ästhetischen Erfahrungsbegriffs liegt demgemäß darin, innerhalb der gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge eine Unterbrechung zu provozieren, die erst eine Position in Aussicht stellt, von der aus das Subjekt seine nichtästhetische Erfahrung überhaupt als solche kritisch reflektieren kann. In Übereinstimmung mit dem Negativitätspostulat folgt auch die ästhetische Erfahrung wiederum einer Negationsbewegung – doch dazu später. Zunächst ist festzuhalten, dass die Autonomie der Kunst, die ihr die gesonderte Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Wertsphären zubilligt, zugleich die Bedingungsmöglichkeit bildet, überhaupt einen anderen – ästhetischen – Erfahrungsbegriff gegenüber nicht-ästhetischen Diskursen geltend zu machen. Das gilt auch dort, wo die Autonomie niemals absolut ist, sondern als relative den soziohistorischen Entwicklungen unterliegt. Die Funktion und Leistung, die die negative Ästhetik der Kunst innerhalb der Gesellschaft zugesteht, ist aber nicht nur aufgrund ihrer relativen Autonomie gefährdet, die ihren Spielraum innerhalb des geschlossenen Kommunikationssystems der Kulturindustrie begrenzt. Die Kunst ist ferner aufgrund ihrer kunstimmanenten Konstitution bedroht, die ebenfalls einem Erosionsprozess ausgesetzt ist. Die eigengesetzliche Entwicklung der Kunst interessiert hier jedoch nur insofern, als dass die Kunst in der (Spät-)Moderne ein »antithetische[s] Verhältnis zur Tradition« (ÄT 508) unterhält. Innerhalb dieser Entwicklung schwindet ihr zunehmend der Boden unter den Füßen: »Denn die avancierte Kunst gehorcht nach Adorno dem Gesetz des ›ästhetischen Nominalismus‹ und will alles auf Subjektivität setzen und keine schon vorhandene Form übernehmen. Damit aber greift sie alle Tradition substantiell an und will das bloß Überkommene und nicht selbst Gesetzte vernichten.«36 In der Moderne (die Adorno mit Poe [vgl. ÄT 443] und Baudelaire [vgl. ÄT 333] um die Mitte des 19. Jahrhunderts ansetzt), kommt es zu einer destruktiven Spirale, weil die Kunst, indem sie sich gegen die Tradition kehrt, zugleich gegen sich selbst wendet. Die Dauerrevolution, wie sie die Avantgarden schließlich einläuten, implementiert diese Selbstvernichtung. Unabhängig von
35 Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst, Frankfurt a.M. 1991, S. 286. 36 Seubold: Kreative Zerstörung, S. 45.
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ihrer gesellschaftlichen Einbettung wohnt der Kunst demnach eine Tendenz zur Selbstauslöschung inne, die ihr Überleben gefährdet. Anstatt jedoch die Konzeption der Kunst in ihrer entwicklungslogischen Fluchtlinie näher zu erörtern, sollen an dieser Stelle die formalen Bedingungen moderner Kunst zur Sprache kommen und zwar in ihrer antinomischen Konzeption. Der Moment der Negation des Traditionsverhältnisses muss demnach durch formal bedingte Negationsbewegungen innerhalb des Kunstwerks ergänzt werden. Lässt sich die Selbstnegation der Kunst auf mehreren Ebenen festmachen, so sollen hier nur zwei Aspekte zur Sprache kommen: die Negation ästhetischen Scheins und die Negation ästhetischer Erfahrung. Referiert der ästhetische Schein die Kunst aus produktionsästhetischer Hinsicht, so verhandelt die (negative) ästhetische Erfahrung rezeptionsästhetische Prämissen. Zuerst zum Schein: Der ästhetische Schein steht im »Verweisungszusammenhang der Kategorien Wahrheit, Schein, Versöhnung«.37 Zeigt der Schein die Dinge im Stand ihrer Erlösung, so liegt darin ein wesentlicher Wahrheitsmoment der Kunst. Auch hier bringt Adorno demnach keinen substanziellen Wahrheitsbegriff in Anschlag, sondern die Wahrheit liegt im Verweismoment, dass die Kunst die »Wirklichkeit im Lichte der Erlösung«38 darstellt. In der Moderne wird dieser Scheincharakter der Kunst jedoch zunehmend problematisch. Betrifft der Schein die Differenz von Kunst und Realität (als nicht-Kunst), so gerät der Schein dort zur Ideologie, wo die Kunst eine schlechte empirische Realität verklärt. Nur wenn die Kunst sich gegen ihren eigenen Schein kehrt, vermag sie ihren Anspruch auf Wahrheit demnach aufrecht zu erhalten. »Die Krise des Scheins« (ÄT 155) leitet sich aber zugleich aus kunstimmanenten Gründen ab. »Die Durchbildung der Kunstwerke terminiert im Schein, ihr Leben wäre eins mit dem Leben ihrer Momente, aber die Momente tragen das Heterogene in sie hinein, und der Schein wird zum Falschen.« (ÄT 160) Stellt die Kunst einerseits den Ort des Nichtidentischen dar, der die Dinge aus ihrem funktionalen Zusammenhang herauslöst und in diesem Sinn im Stand einer Erlösung zeigt, so ist die Kunst nicht frei vom Herrschaftsmechanismus, der die Dinge erneut in ein Zwangsverhältnis fügt. Der Subsumierung
37 Wellmer: Zur Dialektik der Moderne, S. 15. 38 Ebd., S. 16 (Herv. i.O.).
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des Besonderen durch das Allgemeine der Begriffe in der Philosophie, entspricht die künstlerische Gestaltung des Materials im Kunstwerk, das das Besondere der Totalität eines Werkganzen unterwirft (ein Aspekt der in Bezug auf Sebald zur Sprache kommt). Auch dafür zeichnet sich der Schein verantwortlich. Adornos Kritik des Scheins referiert in diesem Zusammenhang wesentlich die Beziehung von Kunstschönem und Naturschönem, wie sie die Ästhetik des 18. Jahrhunderts thematisiert. In seiner Vermittlung zwischen Kant und Hegel spricht sich Adorno mit der Priorität des Naturschönen über dem Kunstschönen gegen Hegel und für Kant aus, der mit der Kategorie des Erhabenen die Natur nicht ohne Weiteres der Vernunft unterordnet und ebenfalls das Naturschöne neben dem Kunstschönen gelten lässt. Innerhalb der traditionellen, philosophischen Ästhetik – so die Kritik Adornos – erweist sich das Kunstschöne nach wie vor als Beherrschungsprogramm über die Natur und das Nichtidentische: »Schönheit ist der Bann über den Bann.« (ÄT 77) Wo das Kunstschöne das Naturschöne dominiert und somit die Natur der Kunst unterwirft, versucht Adorno vermittels der Kunst zurück zur Natur und Naturerfahrung zu gelangen, indem er die Macht des Kunstschönen zu begrenzen sucht. Adorno geht demnach vom Begriff der Ästhetik in seiner doppelten Bedeutung aus. Die Ästhetik ist nicht nur die Theorie der Kunst, sondern als Aisthesis formuliert sie sich zugleich als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Wo das Kunstschöne vermittels seines Scheins die Realität verklärt, muss sich das Kunstwerk gegen sich selber kehren. Der Selbstwiderspruch ist für die Kunst der Moderne konstitutiv: »Die Dialektik der modernen Kunstwerke ist in weitem Maß die, dass sie den Scheincharakter abschütteln will wie Tiere ein angewachsenes Geweih.« (ÄT 157) In diesem Sinn ist »[d]ie Dissonanz, Signum aller Moderne.« (ÄT 29) Ist der modernen Kunst mit der Kategorie des Scheins die Selbstnegation aus produktionsästhetischer Hinsicht eingeschrieben, so zielt die Negation ästhetischer Erfahrung maßgeblich auf rezeptionsästhetische Bedingungen. Im Gegensatz zur ästhetischen Erfahrung wie sie etwa die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers39 oder deren Adaption,
39 Die »Horizontverschmelzung« Gadamers zielt auf einen positiven Verstehensbegriff (auch wenn Gadamer davon spricht, dass das Kunstwerk trotz
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die literarische Hermeneutik von Hans Robert Jauß,40 konzipiert, die mit einer gelungenen Vermittlung im Verstehen kulminiert, negiert die negative Ästhetik diesen Moment. Zielt die Ästhetik nach hermeneutischen Prämissen auf den Verständnisprozess, der in der Sinnzuschreibung gipfelt, so unterläuft die negative Ästhetik diese Erwartung, indem sie eine ästhetische Erfahrung des Scheiterns und der Subversion von Sinn konstruiert. Ohne auf die Konzeption negativer ästhetischer Erfahrung im Detail einzugehen, liegt ein wesentlicher Moment von Adornos Konzeption darin, dass die Sinnlosigkeit ebenso Organisations- und Konstruktionsschemata bedarf wie der Sinn. Es geht also weder um eine bloße Sinnverleugnung noch um einen naiven Negativismus, der den Sinn lediglich gegen die Sinnnegation eintauscht. Wie Menke ausführlich darlegt, besteht die Negation ästhetischer Erfahrung in der zweifachen Bewegung vom Versuch des Verstehens, der in seinem Verlauf jedoch scheitert: »Die Negativitätserfahrung beschreibt die ästhetische Erfahrung als negatives Geschehen, weil sie ein solcher prozessualer Vollzug des an ästhetischen Objekten versuchten Verstehens ist, der die ihm immanente Negativität enthüllt und es somit an sich selbst scheitern läßt.«41 In dem Maß, wie die ästhetischen Gattungen und Formen in Spannung zu sich selber treten und in der Interpretation die wörtliche und figurale Bedeutung des Werks sich nicht mehr zur Deckung bringen lassen, misslingt eine ästhetische Erfahrung, die den Buchstaben in einer symbolischen Bedeutung zu transzendieren sucht. »An die Stelle der Aufhebung des Buchstabens in den Geist tritt seine Erhaltung gegenüber dem Geist.«42 Zielt die Negativitätserkenntnis darauf, die Spannung im Werk aufzuzeigen und zu erhalten, so trägt sie zugleich den formal bedingten Negationsbewegungen im Werk Rechnung. Dieser Aspekt leitet schließlich über, um auf die kunstimmanenten Techniken der Negation, die Adorno seiner negativen Poetik zugrunde legt, zu sprechen zu kommen.
allen Verstehens letztlich ein Rästel bleibt). Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen 1990, S. 311. 40 Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982, S. 44-71. Zur Kritik von Jauß an Adorno vgl. die Kritik Menkes an Jauß. Vgl. Menke: Souveränität, S. 23 ff. 41 Menke: Souveränität, S. 43. 42 Ebd., S. 36 (Herv. i.O.).
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Verfahrensweisen der Negation Um konkrete Negationsverfahren aufzuzeigen, bietet sich ein Blick auf Adornos Beckett-Aufsatz »Versuch, das Endspiel zu verstehen« (NL 281-321) aus dem Jahr 1958 an. Zunächst lassen sich zwei dominante Verfahren identifizieren, die die ästhetische Negation gemäß Adornos Beckett-Lektüre ins Werk setzen: erstens »Becketts Reduktion« (NL 290) und zweitens die »Technik der Verkehrung« (NL 320). Als drittes ist die Konzeption des Bilderverbots zu nennen. Die Reduktion Mit zu den häufigsten Vokabeln im Beckett-Aufsatz gehören Auslassungswörter im Sinn eines Reduktionsverfahrens. Es ist die Rede von Aussparung (NL 288), Weggelassenem (NL 289), Reduktion (NL 290), einem Tabu (NL 287), Verbot und Schweigen (NL 289, 290). Wie lassen sich diese Auslassungen jedoch näher bestimmen? Allgemein beziehen sie sich zugleich auf eine Form der Positivität und der Negativität. »Beckett verschweigt aus Zartheit das Zarte nicht minder als das Brutale« (NL 289). Beide Aussparungen – die Darstellung eines Positiven und eines absolut Negativen – folgen einer verwandten Logik. Die Ausführung des Positiven stellt eine Konzession an das gesellschaftliche Negative dar und führt unweigerlich zur Verklärung und Ideologisierung. »Was die Bedingung von Humanität war, Differenziertheit, gleitet in Ideologie.« (NL 289) Aber ebenso gibt es eine Grenze an der die Negativität sich der Darstellung versagt: »Schweigend nur ist der Name des Unheils auszusprechen.« (NL 290) Die Reduktion bezieht sich demnach auf zwei Pole.43 Mit diesen zwei Polen steckt die Reduktion derart den verbliebenen Spielraum der Literatur ab. Ausgehend von den Ausschlussmomenten konstituiert sich dieser Spielraum negativ: »Was alles nicht mehr geht, wird zum Kanon.« (NL 283) So werden »Gedanken [...]
43 Kertész kommt hier mit Adorno überein, wenn er von der Darstellung einer »mittleren Ebene« spricht: »Nur auf einer ›mittleren Ebene‹ lassen sich die ›gewöhnlichen Ereignisse‹ des massenhaften Tötens darstellen.« Imre Kertész: »Für mich ist Auschwitz eine Gnade«, in: Universitas 12/51 (1996), S. 1220-1227, S. 1221. Wo sich das »ungeheuerliche, unbarmherzige Geschehen letztlich einer literarischen Vermittlung entzieht«, ist eine Grenze dessen benannt, was an Negativem darstellbar ist.
