Einblendungen: Elemente einer jüdischen Filmgeschichte der Bundesrepublik 3958084133, 9783958084131

Filmgeschichte anders schreiben Jüdische Filmgeschichte, davon geht dieser Band aus, steht quer zu Erzählungen des Nati

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German Pages 182 [188] Year 2022

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Table of Contents
Praetorius-Rhein / Wohl von Haselberg: Einleitung
_Dinge
Dinge
Rolef: Ein Buch mit Exlibris
Praetorius-Rhein: Der Nerzmantel
Ebbrecht-Hartmann: Roman Vishniacs Mikroskop
Schneider: Ein Fotoalbum
Sandberg: Der Koffer
Wohl von Haselberg: Die Nähmaschine
Klages: Das Fotoalbum von Günther Krampf
_Schreiben
Schreiben
Praetorius-Rhein: Der Anfang
Klages: MGM-Zuschauerzettel
Praetorius-Rhein: Protest und Protokoll
Ebbrecht-Hartmann: „Eine Aneinanderreihung von Filmresten“ – Eine Filmnotiz zu Thomas Mitscherlichs HAUS DER ENDLÖSUNG (1966)
Wohl von Haselberg: Brief an den Regisseur, Saarbrücken, 20.07.1971
Schoß: Beschwerdebriefe
Ebbrecht-Hartmann: Listen, Briefe, Stimme
Wohl von Haselberg: „Der Autor will anonym bleiben.“
_Orte
Orte
Wohl von Haselberg: Der Ort ihrer Eltern: Untergrombach
Klages: Filmstadt Barcelona: Fluchtstation 1934 und 1936
Praetorius-Rhein: Das CCC-Studio in Spandau
Schumacher: Trebitschs Mahnmal
Schneider: Orte im Fernsehfilm. DIE BILDER DES ZEUGEN SCHATTMANN
Sandberg: Patagonien und die Filme von Narcisa Hirsch
Rolef: Persien und das Schtetl – Phantasmen in der israelischen Landschaft in MEGILLAH 83
Praetorius-Rhein: Trümmer
Schoß: Eine kleine Verbeugung
Ebbrecht-Hartmann: Das Haus der Wannsee-Konferenz – vom Wasser aus gesehen
_Überlieferungen
Überlieferungen
Praetorius-Rhein: Fred Monossons Outtakes
Schumacher: „Unchristlich verschmutzt“
Ebbrecht-Hartmann: Eine Cinematheque des Holocaust
Wohl von Haselberg: Die Moszkowicz-Tapes
Nowicki: Verzettelt. Der Nachlass von Günter Peter Straschek
Schoß: Michael Kanns unliebsamer Diplomfilm
Rauch: Mifgash Israel
Praetorius-Rhein: Post aus Amerika, ein Netzfund
_Szenen
Szenen
Wohl von Haselberg: „Ich bin Wiese“
Seene: Der Kinoprotest gegen OLIVER TWIST
Klages: Franz Marischka in der Badewanne
Wohl von Haselberg: Eine Äquatortaufe
Sandberg: Szenische Dialoge
Rauch: „Man könnte leben, aber man lässt nicht“
Schumacher: Eine Rast in DIE VERLIEBTEN
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Einblendungen: Elemente einer jüdischen Filmgeschichte der Bundesrepublik
 3958084133, 9783958084131

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Johannes Praetorius-Rhein / Lea Wohl von Haselberg (Hrsg.) Einblendungen Elemente einer jüdischen Filmgeschichte der Bundesrepublik

Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne hrsg. von Joachim Schlör Band 27

Johannes Praetorius-Rhein /  Lea Wohl von Haselberg (Hrsg.)

Einblendungen Elemente einer jüdischen Filmgeschichte der Bundesrepublik

Neofelis

Inhalt 7 Johannes Praetorius-Rhein / Lea Wohl von Haselberg: Einleitung





Dinge

20 Naomi Rolef: Ein Buch mit Exlibris 22 Johannes Praetorius-Rhein: Der Nerzmantel 24 Tobias Ebbrecht-Hartmann: Roman Vishniacs Mikroskop 26 Ulrike Schneider: Ein Fotoalbum 28 Claudia Sandberg: Der Koffer 30 Lea Wohl von Haselberg: Die Nähmaschine 33 Imme Klages: Das Fotoalbum von Günther Krampf



Schreiben

40 Johannes Praetorius-Rhein: Der Anfang 43 Imme Klages: MGM-Zuschauerzettel 47 Johannes Praetorius-Rhein: Protest und Protokoll 51 Tobias Ebbrecht-Hartmann: „Eine Aneinanderreihung von Filmresten“ – Eine Filmnotiz zu Thomas Mitscherlichs Haus der Endlösung (1966) 59 Lea Wohl von Haselberg: Brief an den Regisseur, Saarbrücken, 20.07.197 1 62 Lisa Schoß: Beschwerdebriefe 68 Tobias Ebbrecht-Hartmann: Listen, Briefe, Stimme 71 Lea Wohl von Haselberg: „Der Autor will anonym bleiben.“



O rte

80 Lea Wohl von Haselberg: Der Ort ihrer Eltern: Untergrombach 82 Imme Klages: Filmstadt Barcelona: Fluchtstation 1934 und 1936 87 Johannes Praetorius-Rhein: Das CCC-Studio in Spandau 90 Julia Schumacher: Trebitschs Mahnmal 93 Ulrike Schneider: Orte im Fernsehfilm Die Bilder des Zeugen Schattmann 99 Claudia Sandberg: Patagonien und die Filme von Narcisa Hirsch 103 Naomi Rolef: Persien und das Schtetl – Phantasmen in der israelischen Landschaft in Megillah 83 107 Johannes Praetorius-Rhein: Trümmer 110 Lisa Schoß: Eine kleine Verbeugung 113 Tobias Ebbrecht-Hartmann: Das Haus der Wannsee-Konferenz – vom Wasser aus gesehen



Überlieferungen

122 Johannes Praetorius-Rhein: Fred Monossons Outtakes 127 Julia Schumacher: „Unchristlich verschmutzt“ 132 Tobias Ebbrecht-Hartmann: Eine Cinematheque des Holocaust 137 Lea Wohl von Haselberg: Die Moszkowicz-Tapes 141 Simone Nowicki: Verzettelt. Der Nachlass von Günter Peter Straschek 146 Lisa Schoß: Michael Kanns unliebsamer Diplomfilm 150 Raphael Rauch: Mifgash Israel 152 Johannes Praetorius-Rhein: Post aus Amerika, ein Netzfund



Szenen

162 Lea Wohl von Haselberg: „Ich bin Wiese“ 165 Tirza Seene: Der Kinoprotest gegen Oliver T wist 168 Imme Klages: Franz Marischka in der Badewanne 171 Lea Wohl von Haselberg: Eine Äquatortaufe 173 Claudia Sandberg: Szenische Dialoge 178 Raphael Rauch: „Man könnte leben, aber man lässt nicht“ 181 Julia Schumacher: Eine Rast in Die Verliebten

E inleitung Johannes Praetorius-Rhein / Lea Wohl von Haselberg

Ausblendungen machen einen Teil der Geschichte unsichtbar, Einblendungen überlagern ein Bild mit nachträglichen Informationen und retrospektiven Deutungen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Schreiben einer deutsch-jüdischen Filmgeschichte, die wir mit diesem Buch erkunden. Es handelt nicht von Bildern des Jüdischen, sondern von den jüdischen Akteur*innen der bundes­deutschen Filmgeschichte, die als solche vielfach ausgeblendet wurden und heute noch werden.1 Ein solches Projekt ist nicht möglich, ohne Zuschreibungen zu wiederholen oder selbst vorzunehmen. Der Titel Einblendungen soll dies klar herausstellen und zugleich bewusst der Ausblendung entgegensetzen. Dies ist ein wissenschaftliches Buch. Das erscheint erklärungsbedürftig, weil die Texte kurz und nah am Material geschrieben sind und deshalb anschaulicher und ‚lesbarer‘ wirken mögen als herkömmliche akademische Abhandlungen. Die Verständlichkeit für Lai*innen ist ein willkommener Nebeneffekt, dennoch veröffentlichen wir das Buch nicht zur Wissenschaftskommunikation, 1  Wir beziehen uns hier und im Folgenden auf die historische Bundesrepu­ blik, also Westdeutschland von 1949–1990. Allerdings wird dieser geografische und zeitliche Rahmen immer wieder überschritten, ganz bewusst aber nicht in Richtung einer ‚gesamtdeutschen‘ Perspektive.

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sondern um damit zum einen den Kenntnisstand zur ‚deutschen Filmgeschichte‘ zu erweitern und zu vertiefen und zum anderen in Abgrenzung zur historischen Fortschreibung des National­ kinos. Denn wir legen mit der hier durchgeführten Methode auch einen Vorschlag für eine offene und heterogene Filmhistoriografie vor, die unterschiedliche Perspektiven und Positionierungen einbezieht.2 Der größere Teil der Texte stammt von Mitgliedern des von der DFG geförderten Wissenschaftlichen Netzwerks „Deutsch-­ Jüdische Filmgeschichte der BRD“, das an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF sowie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main angesiedelt ist und Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Israel und Australien zusammengebracht hat, die zu deutschsprachigen Arbeiten von jüdischen Filmschaffenden nach 1945 forschen. Hinzu kommen weitere Autor*innen, mit denen wir in anderen Kontexten über ähnliche Fragen diskutiert haben. Dies ist kein klassischer Sammelband. Es handelt sich um den Versuch, schriftlich einen bestimmten Erkenntnisprozess weiterzutreiben und zu fixieren. Dieser Ansatz ist auch der Erfahrung geschuldet, dass die Produktivität unseres Austauschs zunächst daran hing, dass er ‚in Präsenz‘ stattgefunden hat, was uns die COVID-19-Pandemie nicht nur bewusst, sondern zugleich 2  Wer nach einem Text sucht, der sich stärker an akademische Konventionen hält, findet an anderen Stellen unsere theoretischen und auf den Forschungsstand reagierenden Vorschläge, wie das in diesem Buch weiter erkundete Feld umrissen werden kann. Vgl. Johannes Praetorius-Rhein / Lea Wohl von Haselberg: Jewish Film in Germany. Zur Möglichkeit einer jüdischen Filmund Fernsehgeschichte in Deutschland nach 1945. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews 37,4 (2020), S. 339–356; Lea Wohl von Haselberg / Lucy Alejandra Pizaña Pérez: Von Aufbrüchen und Kontroversen. Eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Jüdischer Film. Ein neues Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum. München: Text + Kritik 2022, S. 9–12; Johannes Praetorius-Rhein: Filmgeschichte und Gedächtnistheater. Zur historischen Konstruktion eines ,Jüdischen Films‘ in der Bundesrepublik. In: Ebd., S. 95–116.

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unmöglich gemacht hat. Für gemeinsames Arbeiten mussten andere Formen gefunden werden als die mündliche Diskussion. Die Idee zu einer Reihe, mit der „ein Verfahren kollaborativen filmhistorischen Schreibens erprobt werden“3 sollte, war zwar schon früher entstanden, gewann angesichts der eingeschränkten Arbeitsbedingungen allerdings an Gewicht. Und mit den insgesamt fünf Teilen, die zwischen 2020 und 2022 in der Zeitschrift Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Bildung und Forschung erschienen sind, ist dieser Versuch auch geglückt. Aus diesem Grund haben wir die ganze Serie als Buch zusammengefasst und erweitert. Es sind kleinere Korrekturen und Überarbeitungen vorgenommen worden und vor allem zahlreiche neue Beiträge hinzugekommen. Unser Dank gilt neben der DFG, die das Forschungsnetzwerk und die Publikation finanziell gefördert hat, der Zeitschrift Medaon, die für das formale Experiment offen war und keinerlei Einwände gegen die Wiederveröffentlichung der Texte als Teil dieses Buchs hatte. Für Unterstützung danken wir auch dem Neofelis Verlag und freuen uns, dass Prof. Joachim Schlör den Band in die Reihe „Jüdische Kulturgeschichte der Moderne“ aufgenommen hat, wo er einen guten Platz hat. Ziel des Netzwerks war es zunächst, unterschiedliche Forschungen zu jüdischen Filmschaffenden aufeinander zu beziehen, um damit Jüdischkeit im Kontext von Spielfilmproduktionen nicht vorrangig als Darstellungsfrage und stärker unter dem Aspekt von agency diskutieren zu können. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass sich das im Anschluss an Dan Diner als „gegensätzliche

3  Johannes Praetorius-Rhein / Lea Wohl von Haselberg: Einblendungen. Eine deutsch-jüdische Filmgeschichte in fünf Teilen. In: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 14,26 (2020), S. 1–6, online unter http://www.medaon.de/pdf/medaon_26_praetorius-rhein_wohl_von_ haselberg.pdf (Zugriff am 20.10.2022), hier S. 5.

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Gemeinsamkeit“4 gefasste deutsch-jüdische Verhältnis, also die im doppelten Sinne geteilte Vergangenheit, auf vielfältige Weise in Produktion und Zirkulation, Präsentation und Rezeption von Filmen eingeschrieben haben muss: Wie haben sich Filmschaffende aufeinander und auf ihr Publikum bezogen? Von wem und für wen wurden Bilder des Jüdischen entworfen? Wer hat die Grenzen der Darstellung festgelegt und wer hat diese verletzt? Welche Begegnungen und Erfahrungen gab es nicht nur auf der Leinwand, sondern auch hinter der Kamera? In unseren ebenso materialintensiven wie sprunghaften Diskussio­ nen wurde schnell deutlich: In den Motiven, Erfahrungen und Widersprüchen, durch die jüdische Filmschaffende sich in historisch, politisch und ästhetisch äußerst diversen Kontexten der Filmproduktion zu (ihrer) Jüdischkeit verhalten mussten, gibt es vielfältige und auch unerwartete Verbindungslinien, Parallelen und Muster. Unsere Treffen bildeten einen Resonanzraum, um insbesondere sonst oft Fußnote bleibende Fundstücke, Beobachtungen und Anekdoten zur Sprache zu bringen, die auf besonders auffällige oder irritierende Weise den ambivalenten, prekären und widersprüchlichen Status jüdischer Identitäten illustrieren, aber nicht immer Eingang in wissenschaftliche Darstellungen finden können, weil sie eher am Rande der Film- und Werkgeschichten auftauchen. Das somit sichtbar werdende Geflecht von Erfahrungen und Begegnungen, Ausgrenzungen und Eingemeindungen, Zuschreibungen und deren Verweigerungen verweist auf eine Komplexität, die von der Film- und Fernsehgeschichtsschreibung bislang kaum adressiert worden ist. Vielmehr hat sie sich aus ganz unterschiedlichen – zum Teil eher problematischen und zum Teil auch gut nachvollziehbaren – historischen und politischen Gründen schwer damit getan, Filmschaffende als jüdische zu benennen 4  Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Ders. (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 185–197, hier S. 185.

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und zum Thema zu machen. Und selbstverständlich kann es einer deutsch-jüdischen Filmgeschichte nicht darum gehen, jüdische Identitäten von Personen, Filmen oder Erzählungen eindeutig festzuschreiben. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass die Einblendungen nicht nur zuerst als Serie erschienen sind, sondern auch methodisch von Serialität ausgehen. Gemeint ist damit ein Konzept, dass ermöglichen soll, bestimmte Muster jüdischen Filmschaffens aufeinander beziehen zu können und die Spielräume jüdischer Akteur*innen in den Blick zu nehmen, ohne ein jüdisches Kollektivsubjekt in der Filmgeschichte zu konstruieren oder aus dieser herauslesen zu wollen. In ähnlicher Weise ist das Konzept zuerst von der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young entwickelt worden, die Geschlecht als Serialität gefasst hat, um damit eine Lösung für ein Dilemma feministischer Theorie zu finden, nämlich die geteilten Erfahrungen von Frauen politisch thematisieren und gleichzeitig deren Essentialisierung entgegenwirken zu müssen.5 Wenn wir in diesem Sinne jüdisches Filmschaffen als Serialität (und in der Form einer Serie) erkunden, dann wollen wir den Blick einerseits auf die wiederkehrenden Erfahrungen im Kontext deutscher Filmproduktion und Filmkultur lenken und andererseits auf die unterschiedlichen Umgangsweisen, die jüdische Akteur*innen damit gefunden haben. In der Bundesrepublik galt Serialität als Prinzip der Wiederkehr des Immergleichen. Im Vorabend- und Abendprogramm des linearen Fernsehens waren Serien als Format fest etabliert: In ihnen fand sich gesellschaftliche Heterogenität zwar mitunter abgebildet, aber meist so, dass das als gesellschaftlicher Durchschnitt vorgestellte Publikum dabei den Umgang mit und das Wissen über ‚Minderheiten‘ erlernen konnte – was stets verlangte, zuerst 5  Vgl. Iris Marion Young: Gender as Seriality. Thinking about Women as a Social Collective. In: Signs 19,3 (1994), S. 713–738.

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deren Differenz sichtbar zu machen, also Stereotype zu reproduzieren. Fernsehserien sind deshalb ein idealer Gegenstand, um das zu beschreiben, was man als eine ‚bundesdeutsche Filmgeschichte des Jüdischen‘ bezeichnen könnte, das heißt also eine Geschichte der Inszenierung des Jüdischen in einem für ein nicht-jüdisches Publikum produzierten Massenmedium.6 Eine jüdische Filmgeschichte der Bundesrepublik kehrt diese Logik um: Im Fokus steht hier das Geflecht deutsch-jüdischer Verhältnisse, die eben nicht Teil konventionalisierter Darstellung wurden, jedoch Spuren an deren Rändern hinterlassen haben. Wer sich in die Archive der deutschen Film- und Fernseh­ geschichte begibt, stößt darauf: Briefe, Anekdoten, Notizen oder Aufnahmen, die von den Widersprüchen zeugen, zu denen sich jüdische Akteur*innen verhalten mussten, die im Umfeld der audiovisuellen Massenmedien tätig waren. Um solche Marginalien der bundesdeutschen Film- und Fernsehgeschichte zum Sprechen zu bringen und in ihnen das Wiederkehrende erkennen zu können, bietet sich ein serielles Verfahren an. Damit ist nun gerade keine Reproduktion von Klischees gemeint, sondern ein Verfahren, dass sich eher an der Logik von Hashtags orientiert: Eine zwanglose und unabgeschlossene Reihung kurzer Texte, die Spuren einer deutsch-jüdischen Filmgeschichte beleuchten und deren Resonanzen sich erst im Laufe des Weiterschreibens ergeben, die zu Rekombination und Fortsetzung einladen. Die Form der Einblendungen ist fragmentarisch und anekdotisch, es handelt sich um eine kleine Form. Kleine bzw. kurze Formen sind in den letzten zwanzig Jahren verstärkt beforscht worden,

6  Vgl. Lea Wohl von Haselberg: Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west)deutschen Film und Fernsehen. Berlin: Neofelis 2016; Raphael Rauch: „Visuelle Integration“? Juden in westdeutschen Fernsehserien nach „Holocaust“. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2018.

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wobei oft ihre epistemischen Qualitäten im Mittelpunkt stehen.7 Dabei sind sie „elastisch und unterbestimmt“8, auch weil darunter vielfältige Textformen gefasst werden, wie Anekdoten, Vignetten, Miniaturen, Listen, Skizzen, Protokolle, Essays, Glossen, Abstracts, Miszellen, Exzerpte, Aphorismen und viele mehr. Sie sind mit sehr unterschiedlichen Gebrauchskontexten verbunden. Charakterisiert werden sie vielfach durch eine Widersprüchlichkeit: sie verknappen und reduzieren Komplexität, verdichten, bringen auf den Punkt und vereindeutigen; gleichzeitig öffnen sie jedoch auch, indem sie Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit sichtbar und damit produktiv machen, sie stehen für vernetztes Wissen, das sich unterschiedlich re-kombinieren lässt.9 Damit regulieren und gestalten sie das Verhältnis von Wissen und Erzählen neu und „gewinnen ihre epistemologische und poetologische Bedeutung pragmatisch durch ihre Relation zu längeren, ausgedehnten und größeren Formen, also durch Signale der Verdichtung, der Prägnanz, des Weglassens und des Abbruchs, aber auch der Tentativität und Vorläufigkeit.“10 Es fällt allerdings auf, dass die Literatur- und auch Medienwissenschaft diese kurzen Formate zwar untersucht und ihnen vielfältige Potenziale attestiert, sie aber dennoch kaum als Form des wissenschaftlichen Schreibens in Erwägung gezogen werden.

7  Vgl. etwa Matthias Grandl / Melanie Möller (Hrsg.): Wissen en miniature. Theorie und Epistemologie der Anekdote. Wiesbaden: Harrassowitz 2021; Melanie Unseld (Hrsg.): Anekdote, Biographie, Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten. Köln: Böhlau 2013; Michael Gamper / Ruth Mayer (Hrsg.): Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: Transcript 2017. 8  So heißt es in der Beschreibung des Forschungsstandes des DFG-Graduiertenkollegs 2190 Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen: https:// www.kleine-formen.de/forschungsprogramm/ (Zugriff am 24.10.2022). 9  Vgl. Michael Gamper / Ruth Mayer: Erzählen, Wissen und kleine Formen. Eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Kurz & knapp, S. 7–22. 10  Ebd., S. 12.

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Die Einblendungen sind auch ein Vorschlag, auf verschiedene Herausforderungen der Filmgeschichtsschreibung mit kleinen Formen und damit einer anderen Form des Schreibens11 zu reagieren: auf die Kritik am Nationalkino, aktuelle Diskurse um Identitätspolitiken und auch die durch die zunehmende digitale Zugänglichkeit veränderte Quellenlage. Dabei sind die vorliegenden kurzen Einblendungen auch im Verhältnis zu den großen Texten und Erzählungen der Film- und Fernsehgeschichtsschreibung zu verstehen, aus denen das hier Eingeblendete vielfach ausgeblendet wurde. Sie formulieren einen Widerspruch oder eine Ergänzung, die in kurzer Form – vielfach anekdotisch – an den langen Text angeschrieben wird, ohne diese bruchlos einzuschreiben und damit die (frühere) Auslassung unsichtbar zu machen. Auch wenn alle Texte in eindeutig ausgewiesener Einzel- oder Co-Autorschaft verfasst worden sind, werden sie hier nicht als voneinander unabhängige Beiträge abgedruckt, sondern als Ensemble, in dem sich verschiedene Positionen ergänzen, kommentieren und widersprechen können. Wir haben sie – wie zuvor die Serie in Medaon – in insgesamt fünf Kapitel eingeteilt: Das Kapitel „Dinge“ versammelt Texte zu realen oder imaginären Gegenständen, an denen sich bestimmte Erzählungen festmachen lassen. Unterschiedliche Formen schriftlicher Adressierungen, in denen bestimmte Beziehungsgeflechte besonders deutlich hervortreten, werden im zweiten Teil unter „Schreiben“ gefasst. „Orte“ als Ziel- und Ausgangspunkte von Bewegung, als Knotenpunkte von Film-Exil und Bezugspunkte von Handlungen werden im dritten Kapitel thematisiert – sie sind nie nur geografische 11  Anregung und Orientierung waren dabei andere Projekte, die kleine Formen für die Filmwissenschaft fruchtbar gemacht haben und sich nicht ohne Ironie an auf Vollständigkeit ausgelegte klassische Formen wie Chroniken oder Wörterbücher angelehnt haben. Vgl. dazu Jennifer M. Kapczynski / Michael David Richardson (Hrsg.): A New History of German Cinema. Rochester, NY: Boydwell & Brewer; Marius Böttcher et. al. (Hrsg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte. Köln: August Verlag 2014.

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Koordinaten, sondern verschränken reale Bewegung und imaginäre Verortungen. Das vierte Kapitel „Überlieferungen“ richtet den Blick auf Besonderheiten der Form, in der die entsprechenden Quellen heute zugänglich sind. Unter „Szenen“ werden im letzten Teil auf verschiedene Arten überlieferte Begegnungen versammelt, in denen sich bestimmte Milieus oder biografische Erfahrungen konzentrieren. Diese Kapitel sind weder chronologisch noch thematisch voneinander abgegrenzt. Wir verstehen sie als Versuchsanordnungen und als versuchsweise Anordnung. Die Texte sind für diese Kapitel geschrieben worden und stehen in Beziehung zu den Texten davor und danach. Die Leser*innen sind dazu eingeladen, die Texte durch ihre Lektüre zu rekombinieren und damit anders anzuordnen, als sie im Buch abgedruckt sind. Wir hoffen außerdem, dass die Texte zur wissenschaftlichen Anschlusskommunikation anregen, die mit anderen Ordnungsversuchen, anderen Fragestellungen und anderen Materialien an das anknüpfen können, was wir hier als nicht abgeschlossenes und offenes filmhistoriografisches Modell vorlegen.

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Dinge

Dinge Dinge sind nie einfach da, sondern haben eine und oft sogar mehrere Geschichten. Sie haben keinen konzeptionellen, verkörpern aber einen besonders konkreten Zusammenhang, der sich oft nicht ohne weiteres erzählen und mitunter eher als Knotenpunkt verschiedener Erzählungen darstellen lässt. Oftmals braucht es einen zweiten Blick, um diese verborgenen Geschichten der Dinge sichtbar zu machen. Geschichte entlang von Dingen darzustellen, ist durch Neil MacGregors BBC-Radioserie A History of the World in 100 Objects popularisiert worden. Im Vergleich zu dieser gattungsgeschichtlichen Perspektive müssen die hier vorgelegten Beiträge mikroskopisch erscheinen; wir verstehen sie als kleine Form und begnügen uns deshalb auch mit wenigen Objekten. Wir schreiben überdies nicht über museale Exponate, sondern über eher flüchtige Dinge, die in einigen Fällen und aus unterschiedlichen Gründen gar nicht gegenständlich vorliegen. Im Kontext der Filmgeschichte ist Dinglichkeit ohnehin ontologisch schillernd, insofern sie oft an der Schwelle filmischer Wirklichkeiten steht, in diese hineinzuragen oder herausgefallen zu sein scheint: So die mitunter ehrfürchtig konservierten Requisiten, die vielfältigen Ephemera des Kinobetriebs und, in anderer Weise, auch die Alterung von Filmrollen oder obsolete Projektionstechnik. 18  



Was aber sind interessante Dinge im Kontext einer jüdischen Filmgeschichte? Das sind kaum nur die Kippot, Menorot und Mesusot, die stapelweise im Requisitenfundus warten, um bei Bedarf als Marker jüdischer Figuren und ihrer Wohnungen zu dienen. Wir haben Dinge zusammengetragen, die nicht Darstellungskonventionen illustrieren, sondern in denen sich am Rande der Filmgeschichte auf ganz unterschiedliche Weise deutsch-­ jüdische Verhältnisse verdichtet haben.

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Ein Buch mit Exlibris Naomi Rolef Ein dünner Band, die Erstausgabe von Efraim Frischs Von der Kunst des Theaters: Ein Gespräch aus dem Jahr 1910. Es ist eine philosophische Verhandlung unterschiedlicher Aspekte des Thea­ ters, wie Platons Symposion in dialogischer Form verfasst. Auf der Titelseite, leicht zu übersehen, ein kleines gestempeltes Exlibris auf Hebräisch: „von den Büchern Chaim Halachmis“ heißt es, darunter ein kleiner Davidstern. Chaim Dov Halachmi, geboren 1902 in Lubar, Ukraine, wanderte 1925 nach Palästina aus, wo er als Schauspieler, Pädagoge und Übersetzer sein Leben bestritt. Seine kurze Karriere als Regisseur und Produzent fand mit dem Dreh des ersten vollständig israelischen Spielfilms, Oded der Wanderer (1932), ihren Höhepunkt.1 Weniger bekannt ist, dass er 1929 eine Filmschauspielschule gründete2 – zu dieser Zeit entstanden im Lande sonst nur dokumentarische Filme. Halachmi gehört also zu den Begründern der israelischen Filmindustrie. Als Angehöriger der zweiten Generation der Filmpioniere zählt er zwar nicht zu jenen deutschstämmigen Filmemacher*innen, die von den 1930er bis in die 1960er Jahre die israelische Filmbranche prägten, aber Deutschland spielte dennoch eine wichtige Rolle in seinem Werde­ gang. Als er 1920 vor der sowjetischen Regierung floh, zog er zu Verwandten nach Königsberg und arbeitete bis zu seiner Auswanderung nach Palästina in deren Außenhandelsfirma. Gleichzeitig studierte er in Königsberg und Berlin, besuchte Veranstaltungen zu Psychologie, Theater und Film und nahm an Schauspielkursen der Max-Reinhardt-Bühnen teil.3 1  Vgl. Hillel Tryster: Israel Before Israel. Silent Cinema in the Holy Land. Jerusalem: Steven Spielberg Jewish Film Archive 1995, S. 140. 2  Vgl. Joseph Halachmi: ‫[ ויהי מה‬No Matter What]. Jeruslaem: Steven Spielberg Jewish Film Archive 1995, S. 67–69. 3  Vgl. Tryster: Israel Before Israel, S. 140.

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Während seiner Zeit in Deutschland erwarb Halachmi auch den Grundstock seiner bescheidenen deutschsprachigen Büchersammlung, die er später in Israel noch hier und da ausbaute. So berichtet es sein Sohn, der Filmemacher und -forscher Joseph Halachmi.4 Abgesehen von einigen kanonischen Klassikern befasst sich der Großteil der Sammlung mit Theater und Schauspiel. Die Bücher dieser Sammlung verraten viel über die Umstände, unter denen sie beschafft wurden. In vielen Bänden weisen mit Bleistift durchgestrichene Namen auf Vorbesitzer hin. Frischs Buch enthält eine Widmung von Pfingsten 1917, von einem gewissen Edgar Hector an einen Unbekannten. Eine interessante biografische Verbindung lässt gerade dieses Buch aus der Sammlung Halachmis hervorstechen: Der Verfasser, Efraim Frisch, war von 1904 bis 1909 Dramaturg an Reinhardts Deutschem Theater in Berlin, und es ist anzunehmen, dass sein Buch dieser Periode manche Anregung verdankt. Frisch war ein bekannter Autor, Theaterkritiker und Publizist. Bis 1925, Halachmis Auswanderungsjahr, gab er die kleine, aber prestigeträchtige Kulturzeitschrift Der neue Merkur heraus. Obwohl er sich selbst nicht der Avantgarde zuordnete, gehörte er eindeutig zu den modernen Geistern seiner Zeit.5 Nach seinem Tod 1942 im Schweizer Exil verschwand er, wie viele Akteure der Weimarer Republik, aus dem öffentlichen Bewusstsein. Erst die Publikationen Guy Sterns in den frühen 1960er Jahren riefen ihn wieder in Erinnerung.6 In der BRD wurde er seitdem praktisch ausschließlich als deutsch-jüdischer Autor wahrgenommen und kaum außerhalb dieses Kontexts.

4  Interview mit Josef Halachmi, 21.01.2018, Interviewerin Naomi Rolef. 5  Vgl. Guy Stern: Efraim Frisch and the Neue Merkur. In: Leo Baeck Institute Year Book 6,1 (1961), S. 125–151. 6  Vgl. Eckhard Ulrich: Efraim Frisch bleibt vergessen. In: Eckhard Ulrich, o. D. http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/2995-efraim-frisch-bleibtvergessen (Zugriff am 30.11.2022).

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Die Erstausgabe von Efraim Frischs Von der Kunst des Theaters: Ein Gespräch mit Halachmis Exlibris dokumentiert nicht nur die kulturellen deutschen Einflüsse auf Halachmis Lebenswerk, sondern auch den historischen Status von Efraim Frisch als zeitgemäßem Vertreter der deutschen Kulturwelt vor der ,Macht­ ergreifung‘, auch außerhalb der deutsch-jüdischen Rubrik. Der Nerzmantel Johannes Praetorius-Rhein Als Artur Brauner 1946 im Strom der sogenannten Displaced Persons nach Berlin kam, hatte er eine Idee im Gepäck: Er wollte einen Film drehen, der zum „Denkmal für die wehrlosen Opfer des Krieges“7 werden sollte. Zwei Jahre später konnte er die Premiere von Morituri (D 1948, R: Eugen York) feiern, der als erster deutscher Spielfilm gilt, in dem ein Konzentrationslager dargestellt wird und der von der Flucht und dem Untertauchen einer Gruppe Verfolgter handelt. Wer damals in Deutschland einen Film drehen wollte, brauchte aber erheblich mehr als eine Idee: vor allem eine Lizenz der Alliierten und das nötige Kapital. Für Brauner, der weder Kontakte noch Erfahrung in der Branche nachweisen konnte, war beides kaum zu beschaffen – erst recht nicht für ein Filmprojekt, das das deutsche Kinopublikum mit dem Leid anderer konfrontieren sollte. Brauners Sprung ins Filmgeschäft verdankt sich weniger irgendwelcher Vorteile, von denen ein jüdischer Überlebender angeblich hätte profitieren können, als vielmehr einem Nerzmantel. Im kältesten Berliner Winter öffnete seine zukünftige Schwiegermutter ihren Koffer und holte einen Pelz hervor, der ihr von Freunden aus den USA zugeschickt worden war. Dieser Pelz verschaffte dem 7  Artur Brauner: Mich gibt’s nur einmal. Rückblende eines Lebens. Berlin / München: Herbig 1976, S. 46.

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angehenden Filmproduzenten sein Startkapital: 200.000 Reichsmark sollte ihm der Mantel einbringen, die Schwiegermutter hatte sich erkundigt. Die Geschichte, die Brauner so in seinen Memoiren aufgeschrieben hat, ist journalistisch unzählige Male verarbeitet worden, wobei die Details schillern: Mal war der Nerzmantel ein geliebtes Erbstück, mal gehörte er der eigenen Mutter, mal musste er sie überreden, mal werden aus dem Pelz Juwelen, mal waren sie jahre­lang vergraben. All diese Varianten suchen die Erklärung für einen nicht weniger schillernden Gegenstand: einen Koffer voller Geld, mit dem Artur Brauner in den Tempelhofer Film­studios aufgetaucht sein soll, um damit die Finanzierung der letzten Drehtage eines der ersten deutschen Nachkriegsfilme zu retten.8 Damit verwandelte sich Brauner vom Zaungast zu einem der bald wichtigsten Akteure beim Aufbau der Berliner Filmindustrie. Die Frage nach der Herkunft von Brauners Kapital ist lange auf größeres Interesse gestoßen als seine Lebensgeschichte. So zitiert und zerstreut Brauner in seinen Memoiren das Gerücht, er habe damals aus dem Wiedergutmachungsfonds „doch -zig Millionen kassiert“9. Diese angesichts schleppender Entschädigungsverfahren und geringster Beträge groteske Mutmaßung mag die Runde gemacht haben, die Regel waren aber wohl noch etwas stärker antisemitisch grundierte Gerüchte um Schwarzmarktgeschäfte, in die Brauner und sein Schwager verwickelt gewesen sein sollen. Die Geschichte vom Nerzmantel ist – unabhängig vom ebenso plausiblen wie unüberprüfbaren Wahrheitsgehalt – eine treffsichere Antwort darauf: Sie wirbt, wenn sogar eine zukünftige Schwiegermutter so viel davon aufbringen konnte, bei den 8  Die Komödie Sag die Wahrheit (D 1946, R: Helmut Weiss) war nicht nur der erste Nachkriegsspielfilm, sondern auch eine der letzten, nämlich unvollendeten Produktionen aus der Zeit des Nationalsozialismus: Im Winter 1944/45 begonnen, wurde die Produktion durch das Kriegsende abgebrochen und im Sommer 1946 neu gestartet. Ein echter ‚Überläuferfilm‘. 9  Brauner: Mich gibt’s nur einmal, S. 192.

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Lesenden um Vertrauen. Dies doppelt sich noch in der wohl­ tätigen Zuversicht der ‚Freunde aus Amerika‘, die – auch wenn konkret alte Bekannte aus Lemberg oder auch eine jüdische Hilfsorganisation gemeint sein könnten – hier als in der BRD fromm geglaubter transatlantischer Deus ex Machina erscheinen. Dennoch wird die Aktivität auf dem Schwarzmarkt nicht völlig geleugnet, denn wo sonst sollte der Luxusartikel verscherbelt worden sein? Nur wird, wenn sich dort ältere Damen kundig machen konnten, auch klar, dass es sich dabei weniger um eine kriminelle Halbwelt, als vielmehr um ein Stück Berliner Alltag handelte. Schließlich musste, wer den etwas sagenhaften Preis von 200.000 Mark für einen Nerzmantel bezweifeln wollte, zugleich einräumen, mit den nirgends festgeschriebenen Kursen selbst bestens vertraut gewesen zu sein. Roman Vishniacs Mikroskop Tobias Ebbrecht-Hartmann Eine Straße in New York. Die Kamera schwenkt an einer Hauswand hinauf. Umschnitt auf einen Innenraum; auf einem Arbeitstisch ein Mikroskop. Die Kamera setzt sich in Bewegung, schwenkt langsam durch den Raum. Neben dem Mikroskop Schachteln mit Diapositiven. Es folgt ein Close-up einer asiatischen Statuette. Die Zoomfahrt enthüllt, dass die Figur umstellt ist von Fotoapparaten und anderen Aufnahmeapparaturen. Dann die Aufsicht auf einen anderen Arbeitstisch. Aufbewahrungsgläser mit mikrobiologischen Proben umrunden ein Mikroskop. „Mit Geduld und Ausdauer“, so der Kommentar über den Bewohner dieses Ortes, der Behausung, Archiv und Labor verbindet, „erforscht er die Welt auch der kleinsten Lebewesen und hält sie in Fotos und Filmen fest.“ Diese Einstellungen eröffnen Erwin Leisers Dokumentarfilm Die versunkenen Welten des Roman Vishniac (CH 1978). Leiser, der 1938 infolge der Novemberpogrome aus Berlin fliehen 24  



musste, wuchs in Schweden auf, wo er sich dem Journalismus und schließlich dem Film zuwandte. Mit dem Kompilationsfilm Den Blodiga Tiden (Mein Kampf, S 1960, R: Erwin Leiser), in dem er mit Archivfilmmaterial eine Chronik des Nationalsozia­ lismus, der Ausgrenzung, Ghettoisierung und Ermordung der europäischen Juden entwarf, wurde Leiser 1960 international bekannt. 1978 porträtierte er den jüdischen Fotografen Roman Vishniac, der 1939 im Rahmen einer fotografischen Forschungsreise durch Osteuropa das dortige jüdischen Leben in Film- und Fotoaufnahmen dokumentiert hatte. Vielleicht waren es auch hier die genaue Wahrnehmung und der vergrößernde Blick auf seine Zeit, die in dem Forscher die Ahnung weckten, dass dies vielleicht die letzten visuellen Zeugnisse jüdischen Lebens in Osteuropa sein würden. Diese Aufnahmen bilden das Zentrum von Leisers Film. Die Eröffnungsszenen, und insbesondere die zentrale Stellung, die Vishniacs Mikroskop(e) darin einnehmen, rahmen die fotografischen Spuren einer untergegangenen Welt in besonderer Weise. Zum einen verbinden sie das Mikroskop als Ding der Sichtbarmachung kaum wahrnehmbarer Strukturen explizit mit fotografischen Aufnahmeapparaturen und mit dem Diapositiv als visuell-archivarischem Bildträger. Zum anderen verbindet die Komposition der Eröffnungssequenz den mikroskopischen Blick mit filmischen Verfahren der suchenden Kamerabewegung, des Close-up und des Zooms. Die in der Sequenz gezeigte Labor­ umgebung lässt die späteren Verfahren der Sichtbarmachung von Vishniacs Fotografien in Leisers Film auf diese Weise zu einer Versuchsanordnung werden. Als Experimentator des Optischen ist Vishniac Akteur in einem Laboratorium der Erinnerung, dessen ,Proben‘ seine Fotografien sind und dessen Experimentierfeld Leisers Film ist. „Sämtliche Elemente eines Bildes vermag ich erst zu erfassen“, erklärte Leiser einmal seinen Ansatz, „wenn ich mir verschiedene Möglichkeiten der Wanderung der Kamera über dieses Bild vorstelle und die Details auswähle, bei denen ich verweilen 25

möchte.“10 So steht das von der wandernden Filmkamera in den Blick genommene Mikroskop als filmisches Ding und in seiner Beziehung zu anderen Dingen – den Fotoapparaten, Diapositiven, Statuetten und Laborgerätschaften – für Leisers eigenes Verfahren der Bildbetrachtung ein. Diese wiederum verbindet sich mit Vishniacs besonderem Blick auf unwiederbringlich zerstörtes jüdisches Leben. 1939 hatte der fotografische Forscher dieses Leben im Bild festgehalten, als Vergrößerung einer untergegangenen Welt, deren in den Diapositiven konservierte visuelle Spuren Ende der 1970er Jahre Leisers Film inspiziert und durch seine Verfahren der Vergrößerung sicht- und erinnerbar macht. Ein Fotoalbum Ulrike Schneider Im Nachlass von Jurek Becker, im Archiv der Akademie der Künste Berlin, befindet sich ein schmales Album mit SchwarzWeiß-Fotografien. Die inhaltliche Anordnung des Fotoalbums gibt über eine von Becker gemeinsam mit dem Regisseur Frank Beyer im Mai 1966 unternommene Reise durch Polen Auskunft, die der Motivsuche für den geplanten Film Jakob der Lügner (DDR 1974, R: Frank Beyer) diente. Becker hatte 1963 und 1965 zwei Drehbuchfassungen bei der DEFA eingereicht, von denen die erste abgelehnt, die zweite aus verschiedenen Gründen nicht umgesetzt wurde, worauf er den Text zum bekannten gleichnamigen Roman umarbeitete, der 1969 im Aufbau-Verlag erschien. Die Motivsuche stand so noch vor der Umarbeitung zum Romantext und bedingte ihn im Hinblick auf die beschriebenen Orte vielleicht auch. Die Umsetzung des Filmprojektes erfolgte erst Anfang der 1970er Jahre. 10  Erwin Leiser: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Meine Filme 1960–1996. Konstanz: UVK 1996, S. 127.

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Die während der Reise von Becker und eventuell auch von Beyer gemachten Aufnahmen informieren über die Stationen und die besuchten Orte. Die Reiseroute führte, nach der dem Fotoalbum zu entnehmenden Reihenfolge, über die Städte Posen, Warschau, Lodz, Lublin, Krakau, Tschenstochau und Breslau zur Gedenkstätte Majdanek.11 Die Anzahl der Fotografien zu den einzelnen Stationen ist sehr unterschiedlich, die meisten Aufnahmen stammen aus Warschau (27 Fotos), Lodz (27) und Krakau (26) und zeigen Ansichten von Straßen, alten, zum Teil verfallenen Gebäuden neben neu errichteten, dem Stil der sozialistischen Architektur folgenden Bauten. Während in Lublin touristische Plätze (Burgwall, Stadttor, Kirchenanlage) dominieren, überwiegen bei den Stadtaufnahmen von Lodz und Krakau – aufgenommen wurden auch hier bekannte Sehenswürdigkeiten wie die Burg Wawel, der Marktplatz mit den Tuchhallen und der Barbakan – vor allem Straßen- und Hausdarstellungen, die abseits der touristischen Zentren zu liegen scheinen. In Lodz, dem Geburtsort Beckers, dienen einfache Holzhäuser als Motiv, von Kriegsschäden gezeichnete Gebäude, Straßen, auf denen Pferdewagen zu sehen sind, sowie enge Hinterhöfe, in denen Kinder spielen. Bei sieben Fotos, die Becker in Krakau aufgenommen hat, ist der Zusatz vermerkt: „An diesem Platz wollte Beyer drehen.“12 Sie zeigen unter anderem einen großen, leeren, ungepflasterten Sandplatz, leicht schräge, sich nach vorn zu neigen scheinende, verfallene Häuser mit Hinterhöfen, enge, verwinkelte Gassen, die den Blick auf Häuser mit kleinen, blinden Fenstern freigeben, sowie einen von Gebäuden umgebenen Platz mit einer alten Wasserpumpe. Die im Vorspann des späteren Spielfilms eingeblendeten Bildausschnitte und die zu Beginn unternommene Kamerafahrt 11  Jurek Becker verwendete die deutschen Bezeichnungen der Städte im Fotoalbum, die hier aufgenommen wurden. 12  Vgl. Fotoalbum von einer Reise J. Beckers und Frank Beyers nach Polen auf Motivsuche für den Film „Jakob der Lügner“, 1966. Akademie der Künste, Berlin, Jurek-Becker-Archiv, Becker-Jurek 3016.

