Europäische Forschungsperspektiven: Elemente einer Europawissenschaft [1 ed.] 9783428527144, 9783428127146

Die Beschäftigung mit »Europa« zählt seit vielen Jahren zu den Kernaufgaben zahlreicher Professuren der Philosophischen

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Europäische Forschungsperspektiven: Elemente einer Europawissenschaft [1 ed.]
 9783428527144, 9783428127146

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Europäische Forschungsperspektiven

Chemnitzer Europastudien Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek

Band 8

Europäische Forschungsperspektiyen Elemente einer Europawissenschaft Herausgegeben von Peter Jurczek Matthias Niedobitek

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2008 Duncker & Hurnblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1860-9813 ISBN 978-3-428-12714-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Internet: hnp:/Iwww.duncker-humblot.de

Vorwort Der vorliegende Sammelband will in 16 Einzelbeiträgen ,,Europäische Forschungsperspektiven" aufzeigen, um der universitären Europaforschung neue Impulse zu geben. Die Beschäftigung mit ,,Europa" zählt seit vielen Jahren zu den Kemaufgaben zahlreicher Professuren der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der TU Chemnitz, deren disziplinärer Hintergrund ebenso vielfältig ist wie Europa selbst. Der multidisziplinäre Ansatz des Bandes erlaubt es, grundlegende Elemente einer im Entstehen begriffenen integrierten ,,Europawissenschaft" zusammenzutragen und in einer Zusammenschau der veröffentlichten Beiträge Ansatzpunkte für eine interdisziplinäre Kooperation zu identifizieren. Die Idee für den vorliegenden Band entstand im Kontext des Forschungs- und Lehrschwerpunkts ,,Europa" an der Technischen Universität Chemnitz, der seit Ende des 20. Jahrhunderts auf mehreren Ebenen aufgebaut und stetig weiterentwickelt worden ist. An den europabezogenen Aktivitäten im Bereich der Forschung beteiligen sich mittlerweile mehr als 20 Professuren der Geistes-, Sozial-, Wlrtschafts- und Rechtswissenschaften, so dass sich sukzessive eine multidisziplinär angelegte Schwerpunktsetzung herauskristallisiert. Obwohl die Forschungsfragen zu Ostrnitteleuropa partiell dominieren, werden gleichermaßen wichtige Themen mit Bezug zu Westeuropa bearbeitet. Um ihre fachwissenschaftlichen Überlegungen und deren Erkenntnisse stärker zu kommunizieren, haben sich die Chemnitzer Europaforscher dazu entschlossen, ihre aktuellen Arbeitsergebnisse der Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei erfolgt eine Einteilung der Beiträge unter disziplinärem Blickwinkel in fünf Kapitel: Geschichts-, Wirtschafts-, Rechts-, Kultur- und Regionalwissenschaften. Die 16 fachwissenschaftlichen Aufsätze geben einen Überblick über die thematische Bandbreite der an der Technischen Universität betriebenen Europaforschung und sollen Europaforschem anderer Universitäten Kooperationspotenziale aufzeigen. Der Charakter der einzelnen Beiträge ist entsprechend dem jeweiligen Forschungsinteresse der Autoren unterschiedlich. Einige Beiträge sind eher anwendungsorientieIt, andere eher dem Bereich der Grundlagenforschung zuzurechnen. Thematisch geht es in Kapitel I (Geschichtswissenschaft) zunächst um eine historische Betrachtung des Verhältnisses zwischen Russland und Europa (Frank-Lothar Kroll). Der folgende Beitrag geht der Frage nach, ob das antike Rom ein Modell für das modeme Europa bildet (Bemhard Linke). Konzeptionelle Überlegungen zur Europäischen Regionalgeschichte (Milos Reznik:) beschließen den geschichtswissenschaftlichen Teil. In Kapitel TI (Wirtschaftswissenschaften) befasst sich der