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entstellt wie Tagesreste« (NL 284), wird »Geschichte ausgespart« (NL 288), »Drama verstummt zum Gestus« (NL 288); aber auch konventionelle Repräsentationsverfahren, die auf psychologischen Kategorien basieren (NL 297f.) oder sich der Science Fiction (NL 286) bedienen, erweisen sich als hinfällig. Wo die realistische Darstellung den Zustand verklärt, schafft Beckett »Urbilder«, die »die Deformationen vorzeig[en], die den Menschen von der Form ihrer Gesellschaft angetan werden. Kein Raum bleibt für anderes.« (NL 299) An die Stelle des Ausgesparten treten Defigurationen, die nun eine umso höhere Aufmerksamkeit erfahren: »Der Stumpfsinn des Endspiels wird mit höchster Differenziertheit protokolliert und ausgehöhlt.« (NL 289) Das verbliebene Material unterwirft die Repräsentation dem »Gesetz von Regression« (NL 289), von dem sämtliche Darstellungsregister, sowohl die Sprache als auch die Handlung, betroffen sind. Die Verkehrung Neben der Reduktion nennt Adorno als zweites Negationsverfahren die Verkehrung: »bestimmte Negation wird dramaturgisch durch konsequente Verkehrung« (NL 320, Herv. P.S.). Im Endspiel ist die »Technik der Verkehrung« in »das ganze Stück gewoben« (NL 320). Zwar referieren beide Verfahrensweisen, Reduktion und Verkehrung, oftmals ähnliche Phänomene; trotz allem erlaubt es die Verkehrung die Negation unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten. So offenbart das »Gesetz der Regression« als Technik der Verkehrung eine andere Bedeutung und beschreibt insbesondere eine andere ästhetische Operation. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Frage nach dem, was nicht mehr möglich ist, sondern die konventionellen Formen und Gattungen werden nochmals aufgerufen, um sie gegen sich selbst zu kehren. »Die drei Aristotelischen Einheiten werden gewahrt, aber dem Drama selbst geht es ans Leben.« (NL 303) Der Rückgriff auf die Konvention folgt dabei einem operativen und signifikanten Kalkül. In operativer Hinsicht stellt die Gattungskonvention das Modell und Material bereit, um die Negation formal umzusetzen. Die Negation bedarf notwendig eines Gegebenen, einer Struktur, um implementiert zu werden. Erst auf diese Art und Weise lässt sich eine »Logik des Zerfalls« als Zerrüttung der Form (NL 282) ins Werk setzen; – insofern handelt es sich auch hier um ein Gesetz der Regression. Was sich formal er-
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eignet, impliziert aber zugleich eine signifikante Bedeutung: »dass kein positiver metaphysischer Sinn derart mehr substantiell ist [...], dass die dramatische Form ihr Gesetz hätte an ihm und seiner Epiphanie« (NL 282). In signifikanter Hinsicht kommuniziert die Negation als Verkehrung zugleich den Verlust einer gültigen Konvention bzw. einer sinnstiftenden Ordnung. Dieser signifikante Moment der Verkehrung als ästhetisches Verfahren folgt aber wiederum einer doppelten Bewegung bzw. ist er in zweierlei Hinsicht zu lesen. Zum einen kommuniziert die Verkehrung als Ausdruck den Verlust eines gültigen Sinngefüges. Indem die Fallhöhe dessen, was nicht mehr möglich ist, ausgestellt wird, zielt die Verkehrung aber zugleich auf den Moment der Bewahrung dessen, was negiert wird – in diesem Fall auf den Gattungsbegriff. Dieser Schritt vollzieht sich nicht im hegelschen Sinn als Aufhebung, die das Negierte in der Vermittlung mit einem positiven Gegenbegriff auf einer höheren Ebene wieder einholt. Adorno zeichnet vielmehr eine dazu gegenläufige Bewegung: »Um Geschichte zu unterbieten und dadurch vielleicht zu überwintern.« (NL 293) Entgegen der progressiven Negationsbewegung Hegels, die das Negierte gewinnbringend transformiert, steht an dieser Stelle die konservative Adornos. Wie Eva Geulen nachweist, ist Adornos Gattungsbegriff anthropologisch aufgeladen. Käme die Abschaffung der ästhetischen Gattung einem Angriff auf den anthropologischen Gattungsbegriff gleich, so stünde die Gattung nach wie vor für ein Erhaltungsprinzip ein – gerade auch dort, wo sie negiert wird.44 Die »Technik der Verkehrung« stiftet somit »nicht einfach negativ Sinn« (NL 282), sondern sie schützt das Negierte: »Im Akt des Weglassens überlebt das Weggelassene als Vermiedenes.« (NL 289) Erst die konservative Funktion der Kunst bildet somit die Bedingung für die emanzipatorische Rolle, die Adorno der Kunst und Ästhetik nach wie vor zumisst. Dass dieser positive Moment konstitutiv für die negative Ästhetik ist, der ihr als Flaschenpost beigegeben ist, wird ebenfalls an der Konzeption des Bilderverbots deutlich, die eine abschließende Verfahrensweise der Negation beschreibt.
44 Vgl. Eva Geulen: »Adorno and the Poetics of Genre«, in: D. Cunningham/N. Mapp (Hg.), Adorno and Literature, London u.a. 2006, S. 53-66, S. 56: »[G]enre in Adorno turns out to have quasi-anthropological underpinnings which run counter to the predictable conceptualization of genres within the parameters of his aesthetic theory.«
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Das Bilderverbot Das Bilderverbot nimmt einen prominenten Platz in Adornos Denken ein: »Adornos Begriff des Bilderverbots ist Teil seiner Erkenntnistheorie und gilt für sprachliche wie bildliche Darstellungen, weil es sich dabei um eine Zuspitzung seiner Kritik der Abbildtheorie handelt. Diese besagt, dass sowohl das Bild als auch der Begriff Herrschaft über Nichtidentisches ausübt.«45 Formuliert sich das Bilderverbot in erster Linie als Kritik über die Macht der Bilder, so steht es auf der Kehrseite zugleich für Adornos Utopiegedanken ein. »In der jüdischen Religion [...] bleibt das Band zwischen Namen und Sein anerkannt durch das Verbot, den Gottesnamen auszusprechen.«46 Mit dem Verzicht, das Bild als Zeichen unter Zeichen in die symbolische Ordnung zu integrieren, wird es der Gefahr der Entwertung und Instrumentalisierung entzogen. In der Negation – so die optimistische Deutung – bleibt der Name in seiner Funktion bewahrt. In diesem Sinn steht das Bilderverbot für die Möglichkeit einer Versöhnung ein, indem es die Verbildlichung der Utopie untersagt. Die Verbildlichung – als bildlich-konkrete Vorwegnahme der Utopie – verklärt laut Adorno eine Versöhnung und schreibt sie mit einem identifizierenden Zugriff auf ein bestimmtes Bild und Ende hin fest. »Die materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen, will das Gegenteil: nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot.« (ND 207) Der Schutz vor dem identifizierenden Zugriff bildet demnach die Voraussetzung für eine versöhnte Ordnung. Das Bilderverbot ist in dieser Hinsicht konstitutiv für Adornos negative Poetik. »Die ästhetischen Bilder stehen unterm Bilderverbot.« (ÄT 159) Es betrifft sowohl die kunstimmanente Konzeption der Bilder als auch deren Funktion in ihrem gesellschaftsfunktionalen Zusammenhang. In beiden Fällen markiert das Bilderverbot die Verknüpfung zwischen Ästhetik und Utopie. Wie bereits in der »Technik der Verkehrung« angedeutet, wird das Bild der Darstellung entzogen, um es auf diese Weise in seinem Gehalt zu retten. Es bleibt jedoch unklar, was für ein Bild genau aufbewahrt werden soll. Dabei stellt vor allem der Übertrag des theologischen Modells auf die Philosophie und Ästhetik vor die Frage nach dem Gehalt und der Referenz des zu bewah-
45 Krankenhagen: Auschwitz darstellen, S. 74. 46 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 24.
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renden Bildes. Darauf verweist Britta Scholze: »Aber auch dann, wenn sich diese geforderte Denkbewegung plausibel machen ließe, bleibt zu fragen, was für ein Bild überhaupt gerettet werden soll, in welchem Verhältnis das Recht des Bildes zum Bild steht und wer letzten Endes berechtigterweise von einem Recht des Bildes sprechen könnte.«47 Die Frage nach dem Gehalt des Bildes stellt sich insbesondere auch dort, wo Adorno die Repräsentation des absolut Negativen mit dem Bilderverbot belegt – denn hier scheint das Erhaltungsprinzip zunächst kontraindiziert. Adorno schreibt: »Beckett hat auf die Situation des Konzentrationslagers, die er nicht nennt, als läge über ihr Bilderverbot, so reagiert, wie es allein ansteht.« (ND 373) Wenn Adorno auch hier das Bilderverbot geltend macht, dann geht es weniger darum, dass das »Unsägliche des Grauens« sich der Darstellung verweigert. Vielmehr führt Adorno auch in die negativen Bilder eine Differenz ein, die es erlaubt, kritisch in Bezug zum Dargestellten zu treten. Diesen Moment gilt es näher zu beleuchten. In der Negativen Dialektik pointiert Adorno die Methode Becketts folgendermaßen: »Was ist, sei wie das Konzentrationslager. Einmal spricht er von lebenslanger Todesstrafe. Als einzige Hoffnung dämmert, daß nichts mehr sei. Auch die verwirft er. Aus dem Spalt der Inkonsequenz, der damit sich bildet, tritt die Bilderwelt des Nichts als Etwas hervor, die seine Dichtung festhält. Im Erbe von Handlung darin, dem scheinbar stoischen Weitermachen, wird aber lautlos geschrien, daß es anders sein soll. Solcher Nihilismus impliziert das Gegenteil der Identifikation mit dem Nichts.« (ND 373f., Herv. P.S.)
Becketts Darstellungsprinzip unterliegt laut diesem Zitat folgendem Prinzip: Die Negativität der empirischen Realität wird zunächst überhöht: »Was ist, sei wie ein Konzentrationslager«. Wo »das Ganze der Bann, das Negative« (ND 161) ist, kann die Negation nicht das Partikuläre betreffen, sondern richtet sich auf die Totalität, die mit der ›Metapher‹ des Konzentrationslager als absolute Negativität überzeichnet wird. Darin ist ebenso impliziert, dass jedes Zugeständnis an konkrete positive Momente (um etwa die Diagnose der Negativität zu widerlegen) die empirische Realität verklärt. Trotz allem wird eine positivisti-
47 Britta Scholze: Kunst als Kritik, Adornos Weg aus der Dialektik, Würzburg 2000, S. 61.
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sche Norm eingeführt. Dies geschieht aber nicht auf einer konkreten Ebene, sondern allgemein, indem Beckett respektive Adorno gegen die (selbst postulierte) absolute Negativität einschreitet. Was mit der Darstellung der absoluten Negativität einem platten Nihilismus gleichkäme (der die Positivität lediglich durch die Negativität ersetzt), wird demnach abgelehnt. In diesem »Spalt der Inkonsequenz« (ND 373) als »Negation der Negativität« (NL 297) (wohlgemerkt nicht als Negation der Negation, die eine positive Bewegung impliziert) liegt der Widerstand und die Kritik des Beckettschen Dramas gegenüber der negativen Realität. Mit diesem Ansatz wird die Realität als solche überhaupt erst in ihrer (totalen) Negativität ausgestellt. In einem zweiten Schritt wird daraufhin gegen diesen Zustand Einspruch erhoben. Problematisch ist diese Denkfigur insbesondere wegen der impliziten Zirkelschlüsse. Sie operiert nicht nur mit einem Bild der radikalen Negativität, die sie auf die Realität projiziert, sondern sie führt zugleich eine Norm der Positivität ein, die in ihrer Ableitung und ihrem Status unklar ist. Diesen Ansatz kritisiert Irving Wohlfahrt: »Dass alle Bilder in Fin de partie umgekehrt oder zurückgenommen werden, weiß [Adorno] im Sinne eines jüdisch-marxistischen Bilderverbots zu deuten, und aus der unversöhnlichen, vielleicht nicht mehr philosophisch auffangbaren ›Negativität‹ des Stücks zaubert der negative Dialektiker deren utopische ›Negation‹ hervor, ohne zu bedenken, dass diese lediglich das Negativ oder verhüllte Antlitz der von ihm perhorreszierten, aber gleichwohl unterstellten positiven Botschaft ist. Was immer der Zeuge auch sagt, sein Anwalt weiß, was er eigentlich meint.«48
Adorno trägt an das Kunstwerk heran, was er aus diesem herausliest. Die Frage, ob Adornos negative Poetik damit zu positivistisch ausfällt, kehrt im Vergleich mit Bernhard wieder. Soweit lässt sich resümieren, dass sie von einer starken Norm des Positiven getragen wird. Diese Normativität bildet zugleich die Voraussetzung für die »Techniken der Verkehrung«, d.h. die negativen Verfahrensweisen vollziehen sich stets im Wechselspiel zwischen negativen und positiven Momenten (und sind folglich in diesem Wechselspiel zu beschreiben).
48 Wohlfarth: »Lager, Nach-Welt, Überleben«, S. 180. Vgl. ferner Theunissen: »Negativität bei Adorno«, S. 61.
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Dass der Komplexität von Adornos Ästhetik mit diesen Ausführungen keine Genüge getan ist, liegt auf der Hand. Die Rekapitulation dient jedoch nicht dem Selbstzweck, die Prämissen und Problematiken der negativen Ästhetik an sich zu erörtern. Vielmehr geht es darum, die bisherige Lektüre der Autoren Bernhard, Sebald und Kertész in Relation zu einem gemeinsamen Dispositiv abschließend in Beziehung zu setzen. Die soweit aufgezeigten Grundzüge der negativen Ästhetik Adornos dürften die Affinitäten zwischen den Protagonisten implizit erhellt haben. Wurden maßgeblich drei Ebenen der Negation differenziert, so vollziehen die Autoren bei allen Differenzen die Schritte auf jeder der drei Ebenen im Wesentlichen nach. Wie in Kapitel 2 ausgeführt, kommen Bernhard, Sebald und Kertész mit der Beschreibung einer destruktiven Geschichte und Gesellschaft in der Diagnose der Negativität der empirischen Realität überein. Ähnlich wie Adorno, der die Destruktion der Gegenwart aus den Entwicklungen und Rationalisierungsprozessen der Moderne ableitet, argumentieren die drei Autoren. Zugleich leisten sie aber eine Kritik und wenden sich verschiedentlich gegen die (selbst ausgestellte) Diagnose der Negativität. »Den Dissens als Dissens festzuhalten, weil ein Konsens nicht mehr gelingt«,49 so ließe sich die Haltung mit Dietmar Kamper auf den Punkt bringen. Diese Position greift aber unwillkürlich die Autorität des Autors und Erzählers an, aber ebenso die Form und Institution der Literatur. Gemeinsam ist den Autoren, dass ihr Schreiben diese aporetische Situation in sich aufnimmt. Dient die Vorlage von Adornos negativer Ästhetik dazu, die Verlaufslinien der Negation und Affirmation abschließend zu kontrastieren, so legt die Analyse zugleich die jeweiligen Einsätze der Prosa frei. Die Fallhöhen des Schreibens referieren in dieser Hinsicht das aufgezeigte Wechselspiel von Negativität und Positivität bzw. die Vermittlung beider Momente. Damit geben die Fallhöhen des Schreibens aber zugleich Auskunft über die Legitimationsansprüche, die im und mit dem Schreiben der einzelnen Autoren jeweils auf dem Spiel stehen.
49 Kamper: »Nach der Moderne«, S. 171.
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4.2 B ERNHARD – S CHREIBEN
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IM NULLZUSTAND
In Konfrontation mit Bernhard fällt die negative Ästhetik Adornos zu positivistisch aus. Die Differenz der Negativitätsauffassungen lässt sich im Anschluss an die Lektüre von Auslöschung in Kapitel 3 aufschlussreich anhand des unterschiedlichen Sprach- und Bildverständnisses beider Autoren erörtern. Als Ausgangspunkt dienen vorab zwei Prämissen des Frankfurter Theoretikers, die mit Bernhard in Zweifel gezogen werden. Erstens insistiert Adorno auf einer konservativen Funktion der Kunst, die selbst in der Schutzhülle der Negation einen affirmativen Wahrheitsbegriff aufbewahrt. Diese Funktion ist – zweitens – die Voraussetzung für das emanzipatorische Potential der Kunst. Selbst in den »Negativen«50 der verdüsterten Kunst der Moderne entziffert Adorno jederzeit ein positives Gegenbild. Beide Momente werden von Bernhard diskreditiert. Gemeinsam ist den Autoren zunächst, dass sie die Fortschreibung von Tradition und Geschichte maßgeblich in der Sphäre des Ästhetischen austragen. Wo Adorno weder im Politischen noch im Sozialen Perspektiven erkennt, überträgt er das Projekt der Aufklärung in die Kunst und Ästhetik. Diese nehmen nun den Platz der ausgebliebenen gesellschaftlichen Revolution ein. Zwar ist Bernhards Protagonist Murau mit seiner individual-anarchistischen Attitüde kaum am Projekt einer Kritischen Sozialtheorie interessiert; trotz allem steht auch für ihn fest, dass eine Revolution allein im Reich der Schrift zu leisten wäre. In Auslöschung stellt weder die Politik noch die politische Revolution eine Alternative dar. In diesem Sinn unterscheidet sich Muraus anarchistischer Gestus grundlegend von dem seines Schülers Gambetti. Während Muraus Anarchismus sich als Idee im Geist, vermittelt über Literatur und Philosophie, formuliert (A 211), träumt Gambetti von der großen anarchistischen Tat (A 513). Aber auch den Philosophen Alexander, ein Jugendfreund Muraus, der sich politisch tatsächlich in humanitären, illegalen Aktionen engagiert, bezeichnet Murau gutmütig als »mein Phantast« (A 514, Herv. i.O.). Innerhalb der katastrophischen Weltsicht Muraus muss sich das politische Engagement
50 Vgl. Nobert Rath: Negative. Glück und seine Gegenbilder bei Adorno, Würzburg 2008. Rath verwendet Adornos negativen Bildbegriff metaphorisch mit dem Negativ der Fotografie.