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durch das Ghetto, dem abendlichen Spaziergang Jakobs folgend, scheinen ihre Vorlage in diesen im Album gesammelten Fotografien zu haben. Insbesondere die versehrt wirkenden, alten Häuser in Lodz und Krakau erinnern stark an die im Film dargestellten Gebäude des Hinterhofs, in dem Jakob lebt. Ein kleines Detail, das bei der ersten Durchsicht des Albums kaum auffällt, hat Becker ebenfalls fotografisch festgehalten. Zwei der Aufnahmen – eine aus Lodz, eine aus Warschau – zeigen Baum­ alleen sowie ein Foto, ebenfalls aus Lodz, einen einzeln stehenden, noch im Wachsen begriffenen Baum. Sie sind ein Verweis auf ein elementares Motiv von Roman und Film. Denn die Gedanken über Bäume, die der namenlose Ich-Erzähler den Lesern mitteilt, eröffnen und beschließen den Roman. Und der Blick auf Wälder, neben den Wolken aus Linas Perspektive, der kleinen Freundin Jakobs, eingefangen, bildet das Ende des Films. Der Koffer Claudia Sandberg An einem nebligen Tag im November geht ein junger Mann mit einem Koffer in der Hand eine menschenleere Allee entlang, an deren Ende ein Gutshaus zu sehen ist. Hier soll David ein landwirtschaftliches Training absolvieren, um sich auf die Alija vorzubereiten. Von einem kurz angebundenen Leiter in die Heimordnung eingewiesen, wird er umso freundlicher von einer Gruppe gutgelaunter Jugendlicher begrüßt. Seine Sachen lässt er auf einem Bett in einem Schlafsaal, den alle gemeinsam bewohnen. Peter Lilienthals David (BRD 1979) ist einer der ersten Filme der Nachkriegszeit, der ein Bild jüdischen Lebens in Nazideutschland zeichnet und dabei die konventionelle Symbolik von Verfolgung und Trauma konterkariert. Seine Koffer sind Synonym für Aufbruch, Hoffnung und Veränderung. 28  

Eine mobile Lebensphilosophie machte sich der deutsch-­jüdischuruguayische Regisseur schon in der Kindheit zu eigen: Lilien­ thals Familie floh aus Nazideutschland, als er zehn Jahre alt war. Die Mutter führte eine Pension in Montevideo. Dort bewohnte er immer das Zimmer, das gerade frei war. Während Freunde, europäische Exilant*innen der gehobenen Mittelklasse, den Verlust ihres Steinways beklagten, verbrachte Lilienthal seine Zeit mit dem Küchenpersonal. Aus der Erfahrung wurde ein dauerhaftes Interesse für Geschichten am Rande der Geschichte. Diese spürte der Fernsehpionier und Repräsentant des Neuen Deutschen Kinos in Deutschland, Israel oder Lateinamerika auf. Koffer, Taschen, Beutel und Rucksäcke sind favorisierte Objekte in Lilienthals Filmen. Ihre Besitzer sind zumeist junge Protagonisten und stille Außenseiter, die sich etablierten Regeln widersetzen und deren Vorhaben häufig scheitern. Aber hier, im Moment der Ankunft, scheint alles möglich. In Hauptlehrer Hofer (BRD 1974), der im Elsass um die Jahrhundertwende spielt, fängt die Kamera den neuen Lehrer ein, wie er mit Beutel und Koffer beladen, leichtfüßig und zielstrebig in die Dorfstraße einbiegt. Die Ablehnung der Gemeinde gegenüber dem Fremden formiert sich, als er die Kinder aus der Fabrik holt, damit sie stattdessen in den Unterricht gehen, und er die Vision einer neuen Schule durchsetzen will. Lilienthals Koffer ist Ausdruck der Rebellion gegen Bequemlichkeit und Gewohnheit, die die Bürger*innen zähmen und in denen sie erlahmen. Der junge Rick aus Der Beginn (BRD 1966) ist alarmiert, als er nach einem Aufenthalt in Spanien wieder in die Berliner Normalität einkehrt. Seine Eltern sind im Alltag versunken. Ihre Sehnsüchte ertränken sie in Alkohol, Affären und flackernden Fernsehbildern. Selbst seine Freund*innen streben nach Sicherheit und Ordnung. Rick verbringt den Sommer mit der Entscheidung, einen Job in einem Hotel im Süden anzunehmen oder die Lehre anzufangen, die ein gutes Gehalt verspricht. Mehr Spontanität der Nouvelle Vague als Geschichtslastigkeit des jungen deutschen Kinos, konstatiert Der Beginn der 29

westdeutschen Gesellschaft dieser Jahre Gartenlaubenmentalität und Fantasielosigkeit. Angesichts der Wälder (D/ISR/CH 1995) unterstreicht erneut die Idee eines Lebens aus dem Koffer und des Nomadentums als einzige Möglichkeit, persönlichen und gesellschaftlichen Missständen zu begegnen. Wie Rick vor ihm erkennt der israe­ lische Geschichtsstudent Noach die ältere Generation in ihrer Angst, dass es für Veränderungen zu spät sei. In seinem Sommerjob als Feuerwächter wird ein Aussichtsturm sein Zuhause, der hoch über die Baumwipfel ragt. Er lernt Abdul Karim und seine Tochter Nahida kennen und entdeckt im Wald Geschichte/n, die gelernte Wahrheiten infrage stellen. Noach wird später in aller Hast fliehen, denn er sieht zu spät, dass der Wald brennt. Man vertreibt Lehrer Hofer wegen seiner unkonventionellen Unterrichtsmethoden, während Rick sich im Schulungsraum des neuen Lehrbetriebes wiederfindet. Nur David kann sich retten. Er verlässt Deutschland mit einem falschen Pass. Irgendwo wird noch ein Koffer von ihm stehen, er enthält die Erinnerung an jugendliche Revolte und hartnäckige Utopie. Die Nähmaschine Lea Wohl von Haselberg Fast 50 Jahre hat die Schusternähmaschine seines Vaters in Öl­­ papier in einem Ahlener Keller überdauert, „ein in Gußeisen erstarrtes Symbol der Vergangenheit“13, wie Imo Moszkowicz in seiner Autobiografie schreibt. Er bekommt sie spät vom Neffen einer Freundin seiner ermordeten Schwester Rosa zurück. Lange hatte der Regisseur Moszkowicz es abgelehnt, in seinen Geburtsort in Westfalen zu reisen. Nur kurz, direkt nach Kriegsende, unmittelbar nach seiner Befreiung, war er dort gewesen, um 13  Imo Moszkowicz: Der grauende Morgen. München: Droemer Knaur 1998, S. 22.

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zu sehen, ob nicht doch eines seiner Geschwister überlebt hatte. Danach machte er einen weiten Bogen um die Gegend, in der er aufgewachsen war, auch um Essen, wo er als Jugendlicher Zwangsarbeit leisten musste. Führten ihn Theaterengagements oder Dreharbeiten in die Nähe, versuchte er, sich in Düsseldorf unterbringen zu lassen, Umwege in Kauf nehmend. In den 1980er Jahren brachte die Bewegung der Geschichtswerkstätten frischen Wind in die Auseinandersetzung mit der NS-­Vergangenheit: Der junge Leiter der Ahlener Volkshochschule, der auf den inzwischen bekannten Regisseur aufmerksam geworden war, lud Moszkowicz so hartnäckig ein, dass dieser schließlich kam. Während seine Komödie Max, der Taschendieb (1962) mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle als „x-te Wiederholung […] zur Erheiterung von Millionen Fernseh­ zuschauern über die Schirme flimmerte“14, nahm Moszkowicz an einer Gedenkstunde zum Novemberpogrom in Ahlen teil – eine für seine ganze Arbeitsbiografie symbolische Gleichzeitigkeit. Die Worte nahm teil hebt er in seinen Memoiren mit einfachen Anführungszeichen hervor, auf die Absurdität der Situation hinweisend, als wolle er in den Raum stellen, er stünde dem Fernsehpublikum näher als den Teilnehmer*innen der Gedenkstunde. An kaum einer anderen Stelle hat er seine Rolle oder Position so reflektiert. Der Weg zurück nach Ahlen bescherte Moszkowicz ebenjene Nähmaschine, die eigentlich auf gleich zwei Vergangenheiten hinweist, die beide bedeutsam für das Verständnis seines Schaffens sind: Er beschreibt seinen Vater als sehr arm und nicht sehr intelligent.15 Während er die Armut der Familie rückblickend zwar als mitunter schmerzhaft, aber nicht durchgängig als bedrückend darstellt, nennt er den Mangel seiner Eltern an Bildung eine ‚Schmach‘, die sie ohnmächtig gemacht habe und von der ihm früh klargeworden sei, sie kompensieren zu müssen. Damit 14  Ebd. 15  Vgl. ebd., S. 28.

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steht die Nähmaschine ebenso für ein in Armut aufgewachsenes Kind, das früh erkennt, dass ihm diese Welt zu eng ist und das aus ihr heraustreten will, wie auch für eine Kindheit, von der durch die Verfolgung während des Nationalsozialismus nichts geblieben ist. Aus heutiger Perspektive erzählt sie auch von Imo Moszkowicz’ beruflichem Erfolg und sozialem Aufstieg, der ihn von seiner familiären Herkunft distanzierte und ihm die ‚Kompensation‘ ermöglichte. Obwohl er kurz nach seiner Bar Mitzwa nicht mehr in die Schule gehen durfte und Zwangsarbeit und Vernichtungslager folgten, wurde er ohne Schulabschluss nach Kriegsende Gustav Gründgens’ Regieassistent und reüssierte in den kommenden Jahrzehnten als international erfolgreicher Theater-, Fernseh- und Opernregisseur. Die Nähmaschine verweist auf seinen Umgang mit beiden Vergangenheiten: mit seiner sozialen Herkunft ebenso wie mit seiner Verfolgung. Sein Umgang mit der Verfolgung war immer von einer Offenheit geprägt, aber auch von dem Bestreben, die Vergangenheit aus seinem beruflichen Schaffen herauszuhalten. Mal begründete er das mit der Scheu, Vergangenheit mit künstlerischer Gegenwart zu verquicken, mal mit der Sorge, allein auf Grund seiner Geschichte bevorzugt zu werden, mal mit der Ablehnung, die eigene Verfolgung zu vermarkten. Festhalten lässt sich, dass er sich erst spät und nur zögerlich auf die an ihn he­rangetragene Rolle als Zeitzeuge einließ. Verfolgungs- und Aufstiegsgeschichte lassen sich nicht trennen, das macht nicht zuletzt seine sprunghaft erzählende Autobiografie deutlich. Nur eine in den Blick zu nehmen, bedeutet zwangsläufig eine Verkürzung. Die Vergangenheit, die immer über uns wie ein erratischer Block in wirren Bildern lastend schwebt, war nach fast einem halben Jahrhundert zu anfaßbarer Gegenwart geworden, an einer verschnörkelten Schusternähmaschine, die die Familie jahrelang mehr schlecht als recht ernährt hatte, exemplifiziert.16 16  Moszkowicz: Der grauende Morgen, S. 25.

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Das Fotoalbum von Günther Krampf Imme Klages Ein Mann schaut in die Ferne vor einem weißen Wolkenhimmel, er wird von unten aufgenommen, so dass er sich mit schwarzer Kleidung kontrastreich zum Himmel absetzen kann. Sein Arm zeigt in die Weite und die Aufnahme ist aus einem Abgrund aufgenommen, der eine halb verwehte Astgabelung mit in das Framing einschließt. Seelische Turbulenz spricht aus der Mensch-Natur-Aufnahme, die sich in dem Fotoalbum von Günther Krampf in der Kinemathek Berlin befindet17 und zu den Setfotos des Films Der Student von Prag (D 1926, R: Henrik Galeen) gehört. Im dortigen Archiv befinden sich zwei Alben, eingebunden in schwere schwarze Buchdeckel mit Drachen­emblem und knisterndem Pergamentpapier zwischen den Seiten. Eines von ihnen enthält weiße aufgeklebte Zettel, die die Filmstills auf Englisch beschreiben und kurze biografische Meilensteine von Krampfs Arbeit als Kameramann nacherzählen. Ab und an taucht ein englischer Zeitungsartikel mit roten Markierungen darin auf – Filmkritiken, die Krampfs Arbeit lobend hervorheben. Ein Gegenstand, der viele Geschichten erzählt und gleichzeitig Spielraum für Interpretationen lässt: 1932 ging Günther Krampf als renommierter Kameramann nach London, bereits 1931 hatte er dort zwei Filme gedreht: The Outsider (GB 1931, R: Harry Lachman) und The Bells (GB 1931, R: Harcourt Templeman / Oscar Werndorff ).18 Die neuen Shepherd’s Bush Studios wurden eröffnet und Gaumont-British 17  Günther Krampf: [Fotoalbum], o. D. Deutsche Kinemathek Berlin, Nachlass Günther Krampf, 2.4.198044. 18  Vgl. Michael Omasta: Famously Unknown. Günther Krampf ’s Work as Cinematographer in British Films. In: Tim Bergfelder / Christian Cargnelli (Hrsg.): Destination London. German-Speaking Emigres and British Cinema, 1925–1950. London: Berghahn 2008, S. 78.

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engagierte Krampf als Kameramann und Beleuchtungsexperten für ihre erste Produktion Rome Express (GB 1932, R: Walter Forde), einen Thriller mit Conrad Veidt, der dafür aus Deutschland geholt wurde. Krampf hatte zuvor mit den Filmen Orlac’s Hände (A 1924, R: Robert Wiene), Der Student von Prag und Die Büchse der Pandora (D 1929, R: Georg Wilhelm Pabst) die innovative Arbeit mit der Filmkamera und der Licht­ setzung weit vorangetrieben. Seine Mitarbeit an dem politischen Film Kuhle Wampe (D 1932, R: Slatan Dudow) war wohl ausschlaggebend dafür, dass er dem politischen Umbruch in Deutschland den Rücken kehrte. In den Fotoalben stellt sich eine Dringlichkeit dar, die eigene Vergangenheit bewahren, sie archivieren zu wollen. Ein Setfoto: nachts, Der Student von Prag, Veidt, als Balduin, stürzt in die stürmische Nacht. Seine gepeinigte Seele ist voller Schmerz, wo auch immer er sich hinwendet, wird er mit seinem anderen Ich konfrontiert. Wie in einem Gemälde fängt das Setfoto die Lichtinszenierung Krampfs ein, die im Wind gebogenen Birken, deren weiße Stämme sich hell angeleuchtet gegen den schwarzen Nachthimmel abzeichnen. Balduin steht in einem Lichtkegel in der Mitte des Sturms. Die Fotoalben zeugen von dem Wunsch, die eigene Arbeit in den Fotos festzuhalten, Beweise und Befürworter ihrer Qualität zusammenzutragen. Eine naheliegende Deutung ist, dass die Fotos einerseits als Sammlung dienlich waren, um in England als Arbeitsproben herzuhalten, da die Filme, nachdem sie im Kino abgelaufen waren, The Student of Prague lief als Stummfilm 1927 in England, nicht so einfach als Vorführkopien zu erhalten waren, wie es heute der Fall sein dürfte. Andererseits wird hier eine sehr persönliche Sammlung dokumentiert. Nicht wenige Shots zeigen Krampf engagiert bei der Arbeit. In seinem englischen Exil wurden seine Kenntnisse der Lichtdramaturgie nicht immer positiv aufgenommen, die künstlerische und politische Relevanz seiner 35 englischen Produktionen wurden seinen 34  



Fähigkeiten als Kameramann in der Regel nicht gerecht.19 Ein Artikel, der zu Beginn eingeklebt ist, fällt auf: „Filming for the future“ von Edward Carrick.20 Darin enthalten sind mehrere Markierungen: „Names such as those of Eisenstein, Tisa, Cavalcanti, Krampf, Griffiths, Wagner and Honneger will one day be reverenced by the cinema, for each of these men has done something special towards cinematograph development.“21 Krampfs eigene Dokumentation des „something special“, das in der deutschen Filmgeschichte spät erst Anerkennung finden sollte, lässt sich anhand der Fotoalben nachvollziehen. Doch die insgesamt vernachlässigte Position des Kameramanns oder der Kamerafrau in der Filmgeschichtsschreibung wartet noch auf Aufarbeitung. Das Können des Lichtkünstlers Krampf stieß nicht auf das Interesse gleichgesinnter Kolleg*innen im Exilland und somit ließ es sich kaum unter Beweis stellen und vermitteln. Die Fotografien in den Alben sprechen für sich, jedes einzelne Foto ist gestochen scharf und bis in die Tiefe in Licht- und Schattenpartien durchkomponiert.

19  Vgl. Omasta: Famously Unknown, S. 78. 20  Edward Carrick: Filming for the Future. In: Cinematography 5,49 (1938), o. P. Zeitungsausschnitt in Krampf: [Fotoalbum]. 21  Ebd.

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Schreiben

Schreiben

Filme und Filmproduktionen werden von zahlreichen Texten und unterschiedlichen Textsorten umgeben: Treatments, Anträge und Drehbücher beschreiben Filme, bevor sie gedreht werden, Benachrichtigungen, Notizen und Drehpläne dokumentieren verschiedene Stadien und Abläufe der Produktion, Zensurkarten spiegeln den staatlichen Blick auf verschiedene Fassungen, Werbeund Programmtexte kündigen sie dem Publikum an, Vor- und Abspanne markieren die Schwelle zur filmischen Wirklichkeit, Filmkritiken, Fanpost und Tagebucheinträge erinnern und rekonstruieren, was im Kino gesehen wurde, Biografien und Interviews geben Einblicke in die Perspektiven von Filmschaffenden. Erst seitdem Videoformate verbreitet sind, haben einzelne Zuschauer*innen die Möglichkeit, durch Spulen in Filmen wie in einem Buch vor- und zurückzuspringen – und sie dadurch auch wie Geschriebenes zu zitieren. Bevor hochaufgelöste und bewegte Bilder sauber in binären Code übersetzt und auf den gleichen Bildschirmen wie Textdateien verfügbar gemacht werden konnten, hingen sie jedoch lange Zeit an einem Trägermaterial, das nur in ebenso aufwendigen wie flüchtigen Projektionen gesichtet werden konnte; zu einem großen Teil der Filmgeschichte sind heute nur mehr schriftliche Quellen erhalten geblieben, die Filme selbst aber sind mit den Rollen verloren gegangen. 38  

Durch den fotografischen Abdruck gewähren Filme eine Vorstellung von Wirklichkeit, die präziser, schärfer und direkter erscheint, als dies durch Schrift möglich ist. Zugleich verfügen Bilder über eine Vieldeutigkeit und einen Überschuss, der sich sprachlich nie ganz einholen lässt. Dennoch ist ‚Text‘ zu einem der am meisten angewandten Konzepte der Filmtheorie geworden, um den Sinn von Filmen analytisch zugänglich zu machen. In der Tradition des Strukturalismus wird damit eine von empirischen Produktions- und Rezeptionsprozessen abstrahierte, quasi ahistorische Bedeutungsstruktur fixiert. Demgegenüber betonen wir mit dem Begriff des Schreibens an dieser Stelle bewusst eine Tätigkeit und nehmen somit nicht eine innere Struktur, sondern das Außen in den Blick: Wer das Schreiben oder ein Schreiben untersucht, fragt nach den Positionen von Autor*innen und Adressat*innen, dem Anlass und auch den Konsequenzen eines Textes. Deshalb geht es im Folgenden nicht um filmische Texte, sondern vielmehr um Zuschriften und Zuschreibungen, die filmische Produktionen und deren Produktionsumstände reflektieren oder darauf reagieren.

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Der Anfang Johannes Praetorius-Rhein Artur Brauner hat seine Memoiren schon 1976 veröffentlicht – da lag ein großer Teil seines Lebens und seiner Karriere noch vor ihm. Fragmentarisch wirkt das Buch aber nicht deshalb und auch nicht wegen seiner sprunghaften und anekdotischen Form, sondern weil er sich darin bis auf wenige Stellen über die Jahre 1939–1945 ausschweigt. Seine Verfolgungsgeschichte gab lange Rätsel auf: Es war offenkundig diese Erfahrung, die Brauner dazu gebracht hat, derart viele seiner Produktionen den Opfern der Nazis zu widmen. Jedoch wurde nie ganz klar, ob und inwiefern sich einzelne seiner Filme auch als autobiografische Zeugnisse deuten lassen. Brauner eröffnet sein Buch mit einer Szene, in der er eindrücklich die ‚Kuh seiner Träume‘ beschreibt, der er am Ufer der Weichsel begegnet sei: Sie war lange nicht gemolken worden. Das schwere Euter bereitete ihr Schmerzen, und ihr klagendes Muh hatte etwas Ergreifendes. Am Horizont glühte es rot vom Feuerschein brennender Dörfer. Das dumpfe Grummeln der unweit liegenden Front schwang in der Luft. Ich lag in einem Erlengebüsch, starrte auf die Kuh und dachte an Rindsgulasch, and Rinderfilet und an Rindsrouladen. Seit meiner Flucht vor drei Tagen hatte ich nichts mehr gegessen. […] Die Kuh drehte sich um und schaute mich an. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich, was für schöne Augen sie haben, die Kühe. Sanfte, melancholische, wissende Augen, beschattet von langen Wimpern. „Bleib stehen, bitte“, wiederholte ich. Sie blieb stehen und ließ es zu, daß ich mich langsam unter sie schob, mich aufrichtete und eine ihrer Zitzen in den Mund nahm. […] Ich blieb vier Tage mit ihr zusammen, trank Milch und unterhielt mich mit ihr. […] Sie machte Muh und leckte mir die Hand, die Kuh meiner Träume. Sie hatte mir das Leben gerettet …1

1  Artur Brauner: Mich gibt’s nur einmal. Rückblende eines Lebens. Berlin / München: Herbig 1976, S. 9.

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Dieses Erlebnis ist nicht datiert, es kann aber unterstellt werden, dass viele Leser*innen hierin eine Erzählung vom Ende des Krieges erkannt haben – die Flucht hätte man sich dann als die aus einem Konzentrationslager vorzustellen, die Brauner im Laufe der Jahrzehnte immer wieder einmal zugeschrieben worden ist, und der Anfang des Buches stünde im Einklang mit der Konvention, populäre Biografien in der Bundesrepublik mit dem ‚Zusammenbruch‘ 1945 beginnen zu lassen. Liest man den Text genauer und bringt ihn mit dem Wenigen zusammen, was gesichert über Brauners Verfolgungsgeschichte bekannt ist, so ist es allerdings plausi­ bler, dass hier vom Winter 1939 berichtet wird, als Brauner seiner Heimatstadt Łódź bzw. dem sich dort formierenden Ghetto Litzmannstadt entkommt und eine jahrelange Flucht beginnt. Schon auf Seite 2 wird Brauner unterbrochen: Ich sitze in meinem Arbeitszimmer und hacke auf einer alten Reiseschreibmaschine herum. Maria, meine Frau, kommt herein, schaut mir eine Weile zu und meint: „Prima machst du dich, Artur. Wie ein richtiger Schriftsteller.“ Ich hole tief Luft, um ihr die gebührende Antwort zu geben. Leider klingelt das Telefon.2

Im Weiteren spart Brauner seine Erlebnisse bis 1945 weitgehend aus und die vielen, vielen mehr oder weniger amüsanten Anekdoten über Stars und Sternchen werden nur wenige Male jäh von Erinnerungen an die Nazi-Verfolgung und ihre Folgen unterbrochen. Darunter ist auch das eindeutig am häufigsten kolportierte Erlebnis, bei dem es sich um einen wahrhaftigen Stunt handelte. Brauner selbst beschreibt, wie er diese Story schon in den 1950ern in geselliger Runde zum Besten gegeben hat.3 Da hat sie wohl auch Curt Riess aufschnappen können, der sie in seiner Stern-Serie „Das gibt’s nur einmal“ zum vermutlich ersten Mal 2  Ebd., S. 11. 3  Vgl. ebd., S. 39–44.

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aufgeschrieben hat. Riess wusste überdies, dass Brauners Erlebnisse während des Krieges abenteuerlich waren wie ein „Roman von Karl May, nur […] noch viel unwahrscheinlicher“4. In unzähligen Interviews und Artikeln ist seitdem beschrieben worden, wie Gary Cooper Brauner das Leben rettete: Der junge Brauner erinnerte sich nämlich in unausweichlicher Lage an die Szene in einem Western und rammte, so ähnlich wie der Leinwandheld, einem SS-Mann den Kopf in den Bauch, um dann kühn in einen Fluss zu springen und zu entkommen. Die Form einer abenteuerlichen Heldengeschichte hat es offenbar erleichtert, den Ansatz einer Sprache für diese Erfahrung zu finden. Dass aber die vielfältigen Erzählungen, Beschreibungen und – im Doppelsinn – auch ‚Verfilmungen‘ seiner Erinnerungen irgendwie unvollständig geblieben sind, das war auch Brauner klar. Tatsächlich kündigte er unmittelbar nach Erscheinen von Mich gibt’s nur einmal schon einen zweiten Teil seiner Biografie an: „Die Jahre vor 1945 will er – spannend wie ein paar James-BondFilme – später einmal folgen lassen.“5 Erschienen ist dieser zweite Teil freilich nie. Knapp fünfzehn Jahre später will Bodo Kocha­ nowski allerdings ein zu dieser Ankündigung passendes Konvolut gesehen haben, als er für eine Homestory über Brauner auch einen Blick in dessen Büro werfen durfte: Dutzende von „Bergen“ mit Schriften und Akten türmen sich auf den Tischen, ein Chaos aus Geschriebenem. Mittendrin auch ein 560 Seiten starkes Manuskript, das als Buch erscheinen soll – eine Fortsetzung seines Werkes „Mich gibt’s nur einmal“, sozusagen nach rückwärts!6 4  Curt Riess: Das gibt’s nur einmal. Das Buch des deutschen Films nach 1945. Hamburg: Henri Nannen 1958, S. 124. 5  Hubs: Mich gibt’s nur einmal, April 1976, o. P., Deutsche Kinemathek Berlin, Pressearchiv. 6  Bodo Kochanowski: Produzent aus Liebe, Lust und Leidenschaft. In: Berliner Morgenpost, 22.07.1990, o. P., Deutsche Kinemathek Berlin, Pressearchiv.

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Ob es so umfangreiche Aufzeichnungen tatsächlich gegeben hat, ob sie noch immer existieren und von wem sie eigentlich verfasst wurden – das weiß, wenn überhaupt, nur Familie Brauner. Alice Brauner, die 2021 eine Biografie über ihre Eltern veröffentlicht hat, beginnt ihr Buch mit einem Prolog, der von den vielen Formen handelt, in denen die Vergangenheit das Leben ihrer Familie geprägt hat und zugleich vermieden wurde: „Alles blieb seltsam vage, vor allem die Zeit nach 1939. […] Ich kannte nur Fragmente, bruchstückhafte Erzählungen und Anekdoten, die eher verklärten als erklärten.“7 Am Ende des Prologs beschreibt sie ihre erste Begegnung mit der entscheidenden Quelle, die es ihr erlaubt hat, viele Lücken in der Biografie ihres Vaters zu schließen. „Mein Vater saß am Küchentisch, einem seiner Lieblingsplätze im Haus, gebeugt über einen Stapel Papiere. ‚Du wolltest doch wissen, was damals passiert ist. Hier steht alles drin.‘“8 Bei dem Stapel aus „unzähligen eng mit Schreibmaschine beschriebenen Blättern“9 handelte es sich allerdings nicht um die Aufzeichnungen von Artur Brauner selbst, sondern die von seinem Vater Moshe niedergeschriebene Familienchronik. Was genau Artur Brauner in den Monaten geschehen ist, in denen er von seinen Eltern und Geschwistern getrennt war, bleibt unbekannt. MGM-Zuschauerzettel Imme Klages Bei Aufführungen von The Search (CH/USA 1948, R: Fred Zinnemann) ließ die Produktionsfirma MGM für eine Befragung der Zuschauer*innen in London 10.000 Karten verteilen. Darauf forderte die Marketingabteilung von MGM das Londoner Pu­blikum auf: 7  Alice Brauner: „Also dann in Berlin …“. Artur und Maria Brauner. Frankfurt am Main: Fischer 2021, S. 12–14. 8  Ebd., S. 19. 9  Ebd.

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Would you please help us by giving your frank opinion of this film? We feel it has a message of international importance, which is given in such a way as to provide also first class entertainment, and brilliant acting and production. But we want to know what you think. Would you very kindly state your views on this card, and drop it in any letter box as soon as you conveniently can? Thank you. S. Eckmann, Jr.10

P. Inwald schreibt nach einem Screening im November 1949 im Londoner ,Ritz‘ auf seinen Zettel: „I feel that the film fails in its message because it runs away from pointing at the cause of all this misery which is the Nazi ideology“11. Die Mehrzahl der Zu­schriften ähneln der von M. O. Pribyl: „I could heartily recommend this picture, and would suggest that everybody who lives in Western Countries should see it as many of the people living in England or America or anywhere else cannot realise what concentration camps were like“12. Auch antisemitische Bemerkungen fehlen auf den Karten nicht. Anonym wird notiert: „As with usual American film it did not show any or little British activities – especially UNRRA. It also had the usual strong Jewish bias“13. Miss C. M. Underwood beschreibt hingegen eine Szene, die sie sehr mitgenommen hat: „There was one incident which struck me as un-natural and against all human experience, namely, that dozens of women, coming out of a factory, should fail to stop and enquire what was wrong with a small boy who was obviously in distress“14. Es ist leider nicht bekannt, wie viele der Karten zurückgesendet wurden, aber der Regisseur Fred Zinnemann hat viele der Reaktionen auf den teilweise eng beschrifteten kleinen Postkarten für 10  The Search research (Screening London). Margaret Herrick Library, Los Angeles, USA. FZ Papers, Kiste 59, Ordner 806. 11  Ebd. 12  Ebd. 13  Ebd. 14  Ebd.

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seinen Nachlass aufgehoben und auf 50 DIN-A4-Seiten gesammelt, davon sind ca. 41 Seiten positive Rückmeldungen und sechs Seiten mit „adverse criticism“15 betitelt. Die Szene, die auf der Karte von Miss Underwood geschildert wird, befindet sich am Ende des Films. Der Junge Karel, der das Konzentrationslager überlebt hat, sucht nach seiner Mutter, die er hinter dem Drahtzaun einer Fabrik in der Nähe des Displaced-Persons-­Lagers vermutet, da er sich nur vage an die Trennung von ihr erinnern kann, es im Vernichtungslager aber einen eben solchen Zaun gab. Miss Underwood kann die Gefühlsarmut der Frauen nicht nachvollziehen, die ohne einen Blick zur Seite davoneilen, ohne auf das aufgewühlt und verstört wirkende Kind zu achten. Keine der Frauen fragt Karel, wen er sucht und ob sie ihm helfen kann. Die Darstellung eines Teils der deutschen Bevölkerung und deren Rezeption in England 1949 ist interessant, da mit der Filmszene das Aufeinandertreffen von kriegsgebeutelten deutschen Arbeiterinnen und einem KZ-überlebenden kleinen Jungen thematisiert wird, eine verstörende, seelenlose Nicht-Wahrnehmung des Leids des Jungen. Die Engländerin erkennt diesen Missstand sofort. Was sie als „un-natural and against all human experience“ beschreibt, das Wegschauen, das Nicht-Sehen, bleibt als filmische Beobachtung im Raum stehen. Gerne würde ich die Regie heute zu dieser Inszenierung befragen. War es ein Eindruck, den Fred Zinnemann auch in anderen Notizen zu seiner zweimonatigen Recherche­ reise durch Deutschland 1947, durch in Ruinen liegende Städte und zu vielen Displaced-­Persons-Camps festhält? In seiner Autobiografie schreibt er: None of us could sleep nights because of the diabolical things we heard every day for many weeks. It was pure Satanism; our brain cells could not grasp the idea of it at first. Stories were told without drama 15  Ebd.

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in flat monotones. Curiously, not many were about atrocities; rather they had to do with the destruction of human dignity, the methodical tearing apart of people’s souls as engineered by the Nazis – like forcing a mother with two children to decide which one should survive.16

Den Umgang, den die Filmcrew 1947 mit der Situation am Set wählte, beschreibt er so: „We had learnt to control our emotions by the time we started filming; otherwise we would have been permanently shattered.“17 Kontrollierte Emotionen, um überhaupt vom Leid erzählen zu können, diese Feststellung taucht immer wieder in Zinnemanns Beobachtungen dieser Jahre auf. Beobachtungen eines Rückkehrers (auf Zeit), der versucht, die Lage zu erfassen, die Veränderungen der Städte in den Trümmer­fassaden festzuhalten. Die Frage, die er implizit aufwirft, lautet: Wie hat die Ideologie der Nationalsozialisten in Form einer emotionalen Kälte im sozialen Umgang Einzug gehalten, über die Zeit des Krieges hinaus? Wie ließe sich diese Kälte besser zeigen als an den Frauen, die teilnahmslos an einem verzweifelten Kind vorbeigehen. Was die Zettel der Zuschauerbefragung aufdecken, ist eine englischsprachige Zuschauerschaft, die aufmerksam die Missstände registriert und deutet, die in The Search erzählt werden. Dem deutschen Publikum wurde der Film erst 1961 zugetraut. Wie lassen sich fehlende Emotionen und fehlendes Mitgefühl der Frauen in der aufgeführten Szene bewerten? Auf welche Beobachtungen der Recherchen und Dreharbeiten 1947 rekurriert diese Szene und welches methodische Werkzeug kann die heutige Forschung für das Aufzeigen der Nachwehen der nationalsozialistischen Ideologie verwenden? Die Anteilnahme auf den Londoner Zuschauerzetteln aus dem Jahr 1949 verweist auf eine emotionale Arbeit, die in Deutschland zu diesem Zeitpunkt nicht stattfand. 16  Fred Zinnemann: An Autobiography. London: Bloomsbury 1992, S. 59. 17  Ebd., S. 67–68.

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Protest und Protokoll Johannes Praetorius-Rhein Am 4. Oktober 1957 veröffentlichte die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland ein an die Redaktion gerichtetes Schreiben eines bayrischen Bürgers und Polizeiangehörigen. Allerdings war dies kein gewöhnlicher Leserbrief: Zwar empörte sich der Mann, dessen Name ungenannt bleibt, über eine Artikel-Serie, diese war allerdings im Stern erschienen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass er sich selbst überhaupt nicht zur Leser*innenschaft der jüdischen Zeitung zählte. Am Ende seines Briefs stellte er klar: „Ich bin kein Jude und trotzdem drängt es mich, Ihnen diesen Brief zu schreiben, damit Sie sehen, daß nicht jeder alles schluckt, was gedruckt wird.“18 Die Redaktion teilte offenbar den Eindruck, dass das Schreiben angesichts der mangelnden jüdischen Identität des Autors „um so mehr Beachtung verdient“19 und druckte es unter der Überschrift „Ein Nichtjude protestiert“ im Kulturteil ab. Anlass des Leserbriefes war eine Geschichte des deutschen Films, die von 1955 bis 1957 in über neunzig Folgen im Stern erschienen ist. Die episodisch erzählte und reich bebilderte Reihe „Das gab’s nur einmal“ setzte mit dem frühen Kino vor dem Ersten Weltkrieg ein und sollte mit dem Zweiten Weltkrieg enden, wurde dann aber über 1945 hinaus fortgeschrieben, wobei der Titel sich leicht, nämlich zum Präsens veränderte.20 Die Serie wurde noch 1956 als Buch herausgebracht, mehrfach neu aufgelegt und kann 18  Ein Nichtjude protestiert. In: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 04.10.1957, S. 12. 19  Ebd. 20  Der Titel bezieht sich auf den von Werner R. Heymann komponierten, von Robert Gilbert getexteten und von Lilian Harvey gesungenen Schlager Das gibt’s nur einmal aus dem Operettenfilm Der Kongress tanzt (D 1931, R: Erik Charell). Dem erfolgreichen UFA-Film wurde 1937 von der Film-Oberprüfstelle die Zulassung entzogen, möglicherweise wegen der

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als ‚Standardwerk‘ einer populären und vorwissenschaftlichen Filmgeschichtsschreibung gelten. „Es wundert mich jedoch, daß dieser Bericht noch nicht kritisiert wurde. Ich lebe zwar nur in der Provinz, doch glaube ich nicht, daß überhaupt ein Mensch sich kritisch mit diesen Berichten befaßt.“21 Was den unbekannten Autor beschäftigte, war freilich nicht die fragwürdige Quellen­ lage oder der kolportagehafte Stil, sondern die Darstellung der Filmschaffenden im Nationalsozialismus: Liest man diesen Bericht, dann hat man gut und gerne den Eindruck, als hätten die Filmschauspieler und Filmschauspielerinnen, die im letzten Krieg die Durchhalte- und Antijudenfilme drehten, die Hölle auf Erden gehabt. Man hat ganz einfach den Eindruck, als handle es sich bei ihnen samt und sonders um arme Gepreßte, die keinen Ausweg sahen, als letztlich die Wünsche des Herrn Goebbels zu erfüllen.22

Die Filmleute werden nicht nur als unschuldige Opfer präsentiert, sondern es werde gar der Anschein erweckt, „daß die UfaMetropole ein Widerstandsnest war von seltener Größe“23. Angesichts der „dauernd in Todesgefahr“ schwebenden Filmstars und ihrer „Widerstandsheldentaten“ bekäme er, wie er spöttisch anmerkt, „als ehemaliger Kriegsteilnehmer […] regelrechte Minderwertigkeitskomplexe“.24 Doch wie der nächste Absatz zeigt, meldet sich hier nicht nur das Ressentiment des einfachen Soldaten, der sich von Zivilisten übervorteilt fühlt:

spöttischen Darstellung des Wiener Kongresses und der Beteiligung jüdischer Filmschaffender. An den Titel knüpft sich ein weites Netz von Verweisen und Variationen. 21  Ein Nichtjude protestiert, S. 12. 22  Ebd. 23  Ebd. 24  Ebd.

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  Ich bin im Jahre 1941 nach dem Fall von Kertsch aus der Krim he­rausmarschiert. Durch einen Regiefehler wurde unser Regiment Zeuge einer entsetzlichen Tat. Wir mußten an einer Stelle vorbeimarschieren, wo SD-Leute etwa 300 Juden erschossen. Ein Koch einer Einheit bat um die Erlaubnis, auch einen ‚umlegen‘ zu dürfen. Er war ein Oester­ reicher. Glauben Sie mir, es war das furchtbarste Erlebnis des Krieges für mich.25

Alles an diesem Schreiben und der darin dokumentierten Lektüre ist bemerkenswert: Dem Provinzpolizisten gelingt es, wesentliche Strategien deutscher Schuldabwehr zu durchschauen und seinerseits die abstrakte Klage über die Not des Krieges mit einer zeitlich, räumlich und szenisch konkreten Beschreibung eines Massenmords zu durchbrechen, an dem sich auch Wehrmachtsangehörige beteiligten.26 Wer mit historischer Distanz nachliest, wird die Kritik an „Das gab’s nur einmal“ leicht nachvollziehen können. So gibt die Stern-Serie etwa im Falle des für den Krankenmord werbenden Propagandafilms Ich klage an (D 1941) einen vermeintlichen Einblick in die persönlichen Gespräche des Regisseurs Wolfgang Liebeneiner mit seiner Hauptdarstellerin: Heidemarie Hatheyer soll die Rolle der unheilbar Kranken übernehmen. Aber sie will nicht. Liebeneiner sagt zu ihr: „Es ist wichtig, daß dieser Film gemacht wird. Vorerst wird nur geflüstert von den furchtbaren Verbrechen, die in den Irrenhäusern geschehen. Nach unserem Film wird die Diskussion öffentlich sein!“27 25  Ebd. 26  Wahrscheinlich bezieht sich der Bericht auf die durch Mitglieder der Einsatzgruppe D zwischen dem 1. und 3. Dezember 1941 in der unmittelbaren Umgebung von Kertsch durchgeführten Erschießungen, bei denen ca. 2.500 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Wenig später begann weiter westlich das sogenannte Simferopol-Massaker, bei dem zwischen dem 9. und 13. Dezember ca. 13.000 Menschen ermordet wurden. 27  Curt Riess: Das gab’s nur einmal. Die große Zeit des deutschen Films, Bd. 3. Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Molden 1985, S. 141.

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Der Nazi-Streifen wird also nicht nur zum ergreifenden Drama, das „[f]ast allgemeine Empörung“28 ausgelöst habe, sondern zum regelrechten Widerstandsakt stilisiert. An dieser Stelle fehlte allerdings eine Information, die den Abdruck des Protestschreibens in der Allgemeinen Wochen­ zeitung nachträglich noch bemerkenswerter macht: Es richtete sich gegen Curt Riess und damit offenbar unwissentlich gegen einen Autor, der selbst als Jude ins Exil gezwungen worden war. In deutlichem Kontrast zur als nichtjüdisch ausgestellten Identität des bayrischen Polizisten, der sein Protestschreiben gezielt mit Jüdinnen und Juden teilen wollte, hatte Curt Riess darauf verzichtet, eine vergleichbare Positionierung zur Voraussetzung seiner Stern-Serie zu machen. Mehr noch: Seine Perspektive des jüdischen Remigranten, der im Exil Feindanalysen zu Nazideutschland verfasst hatte und nach Europa als Kriegsberichterstatter und Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdiensts zurückgekehrt war, wurde in „Das gab’s nur einmal“ völlig getilgt: Der Text ist in weiten Teilen im szenischen Präsens gehalten und suggeriert unmittelbare und intime Kenntnis des UFA-Alltags. Interessanter als Spekulationen über die innere Haltung von Curt Riess (oder den Mangel derselben) ist deshalb die Frage nach dem Verhältnis zu seinen Quellen: Dazu gehörte vermutlich auch die oben genannte Heidemarie Hatheyer, der nicht nur mehrere Widmungen von „Das gab’s nur einmal“ gelten, sondern mit der Riess auch seit 1952 verheiratet war. Riess, der im Berlin der Zwischenkriegsjahre Theaterkritiker gewesen war, kultivierte aber auch seine alten Freundschaften zu Schauspielern wie Hans Albers, Gustaf Gründgens oder Werner Krauss. Deshalb trifft der Autor des Protestschreibens vermutlich den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt, dass Riess die Erzählungen der UFA-Leute kritiklos niedergeschrieben habe: „Diese Leute […] bilden sich heute noch allerhand ein auf ihre Widerstandsheldentaten. Sie werden von 28  Riess: Das gab’s nur einmal, S. 142.

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Herrn Riess unwidersprochen verherrlicht“29. Allerdings eröffnet das vielleicht auch die Möglichkeit zu einer anderen, weniger empörten Lektüre von Riess Texten: so als hätte er Protokolle angefertigt, die fast unverschlüsselt wiedergeben, wie sich Filmschaffende an ihr Leben und Arbeiten während des National­ sozialismus erinnerten. „Eine Aneinanderreihung von Filmresten“ – Eine Filmnotiz zu Thomas Mitscherlichs Haus der Endlösung (1966) Tobias Ebbrecht-Hartmann „Der Film ist schlecht. Er ist eine Aneinanderreihung von Filmresten, die einen Film hätten ergeben sollen,“30 so urteilt Thomas Mitscherlich im April 1967, damals Student an der soeben gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), über ein Filmprojekt, das er im Rahmen seiner Regieklasse bei dem bekannten Dokumentarfilmregisseur und jüdischen Remigranten Erwin Leiser realisiert hatte. Gegenstand des Films, dessen erhaltene Archivkopie nicht vorführbar ist, ist ein Ort, der Mitte der 1960er Jahre noch kaum bekannt war: eine Villa am Großen Wannsee vor den Toren von Berlin, in der sich am 20. Januar 1942 fünfzehn hochrangige Vertreter aus NSDAP und Ministerien zu einer Besprechung mit anschließendem Frühstück trafen, um über die möglichst effiziente Umsetzung der sich bereits im Gange befindlichen systematischen Ermordung aller europäischen Jüdinnen und Juden zu beraten. Ursprünglich schlicht als ,Haus am Wannsee‘ betitelt, wurde der Film schließlich unter dem Titel 29  Ein Nichtjude protestiert, S. 12. 30  Thomas Mitscherlich: Haus der Endlösung. Deutsche Film- und Fernseh­ akademie Berlin GMBH, 24.04.1967. DFFB-Archiv, Deutsche Kinemathek, o. Sign., 2 Seiten, hier S. 1. Der Autor dankt Dr. Ruth Preusse von der Gedenkund Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz für den Hinweis auf dieses Dokument.