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Vorwort

erste Beitrag mit dem Einfluss der Motive und Führungseigenschaften von Unternehmern auf das Engagement ihrer "follower", d. h. ihrer unmittelbaren Mitarbeiter (Rainhart Lang u. a.). Ökonomische Aspekte der Umweltprobleme an den Außengrenzen der EU beleuchtet der anschließende Beitrag (Dirk T. G. Rübbelkel Eytan Sheshinski). Der dritte wirtschaftswissenschaftliche Aufsatz witft einen kritischen Blick auf die Entwicklung der industriellen Beziehungen in Mittel- und Osteuropa (Thomas Steger). Im Rahmen von Kapitel m (Rechtswissenschaft) wird zunächst der Frage nachgegangen, inwieweit die Initiative ,,iEurope 2010" einen Beitrag zu besserem Regieren in und für Europa leistet (Ludwig Gramlich), ferner wird die ,,Europatauglichkeit" des deutschen Bundesstaates nach der Föderalismusreform unter europarechtlichem Blickwinkel untersucht (Matthias Niedobitek). Vier Aufsätze behandeln in Kapitel IV europarelevante Aspekte der Kulturwissenschaften. Eingangs werden Anforderungen an die Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas in Forschung und Lehre skizziert (Wolfgang Aschauer). Der darauf folgende Beitrag ist Fragen der vergleichenden Bildungsforschung im Hinblick auf deren Eigenschaft als Hilfswissenschaft der Bildungsökonomie gewidmet (Volker Bank). Des weiteren wird in einem anwendungsorientierten Beitrag die EU-Initiative ,,Europäische Kulturhauptstädte" vorgestellt und erläutert (Ingrid Hudabiunigg). Ob Englisch als lingua franca der EU Akzeptanz findet, thematisiert die letzte kulturwissenschaftliche Abhandlung (losef Schmied). Im V. Kapitel folgen vier Beiträge zu den Regionalwissenschaften. In diesem Kontext geht es zunächst um Einstellungen und Vorschläge zur Regionalentwicklung im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet (Feter Jurczek), sodann um die politische Rolle, die Deutschland im bisherigen Prozess der europäischen Integration gespielt hat (Beate Neuss). Iberische Perspektiven eröffnet der dritte Beitrag, der spanische und portugiesische Erfahrungen mit der EU-Osterweiterung vergleichend betrachtet (Teresa Pinheiro). Einen Blick "über die Grenze" wirft schließlich der letzte Beitrag des Bandes, in dem die integrative Kraft des Lebensalitags in der Doppelstadt GörlitzZgorzelec untersucht wird (Christine Weiske u. a.). Die Forschungstätigkeit der Chemnitzer Europaforscher ist in einen Lehrlwntext eingebettet, der parallel dazu ausgebaut wurde. An der TU Chemnitz sind mehrere Studiengänge neu eingerichtet worden, die Europa im Fokus haben. Hierzu gehört zunächst einmal der 2001 eingeführte Bachelor-Studiengang "Europa-Studien", der mit einer kultur-, einer sozial- und einer wirtschaftswissenschaftlichen Ausrichtung belegt werden kann. Inhaltlich konzentriert sich die kulturwissenschaftliche Ausrichtung auf Kultur- und Länderstudien West- und Ostmiueleuropas, Kultur und Literatur sowie Sprache und Kommunikation. Die sozial wissenschaftliche Ausrichtung integriert im Wesentlichen Module zur Europäischen Geschichte, zur Europäischen Politik, zu den Europäischen Institutionen (Verwaltung, Recht) sowie zur Europäischen Sozial- und Wirtschaftsgeographie. Die wirtschaftswissenschaftliche Ausrichtung schließlich umfasst europarelevante Aspekte der Volkswirtschaftslehre, der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaft. Darauf aufbauend wurde der Master-Studiengang ,,Europäische Integration - Schwerpunkt