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als nichtig erweisen.51 Muraus »Ideen von der Veränderung« als Ideen von der »Vernichtung der Welt« (A 211) vollziehen sich demnach im Medium der Literatur: »Die gedruckte Welt ist die tatsächliche.« (A 478) Ähnlich wie bei Adorno ist auch hier die Revolution bzw. bei Bernhard besser die Rebellion, in die Schrift übergegangen. Die Sphäre der Schrift bildet zunächst das privilegierte Medium von Kritik und Widerstand. Für den jungen Murau stehen die Aussichten noch gut. Zunächst dienen einzelne Wörter, um sich dem Kampfplatz der Sprache zu entziehen. Die heterotopische Funktion der Wörter dient als Widerstand gegen die Übergriffe der Mutter und erlaubt es, eine antithetische Position gegenüber der Familie einzunehmen. Muraus Wort »Siebenkäs« kann hier analog zu Adornos Erinnerung an die Verwendung von Fremdwörtern gelesen werden, die inmitten eines agonalen Sprachgebrauchs »winzige Zellen des Widerstands« (NL 218) bilden. Aber nicht nur die Wörter, sondern auch die Antiautobiografie beschreibt eine Negation, die zunächst eine Fortschreibung ermöglicht und das Individuum innerhalb eines feindlichen Gesellschaftsgefüges durch den Entzug potentiell schützt. Entgegen der Interpretation, die die Antiautobiografie als Schutz der eigenen Biografie auslegt, lag der Fokus in Kapitel 3 hingegen auf jenen Momenten, die das Subjekt trotz allem in Mitleidenschaft ziehen. Die Negativität die Murau für die Ordnung von Wolfsegg, aber auch allgemein für die Gesellschaft, geltend macht, wirkt unweigerlich auf das Subjekt und die Literatur zurück. Die Selbstschreibung gewährt dem Individuum in dieser Situation allenfalls um den Preis der Selbstverstümmelung Schutz. Aber die Dinge nehmen noch eine weitere Wendung zum Negativen. Die Differenz zwischen Bernhard und Adorno lässt sich exemplarisch anhand der kontrastierenden Relation von der Schrift zum Bild beider darlegen. Adorno geht nach wie vor von einer Priorität der Schrift aus. Zwar anerkennt Adorno die Macht der Bilder –52 selbst die Aufklärung, die ihren Siegeszug als Aufklärung über die Macht mythi-
51 Leonard Fuest liest den Anarchismus Muraus als »eine zusätzliche Chiffre der Zerstörung«, nicht als politisch stringente Position. Der »aristokratische Individualanarchismus« Muraus ergibt eine politisch widersprüchliche, untragbare Haltung, so Fuest. Leonard Fuest: Kunstwahnsinn Irreparabler. Eine Studie zum Werk Thomas Bernhards, Frankfurt a.M. 2000, S. 257 u. 262. 52 Vgl. Scholze: Die Kritik der Kunst, S. 61.
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scher Bilder angetreten hatte, ist den Bildern zum Opfer gefallen, indem sie wiederum ›mythische‹ Bilder generierte. Trotz allem insistiert Adorno nach wie vor auf einer Selbstaufklärung der Aufklärung, die gerade auch diese Mythen des Alltags zu entkleiden vermag. Es ist daher notwendig, die Bilder zu dekodieren – analog zum Scheincharakter der Kunst, den es zu destruieren gilt. »Dialektik offenbart [...] jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet.«53 Die Aufgabe kritischer Aufklärung ist es demnach die Bilder gegen den Strich zu lesen. Mit dem Bilderverbot ist der negativen Ästhetik die Ambivalenz gegenüber der eigenen Bildlichkeit vorab inhärent. Adornos Einspruch gegen eine Abbildung des Grauens leitet sich nicht zuletzt aus der Position ab, dass ein naiver Abbildrealismus die unsägliche Realität nur wiederholt, ohne eine Erkenntnis abzuwerfen, die sich im Bild entschlüsseln ließe. Adorno geht es demnach um eine Bildlichkeit, die sich dialektisch dechiffrieren lässt. Zwar bleibt letztlich unklar wie Adorno die Bildlichkeit – beispielsweise in der Differenz von Abbild und Metapher – konkret denkt. Ebenso ist nicht ersichtlich wie Adorno die Dialektik der Bilder konzipiert und »um was für Bilder es sich handelt – ob Adorno prinzipiell jede Form der Abbildung als Symbol verdammt oder ob er zwischen abbildbaren und nicht-abbildbaren ›Gegenständen‹, womöglich sogar zwischen echten und falschen Symbolen unterscheidet«.54 Für den Vergleich mit Bernhard genügt jedoch der Hinweis, »dass es in einzelnen Bildern eine dialektische Beziehung zwischen einem Bild- und einem Schriftcharakter geben muss, [dass die, P.S.] Dialektik Bilder als Schrift liest und dadurch den Doppelcharakter von Bildern als ein Ineinander von falschen und wahren Momenten trennt«.55 Wo die Hierarchie zwischen Schrift und Bild sichergestellt ist und die Bilder jederzeit verschriftlicht werden können, sind nun aber nach wie vor Freiräume gegeben, die es erlauben, aus der »entfremdeten Gestalt« (MM 13) eine Wahrheit über das Leben abzulesen. Nicht zuletzt folgt Adornos Philosophie generell dieser Intuition. Die Dialektik der Aufklärung »konstruiert Geschichte nach Maßgabe eines Als-ob
53 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 25. 54 Scholze: Kritik der Kunst, S. 62. 55 Ebd., S. 62.
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des total Negativen – um nach dem zu fahnden, was sich einer solchen Konstruktion nicht ganz fügt«.56 Auch hier ist die Entfremdung nicht total gedacht. Selbst dort, wo das »Ganze das Falsche ist«, ist eine »Probe im Kleinsten« (MM 207) noch möglich. »Ist aber das Negative das Ganze nur als das Herrschende«, wie Theunissen darlegt, »dann besagt seine Universalität keineswegs, dass es nichts Positives gäbe. Sie besagt dann nur, dass das Negative alles andere in der bestehenden Welt überformt.«57 Innerhalb des Gesamtgefüges sind Differenzierungen demnach gut möglich. Aus den »kleinste[n] Züge[n] des Verfehlten« (MM 205) lässt sich sowohl Wahres als auch Falsches ablesen. Gleiches gilt auch für die Kunst, insofern Adorno von einem »Sprachcharakter der Kunstwerke«58 ausgeht. Selbst der Übertreibungsrhetorik Adornos kommt in dieser Hinsicht eine heuristische Funktion zu, indem sie an einen Begriff der Wahrheit rückgekoppelt bleibt. Möglich ist dieses Festhalten an einem aufklärerischen Gestus u.a., weil, wie bereits angedeutet, Adorno vorab auf einen normativ gefassten Begriff des Positiven rekurriert. Denn nicht nur die hierarchische Überlegenheit der Schrift erlaubt es Adorno nach dem Wahren zu fragen. Letztlich konstruiert die negative Ästhetik ihre Negativität von vornherein in Differenz zu einem ›Positiv‹. Bedient sich die »radikale Kunst heute« der »Grundfarbe schwarz« (ÄT 65), so erkennt Adorno in diesen ›Negativabzügen‹ unabhängig von derem Schwärzegrad zugleich einen Positivabzug. Theunissen verweist an dieser Stelle auf die Aporie der negativen Dialektik sowie von jeglichem Negativismus schlechthin: Entweder enthält das Negative letztlich doch sein Gegenteil (womit der Rückfall in einen Hegelianismus droht) oder es muss von außen an die Dinge herangetragen werden.59 Der Negativismus Adornos nimmt seinen Maßstab in dieser Situation von vornherein an einem normativen Begriff des Positiven. Zwar lässt sich keine konkrete (bildhafte) Utopie mehr ausbuchstabieren. Indem das Negative aber in der Differenz von »Welt und Gegenwelt«60 entworfen wird, ist die Utopie für Adornos ›Negative‹ trotz allem konstitutiv. Anders verhält es sich nun bei Bernhard. Im Unterschied zu Adornos heuristischer Übertreibungsrhetorik hat hier die »behutsamste Re-
56 57 58 59 60
Scholze: Kritik der Kunst, S. 56. Theunissen: »Negativität bei Adorno«, S. 49 (Herv. i.O.). Tiedemann: Mythos und Utopie, S. 128. Vgl. Theunissen: »Negativität«, S. 47. Ebd., S. 59.
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flexion« (MM 207) ausgedient. Die Verzerrung ist in Bernhards Übertreibungskunst längst in die Materialität der reduktiven Wahrnehmung und Realität eingewandert: »Die spöttischen Gesichter meiner Schwestern auf dem Foto [...] sind meine Schwestern.« (A 240) Mit dem Versagen der Differenzierungsleistung versagt zugleich die Sprache in ihrer emanzipatorischen Funktion, Wahres vom Falschen zu trennen. Das Zitat aus Die Kälte dient auch hier nochmals als Beleg: »Die Wahrheit ist immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist, jeder Irrtum ist nichts als die Wahrheit.«61 Wahrheit verkehrt sich in Irrtum, so wie sich der Irrtum in Wahrheit verkehrt, ohne dass es möglich wäre, die Begriffe zu stabilisieren. Was bleibt, ist die Erkenntnis der Unfähigkeit zur Erkenntnis, die zwar je nach dem strategisch eingesetzt werden kann, das Subjekt letztlich aber den herrschenden Umständen aussetzt. Die Differenz zwischen den Autoren lässt sich hier am Bildbegriff aber noch weiterführen. Anders als Adorno spricht Bernhard mit der Fototheorie in Auslöschung von einer Totalität der Bilder, die es gerade nicht mehr erlaubt, die Bilder sinnfällig zu diskursivieren. Indem Bernhard die Hierarchie zwischen Schrift und Bild verkehrt, wendet er sich aber zugleich gegen die Möglichkeit eines dialektischen Bildbegriffs. Zwar artikuliert auch Bernhard eine Kritik an der Macht der Bilder – anders als Adorno vermag er diesen Bildern aber nichts mehr entgegenzusetzen. Die Schrift ist dem Bild ausgeliefert und vermag dessen Verführungskraft allenfalls nochmals zu exponieren. Zugleich muss Murau aber die eigene Ohnmacht gegenüber den Bildern eingestehen. Die Überlegungen Muraus, eine Schrift über die Fotografien der Schwester zu verfassen, oder die Fotografien mit einer Schere zu »zerschnetzeln«, zeugen diesbezüglich von der Kapitulation der Schrift vor dem neuen Medium.62 Demgemäß visioniert Murau eine Herrschaft der Bilder, die mit ihrem globalen Siegeszug noch aussteht. Der unabdingbare »Verdummungsprozess«, den diese ikonische Ordnung gemäß Murau zeitigt, erklärt jedes unvollendete Projekt der Aufklärung zur Makulatur. Die Negativität des Bildes ist in Auslöschung
61 Bernhard: Die Kälte, S. 69. 62 Mit diesem Dilemma sind auch die Medientheoretiker Baudrillard und Kittler konfrontiert. Sie haben nicht nur Schwierigkeiten den Medienwechsel darzustellen, sondern bedienen sich zugleich des anachronistischen Mediums der Schrift.
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in einer Weise total, die keinen Raum mehr für positive Gegenbilder zulässt. Rechnet man den Befund hinzu, dass mit der verkehrten Hierarchie von Schrift und Bild auch die Bedingungen der Möglichkeit durchkreuzt sind, aus den Negativen ein positives Gegenbild zu dechiffrieren, so deuten auch hier die Zeichen und Bilder mit der fotomedialen Praxis auf einen Ordnungswechsel, der jegliche Hoffnungen auf eine Emanzipation kassiert. Zwar muss man Murau mit seiner These nicht folgen, noch reflektiert er die Möglichkeiten, ob es bildimmanente Strategien gibt, Bilder zu dekonstruieren. Trotz allem ist mit der Vision einer Herrschaft der Bilder über die mediale und kommunikative Praxis neben dem korrumpierten Erbe ein weiterer, affizierter Ort – oder Sachverhalt – benannt, der eine produktive Fortschreibung der Geschichte im Medium der Literatur laut Murau vereitelt. Ausgehend von diesen Differenzen, lassen sich zugleich die unterschiedlichen Fallhöhen dessen, was mit dem Schreiben auf dem Spiel steht, vermessen. Anhand von Adornos Beckett-Lektüre hat sich gezeigt, wie Beckett das Drama als Gattung bedient, um es zu negieren. Ähnlich verfährt auch Bernhard mit dem Roman. Anders als bei Adorno ist die Gattung bei Bernhard aber nicht länger Bürge für eine emanzipierte Wirklichkeit, sondern bildet lediglich die formale Prothese, um die Geschichtenzerstörung ins Werk zu setzen. Die Aufwertung des Form- und Gattungsbegriffs von seiten Adornos, ist mit Bernhards prosaischem Schreibprogramm hingegen einem rein operationalen Kalkül gewichen. Das Schreiben des Österreichers orientiert sich nicht länger an einem Kunst- und Ästhetikbegriff, der (mit dem idealistischen Erbe der Frühromantik) die Literatur als privilegierte Sphäre einer ästhetischen, holistischen Erfahrung ausweist. Im Gegenteil kritisiert Bernhard mit seiner Prosa gerade diese Zusammenführung von Kunst und Philosophie als in sich schlüssige, privilegierte Geisteskonstruktionen. Dieser letzte Moment erlaubt es schließlich, die unterschiedliche Fallhöhe des bernhardschen Schreibens im Vergleich zur negativen Ästhetik Adornos metaphorisch nachzuweisen. Wurden bereits in Kapitel 2 mit Bernhards »Kritik der Höhe« die Achsen der Vertikalität und Horizontalität eingeführt, so liefert die Höhe abschließend die Konzeption, die Bernhard dazu dient, die Kunst als privilegiertes, normatives Gegenbild zu einer nicht-ästhetischen Wirklichkeit zu destruieren.