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Haus der Endlösung im Archiv abgelegt. Erhalten sind eine Positivkopie und zwei Magnetbänder. Heute ist er lediglich durch eine von Mitscherlich verfasste Filmnotiz zugänglich: „DEUTSCHE FILM- UND FERNSEHAKADEMIE BERLIN GMBH (Vom Studenten auszufüllen), Name des Studenten: Thomas Mitscherlich, Titel des Filmes: Haus der Endlösung“31. Zu dem Filmprojekt angeregt wurde Mitscherlich von seinem Lehrer.32 Leiser war in Berlin aufgewachsen und als Jugendlicher nach den Pogromen im November 1938 nach Schweden geflohen. 1960 hatte er dort den Film Den Blodiga Tiden (Mein Kampf, S 1960) realisiert, eine ausschließlich aus Archivmaterial montierte Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen, ein Film, der für Mitscherlichs Generation eine prägende Rolle gespielt hatte.33 Thomas Mitscherlich erinnert sich später an seine erste Begegnung mit den Bildern des Grauens, die auch Leisers Film prägten: Aus vielen Berichten von Nachgeborenen – wie ich im Krieg oder bald danach geboren – weiß ich, daß sie in der Schule ohne jede Vorbereitung in Filmvorführungen mit diesen Bildern konfrontiert wurden. Die Bilder erzwangen oft ein Verlangen, Genaueres über die Nazizeit zu erfahren, die in Deutschland im Elternhaus mit Schweigen oder einer recht eigenartigen Form von dunklen Andeutungen übergangen wurde.34 31  Mitscherlich: Haus der Endlösung, S. 1. 32  Vgl. Haus der Endlösung. In: dffb-archiv, o. D. https://dffb-archiv.de/ taxonomy/term/45 (Zugriff am 05.09.2022). 33  Vgl. Tobias Ebbrecht: Standhalten im Bilde? Die „Kunst der Kunstlosigkeit“ und der filmische Umgang mit den Bildern des Grauens. In: sans phrase 2 (2013), S. 50–64. Ein Jahr nach Mein Kampf veröffentlichte Leiser eine weitere filmische Auseinandersetzung mit Holocaust und Nationalsozialismus, den Dokumentarfilm Eichmann und das Dritte Reich (CH/BRD 1961). 34  Thomas Mitscherlich: Diese Bilder. In: Ders. / Susanne Benöhr / Barbara Johr: Reisen ins Leben – Weiterleben nach einer Kindheit in Auschwitz. Bremen: Donat 1997, S. 207–231, hier S. 211–212.

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Haus der Endlösung folgte nicht, oder zumindest nicht primär, dem von Leiser mehrfach erprobten Verfahren der Rekonstruktion von Vergangenheit durch die Montage vorgefundener Bilder aus den Archiven der Nationalsozialisten oder der Alliierten. Doch der Film entsprach wahrscheinlich durchaus dem „Verlangen, Genaueres über die Nazizeit zu erfahren“. Mitscherlichs Ausgangspunkt war ein konkreter Ort, der 1966 jedoch keineswegs als für die Bundesrepublik bedeutsamer lieu de mémoire (Pierre Nora) galt. Auch Mitscherlich und seinen Kommiliton*innen wird das Haus am Wannsee damals wohl kein Begriff gewesen sein. Seit 1952 war die Villa, in der einst die Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte, ein Schullandheim für den Berliner Bezirk Neukölln. In einer Broschüre des Bezirks­ amtes, die das 1952 gegründete Schullandheim vorstellte, konnte man lesen: Es waren viele Bemühungen vorangegangen, unseren in der Festung West-Berlin eingeschlossenen Schulkindern ein Schullandheim zu schaffen, in dem sie für einige Zeit die engen Straßen vergessen und in der märkischen Landschaft erleben können, daß blauer Himmel, grüne Bäume, Wasser, Wind und Wellen nicht nur in Geschichten vorkommen, sondern wirklich da sind, wenn auch das Schicksal uns seit vielen Jahren davon abschließt.35

Als Mitscherlich sich zusammen mit dem Kameramann Michael Ballhaus, damals Dozent an der dffb, auf den Weg zum Wannsee machte, gab es bereits Bestrebungen, die lange verdrängte Geschichte des Ortes aus der Vergessenheit zu holen. Im Spät­ sommer desselben Jahres gründete sich der Verein Internationales Dokumentationszentrum, dessen erklärtes Ziel es war, in der 35  Zit. n. Schullandheim Neukölln (1952–1988). In: Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, o. D. https://www.ghwk.de/de/ueberdas-haus/hausgeschichte/schullandheim-neukoelln-1952-1988 (Zugriff am 05.09.2022).

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Villa am Großen Wannsee ein internationales Forschungs- und Dokumentations­zentrum zu realisieren.36 Zum Vorstandsvorsitzenden wurde Joseph Wulf gewählt, Auschwitzüberlebender und Historiker, der bereits 1955 zusammen mit Léon Poliakov die Dokumentensammlung Das Dritte Reich und die Juden veröffentlicht hatte. Wulf setzte sich unermüdlich für eine Umnutzung des Hauses ein. Ihm gelang es unter anderem den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, für den Plan zu gewinnen, der bei einem Besuch im Herbst 1966 Gespräche mit der von Willy Brandt geführten Berliner Regierung aufnahm.37 Allerdings regte sich schnell vehementer Protest gegen den Plan. Im Zentrum stand dabei der geplante Ort. Als Grund für die Ablehnung wurde das Wohl der Neuköllner Kinder ins Feld geführt. In dieser Gemengelage begann Mitscherlich mit der Arbeit an seinem Film. „Einen [sic!] Film für eine Magazinsendung des Fernsehens sollte entstehen. Nachdem das Thema am Morgen festgelegt worden war, fuhr ich mit Herrn Ballhaus zu dem Haus. So ohne jede Vorbereitung war ich der Aufgabe nicht gewachsen. Herr Ballhaus riet mir, sich Zeit zu lassen“38, beginnt die Selbst­ beurteilung vom 24. April 1967, die in den Akten der dffb überliefert wurde. Der selbstkritische Ton zieht sich durch den kurzen, zweiseitigen Text, der auch die ungenügende technische Ausstattung und den Mangel an Filmmaterial hervorhebt. Neben dem Haus sollte Joseph Wulf im Zentrum des Films stehen: „Am späten Nachmittag des gleichen Tages sollte Herr Wulf interviewt werden.“39 Wie sich vermuten lässt, hatte den Kontakt zu Wulf Leiser hergestellt, der dessen Grundlagenforschung zur 36  Vgl. Gerd Kühling: Schullandheim oder Forschungsstätte? Die Auseinandersetzung um ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-­ Konferenz (1966/67). In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5,2 (2008), S. 211–235, hier S. 214. 37  Vgl. ebd., S. 215. 38  Mitscherlich: Haus der Endlösung, S. 1. 39  Ebd.

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Dokumentation der NS-Verbrechen sicherlich ebenso kannte wie Wulfs Engagement für ein Dokumentationszentrum. Fehlendes Licht machte ein Interview allerdings unmöglich. Es wurde eine Woche später nachgeholt. Auf das Gespräch mit Wulf geht wahrscheinlich auch der geänderte Titel des Films zurück. Dieser hatte die Villa am Wannsee im Zuge der Initiative für ein Dokumentationszentrum mehrfach als ,Haus der Endlösung‘ bezeichnet. Im Oktober 1966 veröffentlichte Günther Matthes im Berliner Tagesspiegel einen Artikel über Wulfs Vorhaben mit dem Titel „Der Plan für das ‚Haus der Endlösung‘“ und im Dezember 1967 ist unter der Überschrift „Streit um das Haus der ‚Endlösung‘“ im New Yorker Aufbau ein Bericht über die Auseinandersetzung um diesen Plan zu lesen.40 Mitscherlich war mit seinem Interview nicht zufrieden. Wulf hatte auf Grundlage eines vorbereiteten Manuskripts gesprochen. „Da Herr Wulf nicht sicher Deutsch spricht, wäre es unmenschlich gewesen, zu verlangen, daß er auf diesen Text verzichtet.“41 Auch seine eigene Rolle bewertete Mitscherlich kritisch: „Selbst wusste ich damals nicht, wie bildlich ein Interview einzufangen ist“42. Das abschließende Urteil war entsprechend deutlich: „So wurde der Film auf das langweilige Interview mit Wulf hin konzipiert.“43 Erst kurz zuvor hatten die Prozesse in Jerusalem und Frankfurt die Stimmen von überlebenden Zeug*innen in das Bewusstsein eines Teils der deutschen Öffentlichkeit gebracht. Wulf jedoch vermied es, als subjektiver Zeitzeuge wahrgenommen zu werden und sprach als Historiker. Dennoch war sein Kampf um ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-Konferenz eine direkte Konsequenz seiner eigenen Erfahrungen: „Joseph Wulf, 40  41  42  43 

Vgl. Kühling: Schullandheim oder Forschungsstätte?, S. 227, 231. Mitscherlich: Haus der Endlösung, S. 1. Ebd. Ebd., S. 2.

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der sich selbst als einen ‚Tätowierten von Auschwitz‘ bezeichnete, hatte an dem Tag, an dem er seine Freiheit wiedererlangte, geschworen, sich bis zum Ende seines Lebens ausschließlich mit der Geschichte des ‚Dritten Reiches‘ zu beschäftigen.“44 In seinem Bericht über den Film geht Mitscherlich auf diese Dimension nicht weiter ein. Hier interessiert ihn nur die Umsetzung des Gesagten vor der Kamera, die Unzulänglichkeit von Wulfs Ausdruck und die Unbeholfenheit seiner eigenen Inszenierung. Später, in einer Reflexion über seinen Film Reisen ins Leben (D 1996), in dem er die Überlebenswege von Yehuda Bacon, Gerhard Durlacher und Ruth Klüger im Spannungs­ verhältnis zu den Filmaufnahmen aus den befreiten Lagern dokumentiert, zitiert er den Buchenwaldüberlebenden Jorge Semprun, der angesichts der stummen Bilder des Grauens schreibt: „Damit dieser Kommentar so nahe wie möglich an die erlebte Wahrheit herankäme, hätte [er] von den Überlebenden selbst gesprochen werden müssen: von den Wiedergängern dieser langen Abwesenheit, den Lazarussen dieses langen Todes.“45 In Das Haus der Endlösung, in dem unbefriedigenden Gespräch mit Wulf, blieb Mitscherlich diese „erlebte Wahrheit“ verschlossen. In seiner abschließenden Bewertung sieht er den Mangel seines Films vor allem in der fehlenden Exaktheit der historischen „Beschreibung, weshalb es zu dem größten Po­grom der Geschichte kam“46. Daher erschlössen sich „die Folgen des Nationalsozialismus, in ihren Ursachen“47 nicht. Das „Denken und die Handlungen der Menschen dieser Epoche“ vermittelten nicht die „historische Kausalität“ und die „daraus entstandene Entfremdung“.48 Die Rede von den Ursachen, von Kausalität 44  45  46  47  48 

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Kühling: Schullandheim oder Forschungsstätte?, S. 220. Mitscherlich: Diese Bilder, S. 210. Mitscherlich: Haus der Endlösung, S. 2. Ebd. Ebd.



und Entfremdung klingt nach in den 1960er Jahren populären Faschismusdeutungen, die die Ebene der Erfahrungen überlagern. Auch hier ist es interessant, Mitscherlichs Selbstbeurteilung von 1967 mit der Reflexion seines späteren Films von 1996 zu vergleichen. Darin thematisiert er die Erfahrungsdifferenz zwischen denen die ,drinnen‘ waren und dem eigenen ,Wir draußen‘: Viele wagen es nicht, offen mit den Überlebenden zu sprechen. Sie haben Furcht, sie könnten verletzen oder dumme, unwissende Fragen stellen, sie verharren in Ehrfurcht. Ich selbst dachte lange – weil die Überlebenden oft die Abwehr gegen ihre Erfahrungen in den Lagern als eine gegen sie errichtete Mauer empfinden, die sie jetzt ‚draußen‘ – außerhalb des Lagers – auch umgibt, daß sie untereinander eine Geheimsprache sprechen. Gerhard Durlacher, lüftete für mich in seinem Buch Die Suche – einem Bericht über seine Gespräche mit Jungen, mit denen er in Auschwitz war – das Geheimnis: Sie sprechen die gleiche Sprache wie wir! Doch die Erfahrungen sind nicht die gleichen! 49

Vielleicht waren es auch im Gespräch mit Wulf nicht die Sprachschwierigkeiten oder der vorab aufgeschriebene Text, die zum Scheitern der Verständigung zwischen dem in dieses Projekt geradezu hineingestolperten Studenten und dem ,Tätowierten von Auschwitz‘ führte. Vielleicht war es diese Erfahrungsdifferenz, die nach neuen Formen filmischer Auseinandersetzung verlangte, welche, so Mitscherlich anlässlich von Reisen ins Leben, sich von der Erstarrung vor den Bildern des Grauens lösen und die Berichte der Überlebenden über ihr Weiterleben nachvollziehen müssten: „Solche Wege ermöglichen wieder Gefühle, auch dem Geschehenen gegenüber.“50

49  Mitscherlich: Diese Bilder, S. 220. 50  Ebd., S. 221.

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Es ist interessant, dass in Haus der Endlösung gerade eine Sequenz aus Archivbildern diese Richtung anzudeuten scheint, in der die „Menschen dieser Epoche“ und die „Folgeerscheinungen des Nationalsozialismus“ (eine sprachliche Wendung, die Wulf absichtsvoll auch in den Namen des geplanten Dokumentationszentrum aufgenommen hatte) zur Geltung kommen: „Der einzige Ansatz dazu ist in der Sequenz mit den Schuhen, Bürsten und Brillen, wo jedoch die Montage aus der Gesamtkomposition herausfällt.“51 Mitscherlich spricht hier Aufnahmen sowjetischer Kameramänner aus den befreiten Lagern in Majdanek und Auschwitz an, ein ikonisch gewordener Teil jener Befreiungsfilme, die ihn in Reisen ins Leben intensiv beschäftigen werden. Mitscherlichs schriftlicher Beurteilung zufolge ist Haus der Endlösung gescheitert: „Seine Machart entspricht der des herkömmlichen Dokumentarfilms, leistet aber nicht, was in einem solchen Rahmen geleistet hätte werden können.“52 Vielleicht ist es die in dieses schonungslose Urteil einmontierte Charakterisierung des Films als „eine Aneinanderreihung von Filmresten, die einen Film hätten ergeben sollen“53, in der dessen tatsächliches Potential zu finden ist: als Fragment, das in seinem Scheitern auch das zeitgleich stattgefundene Scheitern spiegelt, das reale ‚Haus der Endlösung‘ zu einer „Forschungsstätte im wahrsten Sinne zu machen und gleichzeitig ein Memento für immer“54. Erst 1992, fünfzig Jahre nach der Besprechung über die ,Endlösung der Judenfrage‘ und 18 Jahre nachdem Wulf seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, wurde im Haus am Großen Wannsee eine Gedenkund Bildungsstätte eingerichtet. Mitscherlichs Film verschwand im Archiv und harrt dort seiner Wiederentdeckung. 51  Mitscherlich: Haus der Endlösung, S. 2. 52  Ebd. 53  Ebd. 54  Joseph Wulf an Anna Jokl, 24.12.1967, zit. n. Kühling: Schullandheim oder Forschungsstätte?, S. 220.

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Brief an den Regisseur, Saarbrücken, 20.07.1971 Lea Wohl von Haselberg Am 10. Februar 2017 feierte Es war einmal in Deutschland (D/B/LUX 2017, R: Sam Garbarski) auf der Berlinale Premiere. Ein Film, in dem es um überlebende Jüdinnen und Juden geht, Displaced Persons im Camp bei Frankfurt am Main, wahrscheinlich Zeilsheim, die sich nach dem Krieg mit dem Verkauf von Textilien durchschlagen, während sie auf die Möglichkeit warten, in die USA auszuwandern. Am Ende bleibt nur der Protagonist David Bermann in Deutschland und eröffnet in Frankfurt ein Kaufhaus – wie es zuvor schon seine Eltern besessen hatten. Die Romanvorlage Die Teilacher, der erste Teil einer Trilogie, wurde vom Autor Michel Bergmann geschrieben, der zusammen mit Regisseur Sam Gabarski auch die Drehbuchfassung verantwortete. Derselbe Bergmann schrieb am 20. Juli 1971 als junger Mann einen Brief an den Regisseur des Fernsehzweiteilers Der Ritter von der traurigen Gestalt (D 1972, R: Imo Moszkowicz), an dem er gerade in Saarbrücken mitgearbeitet hatte, als Assistent oder Kabelträger, in jedem Fall nicht in einer Position, die in Credits vermerkt und folglich der Fernsehgeschichte überliefert würde. Er beendet den Brief an den Regisseur Imo Moszkowicz mit einem (falsch zitierten) Haiku von Ezra Pound: „Es gibt Gesichter in der Menge, die sind wie – Blütenblätter auf einem nassen Ast.“ In dem zweiseitigen Schreiben, das sich in Moszkowicz’ Privatnachlass befindet, geht es um das Erkennen, das Herausstechen aus der Menge, das Bezugnehmen auf einen Menschen in seiner Besonderheit – in diesem Fall als Jude. Bergmann gibt sich, nachdem er das offensichtlich am selben Morgen schon in einer „Audienz von zehn Minuten“55, wie er schreibt, erfolglos versucht 55  Michel Bergmann an Imo Moszkowicz, 20.07.1971. Nachlass Imo Moszkowicz, in Privatbesitz. Dank für die Zugänglichmachung gilt Daniela Dadieu und Renate Moszkowicz, außerdem Michel Bergmann für die Freigabe und das ausführliche Gespräch.

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hatte, als Jude zu erkennen: „Ich hatte mir vorgenommen, am ersten Tag zu Ihnen zu gehen und zu sagen: Guten Tag. Ich heiße Michel Bergmann, ich bin auch Jude, auf mich können Sie bauen!“56 Doch er tat es nicht und bringt seinen Brief an Moszkowicz erst zu Papier, als der letzte gemeinsame Drehtag vorbei ist. Das Schreiben an den zwanzig Jahre älteren Regisseur vermittelt einen Eindruck davon, welche Seltenheit und Bedeutung die Begegnung für den 26-jährigen Bergmann hatte, die Begegnung mit einem „phantastischen Mann“, wie er schreibt, „mit einwandfreier Haltung“.57 Doch der Brief sollte nicht als schlichte Fanpost missverstanden werden, sondern die Zeilen zeugen von dem Spannungsfeld, in dem sich der Nachwuchsfilmer wahrnimmt und in welchem er auch Moszkowicz bei seiner Arbeit wähnt: Der Risches sei groß hier, schreibt er und meint damit den Antisemitismus, ohne dies weiter auszuführen; die Hierarchien seien ausgeprägt, weshalb er es nicht gewagt habe, den Regisseur anzusprechen. Das wäre ein „Höllensturz“58 geworden, damit hätte er sich jeden zum Feind gemacht. Also hielt Bergmann Abstand von Moszkowicz und fühlte sich aus der Ferne mit ihm verbunden, hatte den Eindruck, er habe ihn besonders gut verstanden, sei mit ihm verzweifelt, habe mit ihm gelitten wie kein/e andere/r der Anwesenden. In diesen Zeilen drückt sich die Einsamkeit jüdischer Erfahrung in der BRD der Nachkriegszeit aus, die Sehnsucht nach jüdischen Gegenbildern und Vorbildern. Gleichzeitig reflektiert Bergmann den „verdammten jüdischen Besitzanspruch“59 und relativiert damit ironisch die eigene Bezugnahme und die Idee einer jüdischen Verbundenheit. Interessant ist auch, dass er Moszkowicz schreibt, er habe mit einem „jeckischeren“, völlig assimilierten Mann gerechnet, doch er habe „trotz allem Jüdischkeit bewart [sic!]“, und Bergmann fügt 56  57  58  59 

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Michel Bergmann an Imo Moszkowicz, 20.07.1971. Ebd. Ebd. Ebd.



an: „Ich war erstaunt wie wenig man in dieser Scheißumgebung von sich abgeben kann.“60 In dem hierarchischen, wohl mitunter auch antisemitisch geprägten Arbeitsumfeld der Fernsehproduktion kann man nicht jüdisch sein, so lassen sich die Zeilen lesen. Man kann diesen Teil nicht preisgeben und kaum in die Arbeit einfließen lassen. Entsprechend positiv nimmt Bergmann das Auftreten des Regisseurs auf: Imo Moszkowicz (1925–2011) machte als Filmschaffender kein Geheimnis aus seinem Jüdischsein, versuchte aber, insbesondere seine Verfolgungsgeschichte – so sein immer wieder formuliertes Selbstverständnis – aus seiner Arbeit herauszuhalten. Filmisch arbeitete er kaum zu dezidiert jüdischen Themen, doch in den Produktionszusammenhängen seiner über 200 Fernsehfilme entstanden offenkundig ‚jewish moments‘. Vierzig Jahre später erinnert sich Bergmann, gefragt nach Moszkowicz’ Jüdischkeit, an eine Begebenheit bei Dreharbeiten: Eine Ratte sollte in einer Szene durchs Bild laufen, die Ratte verschwand aber immer sofort, sodass letztendlich eine tote Ratte an einem Faden gezogen wurde. Auf den Einwand, man werde aber den Faden doch sehen, habe Moszkowicz gesagt, er mache Filme für jene Menschen, die die Ratte sehen und nicht den Faden. Der Eindruck eines feinen Menschen, der von Grobheiten und Unverständnis umgeben war, scheint eindrücklich gewesen zu sein, denn Bergmann ruft ihn im Gespräch über den Brief 61 wieder auf. Am Ende seines Schreibens, bevor er mit Pound schließt, hebt Bergmann hervor, Moszkowicz sei ein Gegenbild zu den antisemitischen Vorstellungen von Juden: „Sie haben bewiesen, wie Juden auch sein können. […] Wenn nun viele dieser frustrierten Menschen das Wort Jude hören, denken sie auch an Moszkowicz und nicht nur an die Haus- und Barbesitzer seiner Generation.“62 60  Ebd. 61  Telefonisches Interview mit Michel Bergmann, März 2021, Interviewerin Lea Wohl von Haselberg. 62  Ebd.

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Eine Assoziation, die heute historisch wirkt, aber zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 1970er Jahre, wirkmächtig war – nicht zuletzt in Frankfurt, wo Bergmann Teile seiner Kindheit und Jugend verbrachte und wo ab den späten 1960er Jahren der sogenannte ,Frankfurter Häuserkampf ‘ entbrannte. Beschwerdebriefe Lisa Schoß Ende Februar, Anfang März 1982 strahlte das DDR-Fernsehen einen Dreiteiler aus, in dem versucht wurde, jüdisches Leben in einem opulenten Bilderbogen darzustellen: Hotel Polan und seine Gäste. Gedreht hatte ihn der Publikumsregisseur Horst Seemann, der sich seit seiner viel gelobten Verfilmung Levins Mühle (DDR 1980) nach dem gleichnamigen Roman von Johannes Bobrowski als ‚Spezialist‘ für jüdische Geschichte und Kultur empfohlen hatte. Seemann war nicht nur bekannt für seine Akribie in Detailfragen, er hatte vor allem ein Gespür für Unterhaltung, die großen Themen Liebe und Tod, atmosphärische Aufnahmen und gefällige Formen. Während es in Levins Mühle um das bunte wie konfliktreiche Zusammenleben von Deutschen, Polen, Juden und Roma im Westpreußen des Kaiser­ reiches ging, stand in Hotel Polan und seine Gäste ein böhmisches, koscheres Kurhotel im Zentrum. Dessen Besitzer und Gäste begleitete der Film über mehrere Jahrzehnte bis in die 1940er Jahre. Im Hotel trafen Reformjuden auf Orthodoxe, deutsche, französische, polnische und tschechische Patrioten auf Zionisten, Pferdehändler auf Bankiers. Von hier aus begann die Politisierung der dritten Generation der Polans in Gestalt des jungen Peter Samuel (dem Alter Ego des Autors Jan Koplowitz). Seine Hinwendung zum Kommunismus und der damit verbundene Austritt aus dem Judentum retteten Peter, so erzählt es Hotel Polan, während seine Mutter in Auschwitz ermordet wurde. 62  



Hotel Polan bot ein großes Darstellerensemble, viele verschiedene Kulissen und Drehorte, enorme Dekoration, Folklore und Gefühl. Der Film wurde damals zum Straßenfeger. Selbst der Westberliner Tagesspiegel lobte, Hotel Polan sei „wichtiger“63 als Holocaust (US 1978, R: Marvin J. Chomsky). Die ostdeutsche Miniserie traf den Nerv der Zeit. Sie bediente den Boom eines imaginiert Jüdischen in Deutschland. Eine Familiengeschichte in drei Generationen und ihre jüdischen Gäste boten Gelegenheit, jüdische Feste und Traditionen bunt und mit viel musikalischer Untermalung in Szene zu setzen. Eine Annäherung an jüdische Geschichte und Kultur über die erbaulichen, leicht konsumierbaren und zugleich ‚exotischen‘ Seiten, verbunden mit viel Romantisierung. Und Vermeidungsvokabeln: Regisseur und Presse sprachen von der „Schönheit und Kraft“64 jüdischer Bräuche, vom „viel zu lange fremde[n] Kulturkreis“65, von einer „längst versunkenen Welt“66, die „gleich Grassamen verweht“67 sei – von Zerstörung und Ermordung war nicht die Rede. In dem „Jiddenfilm“68, wie die Produktion unter Kolleg*innen genannt wurde, schien es um ein ‚Land vor unserer Zeit‘ zu gehen, die Opfer waren in raum-zeitliche Ferne gerückt. Das Publikum bekam Kaftane und Schläfenlocken zu sehen und der Großteil der Figuren 63  Eckart Kroneberg: Auf dem Fernsehschirm Ost. Fragen. In: Der Tages­ spiegel, 04.03.1982, o. P., Zeitungsausschnitt, Deutsches Rundfunkarchiv. 64   Gisela Hoyer: Wege zur Erkenntnis. „Hotel Polan und seine Gäste“ – Fernseh­fi lm nach Koplowitz. In: Der Morgen, 03.03.1982, o. P., Zeitungsausschnitt, Deutsches Rundfunkarchiv. 65   Ebd. 66   Ingeborg Klug: Eine längst versunkene Welt. Zum dreiteiligen Fernsehfilm „Hotel Polan und seine Gäste“. In: Märkische Volkstimme, 03.03.1982, o. P., Zeitungsausschnitt, Deutsches Rundfunkarchiv. 67   Horst Seemann / Fred Gehler: „… daß viele in diesen Spiegel blicken“. In: Film und Fernsehen 9 (1982), S. 12–16, hier S. ­16. 68   Jan Koplowitz: Diskussionsbeitrag. In: Schriftstellerverband der DDR (Hrsg.): X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 2: Arbeitsgruppen. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag 1988, S. ­119.

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sprach eine Art Pseudo-Jiddisch – alles irgendwo angesiedelt zwischen Kitsch und Karikatur. Während die einen den Film feierten, wurde auch massive Kritik an Hotel Polan laut. Denn die Darstellung der jüdischen Milieus war nicht nur folkloristisch, sondern reproduzierte fatalerweise antisemitische Bilder. Schon bei Gestik, Mimik und Sprache waren die Grenzen fließend, unmissverständlich war indes die Verknüpfung von Jüdischsein mit Reichtum, Raffgier und Skrupellosigkeit. Das betraf v. a. die Darstellung von jüdischen Figuren, die nach ,Erez Israel‘ wollten. Die Auswanderung nach Palästina, die Flucht aus einer zunehmend bedrohlich werdenden Lage in Europa war in Hotel Polan kein Weg des Überlebens. Im Gegenteil, im Gewand der Ideologiekritik konzentrierte sich die Darstellung unterschiedslos auf ‚orthodoxe Juden‘ und ‚Zionisten‘ als militante Rassisten und zynische Profiteure des um sich greifenden Faschismus. Dass die Filmemacher*innen dabei gleichzeitig einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas leisten wollten – ob geglückt oder nicht –, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Im Gegenteil war in der DDR eine Haltung verbreitet, die das Gedenken an den Judenmord vollständig abspaltete von zum Teil aggressiven Positionen gegenüber Israel. Obgleich Hotel Polan im historischen Gewand auftrat, zielte die Darstellung freilich auf die Gegenwart, als eine Art Vorbote der ostdeutschen Pressekampagnen, die während des israelischen Libanonfeldzuges 1982 einsetzten. Hier wurden, wie schon bei vorangegangenen kriegerischen Konflikten im Nahen Osten, die „Mordfeldzüge Tel Avivs“ mit den „faschistischen Vernichtungslagern“ gleichgesetzt.69 Zwar gab es ab und zu kritische Stellungnahmen zu Darstellungen jüdischer Figuren im DDR-Film, selten fielen sie aber so vehement aus wie in diesem Falle. Der Autor Koplowitz distanzierte sich frühzeitig von der Verfilmung. Zunächst störte er sich an all 69  Andra Berg: Die Wege der Polans. In: Die Weltbühne 13 (1982), o. P., Zeitungsausschnitt, Deutsches Rundfunkarchiv.

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der Folklore, gewissermaßen der Verbannung zurück ins Ghetto.70 Doch seine Einwände wurden als gegenstandslos bewertet. In den 1990er Jahren klagte Koplowitz schließlich, man habe sein Werk „antizionistisch[] und rassistisch[]“71 entstellt (obgleich er selbst zeitlebens radikale antizionistische Positionen vertrat – wie viele jüdische Kommunist*innen). Der Dramaturg Günther Rücker wiederum schob die Darstellung zurück in den Verantwortungsbereich des Autors.72 Vom Regisseur sind keine Stellungnahmen überliefert. Peter Kirchner, der Vorsitzende der Ostberliner Jüdischen Gemeinde, warf die Frage auf, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen der dämonisierenden, antiisraelischen Bericht­ erstattung der DDR-Medien und den sich seit Beginn des Jahrzehnts häufenden antisemitischen Vorfällen in der DDR.73 Heinz Galinski, der Vorsitzende der Westberliner Jüdischen Gemeinde, verlangte eine weitere Ausstrahlung zu stoppen und die Serie zu verbieten, sie erfülle den Tatbestand der „Volksverhetzung“74. Zwei interne Protestschreiben von drei jüdischen DDR-Bürgerinnen seien hier beispielhaft wiedergegeben. Die Frauen betonten, sich als mit der Partei und der DDR verbundene Personen direkt an die entsprechenden Parteiorganisationen wenden zu wollen. Alle machten geltend, dass sie stellvertretend für Freunde, Kollegen, Genossen, Nichtgenossen Einspruch erhoben. 70   Vgl. Christel Berger: Interview mit Jan Koplowitz. In: Weimarer Beiträge 1 (1983), S. 86–100, hier S. ­89. 71   Jan Koplowitz: Interview. In: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hrsg.): Von Abraham bis Zwerenz, Bd. 2. Bonn: Cornelsen 1995, S. 1002–1009, hier S. ­1004–1005. 72  Vgl. Ralf Schenk / Günther Rücker: Zeitzeugengespräch Günther Rücker. Berlin: DEFA-Stiftung 2000. Die Aufzeichnung des Zeitzeugengesprächs ist als DVD veröffentlicht bei ICESTORM Entertainment GmbH. 73  Peter Kirchner, zit. n. Lothar Mertens: Schwindende Minorität. Das Judentum in der DDR. In: Siegfried Arndt (Hrsg.): Juden in der DDR. Geschichte, Probleme, Perspektiven. Köln: Sachsenheim 1988, S. 125–159, hier S. 133. 74   Proteste gegen Fernsehserie. Erklärung Heinz Galinskis. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 23.03.1984, o. P., Zeitungsauschnitt, Deutsches Rundfunkarchiv.

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Die „Genossinnen“75 Eva Wulff und Doris Wetterhahn baten gemeinsam bei der Parteiorganisation des Fernsehens um eine Aussprache. Irene Runge schrieb ihren Brief gleich an die Kultur­ abteilung des Zentralkomitees (ZK) der SED.76 Alle drei Frauen waren aus dem westlichen Exil in die DDR zurückgekehrt. Wulff arbeitete als Dolmetscherin beim Rundfunk, Wetterhahn war als Verlagsredakteurin und Pädagogin tätig, Runge hatte ebenfalls beim Rundfunk gearbeitet und Soziologie studiert. Bei der zweistündigen Aussprache mit dem Chefdramaturgen des DDR-Fernsehens, Alfried Nehring, und dem stellvertretenden Leiter des Bereiches Dramatische Kunst im Fernsehen, dem Partei­sekretär Werner Krecek, bemängelten Wulff und Wetterhahn die Übergewichtung „eine[r] kleine[n] Gruppe orthodoxer Juden“77. Viele „Typen“ wirkten „schon äußerlich abstoßend“, sie fühlten sich an Figuren aus dem Stürmer erinnert.78 „Einen solchen Film [hätte das Fernsehen] nicht so kurze Zeit nach dem Faschismus, durch den 6 Millionen vergast wurden, zeigen dürfen. Hätten sie den Film in Westdeutschland gesehen, hätten sie gesagt: Aha, wehret den Anfängen. Er habe […] gewirkt, als ob eine Abrechnung mit den Juden erfolgen sollte.“79 Nehring und Krecek nahmen sich zwar die Zeit, die Argumente anzuhören, nachvollziehen konnten sie sie indes nicht. Beide Männer betonten, dass „dies ein Film über die tiefe Menschlichkeit des 75  Dr. Krecek an Hannes Schäfer, 22.03.1982. Deutsches Rundfunkarchiv, Schriftgutbestand Fernsehen, Dramatische Kunst, Hotel Polan und seine Gäste, o. P. Überliefert ist nicht das Protestschreiben an sich, sondern nur eine Reaktion des Parteisekretärs an den Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung Fernsehen der DDR, der von einer Aussprache berichtet. 76  Brief von Dr. Irene Runge an das ZK der SED, Abt. Kultur, Berlin 12.07.1986. BArch, MfS, HA XX/4, Nr. 702, Bl. 48–51. Ich bedanke mich bei Alexander Walter, der mich auf den Brief aufmerksam gemacht und ihn mir zur Verfügung gestellt hat. 77  Dr. Krecek an Hannes Schäfer, 22.03.1982, o. P. 78  Ebd. 79  Ebd.

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Judentums und der jüdischen Kultur sei“ und verwiesen auf das breite und „übereinstimmend positive Echo“.80 Man sei im Dissens, aber in gegenseitiger Dankbarkeit für die offene Aussprache auseinander gegangen. Runge brachte in ihrem Brief an die Kulturabteilung ähnliche Argumente vor wie Wulff und Wetterhahn. Sie kam nicht direkt, sondern über Umwege auf Hotel Polan zu sprechen. Auslöser ihres Briefes war zunächst Once upon A Time in America (Es war einmal in Amerika, I/US 1984) von Sergio Leone. Der Spielfilm lief 1986 in den Kinos der DDR und erfreute sich – wie die meisten Westimporte – großer Beliebtheit. Runge war empört über das „Machwerk“, dass die New Yorker Juden allesamt als gewalttätige, sadistische „Gangster“ und noch dazu „als betend, mauschelnd, Geschäfte machend und ansonsten recht pittoresk und bizarr vorgeführt werden“.81 Runge war 1942 in New York geboren. Sie empfand es als „beleidigend in einem DDR Kino derartiges erleben zu müssen.“82 Sie sei nicht bereit, „die Verächtlichmachung der Juden zu akzeptieren.“83 Auch Runge schlug den Bogen zum Stürmer und zu Jud Süss (D 1940, R: Veit Harlan) und reagierte vollkommen verständnislos, warum „unsere Kulturund Kunstpolitik“84 solche Einkäufe zulasse und die Kritik für eine solche Darstellung scheinbar blind sei. Dann kam Runge auf eine Tendenz zu sprechen, die sie allgemein in der DDR beobachtet habe und bei der sie zweifelsfrei auch an Hotel Polan dachte: Wenn hierzulande Juden filmisch (fast) immer als mauschelnde, jiddelnde […], verkaufende, betende und sich prostituierende langbärtige und vollbusige Männer und Frauen gezeigt werden, wenn die Fülle 80  Ebd. 81  Dr. Irene Runge an das ZK der SED, Abt. Kultur, Berlin 12.07.1986, Bl. 49. 82  Ebd. 83  Ebd. 84  Ebd.

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an neueren Publikationen wesentlich die ‚Unterhaltungsliteratur‘ des Chassidismus angeht, wenn jiddische Lieder mit Inbrunst und ohne Kenntnis der Sprache gesungen werden, wenn dies alles zu einem Judenbild verkommt, was irgendwo im Mittelalter der ostjüdischen Ghettos angesiedelt ist, so erfüllt sich darin für mich eine merkwürdige Funktion: Denn diese Juden sind nicht das, was es in Deutschland gab, sie sind es nicht, die verfolgt, vertrieben und vernichtet worden sind … So suchen die neuen Generationen nach den Zeichen und Symbolen (Scheunenviertel) und genießen die Morbidität der Friedhöfe, ohne jedoch die Wirklichkeit des Faschismus wahrnehmen zu können, die Ausrottung von Nachbarn, Mitschülern, ihrer Eltern und Großeltern, Leuten, die man kannte, sah und plötzlich nicht mehr da waren.85

Runge brachte hier die romantisierende Entdeckung alles ‚Jüdischen‘ in den 1980er Jahren mit all ihren Verzerrungen auf den Punkt, an der auch Hotel Polan teilhatte. Inständig bat sie darum, die Darstellung in solcher Art Filme „auch unter Berücksichtigung meiner jüdischen Vorbehalte“86 zu prüfen. Ob und wie das ZK auf Runges Beschwerde reagierte, ist bisher nicht geklärt. Runges Brief befand sich in ihrer Akte bei der Staatssicherheit. Listen, Briefe, Stimme Tobias Ebbrecht-Hartmann An zentraler Stelle platziert Thomas Heise in seinem Film Heimat ist ein Raum aus Zeit (D/A 2019) eine eindrucksvolle Bild-Ton-Montage. Die Sequenz setzt zwei disparate schriftliche Quellen miteinander in Beziehung. Sie beginnt mit einer schwarzen Leinwand. Aus dem Off sind Geräusche von Zügen zu hören. Ein Dokument schiebt sich ins Bild. Zuerst ist ein Datum in der 85  Dr. Irene Runge an das ZK der SED, Abt. Kultur, Berlin 12.07.1986, Bl. 50. 86  Ebd., Bl. 51.

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rechten oberen Ecke zu sehen: 19. Okt. 1941. Langsam fährt die virtuelle Kamera über scheinbar endlose Listen mit Namen von zur Deportation bestimmten Wiener Jüdinnen und Juden. Dazu hören wir aus dem Off Heises Stimme, die die letzten Briefe seiner ermordeten Familie vorträgt. Zwei Schreibmedien gehen damit eine spannungsvolle Beziehung ein und evozieren in diesem Wechselspiel eine historische Erfahrung, die sich konventionellen Darstellungsformen entzieht. Listen und Briefe haben in dieser Konstellation unterschiedliche Funktionen, und sie treten in verschiedenen Aggregatzuständen auf. Während die Deportationslisten durch die markante Schreibmaschinenschrift und die akkurat untereinander gesetzten Einträge charakterisiert sind, die die damit bezeichneten Menschen zu transportablen Objekten in einem maschinell organisierten Vernichtungs­prozess machen, konservieren die Briefe individuelle Erfahrungen, die, in die ephemere Form der Mündlichkeit übersetzt, zu transporta­ blen Erinnerungen werden, die sich nachfolgende Generationen aneignen, in diesem Fall Thomas Heise mit seiner eigenen Stimme sprechend. Die unerbittlich über die Leinwand ziehenden Listen beinhalten eine Nummer, den Namen und die Anschrift der zu Deportierenden. Manchmal findet sich eine handschriftliche Spur zwischen den maschinengeschriebenen Lettern: ein Haken, ein Punkt, ein Kreuz. Die Kombination verschiedener Lettern der Schreibmaschine ermöglicht – im Spannungsverhältnis zum oben beschriebenen maschinellen Prozess stehend – das Erscheinen individueller Namen: Spuren von Menschen, die nur kurz darauf ermordet werden sollten, darunter auch Mitglieder der Familie von Heises Großmutter. Die aus den Lettern zusammengesetzten Namen wiederum bilden einen Kontrast zu den sichtbaren Ziffern: Nummern, die – obwohl scheinbar willkürlich verteilt und ohne klar erkennbare Reihung – die Namen zu dominieren, schließlich zu verdrängen scheinen. Später, beginnend mit der Liste vom 26. Januar 1942, die einen Transport nach Riga 69

dokumentiert, schieben sich zwischen die individuellen Namen und die Anschriften der zu Deportierenden noch erbarmungslos die Zwangsnamen ,Israel‘ und ,Sara‘, als sollte damit die letzte Spur des Individuellen getilgt werden. Der durch die maschinengeschriebenen Listen evozierte Eindruck des Maschinellen wird noch verstärkt durch die Bewegung der aus dem Off auftauchenden und darin wieder verschwindenden Dokumente. Hier verbinden sich zwei Darstellungstechniken: die Simulation eines kinematografischen Schwenks und die digitale Technik des Scrollens. In Verbindung mit den spezifischen Schriftdokumenten, die hier über die Leinwand ziehen, bekommt diese Bewegung auch eine metonymische Funktion. Sie ruft in der Vorstellung der Zuseher*innen die Züge auf, die ununterbrochen in die Ghettos, Lager und zu den Erschießungsstätten in Ost­europa rollten. In scharfem Kontrast zur Schriftlichkeit der Listen steht die Mündlichkeit der aus dem Off vorgelesenen Briefe. Zu hören sind Beschreibungen alltäglicher Situationen und die Mitteilung besonderer Momente, die gleichzeitig durch sich steigernde Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Entwürdigung gezeichnet sind. Die Intimität dieser Berichte sowie die sich darin mitteilende Ahnung von dem, was kommen wird, werden noch verstärkt durch Heises Stimme, in der sich gerade durch das stete Pendeln zwischen Distanz und Nähe, zwischen den Positionen des Sprechers / Regisseurs und des Angehörigen / Subjekts dieser Familiengeschichte, ein starker Kontrast zu den als Schriftdokumente sichtbaren Listen ergibt. So bilden Bild und Ton, On und Off einen vielschichtigen Erinnerungsraum, in dem unterschied­ liche Schreib-Medien miteinander verbunden werden. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Listen und Briefen, zwischen Bild und Ton, zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit hat auch Auswirkungen auf den historiografischen Status dieser Film­ sequenz. Durch den Kontrast zwischen Listen und Briefen reflektiert die filmische Darstellung auch über das Verhältnis zwischen 70  



Tätern und Opfern (sowie zwischen Tat und Erfahrung). Diese Reflexion ist Folge eines In-Beziehung-Setzens durch das Mittel der Montage. Auf diese Weise öffnet sich der filmische Raum auch perspektivisch. Mit und durch die schriftlichen Dokumente in ihrem Wechselspiel mit filmischen Aufführungs- und Bearbeitungstechniken sowie den verschiedenen Aggregatzuständen – ephemere Mündlichkeit und simulierte Bewegung – schreibt Heimat ist ein Raum aus Zeit selbst Geschichte. Zentral in dieser Bewegung filmischer Historiografie ist die vermittelnde Rolle von Heise und seiner Stimme. Sie ist das relationale Element, das Bildraum und Klangraum, Vergangenheit und Gegenwart, synchrone und diachrone Zeit, historische Orte und schriftliche Quellen in Beziehungen zueinander setzt und so Fragen von Identität, Zugehörigkeit, generationeller Tradierung und historiografischer Perspektive aufwirft und zu reflektieren anregt. „Der Autor will anonym bleiben.“ Lea Wohl von Haselberg Sie hörten ‚Auschwitz-Kinderlieder‘. Die Verfasser dieser Lieder sind unbekannt. Ein Deutscher hat sie gesammelt und auf eigene Rechnung drucken lassen. Er wünscht nicht, dass sein Name genannt wird. Drei Lieder wurden für diese Sendung aus dem Deutschen ins Englische übersetzt. Wenn Sie das kleine Büchlein mit dem Titel ‚Auschwitz-­K inderlieder‘ haben wollen, schreiben Sie bitte an diese Adresse: Donat Verlag, S-2800 Bremen 33, Brandenweg 6. 87

So klingt es Mischa, der Hauptfigur von Johannes Mario Simmels Roman Auch wenn ich lache, muss ich weinen, beim Aufwachen aus dem Radio entgegen. Zuvor hatten sich düstere lyrische Passagen in seine Träume gemischt. 87  Johannes Mario Simmel: Auch wenn ich lache, muß ich weinen. München: Droemer Knaur 1993, S. 451.