Vorwort

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Ostmitteleuropa" eingerichtet, der insbesondere aus den Lehreinheiten "Europa im internationalen System", ,,Rechtliche und politische Strukturen der EU", ,,Europäische Sozial- und Wirtschaftsgeographie" sowie "Osterweiterung der Europäischen Union" besteht. In Ergänzung dazu haben die Chemnitzer Historiker einen Bachelor- und einen Master-Studiengang ,,Europäische Geschichte" eingeführt. Im Bachelor-Studium geht es im Kern um die ,,Europäisierung Europas", ,,Nationsbildung, Nationalstaaten", ,,Herrschaft und soziale Ungleichheit" sowie ,,Europa und seine Nachbarn/Europa in der Welt". In den Lehrveranstaltungen des Master-Studiengangs werden folgende Aspekte vermittelt: ,.Antike und Europa", ,,Europa im Mittelalter", ,,Europäische Geschichte des 18.-20. Jahrhunderts", "Wrrtschaftsund Sozialgeschichte des 18.-20. Jahrhundert" sowie ,,Europas Nachbarn, Grenzen und Regionen". Neben europabezogener Forschung und Lehre ist der Wissenstransfer als dritte Ebene fachwissenschaftlicher Aktivitäten anzusehen, die stetig wichtiger wird. Auch in Bezug auf die inhaltliche Gestaltung wissenschaftlicher Veranstaltungen gewinnt das Thema "Europa" an der Technischen Universität Chemnitz zunehmend an Bedeutung. Angesichts dessen haben sich deren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dazu entschlossen, ein ,,Forum für Europäische Studien" (FESt) zu gründen. Dabei handelt es sich um eine gemeinsame Initiative der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den europabezogenen Aktivitäten ihrer Mitglieder in den Bereichen Forschung, Lehre und Wissenstransfer einen institutionellen Rahmen zu geben und zugleich den interdisziplinären Austausch und die interdisziplinäre Kooperation über das Thema ,,Europa" zu fOrdern. Das ,,Forum für Europäische Studien" möchte hierdurch einen Beitrag zur Profilbildung der Technischen Universität Chemnitz im Bereich ,,Europa" leisten. Es befasst sich nicht nur mit Fragen der europäischen Integration im engeren Sinne, sondern auch mit der - auf einzelne Staaten oder Regionen bezogenen oder vergleichenden - Betrachtung der Entwicklung in den europäischen Staaten. Die universitäre Initiative versteht sich, neben ihrer universitätsinternen Bündelungsfunktion, als ein Angebot an auswärtige Wissenschaftler und Wissenschaftierinnen, wissenschaftliche Einrichtungen und Studierende, mit den Mitgliedern des FESt in Kontakt, wissenschaftlichen Austausch und Kooperationsbeziehungen zu treten. Folglich stehen alle wissenschaftlichen Veranstaltungen, die im Rahmen des FESt stattfinden, auch für eine Teilnahme externer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und Studierender offen. Zur Umsetzung der Ziele des FESt wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, nicht zuletzt die Einrichtung einer Homepage (www.tu-chemnitz.de/phil / europastudien / sfes), die regelmäßige Durchführung des "Chemnitzer Europakolloquiums" als Plattform des interdisziplinären Austauschs, die Organisation regelmäßiger Versammlungen der FESt-Mitglieder sowie die Bestellung einer Sprechergruppe und die Einrichtung einer ständigen Kontaktstelle. Insofern stellt dieser Sammelband zugleich die erste gemeinsame Publikation des "Forums für Europäische Studien" dar. Unser Dank gilt allen Autoren und

Vorwort

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Autorinnen, die sich an dieser Publikation beteiligt haben, ebenso wie der Technischen Universität Chemnitz für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Frau Dr. Monika Micheel sei an dieser Stelle auf das Herzlichste für ihre Unterstützung bei der Zusammenstellung und Redaktion der Einzelbeiträge gedankt. Chemnitz, im Februar 2008

Peter Jurczek Matthias Niedobitek

Inhaltsverzeichnis I. Geschichtswissenschaft Frank-Lothar Kroll Rußland und Europa. Historisch-politische Probleme und kulturelle Perspektiven....

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Bemhard Linke Subsidiarität und Gesellschaft - Das antike Rom: Modell für das modeme Europa? ..