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Poetisch-philosophisches Gipfeltreffen oder eine Kritik der Höhe Das Gipfeltreffen in Muraus »Traumerzählung« (A 218) in einer Klause im Grödnertal, gehört in seiner Traumlogik zwar zu den uneinsichtigsten Passagen in Auslöschung, es schließt jedoch an den Topos der Höhe als Konstante in Bernhards Werk an. In Muraus wiederkehrendem Traum trifft sich eine kleine Gruppe erlesener Dichter und Denker im Hochgebirge, um Marias Lyrik in Gegenüberstellung zu Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung zu studieren. Die Erinnerung an Muraus Traum wird zuvor durch Gambettis Aussage ausgelöst, der mit seinen Eltern und Murau ins italienische Hochgebirge fahren will und für diese »Hochgebirgsstudientage« seinen »karierten Schreibblock« (A 231, Herv. i.O.) mitnehmen will: »[D]ort, in einem engen, ihm von Kindheit an bekannten und vertrauten Tal, werde es uns beiden auf die angenehmste Weise nützlich sein, unsere Studien voranzutreiben, völlig abgeschirmt von den Störungen.« (A 213) Die Passage fügt sich in die vertraute bernhardsche Konstellation von Höhe, Denken und Schreiben und präfiguriert nun Muraus Traumsequenz – die allerdings alles andere als störungsfrei verläuft. Wie kaum anders zu erwarten, scheitert das poetisch-philosophische tête-à-tête im verschneiten Hochgebirge. Noch bevor das Gespräch beginnt, kommt es zum Eklat und die Gäste flüchten vor dem ausfälligen Wirt der Klause. Zwar gibt besonders der Wirt mit seinen rassistischen Äußerungen Rätsel auf. Die Szene lässt sich jedoch keinesfalls als eine Vertreibung aus dem Paradies deuten. Inszeniert Bernhard einmal mehr das Scheitern eines Geistestreffens in der Höhe, so liest sich die Passage vor allem als Satire auf eine geistesgeschichtliche Trope, die den Zusammenschluss von Höhe, Geist und Poesie verklärt. Die Höhe wird mit Muraus Geständnis gegenüber Gambetti bereits zuvor entmystifiziert. Murau bekennt, dass ihm die »Aufschlüsselung« seiner geliebten Philosophen »niemals auch nur in Ansätzen gelungen ist«; sie sind »mir immer spanisch geblieben« (A 153, Herv. i.O.). Im Zuge seiner Auseinandersetzungen mit Nietzsche berichtet Murau von seinen Anstrengungen: »Ich hatte geglaubt, wenn ich nach Sils Maria gehe, [...] werde ich Nietzsche besser verstehen, wenn ich mich in der Nähe des Malojapasses einmiete, von Sondrio, also von unten heraufgekommen, würde ich Nietzsche besser oder überhaupt verstehen.« (A 158) Der Versuch, den Philosophen auf Augenhöhe zu treffen und
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zwar dort, wo Nietzsche im Oberengadin im Sommer 1881 in einer Inspiration, die ihn zu Tränen rührt, der Gedanke von der »Wiederkunft des Gleichen« ereilt, nahe des Surley-Felsens, »6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen«,63 misslingt jedoch: »Aber ich habe geirrt, ich verstehe, nachdem ich in Sils Maria gewesen bin, von Sondrio heraufkommend, von unten herauf also, Nietzsche noch weniger als vorher, ich behaupte, ich verstehe ihn jetzt überhaupt nicht mehr, nichts mehr von Nietzsche.« (A 158) Mit dem Scheitern der hermeneutischen Höhenübung steht aber auch das Gipfeltreffen im Grödnertal vorab unter schlechten Vorzeichen. Was immer der Geist für eine Welt als Wille und Vorstellung in der Höhe zu ersinnen sucht, er kommt in der Passage mit ihren Kostümen, »silbrig glitzernden Ballettschuhen« (A 222), eifersüchtigen Küssen, dem Lange-Nase-Zeigen sowie den kleinbürgerlichen Händeln über die unbezahlte Zeche, über eine Burleske nicht hinaus. Im Vergleich zum Frühwerk, mit Texten wie Frost oder Verstörung, wo in der Höhe noch dumpf Eiseskälte und Tod herrschen, hat sich in Auslöschung der Ton zwar geändert. Exponierte Lagen gehören jedoch durchgängig zum bewährten Repertoire der bernhardschen Prosa. Der Titel des bereits 1959 verfassten, aber erst 1989, als letztem zu Bernhards Lebzeiten publizierten Texten, erweist sich in dieser Hinsicht als programmatisch für das Gesamtwerk: In der Höhe, Rettungsversuch, Unsinn. So verlässlich Bernhards Protagonisten in die Höhe streben, so sicher ist das Scheitern dieser Aufstiege. »Die in die Berge Geflüchteten«64 finden weder Zuflucht noch eine innere oder sonstige Einkehr auf dem Gipfel. »[Z]uerst hinauf in das Hochgebirge, um sich in die Tiefe der Felsspalte hinunterzustürzen«65, so summiert Roithamer in Korrektur den Todesdrang der Aufstrebenden. Gleichfalls stellt in Beton und Der Untergeher der elevierte Standort nur noch den Ort dar, der als Sprungbrett zum selbstgewählten Sturz in die Tiefe dient. In Beton springt Härtl vom Balkon; in Der Untergeher ist es der Salzburger Mönchsberg, »der auch Selbstmordberg genannt wird«,66 auch wenn der Erzähler den Mut zum letzten Schritt dort nicht aufbringt.
63 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-1882. KSA 9, München 1999, S. 494. 64 Thomas Bernhard: In der Höhe, Rettungsversuch, Unsinn, Frankfurt a.M. 1997, S. 8. 65 Thomas Bernhard: Korrektur, Frankfurt a.M. 1988, S. 316. 66 Thomas Bernhard: Der Untergeher, Frankfurt a.M. 1983, S. 15.
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In Verstörung und Auslöschung sind ferner die Herkunftskomplexe auf Anhöhen exponiert und lassen vermuten, dass diese Erbschaftsorte nicht nur besetzt sind, sondern auch keine Rettung mehr bieten. »Oben, hatte ich zu Gambetti gesagt, liegt Wolfsegg.« (A 163) Besonders auf Wolfsegg bilden die geographische und geistige Höhe eine im literalen Sinn unheimliche Einheit: »Wolfsegg ist während der Naziherrschaft eine Hochburg des Nationalsozialismus, gleichzeitig eine Hochburg des Katholizismus gewesen. [...] Der Nationalsozialismus ist immer ihr Ideal gewesen.« (A 196, Herv. P.S.) Wenn die Höhe in diesem Zitat als korrumpiertes Erbe zugleich mit einem »Ideal« fusioniert, dann gerät die semantische Kodierung der Vertikalen für die Geistesmenschen, die in der abstrakten Höhe als geistiger Sphäre zugleich eine Klärung oder Befreiung ihrer Existenz suchen, in eine kaum entrinnbare Konfusion. Wo nicht nur die Philosophie und abendländische Metaphysik in der Höhe angesiedelt sind, sondern gleichfalls das Erbe des Nationalsozialismus und Katholizismus, ist jeder Ausweg nach oben abgeschnitten. Selbst für Muraus Revolte, die ihre Energien hauptsächlich aus einem philosophisch-literarischen Erbe zieht, bildet die Sublimation (als eine Form der Überwindung oder Aufhebung) in dieser Situation keine Option mehr. Nimmt mit der Höhe allenfalls die todesträchtige Tiefe zu, so ist sie als Topos des Denkens und Schreibens bei Bernhard gleichbedeutend mit einem radikalen Irrtum und Scheitern. Die Höhe wird als leeres bzw. fatales Gegenbild angesichts einer unerträglichen Realität entlarvt und legt einmal mehr nahe, dass Bernhard auch hier keinen Raum für positive Gegenbilder oder Zufluchtsorte offen lässt.67 Wenn es Bernhard nun trotz allem gelingt, die Höhe nochmals produktiv zu wenden, dann geschieht dies auf einer metadiskursiven Ebene: Die die Prosa arbeitet sich an den Hügeln ab. Vertikale und Horizontale bilden hierbei das negative Konstitutionsprinzip bzw. das Koordinatensystem, das es erlaubt, die Prosa der Geschichtenzerstörung in ihrer flachen Ausrichtung zu bestimmen.
67 Elfriede Jelinek setzt die Thematik von der Höhe bzw. dem Gebirge prominent fort. Zugleich exponiert sie mit der Diskursivierung des Bodens diesen in seiner fatalen bzw. fehlenden Tragkraft als Fundament »österreichischer Gründungsakte nach 1945«. Juliane Vogel: »Keine Leere der Unterbrechung. Die Kinder der Toten oder Der Schrecken der Falte«, in: W. Pichler/R. Ubl (Hg.), Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie, Wien 2009, S. 457-470, S. 458.
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4.3 S EBALD – E LEVATIONEN DES S CHREIBENS Die Verwandtschaft zwischen Sebald und Adorno war bereits zuvor Thema. Doch auch hier dient Adorno abschließend, um den Höhenflug der sebaldschen Prosa erneut zu perspektivieren und zu präzisieren. Im Gegensatz zu Bernhard und Kertész schließt das Schreiben Sebalds am deutlichsten an Adornos aufklärerischen Impuls an. Trotz zahlreicher kulturpessimistischer Aussagen des Autors hat sich gezeigt, dass Sebald wesentliche Ansätze, die dem Gestus der kritischen Theorie verwandt sind, in Anschlag bringt – vor allem hält auch Sebald an einer Selbstaufklärung der Aufklärung fest. Die Melancholie Sebalds ist daher keineswegs als Fatalismus zu diskreditieren.68 Wie bei Adorno sind auch bei Sebald vielmehr jene Momente in Rechnung zu stellen, die auf eine Negation der Negativität zielen. Sebald ist selbst dort, wo er einen mehr oder minder totalen Negationszusammenhang des modernen, europäischen Zivilisationsprozesses skizziert, »inkonsequent« (Adorno), indem auch er gegen die eigene Diagnose der Negativität einschreitet. In diesem Sinn sind abschließend die Einsätze der sebaldschen Prosa abzuwägen. Von den drei Autoren entfernt sich Sebald am weitesten von der Vorlage des Romans als Gattung, um nach neuen Schreibweisen zu suchen. Was sein Vorbild zunächst am Dokumentarismus zu nehmen scheint,69 entwickelt Sebald jedoch zu einer hochartifiziellen Schreibweise, die u.a. auf die Bricolage (Lévis-Strauss) zurückgreift. Sebald arbeitet mit einem breiten Fundus an Material, wobei sein Augenmerk auf dem Abgeschiedenen und Ausgegrenzten liegt – ein Interesse, das sich durchaus mit Adornos Sorge um das Nichtidentische und der Kunst als Stätte dieses Nichtidentischen in Beziehung setzen lässt. An dieser Stelle lässt sich zudem Sebalds Verwendung von diversem Bildmaterial und insbesondere von der Fotografie anführen, die der skizzierten Position Bernhards grundsätzlich entgegensteht. Im Unterschied zu Bernhard kommt dem Bildmaterial und der Fotografie bei Sebald ein konstitutiver Stellenwert zu. Zwar ist im vorliegenden Argumentationsgang kein Raum, um Sebalds Prosa als Literarische 68 Vgl. Fußnote 3 in der »Einleitung«. 69 Vgl. Hugo Dittberner: »Der Ausführlichste oder: ein starker Hauch Patina. W.G. Sebalds Schreiben«, in: Text + Kritik 158 (2003), S. 6-14, S. 10. James Wood spricht in einer Rezension von einem neuen Genre Sebalds. James Wood: »The Right Thread«, in: New Republic, 6. Juli 1998, S. 38.
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Foto-Texte zu analysieren. Zudem liegen bereits zahlreiche Studien vor, die dieses Phänomen detailliert erörtern – indem sie insbesondere die Relation zwischen Fotografie und Text,70 Realität,71 Vergangenheit72 oder Erinnerung73 besprechen. J.J. Long weist zudem nach, inwiefern sich Sebalds Thematisierung der Destruktionsgeschichte der Moderne in den Fotografien in Form von Machtstrukturen fortsetzt.74 Für den hiesigen Kontext ist zunächst jedoch der banale Befund bedeutsam, dass Sebald – anders als Bernhard – das Bildmaterial als mehr oder minder gleichrangiges Medium und Mittel neben der Schrift verwendet. Während Bernhard den Antagonismus der (Bild-)Medien inszeniert, ergänzt Sebald mit der Fotografie das Medium der Schrift. Das Bildmaterial und insbesondere die Fotografie unterliegen hierbei jedoch einer ähnlich skeptischen Ambivalenz wie sie der Schrift eigen ist. Das Bild ist gleichermaßen von der Dialektik zwischen Erinnern und Vergessen, Vergegenwärtigung und Absenz und nicht zuletzt zwischen Emanzipation und Repression durchzogen wie die Schrift. Steinaecker argumentiert diesbezüglich, dass die Fotografie das Ineinander von Erinnerung und Verlust im Vergleich zur Schrift in einem gesteigerten Grad ausstellt: Die (mitunter auratische) Erinnerungsfunktion wird durch das Foto als memento mori schärfer als in der Schrift augenfällig und derart kontrastiert bzw. hervorgekehrt.75 Die fotografische Suche nach Evidenz und das archivarische Bemühen konterka-
70 Vgl. Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Steinaecker fragt, inwiefern das Verhältnis von Foto und Text tautologisch oder notwendig ist. Vgl. ferner Markus Nölp: »W.G. Sebalds Ringe des Saturn im Kontext photobebilderter Literatur«, in: O. Grossegesse/E. Koller (Hg.), Literaturtheorie am Ende? 50 Jahre Wolfgang Kaysers »Sprachliches Kunstwerk«, Tübingen 2001, S. 129-141. 71 Vgl. Lilian Furst: »Realism, Photography, and Degress of Uncertainty«, in: Denham u.a. (Hg.), W.G. Sebald, S. 210-229. Steinaecker argumentiert, dass die Fotografie Koinzidenzen oftmals überhaupt erst aufzeigt, aber diese zugleich auch beglaubigt. Steinaecker: Literarische Foto-Texte, S. 250. 72 Vgl. Steinaecker: Literarische Foto-Texte; Alexandra Tischel: »Aus der Dunkelkammer der Geschichte«, in: Niehaus u.a. (Hg.), W.G. Sebald. Politische Archäologie, S. 31-45. 73 Vgl. Fuchs: Schmerzensspuren, S. 138-142; Maya Barzilai: »On Exposure: Photography and Uncanny Memory in W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten und Austerlitz«, in: Denham u.a. (Hg.), W.G. Sebald, S. 205-218. 74 Long: W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, S. 46-70. 75 Sebald schreibt: »Photographien sind Mementos einer im Zerstörungsprozess und im Verschwinden begriffenen Welt« (BU 178).
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riert Sebald in diesem Kontext wiederholt mit Sollbruchstellen, die im Bild angelegt sind, oder die sich in Widersprüchen zwischen Text und Bild eröffnen. Auch die bewusste Verwendung von fingiertem Material ist hier zu nennen. Sebald nutzt die Fotografie demnach in einem produktiven Sinn, teilt aber mit Adorno die Einstellung, dass sich das Bild (wie die Schrift) zugleich gegen sich selber kehren lässt und dass diese Reflexion auf das Medium auch geleistet werden ›muss‹. Das in den Text montierte Bildmaterial folgt aber letztlich nicht nur der Tätigkeit (und Reflexion) des Sammelns und Aufbewahrens,76 sondern es fügt sich zugleich der Logik des Arrangements. Steht die Bedeutsamkeit des Suchens und Sammelns von Bruch- und Fundstücken bei Sebald außer Zweifel,77 so lautet die hier vertretene These, dass mit der Aneinanderreihung und Aufzählung des Materials allein wenig gewonnen ist. Suchen und Sammeln bilden mit der dispositio zwar einen konstitutiven Moment, entscheidend ist jedoch die ordo als Darbietungsordnung. »Die Beziehung zwischen der Findungsordnung (dispositio) und der Darbietungsordnung (ordo) und vor allem die Distanz und die Ausrichtung […] der beiden parallelen Ordnungen besitzt also immer eine theoretische Tragweite: Jedes mal steht die gesamte Auffassung der Literatur auf dem Spiel.«78 Mit der Suche nach der »Ordnung der Dinge« stellt sich zum einen die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, zum anderen gewinnt sie bei Sebald ihre spezifische Bedeutung im Hinblick auf die ins metaphysisch weisende Dimension des Textes. An dieser Stelle kehrt demnach die Frage nach dem übergreifenden ästhetischen Ordnungsprinzip, das zum einen mit Thomas Browne, zum anderen mit Astrologie und Aberglaube in den Text eingeführt wird, wieder. Die Gegenüberstellung von Sebald und Adorno ist insbesondere in Bezug auf Astrologie und Aberglaube aufschlussreich, weil Adorno die irrationalen Momente, die der Kunst aufgrund ihres
76 Heiner Boehncke: »Clair obscure. W.G. Sebalds Bilder«, in: W.G. Sebald, Text + Kritik 158 (2003), S. 43-62, S. 51: »Typisch ist die ›nomadische‹ Existenz der Bilder zwischen den Buchseiten, in Antiquitätengeschäften oder Trödelladen. Bis jemand kommt, der sie ›rettet‹. Der sie an sich nimmt und dem ›ungeheuren Appell‹ gehorcht, der von ihnen ausgeht, und der darin besteht, sich intensiv auf ihre Erzählung einzulassen.« 77 Vgl. Dominik Finkelde: »Wunderkammer und Apokalypse: Zu W.G. Sebalds Poetik des Sammelns zwischen Barock und Moderne«, in: German Life and Letters 60/4 (2007), S. 554-568. 78 Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 52.