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Diesen Gedichtband, den Simmel in seinen 1993 erschienenen Roman einschreibt, gibt es wirklich: 1990 erschien ein schmaler Lyrikband im Bremer Donat-Verlag. Auf dem packpapierbraunen Umschlag steht unter dem Titel Auschwitz-Kinderlieder nur der Verlag. Ein Verfasser ist nicht angegeben. Der schmale Band umfasst 56 Seiten und fünf Gedichte. Auf der Verlagsseite wird der Band mit Zitaten von Jürgen Habermas und Willy Brandt beworben, prominenter Zuspruch, der auf das Engagement von Helmut Hafner zurückgeht, der in der Bremer Senatskanzlei seit den frühen 1980er Jahren für Kirche und Religionen, politische Philosophie und zivilgesellschaftliche Projekte verantwortlich war. Er verschickte das Bändchen an Künstler*innen, Politiker*innen und Intellektuelle, um ihm zu einer breiteren Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit, die es aus seiner Sicht verdiente, zu verhelfen. Auch in diesen Anschreiben, die mit dem Buch verschickt wurden, ist der Verfasser nicht namentlich genannt. Einer der wenigen Künstler, der sich auf diese Ansprache hin ablehnend und dezidiert kritisch über die Gedichte äußerte, war Jurek Becker. Viele andere fanden anerkennende Worte und zeigten sich von den Texten berührt. Will Quadflieg zitierte die Gedichte später bei Lesungen,88 Simmel zitierte eines der Gedichte in seinem Roman. Mehr noch: Er bestellte per Telegramm aus dem Hotel Vier Jahreszeiten in München gleich fünfzig Exemplare, die er „so vielen Menschen wie möglich geben“89 wollte. Trotz der Unterstützung durch Prominente wie Simmel oder Habermas bleibt die Aufmerksamkeit für die Auschwitz-­ Kinderlieder vor allem auf den Bremer Raum beschränkt und durchaus zwiespältig. So waren die Bremer Buchhändler*innen 88  Vgl. Nicky Rittmeyer: Chronik. In: Ders. / Torsten Musial (Hrsg.): Karl Fruchtmann. Ein jüdischer Erzähler. München: Text + Kritik 2019, S. 181–219, hier S. 207–208. 89  Johannes Mario Simmel an Helmut Hafner, o. D. Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Karl-Fruchtmann-Archiv, Fruchtmann 542, 264 Bl., o. P.

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zurückhaltend bis ablehnend, den Gedichtband in ihr Sortiment aufzunehmen90, wie der Verleger Helmut Donat festhält.91 Bis heute finden aber immer mal wieder Lesungen der Gedichte im Rahmen von Gedenkveranstaltungen statt und am 27. Januar 2005 wurde im Bremer Rathaus sogar eine Vertonung der Gedichte durch den Komponisten Alexander Wilhelm Torkel uraufgeführt. Der Autor wolle anonym bleiben, heißt es auf der Verlagsseite, wo das Bändchen auch über dreißig Jahre nach Erscheinen noch verfügbar gehalten wird: „Der Autor will anonym bleiben. Offenbar weiß er aber, worüber er spricht.“92 Hier wird mit dem die Autorschaft legitimierenden zweiten Satz wenigstens implizit auf eine eigene Verfolgungserfahrung verwiesen. Warum veröffentlicht der Autor den Band anonym und verzichtet damit darauf, diese an seine Person gebundene Legitimation qua eigener Erfahrung zu nutzen? Der Autor der Gedichte ist kein „Deutscher“, der die Gedichte gesammelt hat, wie Simmel schreibt, sondern der (jüdische) Fernsehregisseur Karl Fruchtmann. Das ist kein spät enthülltes Geheimnis, sondern auch Fruchtmann selbst hielt das zu Leb­ zeiten nicht wirklich geheim. Trotzdem war es ihm offenbar wichtig, dass der Band nicht direkt mit ihm in Verbindung gebracht wird und sein Name nicht auf dem Buchdeckel steht. Schon in den frühen Jahren seines Berufslebens verfasste Fruchtmann Texte in unterschiedlichen Formen, schrieb also nicht nur Drehbücher, sondern auch Prosa. 1961 veröffentlichte er The Man 90  Vgl. Rittmeyer: Chronik, S. 207. 91  Donat schreibt, er habe von den etwa 50 Buchhandlungen in Bremen etwa 35 aufgesucht, um das Gedichtbändchen vorzustellen, von denen 26 einen Kauf ablehnten und sich kaum die Mühe machten, das Buch genauer anzusehen. Vgl. Aufzeichnung von Helmut Donat, o. D. Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Karl-Fruchtmann-Archiv, Fruchtmann 542, 264 Bl., o. P. 92  Auschwitz-Kinderlieder [Beschreibungstext des Verlags]. In: DonatVerlag, o. D. http://www.donat-verlag.de/buch-detail.php?buchid=129& katid=0 (Zugriff am 21.09.2022).

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on His Back. Eine Kurzgeschichte, die zweimal verfilmt wurde,93 aber zunächst gedruckt veröffentlicht worden war. In seinem Nachlass zeichnet sich ab, wie wichtig das Schreiben für ihn war und wie er sich auch an seine Filmprojekte mit unterschiedlichen Textsorten heran schrieb, indem er Fragen und Gedanken immer wieder reformulierte, um sie zu schärfen. Lyrik als Textform liegt dabei gar nicht so fern. Auch der Zeitpunkt war kein zufälliger: Die sogenannte deutsche Wiedervereinigung löste bei Fruchtmann Sorgen vor erstarkendem Nationalismus und Antisemitismus aus, daraus machte er keinen Hehl. Deswegen versuchte er 1990, mit den Auschwitz-Kinderliedern die Relevanz der Erinnerung zu betonen und über die Kinder von Auschwitz den Schrecken des Zivilisationsbruchs so stark zu formulieren, dass ein Verstecken hinter Worthülsen nicht mehr möglich sei. Die Anonymität, die ja gleichzeitig keine strikte ist, die zu einem Geheimnis führt, lässt sich mit Blick in Fruchtmanns Arbeiten vielleicht so verstehen: Er betonte im Zusammenhang mit dem Zeugen-Projekt,94 dass Auschwitz eben nicht dasselbe sei wie Dachau, wo er interniert war, und er deswegen kein Überlebender sei. Diese Unterscheidung, die ihm wichtig war, nicht nur als Präzision, sondern auch für seine öffentliche Persona, hätte mit der öffentlichen Autorschaft der Auschwitz-Kinderlieder in Konflikt geraten können. Das ist besonders vor dem Hintergrund aufschlussreich, dass die sich etablierende Erinnerungskultur der 1980er und 1990er Jahre auch für jüdische Filmschaffende wie Karl Fruchtmann, besonders wenn sie auch Überlebende der 93  1962 für das kanadische Fernsehen, 1972 unter dem Titel Der Mann auf seinem Rücken für das ZDF. 94  Ausführlicher zu Karl Fruchtmanns mehrteiligem Fernsehprojekt, für das er 1980 Interviews mit Auschwitzüberlebenden führte: Lea Wohl von Haselberg: Ein vergessenes Stück deutscher Fernsehgeschichte und ein Stück jüdischer Filmgeschichte. Karl Fruchtmanns ZEUGEN-Projekt. In: Dies. / Lucy Alejandra Pizaña Pérez (Hrsg.): Jüdischer Film. Ein neues Forschungsfeld im deutschsprachigen Raum. München: Text + Kritik 2022, S. 227–251.

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Shoah waren, ein neues Rollenangebot bereithielt. Zu diesem mussten sie sich verhalten – wie auch immer. Mit den Auschwitz-­ Kinderliedern tat Karl Fruchtmann eben dies: Er sprach klar für die Bedeutung der Erinnerung an Auschwitz im ,wiedervereinigten Deutschland‘ und insistierte über die vermeintlich naive Form der Gedichte und ihrer Anlehnung an Kinderlieder auf eine Konkretion der Verbrechen, die genau zu dieser Zeit begann, hinter formalisierten Gedenkveranstaltungen zu verschwinden. Diese Kritik an einem Gedenken, das sich selbst genügt, sich aber gegen ein tatsächliches Berührtwerden verschließt, findet sich auch in den Gedichten des Bändchens. Bei genauerer Lektüre können sie kaum als historische Zeugnisse aus Auschwitz missverstanden werden, sondern adressieren klar die Gegenwart. Doch durch die ‚laxe Anonymität‘ vermied Fruchtmann die willkommene Verquickung mit seiner eigenen Verfolgungsgeschichte und versuchte so die Gefahr zu umgehen, ,der Jude vom Dienst‘ zu werden.

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Orte

Orte Orte können eine Bewegung definieren: Erzählungen haben oft einen Anfangs- und Endpunkt, die manchmal zusammenfallen oder auch unerreichbar weit voneinander entfernt sein können. Es gibt Knotenpunkte, an denen sich mehrere solcher Linien kreuzen, vernetzen und verkomplizieren. Doch sind Orte in den seltensten Fällen bloß geografische Koordinaten, vielmehr werden sie durch konkrete Perspektiven und Treffen, Stimmungen und Eindrücke, Landschaften und Kulissen erlebt und erinnert. Darum sind sie als stabile Referenz- und Ankerpunkte auch unzuverlässig und bilden eher einen Index für den Wandel und Verlust von Dingen und Zeiten. Die jüdische Diaspora war immer durch eine verstreute Vielzahl konkreter Orte jüdischen Lebens und gleichzeitig durch den rituellen Bezug auf biblische Orte verbunden. Das 19. und 20. Jahrhundert haben diese vielschichtigen und multiperspektivischen Ortsbezüge jüdischer Tradition durch die Erfahrungen von Emanzipations- und Migrationsbewegungen sowie Flucht und Exil verstärkt und komplexer werden lassen; mit der Vernichtung des europäischen Judentums und der Gründung des Staates Israel wurde das zugrunde liegende Koordinatensystem dauerhaft verändert und auch beschädigt.

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Filme werden in artifizieller Studiokulisse oder an vermeintlichen Originalschauplätzen gedreht, immer kommt es dabei zu Überlagerungen zwischen dem Ort der Handlung und dem der Dreharbeiten. Ein filmischer Ort kann aus vielen Drehorten montiert werden oder ein einziger Drehort sich in zahlreiche filmische Orte verwandeln. Die Suche nach atmosphärisch besonders prägnanten Locations hat sich dabei in den letzten Jahrzehnten zum eigenen Berufsbild entwickelt. Zugleich wird die besondere Atmosphäre des Kinos, wo man sich vor der Leinwand versammelt, immer mehr zur Erinnerung und verliert sich angesichts der Allgegenwart mobiler Bildschirme, die Bilder an die unterschiedlichsten Orte bringen.

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Der Ort ihrer Eltern: Untergrombach Lea Wohl von Haselberg Am Grombach gelegen, am Rande des Kraichgaus und heute im Landkreis Karlsruhe, liegt das badische Dorf Untergrombach. Ein Ort, dessen Besiedelung sich bis ins 4. Jahrtausend vor Christus zurückverfolgen lässt, der aber trotz langer Geschichte kaum größere Bekanntheit erlangt hat. Die jüdische Bevölkerung war Mitte des 19. Jahrhunderts mit etwa 150 Menschen am höchsten, der Friedhof wurde mit der jüdischen Gemeinde von Obergrombach zusammen genutzt, die Synagoge des Ortes 1938 nicht angezündet, weil die Häuser zu eng zusammenstanden und das Feuer hätte übergreifen können. So richtete sich die Gewalt nur gegen den Innenraum, der weitgehend zerstört wurde. Das Gebäude wurde dann im Krieg von einer Luftmine beschädigt und nach Kriegsende abgerissen. Auf den Überresten wurde ein Wohnhaus gebaut. Die Straße, die 1933 in Sonnenwendstraße umbenannt worden war, heißt heute wieder Synagogenstraße.1 In Jeanine Meerapfels Filmen taucht Untergrombach auf, teilweise namentlich, teilweise als kleines Dorf in Süddeutschland. Es ist eine Referenz auf das Land ihrer Eltern, den Ort an dem – vielleicht – jüdische Normalität vor 1933 möglich war. In ihrem essayistischen Film Im Land meiner Eltern (D 1981) spielt die eigene (Familien-)Geschichte vor allem am Anfang und am Ende eine Rolle, während weite Teile aus Gesprächen mit Jüdinnen und Juden bestehen, die in Westberlin leben: Auf eine Eingangssequenz, in der sie Anna, einem kindlichen Gegenüber Fotos und Filmaufnahmen aus ihrer Kindheit in Argentinien zeigt, folgen Bilder eines Friedhofs in herbstlichem Licht. Dort, wo die Vorfahren beerdigt liegen, die nicht fliehen mussten und noch ein Begräbnis in Deutschland fanden, wird die Sehnsucht 1  Untergrombach (Stadt Bruchsal, Kreis Karlsruhe). Jüdische Geschichte / Betsaal / Synagoge. In: Alemannia Judaica, 30.06.2020. http://www. alemannia-judaica.de/untergrombach_synagoge.htm#Zur%20Geschichte% 20der%20Synagoge (Zugriff am 21.09.2022).

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nach Kontinuität, Zugehörigkeit und einer nicht durch Verfolgung und Exil unterbrochenen Linie der Generationen zum Ausdruck gebracht. Diese Sehnsucht wird im Off-Kommentar explizit formuliert und kann in den Bildern eine Entsprechung finden. Doch in der Idylle der überwachsenen Grabsteine und der durch die Blätter fallenden Sonnenstrahlen fallen Schüsse. Neben dem Friedhof liegt ein militärischer Schießplatz, vom Friedhof aus sind die Warnschilder zu sehen, die die Kamera findet, als sie den Geräuschen der Schüsse folgt. Dieses unmittelbare Nebeneinander holt den Ort in die Gegenwart der frühen 1980er Jahre zurück und wird zum Sinnbild für die Fragen, die Meerapfel in Im Land meiner Eltern an das postnationalsozialistische Westdeutschland stellt. Auch in ihrem fast zeitgleich entstandenen Spielfilmdebut Malou (D 1981) tauchen das süddeutsche Dorf und der Friedhof auf. Schon in der ersten Szene teilt Hannah, inmitten von Fotos und altem Silberbesteck sitzend, ihrem Mann mit, sie fahre morgen nach Sulzweiher zum Friedhof – Sulzweiher ist hier eine Fiktionalisierung, doch der Bezug zum badischen Dorf ist eindeutig. Malou verbindet die Geschichte zweier weiblicher Figuren: einer Mutterfigur, die nicht nur durch den titelgebenden Namen stark an Jeanine Meerapfels Mutter Marie Louise Chatelaine, genannt Malou, angelehnt ist, und ihrer Tochter Hannah, die um eine emanzipierte, gleichberechtigte Ehe ringt und versucht, über die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter und ihrer Lebens­ geschichte nicht nur die Mutter sondern auch sich selbst besser zu verstehen. Die Ehe der Eltern wird zum Spiegel für die eigene. Die Rückkehr an den Ort der Eltern ist für diese Auseinandersetzung eine wichtige Reise. Zeigt Meerapfel ‚ihr‘ Deutschland, sucht sie die Auseinandersetzung mit der westdeutschen Gegenwart – in Filmen wie Im Land meiner Eltern, Die Kümmeltürkin geht (D 1985) oder La Amiga (D/ARG 1988) –, dann sehen wir Berlin. Hier spielen sich die Fragen der Gegenwart ab, kann der Umgang mit der deutschen Vergangenheit ebenso befragt werden wie der mit 81

Migrant*innen und Jüd*innen – Untergrombach hingegen steht für ein früher, für ein vorher. Es ist der Ort außerhalb Argenti­ niens, der sie mit der Geschichte ihrer Eltern verbindet, ein unbeleckter Ort, der nicht durch andere Assoziationen besetzt, durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse überlagert wird. Fast vierzig Jahre später kehrt Meerapfel noch einmal zurück an den Ort, an dem der Nachname Meerapfel an die Tabakfabrik ihrer Familie „Meerapfel & Söhne“ erinnert. Sie dreht für einen neuen Film Una Mujer (D 2021), der die Geschichte ihrer Mutter erzählt und über die Möglichkeiten und Grenzen von Erinnerungen reflektiert. Im Haus, in dem ihre Eltern früher gelebt haben, besucht sie die nun dort lebende Familie, klebt Fotos ihrer Mutter an die Wände, bringt sie zurück in die Räume, die sie verlassen musste, an den Ort, von dem sie vertrieben wurde. Filmstadt Barcelona: Fluchtstation 1934 und 1936 Imme Klages Barcelona wird 1933 zu einem Zufluchtsort für deutsche Exilant*innen, an dem viele Lebensgeschichten für einen kurzen Zeitraum zusammenführen. Der Film Doña Francisquita (E 1934, R: Hans Behrendt) hat daran besonderen Anteil. Hinter der Produktionsfirma Ibérica Films, 1933 gegründet, stehen der bekannte Stummfilmproduzent David Oliver von Oliver Films2 und Kurt Flatau, der in Berlin das Marmorhaus Theater geleitet hatte. Unterstützung erhält die junge Filmproduktionsfirma von dem MGM-Repräsentanten für Spanien und Südamerika J. J. Letsch sowie dem lokalen katalanischen Politiker

2  Mark Oliver arbeitet an der Exilgeschichte seines Großvaters und einige Dokumente und Fotos aus der Zeit der Ibérica Films findet man auf seiner Seite UFA MAN – The Unknown Story of Film Pioneer David Oliver, https:// ufa-man.com (Zugriff am 05.07.2021).

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Mariano Rubió i Tuduri.3 Engagiert wird ein Teil der aus Portugal kommenden deutschen Crew von Gado Bravo (P 1934, R: Max Nosseck / António Lopes Ribeiro), darunter der Kamera­ mann Heinrich Gärtner und Herbert Lippschitz, der für die Bauten zuständig ist. Aus Deutschland kommen außerdem der Regisseur Hans Behrendt, der Drehbuchautor Hans Jacoby, Paul Falkenberg für den Schnitt und der 23-jährige Peter Paul Weinschenk als Kameraassistent. In seinem Lebensrückblick zitiert Weinschenk aus seinem Zeugnis der Schule Reimann, an der er als Assistent von Werner Gräff einen Einführungskurs in die Fotografie unterrichtete: „‚Durch die Umorganisation unseres Lehrplanes und Veränderung in der Leitung … ist es uns nicht möglich … den Posten weiter aufrecht zu erhalten.‘ Das Datum war der 28. Februar 1933. Am 4. Mai 1933 meldete ich mich polizeilich nach Barcelona, Spanien, ab.“4 In Berlin gab es 1933 vor dem Spanischen Konsulat keine Warteschlange für Visen. „Nach Ausrufung der Republik 1931 waren die Einreise- und Niederlassungsmöglichkeiten unbüro­ kratisch; eine Arbeitserlaubnis war nicht erforderlich.“5 So entschied sich Peter Paul Weinschenk kurzerhand für Spanien als Zufluchtsort und verließ Berlin 1933 mit zwei Kameras in der Tasche. Weinschenk fährt fort: Erst lernte ich zunächst sehr schnell Spanisch und betätigte mich als Fotograf, danach arbeitete ich von 1934 bis 1936 zuerst als Standfotograf und dann als Kameraführer in den folgenden Filmen: 3  Vgl. auch die Seite der FilmoTeca Madrid zur Restauration und Erstaufführung des digitalen Films 2019: www.culturaydeporte.gob.es/cultura/areas/ cine/mc/fe/comunes/noticias/2019/10/donafrancisquita.html (Zugriff am 07.07.2021). 4  Peter Paul Weinschenk: Curriculum Vitae, 1987. Deutsches Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Frankfurt am Main, Günter Peter Straschek Nachlass, Personenakte Pablo Weinschenk, EB 2012/153D.01.3320, S. 3. 5  Patrik von zur Mühlen: Spanien. In: Ders./Claus-Dieter Krohn / Gerhard Paul / Lutz Winckler (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945. Darmstadt: Primus 1998, S. 396–401, hier S. 396.

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Doña Francisquita, Vidas Rotas, Los Tios Vivos, 60 Horas en el Cielo, El Malvado Carabel, Una Semana de Felicidad, La Farándula, Boliche, Hombre Contra Hombres.6

Meist arbeitet er als Assistent und Kameraführer von Exil-Kamera­ männern: Heinrich Gärtner, Adolf Schlasy und Willy Goldberger. „Dann brach der spanische Bürgerkrieg aus, und ich wurde ‚eingeladen‘, mich als Kriegsberichterstatter mit einer Filmkamera an die Front zu begeben, was ich auch tat, und obwohl ich von Natur kein Heldenblut in mir habe, kam ich doch unter Feuer.“7 Es folgt die weitere Fluchtgeschichte von Peter Paul Weinschenk, der sich nach Etappen über Amsterdam und Uruguay in Argentinien in Pablo Tabernero umbenannte und für über 40 weitere Filme an der Kamera stand.8 So war Spanien zuerst Zufluchtsort, der sich später während des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs zum Transitland entwickelte. Die deutschen Exilant*innen waren in ihren Filmberufen sehr gut ausgebildet und geschult worden: Die deutsche Filmindustrie fungierte bei der Umstellung zum Tonfilm in Europa als Motor, während andere Länder erst zu dieser Zeit begannen, Tonfilme in nennenswerter Zahl herzustellen. […] Besonders in kleineren Ländern mit einer (gesamteuropäisch betrachtet) marginalen Filmindustrie spielten deutsche Emigranten in den Jahren 1933–36/38 so oft eine Schlüsselrolle, etwa in den Niederlanden, in Österreich und Ungarn, in Spanien und in Portugal.9

6  Weinschenk: Curriculum Vitae, S. 3. 7  Ebd. 8  Vgl. den Dokumentarfilm Searching for Tabernero (US 2020) von Eduardo Montes-Bradley, der hierfür drei Jahre lang zu Weinschenk / Tabernero und seinem Leben recherchiert hat. 9  Malte Hagener: Nationale Filmproduktion und Exil. Zur Produktion und Rezeption des Films Gado Bravo. In: Stiftung Deutsche Kinemathek (Hrsg.): Exil in Portugal. München: Text + Kritik 2002, S. 50–69, hier S. 52–53.

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Barcelona wurde zum melting pot vieler Filmschaffender: 1934 war es eine offene, liberale, aufstrebende Stadt, in der neue Filmstudios gebaut wurden und die Filmgesellschaften United Artists, UFA, Paramount unter anderem Filme drehten.10 Der Tonfilm brachte Anfang der 1930er Jahre die Musik auf die Leinwand und in ganz Europa erfreuten sich die Tonfilmoperetten großer Beliebtheit. Die Walzerfilme von Ludwig Berger oder Eric Charell waren Kassenerfolge und so mancher konnte die bekannten Filmschlager wie „Das gibt’s nur einmal …“ mitsingen. In Spanien waren es die populären Zarzuelas, die mit Beginn des Tonfilms adaptiert wurden.11 Doña Francisquita, die Tonfilm­zarzuela mit spanischer Musik, einer spanischen Liebesgeschichte im Ma­drider Setting (von Guillermo Fernández Shaw) und spanischen Schauspieler*innen, ist im dramaturgischen Aufbau eine Tonfilmoperette, die mit großartigen Kostümen und Sing- und Tanzstücken ausgestattet wurde. Der Produzent David Oliver rechnete nicht ohne Grund mit einem nationalen und globalen spanischsprachigen Filmmarkt.12 Doña Francisquita wurde der Einstieg der deutschen Filmexilant*innen in die sich gerade entwickelnde spanische Filmindustrie. Die ausgelassene Stimmung des Films profitiert von den drei starken Frauencharakteren, die ihre Wünsche und Sehnsüchte in einer modernen Art mitteilen. Dies verdankt das Drehbuch sicherlich auch dem Einfluss Hans Jacobys. Die optimistische Einstellung David Olivers und der Ibérica Films setzte auf eine erblühende spanische Filmwirtschaft und zunächst sichere Arbeitsverhältnisse, die aber schon 1935 vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs mit dem Erstarken des 10  Vgl. R. G.-W.: Filmproduktion in Spanien. In: Mein Film 448 (1934), S. 10. 11  Vgl. Valeria Camporesi: The Tuneful 1930s. Spanish Musicals in a Global Context. In: Elena Oliete-Aldea / Beatriz Oria / Juan A. Tarancón (Hrsg.): Global Genres, Local Films. The Transnational Dimension of Spanish Cinema. New York: Bloomsbury 2017, S. 19–30, hier S. 22. 12  R. G.-W.: Filmproduktion in Spanien, S. 10.

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Falangismus gefährdet wurden. Schon in dem von Franz Spielhagen (alias Otto Katz) im Exil herausgebrachten Buch Spione und Verschwörer in Spanien, das 1936 in Willi Münzenbergs Exilverlag Editions du Carrefour veröffentlicht wurde,13 werden die Machenschaften der NSDAP in Spanien aufgedeckt. Das Jewish Central Information Office schreibt in einem Bericht über die illegale Arbeit der NSDAP in Spanien: Chur, 10. Dezember 1936. […] Von besonderem Interesse ist, wie im getarnten Zustand in Spanien gearbeitet wurde. […] Den Zolldirektoren und oberen Beamten wurden Gratiskarten zu Luftfahrt Madrid-­ Barcelona etc. verabfolgt, während untere Zollorgane sowie Polizisten mit ‚Weihnachtsgratifikationen‘ und Geschenken anderer Art bedacht wurden. Um bei der spanischen Presse Einfluss zu erreichen, wurde in jeder Ortsgruppe der NSDAP ein Pressewart ernannt, dessen Aufgabe in einem Rundschreiben u. a., wie folgt, umschrieben wird: ‚a) Überwachung der örtlichen Presse und regelmässige Einsendung der über Deutschland handelnden Artikel … b) Fühlungnahme mit Zeitungsdirektoren und Redaktoren, unabhängig von der politischen Einstellung derselben, um zu erreichen, dass diese sich enthalten, antideutsche Artikel zu bringen, zweitens zur Verfügung gestellte Artikel veröffentlichen, wobei selbstverständlich die politische Einstellung der Zeitung zu berücksichtigen ist.‘14

Die Einflussnahme der deutschen Pressewarte auf spanische Zeitungen wird in dem Bericht detailliert ausgeführt. Barcelona wird 1936 zum Versammlungsort der republikanischen Kämpfer*innen im spanischen Bürgerkrieg. Doña Francisquitas deutschsprachige Crew findet verschiedene Fluchtwege 13  Eine digitale Fassung des Exilbuchs findet man unter: https://www. muenzenbergforum.de/tag/franz-spielhagen/ (Zugriff am 07.07.2021). 14  Various Reports from the Jewish Central Information Office. Illegale Arbeit der NSDAP in Spanien, 10.12.1936. Wiener Library Publications, 067-WL-1626, German, Wiener Library, 67.

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aus Spanien hinaus: Weinschenk nach Argentinien, Oliver nach England, Gärtner wird erst des Landes nach Portugal verwiesen und kehrt zum Ende des Bürgerkriegs in das franquistische Spanien zurück, wo er als Enrique Guerner erfolgreich Filme dreht. Allein der Regisseur Hans Behrendt reist 1936 zurück nach Österreich, flieht 1938 nach dem ,Anschluss‘ nach Belgien, wo er 1940 verhaftet und in Frankreich interniert wird. Im Jahr 1942 wird er im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.15 Doña Francisquita wurde 2019 von der FilmoTeca in Madrid restauriert und eine digitale Fassung erstellt. Der Film gilt heute als Teil des spanischen und des deutschen Filmerbes. Das CCC-Studio in Spandau Johannes Praetorius-Rhein Die steile Karriere von Artur Brauner als einem der kommer­ziell erfolgreichsten deutschen Produzenten in den 1950er Jahren verdankt sich unter anderem auch zwei wegweisenden Entscheidungen Ende der 1940er Jahre: Als sogenannte Displaced Person entschied sich Brauner, nicht wie einmal geplant weiter in die USA oder nach Israel auszuwandern, sondern in Berlin zu bleiben – zu einem Zeitpunkt, da die Stadt durch die sowjetische Blockade isoliert wurde und große Teile der Branche fluchtartig nach München abwanderten. Und 1949 besetzte er den Standort dann endgültig mit der gewagt antizyklischen Investition in die eigenen Ateliers im Spandauer Bezirk Haselhorst. Während er damit einen der teuersten Posten in der Kalkulation seiner eigenen Produktionen schlagartig reduzierte, kam, wer immer künftig in Westberlin drehen wollte, an Brauner kaum mehr vorbei.

15  Kay Weniger: „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben …“. Lexikon der aus Deutschland und Österreich emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Hamburg: Acabus 2011, S. 90–91.

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Die Errichtung der CCC-Studios auf dem günstig verpachteten Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik, das bis 1945 von einer reichseigenen Versuchsanstalt für chemische Kampfstoffe genutzt wurde, taugt dabei als Sinnbild für das westdeutsche Nachkriegskino. Brauner war dabei kaum bemüht, die Geschichte des Ortes zu verbergen, und lieferte der Presse eine Steilvorlage für ihre Schlagzeilen: „Giftfabrik wird Traumfabrik“16, „Filme statt Granaten“17 oder „Munitionsfabrik wird Filmatelier“18. Die besondere Erwähnung der Versuche mit und der Produktion von Giftgas – die einige Artikel auch vermieden – eröffnete einen Assoziations­raum, in dem, wenn nicht der organisierte Massenmord, so mindestens ein verbrecherisch geführter Krieg unvermeidlich in Erinnerung gerufen wurde. Brauners Entscheidung für diesen Standort lässt sich dabei unabhängig von ihrer ökonomischen Rationalität als bewusste Einschreibung in eine bundesdeutsche Erzählung von Aufschwung und Neuanfang wie auch als deren Beschädigung deuten: Indem die zugrundeliegende Verleugnung demonstrativ durchgeführt und mitgemacht wird, wird sie auch aufgedeckt und außer Kraft gesetzt.19

16  Giftfabrik wird Traumfabrik. In: Die Neue Zeitung, 01.03.1950, o. P., Presseausschnittsammlung, Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main, Artur-Brauner-Archiv. 17  Filme statt Granaten. In: Der Sozialdemokrat, 02.03.1950, o. P., Presseausschnittsammlung, Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main, Artur-Brauner-Archiv. 18  Munitionsfabrik wird Filmatelier. In: Die Neue Zeitung, 10.11.1949, o. P., Presseausschnittsammlung, Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main, Artur-Brauner-Archiv. 19  Einige Jahre später deutete sich die Wiederholung einer solchen ostentativen Umwidmung an, als nämlich Pläne der CCC bekannt wurden, ein zweites Atelier in München aufzubauen, das auf dem Gelände der ehemaligen SS-Hauptreitschule entstehen sollte. Vgl. Filmhochschule oder Hochschule des Turniersports. In: Lüneburger Landeszeitung, 26.01.1958, o. P., Presse­ ausschnittsammlung Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main, Artur-Brauner-Archiv.

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Das Sinnbildhafte der zur Filmschmiede umgewidmeten Waffenfabrik lässt sich dabei noch steigern, wenn als gefälliger Kontrast daran erinnert wird, dass in Spandau auch das Kriegsverbrechergefängnis lag, in dem unter anderem Rudolf Hess, Baldur von Schirach und Albert Speer inhaftiert waren. Der israelische Historiker und Schriftsteller Michael Bar-Zohar berichtet in seiner 1968 veröffentlichten Pionierarbeit über die jüdischen Rächer Les Vengeurs auf Basis von Interviews auch über ein ‚letztes Kommando‘, das 1949 von Tel Aviv nach München geflogen und von dort nach Berlin gereist sei, um einen Anschlag auf die Insassen des Spandauer Kriegsverbrechergefängnisses auszuüben. Die Israelis werden über jüdische Netzwerke in Berlin versorgt – und haben darüber angeblich gezielt den Kontakt zu Artur Brauner gesucht. Der selbst völlig ahnungslose Brauner habe in seinem Atelier Räume zur Verfügung gestellt, die dem Kommando als Beobachtungsposten gedient haben sollen. Der Spiegel greift die Anekdote in der Besprechung des französischen Buchs auf: Von den Fenstern des Berliner Filmproduzenten Artur Brauner aus erkundete das Trio wochenlang das Wachsystem im alliierten Kriegsverbrechergefängnis. Doch die israelische Regierung wollte nichts mehr von privaten Vergeltungsaktionen wissen. Sie verbot das Unternehmen und rief die drei Offiziere kraft militärischer Disziplinar­ gewalt in die Heimat zurück.20

Die Vorstellung, dass nicht nur – wie in Tarantinos Inglourious Basterds (US/D 2009) – das Kino den Ort für eine imaginäre jüdischen Rache gedient hat, sondern dass Brauners Filmstudio auch von einem realen Kommando als Tarnung genutzt wurde, gefällt mir ausgesprochen gut. Sie kann aber, so wie darüber berichtet wurde, unmöglich stimmen. In Sichtweite der Studios 20  Räche Dein Volk. In: Der Spiegel, 52/1968, S. 109–110, hier S. 110.

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liegt nämlich nicht das bis zu seinem Abriss für die in Nürnberg verurteilten Kriegsverbrecher reservierte Spandauer Festungs­ gefängnis, das tatsächlich knapp 5 km entfernt in der Wilhelmsstraße stand, sondern lediglich die Zitadelle von Spandau – die allerdings gelegentlich mit dem Gefängnis verwechselt wird. Brauner selbst hat die Geschichte immer bestritten.21 Trebitschs Mahnmal Julia Schumacher „Das erste Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Nordeuropa steht in […] Itzehoe“, behauptet ein Eintrag auf der Website der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte; als „treibende Kraft“ zur Umsetzung wird der Film- und Fernsehproduzent Gyula Trebitsch genannt.22 Trebitsch (1914–2005) zählt zu den ‚Gründerfiguren‘ der bundesrepublikanischen Medienindustrie. Zusammen mit Walter Koppel baute er 1947 als Verantwortlicher für Produktionsleitung die Real-Film in Hamburg auf. 1959 zog er sich aus der Firma zurück und richtete seinen Atelierbetrieb auf das ‚neue Medium‘ Fernsehen aus; 1961 ging daraus Studio Hamburg hervor. Mit diesem Unternehmen ist der Name ‚Trebitsch‘ bis heute verknüpft. Die Geschichte des Itzehoer Mahnmals gehört indessen zu den entscheidenden Bezugspunkten eines ‚Subplots‘ innerhalb seiner biografischen Erzählung: Vor allem durch das öffentliche Auftreten in Kontexten wie diesen ist der gebürtige Ungar nämlich

21  Vgl. dazu auch die widersprüchlichen Erinnerungen der Kommando-­ Mitglieder und die Erklärung der CCC in Jim G. Tobias / Peter Zinke: Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern. Hamburg: Konkret 2000, S. 95–96. 22  Michael Legband: Mahnmal Itzehoe. In: Gesellschaft für Schleswig-­ Holsteinische Geschichte, o. D. https://geschichte-s-h.de/sh-von-a-bis-z/m/ mahnmal-itzehoe/ (Zugriff am 28.05.2022).

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als Überlebender der Shoah und mithin als jüdischer Akteur der (west-)deutschen Film- und Fernsehgeschichte bekannt.23 Seit etwa Mitte der 1980er Jahre, als in der Bundesrepublik der sogenannte Erinnerungsboom einsetzte, hatte Trebitsch über seine Verfolgungserfahrung Auskunft gegeben. Sie reichte von Einsätzen im ,jüdischen Arbeitsdienst‘ an der Ostfront und Bor in Serbien über die Deportation in das KZ-Sachsenhausen zu weiteren Internierungen in Außenlagern von Ravensbrück und Neuengamme. Dieses letztgenannte Lager in Wöbbelin bei Ludwigslust wurde am 2. Mai 1945 durch US-amerikanische Truppen befreit.24 In einem Sanitätstransport kam Trebitsch in ein Krankenhaus nach Itzehoe. Nach der Entlassung am 20. November 1945 blieb er zunächst in der Stadt. Bis 1947 führte er dort den Betrieb der Kinos Burgtheater und Lichtspielhaus, deren Besitzer Kuno Lau auf Grund seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft von der britischen Militärregierung keine Betriebslizenz erhalten hatte.25 Im Unterschied zu Akteur*innen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund, etwa dem Berliner Filmproduzenten Artur Brauner, gibt es kaum Hinweise, dass Trebitsch sein Geschäftsfeld als Ort der Erinnerungspolitik betrachtet hätte. Weder scheint er das Kino überhaupt als geeignetes Medium einer kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufgefasst zu haben, noch lässt sich der umfangreichen Liste der Spielfilme und TV-Sendungen, die unter seiner Leitung durch Studio Hamburg produziert wurden, eine Programmatik entnehmen, die einen Themenschwerpunkt auf NS-Vergangenheit und Shoah erkennen lässt. Jenseits 23  Vgl. Julia Schumacher: Ein ‚Hamburger Kopf ‘ mit jüdischem Subplot. Biografische Texte über Gyula Trebitsch – eine methodische Anregung. In: ffk Journal 7 (2022), S. 151–167. 24  Vgl. Gyula Trebitsch. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, o. D. http:// www.neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/bios/ha7_2_ bio_2319.pdf, S. 8 (Zugriff am 28.05.2022). 25  Vgl. Heinz Kaufholz: Wechselvolle Kinogeschichte in Itzehoe. BurgTheater und Lichtschauspielhaus. In: Hamburger Flimmern 19 (2013), S. 52–54.

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des Filmbusiness aber zeigte er sich für die Gedenkkultur sehr engagiert. Nach den Beiträgen des Journalisten Michael Legband gilt dies insbesondere für das Mahnmal in Itzehoe. Der aus Itzehoe stammende Legband hat das Bauwerk bekannt gemacht. Seine Publikationen, zu denen unter anderem eine Monografie zählt, die 1996 als Grundlage für einen Dokumentar­ film diente,26 interpretieren das Mahnmal als einen realen wie symbolischen Ort, an dem sich die Geschichte der (west-)deutschen Erinnerungskultur verdichtet. Trebitsch tritt hier als Initiator in Erscheinung, der aus persönlichem Interesse wie als Funktions­ träger agierte. Wie aus Legbands Recherchen hervorgeht, war Trebitsch ab 1945 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Itzehoe sowie Delegierter für den Kongress der befreiten Juden in der britischen Zone, 1947 wurde er Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), als deren Repräsentant er zu offiziellen Anlässen auftrat.27 Als Architekt des Mahnmals zeichnet Fritz Höger verantwortlich, ein Vertreter des norddeutschen Backsteinexpressionismus, dessen Gebäude in dunklem Klinker heute noch das Bild der Innenstadt von Hamburg prägen. Dass Höger seit 1932 Mitglied der NSDAP gewesen war, schien Trebitsch offenbar kein Hinderungsgrund, den damals in der Nähe von Itzehoe ansässigen Architekten für die Gestaltung eines Denkmals für die Opfer des Systems anzufragen. Am 8. September 1946 wurde es feierlich eingeweiht: eine schlicht anmutende Klinkersäule versehen mit Inschriften, die Ermordete ehren und an Werte der Demokratie erinnern, umzäunt von schmiedeeisernen Gitterstäben. Sein Standort war ein Verkehrsknotenpunkt, so ausgewählt, dass der 26  Vgl. Michael Legband: Das Mahnmal. Erbaut, verdrängt, wiederentdeckt. Itzehoe: Gerbers 1994; Das Mahnmal –Erbaut, verdrängt, wieder­ entdeckt (D 1996, R: Peter K. Hertling). 27  Vgl. Michael Legband: Gyula Trebitsch – Vom verfolgten Juden zum Inbegriff deutscher Kultur. In: Ders. (Hrsg.): Das Mahnmal. 75 Jahre gegen das Vergessen. Vom Umgang mit dem Nationalsozialismus in Itzehoe. Kiel: Ludwig 2022, S. 171–187, hier S. 179–180.

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Bevölkerung im Vorbeigehen die NS-Verbrechen in Erinnerung gerufen wurden. 1957 wurde das Mahnmal jedoch in einen Park am Stadtrand verlegt bzw. „versteckt“28, wie es Trebitsch ausdrückte, der erst 1989 davon erfuhr, als er eine Gedenkveranstaltung vor Ort besuchte. Auf seine Rede zu diesem Anlass folgte ein großes Echo in der Regionalpresse, das in den kommenden Jahren in den überregionalen Tageszeitungen nachhallte. Zumindest teilweise ist dies auf Trebitschs Prominenz zurückzuführen, doch er intervenierte auch direkt. Als er 1993 in dieser Sache dem Bürgervorsteher von Itzehoe schrieb, fügte er im Postskriptum sogar hinzu, dass er bereit sei, zu den Kosten der erneuten Verlegung beizutragen. „Was sind wir doch für ein reiches, armes Land, wo die Opfer der Nazityrannei selber für die Gedenkstätten aufkommen müssen“29, kommentiert Legband diesen Umstand 1994. Im darauffolgenden Jahr wurde das Mahnmal wieder an seinen ursprünglichen Standort zurückversetzt.30 Heute steht daneben eine Hinweistafel, die neben dem Foto des Architekten auch das von Gyula Trebitsch ziert. Orte im Fernsehfilm Die Bilder des Zeugen Schattmann Ulrike Schneider Der Grafiker, Maler und Schriftsteller Peter Edel (1921–1983) veröffentlichte 1969 im ostdeutschen Verlag der Nation seinen autobiografisch motivierten Roman Die Bilder des Zeugen Schattmann.31 In diesem wird die Entwicklungsgeschichte des jungen 28  Michael Legband: Das Mahnmal – die Geschichte. In: Ders. (Hrsg.): Das Mahnmal, S. 25–169, hier S. 63. 29  Legband: Das Mahnmal. Erbaut, verdrängt, wiederentdeckt, S. 95–99. 30  Vgl. Legband: Gyula Trebitsch, S. 186. 31  Der Roman avancierte zu einem Bestseller und wurde mehrfach wieder­ aufgelegt, Edel selbst erhielt mehrere Auszeichnungen für das Werk. Die Publikation des Buches in der DDR wurde durch ein breit angelegtes

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Malers Frank Schattmann erzählt, der durch die ,Nürnberger Gesetze‘ zum ,Geltungsjuden‘ erklärt und gemeinsam mit seiner jungen Frau Esther zur Zwangsarbeit gezwungen wird. Im Februar 1943 werden beide während der ,Fabrikaktion‘ verhaftet. Die Deportation in verschiedene Konzentrationslager, unter anderem Auschwitz und Mauthausen, überlebt allein Frank Schattmann. Sowohl in der Rahmenerzählung des Romans, die in den 1960er Jahren in Ostberlin angesiedelt ist, als auch in der Binnen­ erzählung, die die 1940er Jahre umfasst, spielen Orte eine zentrale Rolle. Während auf der Gegenwartsebene anhand der Beschreibung von Berliner Neubauten auf die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus verwiesen wird, werden auf der Vergangen­heitsebene unterschiedliche Innen- und Außenräume in Berlin – wie Fabriken, Wohnungen oder Straßen und Plätze – als Orte der Verfolgung markiert. Für die Verfilmung des Romans, die auf Initiative des Verlags der Nation erfolgte, der die Idee an das Fernsehen der DDR herantrug,32 wurde dieses Konzept auf der Form- und Inhaltsebene übernommen. Insbesondere durch die Verbindung von Rauminszenierung und Belichtung gelingt es auf der Vergangenheitsebene, die Situation des Ausgeliefertseins, von Angst und Ohnmacht filmisch zu illustrieren. Die Dreharbeiten für den vierteiligen Fernsehfilm33 fanden vom 10. Februar 1971 bis zum 15. Februar 1972 an unterschiedlichen Werbeprogramm des Verlags begleitet. Dieses umfasste die Veröffentlichung von Werkstattgesprächen und Interviews mit Edel sowie die Publikation von Kapitelauszügen in der Wochenzeitung Sonntag, in der FDJ-Zeitschrift Forum sowie der Tageszeitung Tribüne. Vgl. Die Bilder des Zeugen Schattmann, Werbe­maßnahmen (II) für Edel, Schattmann v. Verlag der Nationen, 15.01.1969. Akademie der Künste, Berlin, Peter-Edel-Archiv, Edel 12. 32  Vgl. Elke Schieber: Recherche zu einem Fernsehfilm. Die Bilder des Zeugen Schattmann. Potsdam: Filmmuseum Potsdam 2007, S. 6. 33  Die einzelnen Teile wurden am 23., 25., 28. und 30. Mai 1972 im Ersten Programm des Fernsehens der DDR erstausgestrahlt. Von 1975 bis 1988 folgten weitere Sendetermine im Ersten und Zweiten Programm, unter anderem

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Orten in Berlin, unter anderem auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee, in Potsdam, Teltow und Görlitz statt. Eine Besonderheit stellte die Dreherlaubnis für das Staatliche Museum Auschwitz-­ Birkenau dar, die zum ersten Mal einem deutschen Filmteam erteilt wurde und laut Elke Schieber Edels engem Kontakt zum polnischen Komitee für Widerstandskämpfer zu verdanken war;34 zudem gehörte Edel dem Internationalen Auschwitz-Komitee an. In seiner 1979 erschienenen zweibändigen Autobiografie Wenn es ans Leben geht, in der Edel neben der politischen Entwicklung zum Kommunisten die Bedeutung von Max Liebermann und Käthe Kollwitz für sein Werk hervorhebt, erinnert er die Dreharbeiten auf dem ehemaligen Lagergelände: .