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Milos Reznfk Konzeptionelle Überlegungen zur Europäischen Regionalgeschichte

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ll. Wirtschaftswissenschaften Rainlwrt Lang, Alexandru Catana, Doina Catana, lohannes Steyrer Impacts of Motives and Leadership Attributes of Entrepreneurs and Managers on Followers' Commitment in Transforming Countries: A Comparison of Romania, East Germany and Austria ........................................................... 109 Dirk T. G. Rübbelke, Eytan Sheshinski Umweltprobleme an den Außengrenzen der Europäischen Union .................... 137 Tlwmas Steger Auf dem Weg zum Neo-Liberalismus? Ein kritischer Blick auf die Entwicklung der industriellen Beziehungen in Mittel- und Osteuropa ................................. 153

ill. Rechtswissenschaft Ludwig Gramlieh iEurope 2010 - auf dem Weg zu besserem Regieren in und für Europa? . . . . . . . . . . . . . . 175 Matthias Niedobitek Zur ,.Europatauglichkeit" des deutschen Bundesstaates nach der Föderalismusreform. Die europarechtliche Perspektive.................................................... 201

IV. Kulturwissenschaften Wolfgang Aschauer Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas in Forschung und Lehre ... .. ........... 233 Volker Bank "Vom Wert des Vergleichs". Über die Vergleichende Bildungsforschung als Hilfswissenschaft der Bildungsökonomie .............................................. ..... . 257

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Inhaltsverzeichnis

lngrid Hudabiunigg Europäische Kulturhauptstädte ...................................................... 275 losef Schmied Englisch als lingua franca der EU? .................................................. 307

V. RegionaIwissenschaften Peter lurczek Einstellungen und Vorschläge zur Regionalentwicklung im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet ......................................................................... 337 Beate Neuss Deutschland in Europa: Triebkraft und Mittler im Einigungsprozess ................. 355 Teresa Pinheiro Iberische Sichten der EU-Osterweiterung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Christine Weiske, Katja Schucknecht, Mariusz Ptaszek Über die Grenze: Die integrative Kraft des LebensalItags in der Doppelstadt GörlitzZgorzelec ........................................................................... 409

Autorenverzeichnis .................................................................... 435

I. Geschichtswissenschaft

Rußland und Europa Historisch-politische Probleme und kulturelle Perspektiven Von Frank-Lothar Kroll Übersicht I. Problementfaltung II. Das feme Europa 1. Erblasten der Mongolenzeit 2. Frühe Annäherungen

m.

Öffnung zum Westen

1. Europäische Hoffnungen 2. Zweckgebundene Westorientierung IV. Begegnungen mit Europa 1. Eintritt in die europäische Staatenwelt 2. Dynastische Verflechtungen 3. ,,Ausländer" in russischen Diensten 4. Hofkultur und Wissenschaften V. Wechselseitige Kontakte

1. Russisches Europäerturn 2. Europäische Rußlandfreunde VI. Distanz und Nähe

1. Krieg gegen Europa 2. Forcierte Europäisierung VII. Die große Kontroverse

1. Formierung der Positionen 2. Das Dilemma der "Westler" 3. Slavophile Träume 4. Panslavistische Utopien

vm.

Auf dem Weg nach Europa

1. Kultur und Gesellschaft 2. Konstitutionalismus 3. Industrialisierung

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Frank-Lothar Kroll

IX. Abkehr von Europa 1. Ambivalenzen des Bolschewismus 2. Anti-Europäismus und Anti-Modernismus X. Postsowjetische Perspektiven 1. Erneuerung der ,,russischen Idee" 2. Kulturpluralismus 3. Eurasismus und Imperium

I. Problementfaltung Das Problem ,,Rußland und Europa"l gehört zu jenen Themenfeldern, denen in beiden Geschichtsregionen, in Rußland wie in Europa gleichermaßen, spätestens seit dem Jahrhundert der Aufklärung, also seit dem ersten umfassenden Annäherungsversuch zwischen Rußland und Europa, immer wieder rege Anteilnahme und stärkste Aufmerksamkeit entgegengebracht worden sind. 2 Ob der Zustand Westeuropas für das jeweils aktuelle und künftige Schicksal Rußlands von vorbildhafter Bedeutung zu sein vermochte, oder ob er von eher abschreckender Wirkung war diese Frage kann mit einiger Berechtigung als ein Zentralproblern des russischen Selbstbewußtseins bezeichnet werden, als eine Leitfrage russischen Geschichtsdenkens und russischer Philosophie ebenso wie russischen politischen Gegenwartshandelns und russischer Zukunftsperspektiven.