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mimetischen Erbes anhaften, äußerst kritisch bewertet. Adorno richtet sich dezidiert gegen die esoterischen Tendenzen der ästhetischen Moderne,79 indem er an die Stelle des Geistes (als esoterischem Wissen) die Konstruktion des Kunstwerks setzt: »Mimesis ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wiederum das, woran er entflammt. In den Kunstwerken ist der Geist zu ihrem Konstruktionsprinzip geworden, aber genügt seinem Telos nur dort, wo er aus dem zu Konstruierenden, den mimetischen Impulsen aufsteigt, ihnen sich anschmiegt, anstatt dass er ihnen souverän zudiktiert würde.« (ÄT 180)
Adorno differenziert den mimetischen Impuls, der Konstruktionsprinzip geworden ist, von einem, der dem Werk von außen aufgesetzt ist. »Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen; kein Vorrationales oder Irrationales.« (ÄT 87) Folgt man Adorno in Bezug auf die Konzeption der Ringe, so lässt sich die in Kapitel 3 getroffene Unterscheidung nochmals bestätigen und konkretisieren. Gemäß der Konzeption Adornos entscheidet sich der Stellenwert des irrationalen Wissens nicht nur zwischen einer funktionalen und einer signifikanten Deutung, die Astrologie und Aberglaube thetisch als Ordnungsschema geltend macht, sondern Adorno fragt nach den Prämissen und der Logik des Arrangements. »Die Relevanz des Innerweltlichten, Geschichtlichen« (ND 354) muss aus dem Material und seiner Anordnung erwachsen und kann nicht durch einen metaphysischen Überbau sichergestellt werden. Adorno vertraut diesbezüglich auf die Rationalität des Kunstwerks, die diesem allein vermöge seines Konstruktionsprinzips innewohnt. Zugleich stellt die Rationalität aber auch die Bedingung dar, der sich ein gelungenes Kunstwerk stellen muss: »Konstruktion [ist] die heute einzig mögliche Gestalt des rationalen Moments im Kunstwerk.« (ÄT 91) Der Rätselcharakter, der der Kunst gemäß Adorno konstitutiv ist (vgl. ÄT 182), liegt demnach nicht im Konstruktionsprinzip. Er kommt ihm vielmehr als Mehrwert zu, der ihm trotz und aufgrund einer rational nachvollziehbaren Anordnung angehört: »Bedingung des Rätselcharakters der Werke ist weniger ihre Irrationalität als ihre Rationalität.« (ÄT 182) Die Ausführungen Adornos sind aufschlussreich, weil sie jenen Moment in Die Ringe zu benennen helfen, der die »Koinzidenzpoetik« 79 Vgl. Beat Wyss: Nach den großen Erzählungen, Frankfurt a.M. 2009, S. 54.
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mit Astrologie und Aberglaube auf ein Schema zuschneidet, das die Anordnung ihres Rätselcharakters beraubt. Das astrologische Raster gibt die ›Irrationalität‹ der Koinzidenzpoetik als ›mythische Rationalität‹ aus und verstellt damit den Blick auf die Bezüge, die sich aus der Konstellation des Materials selbst ergeben könnten. Anstatt darauf zu vertrauen, dass aus dem Arrangement des Materials ein Sinn – oder ein Reflexionspotential – erwächst, wird dieser vom Text selber diktiert. Die Vermutung, dass Sebald auf diese Art und Weise die metaphysische Dimension des Textes zu garantieren sucht, wo es »heute offensichtlich kein Diskursverfahren mehr [gibt], in dem Metaphysik noch einen Platz beanspruchen dürfte« (UH 163), ist sicher nicht falsch. Dies gilt insbesondere dort, wo die metaphysische Spekulation, die Sebald in eine mythopoetische Konzeption des Schreibens überführt, zugleich mit einer moralischen Haltung einhergeht, der es gemäß des Autors zur Beschreibung der ›Katastrophe‹ bedarf. Auch hier darf man vermuten, dass Astrologie und Aberglaube auf eine Sinnstiftung drängen. Der Einsatz der metaphysischen Spekulation lässt sich im Vergleich zu Adorno aber noch weiter kontextualisieren und präzisieren. Höhenflüge der Prosa Nicht nur Sebald, sondern auch Adorno hadert im nachmetaphysischen Zeitalter mit bestimmten Folgen des Säkularisierungsprozesses und beharrt nach wie vor auf einer metaphysischen Spekulation – sei es auch eine Metaphysik in Schwundform. »Anstelle der Kantischen erkenntnistheoretischen Frage, wie Metaphysik möglich sei, tritt die geschichtsphilosophische, ob metaphysische Erfahrung überhaupt noch möglich ist.« (ND 364f.) Nach dem Ende der Metaphysik lässt sich für Adorno zumindest das Bewusstsein von ihr aufrecht erhalten, auch wenn die Fallhöhe zu Kants Kritik der Vernunft mit diesem Schritt deutlich markiert ist. Die Parallele zwischen Adorno und Sebald ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, weil Adorno in seinen »Meditationen zur Metaphysik«, die im Schlusskapitel der Negativen Dialektik kaum zufällig mit der Reflexion auf Auschwitz einsetzen, genau jene Höhenlinien des Denkens auslotet, die gleichfalls Sebald in Die Ringe umsetzt. So benennt Adorno präzise das Dilemma des sebaldschen Erzählers, wenn er von der »Fähigkeit, im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben« (ND 356, Herv. P.S.) spricht. Zeugt der
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Tod mit der Erfahrung des Massenmords an den Juden von einer »absolute[n] Negativität« (ND 354), so bedarf es gemäß Adorno gerade in diesem Moment einer Transzendenz, um der schieren Faktizität des Negativen zu opponieren. Die schmale Trennlinie verläuft zwischen einer Sinngebung des Sinnlosen und der Hingabe an dieses, die die Sinnlosigkeit dessen ›was ist‹ wiederholt und damit sanktioniert. Adorno äußert hier wortwörtlich jenes Unbehagen, das Sebalds Erzähler in Anbetracht von Borges’ »argentinischem Roman« formuliert, der die Negativität des Seienden darstellt und in dieser Negativität belässt. Bei Adorno heißt es: »Das Leben nährt den Horror der Ahnung, was erkannt werden muss, gliche eher dem, was down to earth sich findet, als dem, was sich erhebt.« (ND 357, Herv. P.S.) Wo die Negativität des Seienden das Maß des Erträglichen sprengt, droht jeglicher Positivismus das geschehene Unrecht zu verraten, indem er die Erfahrung des Negativen gegen die positiven Momente und das Überleben ausspielt. Aber auch das Zugeständnis an eine mehr oder minder absolute Negativität erweist sich als problematisch, weil diese Position auf einen unheilbaren Fatalismus zuläuft. In dieser Situation optiert Adorno nun für die Negation (der Negativität). Während er die Negativität in ihrer Faktizität zu ihrem Recht kommen lässt, negiert er sie zugleich ausgehend von einer Norm der Positivität als eines Nichtseinsollenden.80 Sebalds Schreiben der Elevation korreliert zunächst mit Adorno, auch wenn Sebald mit seiner Indienstnahme der Vertikalen nicht diesen, sondern Thomas Browne zitiert, der »denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein [...] mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten« (RS 27). Die Erhebung leitet sich (für Sebald und Adorno) aus der ›Notwendigkeit‹ ab, dass die Beschreibung der ›Katastrophe‹ in ihrer schieren Negativität einer transzendenten Gegenbewegung bedarf, d.h. es geht darum, der Negativität des Unheils als dem »down to earth« die Erhebung entgegenzusetzen. Das Medium in dem Browne seinen Höhenflug antritt, ist die Sprache als »das einzige Mittel«, das den »gefahrvollen Höhenflug[]« (RS 30) erlaubt. Dass dieser Flug die
80 Mit Adornos Insistenz auf der Metaphysik geht es also nicht darum, wie es der frühe Lyotard nahe legt, »die Metaphysik in ihren Niedergang zu begleiten«. Es verhält sich genau umgekehrt: Gerade in einer nachmetaphysischen Zeit bedarf es angesichts der ›real‹ vorherrschenden Negativität der metaphysischen Spekulation, um gegen die faktische Negativität einzuschreiten. Vgl. Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, S. 7.
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Gefahr des Absturzes in sich birgt, wird dabei in Kauf genommen: »Zwar gelingt es ihm [Browne, P.S.], unter anderem wegen dieser enormen Belastung, nicht immer von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird, wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation.« (RS 30) Hatte schon Browne mit der Last zu kämpfen, die er seinen Sätzen und Satzverknüpfungen zumutet, so stehen die Dinge für Sebald nach dem Holocaust ungleich schwerer. Die Fallhöhe erklärt sich – liest man die Ringe mit Blick auf Adorno – aus dem geschilderten Dilemma, dass die Erfahrung der Negativität nur mit der Transzendenz aufgewogen werden kann: »Der Gang der Geschichte nötigt das zum Materialismus, was traditionell sein unvermittelter Gegensatz war, die Metaphysik.« (ND 358) Wo die Frage nach der Metaphysik nicht nur möglich, sondern ›nötig‹ ist, stellt jedoch nicht nur der Gehalt der Spekulation vor Probleme, sondern – wie bereits in Kapitel 3 dargelegt – vor allem auch der Ort. Im Vergleich zu Sebald konnte Adorno seinen Begriff dessen »was metaphysische Erfahrung sei« noch festmachen »an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn« (ND 366).81 »Das Versprechen, das für ihn in den Namen von Odenwaldstädten verborgen schien, erwies sich natürlich als Trug, doch wie sehr die kindlichen Wahrnehmungen auch irren mochten, es ist just dieser Irrtum, der das ›Modell der Erfahrung‹ ›stiftet‹, um das es der Metaphysik geht.«82 Wie Rolf Tiedemann darlegt, entbehren diese Erinnerungen und Erfahrungen ihres realen Gehalts; trotz allem liefert die »Bilderwelt der Kindheit«83 Adorno gerade jenes Erfahrungssediment, um eine innerweltliche metaphysische Erfahrung
81 Vgl. Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biografie, Frankfurt a.M. 2003, S. 44: » [D]ie beglückenden Erfahrungen der Kindheits- und Jugendjahre im Frankfurter Elternhaus [sind] gar nicht hoch genug zu veranschlagen. [...] So äußerte er sich [...] auf die Frage, warum er trotz nationalsozialistischer Barbarei und Vertreibung nach Deutschland zurückgekehrt sei: ›Ich wollte einfach dorthin zurück, wo ich meine Kindheit hatte, am Ende aus dem Gefühl, dass, was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen‹.« 82 Tiedemann: Mythos und Utopie, S. 83. 83 Ebd.
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gerade auch nach Auschwitz geltend zu machen.84 Für Sebald trägt der idyllische Heimatort Wertach im Gegensatz zu Adornos Kindheitsorten hingegen kein Versprechen vom Glück mehr; vielmehr ist es der Name für das Unheimliche. In seiner Eröffnung der Opernfestspiele 2001 spricht Sebald diesbezüglich von einer Postkarte mit einem Panorama der Allgäuer Berge und Oberstdorfer Schuhplattlern, die er zufällig in einem Trödelladen in London aufgestöbert hat: »Es ist mir beim Auffinden dieser Karte [...] wahrhaftig so gewesen, [...] dass ich meiner vaterländischen Vorgeschichte [...] nie würde entkommen können.«85 Die Anekdote entspricht ihrem Gehalt nach der Beschreibung, die dem Ort W. [ertach] in der Prosa zukommt – sei es in Schwindel. Gefühle oder Nach der Natur. Von einer Geburt, die sich wie im Prosagedicht Nach der Natur geschildert (vgl. Kapitel 2), im Zeichen des Unheils vollzieht, ist unwillkürlich auch die Kindheit als Stätte eines unerfüllten Glückversprechens affiziert. Die Vergangenheit stellt Sebald demnach keine Bilder mehr zur Verfügung, die als Träger eines innerweltlichen, metaphysischen Erfahrungsgehalts dienen könnten. Das betrifft aber auch den Stand des Erzählers, der für eine Fortschreibung der Geschichte produktiver Anknüpfungspunkte bedarf. Zumindest in der Gegenüberstellung zu Adorno mag es daher schlüssig erscheinen, dass Sebald mit Astrologie und Aberglaube auf eine andere Erfahrungssemantik zugreift, die ihr Bild nicht mehr in der Erinnerung und Empirie lokalisiert. Liest man Die Ringe auf der Vorlage der Ästhetische[n] Theorie, wären trotz allem nicht der Monismus und Holismus des Textes stark zu machen, sondern der Riss im konstellatorischen und narrativen Ge-
84 Agamben sucht gleichfalls die Kindheit auf, um dort die Dimension sowohl der Geschichte als auch einer metaphysischen Erfahrung zu eröffnen. Agamben: Kindheit und Geschichte, S. 69 u. 78: »[D]ie Theorie der Erfahrung [ist] nichts anderes als eine Theorie der Kindheit«; »Erfahren bedeutet in diesem Sinne notwendigerweise, den Zugang zur Kindheit als transzendentaler Heimat der Geschichte wiederzufinden.« Anders als Adorno entwickelt Agamben seinen Kindheitsbegriff (vom lat. infans, als nichtsprechend) jedoch maßgeblich anhand von sprachphilosophischen Überlegungen. 85 W.G. Sebald: »Da steigen sie schon an Bord und heben zu spielen und zu singen an. Moments musicaux: Über die Schrecken des Holzschuhtanzes, den Falschsinger Adam Herz und die Bellini-Begeisterung in einem anderen Urwald«, Rede zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele 2001, in: FAZ, 7.7.2001.