Winterliche Zeit ist es noch. Auschwitz ist wieder eine gute polnische Stadt geworden – und das Lagergelände: Gedenk- und Wallfahrts­ ort, Museum und Reisestation, zu der auch Parkplätze gehören, Andenkenkioske, Verpflegungsservice und ein schlichtes, aber wohleingerichtetes Hotel, nicht sehr abstechend von den roten Ziegelsteinblöcken des Lagers selbst; Ziegelsteinhotel gleich neben dem Lagereingang, gleich neben dem Totenkopfschild HOCHSPANNUNG, LEBENSGEFAHR! […] Wir wohnen nicht in diesem Lagergasthaus, sondern im schönen Kraków, nehmen lieber die beschwer­ liche Busfahrt auf uns, als […] immer nur das schaudervolle Dort und Da sehen zu müssen […]. Außerdem stellen wir ja nur etwas dar, nämlich Auschwitz, und dazu braucht man heutzutage einen gewissen Komfort, versteht sich. […] Wir – das sind Filmleute der DEFA und

als Sendereihe für die Schule und am Gedenktag anlässlich des Novemberpogroms am 9. November 1982. Vgl. Elke Schieber: Spuren der Erinnerung. In: Barbara Eichinger / Frank Stern (Hrsg.): Film im Sozialismus – die DEFA. Wien: Mandelbaum 2009, S. 63–78, hier S. 63. 34  Vgl. ebd., S. 72; dies.: Tangenten. Holocaust und jüdisches Leben im Spiegel audiovisueller Medien der SBZ und der DDR 1946 bis 1990. Eine Dokumentation. Berlin: Bertz & Fischer 2016, S. 244–245.

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des DDR-Fernsehens […]; Künstler, die Auschwitz nicht zu erfahren brauchten. Genug, daß jemand, der es genau kennt, der Autor eines Romans, […] daß also auch ich zum Filmteam zähle.35

Die Überlappung von Gegenwart und Vergangenheit an dem Ort Auschwitz wird von Edel kritisch beobachtet, genauso wie die Verschiebungen, die damit einhergehen und das Gelände zu einem Erinnerungs- und Gedenkort werden lassen, der jedoch nur bedingt ein Erinnern und Gedenken gewährleisten kann. Seine Beobachtung des Umgangs mit dem ehemaligen Lager­gelände und die Problematisierung von filmischen Darstellungen desselben verweisen auf wiederkehrende Befragungen des historischen Ortes und der ihm zugeschriebenen ‚Authentizität‘, die nicht bestehen kann.36 Die Verflechtung der im Roman akzentuierten Ebenen von Vergangenheit und Gegenwart wurde für die Verfilmung umgearbeitet: Die Zeugenaussage von Frank Schattmann während des Globke-Prozesses im Juli 1963 in den ersten beiden Teilen der Fernsehserie dient im Unterschied zum Buch stärker als Rahmen­ erzählung, über die die Rückblenden in die Jahre 1942 bis 1945 erfolgen. Im vierten Teil beherrscht hingegen die Gegenwarts­ ebene die Handlung, in der die Buchkapitel „Zeichen“ und „Zeiten“ zusammengeführt werden und die Reise von Schattmann zu der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Mittelpunkt steht. Der erste Teil des Fernsehfilms – „Der Freitagabend“ – widmet sich zum größten Teil der Schilderung der unterschiedlichen Formen der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland.37 35  Peter Edel: Wenn es ans Leben geht, Bd. 1. Berlin: Verlag der Nation 1979, S. 386–387. 36  Vgl. zu dieser Problematik auch Peter Weiss: Meine Ortschaft. In: Klaus Wagenbach (Hrsg.): Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren. Berlin: Wagenbach 1965, S. 31–43; Ruth Klüger: Weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992. 37  Vgl. Schieber: Spuren, S. 69.

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Durch Rückblenden, die den Analepsen im Buchkapitel entsprechen, wird auf das vergangene Leben, die allgegenwärtige Verfolgungssituation, das Ausgeliefertsein und den permanenten Angstzustand verwiesen. Neben den räumlichen Innendarstellungen kommt den Außendarstellungen eine wichtige Funktion zu. So wird über einen langen Fußmarsch, den Frank und Esther Schattmann quer durch Berlin zurücklegen müssen, um einen letzten gemeinsamen Schabbatabend mit dem Onkel Bernhard Marcus verbringen zu können, die Ausgrenzungssituation beider geschildert, da sie keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen dürfen. Die Einblendung eines Fabriktores der Siemens-Werke deutet auf die Zwangsarbeit hin, zu der beide gezwungen sind. Am Beispiel der Figuren Jakob Dankowitz und Elias Leiser Lernman werden unsichere Orte des Untertauchens gezeigt, wie der Jüdische Friedhof Weißensee, auf dem der Pianist Jakob Dankowitz sich eine kurze Zeit versteckt hält. Anhand der Ortsbezüge, die für das ostdeutsche Fernsehpublikum einen Wiedererkennungswert haben – in den Filmeinstellungen ist unter anderem die Museumsinsel zu sehen –, wird sehr prägnant erzählt, dass die Diskriminierung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung sichtbarer Bestandteil des nationalsozialistischen Alltags war und innerhalb des bekannten Stadtraums stattgefunden hat. Der vierte und letzte Teil der Fernsehserie – „Die Vorladung“ – schließt in besonderer Weise an den ersten Teil an. Im Unterschied zum Buchkapitel setzt die Rückkehr von Frank Schattmann an den historischen Ort auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und nicht auf dem Gelände des Stammlagers ein. Lange Kamerafahrten, die an Alain Resnais’ Dokumentarfilm Nacht und Nebel (F 1956) erinnern, zeigen das Lagergelände mit den Gleisen zur Rampe, den Überresten der Baracken, den gesprengten Krematorien, den Grasnarben – Bilder, die zur heutigen filmischen Ikonografie des Holocaust zählen. Die erste Erinnerung Schattmanns gilt den jüdischen Ermordeten aus seiner Familie und dem Freundeskreis, insbesondere seiner Frau 97

Esther. Er erinnert an den steinernen Überresten eines gesprengten Krematoriums nicht allein ihre Namen, indem er diese laut ausspricht, sondern auch sie selbst als Individuen, da er den Namen Attribute oder bestimmte Redeweisen hinzufügt. Diese filmische Erinnerungssequenz gilt hier ausschließlich den Opfern, die als Juden und Jüdinnen verfolgt und ermordet wurden. Erst in den anschließenden Sequenzen, die in die Gebäude des ehemaligen Stammlagers führen und mit denen auf den bereits angesprochenen Umgang mit dem historischen Ort als Gedenkort hingewiesen wird, folgt die Erinnerung an die kommunistischen Mithäftlinge, die ihm das Leben gerettet haben. Allein durch die Reihenfolge der Filmszenen wird eine Form des Gedenkens hergestellt, bei dem der Massenmord an den europäischen Juden den kommunistischen Opfern nicht nachgeordnet ist. Die Erinnerung an diesen steht vielmehr gleichberechtigt neben der Erinnerung an die politischen Häftlinge, was innerhalb der antifaschistischen Geschichtsschreibung der DDR durchaus als Nuancierung verstanden werden kann. Trotz der ideologischen Ausrichtung des Films, die sowohl auf der Gegenwarts- als auch der Vergangenheitsebene deutlich hervortritt, überrascht dieser dennoch hinsichtlich der komplexen Schilderung der jüdischen Verfolgungssituationen. Es sind neben dem Einsatz der filmischen Mittel und der gewählten Orte vor allem Details, mit denen die offizielle ostdeutsche Geschichtsschreibung zumindest partiell durchbrochen wird. So werden historische Ereignisse aufgegriffen, die zum Teil erst seit den 1990er Jahren eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren haben, wie die Thematisierung des Frauenprotests in der Rosenstraße im Februar 1943.

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Patagonien und die Filme von Narcisa Hirsch Claudia Sandberg Ein einsamer Skifahrer fährt einen schmalen Weg entlang der Kamera entgegen. Schnee knirscht unter seinen Skiern, der Wind pfeift. In einem Raum mit knisterndem Feuer nimmt die Fotolinse die Perspektive eines Mädchens ein, das gebannt in die Tiefe des winterlichen Panoramas schaut. Wie dieses Szenario aus dem Experimentalfilm Rumi (ARG 1999) ist die raue Landschaft im Süden Argentiniens ein elementarer Bestandteil der Filme von Narcisa Hirsch, denn sie bietet einen Schlüssel zu den Befindlichkeiten der Künstlerin. Bilder des weiblichen Körpers verbunden mit der Morphologie dieser Region reflektieren deutsch-argentinische Geschichte als persönlich-affektive Erfahrung. Die Malerin, Filmemacherin und Autorin wurde im Jahre 1928 in Berlin geboren, ist aber hierzulande wenig bekannt. Einer Handels­familie entstammend, deren deutsch-argentinische Verbindungen bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, und Tochter des Malers Heinrich Heuser, verbrachte sie Jahre ihrer Kindheit in Österreich. 1939 reiste Hirsch mit ihrer argentinisch-­stämmigen Mutter nach Argentinien und musste sich dort aufgrund des beginnenden Zweiten Weltkrieges länger aufhalten als geplant. Aus einem Besuch wurde ein ganzes Leben. Jahre später heiratete sie den aus Frankfurt stammenden jüdischen Industriellen und Philanthropen Paul Hirsch. Die Mutter dreier Söhne und Künstlerin der Boheme veranstaltete in den 1960er und 1970er Jahren mehrere Happenings. Zusammen mit Marie Louise Alemann und Walter Mejía verschenkte sie in Buenos Aires Äpfel an vorübergehende Passant*innen (Manzanas, 1968). Viel Aufmerksamkeit erregte La Marabunta (1967), das Skelett einer Frau, in deren Inneren die Aktionskünstler*innen Tauben und Papageien versteckten und mit Früchten und belegten Broten bedeckten. Es wurde anlässlich der Premiere von Michelangelo Antonionis Blow-Up (GB/I 1966) im Theater El Coliseo von den Zuschauer*innen bis auf die Knochen ,abgegessen‘. 99

Das Filmen diente zunächst als Dokumentation der improvisierten Ereignisse, bevor Hirsch es als eigene Ausdrucksform für sich entdeckte, so wie zur gleichen Zeit in Nordamerika Multimedia­ künstler wie Andy Warhol und Michael Snow begannen, mit dem Medium zu arbeiten. Auf 16-mm- und Super-8-­Schmalfilm entstand eine Vielzahl experimenteller Arbeiten wie Come Out (ARG 1971), Homecoming (ARG 1978) oder Ama-zona (ARG 1983), die auch von den Einflüssen Salvador Dalís, Luis Buñuels und Dziga Vertovs zeugen. Die poetischen Montagen beschäftigen sich mit Körperlichkeit, Sexualität und Religion und porträtieren Hirsch vor und hinter der Kamera; es kommen Alltagsgegenstände, Tiere und religiöse Symbole, private Umgebungen und bergige Landschaften im Süden Argentiniens vor. Ihre Fotos und Videos bilden ein Archiv der Beobachtungen und Erfahrungen dieser Jahre, in der die rauschende, grobkörnige Qualität des Kodachrome-Materials ein Stilmittel und zeitlicher Marker wurde. Hirsch schneidet die Filmstreifen immer wieder anders zusammen und schafft so flexible Beziehungen zwischen ihren eigenen Erinnerungen und Emotionen. Ihre Installationen erscheinen als Formulierung und Umformulierung eines ästhetischen Widerstandes gegen soziale Konventionen und demonstrieren weibliche Selbstbestimmung immer wieder neu. So wie Hirschs Happenings zeitgemäß politisch-provokative Kunst darstellen, kann man auch den intimer wirkenden Experimentalfilmen sozialkritische Kommentare entnehmen, die mithilfe von Räumlichkeiten und Settings artikuliert werden. Der zehnminütige Taller (ARG 1975) etwa besteht aus einer einzigen Einstellung: Die Kamera ist auf eine Fotocollage in einem Zimmer gerichtet, die unter anderem aus Bildern von einem Bett an einem Fenster, einem Fluss in Bariloche und Hirsch in einer Zinkwanne im Garten besteht. Dies mag, wie einige Kritiker*innen finden, die repressiven Zustände Argentiniens in den siebziger Jahren darstellen, als jegliche nichtkonformen Tätigkeiten und Wünsche in den privaten Bereich verbannt wurden. 100  



Hirsch ist zwar im urbanen Buenos Aires zu Hause, verbringt aber einen Großteil ihrer Zeit in Bariloche, einer Stadt in Patagonien am Fuße der Anden, in der auch ihre Kinder aufgewachsen sind. Von Anfang an war ihr Wirken vom Wunsch nach einem zwanglosen, unbeschwerten Dasein geprägt. Die Faszination für dieses unzähmbare Territorium am Ende der Welt mit eisigen Gletscherseen, ewigem Wind und dornigen Büschen ist Thema von Centolla (ARG 1976), Patagonia 2 (ARG 1976) und A-Dios (ARG 1989). In all ihren Filmen erscheinen Panorama­ einstellungen von Tälern und schneebedeckten Bergen, Sandwüsten und Seen. Die Landschaftsbilder werden zu einem Kindheitsparadies und -trauma, wenn in den Collagen vergilbte Fotos auftauchen, die ein blondes Kind auf Skiern zeigen. Das Bukolische, Raue und Weite am Rande der Zivilisation erscheint dann als Austausch und Nebeneinander einer argentinischen und europäischen Geografie, markiert eine Biografie, die sich am Rande beider Welten abspielt. Das Terrain an der Südspitze Südamerikas erhält über die Jahrzehnte eine komplexe transkulturelle Dimension: El mito de Narciso (ARG 2011) ist eine umfassende Kuration des Œuvres der zu diesem Zeitpunkt 83-jährigen Künstlerin, in dem erfahrenes Leben, Lebenswege und -orte zu einer Lesemöglichkeit der deutsch-argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verdichtet werden. Mithilfe von digital restaurierten Materialien findet ein Dialog mit einem jüngeren und abstrakten Ich statt. El mito de Narciso ist ein Selbstporträt, in dem sich private Lebensgeschichte und Weltgeschichte miteinander verschränken. Eine Schlüsselsequenz dieser Autobiografie beschäftigt sich mit Hirschs Herkunftsland Deutschland und behandelt den Völkermord an den Jüdinnen und Juden und seine Folgen in affektiver Form. Themen wie Tod und Exil werden neben (heimliche) Lieben und Passionen gestellt und in einem imaginären Patagonien verortet. In schneller Abfolge erscheinen Bilder von Gletschern, Schneeschuhen, einem Reiter, weitem Himmel, Fotos 101

der patagonischen Landschaft ,eingesperrt‘ in privaten Räumen (Taller), Narcisa und ihr Vater, ein Reh im Schnee, ein einsames Haus. Wieder erscheint der Skifahrer aus Rumi, verfolgt von dem Mädchen, das ins verschneite Tal sieht, der Körper eines ausblutenden Schafs, seitenlange Liebesbriefe, eine von Fingern geöffnete Rosenblüte als hocherotische Liebeserklärung. Es werden Gespräche mit ihrem Mann Paul eingespielt, der über seinen verlorenen Glauben an einen gerechten Gott sinniert. Hirsch wandert durch das steinerne Labyrinth des Holocaust-Mahnmals in Berlin, gefolgt von einem Ausschnitt aus Triumph des Willens (D 1936, R: Leni Riefenstahl) und Hitler – Ein Film aus Deutschland (D/GB/F 1977, R: Hans-Jürgen Syberberg) und untermalt von der Stimme Syberbergs. Die Fotos und Bilder der Natur, der Landschaft und des Klimas verwandeln Patagonien in eine fragwürdige und zufällige Heimat, Ort der Flucht und Heilung, projizieren nostalgische Sehnsucht nach einem unbekannten, nicht gelebten Leben. Und dann werden alle Zweifel weggewischt: Wenn die junge Narcisa fröhlich und mit wehendem Haar in einer Ebene durch Sand der Kamera entgegenläuft, dann ist dies eine Bestätigung, dass sie in diesen Landstrich und in dieses Leben gehört. Hirschs Erfahrungen und Reflektionen mischen den Korpus von Exilgeschichte, -kunst und -kultur neu auf. Dabei wurden erst in den letzten Jahren Hirschs Filme auch international besprochen und in Retrospektiven auf Festivals gezeigt. Man kann hoffen, dass das umfangreiche Werk dieser Künstlerin, das durchaus als ein deutsch-jüdisch-argentinisches Avantgardekino bezeichnet werden kann, mehr Raum in der Erforschung der künstlerischen Verbindungen von Deutschland und Lateinamerika einnehmen wird.

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Persien und das Schtetl – Phantasmen in der israelischen Landschaft in Megillah 83 Naomi Rolef 1983 stellte die israelische Produktionsfirma Telefilm im Auftrag des ZDF einen eigenartigen Film her – ein üppiges Purimspielmusical, das jiddische Lieder mit Dialogen auf Deutsch beziehungsweise Englisch zusammenführt. Auf Deutsch hieß er Die fröhlichen Schneider, sein internationaler Vertriebsname war Megillah 83. Es war der dritte und letzte ,Yiddishkeits‘-­ Film, den der Regisseur und Produzent Ilan Eldad für das ZDF realisierte. Das Drehbuch schrieb sein Koproduzent Tommy Lang. Im Film findet eine Maskerade statt, in der sich nicht nur die Schauspieler*innen verkleiden, sondern auch der israelische Dreh­ ort, der im Film sowohl für den persischen Orient als auch für den europäischen Okzident steht. Megillah 83 dreht sich um das jüdische Fest Purim. Nach dem Brauch wird an Purim in der Synagoge das Buch Esther gelesen, in dem von einer Jüdin erzählt wird, die den persischen König Achaschwerosch heiratet. Achaschweroschs böser Minister Haman hegt einen Plan zur Vernichtung der Juden im gesamten Königreich, doch Esther und ihr Onkel Mordechei können dies verhindern. In der europäischen Tradition wurden folkloristische Variationen dieser Geschichte im Purimspiel aufgeführt. Die Vorlage des Films ist aber kein klassisches Purimspiel, sondern der 1936 von dem jiddischen Dichter Itzik Manger veröffentliche Gedichtzyklus megile lider und das darauf basierende erfolgreiche israelische Musical von 1965. Mangers Gedichte griffen die Purimspieltradition auf, variierten diese aber auf moderne und ironische Weise. Ein wichtiger Bestandteil von Mangers Poesie und Humor entstand daraus, dass er die mythische Welt und ihre Überlieferung in den religiösen Schriften auf eine subversive und parodierende Art mit dem zeitgenössischen Alltag in den osteuropäischen jüdischen Gemeinden 103

vermengte.38 Als sein Werk in den 1960er Jahren auf die israelischen Bühnen gebracht wurde, war die Welt, in der es entstanden war, zu großen Teilen zerstört und unverkennbar verändert. Das ursprüngliche Zusammenspiel zwischen Schriften und Realität wandelte sich in eine Interaktion zweier unerreichbarer Welten: das magische Persien aus dem Buch Esther und das verlorene osteuropäische Schtetl. Der Verlust des Ursprungsorts von Mangers Liedern macht sich auch in der Sprache bemerkbar. Er war ein jiddischer Dichter, der in den 1930er Jahren ein europäisches Publikum adressierte, das binnen weniger Jahre durch Vernichtung und Migration verschwand. Im neu gegründeten Staat Israel hatte die jiddische Sprache zwar keinen Tabustatus wie die deutsche, nichtsdestotrotz wurde sie als eine dominante Migrantensprache Ziel beschränkender Maßnahmen der Behörden, die für die Etablierung des Hebräischen als Staatssprache kämpften. Dennoch hatte traditio­ nelles jiddisches Theater in den 1960er Jahren ein kleines, aber treues Publikum. Dieses war jedoch nicht die Zielgruppe des 1965 in Jaffa uraufgeführten Musicals, in dem Mangers jiddische Lieder mit hebräischen Rezitativen verbunden wurden. Vielmehr verkörperten die Theaterbesitzer die ,neuen Israelis‘ und präsentierten das Stück einem breiten Publikum als Zeichen der Versöhnung mit der verschwundenen Diaspora.39 Doch war eine Restauration des Jiddischen keine reale Möglichkeit. Letztlich blieb es nur in ultraorthodoxen Kreisen eine Alltagssprache. Daher ist die Verwendung dieser Sprache in einem modernen Film der 1980er Jahre weder in Israel noch in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Seitens des ZDF wurde die Übersetzung des Stücks 38  Vgl. Efrat Gal-Ed: Nachwort. In: Itzik Manger: Dunkelgold. Gedichte, aus d. Jidd. v. Efrat Gal-Ed. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 345–364, hier S. 362. 39  Vgl. Gershon Elimor: ‫נוסח פורים שפיל‬-‫[ שירי המגילה של איציק מאנגר‬Die Megila Lieder von Itzig Manger als ein Purimspiel]. In: Davar, 21.07.1965, S. 11.

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ins Deutsche angefordert. Die Produzenten bestanden aber auf der Originalsprache.40 Bis zur Fertigstellung des Films änderte sich die Haltung der Rundfunkanstalt, sodass der jiddischen Kultur ein ganzes Programm gewidmet wurde, mit historischen Spielsowie gegenwärtigen Dokumentarfilmen.41 Ilans frühere ,Yiddischkeits‘-Produktionen für das ZDF, Shabbat Hamalka (1966) und Dybbuk (1968), handelten ebenfalls von der Welt der Schtetl. In den beiden Studioproduktionen wurde das Schtetl als ein in sich geschlossener, ätherischer und nahirrealer Raum dargestellt. Die Entscheidung, bei Megillah 83 aus dem Fernsehstudio herauszutreten, markierte dagegen eine Abwendung von der Theaterästhetik, die den Handlungsraum vom Hier-und-Jetzt abschirmt. Ursprünglich sollten die Dreh­ arbeiten im Juni 1982 in Rumänien stattfinden, in der Geburtsregion von Manger. Der Ausbruch des Libanonkriegs stellte dann aber eine unüberwindbare politische Hürde für diese Zusammenarbeit dar. Daher wurden die Dreharbeiten in kürzester Zeit nach Israel verlegt. Sowohl das biblische Persien als auch das Schtetl sollten nun in der gegenwärtigen israelischen Landschaft bebildert werden, was auch den Produktionscharakter änderte. Statt eine Tiefe aufzusuchen, wurden nun die Oberflächen betont und verspielt.42 Mangels des originalen Schauplatzes wurde die Landschaft zur Kulisse. So vermittelt der Film seinen Zuschauer*innen nicht einen Ort, sondern die Idee eines Ortes. In dem Film wird in einem Schtetl, das nur von Schneidern bewohnt ist, ein Purimspiel gestaltet. Die Schneider erzählen, singen, kommentieren und bespielen die Geschichte. Persien entsteht in diesen Erzählungen als ein magisches Land, als bunter Pastiche aus mehreren Epochen und Kunstrichtungen. Die Szenen enthalten viele Bezüge auf Werke der bildenden Kunst. Figuren aus dem 40  Interview mit Tommy Lang, 10.07.2021, Interviewerin Naomi Rolef. 41  Jiddischer Film. In: Der Spielfilm im ZDF 1 (1983), S. 15–23; Filmforum. In: Ebd., 57–59. 42  Vgl. Interview mit Tommy Lang.

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Repertoire der Stumm- und Märchenfilme bevölkern den Raum. Neue technische Geräte werden integriert: Der König setzt sich auf einen Heimtrainer, Haman trägt einen Akkubohrer, als ob er eine Pistole wäre, und auch audiovisuelle Aufnahmegeräte kommen ins Bild. Die Vorstellungskraft der Erzählgemeinde wird auf eine humoristische Weise durch die Schneiderscheren angedeutet, die als Staatswappen, Guillotine und für andere offizielle Angelegenheiten dienen. Der Ort des Erzählens, das Schtetl, ist dezenter und zunächst scheinbar ,realistischer‘ inszeniert. Am Anfang des Films steht Fastrigossa, der Haupterzähler, in einer grünen Landschaft und hält einen Pferdewagen an, der ihn zum Schtetl bringt, das sogar benannt wird – Kolomiya.43 Auf der Straße kümmern sich Schtetl­ bewohner*innen in historischen Gewändern um ihre Geschäfte. Zuerst ist auch die Umwandlung des Schtetls realistisch begründet, denn anlässlich des Festes wird die Straße dekoriert und die Dorfbewohner*innen tauschen ihre Alltagskleider gegen bunte Kostüme. Doch ab dem Moment, in dem der persische Palast durch ein Nadelöhr im Schtetl erscheint, werden die Grenzen zwischen dem Ort des Erzählens und dem erzählten Ort zunehmend verwischt. Die Geschichte findet an den Übergängen zwischen diesen zwei Orten statt. Mordechai und Esther ziehen vom Schtetl in den Palast, und der Königshof zieht in einer prächtigen Parade durch das Schtetl. Vor allem wird die Bedrohung der Schneider (die im Film für das jüdische Volk stehen) durch Persien in das Schtetl transportiert. Haman trägt einen Schnurrbart und wird durch den Buchstaben H gekennzeichnet. Als er eine hasserfüllte Rede hält, ähnelt sie den Hetzreden von Adolf Hitler. Über Lautsprecher werden seine Pöbeleien in das Schtetl übertragen, woraufhin die Schneider in ihre Häuser fliehen. Nachdem Haman vom 43  Das historische Kolomiya in der heutigen Ukraine war eigentlich kein Dorf, sondern eine Stadt und ein wichtiges jüdisches Zentrum.

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König den Erlass zur Vernichtung der Schneider erlangt, wird die Zerstörung am Schneiderzeug im Schtetl inszeniert. Am Ende des Films wird Haman durch Esther in Persien besiegt. Dies aber wird nicht mehr in das Schtetl übertragen: Mit dem Ende der Geschichte verschwindet nicht nur der erzählte Ort, Persien, sondern zugleich auch der Ort des Erzählens, das Schtetl. Die Straße wird demaskiert und erscheint in ihrer gegenwärtigen Form als eine etwas baufällige Straße im Süden von Tel Aviv, in der kleine Kinder das Purimfest feiern. Somit wird das Verschwinden des Schtetls durch seine Ersetzung vervollständigt. Der entkleidete Drehort, das zeitgenössische Israel, steht als unzureichender Ersatz für die verlorene Vergangenheit. Trümmer Johannes Praetorius-Rhein Gab es vor 1938 tausende Synagogen in Deutschland, so sind es heute kaum hundert. Deshalb hat Dieter Bartetzko am Ende seines 1988 erschienenen Buches über diese ‚verschollene Architektur‘ angemerkt, dass zwar einige neue entstanden und einige beschädigte erneuert worden seien, nach dem Holocaust aber insgesamt eher „die Leere abgeräumter Trümmerflächen für Synagogen in Deutschland“44 stünde. Als Heinz Peter Witting, genau 16 Jahre nachdem seine Familie von dort nach Shanghai geflohen war, im Mai 1955 nach Berlin zurückkehrt, fotografiert er die Stadt als Tourist: Fotos und Kontaktabzüge, die den neuen Funkturm, das Brandenburger Tor, den Tiergarten und das Theater des Westens, das triumphale Olympia­ stadion und die Trümmer der Reichskanzlei, auch die neu erstandene Stalin-Allee und das Treptower Ehrenmal zeigen, hat er 44  Dieter Bartetzko: Eine verschollene Architektur. Über Synagogen in Deutschland. Frankfurt am Main: Frankfurter Bund für Volksbildung 1988, S. 190.

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dem Jüdischen Museum Berlin überlassen.45 Darunter ist auch eine Reihe von Bildern der früheren Synagogen in der Münchner Straße, in der Prinzregentenstraße und in der Fasanenstraße, die in Wittings Kindheit noch unversehrt waren und die er nun kurz vor ihrem Verschwinden dokumentierte. Denn 1955 standen dort noch Ruinen, zwischen 1956 und 1958 wurden sie abgerissen. Die Überreste der Synagogen sind jüdische Erinnerungsorte, kurz bevor diese Trümmerflächen abgeräumt und leer wurden: Merkwürdige Bilder, die zwar an die Ikonografie der Nachkriegsjahre anknüpfen, dabei aber nicht in eine Erzählung des Neubeginns eingelassen sind. Während ‚deutsche‘ Trümmerbilder zwar auch für das Trauma des Krieges einstehen, sind sie doch vor allem Zeichen des Übergangs, weil jeder Schutthaufen stets auch als Exempel für den Räumungseifer herhalten und in einen ‚Steinbruch‘ für den Wiederaufbau verwandelt werden kann. Die Ruinen der Synagogen dagegen erscheinen als verlassene Landschaft, die nach und nach von Gestrüpp und Schmierereien überwuchert wird. Filmkameras sind in der Nachkriegszeit fast ausschließlich von den wenigen Synagogen-Bauten angezogen worden, die sich trotz allem in die Erzählung des Wiederaufbaus einpflegen lassen konnten: So berichtete die Wochenschau Welt im Film 1946 von der in Anwesenheit von General Clay eingeweihten Münchner Syna­ goge an der Reichenbachstraße, 1950 dann über die wiederaufgebaute Frankfurter Westendsynagoge, die mit Stolz als größte in Deutschland angepriesen wird, und die Neue Deutsche Wochenschau 1958 über den Neubau in Düsseldorf. Es ist damit allein schon ihr Seltenheitswert, der die in dem amerikanischen Spielfilm Singing in the Dark (US 1956, R: Max Nosseck) enthaltenen bewegten und auch bewegenden Aufnahmen der Ruinen von Berliner Synagogen zu einem besonderen Dokument macht: Gefilmt wurde vermutlich im Spätsommer 1954 45  Vgl. die Online-Sammlung des Jüdischen Museums Berlin unter https:// objekte.jmberlin.de/person/jmb-pers-151308/ (Zugriff am 07.06.2022).

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an mindestens zwei verschiedenen Orten, nämlich in der Fasanen­ straße in Charlottenburg vor allem der Außenbereich und das Portal (das später in den Eingang des Gemeindezentrums inte­ griert wurde) sowie die Innenaufnahmen mit dem Toraschrein in der Levetzowstraße in Moabit (wo seit 1988 ein Mahnmal steht). Gedreht wurden diese Bilder unter der Regie von Max Nosseck, der wie der junge Fotograf Witting nur für kurze Zeit in die Stadt zurückgekehrt war, ein Jahr später aber tatsächlich dauerhaft remigrieren sollte. Begleitet wurde Max Nosseck unter anderem von Moishe Oysher – einem Kantor, der vor allem aber ein Star des jiddisch-­ amerikanischen Kinos war. Seit den 1930er Jahren war Oysher immer wieder in meist in New York gedrehten jiddischsprachigen Filmen als ‚anti-Jazz-Singer‘ (J. Hoberman) aufgetreten, das heißt also in der Rolle des in die säkulare Welt gerufenen, doch immer wieder in die jüdische bzw. jiddische Gemeinschaft zurück­kehrenden Sohnes. Eine besonders bittere Variation dieser Rolle spielte Oysher auch in dem Film, der ihn nach Berlin führte: In seinem ersten und einzigen englischsprachigen Film spielt er den Holocaust-Überlebenden Leo, der sich im New Yorker Nacht­leben über Wasser hält, jedoch sein Gedächtnis verloren hat – erst am Schluss erinnert er sich an seine wahre Identität. Entsprechend damals populärer Vorstellungen von Gedächtnis und Gedächtnisverlust geschieht diese ‚Blitzheilung‘ infolge eines Schlags auf den Kopf sowie einer narkosynthetischen Behandlung – einem experimentellen Verfahren, mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg traumatisierte US-Soldaten geheilt werden sollten: Leo fällt in Ohnmacht, irrt im Traum durch die schier endlosen Trümmerwüsten des kriegszerstörten Europas und findet sich schließlich in den Ruinen einer Synagoge wieder. Hier kehrt die Erinnerung an seine Eltern, an seinen Namen sowie an die jüdische Liturgie wieder. Als er erwacht, kehrt er als David in ein frommes jüdisches Leben zurück und wird Kantor.

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Die Szene zeigt überdeutlich, dass das überwiegend jüdische Filmteam von Singing in the Dark Mitte der 1950er Jahre nicht über eine autonome (Film-)Sprache für das Trauma der Shoah verfügte. Es musste sich offenbar visuell (mit den Trümmer­wüsten) und narrativ (mit dem Verfahren der Narkosynthese) eng an Darstellungen und Verarbeitungen des Kriegstraumas anlehnen und versuchte, diese in ein Genre (die ‚anti-Jazz-Singer‘-Filme) zu integrieren. Dieses Genre handelte aber eigentlich von etwas völlig anderem, nämlich dem in den Kinos der Minderheiten im Einwanderungsland USA ganz typischen (Identitäts-)Konflikten zwischen Tradition und Moderne. Und dennoch gelingt dem Film, was als ein einzigartiger und authentischer Ausdruck jüdischer Trauer erscheinen muss. Das liegt vermutlich auch daran, dass der Film die Ruinen von Synagogen und nicht etwa ehemalige Konzentrationslager als Orte des Verbrechens aufsucht: Während die verschiedenen Berliner Synagogen zu einem einzigen virtuellen Erinnerungsort montiert werden, an dem der ergriffene Leo / David das El male rachamim, God full of Mercy erklingen lässt, wird damit nicht nur eine Halluzination inszeniert, sondern zugleich auch eine ganz reale Situation dokumentiert, in der Max Nosseck und sein Team gemeinsam diese zerstörten Orte jüdischer Tradition besuchten und Moishe Oysher zum vielleicht letzten Mal in diesen Mauern aus voller Kehle ein jüdisches Gebet erklingen ließ. Eine kleine Verbeugung Lisa Schoß Schönebeck an der Elbe, eine mittelgroße Stadt südlich von Magde­ burg, die Fassaden sind grau, der Putz blättert, ein konstanter Nebelschleier liegt über der Stadt. Eine Gruppe von Jugendlichen trifft sich nach der Arbeit, um mit ihren Motorrädern über die leeren Landstraßen, durch nicht zu Ende gebaute Landschaften zu fahren. Man ärgert die Autofahrer, geht ins örtliche Kino, träumt 110  



von der großen Liebe und vom Ausbrechen aus der Enge der Provinz – Berlin scheint eine Weltreise entfernt. Peter Kahanes melancholischer Coming-of-Age-Film Vorspiel (DDR 1987) erzählt ein Stück Heimat einerseits, ein Stück Lebensgefühl in den letzten Tagen der DDR andererseits. Es gab viele Städte wie Schönebeck in der DDR. Die Atmosphäre von Agonie ist bildhaft eingefangen, alles hat einen maroden Charme. Der Generaldirektor der DEFA, den staatlichen Filmstudios der DDR, monierte nach Sichtung der ersten Muster den ,Hinterhofblick‘46 auf die DDR. Man möge doch bitte moderne Neubauten zeigen. Die Orte und Motive in Kahanes Film sind sorgfältig ausgewählt. Umso interessanter, dass Kahane seinen Protagonisten Tom, der meist verschlafen und ein bisschen pubertär Schaufensterpuppen dekoriert, zweimal so beiläufig wie subtil an einem Gebäude vorbeilaufen lässt, in dessen Fassade drei große Davidsterne eingefasst sind. Beide Male hat die Kulisse keine Bedeutung für die Handlung. Das eine Mal jagt Tom seiner Angebeteten hinterher, das andere Mal albert er mit zwei jungen Frauen auf der Straße herum. Beides dauert nicht länger als wenige Sekunden. Bei dem Gebäude im Hintergrund handelt es sich um die ehemalige Schönebecker Synagoge. Die Inneneinrichtung der Syna­ goge war 1938 während des Novemberpogroms zerstört und das Gebäude 1941 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden. Anschließend benutzten die Flugzeugwerke Junkers es als Lagerraum. Nach 1946 diente es als Arbeitsamt, Museum, Möbelladen und Turnhalle. In Schönebeck gab es keine jüdische Gemeinde mehr. In der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurden nach der Shoah acht jüdische Gemeinden wiedergegründet: in Berlin, Dresden, Leipzig, Halle, Magdeburg, Erfurt, KarlMarx-Stadt (heute Chemnitz) und Schwerin. Doch nur eine Minderheit der in der DDR lebenden Jüdinnen und Juden war 46  Interview mit Peter Kahane, 22.07.2021 (Berlin), Interviewerin Lisa Schoß.

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Mitglied in einer Gemeinde. Ende der 1980er Jahre waren die ostdeutschen jüdischen Gemeinden überaltert und zahlen­mäßig schwach. Die jüdische Gemeinde in Magdeburg hatte noch 35 Mitglieder. Regelmäßige Gottesdienste fanden nurmehr in Ostberlin statt. Die Magdeburger Synagogengemeinde verkaufte 1983 die Schönbecker Synagoge an die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde. Die ließ die Fassade ursprungsgetreu restaurieren. 1987 war das Schalom-Haus, so der neue Name, eines der wenigen, wenn nicht das einzige renovierte Gebäude der Stadt. Es sollte ein Symbol jüdisch-christlicher Verständigung sein. Tatsächlich näherten sich in der DDR seit den 1970er Jahren kirchliche Kreise und jüdische Gemeinden an, es entstanden Arbeitskreise und gemeinsame Publikationen. Dabei handelte es sich um eine Bewegung ,von unten‘. Mit einem Generationswechsel wurden im Umfeld der Kirchen staats- und gesellschaftskritische Gruppen aktiv, in denen die Erinnerung an die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung ein anderes Gewicht bekamen. Andererseits symbolisiert das Gebäude und seine Geschichte auch eine exemplarische Leerstelle, genauer gesagt: Überreste „jüdische[r] Kultur ohne Juden“47. Der Filmemacher Peter Kahane (geb. 1949) kommt selbst aus einer jüdischen Familie. Judentum als Religion spielte dort keine Rolle. Sein Vater Max Kahane war Kommunist, 1933 nach Frankreich emigriert und hatte bei den Internationalen Brigaden und in der Résistance gekämpft. Seine Mutter Doris Kahane überlebte ebenfalls im französischen Exil. Beide kehrten aus politischen Gründen in die Sowjetische Besatzungszone zurück. Der Osten Deutschlands war damals der „historische Ort“ einer „Idee“: eines antifaschistischen Deutschlands.48 Viele jüdische Remigranten*innen stellten ihre Arbeit in den Dienst dieser Idee. Ihre 47   Hendrik Niether: Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 221. 48   Karin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Weimar / Wien: Böhlau 2000, S. 613.

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Kinder, zunehmend desillusioniert vom real existierenden Sozia­ lismus, begannen sich in den 1980er Jahren mit ihren Familiengeschichten zu beschäftigen. Die Suche nach einem neuverstandenen ostdeutsch-jüdischen Selbstverständnis wurde zu einem gemeinsamen Thema. Kahane, der der letzten Regiegeneration der DDR angehörte, die kaum Chancen bekam, ihre Filme machen zu können, versuchte es in Vorspiel mit einem kurzen Gruß, einer „kleinen Verbeugung: nicht mehr und nicht weniger“49. Das Haus der Wannsee-Konferenz – vom Wasser aus gesehen Tobias Ebbrecht-Hartmann Eine schwankende Kamera, wahrscheinlich auf einem kleinen Boot angebracht, fährt auf ein mit Bäumen bewachsenes Seegrundstück zu. Hinter den Bäumen ist ein Haus zu erkennen. Die Kamera versucht, es trotz des Schwankens einzufangen: Fenster, ein Balkon. Kinder winken in die Kamera. Nur durch vor diese Szenen geschnittene Aufnahmen wissen wir, wo wir uns befinden: Am Großen Wannsee 56/58. Die Hausnummer ist groß im Bild zu sehen, ebenso wie der französische Filmemacher Claude Lanzmann. Die Aufnahmen entstanden für seinen Dokumentar­fi lm Shoah (F 1984). Im fertigen Film sind sie aber nicht zu sehen. Sie sind Teil der nicht veröffentlichten Outtakes, die erst vor einigen Jahren durch das United States Holocaust Memorial Museum im Rahmen eines umfassenden Onlinearchivs der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.50 In diesen Outtakes ist Lanzmann erst vor einem eisernen Tor und später noch einmal zu sehen, wie er durch das Unterholz auf der Rückseite des Hauses schleicht. 49   Interview mit Peter Kahane. 50  Vgl. Claude Lanzmann Shoah Collection: Germany and Switzerland. USHMM, Accession Number: 1996.166, RG Number: RG-60.5085, FILM ID 4624.

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Dazwischen befinden sich die vom Wasser aus aufgenommenen Bilder. Lanzmann wird wohl mit auf dem Boot gewesen sein, das immer wieder auf den Ort zusteuert, über den er in die Sprechanlage neben dem geschlossenen Tor sagt, dass dort eine „sehr wichtige Entscheidung für mich und mein Volk getroffen worden ist.“ Die sogenannte Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 ist ein Ereignis ohne Bilder. Neunzig Minuten trafen sich Vertreter von Ministerien, Partei und Verwaltung. Sie verständigten sich über die administrative Durchführung eines als total gedachten Massenmordes. Kein Fotograf war anwesend, kein Kamerateam. Nach der Besprechung wurden keine Interviews gegeben und kein Gruppenfoto gemacht. Neben dem Protokoll der Besprechung, ihrer archivarischen Spur, wurde ihr Ort, die Villa am Wannsee, zu einem symbolischen Ort der hier besprochenen ,Endlösung der Judenfrage‘. Die konkrete Topografie erweiternd wurde auch die Umgebung des Hauses zu einem kontaminierten Ort. Dies zeigt sich insbesondere in jüdischen und jüdisch-israelischen Zugängen und künstlerischen Aneignungen, die weniger das Haus, als vielmehr den Wannsee selbst als symbolischen Ort ansprechen. In dem israe­ lischen Spielfilm Walk on Water (ISR 2004, R: Eytan Fox) reicht die bloße Erwähnung einer Villa der Eltern des deutschen Protagonisten am Wannsee, um ein Gespräch über den unterschiedlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland und Israel an einem Lagerfeuer in der Negevwüste anzustoßen. Der Besuch dieser Villa, an der die NS-Vergangenheit schließlich in Person des tot geglaubten Nazi-Großvaters wiederkehrt, ruft schon durch die visuelle Gestaltung die andere Villa am Wannsee mit all ihren historischen Konnotationen im deutsch-­israelischen Verhältnis auf. So ist es auch sicher kein Zufall, dass die Metamorphose der aus ihrem ultraorthodoxen Umfeld entflohenen Protagonistin der Netflix-Serie Unorthodox (D 2020) im Wannsee stattfindet. Während im Hintergrund das zuvor im Dialog bereits 114  



erwähnte Haus der Wannsee-Konferenz zu sehen ist, watet die junge Frau ins Wasser und zieht sich in einer Geste der Selbstermächtigung die Perücke vom kahlgeschorenen Kopf, der auch Bilder aus den befreiten Lagern evoziert. Jüdisch-deutsche Vergangenheit und Gegenwart vermengen sich hier auf schon fast stereotype Weise vor einer symbolischen Kulisse, in der der Wannsee gleichzeitig zur kontaminierten Landschaft und zum Ort der Erlösung wird. Etwas Ähnliches hat, allerdings auf wesentlich komplexere Art, auch die israelische Künstlerin Yael Bartana in ihrem für das Jüdische Museum Berlin realisierten Multi-Screen-Video Projekt Malka Germania unternommen.51 In einer Szene der Videoinstallation setzen israelische Soldaten vom Haus der Wannsee-Konferenz aus in Richtung des Strandbads Wannsee über, beobachtet von der Figur Malka (Königin) Germania im anderen äußeren Panel. Allerdings verschwimmen bei Bartana die Zuschreibungen: Was einerseits die israelische Aneignung des Symbolorts der sogenannten ,Endlösung der Judenfrage‘ andeutet, lässt sich im Spiel verschiedener Ikonografien, die neue Zugehörigkeiten herstellen und andere unterlaufen, kaum mehr eindeutig fassen. Die Aufnahmen der übersetzenden Soldaten könnten auch als Pa­rallelisierung zwischen deutscher Tat und israelischer Gegenwart gelesen werden, was jedoch in der Gesamtkomposition sogleich durch die ebenso banalen wie stereotypen Aufnahmen der fast ausnahmslos blonden Strandbesucher*innen unterlaufen wird. Ein Junge mit Wasser­pistolen eignet sich dazu, als Symbolbild der durch das Haus im Hintergrund verkörperten Verbrechen interpretiert zu werden, doch er befindet sich in einem irritierenden Spannungsfeld zur prüfend beobachtenden Figur der Malka Germania im nebenstehenden Panel. Satirisch wirken zwei ältere Herren in auffallend hässlichen Badehosen, die das Haus auf der 51  Vgl. Yael Bartana: Das Buch der Malka Germania, hrsg. v. Shelley Harten / Gregor H. Lersch. Berlin: DCV / Jüdisches Museum Berlin 2021.