Im folgenden sollen dieses Problem und die mit ihm verbundenen Fragen unter einem bewußt weit gespannten und umfassend vermessenen historischen Horizont 1 Dieser Beitrag ist die erheblich erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung eines Vortrags, der am 21. Apri12007 in der Universität Riga und am 9. Mai 2007 - anläßlich des ,,Europatages" - vor Studenten und Dozenten in der Technischen Universität Chemnitz gehalten wurde. 2 Aus der Fülle entsprechender Überblicksliteratur vgl. in chronologischer Reihenfolge z. B. Artur W. lust, Rußland in Europa. Gedanken zum Ostproblem der abendländischen Welt, Stuttgart 1949; Edward H. earr, ,,Russia and Europe" as a Theme of Russian History, in: Richard Paresl A. J. P. Taylor (Hrsg.), Essays Presented to Sir Lewis Narnier, London 1956, S. 357 -393; Georg von Rauch, Rußland und Europa im Zwiegespräch. Ein Literaturbericht, in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (1953), S. 230-242; ders., Rußland und Europa (1958), wiederabgedruckt in: Ders., Studien über das Verhältnis Rußlands zu Europa, Darmstadt 1964, S. 201-214; Günther Stökl, Wie europäisch ist Rußland? Zur politischen Präsenz eines historischen Problems, in: Wort und Wahrheit 19 (1964), S. 587 - 595; Hans Hecker, Rußland und Europa im Mittelalter, in: Mechthild Keller I Ursula Dettbarn I Karl-Heinz Kom (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht: 9. bis 17. Jahrhundert, München 1985, S. 35-53; Ekkehard Klug, ,,Europa" und "europäisch" im russischen Denken vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Saeculum 38 (1987), S. 193 -224; Hans-Heinrich Nolte, Tradition des Rückstands - ein halbes Jahrtausend "Rußland und der Westen", in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 78 (1991), S. 344-364; Dietrich Geyer, Rußland und Europa in historischer Perspektive, in: Otmar Franz (Hrsg.), Europa und Rußland das Europäische Haus? Göttingen/Zürich 1993, S. 9-22; Wolfgang Geier, Rußland und Europa. Skizzen zu einem schwierigen Verhältnis, Wiesbaden 1996, bes. S. 69 ff., 98 ff.

Rußland und Europa

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in mehreren chronologisch aufeinander folgenden Entwicklungsschritten entfaltet werden: zunächst im Rückgriff auf die altrussische Periode, also das Kiever Reich und den Moskauer Staat (II); dann hinsichtlich des Petersburger Imperiums bis 1917, mit Schwerpunktsetzungen im Jahrhundert der Aufklärung (rn-IV) und in der Epoche der europäischen Nationalstaatsgründungen (V - VIII); danach im Blick auf die Besonderheiten der bolschewistischen Periode, d. h. der Ära der kommunistischen Sowjetmacht (IX); und schließlich mit Bezug auf aktuelle Trends und Tendenzen innerhalb der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Gemengelage des postsowjetischen Rußlands (X). Deren außerordentliche Komplexität ermöglicht freilich nur sehr vage und unverbindliche Ausblicke auf den Weg Rußlands in seinem Verhältnis zu Europa während der näheren und weiteren Zukunft.