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füge, der in die Irritation mündet: »[O]b die Verheißung Täuschung ist, das ist das Rätsel.« (ND 193) Nur in der Negation kann die Kunst gemäß der negativen Poetik ihr Versprechen auf Glück aufbewahren, ohne von ideologischen und sonstigen Interessen vorschnell vereinnahmt zu werden. In diesem Sinne ist »Kunst […] das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird« (ÄT 205). Dort wo Die Ringe auf eine narrative Schließung drängen, sei es auch nur vermöge ihrer Oberflächenstruktur, die ein geschlossenes Papieruniversum zu spinnen sucht, wäre demnach das Unbehagen des Erzählers zu betonen, das er gegenüber Borges’ Roman äußert, »der gegen offenkundige Tatsachen verstoßen und sich in verschiedene Widersprüche verwickeln sollte in einer Weise, die es wenigen Lesern – sehr wenigen Lesern – ermöglichen sollte, die in dem Erzählten verborgene, einesteils grauenvolle, andernteils gänzlich bedeutungslose Wirklichkeit zu erahnen.« (RS 90) Gerecht wird man dem Text im Spiegel der negativen Ästhetik somit nur dort, wo man den Erzähler in seinem Höhenflug der Sprache – mit dem Blick des Schöpfers – in der Levitation belässt. Der kalkulierende Blick des Erzählers spekuliert auf eine Kommunikation mit der Natur als dem Anderen (dem er gleichfalls angehört). Im Blicktausch ist der prekäre Stand des Erzählers – so darf man vermuten – auf dem löchrigen Grund über der Klippe zeitweise stabilisiert. Die Legitimation gewinnt er, indem er nach den Bedingungen der Möglichkeit einer literarischen Trauerarbeit fragt, die die transzendentale Heimatlosigkeit ausstellt. Der Sturz droht aber nicht nur in der Kluft zwischen Text und Realität. Vielmehr resultiert er aus dem mythopoetischen Entwurf einer Literatur, die ihren utopischen Ort nur noch im Universum des Textes auszuweisen vermag und sich somit paradoxal strukturiert – zumal Sebald den Standort der Literatur, wie dargelegt, in ihren immanenten und externen Bezügen an den meisten Stellen äußerst kritisch bewertet. Demnach ist einer Literatur, die für die Restitution einer erlösungsbedürftigen Natur eintritt – als Bedingungsmöglichkeit, um überhaupt Trauer über eine destruktive Geschichte zu tragen – der Fehltritt von Anfang an eingeschrieben. Die Setzung des Textuniversums steht und fällt mit dem Erzähler, der seinen prekären Stand auf dem perforierten Grund über der Klippe einnimmt. »[O]b und wie Kunst überlebe nach dem Sturz der Metaphysik, der sie Dasein und Gehalt verdankt« (ÄT 506), diese Frage, die Sebald und Adorno teilen, entscheidet sich demnach nicht am metaphysischen
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Gehalt, den das Kunstwerk sinnstiftend in Aussicht zu stellen vermag. Adorno ist sich dieser Einsicht wohl deutlicher bewusst als Sebald: »Kein Netz ist unter den authentischen Kunstwerken gespannt, das in ihrem Sturz sie behütete.« (ÄT 415) Dass auch das Netz über dem Krankenhausfenster (Abbildung 2, Seite 124) eingangs von Die Ringe den Erzähler – der sich dort auf einer Klippe stehend wähnt – kaum zu halten vermag, ist zu vermuten. Jedenfalls findet Adornos »Metaphysik im Sturz« hier ein treffendes Bild: Sebalds Erzähler setzt vermittels der Schrift zu einem Höhenflug der Sprache an, wohl wissend, dass ihn nichts trägt, bis auf die prekären Nahtstellen der Sätze.
4.4 K ERTÉSZ – AUFHEBUNGEN
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Um den Einsatz von Kertész’ Schreiben in Gegenüberstellung mit Adorno abzuwägen, bietet es sich an, beim Sprach- und Schreibverständnis beider anzusetzen. Die Sprache ist das Medium par excellence, das die antinomische Position, das Subjekt und den Autor betreffend, spiegelt. Zugleich ist sie aber auch das Medium, das es erlaubt, in ein antithetisches Verhältnis zur Umwelt zu treten. Der Sprache kommt ihre zentrale Bedeutung deshalb zu, weil sie innerhalb des destruktiven Vergesellschaftungszusammenhangs, den sowohl Kertész als auch Adorno postulieren, ein letztes Refugium darstellt: Zum einen erlaubt sie die Liquidation von Individualität und Nichtidentität nochmals zu reflektieren; zum anderen birgt sie aber ein Widerstandpotential gegen die Auslöschung von Identität. Ausgangspunkt ist zunächst, wie bei Bernhard, die Sprache als Kampfzone. Die Sprache innerhalb der totalitären Systeme führt zur Liquidierung des Individuums. »Was die Sprache angeht: Die Totalität grenzt den Menschen sogar aus dem eigenen, inneren Leben aus, das ist immer zu beachten.« (GT 30) Der »New Speak« (ES 209) der totalitären Regime vertreibt den Menschen aus seinem Inneren und raubt nachhaltig die Illusion, dass es eine linguistische Sphäre des Privaten oder eines inneren Erlebens geben könnte. Die Sprache ist somit das Medium, das die Selbstentfremdung des Subjekts von sich selbst nachhaltig besiegelt. Die Menschen in der (sozialistischen) Diktatur »haben ihr Leben auf einen falschen Gebrauch der Sprache gebaut«; »Sie haben diesen falschen Sprachgebrauch zum gültigen Konsens erhoben und haben bei ihrem Abgang lauter Sprachgeschädigte zurückgelassen.« (IEA 10) Wie bei Bernhard ›muss‹ auch für Kertész die Auto-
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biografie unter diesen Bedingungen zur Farce werden: »Das Autobiografischste an meiner Biografie ist, dass sie nichts Autobiografisches enthält.« (GT 185) Wo die (öffentliche) Sprache in das (Innere des) Subjekt(s) eingedrungen ist, ist das Innen in ein Außen übergegangen und die Differenz an sich droht obsolet zu werden.86 Unter den geschilderten Bedingungen bleiben zwei Möglichkeiten. Zum einen kann Subjektivität nur noch in ihrer negativen entfremdeten Form analysiert werden. Zum anderen gilt es aber, nach positiven Überresten von Subjektivität Ausschau zu halten, die gerade in den Störungen zutage treten, wo sich das Subjekt doch nicht bruchlos in die linguistischen Strukturen fügt, »weil die Sprache nicht gänzlich vom Netz der Vergesellschaftung und Kommunikation eingefangen ist« (NL 220). Folgt man dem ersten Pfad und geht davon aus, dass Subjektivität allein in ihrer veräußerlichten und entfremdeten Gestalt zugänglich ist, gilt es, die Herrschaftsverhältnisse zu analysieren, die das Subjekt determinieren. »Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen« (MM 13) – so folgert Adorno, auch wenn er weniger das Subjekt innerhalb der totalitären Regime im Blick hat, wie Kertész, sondern maßgeblich die Bedingungen von Subjektivität in der spätkapitalistischen Gesellschaft. So wie Adorno die Erfahrungen des Nationalsozialismus jedoch auf die spätkapitalistische Gesellschaft überträgt, indem er die Kulturindustrie in Kontinuität zum Nationalsozialismus liest, so macht Kertész seine These in umgekehrter Richtung auch für die Demokratien und den Kapitalismus geltend. Beide Autoren gehen jeweils von einem Zustand des Falschen aus, der das Ganze betrifft. Der Roman eines Schicksallosen zeichnet in dieser Hinsicht ausgehend von der »STRUKTUR« der totalitären Ordnung den Persönlichkeitsverlust schrittweise nach, bis der Protagonist sich »in ein Loch, in Leere« (RES 180) verwandelt hat. Im Gegenzug ist jedoch sowohl Kertész als auch Adorno daran gelegen, nach positiven Momenten von Subjektivität zu forschen – also 86 Ähnlich argumentiert Adorno, wenn auch er in diesem Kontext die gängige Memoiren- und Erinnerungsliteratur diskreditiert. Bereits 1945 spricht Adorno zynisch vom »Eifer der biographischen Schundliteratur«, die einem »Drang zur falschen Vermenschlichung entspringt« (MM 163). Wo die Sprache einem falschen Sprachgebrauch unterliegt, führt ein unreflektierter Sprachgebrauch, der sich auf den Konsens der gültigen Begriffe verlässt, lediglich zur Reproduktion des beschädigten Lebens.
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nach jenen Momenten, die Bernhard in Auslöschung letztlich ausschließt. Kertész verortet die Genese des Schriftstellers innerhalb der Unstimmigkeiten, die aus einer Diskrepanz zwischen Subjekt und Sprache resultiert: »Vielleicht macht nicht irgendeine Begabung den Menschen zum Schriftsteller, sondern die Tatsache, dass er die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert.« (GT 18) Kertész eröffnet an dieser Stelle eine Spannung zwischen Subjekt und Sprache, die eine Widerständigkeit im Subjekt verortet, weil es sich nur mangelhaft in die vorhandene linguistische Struktur fügt. Die These findet ihre Fortsetzung in Kertész’ Begriff des atonalen Sprachgebrauchs. In der hierarchischen Anordnung von tonaler und atonaler Sprache bleibt der atonalen Sprache aber nur die Möglichkeit, innerhalb des tonalen Sprachgefüges den dominanten Sprachgebrauch als »Technik der Verkehrung« (Adorno) von innen her aufzubrechen. Auch in der deutschen Übersetzung sind der auffallende Sprachduktus und die Syntax von Kertész’ eigenwilligem Stil erhalten. Den idiosynkratischen, einen »das Ohr oft schon beleidigende[n] Gebrauch der Sprache«87 von Kertész beschreibt Földényi folgendermaßen: »Ich kenne keinen Schriftsteller, der mit Verbalpräfixen, Nebensätzen und der Wortstellung ähnlich ›irregulär‹, unregelmäßig umging: Heinrich von Kleist. Auch er suchte so verzweifelt seine eigene Wahrheit wie Kertész, und auch er stieß sogleich auf die Barrieren der Sprache.«88 Die Arbeit an der Sprache erhält aber ferner dort eine signifikante Bedeutung, wo sie im Feld des Ästhetischen angesiedelt ist. An dieser Stelle kommt erneut der Gattungsbegriff zum Tragen. Adam Zagajewski bemerkt treffend, dass Kertész an einem »Mythos des Romans«89 arbeitet. Wie in der negativen Ästhetik Adornos ist der Bezug zur Gattung hier ein doppelter: Die Referenz dient einerseits dazu, die Hinfälligkeit der Konvention auszustellen; andererseits zielt sie jedoch auf eine Bewahrung. Der Roman steht hier als Mythos innerhalb der geschichtsphilosophischen Deutung von Kertész als Bürge für den »Geist einer Erzählung« ein,90 der sich an einem bürgerlichen Weltbild orientiert. Im Überleben wird der Gattungsbegriff des Romans demnach
87 88 89 90
Földényi: Schicksallosigkeit, S. 276 Ebd. Zagajewski: »Über die Treue«, S. 755. Kertész übernimmt diese Wendung von Thomas Mann (ES 45-46).
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strategisch bedient. Er wird aufgerufen, um in seiner sinn- und kulturstiftenden Funktion negiert zu werden – sei es als Bildungsroman, der unter verkehrten Vorzeichen fortgeschrieben wird (Der Roman eines Schicksallosen), oder als verbrannter Roman, an dessen Stelle ein Roman über den »verlorenen Roman« tritt (Liquidation). Der Roman diktiert die positive Norm gerade auch in seiner Negation; diese geht auf ihrer Kehrseite demnach mit der Insistenz einer Fortschreibung des Romans in einem affirmativen Sinn einher. Der signifikante – legitimierende – Moment der Negation ist in dieser Konzeption einer negativen Poetik die Schutzfunktion, die eine Anästhesie des beschädigten Individuums in Aussicht stellt: »Aufpassen also, nach einer geschlossenen Form streben, den Inhalt gleichsam hinter eine Glasscheibe stecken, gut sichtbar, aber unantastbar« (GT 13) – so lautet die Vorgabe des Autors an sich selbst. Daniel Steuer beschreibt dieses Programm folgendermaßen: »Hier geht es nicht mehr um geschichtliche Aufarbeitung oder Bewältigung, sondern um eine notwendig gewordene Einstellung zur Geschichte, die diese nicht mehr als sinnvolles Gewebe von Zweck-, Mittel- und Ursache-WirkungBeziehungen betrachtet, um weitere Zwecke zu betreiben und Wirkungen hervorzubringen, sondern die jedem Funktionalismus und jeder Instrumentalisierung den einzigen Versuch entgegenstellt, das Individuum zu schützen.«91
In dem Maß, wie die Schutzfunktion Priorität gewinnt, treten alle weiteren Aspekte der Fortschreibung – Aufarbeitung, Bewältigung, Kontinuität etc. – in den Hintergrund. Wurde die Schutzfunktion der negativen Ästhetik in begrenztem Ausmaß auch für Bernhard geltend gemacht, so lässt sich hier eine Differenz sowohl zwischen Kertész und Bernhard als auch zwischen Kertész und Adorno markieren. Der Vergleich zu Bernhard ist an dieser Stelle aufschlussreich, weil er die differenten Negationsbewegungen beider Autoren erneut zu präzisieren erlaubt. Wo das Individuum einen Schaden nimmt, der mit der Zukunftsvision von Bernhards Protagonisten Murau irreversibel ist, optiert dieser für einen Entzug. Zunächst scheint B. in Liquidation einen ähnlichen Schluss zu ziehen. Mit dem Selbstmord und dem ver-
91 Steuer: »Thomas Bernhards Auslöschung«, S. 75. Steuer formuliert diese Sätze in Bezug auf Kertész und Bernhard. Hier liegt das Augenmerk hingegen auf der Differenz beider Autoren.
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brannten Roman steht in Liquidation sogar eine Aufkündigung von Gattung und Gesellschaft im Zentrum, die Muraus Individualanarchismus zu übertreffen scheint. Trotz allem zielen die Entzugsbewegungen in unterschiedliche Richtungen. Der Auflösung des Romans bei Bernhard, steht dessen Aufhebung bei Kertész gegenüber. Der Unterschied beider Modelle zeichnet sich augenfällig an den unterschiedlichen Erzählkonstellationen ab. Bei Bernhard ist die Hierarchie der beiden Erzählinstanzen von ›extradiegetischem‹ und ›intradiagetischem‹ Erzähler nivelliert. Im Übergang vom Ich-Erzähler (Murau) zum Er-Erzähler ist der Text gerahmt und zitiert nochmals konventionell die Gattung des Romans. Hebt man die Hierarchie der doppelten Erzählinstanz hingegen auf und liest den Er-Erzähler als formale Prothese Muraus, so schreibt Auslöschung den Roman als Prosa vermittels einer rein textimmanenten Strategie fort. Als Schreibweise im Nullzustand löst Bernhard den Text aus jeglichen signifikanten Zuschreibungen (wie u.a. die von Subjekt, Geschichte oder Gattung). Bei Kertész bleiben die Hierarchien hingegen bestehen oder werden sogar forciert. Zwar treten auch in Liquidation zwei Erzählinstanzen auf, die Verdoppelung folgt aber einer anderen Logik. Liquidation ist ein Roman über einen verlorenen Roman, der aus der Außenperspektive erzählt wird. Der Roman im Inneren des Romans, der aus der Innenperspektive (der Auschwitz-Erfahrung) erzählen könnte, bleibt dem vermittelten Zugriff vorab entzogen. Allein die – der Tendenz nach sterile – Rahmenerzählung bleibt erhalten. Trotz allem ist gerade jener – klinische – Moment des Entzugs entscheidend. Im Fortschritt vom Roman eines Schicksallosen zu Liquidation hat Kertész mit Keserű die Brücke von der Innen- zur Außenperspektive überschritten. Nach wie vor spricht Kertész von der Inkommensurabilität der Auschwitz-Erfahrung, die keine Vermittlung zulässt. Die Unmöglichkeit der Vermittlung findet ihr Bild im radikalen Hiatus der beiden ›Protagonisten‹ Keserű und B. So wenig wie B. (nicht nur nach dem Selbstmord) die Brücke zu überqueren vermag, so nachhaltig ist Keserű der Übergang verstellt (nicht zuletzt aufgrund des verlorenen Romans). Die Vermittlung der Auschwitz-Erfahrung, für die der verbrannte Roman einsteht, ist nicht erfolgt. Köves’ Projekt aus dem Roman eines Schicksallosen, eines Tages vom Glück der Lager zu erzählen, ist storniert. Damit ist das Ende der Lektüre jedoch noch nicht erreicht.