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anderen Seite des Sees rahmen. Doch die darauf folgende Gestik, die ausgestreckten Finger, die aus dem Bild heraus weisen, eröffnen auch andere Assoziationsräume. Sie können beispielsweise im Spannungsverhältnis zum Haus als Symbol adminis­trativer Verwaltung interpretiert werden. So entsteht ein Moment der Ko-Präsenz von Vergangenheit und Gegenwart, den auch die durch das Wasser laufend sich ertüchtigenden jungen deutschen Männer evozieren. Dieser Moment kulminiert schließlich im Auftauchen der von Hitler und Speer fantasierten Hauptstadt des Großdeutschen Reiches Germania aus dem Wannsee, deren tempel­artige Kuppel gleichzeitig an den Reichstag und den Felsen­ dom erinnert, und die schließlich die Villa am Wannsee visuell zu ersetzen scheint. Malka Germania verdeutlicht, dass das Haus am Wannsee längst zu einer Ikone geworden ist, die – zumindest im Kontext künstlerischer Reflexionen über die deutsch-jüdische bzw. deutsch-­ israelische Gegenwart – einen impliziten, aber wirkmächtigen Zustand der Ko-Präsenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen vermag. Dabei ist jedoch mit zunehmender generationeller Distanz eine verstärkte Tendenz zur Aneignung bzw. zur Überlagerung zu beobachten. Auffällig ist, dass bei den beiden Beispielen, die den realen historischen Ort visuell aufrufen, also Unorthodox und Malka Germania, dieser vom Wasser aus betrachtet wird, also nicht in Form seiner ikonisch gewordenen Straßenansicht. Diese Betrachtung vom Wasser aus, die sich auch in Lanzmanns ,Inbesitznahme‘ mit und durch die Kamera zeigt, betont den Kontrast zwischen dem idyllischen Seegrundstück und den dort besprochenen und im Haus symbolisch verorteten Verbrechen. Dies entspricht auch der Perspektive des polnisch-jüdischen Autors und Überlebenden Henryk Grynberg in seinem kurzen Text „The blue Wannsee“. Ausgehend von einer Einladung als Artist in Residence in das Literarische Kolloquium am Wannsee reflektiert er über den Ort der Wannsee-Konferenz auf der anderen Seite des Sees: 116  

  After breakfast a photographer sent by the publisher arrived and shot a short series of pictures of me on the terrace, in the garden, with the lake in the background. I asked him about the villa on the other side of the lake. He pointed to a light spot on the horizon, above the dark ending of the coast. „I would like to have a picture of it,“ I said. „But it’s only a spot.“ „That doesn’t matter, for me it’s enough.“52

Dem Text beigefügt ist eine Fotografie, die den Autor selbst mit Blick auf den Wannsee zeigt. Das Haus der Wannsee-Konferenz erscheint darin nur als ein entfernter Punkt – vom Wasser aus gesehen.

52  Henryk Grynberg: The blue Wannsee. In: Journal of Modern Jewish Studies 4,1 (2005), S. 55–56.

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Überlieferungen

Überlieferungen Der amerikanische Filmhistoriker Eric A. Goldman hat einer seiner Publikationen den Untertitel Film History as Haggadah gegeben: Er geht also davon aus, dass sich Filmgeschichte auf eine Weise schreiben lässt, die sich an die traditionelle Erzählung des Exodus der Israeliten aus Ägypten anlehnt. Filme als schlechthin profane Texte in dieser Weise an die jüdische Tradition zu knüpfen, lässt sich nur versuchen, weil deren Überlieferung nie nur die göttliche Offenbarung, sondern auch die Geschichte des jüdischen Volkes umfasst hat. Goldmans Ansatz, die moderne Geschichte der Jüdinnen und Juden in den USA anhand von Filmen zu erzählen, hat aber auch eine Voraussetzung in der Entwicklung der amerikanischen Filmindustrie, in der jüdische Einwanderer*innen eine zentrale Rolle spielten, die exemplarisch und auch emblematisch für die Hoffnung und das Schicksal von Millionen war. Deshalb gibt es ein bestimmtes Repertoire an Filmen, die das Bild Amerikas, dessen Teil die jüdischen Einwanderer*innen wurden, entscheidend prägten und dabei auch die typischen Konflikte dieser sozialen Integration spiegeln. Wie etwa Ofer Ashkenazi gezeigt hat, gilt das ähnlich für das Weimarer Kino, dessen Geschichte sich also womöglich ähnlich als Haggadah schreiben ließe. 120  



In Deutschland nach 1945 ist das aber sicher ganz anders – eine jüdische Filmgeschichte lässt sich hier weder derart von einem Zentrum der Filmindustrie aus noch als exemplarische Erzählung über das Schicksal eines Teils des jüdischen Volkes schreiben, sondern muss jeweils von den losen Enden her gedacht werden: da wo die großen Stränge der deutschen Filmgeschichte und der jüdischen Nachkriegsgeschichte ausfransen und deshalb neu verknüpft werden können. Am Rande der großen Erzählungen sind auch Anekdoten weitergetragen oder materiale Spuren mitgespült worden, die neu zum Sprechen gebracht werden können. Längst sind aber nicht nur einzelne Filme, sondern die klassischen Leinwand- und Bildschirmmedien Kino und Fernsehen selbst zum Gegenstand der Überlieferung geworden. Es stellt sich nicht nur die Frage, wie audiovisuelle Inhalte des letzten Jahrhunderts heute digital verfügbar sind, sondern auch, welche von deren technischen, kulturellen und ökonomischen Voraussetzungen historisch geworden sind: Filme in Kinoqualität können mit Smartphones gedreht werden, aber man geht kaum noch ins Kino. Damit ändern sich die Aufgaben der Film- und Medienhistoriografie, die sich nicht um die Pflege eines legal oder illegal gestreamten Kanons sorgen muss und deren Fokus sich auf die kulturelle Überlieferbarkeit des Kinos und Fernsehens als sozialer Institutionen richten kann. Durch die Digitalisierung sind dabei neben regulär gepflegten und wild wuchernden audiovisuellen Archiven auch große Mengen von Textquellen auf neue Weise find-, durchsuch- und lesbar geworden. Zugleich gehen andere Formen von Wissen verloren oder verlieren ihre Selbstverständlichkeit, sodass Produktionsrückstände, Störgeräusche oder Alltagsroutinen plötzlich medienarchäologisches Interesse wecken. Nicht alles, was zufällig oder ungewollt übriggeblieben ist, sollte so auch überliefert werden, es kann aber gefunden und mitunter auch (um-)gedeutet und neu eingeschrieben werden.

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Fred Monossons Outtakes Johannes Praetorius-Rhein Im Juni 1947 veröffentlichte das New Yorker Büro des United Jewish Appeal (UJA) eine Pressemeldung, in der von der Europa­ reise eines lokalen Funktionärs berichtet wird: „Fred Monosson, Boston Jewish leader, says concentration camp conditions still exist in many parts of Europe.“1 Monosson war von London aus nach Frankreich, durch Deutschland, die Tschechoslowakei, Polen, Schweden, über Dänemark in die Niederlande und Belgien gereist. Jetzt gab er kurz vor seinem Abflug nach Palästina von Rom aus seine Eindrücke durch: The Boston leader described Europe as „the graveyard of millions of Jews“ but emphasized that today the continent is „a source of hope“ for „a healthier, brighter future“ and a „wellspring“ of the many Jews „who would give their all in the fight for a Jewish national home.“ Because we in America are standing at their side, the European Jew, he said, „has a sense of optimism and hope“ which impels him ‚to continue the fight for survival.‘2

Monosson lieferte die Zitate, nach denen der organisierte amerikanische Zionismus verlangte, um weiter Spenden einzuwerben: Geld, das die Not der Überlebenden in Europa effektiv lindern und zugleich einen unentbehrlichen Beitrag zum Aufbau Israels leisten sollte. Der 1893 in Moskau geborene Fred Monosson war 1906 mit seiner Familie in die USA ausgewandert, vom Handwerker zunächst 1  United Jewish Appeal: Fred Monosson, Boston Jewish Leader, Says Concentration Camp Conditions Still Exist in Many Parts of Europe, 19.06.1947. In: JDC Archives, o. D. http://search.archives.jdc.org/multimedia/Documents/ NY_AR_45-54/NY_AR45-54_Orgs/NY_AR45-54_00185/NY_AR4554_00185_0565.pdf (Zugriff am 07.03.2022). 2  Ebd.

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zum Gewerkschaftsführer, dann selbst zum Industriellen geworden und hatte ein Vermögen mit der Produktion von Regenmänteln gemacht. Monosson war nicht nur honoriges Mitglied zionistischer Organisationen in seiner Heimatstadt, sondern wollte am Aufbau Israels selbst teilhaben. Seit den 1940ern bis zu seinem Tod 1972 reiste er immer wieder in den jungen Staat. In Erinnerung geblieben ist er heute aufgrund seines exklusiven Hobbys. Der Unternehmer konnte sich nämlich nicht nur die vielen Flüge nach Übersee leisten, sondern seine Reisen auch auf Farbfilm dokumentieren. Statt wie die meisten Amateure auf 8mm filmte Monosson (vermutlich mit einer Ciné-Kodak) im teuren semiprofessionellen 16mm-Format. Bekannt wurde das Material 2010 durch den Dokumentarfilm I was there in Color (‫אני הייתי שם בצבע‬, ISR 2010). Der Regisseur Avishai Kfir entwickelt darin eine detektivische Fundgeschichte, wie sie sich oft an analoge Medien heftet: Im Keller der Familie Monosson findet er 55 Filmrollen mit spektakulären, aber völlig vergessenen Farbaufnahmen aus Israel. Die Kinder und Enkel von Fred Monosson haben den Wert der Filme offenbar auch deshalb nicht erkannt, so suggeriert das Voiceover, weil der ,zionist bug‘, das zionistische Fieber, nicht auf sie übergesprungen sei. Kfir selbst macht die Einmaligkeit an der Farbigkeit der Filme fest: Ein nicht näher definiertes ‚Wir‘ kenne die eigene Geschichte sonst nur in Schwarz-Weiß, bekomme hier jedoch den Eindruck farbiger Lebendigkeit. Kfir interessiert sich dabei vorrangig für zwei Arten von Bildern: Aufnahmen von bekannten Persönlichkeiten wie Chaim Weizman, David Ben Gurion oder Golda Meir und solche, in denen sich Fred Monosson selbst vor der Kamera und quasi im Mittelpunkt der Geschichte positioniert hat. Die Bezeichnung „Home Movies“, unter der die 55 Filmrollen und ihre frei zugänglichen Digitalisate heute im israelischen Film-Archiv geführt werden, ist also irreführend, weil die Filme nicht gewöhnliche Urlaube dokumentieren, und kann nur in dem übertragenen Sinn gelten, dass sie den Aufbau des ,Jewish 123

national home‘ zeigen. Die Enkel erinnern sich im Interview an öde Schabbat-­Abende, an denen ihr Großvater endlos seine Israel-­ Filme vorführte. Doch dass einige der Rollen rudimentäre Titel enthalten, geschnitten und auch mit Fremdmaterial vermischt wurden (so die Rollen #1, #33 und #34), weist auch auf nicht rein private Aufführungen hin. Auch in Europa hat Monosson 1947 gefilmt. Auf den Rollen #8 und #9 sind davon etwa 55 Minuten Filmmaterial überliefert.3 In I was there in Color erhalten diese Bilder wenig Aufmerksamkeit und werden zum Teil auch falsch datiert und lokalisiert. Kfir vermutet, der Einwanderer sei aus Neugier und Nostalgie in die vom Krieg zerstörte alte Heimat zurückgekehrt und erst dort zum überzeugten Zionisten geworden: In Birkenau erkennt er den Ort ,where it happened‘ – womit hier der Ausbruch des ‚zionistischen Fiebers‘ gemeint ist. Die etwas über 30 Minuten lange Filmrolle #9 ist klar nach Orten gegliedert und spiegelt wohl auch den zeitlichen Verlauf der Reise wider: Der Film beginnt mit kurzen Bildern von London und Paris und zeigt dann ein Displaced-Persons-Camp, das in einem ländlichen Château untergebracht ist: Gesunde Kinder winken in die Kamera und tanzen Hora, lachende Frauen schieben Kinderwagen und Männer mit Kippot bearbeiten den Boden, dazwischen wird gemeinschaftlich geschustert und genäht. Mit dem Zug geht es weiter ins zerstörte München. Monosson war in Dachau, während dort Prozesse liefen, dokumentierte aber vorrangig die frühe Gedenkkultur: viersprachige Schilder, die einzelne Orte bezeichnen – den Krematoriumsbereich, den Galgenstand, den Hinrichtungs-Schießstand. Es folgt eine lange Sequenz über den betriebsamen Alltag in Föhrenwald, wo sich die 3  Die Filme sind online zugänglich und auf der Seite des israelischen Film­ archivs zu finden, als „Fred Monosson Home Movies #8“: https://jfc.org. il/news_ journal/85501-2/?comp=23737&lang=eng) und „Fred Monosson Home Movies #9“: https://jfc.org.il/news_journal/85502-2/?lang=eng) (Zugriff am 09.03.2022).

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Institutionen jüdischen Lebens neu gebildet haben. Aus Berlin zeigt Monosson zunächst das Düppel-Center und dann die zerstörte Reichskanzlei. Eine Gruppe Displaced Persons wartet mit Gepäck vor einer Registrierungsstelle: Auf einem Koffer steht das Ausreiseziel New York – es wird eine schlaffe Israel-Fahne gezeigt. Über Prag reist Monosson nach Polen. Längere Aufnahmen zeigen das zerstörte Warschau und insbesondere das ehemalige Ghetto. Auf dem jüdischen Friedhof lässt sich Monosson lässig auf dem Sockel eines Denkmals für den Ghetto-Aufstand nieder. Dann steht er mit Zigarre im Mund inmitten einer Trümmerwüste und weist mit ausladenden Bewegungen um sich. In einem Kinderheim gibt Monosson seine Kamera aus der Hand: Für ein Gruppenbild mit Kindern lacht er, albert herum und winkt in die Kamera. Dann Auschwitz. In Birkenau lässt sich Monosson mit drei Männern an einem dort errichteten Kreuz filmen. Alle bleiben starr, nur Monosson führt eine eigenartige Choreografie auf: Er hebt seinen Hut und setzt ihn wieder auf, berührt das Kreuz und deutet dann hinter sich auf die Ruine (vermutlich Krematorium II), dann fährt er sich mit den Händen an den Kopf. Im Stammlager scheint er am Galgen, an dem kurz zuvor Rudolf Höß hingerichtet wurde, mit dem Finger dem ins Seil fallenden Körper nachzufahren und wiederholt dies mit Blicken. Dann ist die Kamera plötzlich unter mediterraner Sonne bei zionistischen Pfadfinder*innen, als sei dies schon Palästina – doch da schlendert Monosson wieder über einen italienischen Markt der Kamera entgegen und schält eine Orange. Das symbolstarke Schlussbild und die vielen visuellen Gegenüberstellungen lassen schließen, dass der Film am Schneidetisch und nicht in der Kamera montiert wurde. Der Schnitt ist zwar unsauber und wirkt unfertig, aber der Aufbau legt nahe, dass Monosson den Film nicht nur seiner Familie, sondern auch politischen Freund*innen zeigen wollte. Sein Bericht an den UJA lässt sich so auch als eine Art Treatment lesen: Zwar wirken die freudig anpackenden Bewohner*innen der Displaced-Persons-Camps nicht so, 125

als würden sie weiter unter „concentration camp conditions“ leiden, aber sie verkörpern „a sense of optimism and hope“. Die Bilder aus Dachau, Warschau und Auschwitz machen deutlich, dass Europa „the graveyard of millions of Jews“ ist. Auch an Monossons Verhalten vor der Kamera lässt sich ablesen, dass er einen bewussten Umgang mit dem Medium hatte: Wenn er für ein Gruppenbild posiert, bleiben die anderen wie für eine Fotografie regungslos, er dagegen macht auffällige Bewegungen und animiert manchmal auch andere dazu. Manchmal wirkt es, als denke er noch kurz über seinen Auftritt nach, manchmal fällt er aus der Rolle und gibt der Person hinter der Kamera Signale. Gerade vor historischer Kulisse kann das irritieren: Wenn Monosson als ‚colourful personality‘ erscheint, so mag das auch daran liegen, dass er auf starres Pathos verzichtet und seine naiv-­ überzogene Körpersprache sogar an Slapstick erinnern kann. Was aber ist auf den über 25 Minuten der Rolle #8 zu sehen? Die Aufnahmen stammen von denselben Orten, allerdings erscheinen sie weder geografisch noch chronologisch geordnet. Offenkundig handelt es sich um Outtakes, also um Material, das im Film nicht vorkommen sollte. Wenn wir davon ausgehen, dass Rolle #9 ein amerikanisch-jüdisches und zionistisches Narrativ abbilden sollte, dann enthält Rolle #8 also das, was in dieser Perspektive irrelevant oder sogar störend erscheinen könnte. Zunächst hat Monosson den größten Teil des Materials aus London und Paris, aus Prag, Stockholm und Kopenhagen sowie den Niederlanden und Brüssel herausgeschnitten. Scheinbar waren die Aufenthalte dort eher touristisch. Die Aufnahmen zeigen Sehenswürdigkeiten und auch Alltagszenen, die auf den Amerikaner exotisch gewirkt haben mögen: ein urbaner Verkehr, der (vermutlich in Stockholm) von massenhaft Fahrrädern geprägt ist oder zu dem (vermutlich in Warschau) noch überladene Heuwagen gehören. Oft hat Monosson seine Kamera gezückt, wenn er einer zufälligen Attraktion begegnete: Tschechinnen in Tracht, eine Verhaftung auf der anderen Straßenseite, ein Mann 126  



im Blackface auf dem Petticoat Lane Market oder ein Kamerateam der Wochenschau Polska Kronika Filmowa. Nur dass er in Brüssel so ausführlich das Infanterie-Denkmal filmt, mag darauf hinweisen, dass er auf der bisherigen Reise neben einem Bedürfnis nach Zerstreuung auch einen bewussten Blick für Memorial­ kultur entwickelt hat. Auf der zweiten Hälfte der Rolle findet sich, was motivisch zur Rolle #9 gehört, aber herausgeschnitten wurde. Manches ist unscharf oder wie das Material aus Stuttgart-West zu dunkel geraten. Aber es gibt auch eine Reihe von Aufnahmen, die das gewünschte Bild der Displaced-Persons-Camps wohl gestört hätten: Die ungestüm tobenden Kinder, die sich vor der Kamera raufen oder einander Hasenohren machen. Zwei Männer trinken in großen Zügen Bier. In der Luitpold-Kaserne leben abgeschlagen wirkende Displaced Persons inmitten von Trümmern und tragen ihr Geschirr quer über den Hof zur Essensausgabe. Derweil werben in Feldafing Aushänge für Unterhaltung – das Kino Amcho und eine Vorstellung des Magiers Frizzo. „Unchristlich verschmutzt“ Julia Schumacher Zu Beginn ihres fünften Geschäftsjahrs, im Februar 1951, stand die Hamburger Filmproduktionsgesellschaft Real-Film kurz vor dem Aus. Die laufende Produktion von Engel im Abendkleid (BRD 1951, R: Ákos von Ráthonyi) wurde gestoppt, ihre Finanzierung war nicht länger gesichert. Im frühen westdeutschen Nachkriegskino gab es noch keine Filmförderung. Die Realisierung von Spielfilmen wurde durch Bankkredite und Ausfallbürgschaften abgesichert, die die Bundesrepublik zur Verfügung stellte. Die Real-Film hatte auf diesem Wege 19 Produktionen realisiert. Unerwartet enthielt sich der Staat nun aber seiner Zusage. Der Filmproduzent Walter Koppel stand unter 127

Kommunismusverdacht. Am 28. März 1951 musste er in Bonn vorsprechen, wo ein innenministerieller Ausschuss zur Prüfung seiner ,Gesinnung‘ zusammengekommen war. Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Der Spiegel war es das erste Verfahren dieser Art, ein „bundesdeutsche[s] Pendant zu dem ‚Untersuchungsausschuß für unamerikanische Umtriebe‘“4. Durch einen Beitrag im Spiegel, der am 15. August 1951 unter dem Titel „Ein süßer Stoff“ erschien, wurde die Begebenheit erstmals öffentlich bekannt und 1995 von Michael Töteberg in einem Artikel für die taz aufgegriffen. Als Titel wählte der Hamburger Publizist ein durch den Spiegel überliefertes Zitat, das den Beginn einer Denunziationskampagne charakterisiert: „Unchristlich verschmutzt“5. Der Hintergrund wird einheitlich so geschildert: Im Sommer 1950 hatten Koppel und sein Geschäftspartner Gyula Trebitsch zusammen mit ihren Familien ein Haus in der Lüneburger Heide für den Erholungsurlaub gemietet. Die Besitzerin behauptete später, sie habe das Haus nach dem Auszug der Ferien­ gäste „in einem ‚unchristlich verschmutzten Zustand‘“6 vorgefunden. „In einem Ascheneimer entdecke sie die Scherben einer liebgewonnenen Vase“, präzisierte Der Spiegel, „und bei einer Inventar-Inventur stellte sie fest, daß ihr überdies noch ein Kopfkissenbezug fehlte.“7 Ohne Zweifel war es also eine Banalität, die die nachfolgenden Ereignisse auslöste. Die Besitzerin des Heidehauses, Irmgard Schirrmacher, war als Sekretärin im Bundesinnenministerium beschäftigt, dem zu diesem Zeitpunkt Robert Lehr vorstand. Beiläufig informierte sie die Sekretärin des Filmreferenten, Karlheinz Lüders, dass Koppel ein Kommunist sei und wiederholte diese Anschuldigung in einer Aussage für das Bundesamt für Verfassungsschutz, das 4  Ein süßer Stoff. In: Der Spiegel, 33/1951, S. 7–10, hier S. 9. 5  Michael Töteberg: Unchristlich verschmutzt. In: taz, 19.09.1995, S. 23. 6  Ein süßer Stoff, S. 8. 7  Ebd., S. 8.

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offenbar zügig eingeschaltet worden war. Die darauffolgenden Ermittlungen standen jedoch unter der Leitung des 1949 gegründeten Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen. Dieses hatte formal keine Befugnis, bildete aber bis zur Durchsetzung der sozialliberalen ,Neuen Ostpolitik‘ 1969 ein zentrales Organ des staatlichen Antikommunismus. Das Ministerium orientierte sich am Kurs der US-amerikanischen Rollback- und Liberation Policy; es widmete sich der antikommunistischen Propaganda, unterstütze private antikommunistische Apparate und unterhielt Kooperationen mit den westdeutschen Geheimdiensten und der CIA, um einer ‚kommunistischen Infiltration‘ Westdeutschlands entgegenzutreten. Ab 1951 wurden Informationen zu verdächtigen Personen und Institutionen in einer Geheim­ kartei erfasst; für die Aufnahme konnten ungeprüfte Hinweise aus der Bevölkerung ausreichen. Auch setzte das Ministerium für seine Ermittlungen Privatpersonen ein, zu denen nach Angaben des Spiegel auch der Autor Gerhard T. Buchholz gehörte.8 Dieser war im Filmgeschäft damals mäßig erfolgreich. Zur Liste seiner Werke zählt neben Komödien auch die Mitarbeit am Drehbuch zum NS-Propagandafilm Die Rothschilds (D 1940, R: Erich Waschneck). 1952/53 verantwortete er zwei deutlich antikommunistische Spielfilme – Postlagernd Turteltaube (D 1952, R: Gerhard T. Buchholz) und Weg ohne Umkehr (D 1953, R: Victor Vicas) – produziert von seiner in Köln ansässigen Firma Occident Film. Unter dem Vorwand, die Real-Film für die Produktion genau eines solchen Films gewinnen zu wollen, erkundigte er sich im Frühjahr 1951 bei einem Aufnahmeleiter nach der politischen Haltung der Geschäftsführung und „etwaige[n] kommunistische[n] Zellen innerhalb der Belegschaft“9. Der Aufnahmeleiter behauptete, dass die Ehefrauen der Filmproduzenten, Helga Koppel und Erna Trebitsch, aktive Mitglieder der 8  Ebd., S. 8–9. 9  Ebd., S. 9.

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KPD seien. Weitere Befragungen im Umfeld der Familien folgten, dann der Termin im Innenministerium. Koppel erschien mit juristischer Unterstützung von Henry Ormond, später bekannt geworden als ‚Anwalt der Opfer‘, weil sich seine 1950 in Frankfurt am Main gegründete Kanzlei maßgeblich durch Vertretungen in NS-Prozessen hervortat. Der Bund blieb bei seinem Beschluss, die Real-Film nicht mit Ausfallbürgschaften zu unterstützen. Stattdessen half aber die Hamburgische Landesbank mit einem Kredit aus, die Hansestadt übernahm die Bürgschaft. Engel im Abendkleid konnte also doch noch produziert werden und feierte schon im Juni 1951 seine Uraufführung in Westberlin. Wie Der Spiegel berichtete, sah der Bundesinnenminister Robert Lehr jedoch nicht von weiteren Sanktionsversuchen ab. Er wandte sich im Juli desselben Jahres mit dem Ansinnen an die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO), die Real-Film Produktion Lockende Gefahr / Uli – der junge Seefahrer (D 1950, R: Eugen York) nicht für die Biennale in Venedig vorzuschlagen. Die SPIO weigerte sich jedoch, „nach Maßgabe der Bundesregierung“10 zu verfahren. Der Beitrag im Spiegel zeichnet ein Stimmungsbild des sich verschärfenden Kalten Krieges. Tötebergs Artikel ergänzt dieses um Informationen über weitere Versuche, auf den Hamburger Senat Einfluss zu nehmen. Er zitiert einen Brief von Innenminister Lehr an den Ersten Bürgermeister Max Brauer, in dem behauptet wird, Koppel habe über „die Deckadresse C. C. C. Film […] Defa-­Gelder an westdeutsche Schauspieler auszahlen wollen“11. Tötebergs zweiter Clou ist ein Schreiben von Herbert Wehner an Adolf Arndt, in dem er Koppel als „Vertrauensmann der Zentrale der SED“ und das Unternehmen Real-Film als „Stützpunkt für finanzielle Transaktionen und […] Kurieraufgaben“ bezeichnet.12 10  Ein süßer Stoff, S. 10. 11  Töteberg: Unchristlich verschmutzt, S. 23. 12  Ebd.

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Im Grunde folgt der Artikel von 1995 somit derselben Spur, die Der Spiegel 1951 ausgelegt hatte: dass die Denunziation von Walter Koppel das Beispiel einer antikommunistischen ‚Hexenjagd‘ sei. Dies erscheint auch heute noch naheliegend, denn Koppel war von 1945 bis 1947 Mitglied der KPD gewesen und außerdem in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes aktiv, die nun als kommunistisch ausgelegt wurde. Zudem hatte er sich 1947 für den Filmaustausch zwischen den Besatzungszonen eingesetzt. Die damit geknüpften Verbindungen zur DEFA konnten 1950/51 als suspekt gelten. Da er, wie Der Spiegel in einer Fußnote bemerkt, es hatte „daran fehlen lassen, sich öffentlich vom Kommunismus loszusagen“13, konnten die ‚Indizien‘ ausreichen, seine Haltung infrage zu stellen. Dennoch verblüfft es heute, dass die zur Überschrift gewählte Formulierung „unchristlich verschmutzt“ nicht zum Anlass genommen wurde, die Möglichkeit eines antisemitischen Motivs zu erkunden. Die ursprünglich Denunzierten, Koppel und Trebitsch, wie auch der Mann hinter der „Deckadresse C. C. C. Film“, Artur Brauner, zählten zu den bekannten jüdischen Filmproduzenten der BRD. Die Vermutung liegt daher nicht fern, dass sich an verschiedenen Punkten der Kampagne antikommunistische und antisemitische Ressentiments verquickt haben könnten. Die Zuschreibung ,unchristlich‘ kann als Chiffre für beides dienen, war doch die Verknüpfung der Feindbilder unter dem Schlagwort ,jüdischer Bolschewismus‘ während des Nationalsozialismus breit etabliert worden. Sowohl im Spiegel als auch in Tötebergs Artikel wird dieser Aspekt jedoch ausgeblendet. Rhetorisch gelingt dies nicht zuletzt darüber, dass in beiden Erzählungen der Ausdruck ‚Juden‘ fehlt, lediglich vage Hinweise auf Koppels KZ-Internierung sind enthalten. Ein Fall von Antisemitismus in der frühen Bundesrepublik ist somit strenggenommen nicht überliefert.

13  Ein süßer Stoff, S. 10.

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Eine Cinematheque des Holocaust Tobias Ebbrecht-Hartmann In den Erinnerungen des aus Deutschland emigrierten Filme­ machers Erwin Leiser findet sich die Beschreibung einer erstaunlichen Szene, die er bei einem Besuch in Israel beobachtet hatte. Im Zuge des Prozesses gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem besuchte Leiser auch den Kibbuz Lochamei HaGeta’ot im Norden des Landes, das 1949 von jüdischen Widerstandskämpfer*innen und Überlebenden der Shoah gegründet worden war. Hier sprach er unter anderem mit Yitzhak Zuckerman, einem der Anführer des Aufstandes im Warschauer Ghetto, und seiner Frau Zivia Lubetkin und recherchierte für seinen Film Eichmann und das Dritte Reich (CH/BRD 1961). Leiser erinnert sich, dass sich während seines Besuches Überlebende der Shoah im Speisesaal des Kibbuz versammelten, um gemeinsam Filme zu sehen, die die deutschen Verbrechen an den Jüdinnen und Juden Europas dokumentierten, darunter höchstwahrscheinlich sowohl Aufnahmen, die deutsche Kamerateams in propagandistischer Absicht gedreht hatten, als auch Filme der Alliierten, die die Zustände in befreiten Konzentrationslagern zeigten. „Fast jeden Abend versammelten sich ein paar der einstigen Widerstandskämpfer aus den Ghettos im Speisesaal des Kibbuz und sahen die alten Filme über ihre Leiden an. Sie kamen von der Vergangenheit nicht los.“14 Überlebende der Shoah und jüdische Widerstandskämpfer*innen schauen gemeinsam Filmaufnahmen, die aus der Perspektive der Henker entstanden und in vielen Fällen eine antisemitisch verzerrte Sicht auf die Situation der Jüdinnen und Juden in den Ghettos und an anderen Orten zeigen? Sie sehen die grauenhaften Bilder aus den befreiten Lagern, in denen die Ermordeten 14  Erwin Leiser: Gott hat kein Kleingeld. Erinnerungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 163.

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und ausgezehrten Überlebenden als passive Opfer inszeniert werden? Leiser beschreibt hier einen besonderen Überlieferungs­ prozess. Die NS-Filme und alliierten Aufnahmen sind aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen, geradezu als ,displaced objects‘ in den mittlerweile souveränen jüdischen Staat Israel ,immigiert‘ und teilen nun mit den jüdischen Einwander*innen aus (Ost-)Europa, die die von den Nationalsozialisten ins Werk gesetzte sogenannte ,Endlösung‘ einst bekämpften und nur durch Glück überlebten, einen Ort: das Ghetto Fighters’ House zwischen dem überwiegend arabischen Akko und dem von deutsch-jüdischen Einwander*innen geprägten Nahariya. Der Überlieferungsprozess dieser Filme ist also auch ein Aneignungsprozess. Sie werden aus dem deutschen Täter-Kontext bzw. von Dokumenten der Befreiung zu Zeugnissen jüdischen Leidens. In dieser Aneignung findet auch eine Transformation statt. Die überlieferten Filme werden umgedeutet durch eine neue und ursprünglich nicht intendierte, ja im Fall der NS-Propagandafilme gänzlich ausgeschlossene Vorführ- und Rezeptionssituation. Die Filme sprechen zu den jüdischen Überlebenden, weil diese sie vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Erfahrungen sehen. Im Kontext dieser von Leiser 1961 beobachteten Szene lässt sich vielleicht besser verstehen, wie und warum der israelische Kibbuz Lochamei HaGeta’ot zu einem wichtigen Ort der Überlieferung von Filmaufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Shoah sowie von Filmen wurde, die später über diese Zeit gedreht wurden: Israel wurde zum Archiv eines geteilten (und teilenden) Erbes; die filmischen Dokumente der Täter wurden zu einem Teil der kulturellen Überlieferung des jüdischen Volkes. Eine zentrale Akteurin dieses Überlieferungsprozesses war Miriam Novich, die in Lochamei HaGeta’ot das Museum der Ghettokämpfer und das daran angeschlossene Archiv mit aufbaute. 1908 im weißrussischen Yurtishki geboren, wuchs sie im litauischen Vilna auf und ging bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Frankreich. Dort schloss sie sich der 133

Resistance-Bewegung an und wurde im Juni 1943 verhaftet und im französischen Lager Vittel 1944 von amerikanischen Truppen befreit. In Israel war sie Mitbegründerin des Kibbuz Lochamei HaGeta’ot und die erste Kuratorin des 1949 entstandenen Museums Haus der Ghettokämpfer. Ihr Leben verschrieb sie der Sammlung aller erdenklichen Dokumente und Materialien über das jüdische Leben und Leiden in Europa, die sie in verschiedenen Ländern sowohl in West- als auch in Osteuropa ausfindig machte und nach Israel brachte. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit war die Begründung einer Filmsammlung im Archiv des Kibbuz, aus deren frühem Bestand wahrscheinlich auch die Filme stammten, die die Überlebenden und Kämpfer*innen 1961 im Speisesaal sahen und von denen Leiser einige für seinen Film Eichmann und das Dritte Reich verwendete. In einem im Archiv von Lochamei HaGeta’ot erhaltenen undatierten Bericht beschreibt Novich diese Sammlung als „The Holocaust Cinematheque“ und berichtet über deren Ursprung: Kurz nach der Befreiung begannen wir Filme zu sammeln. Nach 35 Jahren mit zahlreichen Reisen und Nachforschungen zählt unsere Filmsammlung heute beinahe 360 Titel. Die wichtigsten dieser Filme sind Aufnahmen, die während des Krieges und der Besatzung von den Nazis und den Untergrundbewegungen gemacht wurden, wie die Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto oder die ‚Wochenschauen‘ von der Front und von Naziparaden vor und während des Krieges. Aber wir haben auch mit viel Ausdauer Filme gesammelt, die das jüdische Leben vor dem Krieg dokumentieren, um auch die ‚Opfer‘ zu zeigen, die zerstörte jüdische Welt. Wir sind froh, dass wir eine Dokumentation von 1931 finden konnten, die das jüdische Leben im ‚Shtetl‘ Nowogrodek zeigt, ein jiddischer Film, den wir dankenswerter Weise von Mr. Jack Kagen aus London bekommen haben, oder ein Film über das ‚Shtetl‘ von Kurow über dasselbe Thema, den wir in den USA gefunden und dankenswerter Weise von Prof. Waisbrod 134  

  zur Verfügung gestellt bekommen haben. Wir haben auch zahlreiche Spielfilme in Jiddisch, die vor dem Krieg in Polen entstanden sind und die wir für einen geringen Preis mit Hilfe von Mr. Charles Cooper, dem Direktor der bekannten ‚Contemporary Films‘ in London, erstehen konnten. Wir haben unser Möglichstes getan, um auch selbst Filme zu produzieren, die über NS-Verbrechen aufklären, oder uns an deren Herstellung zu beteiligen, so zum Beispiel drei Filme, die in den ehemaligen Konzentrationslagern Dachau und Bergen-Belsen entstanden sind; es ist uns auch gelungen, einige kurze Filme zu bekommen, die für NS-Prozesse erstellt wurden. Mit größerer Distanz zu den Ereignissen möchten wir die Erkenntnisse über die Geschichte des Krieges und der Shoah erweitern, und haben daher begonnen, auch Spielfilme über diese Zeit zu sammeln. Dank der Großzügigkeit von Mr. und Mrs. Henry Everett aus den USA sind wir sogar im Besitz der bedeutenden Fernsehserie ‚Holocaust‘. Wir haben auch einen Film mit dem Titel ‚Morituri‘, der von Arthur Brauner 1947 in Berlin produziert wurde.15

Im Juli 1977 wurde Novich bei einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau auch auf den unter anderem in Israel realisierten westdeutschen Fernsehfilm Kaddisch nach einem Lebenden (BRD 1969, R: Karl Fruchtmann) aufmerksam. Sie fragte in Deutschland an, ob das Ghetto Fighters Museum eine Kopie des Films erhalten könnte. Hilde Schwarzkopf-Stallmach vom Studio Hamburg wandte sich daraufhin an den Regisseur des Films, Karl Fruchtmann: [D]as Ghetto Fighters’ House im Kibbuz Lohamei Haghetaot (Gedenkstätte der ehemaligen Widerstandskämpfer des Warschauer Ghettoaufstands) hat den Versuch unternommen, Filme zu sammeln, die sich mit Krieg und Deportation befassen. Durch das KZ Museum 15  Miriam Novich: The Holocaust Cinematheque. Collection of Miriam Novitch: Films. GFH Archive, Catalog No. 24524. Der Bericht stammt wahrscheinlich aus den späten 1970er bzw. frühen 1980er Jahren.

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Dachau ist man dort auf Ihre o. g. Produktion [‚Kaddisch nach einem Lebenden‘] aufmerksam geworden. Wären Sie damit einverstanden, daß wir eine Kopie unter der Voraussetzung, daß sie ausschließlich Archivzwecken des Ghetto Fighters’ House dient, ausnahmsweise lediglich gegen Erstattung der Material- und Arbeitskosten abgeben?16

Offensichtlich stimmte Fruchtmann der Überlassung einer Archivkopie des Films zu. Heute kann Kaddisch nach einem Lebenden in seiner deutschen Fassung sowohl im Archiv des Kibbuz Lochamei HaGeta’ot als auch im Steven Spielberg Jewish Film Archive an der Hebräischen Universität Jerusalem gesichtet werden. Die von Miriam Novich begründete Holocaust Cinematheque war ein erster Versuch, umfassend das audiovisuelle Gedächtnis des Holocaust zu dokumentieren und damit zu bewahren. Die in zahlreichen Archiven, Sammlungen und in Privatbesitz verstreuten Filmkopien wurden von ihr aufgespürt und nach Israel gebracht, wo sie unabhängig von ihrem Ursprung, den damit verbundenen Intentionen und den in den Filmen zum Ausdruck kommenden Perspektiven zum Teil einer jüdischen Überlieferung der Shoah wurden. Damit ging das Projekt einer Cinematheque des Holocaust aber über die reine Sammlungsabsicht hinaus. Es wurde zum Ausdruck einer Aneignung des audiovisuellen Erbes der Shoah und damit auch zum Gegenstand einer Umdeutung und Neuinterpretation. Als solches harren dieses ,displaced heritage‘ und die Geschichte seiner (Ver-)Sammlung in Israel aber noch der weiteren Aufarbeitung.

16  Hilde Schwarzkopf-Stallmach an Karl Fruchtmann, 27.07.1977. Akademie der Künste, Berlin, Karl-Fruchtmann-Archiv, Fruchtmann 899.