ll. Das feme Europa 1. Erblasten der Mongolenzeit

Bis in die jüngste Gegenwart hinein konstitutiv für das Bestimmungsverhältnis von Rußland und Europa ist die historisch weit zurückliegende Tatsache gewesen, daß die ostslavischen Stämme, die Russen, die Ukrainer und - in Grenzen - die Weißrussen, vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (1236/411480/1502) infolge der Mongolenherrschaft vom Abendland isoliert waren. In den Jahrhunderten zuvor, seit der Christianisierung des Kiever Reiches 988, hatte es vielfältige Kontakte zum Westen gegeben, Handelsbeziehungen vor allem, aber auch dynastische Verbindungen zwischen dem großftirstlichen Hof in Kiev und europäischen Herrscherhäusern. 3 Zwar war die Distanz zum lateinischen Abendland im Gefolge des Bruches zwischen Ost- und Westkirehe 1054 und erneut nach der skandalösen Eroberung des Byzantinischen Reiches durch das Kreuzfahrerheer 1204 merklich gewachsen. 4 Doch als unüberwindlich erwies sich diese Distanz erst, nachdem Rußland zum westlichen Außenposten eines Imperiums geworden war, das sein Zentrum im mongolischen Karakorum hatte. Auch die traditionelle Kulturverbindung Rußlands zu Byzanz war während jener Jahrhunderte unterbrochen. Man hat aus dieser Tatsache mit Blick auf die Entstehung des Moskauer Staates weitreichende Folgerungen gezogen. s Zwei Langzeitfolgen der Mongolenzeit sind hier vornehmlich von Gewicht. 3 Über das Verhältnis des Kiever Rußland zum Westen vgl. die noch immer grundlegenden Arbeiten von Francis Dvomik, Tbe Kiev State and its Relations with Western Europe, in: Transactions of the Royal Historical Society 29 (1947), S. 27 -46; ders., Tbe Slavs between East and West, Milwaukee (Wis.) 1964. 4 Zur Perzeption des ..Westens" in der Vorstellungswelt des mittelalterlichen Rußland vorzüglich und umfassend Günther Stökl, Das Bild des Abendlandes in den altrussischen Chroniken, Köln I Opladen 1965. 5 Vgl. in diesem Sinn besonders Georg von Rauch, Volk und Staat in der russischen Geschichte. Zum Problem der Autokratie in Rußland (1952), wiederabgedruckt in: Ders., Zaren-