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Ein Grab in den Wolken Kertész setzt sein Schreibprogramm im Dienst der Schutzfunktion gerade an diesem scheinbar toten Punkt fort. Die negative Poetik nimmt auf dieser Ebene eine Anästhesie vor, die den Protagonisten narkotisiert. Auch hier gibt Kertész’ essayistisches Werk den notwendigen Aufschluss. Der Selbstmord stellt keinen Endpunkt dar, sondern wird im Medium der Schrift zugleich als Ausflucht konzipiert: »Aus der Gesellschaft gibt es ebenso wie aus dem Individuum nur einen Ausweg, und zwar den Tod.« (GT 193) Kertész spricht hier weniger vom biologischen Tod. Der psychosomatische oder besser gesagt, der punktgenaue Tod, stellt zugleich ein zu einfaches und zu schwieriges Problem dar. Mit Kafka weiß Kertész, dass nicht das Sterben, sondern das Nichtsterbenkönnen das eigentliche Problem der Moderne und Nachmoderne darstellt. Kafkas Jäger Graccus (der auch die Prosa Sebalds bevölkert) liefert das Bild, dass man sich selbst überleben kann: »[I]ch habe überlebt, also bin ich.« (K 39) Stellt für Kertész das Überleben das maßgebliche Problem dar, so ist der Moment des ›richtigen‹ Todes nach Auschwitz verpasst. Wenn Kertész den Tod trotz allem als Ausweg konzipiert, dann dient der Salto mortale dazu, einen Stand wiederzugewinnen, der in einer paradoxen Wendung zurück ins Leben zielt. »Ich hatte begriffen, dass es mir hier allein in der Selbstverleugnung möglich war, schöpferisch tätig zu sein, dass in der hiesigen Welt die einzig mögliche schöpferische Leistung die Selbstverleugnung als schöpferische Leistung war.«92 Der Ort dieser Selbstverleugnung, den das Subjekt mit der Selbstnegation einnimmt, ist jedoch nicht ohne Weiteres zu lokalisieren. Zum einen eröffnet die Sprache eine Erfahrung der Transzendenz, indem sie dem Ich als Instanz der Rede erlaubt, sich auf sich selbst zu beziehen. Wie bereits in Kapitel 1 ausgeführt, eröffnet die sprachlich bedingte Transzendenz dem linguistisch strukturierten Subjekt diesbezüglich einen minimalen Spielraum. Indem Kertész von einer »Selbstverleugnung als schöpferischer Leistung« spricht, deutet er diese Selbstbezüglichkeit des Subjekts zu sich selbst jedoch negativ. Weil der dominante Sprachgebrauch dem Überlebenden keine Heimat bietet bzw. Auschwitz jede positive Idee einer transzendentalen Bestimmung
92 Imre Kertész: Die Englische Flagge, Reinbek b.H. 2004, S. 57.
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des Subjekts vernichtet hat, vermag das Subjekt nur noch einen negativen bzw. destruktiven Bezug zu sich selbst zu unterhalten. Die Vermutung drängt sich jedoch auf, dass Kertész nicht nur eine linguistische, sondern zugleich eine existientielle Erfahrung im Sinn hat. Földényi identifiziert in diesem Zusammenhang »Spuren eines gnostischen Seinsverständnisses« bei Kertész: »Einer restlos bösen Welt steht eine restlos gute andere Welt gegenüber. Zwischen beiden gibt es keinen Berührungspunkt.«93 In dieser Fluchtlinie geht es nicht mehr um die Negativität als Nichtseinsollendem, sondern um die Differenz von Sein und Nichtsein und somit um eine ontologische Problemstellung. Hier kündigt sich demnach eine Differenz zwischen Kertész und Adorno an. Im Unterschied zu Adorno, der seine Negativitätskonzeption als normative Denkfigur fasst, kommt bei Kertész zusätzlich ein ontologischer Negativitätsbegriff zum Tragen. Das Negative ist nicht nur das, was »alles andere in der bestehenden Welt überformt«, sondern es ist zugleich in die Materialität der Dinge eingewandert. Damit verkompliziert sich bei Kertész aber die Frage nach der (positivistischen) Kehrseite der Negativität. Die Frage nach dem Gegenbild der Negativität, die bereits mit Bernhard und Sebald zur Sprache kam, kehrt nun auch hier wieder. Adorno versucht mit seiner Geste der Negation einen Zwischenraum zwischen Sein und Nichts zu eröffnen: »Die kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten wäre die Zuflucht der Hoffnung, Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts. Jener Zone müßte, anstelle von Überwindung, Bewußtsein das entwinden, worüber die Alternative keine Macht hat.« (ND 374) An anderer Stelle spenden die »Grenzpfähle zwischen Baden und Bayern« (NL 292) das innerweltliche Bild einer Utopie, die (ironisch) im Niemandsland zwischen den unmarkierten Landesgrenzen ihren ›Ort‹ findet. Bei Kertész führt die Opposition zwischen Sein und Nichts mit der Verleugnung des Seins hingegen in eine jenseitige, außerweltliche Sphäre. »Vielleicht besteht die Freiheit darin, des ›unberührbaren‹ und ›unaussprechlichen‹, auch sprachlich nicht erfassbaren Kerns innezuwerden und daran festzuhalten.«94 Wie prekär dieser Akt ist, liest sich u.a. an Kertész’ Kommentar zu Amérys Selbstmord ab. In Dossier K. deutet Kertész den biografischen Selbstmord als schöpferischen Akt: Améry habe »seinem Leben eine Form verliehen, zu der ich nicht ge93 Földényi: Schicksallosigkeit, S. 267. 94 Ebd., S. 155.
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nug Kraft hatte« (DK 181). Der Todessprung, der mit der Selbstverleugnung ansetzt, aber auch die Demarkationslinie zum biologischen Tod verwischt, indem er zugleich dem Leben zu seiner Form verhilft, landet an dieser Stelle nur schwerlich wieder auf seinen Füßen. An die Stelle der Inkonsequenz Adornos, der einen totalen Negationszusammenhang entwirft, um zugleich gegen diesen zu opponieren, tritt bei Kertész die Konsequenz Amérys, der, in der Reaktion auf die Negativität der Existenz, dieser entsagt. Ziel ist letztlich aber auch hier eine Aufhebung des Subjekts, die auf eine Bewahrung zielt. »Das Aufheben stellt seine wahrhafte gedoppelte Bedeutung dar, welche wir an dem Negativen gesehen haben; es ist ein Negieren und ein Aufbewahren zugleich.«95 Die bekannte Formel Hegels trifft zwar präzise auf Kertész zu. Anders als Hegel, der seine Aufhebung in der phänomenalen Realität verankert und durch die Vermittlung der Vernunft einen versöhnlichen Lauf der Geschichte innerweltlich antizipiert, ist der Ort der Aufhebung bei Kertész jedoch ohne diesen vermittelnden Rückhalt konzipiert. Allein das Schreiben weist den Weg zu jenem transzendenten Nicht-Ort. Im KaddischRoman entleiht Kertész diesbezüglich das Bild von Paul Celans »Todesfuge« mit der Wendung »vom Grab in den Lüften« und »Wolken«.96 Theo Buck spricht von der Metapher in der »Todesfuge« als einer »poetischen Gestaltung des Faktischen«,97 die literal die Verbrennung und Vergasung der Juden benennt. Trotz allem formuliert sich das Bild bei Celan in seiner Konkretion paradox. Das Grab in den Lüften wäre gerade kein ›Grab‹, das per Definition ein Ort der Bestattung und als solcher ein Gedächtnisort ist. Als »ontologischer Sonderfall« ist die Wolke vielmehr jenes Objekt, das in der Ästhetik das »Spannungsverhältnis zwischen Gestalt und Gestaltlosigkeit, Figur und Defiguration, Darstellung und Undarstellbarkeit, Symbol und Symbolisierung thematisiert«.98 Zwar lässt sich mit gutem Grund postulieren, dass die Metapher vom »Grab in den Wolken« davon spricht, dass die Vernichteten keinen durch Bestattungsrituale sanktionierten
95 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke 3, Frankfurt a.M. 1986, S. 94 (Herv. P.S.). 96 Vgl. Paul Celan: »Todesfuge«, in: ders., Gedichte in zwei Bänden, Frankfurt a.M. 1985, S. 39-42. 97 Theo Buck: Paul Celan. Todesfuge, Aachen 2002, S. 39. 98 Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): »Editorial«, in: dies. (Hg.), Wolken, Archiv für Mediengeschichte, Weimar 2005, S. 5-8, S. 5f.
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Tod gefunden haben. Darüber hinaus reflektiert die Wendung aber zugleich ihren eigenen Repräsentationsstatus, der im Gedicht mit der Darstellung eines Undarstellbaren konfrontiert ist. In dieser Hinsicht ist es konsequent, dass in Ute Werners Studie Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik die »Todesfuge« und »das Grab in den Lüften« keinerlei Erwähnung finden.99 Werner untersucht ausschließlich die geologische Metaphorik Celans, die im Dienst einer nachträglichen Bestattung der Vernichteten steht: »Celans Vision der Toten geht [...] nicht von den Gaskammern und Leichenbergen [...] aus, vielmehr vom Fehlen der Gräber, die den Ermordeten für immer vorenthalten wurden.«100 Angesichts dieses Mangels versucht Celan diesen Bestattungsdienst nun nachträglich zu leisten. Werner interessiert dabei nicht die Repräsentationsproblematik des Undarstellbaren – und somit die Wolken, als das paradigmatisch ephemere und ungreifbare –, sondern die Celanschen Textbewegungen, die sich abwärts richten, metaphorisch, aber besonders auch vermittels ihrer fachlichen Terminologie. Sie lagern sich in den geologischen Tiefenschichten (sprachlich) subterran an, um den Vernichteten nachträglich ein TextGrab zu gewähren und sie somit zur Ruhe kommen zu lassen. In diametralem Gegensatz zu Celans »Textgräbern« richtet sich der Fokus von Kertész hingegen auf die extraterrestrischen Sphären. Zwar ist auch in Kaddisch mit der »Überlebenssituation als Untermieter« (K 91) von einer unterirdischen Existenz die Rede. Mit dem Stigma des Judentums steht diese Lebensart »im Zeichen des Schlamms« (K 113). Diese Terminologie bezeichnet jedoch nur das gewöhnliche Leben, das den Erzähler an seine Frau bindet und zu jener »unerträgliche[n] und beschämend unbrauchbare[n] Betrachtung des Lebens« (K 91) führt, die mit der Kontingenz der Alltagsexistenz einhergeht. »Ja, damals begann ich, nach und nach meine Fluchtwege, mein Biberburgsystem zu errichten und vor den Blicken und Zugriffen meiner Frau zu verbergen und zu schützen.« (K 113) Setzt Kaddisch mit einem Waldspaziergang im »ungarischen Mittelgebirge« (K 9) als apologetischer Monolog ein, in dem der Erzähler reflektiert, warum er keine bürgerliche Existenz gewählt und keine Kinder gezeugt hat, so spaltet sich,
99
Nur in einer Fußnote erwähnt Werner das »Grab in den Lüften«, das im Gedicht »Brunnengräber im Wind« in die Tiefe verlagert ist und nun dort, so Werner, geborgen wird. Ute Werner: Textgräber. Paul Celans geologische Lyrik, München 1998, S. 169. 100 Ebd., S. 8.
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was hier in halber Höhe einsetzt, nach und nach in zwei getrennte Sphären auf. Der Absage an die Vaterschaft, die zugleich eine an ›das Leben‹ und dessen reproduktiven Fortlauf ist, steht das Schreiben gegenüber, das der Ausbildung einer geistigen Existenz dient, die den Erzähler der Alltäglichkeit gezielt entzieht: »[D]ie einsame Kompensation aber wieder gestaltete sich in mir zu schöpferischer Kraft [...], das mich zuerst tief in Schmerz taucht, um mich dann hoch hinaufzutragen.« (K 113, Herv. P.S.) Diese vertikale Orientierung des Erzählers begründet zwar anfangs die Attraktion zwischen Judit und B. (sowohl in Kaddisch als auch in Liquidation); Judit ist von B. fasziniert, weil sie von ihm lernt, dass das Judentum auf einer freien – existenzialistischen – Wahl beruhen ›muss‹. Erst die existenzielle Entscheidung vermag das ›Stigma des Judentums‹ zu sublimieren. »Deshalb, sagte meine Frau, habe sie nach dem Lesen meiner Erzählung das Gefühl gehabt, den Kopf erheben zu können.« (K 105, Herv. i.O.) Für den Erzähler hat dieser aufwärts gerichtete Blick aber weder etwas gemeinschaftsbildendes noch etwas versöhnliches. Im Gegenteil ist in diesem Blick gerade der Bruch begründet, der den Erzähler seiner Lebenswelt unweigerlich entfremdet und entzieht. Die Vertikale setzt in dieser Situation jenen Schnitt, der die bürgerliche von der geistigen Existenz als zwei gesonderten, letztlich unversöhnlichen Sphären, trennt. Etabliert wird diese geistige Sphäre – in Absonderung zur innerweltlichen – vermittels des Schreibens. Folglich sitzt der Schreiber »im vierzehnten Stock eines Wohnsilos«, »wo ich in die hell glänzende Luft aufblicke, oder in die Wolken, in die ich mein Grab mit dem Kugelschreiber schaufele« (K 48).101 An anderer Stelle spricht er vom »Weiter- und Zuendeschaufeln jenes Grabes, das andere für mich in die Luft zu graben begonnen haben« (K 67, 42) und von »der wohlbewussten Selbstliquidierung, einer der ersten Spatenstiche zum Grab, das ich mir selbst [...] in die Wolken schaufele« (K 23). Was Joseph Vogl über die Wolken schreibt, benennt demnach präzise den Beweggrund der vertikalen Ausrichtung des Schreibens bei Kertész: »Das
101 Auch hier ist die Parallele zum Sartreschen Existenzialismus gegeben. Wie Kertész schreibt Sartre seine Wörter »im zehnten Stock eines Neubaus« und erkennt, dass er schon als Kind auf diesem »erhöhten Standpunkt« insistierte: »[I]ch wohne aus Gewohnheit in der Luft und schnüffle ohne allzu viel Hoffnung am Boden.« Jean-Paul Sartre: Die Wörter, Reinbek b.H., S. 36.