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Die Moszkowicz-Tapes Lea Wohl von Haselberg Manche Quellen, vor allem schriftliche wie Telegramme, Briefe oder Quittungen, erzählen sehr genau von einzelnen Ereignissen einer Produktion, dokumentieren Bruchstücke eines Arbeits­ prozesses, der von Forschenden in kleinteiliger Weise wieder zusammengesetzt werden kann. Oft sind sie ganz selbstverständlich mit einer Reihe von Daten versehen: Namen, Unterschriften, Adressen, Datierungen. Detail für Detail kann zusammengefügt werden und langsam ergibt sich ein an Informationen dichter werdendes Bild einer Produktionsgeschichte. Andere Quellen beinhalten sehr wenige dieser Puzzleteile oder ‚Metadaten‘, bringen aber eine besondere Lebendigkeit und Unmittelbarkeit mit. Sie sind in vielfacher Hinsicht schwer zu handhaben, können sie doch trotz des genauen Eindrucks, den sie vermitteln, nur durch Deutung, mitunter auch Spekulation zum Sprechen gebracht werden. So verhält es sich mit den Tonbandkassetten von Imo Moszkowicz. Sie sind Teil seines bisher nicht aufgearbeiteten privaten Nachlasses und beinhalten einen Ausschnitt seiner Arbeitsgespräche, namentlich den Teil, den er telefonisch und von zu Hause aus führte, also immer dann, wenn er nicht in anderen Städten drehte oder inszenierte. Es ist anzunehmen, dass er Anfang der 1980er Jahre begann, diese als Gedächtnisstütze oder für private Archivierungszwecke aufzuzeichnen. Vermutlich geschah die Aufzeichnung automatisiert, sodass sich mit dem Abnehmen des Hörers das Tonband einschaltete und eingehende wie ausgehende Anrufe mitschnitt. Die Tonbänder sind in dreifacher Hinsicht eine Herausforderung: Erstens sind sie oft akustisch kaum zu verstehen. Selbst wenn ein Kassettenrekorder zur Verfügung und dem Abspielen technisch nichts im Wege steht, ist die Lautstärke kaum so hoch einzustellen, dass die vierzig Jahre alten Bänder gut verständlich wären. Damit unterscheiden sie sich allerdings kaum von 137

schlecht lesbaren Handschriften oder langsam zerfallenden anderen Datenträgern. Zweitens sind sie inhaltlich schwer verständlich: Die Sprechenden melden sich vielfach nur mit Vor-, teilweise mit Spitznamen, schließen an zuvor Geschriebenes und Gesprochenes ebenso wie an fortlaufende Witzeleien und gemeinsam Erlebtes an. Hinzu kommt, dass die Kassetten nicht beschriftet und nur unvollständig nummeriert sind, sodass sich die Gespräche nur teilweise und ungenau datieren lassen. Ob die zeitliche Lücke zwischen zwei Gesprächen die Länge einer Kaffeepause oder eines mehrwöchigen Drehs im Ausland hatte, kann mitunter nur gemutmaßt werden. Drittens sind sie eine juristische Herausforderung, denn die Rechtelage ist hier hoch problematisch. Völlig unklar ist, ob die aufgezeichneten Gesprächspartner*innen von den Mitschnitten wussten oder nicht. Persönlichkeits- und Nutzungsrechte lassen sich über Vor- oder Spitznamen nur schwerlich klären. Und selbst wenn die Gespräche als Quellen verwendet werden könn(t)en, mäandern sie zwischen pragmatischen Informationen, Anekdoten, Tratsch und kollegialem Networking. Es stellt sich mit Blick in den verstaubten Karton also die Frage, ob diese Tonbänder mehr sind als eine Kuriosität und was sie über eine jüdische Fernsehgeschichte der Bundesrepublik erzählen können. Beim Hören der Bänder lassen sich zwei unterschied­ liche Bedeutungen ausmachen: Zum einen vermitteln sie einen sehr persönlichen, lebendigen Eindruck von Imo Moszkowicz, der bei seiner Stimme und Sprache beginnt, aber weit über das hinaus­ geht, was ein Radio-Interview auch zu verraten vermag. Die aufeinander folgenden Gespräche zeigen, wie sich seine Intonation verändert, wie er mit Menschen spricht, die er unterschiedlich gut kennt, mitunter scherzt, dann wieder förmlicher ist. Manchmal flirtet er. Das Tempo seiner Arbeit und sein Engagement lassen sich an den Gesprächen ablesen: Wenn eine Sache ihn interessiert oder ihm dringlich ist, beginnt er alle Hebel in Bewegung zu setzen und unterschiedliche Kolleg*innen abzu­telefonieren. Ihnen erzählt er, teilweise in den gleichen Worten, sein Anliegen, 138  



versucht Informationen oder Unterstützung zu erlangen. Er gibt auch anderen Rat: Wie soll sich die ihn anrufende Schauspielerin verhalten, die nach langen, zähen Gagenverhandlungen erfahren hat, dass sie nur für die Zweitbesetzung eingeplant wurde? „Schreiben Sie jetzt den Brief, schieben Sie es nicht auf und dann rufen Sie mich nochmal an und lesen ihn mir vor, wenn Sie mögen.“ Die Präsenz der Interaktion, die sich auch in der ursprünglichen Kommunikation nur im Miteinandersprechen und keiner physischen Begegnung entfaltete, führt zu einem ungemein lebendigen Eindruck, den die Bänder als Quelle vermitteln. Zum anderen enthalten sie eine Vielzahl von Hinweisen: Es tauchen Namen und Filmtitel, Projekte und Begegnungen auf. In der Form, in der sie in den Gesprächen hingeworfen sind, sind sie vielfach nahezu unverständlich und es sind zu viele, um ihnen allen akribisch nachzugehen – eine kleinteilige Recherche mit vielen Sackgassen. Doch einzelne Hinweise, auf gut Glück heraus­gegriffen, ergeben mitunter weitere Spuren einer jüdischen Filmgeschichte. So auch im Falle eines Gesprächs, dass Moszkowicz wahrscheinlich 1982/83 in der Vorbereitung zu einem zweisprachigen Projekt geführt hat, vermutlich sein am 1. Juli 1984 ausgestrahlter Film Weltuntergang (BRD/A 1984). Weltuntergang, eine Ko-Produktion des österreichischen und deutschen Fernsehens (ORF und NDR) sowie der TeleCulture über das Attentat in Sarajevo und den daraufhin ausbrechenden Ersten Weltkrieg, wurde auf zwei Sprachen gedreht: auf Deutsch und Englisch (unter dem Titel End of the World oder Doomsday). Das spricht dafür, dass das Telefonat sich auf die Vorbereitung dieser Produktion bezieht, denn die Form der mehrsprachigen Arbeit war weitgehend Neuland für Moszkowicz, der nicht einschätzen konnte, wieviel zusätzliche Drehzeit er dafür einplanen sollte. Deshalb rief er einen Herrn Müller an, der an der Serie Blut und Ehre. Jugend unter Hitler (BRD 1982) beteiligt war, die ebenfalls in zwei Versionen gedreht worden war. 139

Wie Moszkowicz auf ausgerechnet diese Serie und jenen Müller kam, ist nicht nachvollziehbar, gleichwohl Blut und Ehre einen Zuschaueranteil von fast 50 % in Westdeutschland erreichte und damit als erfolgreich gelten kann. In jedem Fall hilft der Hinweis für die Datierung: Blut und Ehre wurde im Juli und August 1982 ausgestrahlt, das Telefonat fand wahrscheinlich also danach statt. Die beiden Gesprächspartner am Telefon scheinen sich nicht zu kennen, nichts gibt einen Hinweis auf ein vorangegangenes Gespräch. Müller bittet zunächst, zurückrufen zu dürfen, da er diese Frage nicht aus dem Stegreif beantworten könne. Der Umstand, dass kein anderes Gespräch dazwischen aufgezeichnet worden ist, spricht für einen schnellen Rückruf. Müller ruft zurück und gibt ausführlich Auskunft über die Tücken des zweisprachigen Drehs, im Falle von Blut und Ehre. Jugend unter Hitler mit vielen jugendlichen Darsteller*innen und der Notwendigkeit der anschließenden Nachsynchronisation. Der Stab von Blut und Ehre nennt nur einen Müller, der genaugenommen ein Muller ist – aber so gut ist die Tonqualität der Bänder nicht, dass das bereits einen Ausschluss bedeutete. Robert Muller, zu diesem Zeitpunkt in seinen späten 50ern und in England lebend, war am Drehbuch der Serie über die Hitlerjugend beteiligt. Nur eine kurze weitere Recherche offenbart, dass Muller auch Autor des Drehbuchs ist, dessen Verfilmung Moszkowicz vermutlich gerade vorbereitet: Die Bearbeitung von Milan Dors Roman Der letzte Sonntag zum Drehbuch von Weltuntergang. Können sich Moszkowicz und Muller bei diesem Gespräch kennengelernt haben und daraus entstand die spätere Zusammenarbeit? Wohl kaum. Und unwahrscheinlich erscheint bei genauerer Betrachtung auch, dass Muller das Gegenüber am Telefon war. Nur wenige Autoren verfügen über derart ausführliche Informationen über die spezifischen Schwierigkeiten eines zweisprachigen Drehs; vielmehr lassen diese vermuten, der Sprecher habe die Dispo für die Drehtage wenn nicht selbst gemacht, so doch gesehen – keine klassische Aufgabe eines Autors. 140  



Doch das Interesse ist geweckt: Robert Muller, 1925 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Vaters geboren, gelangt mit einem Kindertransport nach England ins Exil, von wo aus er nicht nach Deutschland zurückkehrt. Nach dem Studium schreibt er dort als Autor für das Theater, aber auch für die BBC und nicht zuletzt für das deutsche Fernsehen. Er bearbeitet den Roman Exil von Lion Feuchtwanger für das deutsche Fernsehen, wo die siebenteilige Serie 1981 ausgestrahlt und mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet wird. Seine Hamburg-Bezüge spielen in dreien seiner Drehbücher eine zentrale Rolle, Die Welt In jenem Sommer (BRD 1980, R: Ilse Hofman), Die Fräulein von damals (BRD 1986, R: Dietrich Haugk) und Rothenbaumchaussee (D 1991, R: Dietrich Haugk), nicht zuletzt auch in seinem letzten Text: dem Theaterstück Der Unheimliche, das eine Auftragsarbeit des Hamburger Thalia Theaters war. Er schrieb es 1996 und verstarb keine zwei Jahre später. Das Stück wartet noch auf seine Uraufführung. Und auch der Autor ist für eine jüdische Filmgeschichte der Bundesrepublik wieder zu entdecken, als einer, der eben nicht aus dem Exil zurückkam, aber von dort aus für das deutsche Fernsehen schrieb. Die Entdeckung Robert Mullers kann auf einer der staubigen Kassetten einen Anfang nehmen und vermutlich sind dort noch mehr Mosaiksteine zu finden, wenn auch nicht immer die, die man gesucht hat. Verzettelt. Der Nachlass von Günter Peter Straschek Simone Nowicki Ein Deckblatt. Links oben ist mit schwarzer Tinte groß der Aktenname vermerkt: Eis, Otto. Direkt darunter und in viel kleinerer Schrift wird dieser mit einem weiteren Namen, Eisler, Otto, gleichgesetzt. Es handelt sich hierbei um den Geburtsnamen, der augenscheinlich aber nicht mehr geläufig genug ist und deshalb zwar gleichgestellt, aber nicht in derselben Schriftgröße dargestellt wird. Otto Eis wurde 1903 als Otto Eisler in 141

einer jüdischen Familie in Budapest geboren. Später zog er nach Deutschland, wo er in der deutschen Filmindustrie tätig war. Der darauffolgende Abschnitt verweist auf Eis’ Fluchtgeschichte und die Aufent­haltsdauer in den verschiedenen Ländern, die im Verlauf der Emigration angenommen Pseudonyme und Tarnnamen samt der ausgeübten Berufe mit Fokus auf die Filmbranche. Nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 zog Eis nach Österreich, musste aber infolge des ,Anschlusses‘ nach Frankreich fliehen. Später siedelte Eis in die Vereinigten Staaten über, hatte es jedoch schwer, in Hollywood Arbeit zu finden und verstarb weitgehend mittellos und unbekannt. Direkt unter dieser Aufzählung befinden sich die Quellennachweise der angegeben Informationen in roter Tinte. Das dritte Teilstück des Papiers beginnt mit einer Auflistung der Quellenverweise und der durchsuchten Akten und Archive. Diese differieren zwischen persönlichen Ansprechpartner*innen Strascheks – wie der Witwe Madleine Van Eyes, dem Bruder Egon Eis (ebenfalls Drehbuchautor) und Schwester Edith Weis – auf der einen und den Akten-Namen der Archivquellen auf der anderen Seite. Die Adressen der Befragten folgen als nächstes. Während Postadressen und Telefonnummern der Witwe und Schwester auf dem Deckblatt erfasst werden, wird für die Anschrift des Bruders auf dessen eigene Akte im Bestand verwiesen. Der untere Abschnitt dient der Erfassung von Geburtsort und -datum sowie Sterbeort und -datum, darunter finden sich Verweise auf Familienangehörige der nachfolgenden Generationen. Was am Deckblatt der Akte von Otto Eis besonders ins Auge fällt, sind die unterschiedlichen Schriftgrößen, Zeichen, Stiftfarben und -modelle, die zur handschriftlichen Registrierung verwendet wurden, sowie das Fehlen ihrer Kontextualisierung. Die variierenden Stifte und Tinten­ farben deuten auf die große Zeitspanne der Datensammlung und Verifikationsprozesse hin. Beispielsweise in der Auflistung Tarnnamen: Etienne Reynard mit Kugelschreiber und blau, Osso Van Eyss in türkisem, dünnem Filzstift und die in den USA verwendeten Namen Osso Van Eyss, George Turner, Thomas B. Foster und 142  



Tennyson-Hole werden mit feiner schwarzer Tinte geschrieben. Direkt unter dieser Aufzählung befinden sich die Quellennachweise der angegebenen Informationen in roter Schrift. Es folgt ein dreiseitiger Fragebogen, der die vorerst oberflächliche Registratur des Deckblatts biografisch konkretisiert und das Kernstück für Strascheks Verschränkung zwischen persönlicher Biografie und kollektiver Exilerfahrung bildet: Die Fragen sind mit Schreib­ maschine getippt und die Antworten wurden meistens von Straschek selbst per Hand eingetragen oder von den Befragten per Post eingesendet. Straschek führte dazu mit den noch lebenden Filmemigrant*innen Telefoninterviews, pflegte Briefkorrespondenzen und besuchte sie. Fehlende Informationen werden über Melderegister, Ämter und später Internetquellen ergänzt. Der Bogen der Akte Eis beginnt mit Angaben zu Namen, Herkunft und familiärem Stammbaum, Konfession und Beruf. Doch wird diese eher bürokratisch anmutende Frageführung schnell von den Fluchtursachen zwischen 1933 und 1945 abgelöst. Auf der nächsten Seite wird Otto Eis darum gebeten, die sogenannten Naziangebote zur besond. ‚Regelung‘ (Verbleib, ,Ehrenariertum‘ o. ä.) aufzulisten. Ob es Schwierigkeiten bei der Einreise, pro­ blematisches Verhalten in den Konsulaten / Botschaften gab, ob die Befragten Unterstützung von einer Institution oder Gewerkschaft erfahren haben oder ganz auf sich allein gestellt waren. Nur eine dreiviertel Seite im Fragebogen widmet sich Fragen nach der Filmbranche im Exilland, zur Filmarbeit und zu den Projekten, dem Verdienst und über mögliche Agent*innen, die diese vermittelt haben könnten. Auf der dritten Seite mäandert die Frage­ struktur wieder zurück zu den Aggressor*innen: Gab es in der Filmtheater Branche vor 1933 einen artikulierten Antisemitismus? Verhielt man sich Ihnen gegenüber nach Hitlers Machtantritt in der Kollegenschaft anders? Schließlich kommt der Fragebogen bei den Daten der Rückkehr nach Deutschland und der Kritik an der vermeintlichen Wiedergutmachung durch die Zahlung von Rente, Abfindung und die ‚Verrechnung‘ von KZ-Tagen an. 143

Je nachdem, wen man fragt, war Günter Peter Straschek ein linksradikaler Filmemacher des ersten Jahrgangs der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, ein besessener Sammler, ein Enfant terrible der 1968er, ein Einzelgänger oder schlichtweg ein Chaot, in jedem Fall ist er heute fast vergessen. Tatsächlich war er einer der ersten Chronisten des deutschen Kinos, der umfangreich zur Emigration von Filmschaffenden aus Nazideutschland forschte. 1975 produzierte er für den WDR die fünfteilige Serie Filmemigration aus Nazideutschland (BRD 1975), die anhand von Interviews den Spuren von insgesamt etwa tausend Filmschaffenden – Regisseur*innen, Produzent*innen, Kameraleuten, Cutter*innen, Schauspieler*innen, Drehbuchautor*innen, Kritiker*innen und Filmhistoriker*innen – folgt, die während der Zeit des NS ins Exil gingen. Die Reihe wird nur zweimal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt, bevor sie in den Archiven verschwindet. Manche Fernsehkritiker*innen begründen diese Entscheidung mit dem Mangel an prominenten Film­ persönlichkeiten in Strascheks Projekt. Doch Straschek stellte sich explizit gegen eine solche „weitverbreitete, modernistisch getarnte Inhumanität“17 des Mainstreams, die die Bedeutung von Emigrationsgeschichten nach Bekanntheitsgrad bewertete. Die Serie ist jedoch nur der Anfang von Strascheks Forschungs­ bestreben: Nach der Ausstrahlung beendet er seine Filmkarriere und bewirbt sich mit dem Forschungsprojekt „Geschichte der deutschsprachigen Filmemigration“ bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft – mit Erfolg. Für den Arbeitszeitraum von 1976 bis 1982 ist ein dreibändiges Kompendium geplant: Der erste Band eine kritische Historie, die Bände zwei und drei ein Handbuch zu den Themen Biografien, Bibliografien und Filmografien18 der Filmemigant*innen. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und finanziellen Unterstützerin, der Übersetzerin Karin Rausch, 17  Volker Pantenburg: Das Kino der Emigranten. HIER UND JETZT. Köln: Walther König 2018, S. 184. 18  Vgl. ebd.

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verlässt Straschek Deutschland und begibt sich auf die Suche nach den Aufenthaltsorten der Displaced Persons einer vergessenen Filmkultur. Straschek nutzt die aus der WDR-Serie resultierende Liste mit vertraulichen Kontaktdaten, um systematisch umfangreiche Fragebögen für sein Forschungsprojekt zu erstellen. Über 4000 Filmschaffende, Haupt- sowie Nebenberufliche, wurden in seinen Listen vermerkt. Auch die Namen von Großeltern, Kindern und (vermeintlichen) Familienangehörigen fanden ihren Weg in das Konvolut. Strascheks Arbeit ist auf dem Papier keine Erfolgsgeschichte. Seine Akribie und Sammelwut lässt ihn schnell die für das Projekt wichtige ökonomische Distanz zu seinem Forschungsthema verlieren: Straschek definiert sich selbst als Autodidakt und lehnt als systemkritischer Linksintellektueller die institutionelle Archivbürokratie mit ihrer konstitutiven Trennung von aufbewahrungswerten und nicht-aufbewahrungswerten Dokumenten ab. In den Akten befinden sich neben dem Deckblatt und den Fragebogen auch Kopien von Todes- und Sterbeurkunden, Publikations- und Zeitungsausschnitte über den*die Filmemigrant*in sowie Karteikarten mit Namen von vermeintlicher Verwandtschaft, aber auch ungeöffnete Briefe. Gerade hier werden die Probleme in der Ordnungslogik der Akte deutlich, denn das selbst gewählte Format des Fragebogens reicht nicht aus, um die antizipierte Verbindung zwischen biografischen Erinnerungen und Emigrationsstatistik auf lediglich drei Seiten zu kodieren – alles, was in dem Format keinen Platz findet, wird innerhalb der Akte regelrecht verzettelt und bleibt dekontextualisiert. Die Datenschwemme, der 30-­jährige Forschungszeitraum, die radikal-demokratische Sammlungsweise sowie das autodidaktische Arbeitssystem können als Katalysatoren von Strascheks eigener Verunordnung interpretiert werden und als Grund für das Nicht-Öffnen der Briefe vermutet werden. Warum sie ungeöffnet blieben und dennoch in die Aktenbestände einsortiert wurden, bleibt aber unklar. Straschek kannte möglicherweise schon ihren Inhalt, hat sie vergessen oder schlicht keine Zeit gehabt. 145

Im Jahr 2009, nach 30-jähriger Recherchearbeit, verstirbt Straschek; keiner der drei geplanten Bände wurde jemals veröffentlicht. Das umfangreiche Sammelsurium an Notiz- und Stammdatenblättern, Deportationsberichten, Fernsehzeitungs­ artikeln, Internetsuchverläufen, Familienbildern und Briefwechseln wird unter der Bezeichnung Günter-Peter-Straschek-Nachlass auf eigenen Wunsch hin an das Exilarchiv 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main verkauft. Damit der Nachlass im kulturellen Gedächtnis erhalten bleiben kann, wird Strascheks Gegen-Archiv selbst Teil der deutschen Archivbürokratie und Ordnungssystematik, die er durch seine eigene Archivordnung kritisiert. Der Günter-Peter-­StraschekNachlass befindet sich damit in einem kontinuierlichen Spannungsverhältnis zwischen gegenarchivischer Autonomie und seiner institutionellen Fremdbestimmung. Dies wird besonders an den ungeöffneten Briefen sichtbar, welche nach Strascheks Tod nicht zur Einsicht freigegeben sind. Das, was in ihnen geschrieben steht, bleibt so lange unbekannt, bis das Archiv die Befugnisse erteilt, die Briefe zu öffnen. Michael Kanns unliebsamer Diplomfilm Lisa Schoß Dies ist eine Geschichte vom Hörensagen. Vom Hin und Her um seinen Diplomfilm Natalja dir, dir Isaak (DDR 1979) erfuhr Michael Kann erst Jahre später durch versehentlich Ausgeplaudertes und hinter vorgehaltener Hand.19 Michael Kann (geb. 1950) war Sohn von Emigranten. Sein Vater, ein deutscher Jude, konnte sich rechtzeitig vor den Nazis nach England retten, in britischer Uniform kehrte er nach Deutschland 19  Die Details dieser Geschichte stammen aus einem Zeitzeugengespräch mit Michael Kann im Rahmen des Projektes „Filmgeschichte bewahren“ vom 18. März 2015 und Gesprächen der Autorin mit Michael Kann am 15. Juni 2021 und 17. Mai 2022. Bisher gibt es nur Indizien.

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zurück, seine Kompanie befreite Bergen-Belsen. Der Großvater war der letzte offizielle Vertreter der Jüdischen Gemeinde in Potsdam, der deportiert worden war, er verhungerte in Theresienstadt. Kanns Mutter musste Deutschland verlassen, weil ihre Eltern Kommunisten waren. Über einen Kindertransport gelangte auch sie nach England. Dort lernten Kanns Eltern sich kennen. Er käme also aus einer „jüdisch-bolschewistischen Familie“20, wie Kann einmal selbstironisch gescherzt hat. Nachdem er lange am Theater tätig war, studierte Kann von 1975 bis 1979 an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR in Potsdam-Babelsberg Regie. Als die Student*innen ihre Zustimmung zur Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann geben sollten, verweigerte Kann seine Unterschrift. Spätestens von da an galt Kann als politisch unzuverlässig. Diese Einschätzung erschwerte die Realisierung eines Filmprojektes, das Kann als sein Diplom drehen wollte. Bei der Lektüre von Ilja Ehrenburgs Memoiren Menschen Jahre Leben war Kann über eine in wenigen Zeilen geschilderte Begebenheit gestolpert. Sie handelt von einem Paar im von Deutschen besetzten Gebiet Smolensk, 1941–1943. Ein Mann, Isaak Rosenberg, Angestellter des Standesamtes und Jude, kämpfte gegen die Deutschen als Partisan und wurde verwundet. Er konnte sich zu seiner Frau Natalja und den zwei Kindern retten. Natalja versteckte ihn tagsüber unter dem Ofen, über zwei Jahre. Während der letzten erbitterten Kämpfe musste Natalja mit ihren Kindern fliehen, Isaak verharrte unter dem Ofen. Als sie zurückkehrte, waren alle Häuser zerstört und abgebrannt. Isaak war im Rauch erstickt, zwei Tage vor der Befreiung. Kann holte sich Fürsprecher wie den Regisseur Ulrich Weiß und den Dramaturgen Günther Rückert und drehte mit seiner damaligen Frau Jenny Gröllmann (Natalja) und Hilmar Baumann (Isaak) eine Art Kammerspiel: radikal reduziert, 51 Minuten fast ohne 20  Telefonat der Autorin mit Michael Kann, 17.05.2022.

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Worte, gedreht in Schwarz-Weiß (Kamera: Julia Kuhnert). Der Film fängt auf beklemmende Weise eine Atmosphäre von Angst und Stille ein. Wer im Versteck lebt, der ist gezwungen zu schweigen. Nachdem Natalja dir, dir Isaak im Mai 1980 im DDR-Fernsehen gezeigt worden war – für Student*innenfilme gab es vor und nach der Hauptsendezeit einen Programmplatz im Fernsehen – erschien im Westberliner Tagesspiegel eine Kritik, in der die Rezensentin von tiefer Erschütterung sprach.21 Als Diplom wurde der Film indes mit der Note 5 bewertet. Hinzu kam Ärger um Kanns schriftliches Diplom, eine Arbeit über die dialektische Methode als Erzählstruktur im Film am Beispiel von Aleksandr Alovs und Vladimir Naumovs Mir vkhodyashchemu / Friede dem Eintretenden (USSR 1961). Was dann geschah, ist undurchsichtig. Der damalige Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen, Peter Ulbrich, habe Natalja dir, dir Isaak mit zu einer Tagung des internationalen Filmhochschulverbands CILECT genommen und dort vorgeführt, erinnert sich Kann. Der Film ist in keinem Tagungsprogramm zu finden, gleichwohl war es möglich, dass Filme auch ohne die Anwesenheit von Student*innen bzw. intern gezeigt wurden. Tatsächlich war Ulbrich sehr aktiv bei CILECT und im Exekutiv­rat verantwortlich für die Distribution.22 Es folgten weitere Einladungen des Films zu Festivals und in Filmclubs. Der Erfolg brachte es nicht nur mit sich, dass die Note des Di­ploms zu einer 1 geändert wurde, es folgte auch eine Einladung zu den Student Academy Awards in die USA. Die Einladung wurde zunächst angenommen – allerdings ohne das Wissen des Regisseurs –, die Teilnahme dann aber buchstäblich in letzter Sekunde von den DDR-Behörden verhindert.

21  Vgl. Ursula Schaaf: Miniatur. In: Tagesspiegel, 14.05.1980, S. 5. 22  Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Stanislav Semerdjiev, dem heutigen Direktor von CILECT, für die Information.

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Als Kann eineinhalb Jahre später mit Armin-Hagen Liersch, seinerzeit Chefregisseur an der Hochschule für Film und Fernsehen, im Auto nach Babelsberg saß, habe Liersch sich verplappert, so Kann. Es habe eine Weisung von der Kulturabteilung im Zentral­ komitee der SED gegeben, dass die Macher*innen von der Einladung – und dem Rückzug – nichts erfahren durften. Auf dem Nationalen Spielfilmfestival der DDR in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) sprach Kann schließlich Konrad Schwalbe, den Nachfolger von Peter Ulbrich und neuen Direktor der Hochschule für Film und Fernsehen, auf das Schicksal seines Films an. Schwalbe fühlte sich auf dem falschen Fuß erwischt und habe gewunden erklärt, erst sei da der „jüdische Stoff“ gewesen, von einem „jüdischen Autor“ zumal – Ehrenburgs Memoiren durften erst 1978 in der DDR erscheinen –, dann sei der Film von der „amerikanisch-­ jüdischen Lobby“ eingeladen worden und schließlich käme Kann selbst „aus so einer Familie“, da sei man „wachsam geworden“.23 Daraufhin drehte sich Kann um und ging. So viel Dummheit habe er nicht ertragen. Seinen ersten Spielfilm konnte Kann erst 1986 drehen, wieder ein ‚jüdischer‘ Stoff. Stiehlke, Heinz fünfzehn … handelt von einem deutschen Hitlerjungen, der entdecken muss, dass sein Vater Jude war und der doch von seiner nationalsozialistischen Erziehung nicht lassen kann – eine Groteske aufs oktroyierte Anderssein, auf den Zufall der Herkunft und die Suche nach der passenden Identität.

23  Telefonat der Autorin mit Michael Kann, 17.05.2022.

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Mifgash Israel Raphael Rauch Am 15. Januar 1982 kam es zu einer Explosion im israelischen Restaurant Mifgash Israel in der Nachodstraße 24 in Berlin-­ Wilmersdorf. Dieser Anschlag hatte großen Einfluss auf das Bedrohungsgefühl nicht nur der Berliner Juden, sondern der ganzen jüdischen Gemeinschaft in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik. Die Regierung veranlasste daraufhin, jüdische Räumlichkeiten wie Synagogen, Gemeindehäuser und Kinder­ gärten besser zu schützen. Bei dem Anschlag starb ein kleines Mädchen, 25 Menschen wurden verletzt. Inhaber des Mifgash Israel waren Karl-Heinz Meyer und Dan Metzger. Bis heute sind die politischen Umstände der Tat nicht geklärt und die Täter unbekannt. Die ARD-Serie Levin und Gutman (1985) zeigt Bilder des Restaurants. Auch ein Dialog zweier Figuren thematisiert den Anschlag und verdeutlicht so, dass Antisemitismus sich nicht nur auf Schmierereien und rechtsradikale Propaganda beschränkte. Levin und Gutman wurde 1985 im ARD-Vorabendprogramm ausgestrahlt. Der jüdische Filmemacher Artur Brauner produzierte die Serie für den SFB. Das Drehbuch stammte von Wolfdietrich Schnurre, Regisseur war Peter Deutsch. Ziel der Serie war es, das jüdische Leben der Gegenwart in die deutschen Wohn­ zimmer zu bringen – und so einen Beitrag zu einer ,visuellen Integration‘ zu leisten. Auch wenn die Serie das Anliegen hatte, jüdisches Leben jenseits von Antisemitismus und Holocaust zu zeigen, wurden die gesellschaftlichen Probleme nicht negiert. Das zeigt auch das Thematisieren des Anschlags auf das israelische Restaurant Mifgash Israel. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ging in den 1980er Jahren davon aus, dass es sich um einen Anschlag einer PLO-Gruppe gehandelt hatte. Das Attentat führte zu großen Solidaritäts­ bekundungen mit der Jüdischen Gemeinde und mit Israel. Der 150  



SPD-Vorsitzende Willy Brandt war über die zeitliche Koinzidenz zwischen dem Anschlag auf das Mifgash Israel und dem 40. Jahrestag der Wannsee-Konferenz empört: Mich erschüttert die Nähe jenes Berliner Anschlags zu dem morgigen Tag, an dem 40 Jahre seit der Konferenz am Wannsee vergangen sein werden, auf der Hitler befahl, daß die europäischen Juden zu vernichten seien. Ich denke, wir sollten von hier aus deutlich machen, daß wir uns aus unserer Entscheidung, Unrecht, bitterstes Unrecht, soweit es menschenmöglich ist, zu überwinden, nicht herausbomben lassen werden.24

Fünf Tage nach dem Anschlag fand ein Schweigemarsch durch Westberlin statt. Der jüdische Funktionär Heinz Galinski verurteilte die Tat als „schwersten Sprengstoffanschlag, der sich hier seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ereignet hat“25. Die Tat bestätige, wie berechtigt die Warnungen waren, die ich im Namen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin seit Jahren ausgesprochen habe, ohne daß sie in der Öffentlichkeit und von den Institutionen des demokratischen Nachkriegsdeutschlands genügend beachtet wurden[.]26

Infolge von Linksterrorismus, steigenden Aktivitäten der PLO und des Libanon-Krieges fühlte sich die Jüdische Gemeinde zunehmend unsicher. Dies führte auch dazu, dass jüdische Funktionäre vermehrt Schusswaffen zum Selbstschutz anschafften – ein 24  Deutscher Bundestag. Stenografischer Bericht, 78. Sitzung, Bonn, Dienstag, den 19.01.1982. In: Bundestag, o. D. https://dserver.bundestag.de/btp/ 09/09078.pdf (Zugriff am 26.10.2022), hier S. 4488. 25  Protokoll über die Sitzung des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, 21.11.1982, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Frankfurt. Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg, o. Sign. 26  Ebd.

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Vorgang, der jedoch strikter Geheimhaltung unterlag. Einem Protokoll der Direktoriumssitzung im November 1982 zufolge warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Werner Nachmann, davor, schriftlich z. B. darüber zu berichten, daß Schußwaffen angeschafft wurden. Mit solchen Schreiben geben wir unseren in der Öffentlichkeit vertretenen Standpunkt auf, daß allein die staatlichen Stellen für unseren Schutz zu sorgen haben und wir jegliche Art von Selbstschutz, insbesondere mit Waffen, ablehnen[.]27

Die Hintergründe rund um den Anschlag auf das Restaurant Mifgash Israel und die Konsequenzen daraus wurden in Levin und Gutman allerdings nicht erläutert – es blieb bei Andeutungen über eine traumatisierte Nebenfigur. Im Verlauf der Serienfolgen, die auch ein zeitliches Voranschreiten darstellen, wird vielmehr das wieder aufgebaute Restaurant gezeigt. Von dem Anschlag ist dann nicht mehr die Rede – stattdessen wird die Normalität des Restaurantalltags betont und so der normative Wunsch der Serie eingelöst, jüdische Normalität zu zeigen. Post aus Amerika, ein Netzfund Johannes Praetorius-Rhein Als wir begonnen haben, zu Elli Silman zu recherchieren, wurde schnell deutlich, dass zu der Agentin wenig überliefert ist. So gibt es zum Beispiel nur eine sehr überschaubare Zahl einschlägiger Treffer bei Suchmaschinen: Neben Wikipedia zählen dazu eine Handvoll biografischer Einträge, ein paar Erwähnungen in Schauspieler*innenbiografien und – mittlerweile – auch eine Reihe von 27  Protokoll über die Sitzung des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, 21.11.1982.

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Pressefotos, die über größere Bildagenturen vertrieben werden. Bei einer solchen Quellenlage treten auch die sonst eher obskur erscheinenden Fundstücke in den Vordergrund. Das für uns lange Zeit am stärksten sprechende Puzzleteil stammt aus einem alten Online-Diskussionsforum für Briefmarkensammler*innen. Unter dem Thema „Post an Prominente oder von Prominenten“ fand dort ein Austausch über verschiedene Briefe statt, die irgendwie in die Sammlungen geraten waren. Das Thema wurde im Februar 2008 von einem Benutzer mit den folgenden Worten gestartet: „Briefe an und von prominenten Persönlichkeiten haben immer etwas Besonderes. In diesem Beitrag könnt ihr eure Schätze dem gewogenen Publikum präsentieren, damit sie nicht im Dunkel der Alben und Kisten ein Leben im Verborgenen führen müssen.“28 Unter dieser Eröffnung wurden bis 2021 immer wieder Briefumschläge und Postkarten geteilt, die von bekannteren und unbekannteren Politiker*innen, Industriellen sowie diversen Adligen verschickt oder auch an diese gerichtet wurden. Den Philatelist*innen geht es dabei vorrangig um das Sammeln von Briefmarken bzw. Wert- und Poststempeln, nicht so sehr um die Schreiben, die in der Regel auch nicht im Forum geteilt werden und oft wohl auch überhaupt nicht vorliegen. Der Inhalt der Sendung wird meist nur im Falle von Postkarten geteilt, wo Schreiben, Frankierung und Stempel ohnehin auf derselben Seite sind. Doch natürlich weitet sich das philatelistische Interesse mit der Frage nach ,Prominenten‘ zwangsläufig immer schon über den engeren Zusammenhang des Postwesens hinaus. Nach einigen Monaten postet der User HEFO58, der seine Beiträge mit „Helmut“ zeichnet, beide Seiten einer Postkarte. Diese ist an einen Schauspieler adressiert, der ein kleiner Star des deutschen Nachkriegskinos und ein vertrautes Gesicht des 28  Forumsdiskussion zum Thema Post an Prominente oder von Prominenten. Eintrag vom 14.02.2008. In: Philaseiten, o. D. https://www.philaseiten.de/cgibin/index.pl?F=1&ST=418&CP=0&page=0 (Zugriff am 05.07.2022).

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bundesdeutschen Fernsehens war sowie eine bekannte Synchronund Sprecherstimme besaß: „Diese Ansichtskarte habe ich in einem ganzen Wust von Belegen gefunden. Sie ist adressiert an den deutschen Filmschauspieler Claus Biederstaedt. Den Namen des Absenders kann ich leider nicht richtig entziffern.“29 Der User roteratte48, der mit „Rolf “ zeichnet, kann weiterhelfen: „Die Absenderin ist die Agentin Elli Silman (eigentlich Elli Silbermann), in der Zeit vor dem 2. WK in Berlin, dann nach USA emigriert, nach 1946 wieder als ,Filmoffizier‘ in Deutschland. War lange Zeit Managerin von Hildegard Knef und anderen.“30 Mit einem kurzen Dank für diese Information endet der Austausch zwischen den beiden. Tatsächlich ist der sehr eng und mit Hand geschriebene kurze Text von Elli Silman schwer zu lesen. Doch weil, wie in diesem Forum allgemein üblich, ein Scan in relativ hoher Auflösung gepostet wurde, lässt sie sich vergrößern und sogar genauer betrachten als es im Archiv möglich wäre. Silman schreibt: „Mein geliebter Claus – wie geht es Dir? Ich denke viel an Dich und erzähle hier viel von Dir! Wo ist Charell und gibt es eine Copy von ‚Feuerwerk‘ in USA? Oder in naher Zukunft? Drehst Du schon bei Pommer? Wann ist Premiere ‚Feuerwerk‘? Schreib mal – und beachte meine Adresse. Wir ziehen morgen um. Love & Kisses Elli“.31 Gestempelt ist die Postkarte am Mittag des 7. Oktober 1954 noch in Flushing im New Yorker Stadtbezirk Queens, am oberen Rand der Postkarte hat Silman aber ihre neue Adresse notiert: Nämlich auf der weltbekannten Fifth Avenue, mitten in Manhattan. Neben der beiläufigen Information über den Adresswechsel hat die Nachricht aber offenbar eher den Zweck, den Schauspieler 29  Forumsdiskussion zum Thema Post an Prominente oder von Prominenten. Eintrag vom 30.09.2008. In: Philaseiten, o. D. https://www.philaseiten.de/ cgi-bin/index.pl?CP=0&ST=418&F=1&page=1 (Zugriff am 05.07.2022). 30  Ebd. 31  Ebd.

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ganz allgemein der Verbundenheit der Agentin zu versichern. Sie erkundigt sich nach dem aktuell laufenden Kinofilm Feuerwerk (D 1954, R: Kurt Hoffmann), einer Musik- und Filmkomödie, die mit großem Erfolg in den deutschen Kinos lief und für den Silman nachfragend suggeriert, er könne auch Erfolg auf dem US-Markt haben. Zwar war mit Lilli Palmer tatsächlich eine in den USA und auch Großbritannien erfahrene Schauspielerin besetzt, der Film hatte aber kaum echte Chancen auf internationalen Erfolg und verschaffte eher andersherum der remigrierenden Palmer ihren Durchbruch in Deutschland. Mit Erik Charell, der Feuerwerk als Musikkomödie zunächst für die Bühne und dann auch für das Kino überaus erfolgreich adaptiert hatte, sowie mit dem Produzenten Eric Pommer, für dessen Produktionen Eine Liebesgeschichte (D 1954, R: Rudolf Jugert) und Kinder, Mütter und ein General (D 1955, R: László Benedek) Biederstaedt jeweils in eher kleinen Rollen vor der Kamera stand, sprach Silman außerdem noch zwei weitere Remigranten an, die aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt waren und mit denen sich nicht nur alter UFA-Ruhm verband, sondern an die sich auch die Hoffnung auf gute Kontakte nach Hollywood knüpfen ließ. Ihre eigene Erfahrung in den USA markiert Silman mit selbstverständlich eingestreuten englischen Vokabeln. Auch das farbige Motiv auf der Vorderseite der Postkarte markiert Weltläufigkeit: Es zeigt auf zwei Hälften einmal die Außenansicht und dann das Interieur eines mit viel Bambus und Palmen ausgesprochen exotisch eingerichteten Restaurants. Aus der umseitigen Beschriftung geht hervor, dass es sich um das Luau in Beverly Hills handelt, ein in den 1950er Jahren mit großem Erfolg eröffnetes polynesisches Restaurant: „Where the feasts of the Seven Seas are recreated for you in a romantic Island atmosphere“, heißt es auf der Rückseite der Postkarte. So ähnlich wie das Restaurant und der in den 1950er Jahren boomende polynesian pop die exotistischen Vorstellungen der Amerikaner*innen ausbeutete, so mag diese von New York nach München verschickte Ansichtskarte 155

aus Kalifornien deutschen Fantasien eines Amerika der opulenten Möglichkeiten entsprochen haben, in dem sich Filmkulissen in den Alltag hinein zu verlängern scheinen. In jedem Fall ließ das Postkartenmotiv für Biederstaedt den Schluss zu, dass die Agentin in den schicken Bars der Hollywood-Szene verkehrt. In dieser Postkarte von Elli Silman hat sich die spezifische Begegnung der Remigrant*innen mit der bundesdeutschen Filmindus­ trie besonders verdichtet und lässt sich auf einmalige Weise ablesen. Es wäre deshalb wünschenswert, die ‚in einem ganzen Wust von Belegen‘ gefundene Postkarte als Gegenstand zu sichern. Doch wir haben lediglich den Scan, der zwar für 2008 relativ hoch aufgelöst ist, aber nur im unsicheren Kontext eines Forums überliefert ist. Die weiteren Nachforschungen zu HEFO58 verlaufen im Sande: Helmut ist heute nicht mehr auf den Phila­seiten aktiv und die Recherche lässt vermuten, dass er nach Thailand ausgewandert ist. Auf unsere Facebook-Nachrichten hat er nicht geantwortet.

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Szenen

Szenen Eine Szene ist nur ein kleiner Teil eines Films und ein kurzer Ausschnitt aus der Geschichte. Doch handelt es sich dabei nicht um ein Fragment, sondern einen in sich schlüssigen, zeitlich, räumlich oder ästhetisch gefassten erzählerischen Zusammenhang. Im Film werden bestimmte Aspekte in einzelnen Szenen verdichtet und auskristallisiert. In der Regel muss dafür die Handlung in das Handeln von Figuren übersetzt werden. Häufig interagieren zwei oder mehr Figuren miteinander. Das Publikum kann dabei etwas über die Figuren erfahren oder diese können etwas ändern – es können Zuschreibungen, backstories und Identitäten fixiert oder Versuche unternommen werden, sich davon zu befreien. Dabei gibt es Filme, die haben einen ganz unsinnigen oder auch nur faden Plot und können doch aufgrund einer einzigen prägnanten Szene begeistern. Von vielen Filmen bleiben nur einzelne Szenen im Gedächtnis – in ihnen verdichtet sich etwas beispielhaft oder sie berühren in besonderer Weise. In diesem Sinne wird die Szene auch jenseits von Bühne und Film verstanden: In der Psychoanalyse ist sowohl dem Konzept des Szenischen Verstehens als auch des Szenischen Erinnerns die Grundannahme gemein, dass sich Bedeutung und mensch­liche Kommunikation in Szenen verdichtet, in denen nicht nur sprachlich kommuniziert wird und die deswegen einer Ausdeutung bedürfen. 160  



Das szenische Gedächtnis überlagert gegenwärtige Interaktionen mit Erfahrungen und Konfliktkonstellationen aus der eigenen Vergangenheit und bringt diese dadurch manchmal auch unwillkürlich zu Bewusstsein. Die Szene ist also allgemein eine zentrale Form des Verstehens, Erinnerns und Erzählens. Filmgeschichte existiert als eine jüdische eigentlich kaum im Kollektivsingular, sondern vor allem in einzelnen Szenen, die gesammelt, erzählt und gedeutet werden müssen. Dann geht es nicht mehr um die Konstruktion eines Subjekts in und hinter ‚Geschichte‘, sondern um immer neue Kontexte und Situationen, in denen Zugehörigkeiten und identitäre Verortungen kommunikativ und performativ, explizit und implizit, bewusst und unbewusst hervorgebracht oder infrage gestellt werden – jüdische Filmgeschichte lässt sich nicht nur in Szenen schreiben, sondern auch in Szenen verstehen.

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„Ich bin Wiese“ Lea Wohl von Haselberg Sie sei Wiese, antwortet eine sechsjährige Schülerin nach kurzem Nachdenken, als ihre Lehrerin am ersten Schultag fragt, welcher Religion sie angehöre. Damit möchte diese sich nicht zufriedengeben und gibt dem Mädchen einen Brief für die Eltern mit, um die ungewöhnliche Religionszugehörigkeit aufzuklären. Den Eltern, Georg und Lisbeth, fällt ein, dass sie dem Kind gesagt hatten, eigentlich um den Begriff der Dissidentin zu erläutern, sie sei Heide. Die landschaftliche Assoziation des Mädchens hatte wohl die Wörter Heide und Wiese durcheinandergebracht. Die Szene spielte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Nähe von Berlin ab und das kleine Mädchen war Regula Stern, in der Familie Rele genannt. Sie war die älteste Schwester von Maria Matray (1907–1993) – geborene Maria Charlotte Stern, später Maria Solveg und noch später Maria Matray, die diese Anekdote in ihrer erst kurz nach ihrem Tod erschienenen Autobiografie Mein Tanz durch das Jahrhundert. Als jüngste von vier Schwestern beschrieben hat. Maria Matray, mit zehn Jahren Abstand die Nachzüglerin unter den vier Stern-Schwestern, war zunächst Tänzerin und Schauspielerin, wirkte in zahlreichen Stumm- und Tonfilmen mit, tanzte neben ihrer anderen Schwester Katta Sterna (eigentlich Katharina Ida Stern, 1897–1984) und ihrem (späteren) Mann Ernst Matray auf diversen Bühnen, arbeitete im Exil als Assistentin von Max Reinhardt sowie als Choreographin für Theater und Film und wurde nach ersten in den USA veröffentlichten Texten in der Bundesrepublik produktive und erfolgreiche Autorin, vor allem fürs Fernsehen. Auch das wiederum an der Seite eines Mannes – sie schrieb im festen Autorenduo mit Answald Krüger. Wird sie heute erinnert, dann meist als Tänzerin und frühe Schauspielerin, über Autogrammkarten und Fotografien, die eine schöne junge Frau mit Wasserwelle in eindrucksvollen Tanzszenen mit Ernst 162  



Matray, zusammen mit ihrer Schwester Katta Sterna oder auch im Kostüm eines Films abbilden. Weder als Choreographin noch als Autorin ist sie heute noch bekannt, lediglich ihr Exil wird an entsprechenden Stellen notiert – ähnlich wie bei ihrer Schwester Johanna Hofer jedoch vielfach als eines, in das sie ihrem Mann gefolgt sei. Die in ihren Memoiren anekdotisch übermittelte Szene, zu der Maria Matray in ihren Aufzeichnungen zum Manuskript „Regula ist Wiese“ notiert hat, gibt Aufschluss über das Elternhaus, in dem die vier Schwestern aufwuchsen und von denen nicht nur Maria Matray und Katta Sterna als Tänzerinnen bekannt wurden, sondern auch Johanna Hofer als Schauspielerin.1 Es war ein liberaler, nicht religiöser Haushalt, in welchem den Kindern viele Freiheiten und Anregungen zum Nachdenken sowie zum künstlerischen Ausdruck geboten wurden. Lisbeth war Tochter eines protestantischen Theologen und ,Predigers‘, Georg war Jude. „Die Komplikationen, die sich aus diesem Unterschied ergaben, lösten Doktor Stern und Fräulein Lisbeth Schmidt, indem jeder von ihnen aus der Kirche austrat, der er angehört hatte“2, schreibt Matray recht lapidar. Die Eltern heirateten ausschließlich standes­amtlich; Religion spielte offenkundig keine übergeordnete Rolle im Hause Stern – bei Burcu Dogramaci heißt es schlicht: „Ihre Kinder wuchsen als Atheisten auf.“3 Und tatsächlich wird in Matrays Memoiren kaum jüdische Tradition geschildert; sie zeichnet das Bild eines kunstaffinen, freiheitlichen Milieus, das für reformpädagogische Ideen ebenso aufgeschlossen ist wie für ästhetische Experimente – ihre Mutter Lisbeth Stern betätigt 1  Regula Stern studierte Medizin und unterbrach ihr Studium für einen eher kurzen Ausflug an die Bühne, von dem sie aber zu ihrem ursprünglichen Berufswunsch zurückkehrte. 2  Maria Matray: Die jüngste von vier Schwestern. Mein Tanz durch das Jahrhundert. München: Langen Müller 1994, S. 16. 3  Burcu Dogramaci: Drei Schwestern. Die Schauspielerinnen Maria Solveg, Katta Sterna und Johanna Hofer. In: Exil 1 (2003), S. 62–77, hier S. 63.