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Schwebende der Wolke verfügt also ein Verfahren, das festem Grund und Boden systematisch misstraut.«102 Die Aufhebung, die sich im Schreiben derart vollzieht, findet sich zudem in der syntaktischen Struktur des Textes. Ähnlich wie die »Todesfuge« bedient sich Kaddisch einer Wiederholungsstruktur, die jene Aufhebungsbewegung formal umsetzt. Die »Kreis- und Spiralbewegung«, die Hermann Burger in Celans »Todesfuge« identifiziert, dient auch zur Beschreibung der elliptischen Satzstruktur von Kaddisch: »Es ist, als würde derselbe Kreis eine Stufe höher und mit einem größeren Radius noch einmal abgeschritten.«103 Die Zitate der »Todesfuge« greift Kertész in diesem Sinn mehrfach auf, um sie zu variieren und zu transformieren und installiert derart jene aufwärtsstrebende Spiralbewegung. Das Ziel des Schreibens ist damit der Entzug. Zum einen formuliert sich der Entzug – als »meine spektakuläre Selbstliquidierung« (K 111) – als eine Auslöschung (die durchaus in einer Verlängerung mit der Vernichtung der Juden steht). Hier geht es um das Leben »als Fakt, als reinen Fakt des Überlebens, [den ich] auslöschen und liquidieren werde« (K 155, Herv. i.O.). Zum anderen wird das Leben als »geistige Existenzform« (K 155, Herv. i.O.) der empirischen Realität jedoch gezielt entzogen, um die Existenz zu schützen und aufzubewahren. Diese Dichotomie der beiden Exzugsmodi buchstabiert der Erzähler auf der vorletzten Seite von Kaddisch nochmals explizit aus: »In diesen Jahren erkannte ich mein Leben, einerseits als Fakt, andererseits als geistige Existenzform, genauer, als Existenzform des Überlebens, die ein gewisses Überleben nicht mehr überlebt, nicht überleben will, ja wahrscheinlich auch nicht überleben kann, die trotz allem das Ihre fordert, beziehungsweise fordert, dass sie gestaltet werde, wie ein abgerundeter, glasharter Gegenstand, damit sie schließlich fortbestehe, egal: wozu, egal: für wen – für alle und für keinen.« (K 155, Herv. i.O.)
Dem Leben als Fakt stellt Kertész das Leben als geistige Existenzform gegenüber. Während das erste Moment der Selbstauslöschung preis
102 Joseph Vogl: »Wolkenbotschaft«, in: Engell u.a. (Hg.), Wolken, S. 69-79, S. 78. 103 Hermann Burger: Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache, München 1989, S. 56.
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gegeben wird (bzw. dieses forciert wird), zielt letzteres als geistige Existenzform auf einen »Fortbestand«, indem die geistige Existenz durch das Schreiben ausgebildet wird, »wie ein abgerundeter, glasharter Gegenstand«. Vermittels des Schreibens entzieht Kertész das Subjekt dem empirischen Schauplatz, um es derart in einer unantastbaren Sphäre (»glasharter Gegenstand«) – dem Nicht-Ort in den Lüften – sicher zu stellen. Von der innerweltlichen zur geistigen Sphäre sowie vom »Untermieterdasein« (K 91) zum »Grab in den Wolken« führt allerdings kein gangbarer Weg mehr, indem sich die Ausbildung der »geistigen« über die Auslöschung der »faktischen« Existenz vollzieht. Dies gilt sowohl für Kaddisch als auch für Liquidation, obwohl beide Texte anders konzipiert sind. Das instinktive »Nein«, das eine mögliche Vaterschaft des Erzählers verweigert und Kaddisch als erstes Wort einleitet, findet seine Sanktion mit dem Schlusswort des Textes »Amen« (K 156). Dieser Zirkel einer Verneinung (zwischen Nein und Amen) findet in Liquidation erneut eine Aufnahme und zugleich seine radikale Zuspitzung: Kaddisch schreitet die Entwicklung, die zur Trennung zwischen bürgerlicher und geistiger Existenz führt, die ihr Signum dort in der verweigerten Vaterschaft findet, nochmals monologisch aus einer Innenperspektive ab. Liquidation installiert hingegen vorab eine radikale Außenperspektive. Jeder Weg, der von der Außenzur Innenperspektive oder von der Lebenswelt zur geistigen Existenz führen könnte, ist hier gekappt. Trotz allem reflektiert Liquidation mit dem verschwundenen Roman und der Konzeption narrativer Identität nochmals jene Instanz des Schreibens, die gemäß dem Autor die Bedingung der Möglichkeit von Literatur überhaupt bildet. Die negative Poetik eines Schreibens der Aufhebung kann die eigenen Prämissen in dieser Situation zwar weder einlösen noch einholen. Der derart paradoxal strukturierte Ort dieses Schreibprogramms – als der ›wahre‹ oder ›eigentliche‹ – ist mit seiner Verlagerung an einen unzugänglichen Nicht-Ort in der Höhe trotz allem benannt.
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4.5 M ÜNCHHAUSEN ODER DIE APORIE VON S ETZUNGSAKTEN NACH 1945 Verhandelt Sebald mit dem Schreiben einen ›objektiven‹ Pol, indem seine Prosa die Natur als Bedingung der Produktivität und Literatur identifiziert, so ist Kertész’ Schreiben an einem entgegengesetzten Pol zu verorten. Für Kertész gründet das Schreiben auf der Kategorie des selbstbestimmten Individuums. Bei beiden Autoren ist der Text jedoch der Ort, der die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens in seiner außertextuellen Referenz aufzeigt, zugleich aber vom Bewusstsein getragen ist, dass die Literatur sich dort nicht mehr rückverankern lässt. In diesem Sinn ist der Akt des Schreibens paradoxal strukturiert. Die Autoren führen das Schreiben unter diesen Bedingungen demnach in Formen einer negativen Poetik fort, indem sie auf Prämissen rekurrieren, die der Text nicht mehr einzuholen vermag. In der negativen Poetik von Sebald und Kertész spiegelt sich derart der fundamentale Verlust eines Kommunikationsverhältnisses, das sich in einer strukturellen Krise des Erzählers niederschlägt – bei Kertész als produktive Selbstbezüglichkeit des Subjekts zu sich selbst, bei Sebald als Reziprozität von Natur und Subjekt. Sowohl Kertész als auch Sebald insistieren mit den Kategorien von Subjekt und Natur jedoch auf transzendental zu bestimmenden Begriffen. Beide Autoren nehmen mit dem Schreiben damit explizit eine Intervention vor, die auf eine Bewahrung (Kertész) oder Restitution (Sebald) zielt: Kertész mit dem Mythos des Romans als Statthalter von (narrativer) Identität; Sebald mit einer mythopoetischen Konzeption des Schreibens als Statthalter eines holistischen Welt- und Seinsverständnisses. Bernhard ist in dieser Konstellation hingegen der Garant einer negativen Poetik, die eine Negativität einführt, die nicht länger über eine positive Gegen-Setzung vermittelt ist. Das Erbe einer korrumpierten Tätergeneration wird ebenso vehement abgelehnt wie das ästhetische Erbe als Bürge einer emanzipierten Ordnung. Die Fortschreibung im Sinne einer Fortsetzung weicht bei Bernhard somit radikal einer Fortals Wegschreibung. Dies ist insbesondere auch dort der Fall, wo Bernhard sich nicht nur gegen die belasteten Kontinuitäten von Geschichte und Tradition wendet, sondern darüber hinaus aufgrund der zeitgenössischen (foto-)medialen Kommunikationsbedingungen die Möglichkeit einer genuinen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Abrede stellt.
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Gemeinsam ist den drei Autoren, dass dem Erzähler kein Ort mehr zur Verfügung steht, als Voraussetzung dafür, eine gelungene Vermittlung von Geschichte und Literatur zu leisten. Die Autoren kommen darin überein, dass sämtliche Setzungs- und Selbstsetzungsakte des Erzählers nach 1945 sich nur noch in aporetischen Anordnungen vollziehen lassen. Sie setzen den Erzähler in dieser Situation offensiv an einer Stelle aus, an der die Ermöglichungsbedingungen narrativer und historiographischer Kontinuität kollabieren bzw. kollabiert sind. Die Erzählstimme lässt sich hier nur noch in aporetischer Art und Weise über einen ›entzogenen Erzähler‹ konstituieren. Zugleich bildet der Erzähler aber auch jene Figur, vermittels derer die Autoren die paradigmatische Situation des Schreibens im Anschluss an die Destruktionsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu reflektieren vermögen. Die Differenz zwischen Erzähler und Zeuge, die Thema in Kapitel 1 war, bestätigt sich demnach abschließend erneut. Mit dem Zeuge werden unter dem Primat der Adressierung und Anerkennung genau jene Momente assertorisch sichergestellt, die strukturell die paradoxe Bedingungsmöglichkeit von Erzähler und Erzählung nach 1945 beschreiben. Weder die Aporie historischer Wahrheit noch das Vermittlungs- und Kommunikationsverhältnis zwischen Zeuge und Adressaten, als zentrale Momente des Zeugenschaftsdiskurses, sind für die Autoren von größerer Bedeutung. Ebenso wenig geht es mit der Figur des Erzählers aber um partikuläre Erfahrungsgehalte, wie sie von eminenter Wichtigkeit für den Zeugenschaftsdiskurs sind. Die Negation der Autobiografie, die alle drei Autoren, aber ebenso Adorno, auf verschiedene Art und Weise vornehmen, dient auch hier als Nachweis, dass das biografische Individuum als Träger geschichtlichen Sinns (das die Grundlage und Referenz des Zeugenschaftsdiskurses darstellt) für den Erzähler hinfällig geworden ist. Vielmehr folgt das Schreiben der Autoren poetologischen und epistemologischen Überlegungen und Interessen. Wichtiger als die Frage nach einem partikulären Erfahrungsgehalt ist die Problematik, ob und wie es überhaupt (noch) möglich ist einen Erfahrungsbegriff zu bilden. Daniel Steuer sieht genau darin die Signatur des Krisenbewusstseins des Erzählers nach 1945: »Vor Auschwitz mag bereits jede denkbare Erfahrung entfremdet und darum unzuverlässig geworden sein, jedenfalls mangelhaft, um dem Schreiben einen unmittelbaren Gegenstand zu bieten, nach Auschwitz ist es aber ein einzelnes Ereignis, das die Gesamtheit der Erfahrung
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fragwürdig hat werden lassen.«104 Der vorgenommene Vergleich der Autoren bestätigt und verkompliziert diesen Befund. Die Diagnosen ergänzen sich zunächst in der genannten These, dass sich die Setzungsakte von Erzähler und Erzählung nach 1945 nur noch in aporetischen Anordnungen vollziehen lassen. Der Erzähler ist hierbei jene Figur, an der sich die Problematiken der narrativen Legitimationsstrategien paradigmatisch ablesen lassen. Während die Lektüren darin übereinkommen, dass die Gesamtheit der Erfahrungen sich zu keiner narrativen Einheit fügt, differieren aber trotz allem die Herleitungs- und Begründungszusammenhänge und damit einhergehend nicht zuletzt die Motivationen und Verfahrensweisen der Autoren. In dieser Hinsicht differenziert und verkompliziert sich der Befund, insbesondere dort, wo die einzelnen Diagnosen der Autoren in Konflikt zueinander treten. Kertész bindet das Gelingen und Scheitern der Erzählung an einen starken bewusstseinsphilosophischen Subjektbegriff, den Sebald als einen Moment der pathologischen Moderne identifiziert und deshalb möglichst zu verabschieden sucht. Das Kapital das Sebald wiederum aus der Natur und den astrologischen Spekulationen schlägt, läuft mit der Auflösung des Individuums zugunsten eines kreatürlichen Selbstverständnisses Kertész’ Subjekt- und Identitätsbegriff diametral entgegen. Beide Autoren versuchen mit ihrem Schreiben nach wie vor einen transzendenten Raum zu eröffnen, der auf der Kehrseite der Negation mehr oder weniger starke Setzungen hypostasiert – auch wo diese nicht mehr eingelöst werden können. Bernhard diskreditiert hingegen sowohl die Kategorie des Subjekts als auch die der Natur. Aber auch die Literatur respektive die Kunst werden als privilegierte Orte der ästhetischen Moderne desavouiert. Hier gibt nur der ›hügelige‹ Verlauf der Prosa der Geschichtenzerstörung Aufschluss darüber, was ausgeschlossen wird, indem jene Momente, die aus dem Fluss der Prosa herausragen, sofort »abgeschossen« werden. Auch die Interventionen der Autoren Sebald und Kertész, so darf man vermuten, fielen dem Gewehrlauf des Geschichtenzerstörers zum Opfer. Liefert Adorno mit Münchhausen das (in der Einleitung zitierte) Bild der aporetischen Setzungsakte des Erzählers nach Auschwitz, so kappt Bernhard den Schopf, mit dem sich Münchhausen über dem Sumpf in der Schwebe hält. Zwar steht auch Sebald und Kertész kein tragfähiger Boden zur
104 Steuer: »Thomas Bernhards Auslöschung«, S. 76.
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Verfügung. Anders als Bernhard versuchen letztere ihr Schreiben in dieser historisch indizierten Situation mit ihrer Orientierung an der Vertikalen jedoch in mehr oder minder luftigen Höhen rückzubinden. Die »heimatlichen Karten« (A 16, Herv. i.O.), in die auch Murau eingangs in Auslöschung Einsicht gewährt, liegen gemäß dem Adornoschen Diktum demnach offen: »Der Autor legt, soweit er es vermag, die Karten auf den Tisch; das ist keineswegs dasselbe wie das Spiel.« (ND 9) Über den Wert der Karten, die sich letztlich nur anhand von Regeln – als (text-)externen Kriterien – bestimmen lassen, ist mit der Offenlegung aber nur bedingt etwas ausgesagt. Im hiesigen Kontext war allerdings nur »das Spiel« von Interesse, als Frage, von welchen Prämissen und Problemstellungen ausgehend die Autoren ihr Schreiben unter welchen Kriterien umsetzen. Was dieses »Spiel« anbelangt, so haben sich die Vektoren des Schreibens soweit abgezeichnet. Sebald versucht seine Sätze in einer Spirale aufwärts zu führen. Dem Höhenflug des Schreibens bei Sebald, währenddessen sich das schwerelose Bewusstsein des Subjekts im Blick der Dingwelt auflöst, steht bei Kertész eine Aufhebung des Schreibens gegenüber. Diese Form der negativen Poetik zielt auf eine Anästhesie, die das Subjekt dem Schreiben entzieht, um es innerhalb der zerstörerischen zeitgeschichtlichen Verläufe sicherzustellen. Der vertikalen Ausrichtung der Sätze von Sebald und Kertész steht wiederum die horizontale Fluchtbahn der bernhardschen Prosa gegenüber. Hier liegt der poetologische Einsatz in der Spannung von Sätzen, die zwischen Anfang und Ende »wie ein Spielzeug« aufgebaut werden, um sie – kaum »durchschaut man das Ganze« – wieder »zusammenzuhauen« (I 80).
Literatur
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Dank
Ich danke Daniel Steuer, in dessen Seminaren an der University of Sussex, Brighton, das Interesse an den ›Endspielen der Literatur‹ seinen Anfang nahm. Mein besonderer Dank gilt Aleida Assmann und Juliane Vogel, die mir anfangs, ohne mich zu kennen, ihren Vertrauensvorschuss gegeben und dann das vorliegende Vorhaben großzügig betreut haben. Das Buch zehrt von der Zeit in Konstanz, von den Forschungskolloquien und deren Teilnehmern, sowie vielen Leuten, die sich die Zeit genommen haben, einzelne Teile zu kommentieren, namentlich möchte ich hier Bernd Stiegler und Matthias Schöning nennen. Kathrin Schönegg, Morten Paul, Matthias Meyer und Benjamin Herbst verdanke ich nicht nur viele kritische Interventionen, Diskussionen und Aufmunterungen, sondern zahllos Weiteres darüber hinaus. Mein größter Dank gehört meinen Eltern, die mich von Anfang an ohne Einschränkungen unterstützt haben.
Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR September 2011, ca. 302 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen September 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4
Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
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Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende September 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka Juni 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa September 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« Oktober 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit
Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800
September 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
November 2011, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6
Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2
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