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sich auch als Kunstkritikerin und schreibt nicht zuletzt über die Arbeit der älteren Schwester Käthe Kollwitz, der Vater komponiert neben seinem Beruf als AEG-Direktor unter dem Pseudonym Ernst Groeg.4 Obwohl Matray die Eltern als ,gutbürgerlich‘ beschreibt, lassen sie ihren Töchtern viele Freiheiten – unter anderem in der Berufswahl. Doch noch bevor sie beschreibt, wie die Eltern für die standesamtliche Hochzeit ihre Religionszugehörigkeit pragmatisch hinter sich lassen, schildert Maria Matray in ihrer Autobiografie ihre erste Antisemitismuserfahrung: Beim Dreh eines Tonfilms in Wien – wahrscheinlich Stürmisch die Nacht (D/A 1930, R: Curt Blachnitzky) – erhält sie ins Hotel einen Brief ihrer ehemaligen Kindergärtnerin aus Niederschönhausen, dem ein Kinderfoto beigelegt ist. Ein Aufnahmeleiter sagt erstaunt, dass sie ja schon als Kind blond gewesen sei, um dann zu einem Kollegen zu sagen, in Wahrheit heiße sie nämlich Maria Stern. Später habe sie, schreibt sie weiter, diesen Aufnahmeleiter in SA-Uniform gesehen. Sie verstand diese Zuschreibung über den Namen, wie wahrscheinlich auch der angesprochene Schauspieler, genau. Diese als erste beschriebene Begegnung mit „purem, primitiven Antisemitismus“5 vor 1933 habe sie wie ein Blitz durchfahren. Tatsächlich folgte sie ihrem Mann eben nicht nur in die Emigration,6 wie es in erstaunlicher Analogie zu Johanna Hofer mitunter beschrieben wird. Zugehörigkeit ist oft widersprüchlich, situationsgebunden und in Bewegung, doch die nationalsozialistischen Rassegesetze sind der Gegenentwurf zu solchen identitären Beweglichkeiten. An den Stern-Schwestern zeigt sich, dass es auch dort zu Unstimmigkeiten kam: Während Maria Matray und Katta Sterna in der Reichsfilmkammer als ,Volljüdinnen‘ 4  Vgl. Dogramaci: Drei Schwestern, S. 63. 5  Vgl. Matray: Die jüngste von vier Schwestern, S. 15. 6  Vgl. Maria Matray. In: Wikipedia, 01.04.2022. https://de.wikipedia.org/ wiki/Maria_Matray (Zugriff am 19.09.2022).

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geführt wurden (trotz der nicht-jüdischen Mutter),7 überlebt die Schwester Regula als ,Mischling ersten Grades‘ in Deutschland. Katta Sternas Flucht misslingt, sie bleibt bei der Mutter. Matray hingegen geht mit Ernst Matray in die USA, nachdem sie bereits 1928 erfolgreich Gastspiele mit Max Reinhardts Ensemble in New York absolviert hatte. Dort entdeckt sie andere Tätigkeiten und Talente: Schon ihren ersten Roman, Murder in the Music Hall, der 1946 verfilmt wird, schreibt sie mit einem männlichen Co-­ Autor – ein Modell bei dem sie geblieben ist und das äußerst produktiv für sie war – auch wenn es nicht dabei geholfen hat, in die Geschichte des deutschen Fernsehens eingeschrieben zu werden, für das sie über die Jahre immerhin über fünfzig Drehbücher geschrieben hat. Der Kinoprotest gegen Oliver Twist Tirza Seene Als die britischen Besatzungsmächte die Dickens-Verfilmung Oliver Twist des englischen Regisseurs David Lean auf den Spielplan im britischen Sektor Westberlins setzten, kam es zu Demonstrationen. Am 22. Februar 1949 protestierte eine Gruppe von Juden und Jüdinnen vor dem Charlottenburger Kino Kurbel in der Giesebrechtstraße gegen die Aufführung des Films und wendete sich dabei gegen die antisemitische Visualisierung der Figur des Fagin. Die Demonstrierenden hatten zuvor den Filmvorführer aufgesucht und sogar angeboten, die Zuschauer*innen für ihre gekauften Karten zu entschädigen.8 Als der Film letztendlich doch gezeigt wurde, störten sie die Vorführung durch Zwischenrufe und es kam zu Zusammenstößen mit anderen 7  Vgl. Dogramaci: Drei Schwestern, S. 72. 8  Vgl. Telegraf am Montag, 21.02.1949, zit. n. Michael Hanisch: „Um 6 Uhr abends nach Kriegsende“ bis „High Noon“. Kino und Film im Berlin der Nachkriegszeit 1945–1953. Berlin: DEFA-Stiftung 2004, S. 99.

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Besucher*innen. Schließlich rückte die Polizei an und zerstreute die Menge mit Gummiknüppeln. Die Szene ist bemerkenswert: Sie zeigt nicht nur, dass das Kino im Nachkriegsdeutschland als Ort einer aktiven Auseinandersetzung mit Antisemitismus genutzt werden konnte, sondern zeugt auch von der spezifischen Rezeption des Films, die vom angespannten Verhältnis zwischen Alliierten, postnazistischer Tätergesellschaft und jüdischen Überlebenden geprägt war. In der Presse sind die Proteste und der Film vielfach diskutiert worden. Laut Jüdischem Gemeindeblatt sei die Aufführung für ein deutsches Publikum gänzlich ungeeignet, da es nicht unvoreingenommen auf den Film blicken könne.9 Der Publizist und Englandkorrespondent Herbert Freeden gibt in einem weiteren Artikel derselben Zeitung die britisch-jüdische Argumentation wieder, dass „ein pathologisches Volk wie das deutsche“ den Film durch die „antisemitische Brille“ sehen müsse – und zwar im Gegensatz zu anderen, ‚reiferen‘ Nationen.10 Die britische Militärregierung, die den international erfolgreichen Film nicht absetzen ließ, betonte, dass es zu der Zeit der Romanveröffentlichung keine Judenverfolgung in Großbritannien gegeben habe und das Land vielmehr Zufluchtsort für Juden gewesen sei.11 Die britische Zeitschrift Life hebt demgegenüber den historischen Abgrund hervor, der heute problematisch erscheinen lassen müsse, was früher literarisch akzeptiert werden konnte: „But between Dickens and Director Lean history had interposed the ghosts of six million murdered Jews and the specter of genocide.“12 Die Gegenstimmen häuften sich und führende jüdische Organisationen wie die britische Sektion 9  Vgl. Unsere Meinung. Berechtigter Protest. In: Jüdisches Gemeindeblatt, 25.02.1949, S. 2. 10  Herbert Freeden: Londoner Chronik. In: Jüdisches Gemeindeblatt, 18.03.1949, S. 12. 11  Vgl. Telegraf am Montag, 21.02.1949, zit. n. Hanisch: „Um 6 Uhr abends nach Kriegsende“, S. 99. 12  Fagin in Berlin Provokes a Riot. In: Life, 07.03.1949, S. 38–39, hier S. 39.

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des World Jewish Congress drängten dazu, den Film abzusetzen, weil er geeignet sei, bei den durch das nationalsozialistische Regime geprägten Deutschen Antisemitismus zu schüren.13 Schließlich verzichtete das Kino darauf, den Film weiter zu zeigen.14 In den USA wurde der Film um mehrere Minuten gekürzt und seine Uraufführung um ein Jahr verschoben, unter anderem aufgrund der „Palestine crisis“15 nach der Staatsgründung Israels; in Israel selbst wurde der Film verboten. Schließlich kam 1951 die geschnittene amerikanische Version des Films auch wieder in die deutschen Kinos. Im öffentlichen Diskurs der direkten Nachkriegszeit wurde die Aufführung eines potenziell antisemitisch wirkenden Films problematisiert. Die Kritiker*innen erhielten auch Unterstützung von prominenten Stimmen wie Berlins damaligem Oberbürgermeister Ernst Reuter. Dennoch ist angesichts der durchaus wütenden Reaktion von Jüdinnen und Juden auf den Film bemerkenswert, dass in nicht-jüdischen Zeitungen diese spezifische Perspektive kaum berücksichtigt wurde. Vielmehr zeugt die Rezeption der Proteste von dem Bedürfnis, eine Erzählung – sei es die gelungene Entnazifizierung oder eine reibungslose deutsch-jüdische Geschichte nach 1945 – frei von Störungen zu halten, indem latente und tradierte antisemitische Stereotype in Fiktion und Film negiert werden, die den Werken trotz ihrer künstlerischen Qualitäten oder ihrer Entstehungskontexte eingeschrieben sein können. Dabei ist es bezeichnend für die Nachkriegszeit, dass der Film im Telegraf am Montag als ,Gift für die Deutschen‘ bezeichnet wird und nicht etwa als Affront gegenüber Juden und Jüdinnen, die sich diesem auch wehrhaft entgegensetzen können.

13  Vgl. JTA: „Oliver Twist“ Withdrawn in Berlin Following Bloody Clash. 25 Jews Wounded in Rioting. In: Jewish Telegraphic Agency, 23.02.1949, S. 5. 14  Vgl. Fagin in Berlin Provokes a Riot, S. 38. 15  JTA: „Oliver Twist“ May Not Be Shown in U. S. for Long Time. Jews in Canada Protest Showing. In: Jewish Telegraphic Agency, 17.09.1948, S. 5.

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Franz Marischka in der Badewanne Imme Klages Die 5. Folge der von Günter Peter Straschek für den WDR gedrehten Reihe „Filmemigration aus Nazi-Deutschland“16 trägt den Titel „Man wußte ja nie, wem man die Hand geben konnte“ und wurde am 9. Dezember 1975 ausgestrahlt. Sie beschäftigte sich mit der Frage der Rückkehr oder Nicht-Rückkehr der Filme­migrant*innen. Darin befindet sich auch diese ironische Badewannen-­Szene. Chris Horak und Helmut G. Asper schreiben ernüchternd über die Remigration: Weder in die Deutsche Demokratische Republik noch in die Bundes­ republik fand eine nennenswerte Remigration deutschsprachiger Filmkünstler, die nach 1933 von den Nationalsozialisten vertrieben worden waren und dann über Frankreich, Holland, Spanien, England und die Sowjetunion in die Vereinigten Staaten gelangten, um dort in Hollywoods Filmwirtschaft zu arbeiten, tatsächlich statt.17

Dies galt besonders für die technischen Berufe: In die Bundesrepublik emigrierten zwar bedeutend mehr nach Holly­ wood ausgesiedelte Filmschaffende als in die DDR, doch die Exilanten blieben als starke Gruppe in der Exilgemeinde am Pazifik bestehen. Die meisten von ihnen reisten nur vorübergehend nach Deutschland, um einzelne Filme mit bundesdeutschem oder amerikanischem 16  WDR 1975, Regie: Günter Peter Straschek, Produzent: Werner Dütsch. 17  Jan-Christopher Horak: Ausgeblieben? Nachkriegs-Remigration in Deutschland. In: Bastian Blachut / Imme Klages / Sebastian Kuhn (Hrsg.): Reflexionen des beschädigten Lebens? Nachkriegskino in Deutschland zwischen 1945 und 1962. München: Text + Kritik 2015, S. 41–56, hier S. 45; vgl. Helmut G. Asper: Remigration und Remigranten im deutschen Film nach 1945. In: Claus-Dieter Krohn / Axel Schildt (Hrsg.): Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit. Hamburg: Christians 2002, S. 161–179.

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  Kapital zu realisieren, zogen es aber vor, danach in ihre Wahlheimat zurückzukehren. […], wobei eine Remigration unter den technischen Berufen, z. B. Kamera, Ausstattung, Cutter, etc., faktisch nicht stattfand.18

Ein etwas irritierender, anderer Eindruck entsteht nun 1975 mit dem Remigranten Franz Marischka in dieser unterhaltsamen Szene im Bad: ,Zwetschi‘, wie er von klein auf unter Freunden genannt wurde,19 begrüßt die Zuschauer*innen aus der Badewanne und ist dabei sich zu rasieren, ein weißer Schaumbart versteckt das Gesicht. So im ganz intimen Setting, die Kamera befindet sich vor der Badezimmertür und hält gebührenden Abstand, erzählt er dann mit verschmitzter Miene von seiner Auseinandersetzung mit Fritz Kortner über Veit Harlan und dass er viel Zeit dafür aufbringen müsse, anderen weiszumachen, dass dieser nicht als der alleinige Sündenbock für die Zeit des Natio­nalsozialismus gestempelt werden könne. Das würde es vielen anderen sehr einfach machen, so Marischka. Er könne Kortner verstehen, wenn dieser Harlan nicht die Hand gebe vor der Kamera, da dies eine lange Erklärungs- und Rechtfertigungs­ geschichte mit sich bringen würde. Kortner habe in seinem Alter einfach keine Zeit mehr dafür, und so setzt Marischka ironisch hinzu, müsse er sich um seinen ,Freund‘ Harlan kümmern. Schon in Folge 2 der dokumentarischen Fernsehreihe Strascheks mit dem Titel „Wir waren aufgescheucht und vogelfrei“ war Franz Marischka dem Publikum begegnet, der dort von seiner eigenen Emigration nach England erzählt und, obwohl er mehrfach nur knapp dem Tod entronnen war, seine Geschichte in einen leichten anekdotischen Stil verpackt, der die Schwere der gefällten Entscheidungen und Auswirkungen völlig ausblendet. So konnte er als Enkel des berühmten Librettisten und Juden Viktor Léon 18  Ebd., S. 46. 19  Vgl. Franz Zwetschi Marischka: „Immer nur Lächeln“. Geschichten und Anekdoten von Theater und Film. Wien: Amalthea 2001.

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nach der Nazi-Ideologie nicht genügend passende Taufscheine für eine weitere Theaterkarriere vorweisen, wurde aber zur Wehrmacht eingezogen und verlas, da er der einzige Abiturient unter den neu rekrutierten war, vor allen anderen Soldaten den Eid auf Hitler. Er entrann dem Einsatz bei Kriegsbeginn durch ein Affidavit nach England, wo er sich freiwillig meldete und für die britische Armee noch bis 1947 arbeitete.20 Bei Kriegsende wollte ich eigentlich hoch zu Ross, natürlich auf einem Schimmel sitzend, in meine von den Nazis befreite Heimatstadt Wien einziehen. Daraus wurde leider nichts. Bis zum Jahr 1946 saß ich mit der britischen Armee im Intelligence Corps in Norwegen und verhörte SS-Angehörige und KZ-Schergen.21

Diese Aufgabe beim britischen Militär wird von Marischka in seinen 2001 veröffentlichten Memoiren kurz und knapp in zwei Sätzen abgehandelt, ansonsten aber konsequent ausgeblendet. Es ist seiner schauspielerischen Leistung während des Interviews in der Badewanne zu verdanken, dass man als Zuschauer*in die Lockerheit und Fröhlichkeit der Anekdoten aus Kriegszeiten hinnimmt und die Schwere der Trennung von Familie und Wien, die Marischka als interessante Lehrjahre präsentiert, überlacht. Diese Leichtigkeit bestimmt auch die Filme, an denen Marischka im Nachkriegsdeutschland arbeitet, von verfilmten Schlagerparaden bis zu den erotischen Lederhosen-Filmen in den 1970er Jahren. Andere Rückkehrer sahen in der deutschen Filmindustrie keine wirkliche Zukunft, sondern eher ein Mittel, um zeitlich begrenzt Geld zu verdienen. Das sieht man unter anderem an den Filmografien der Kameramänner Georg C. Stilly, der als Produzent einiger Erotikfilme zurückkehrte, und Robert Ziller, der für die CCC Film Karl May Filme fotografierte. Die Marischka-Szene, die die 20  Vgl. Interview mit Franz Marischka. In: Günter Peter Straschek: „Film­ emigration aus Nazi-Deutschland“, Folge 2. 21  Marischka: „Immer nur lächeln“, S. 104.

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Fragen zur Remigration so leicht über den Badewannenrand erzählt, ist eine mit etwas Überschwang überspielte Perspektive, dazu kommen die weiteren Szenen der Serie, die tiefe Einblicke in die Exilerfahrung und zu Fragen der Rückkehr zulassen. Im Gegensatz dazu haben viele Filme, an denen Remigrant*innen beteiligt waren, ganz einfach gestrickte Plots. Das hatte oft ganz simple Gründe und hing mit den Produktionsbedingungen zusammen, wie Marischka rückblickend beschreibt: [U]nd ich schrieb sofort das Drehbuch zu meiner Schlagerparade 1960. Die einzige Auflage war, dass es eine Billigproduktion sein musste. Das hieß, die Schlager durften nichts oder fast nichts kosten. Bei deutschen Schlagern war das kein Problem, denn die Schallplattenindus­ trie rannte uns gleichsam hinterher. Mit amerikanischen Schlagern war es viel schwieriger. Sie waren für uns finanziell unerreichbar.22

Es wäre noch vieles darüber zu schreiben, inwieweit in den Kinound auch Fernsehfilmen der frühen Bundesrepublik Ablenkung und Aufklärung aufeinanderstießen, etwa in den von der CCC Film produzierten beliebten Komödien und Schlagerfilmen und dann ab den späten 1960er und 1970er Jahren auch den Erotikfilmen. Diese teilweise sehr erfolgreichen, oft derben Filme waren eben auch Teil einer Kultur nach dem Verbrechen und Teil einer Kultur des Vergessens. Eine Äquatortaufe Lea Wohl von Haselberg Das erste Mal sieht der Junge den Mann von weitem. Er fragt seine Mutter, wer der Mann im Liegestuhl ist – es sei ein berühmter Theaterregisseur. „Meine erste Vorstellung von einem Regisseur war, das ist jemand, der eine schöne Schiffsfahrt macht, in 22  Ebd., S. 194.

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der Sonne liegt und von allen Seiten bedient wird.“23 Der Junge kommt mit dem Regisseur ins Gespräch und obwohl das Kind einwendet, er sei Jude und Juden würden nicht getauft, machen die beiden eine Äquatortaufe zusammen, in einem ,Riesen­ bottich‘ – so zumindest lautet die Erzählung des Jungen später, als er schon erwachsen und selbst Regisseur geworden ist. Der Theaterregisseur in dieser Szene ist Gustav Gründgens, der Junge Peter Lilienthal und das Schiff, auf dem sich diese Szene abspielt, bietet nur Gründgens eine „schöne Schiffsfahrt“, den damals knapp zehnjährigen Peter Lilienthal bringt es mit seiner Mutter vor allem aus Deutschland raus, in Sicherheit und ins Exil – was für den einen eine Reise, ist für den anderen Flucht. Obwohl Lilienthal und seine Mutter als Juden ein Ticket erster Klasse lösen müssen, sind sie dort auf dem Schiff nur noch Passagiere zweiter Klasse. Den Swimmingpool darf Lilienthal als Jude nur morgens ganz früh nutzen, bevor er offiziell geöffnet wird. Doch das hindert ihn nicht an dem Vergnügen der Äquatortaufe mit Gründgens. Seine Erzählung von dieser Begegnung dient Lilienthal als eine Art Ursprungsmythos seines Wunsches, Regisseur zu werden – Gründgens, der bewunderte und bediente Star, aus der Ferne beobachtet und doch ganz nahbar und freundlich zu dem Kind. Ein gutes Leben, das besonders begehrenswert erscheinen muss, wenn man gerade aus dem Land, in dem man aufgewachsen ist, in Richtung einer unsicheren Zukunft flieht. Das Ritual der Äquatortaufe stellt dabei einen Moment der Gleichheit zwischen diesen ungleichen Passagieren her. Auch in den Erzählungen eines knapp fünf Jahre älteren Regisseurs wird es solche Ursprungszenen mit Gründgens geben. Imo Moszkowicz schildert sie in seinen Memoiren Der grauende Morgen. Sie spielen sich wohl etwa zehn Jahre später, Ende der 1940er Jahre, am Schauspielhaus Düsseldorf ab, wo Moszkowicz 23  Egon Netenjakob: Es geht auch anders. Gespräche über Leben, Film und Fernsehen. Berlin: Bertz + Fischer 2006, S. 103.

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Schauspieler werden will. Dort trifft er den berühmten Gründgens, der ihn zu seinem Regieassistenten macht, ihn unter seine Fittiche nimmt und ihm damit den Weg für die ersten Schritte als Regisseur ebnet. Moszkowicz ist tief beeindruckt von Gründgens, er wird die Jahre der gemeinsamen Arbeit als prägend beschreiben und Gründgens auch bezüglich seiner ambivalenten Rolle im Nationalsozialismus immer wieder verteidigen. Dabei protegiert Gründgens den noch jungen Moszkowicz und bezeichnet sich und seinen Assistenten als ,die beiden KZler‘, wobei er auf die eigene Haft im Lager Jamlitz in der Sowjetischen Zone nach Kriegsende anspielt – Moszkowicz kam als 17-jähriger nach Auschwitz und wurde auf einem Todesmarsch befreit. In beiden Erzählungen bleibt die krasse Ungleichheit zwischen ,schöner Schiffsfahrt‘ und Flucht sowie zwischen sowjetischem Spezial- und deutschem Vernichtungslager implizit; Lilienthal und Moszkowicz stellen die Rituale, mit denen Gründgens eine Gleichheit künstlich herzustellen versucht, auch nachträglich nicht infrage, sondern erkennen darin Momente der Entscheidung für ihre späteren Karrieren. Szenische Dialoge Claudia Sandberg Klaus und Esther Zimmering stehen gegenüber des ehemaligen Geländes der Verwaltung des DDR-Ministeriums für nationale Verteidigung. An diesem kalten Tag hat Klaus seine Tochter mit dem Auto zu seiner alten Arbeitsstelle gebracht. Die mit einer dicken Winterjacke bekleidete junge Frau sitzt auf dem Rücksitz und sieht aus dem Seitenfenster kahle Bäume und uniforme Plattenbauten an sich vorbeirauschen. Dann schweift die Kamera über ein riesiges, menschenleeres Gelände mit langweiligen Bürogebäuden, das mit einem stabilen Metallzaun abgesichert ist. In einer Naheinstellung, die sich zwischen Klaus und seiner Tochter Esther bewegt, findet ein Gespräch statt, das beiden unangenehm 173

zu sein scheint. Zu DDR-Zeiten war Klaus als Arzt bei der militärischen Aufklärung der Nationalen Volksarmee tätig, durfte dies aber niemandem sagen. Selbst seine Schwester Moni hatte keine Ahnung, was genau ihr Bruder machte. „Immer sind wir hier vorbeigefahren und ich habe gedacht, deine Kinder wissen nicht, dass Du hier arbeitest,“ sagt Klaus mit abgewandtem Blick zu seiner Tochter Esther. Er fragt: „War das so schlimm für dich, dass du den Ort nicht wusstest?“ Sie antwortet schüchtern: „Ja.“ Es ist eines der vielen schwierigen Gespräche, die Esther mit ihren Familienmitgliedern führt und durch die sie erfährt, dass Klaus der Sohn passionierter politisch aktiver jüdischer Eltern ist, was für eine bemerkenswerte Frau Großmutter Lizzi war und aus welchen Gründen der Kontakt zur Familie in Israel jahrzehntelang abgebrochen war. In derartigen szenischen Dialogen werden Moralvorstellungen, Meinungsverschiedenheiten und Vorwürfe artikuliert, sie drücken sowohl Momente der Agitation als auch der Selbstreflektion aus. Der Dokumentarfilm Swimmingpool am Golan (D 2018, R: Esther Zimmering) kündigt sich als Selbstfindungsprojekt der deutsch-jüdischen Schauspielerin, Regisseurin und Aktivistin Esther Zimmering an, die in der DDR geboren wurde und zwölf Jahre alt war, als die Mauer fiel. Begleitet von Fotos, die sie im Kindergarten und in der Schule mit dem Pionierhalstuch zeigen, beginnt sie ihre Geschichte: „Ich bin in einem Land groß geworden, das es nicht mehr gibt“. Dies ist eine oft wiederholte Aussage der sogenannten Wendekinder, in der Heimatverlust und Elternlosigkeit mitschwingt, denn Eltern und Großeltern schweigen meist über ihre Erfahrungen und Rollen im sozialistischen System. So könnte man meinen, dass dieser Film eine weitere Auseinandersetzung um verpasste Träume, unterdrückte Erinnerungen, Chancen und Schuld darstellt. Jedoch ist Esthers Fall keine rein ostdeutsche Angelegenheit. Sie sieht ihre Mission in der Aufarbeitung der sozialistischen, jüdischen und zionistischen Ideale und Lebensläufe der Familie 174  



Zimmering. Im November 1989 war sie eine der eifrigen Pionier*innen, die beim Fahnenappell laut das „Immer Bereit“ in den Himmel tönten. Alles veränderte sich von heute auf morgen. Während ihre Mitschüler*innen und deren Eltern über Nacht dem Verlangen nach bunten Konsumgütern erlagen und tagelang die Schule schwänzten, um den Westen zu entdecken, wird ihr das erste Mal „Jude!“ ins Gesicht geschrien. War sie zuvor ein Mädchen mit ungewöhnlichem Namen, aber gewöhnlicher Kleinfamilie, öffnet sich ihr plötzlich eine neue Welt, als sie Verwandte und Freunde in Israel kennenlernt. Ihr Filmmaterial geht bis 1989 zurück. Es ist eine Langzeitaufnahme, die Phasen des Prozesses von einem Mädchen mit neugierigen Augen und verschmitztem Blick zu einer selbstbewussten und ernsthaften jungen Frau dokumentiert. Esther, die man erst auf dem Rücksitz und später am Steuerrad von Autos sieht, die die trockene Landschaft Israels durchstreifen, reist immer wieder mit der Kamera an, fragt alle aus und macht sich in ihren Tagebüchern Notizen zu den komplizierten und spannungsreichen Familienbeziehungen. Im leeren Swimmingpool im Kibbuz ihrer Großtante sitzend, der dem Dokumentarfilm seinen Titel gibt, sieht Esther direkt in die Kamera: „Wer kann mir erzählen, wer ich bin, woher wir kamen, wer wir sind? Wie konnte es passieren, dass unsere Familien sich vierzig Jahre lang aus den Augen verloren haben?“ In der Aufarbeitung der faszinierenden jüdischen Familien­ geschichte, die eine sorgfältige Aneinanderreihung von Tagebuchaufzeichnungen, Familienfotos, Videos, Super8-Ausschnitten, Identitätsdokumenten und Aufnahmen in privater Umgebung darstellt, haben Esthers Dialoge mit den Familienmitgliedern einen besonderen Stellenwert. Zweifellos ist sie mit schauspielerischem Geschick und der Gabe ausgestattet, in zurückhaltender und sympathischer Art ihr Gegenüber zu motivieren, sich unbequemen Fragen zu stellen. So geben die Interviews einen nuancierten Blick in die Lebenswelten starker Persönlichkeiten, deren Existenzen durch die politischen Ideologien 175

des zwanzigsten Jahrhunderts in alle Richtungen gedrängt wurden. Sie verleihen Swimmingpool am Golan Vitalität und Unterhaltungswert. Esther gelingt vor allem ein Porträt ihres Vaters. Sie bringt Klaus in vielen Situationen vor die Kamera – ob gemeinsam im Auto, an der Ostsee oder auf dem Friedhof. Während er ihrer Neugier zunächst distanziert gegenüberstand, öffnet sich Klaus zunehmend für Fragen zu seiner Herkunft und Zugehörigkeit. Er zeigt ihr Fotoalben, findet eine Urkunde seiner Mutter Lizzi, die bei einem Unfall ums Leben kam, als er selbst noch ein Kind war. Zusammen fahren sie nach Berlin-Pankow, wo Lizzi bis 1939 als Säuglingsschwester arbeitete. Bei ihrem Vater scheint sich mit Esthers Projekt über die Jahre eine Wendung vollzogen zu haben: Er beginnt, sich mit jüdischer Kultur und Religion auseinanderzusetzen. In einer Szene in seinem Haus, die ihn vor dem Hintergrund großblättriger Topfpflanzen und antiker Esszimmermöbel zeigt, sagt Klaus, dass ,das Jüdische‘ in seiner Familie keine große Rolle gespielt habe. Die Eltern feierten keine religiösen Feste und er meint abwehrend, dass Esther ihm jüdische Religion nicht aufdrücken könne. Stattdessen war er schon früh in der Jugendbewegung der DDR aktiv. Es gibt Aufnahmen des jungen Studenten der Militärmedizin und FDJlers, als er in einem Studentenchor Venceremos singt. Wie Moni, die als Übersetzerin auf internationalen Konferenzen tätig war, war auch er von hochrangigen Parteikadern umgeben. Aufgrund ihrer für die DDR-Führung wichtigen Berufe mussten sie eine Vereinbarung darüber unterzeichnen, dass sie keinen Kontakt zu ihrer Familie in Israel pflegen. Klaus hielt seine Schwester Moni nicht für ehrlich, da sie dennoch Kontakt nach Israel hatte. Darauf erwidert Moni, die impulsiv und quirlig den zurückhaltenden Charakter ihres Bruders kontrastiert, das dieser zugunsten des Berufes und der Karriere seine jüdische Herkunft vernachlässigt habe. Sie macht ihr eigenes Jüdischsein vor allem an ihrer Mutter fest. Es platzt 176  



förmlich aus ihr heraus: „Mutti, meine Mutti, das war für mich jüdisch!“ Es ist einer der emotionalsten Momente des Films, der ihren nie verwundenen Verlust spürbar macht. Die versteckten Seitenhiebe und gefühlsgeladenen Antworten sind sicher auch dem jahrzehntelangen Druck zuzuschreiben, jüdisches Selbstverständnis den Verpflichtungen als sozialistische Bürger*innen unterordnen zu müssen. Ein widersprüchliches Verhältnis zwischen politischer Überzeugung und jüdischer Identität hatte schon früh einen Keil in die Familie getrieben. Nach dem Holocaust waren die einzigen Überlebenden Lizzi und ihre Cousine Lore. Beide verschrieben sich dem Projekt des Aufbaus einer humanistischen Gesellschaftsordnung, waren aber zu deren Umsetzung an entgegengesetzten Fronten aktiv. Klaus’ Eltern Lizzi und Josef waren Mitglieder der FDJ im englischen Exil und gründeten die erste ständige Vertretung der DDR bei der UNO in Genf. Sich zuvorderst als Kommunisten, dann als Deutsche und danach als Juden sehend, wandten sie sich vom politischen Zionismus ab. Dies unterschied sich von Lores Lebensweg. Sie kam über Umwege von Holland und Spanien nach Palästina und baute mit ihrem Mann Max, der die jüdische Nationalbewegung schon in den Nazijahren in Berlin unterstützte, den Staat Israel mit auf. Als Klaus nach vierzig Jahren Trennung Lores Kinder in Israel wiedersieht, ist trotz der Freude eine tiefliegende Spannung spürbar. Traurig steht er auf dem Friedhof, starrt auf einen Punkt in der Ferne und erzählt, dass seine Tante ihre Heimatstadt Berlin sehr vermisst habe. Er bedauert, dass es der israelische Teil der Familie bisher nicht nach Deutschland geschafft habe. Der erste wird Esthers Großcousin Ari sein. Ein junger Mann, der sich der laufenden Kamera bewusst ist und unsicher zwischen Efeu und Fichtenbäumen am Grabstein der Ur-Ur-Großmutter in Berlin Weißensee steht, sagt dennoch nachdrücklich, dass es für ihn und alle Juden selbstverständlich sein sollte, Israel als ihren Lebensmittelpunkt zu sehen. In einer Zoom-Veranstaltung mit der Universität Melbourne im November 2020, eines der ersten Publikumsgespräche, die Esther 177

über ihren Film führt, sehen die australischen Zuschauer*innen Vater und Tochter vertraut nebeneinander in seiner Arztpraxis sitzen. Esther wollte unbedingt, dass Klaus dabei ist. Er muss manchmal aus dem Bild, weil er Patient*innen hat. Die Unterhaltung mit dem Publikum, die sich neben dem Film um jüdische Fragen im heutigen Deutschland und neue kulturelle Projekte dreht, ist gleichzeitig ein szenischer Dialog, der vor Jahren auf einer nassen Straße begonnen hat. Es ist schon wieder Spätherbst, aber nun sitzt Esther neben Klaus und sie kann ihm direkt in die Augen schauen. Die Winterjacke hat sie ausgezogen. „Man könnte leben, aber man lässt nicht“ Raphael Rauch In Helmut Dietls Serie Der ganz normale Wahnsinn (D 1979) berichtet der Protagonist Maximilian Glanz – gespielt von Towje Kleiner – seiner neuen Affäre Gloria Schimpf von dem Vorhaben, ein Buch mit dem Titel zu schreiben: „Woran es liegt, dass der einzelne sich nicht wohlfühlt, obwohl es uns allen so gut geht“. Den Buchtitel erläutert er auf kryptische Weise und vermittelt so das Hadern der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit ihrem jüdischen Erbe: „Es ist quasi die deutsche Übersetzung eines alten jü-, ausländischen Sprichworts: Mer ken lebn, aber men lozt nit.“ Indem Maximilian Glanz dazu ansetzt, den jüdischen Hinter­ grund des Sprichwortes zu erklären, nach der ersten Silbe „jü“ jedoch abbricht und stattdessen auf das Adjektiv „ausländisch“ ausweicht, werden mit einem einzigen Satz bundesrepublikanische Befindlichkeiten und die ,deutsch-jüdische Psychose‘ (Hendrik van Dam) auf den Punkt gebracht: die fehlende Unbefangenheit, das Wort jüdisch oder Jude auszusprechen. Zunächst formuliert Maximilian Glanz das Sprichwort auf Jiddisch, benutzt aber nicht den jiddischen Konjunktiv (men volt gekent lebn, nor men lozt nit), da dieser zu sehr von der deutschen 178  



Syntax abgewichen hätte und damit für die Zuschauer unverständlich geworden wäre. Stattdessen wählt er eine jiddisch-­ deutsche Hilfskonstruktion, die sich mit ,mer ken lebn‘ am deutschen Konjunktiv „man könnte leben“ orientiert. Da seine Angebetete Gloria Schimpf den Satz trotzdem nicht versteht, folgt später noch die deutsche Übersetzung: „Man könnte leben, aber man lässt nicht. Verstehen Sie? Die anderen, die lassen einen nicht. Darum. Ich untersuche darin … Genau. Das ist es. Es ist eine Untersuchung. Eine Untersuchung unserer Lebensbedingungen.“ Vieles spricht dafür, dass diese Passage auf Towje Kleiner zurückzuführen ist. Im veröffentlichten Drehbuch der Der ganz normale Wahnsinn ist sie nicht enthalten. Der ganz normale Wahnsinn ist nicht die einzige Serie, in der Towje Kleiner ,jewish moments‘ verarbeitet hat. Auch die Münchner Geschichten (D 1974) tragen nicht nur Helmut Dietls, sondern auch Towje Kleiners Handschrift. Dietl wollte die Serie ursprünglich zusammen mit Towje Kleiner schreiben und darin auch jüdisches Leben der 1970er Jahre in München thematisieren. Doch damit stieß Dietl auf Widerstand beim Bayerischen Rundfunk, wie der Journalist Stephan Lebert berichtete: „Den Fernsehverantwortlichen gefiel das nicht und Dietl machte aus dem jüdischen Jungen den ,Tscharlie‘.“24 Die Bedenken wiederholten sich später bei der Produktion der Serie Der ganz normale Wahnsinn, wie Dietl in einem Interview ausführte: „Keiner wollte Towje Kleiner als Hauptdarsteller (weil er jüdisch aussieht, fürchtete man antisemitische Ressentiments).“25 24  Stephan Lebert: Das rastlose Leben des Towje Kleiner. Der Schauspieler und Autor wurde als Taxifahrer in den „Münchner Geschichten“ bekannt. In: Süddeutsche Zeitung, 09.12.1986, S. 22. 25  Helmut Dietl, zit. n. Ilse Kümpfel-Schliekmann: Nervensausen beim „Durchdreher“. Regisseur Helmut Dietl ist zornig über den Titel seines neuen Films. In: Abendzeitung, 08.03.1979, o. P., Presseausschnittsammlung zu „Der Durchdreher“, Deutsches Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt am Main, Textarchiv, o. Sign.

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Statt einer jüdischen Figur spielte Towje Kleiner in den Münchner Geschichten daher die Rolle einer anderen Minderheit – die des türkischen Taxifahrers Achmed. Die türkische Identität der Achmed-­Figur weicht jedoch an mancher Stelle der jüdischen Identität des Schauspielers Towje Kleiner, etwa als Achmed mit seinen Kumpels Tscharlie und Gustl ein Lied einstudiert und dabei eine der inoffiziellen israelischen Siegeshymnen des Sechstagekriegs anstimmt: den hebräischen Song Sharm el Sheikh. Mehrmals bekommen die Zuschauerinnen und Zuschauer nur Fragmente des Liedes zu hören: Zweimal in einer Wirtschaft, wenn Achmed einen akustischen Kontrast zu den bayerischen Gstanzln liefert, und einmal in einer Wohnung, die kurzerhand zum Tonstudio umfunktioniert wurde. Erst am Ende der Serie ist der Song komplett zu hören. Die Einbindung des Sharm el Sheikh-Lieds ist als persönliche Intervention Towje Kleiners und Ausdruck seiner Liebe zu Israel zu werten. Kleiner hatte den Sechstagekrieg vor Ort miterlebt. Als Staatenloser hatte Kleiner keinen Militärdienst geleistet. Dennoch unterstützte er Israel, indem er in einem Kibbuz Aprikosen erntete und Kühe molk. Wie seine Witwe Ursula Kleiner rückblickend berichtet, hat Towje Kleiner immer wieder von dem sieges­ trunkenen Ausnahmezustand und der euphorischen Stimmung nach Israels Triumph im Juni 1967 erzählt. Sharm el Sheikh war allerdings nicht das einzige jüdische Lied, das Kleiner in die Münchner Geschichten integrierte: In der ersten Folge „Dreiviertelreife“ heult sich Tscharlies Freundin Susi bei Achmed aus, weil sie vermutet, dass Tscharlie sie mit einer anderen betrügt. Achmed kündigt seinem Freund daraufhin in Gedanken die Freundschaft und stimmt ein sephardisches Lied an: „Avre tu puerta cerrada / Qu’en tu balcón luz no hay.“ Es ist in Ladino verfasst und heißt übersetzt „Öffne deine verschlossene Tür, denn auf deinem Balkon gibt es kein Licht“.

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Eine Rast in Die Verliebten Julia Schumacher Die Handlung des Spielfilms Die Verliebten (BRD/JUG 1987, R: Jeanine Meerapfel) führt uns in das ehemalige Jugoslawien, nach Montenegro, wo die ambitionierte Journalistin Katharina den Heimatort ihrer Eltern besucht, die als Gastarbeiter*innen nach Westdeutschland migrierten. Unterwegs trifft sie den etwa gleichaltrigen Peter, der das Land bereist, um die Orte der Kriegsverbrechen aufzusuchen, an denen sein Vater als Wehrmachtssoldat beteiligt war. Ihre gemeinsame Reise steht sinnbildlich für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ihre Beziehung für das Verhältnis zwischen Nachfahren von Opfer- und Täter*innengruppen. Die gegenseitige Anziehung ist von Beginn an stark. Es wird jedoch schnell deutlich, dass sie Unterschiedliches von der Reise erwarten. Peter trägt eine Sammlung Fotos bei sich, die seinen Vater vor einer Festung in der zerklüfteten Felslandschaft abbilden. Er zeigt sie während einer Rast vor, bei der Katharina sich mit einem Stück Wassermelone erfrischt. Für ihn ist es ein Augenblick der Selbstoffenbarung. Er will ihr die Belastung erklären, die ihm die Ahnung bereitet, sein Vater könnte ein Massenmörder gewesen sein. Sie sagt dazu nichts, aber sie sieht sich die Fotos an und bleibt ihm stets körpersprachlich zugewandt; sein Kopf ist in Richtung ihrer Schulter gesenkt, als wolle er sich anlehnen. Während seiner Rede fühlt Peter sich von einem Radio gestört, das ein Straßenverkäufer unweit von ihrem Sitzplatz laut aufgedreht hat. Wiederholt fordert er, der Verkäufer solle die Lautstärke reduzieren. Als dieser nicht reagiert, brüllt der Mann schließlich: „Du. Machen. Radio. Leise!“ Dann wendet er sich wieder seiner Begleiterin zu. „Wo war ich gerade?“ Sie antwortet in sachlichem Tonfall: „Du hast gerade gesagt: ‚du machen Radio leise‘“. Die Szene ist ein prägnanter Augenblick. In der sprachlichen Aktion des Mannes tritt eine autoritäre, paternalistische Haltung 181

in den Vordergrund, die den Gestus der Figur seit ihrer Einführung latent bestimmt: Schon bei ihrem ersten Gespräch im Überlandbus, als er Katharina noch für eine unkundige Touristin hält, belehrt er sie über die Vorteile der Reisemethode – nur so könne man ein fremdes Land ‚wirklich‘ erfahren. Auch als Peter ihr von den Wehrmachtsverbrechen im Land ihrer Eltern erzählt, meint er, sie über etwas belehren zu können, das ihr eigentlich überhaupt nicht fremd ist. Ob Katharina tatsächlich familiär von diesen Verbrechen betroffen ist, lässt der Film offen. Über ihre migrantisch geprägte Biografie ist jedoch eine kulturelle Betroffenheit offenkundig, die sich im Kontext der metaphorisch verfahrenden Erzählweise als eine familiäre entschlüsseln lässt. Doch ihre Perspektive wird von Peter nicht erfragt, die ihr zugedachte Rolle ist vielmehr die der Trostspenderin. Sein Interesse an der Vergangenheit gilt vor allem sich selbst, und seine Belastung erscheint ihm so dringlich, dass er alle um sich herum zum Schweigen bringt. Vor dem biografischen Hintergrund der Autor-Regisseurin lässt sich die Szene als Kommentar zu ihrem filmpolitischen Umfeld, dem Neuen Deutschen Film, lesen, dessen Programm durch Selbstbefragungen von Nachkommen der Täter*innengruppe dominiert war. In der kurzen Filmszene scheint somit ein typisches Moment des (west-)deutschen Gedenkens an die Shoah auf, das um die Verarbeitung von Schuld kreist und in Überlebenden wie den Nachkommen der Opfer eine Schulter zum Anlehnen sucht.

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weitere titel im neofelis verlag

Und nach dem Holocaust? Jüdische Spielfilmfiguren im (west-)deutschen Film und Fernsehen nach 1945 – Jüdische Filmfiguren zwischen Spiegelfunktion und Folklore – von Lea Wohl von Haselberg Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 7 ISBN: 978-3-943414-60-8 424 S., 28 €

Schlechtes Gedächtnis? Kontrafaktische Darstellungen des Nationalsozialismus in alten und neuen Medien – Filmische Alternativen zur Geschichte des Nationalsozialismus – hrsg. v. Johannes Rhein / Julia Schumacher / Lea Wohl von Haselberg ISBN: 978-3-95808-210-6 (2. Aufl.) 376 S., 28 €

Ansteckkino Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19 – Von Nazi-Biopolitik und Hollywood-Biopic zu Killerviren-Action und Pandemiepanik-Satire – von Drehli Robnik ISBN: 978-3-95808-326-4 (2. Aufl.) 174 S., 16 €

Übergänge Passagen durch eine deutsch-israelische Filmgeschichte – Eine Rekonstruktion anhand zahlreicher Filme, Ereignisse und Begegnungen – von Tobias Ebbrecht-Hartmann ISBN: 978-3-943414-51-6 300 S., 26 €

Von Berlin nach Tel Aviv Literarische und filmische Darstellung moderner Identitätskonzepte in der Großstadt – Beziehungsreiche Großstadtbilder aus Vergangenheit und Gegenwart – von Karen Frankenstein Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 22 ISBN: 978-3-95808-317-2 328 S., 27 €

Hybride jüdische Identitäten Gemischte Familien und patrilineare Juden – Jüdische Selbstverständnisse jenseits eindeutiger Zugehörigkeiten – hrsg. von Lea Wohl von Haselberg Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 3 ISBN: 978-3-943414-52-3 182 S., 24 €

leseproben zu allen titeln unter: www.neofelis-verlag.de

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