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Frank-Lothar Kroll

Die Herrschaft der mongolischen Eroberer in Rußland6 war ein echtes Schrekkensregiment. Anders als beispielsweise die durch ein beachtliches Maß an Kulturaustausch und Zivilisationsvermittlung charakterisierte Anwesenheit der Araber in Spanien erwies sich die Mongolenzeit in Rußland (Goldene Horde), vor allem nach den Raubzügen von Dschingis Khans Enkel Batu (1205 -1255), der zwischen 1236 und 1242 alle südrussischen und westsibirischen Steppengebiete eroberte und verwüstete, geradezu als eine Geißel für die unterworfene russische Bevölkerung. Sie war charakterisiert durch ein Schwelgen in Raub und Mord, eine ununterbrochene Kette von Vergewaltigung und Erpressung, gefolgt von einem pedantisch ausgearbeiteten System planmäßiger Ausbeutung und Versklavung. Den autokratischen, zeitweise in reine Willkürherrschaft ausartenden Charakter des sich seit den 1470er Jahren, speziell seit der Regierungszeit Ivans ill. (1440-1505, reg. seit 1462),7 um die "Sammlung der russischen Erde" bemühenden Moskauer Großfürstenturns dürfte die Mongolenherrschaft in Rußland jedenfalls nachhaltig und dauerhaft befördert haben. Zu diesen fortwirkend autokratischen Elementen, zu den bleibenden Vorstellungen von Herrschaft und staatlicher Macht, zählten das alleinige Verfügungsrecht des Moskauer Großfürsten über Grund und Boden der meisten seiner Untertanen also faktisch das Fehlen eines Feudalsystems "westlicher" Prägung - ebenso wie die strikte Zentralisierung der zivilen und militärischen Verwaltung, sowie zahlreiche Besonderheiten ökonomisch-technischer Art, namentlich auf den Gebieten des Handelsverkehrs, der Steuererhebung und des Heerwesens. 8 Ob man aus alledem mit Autoren wie Max Weber oder Karl Wittfoge1 - bereits den Schluß ziehen darf, Rußland gehöre seit den Zeiten der Mongolen bis zum Sturz der Romanovs zum Herrschaftstyp der "orientalischen Despotie",9 mag angesichts vielfältiger reich und Sowjetstaat im Spiegel der Geschichte. Aufsätze und Vorträge. Zum 75. Geburtstag hrsg. Von Michael Garleff und Uwe Liszkowski, Göttingen/Frankfurt/Zürich 1980, S. 5166. Eine pointierte Deutung der ,,Barbarenherrschaft" in Rußland hat bekanntlich Alexander Sergeevic Puskin (1799-1837) gegeben: Indem das mittelalterliche Rußland die Mongolen auf sich lenkte und ihrer Zwangsherrschaft verfiel, rettete es die abendländisch-christliche Zivilisation vor dem Untergang. 6 Zum ,,Mongolensturm" und dessen Folgen George Vemadsky, The Mongois and Russia, New Haven 1953, bes. S. 333-390; Bertold Spuler, Die Goldene Horde. Die Mongolen in Rußland 1223-1502, 2. Aufl., Wiesbaden 1965; zuletzt Peter Nitsehe, Mongolenstum und Mongolenherrschaft in Rußland, in: Stephan Conermannl Jan Kusber (Hrsg.), Die Mongolen in Asien und Europa, Frankfurt a. M. 1997, S. 65 - 79. 7 Speziell George Vernadsky, Russia at the Dawn of the Modern Age, New Haven 1959; [an Grey, Ivan ill. and the Unification of Russia, 2. Aufl., New Haven 1967; wichtig für den vorliegenden Themenzusammenhang ferner Nikolay Andreyev, Studies in Muscovy. Western Influence and Byzantine Inheritance, London 1970. 8 Vgl. Günther Stökl, Die Wurzeln des modernen Staates in Osteuropa (1953), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat in Mittelalter und Früher Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze aus Anlaß seines 65. Geburtstages, hrsg. von Manfred Alexander/Hans Heckerl Maria Larnmich, Wiesbaden 1981, S. 20-34, bes. S. 28. 9 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Aufl., Tübingen 1925, S. 719 ff.; Karl WittJogel, Orientalischer Despotismus, dt. Ausg., Köln I Berlin 1962, S. 234 ff., 424 ff.

Rußland und Europa

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Reformbestrebungen und zahlreicher Entwicklungsbrüche in der Geschichte des Zarenreiches doch bezweifelt werden. Richtig ist freilich, daß sich in Rußland nach dem Ende der Mongolenzeit insofern ein "asiatisches" Herrschaftssystem langfristig etablierte, als die Herausbildung korporativer oder kommunaler Körperschaften, trotz zaghafter Ansätze, letztlich doch unterblieb. Anders als in Westeuropa gab es in Rußland nach dem Ende der Mongolenherrschaft kein ausgeprägtes, regional gebundenes Ständewesen, es gab weder landschaftliche Adelsverbände noch städtische Magistrate, die als erprobte und eigenständige Gesellschaftsfaktoren einen Anspruch auf politische Mitsprache, auf beratende Teilhabe an der Macht vorzutragen oder gegenüber der unbeschränkten zarischen Autokratie gar je zu erlangen und als staatsbildenden Faktor dauerhaft zu institutionalisieren vermocht hätten. 1o Auch die von Zar Ivan N. (1530 -1584, reg. seit 1533) 1549 einberufene Ständevertretung (Zemskij Sobor) des Moskauer Staates konnte in dieser Hinsicht keine formschaffende und typenbildende Kraft entfalten. 11 Die Mongolenherrschaft in Rußland zeitigte jedoch noch in einem weiteren Aspekt nachhaltige und dauerhafte Konsequenzen. Infolge des Mongolensturms sind die für das Selbstverständnis des christlichen (römisch-katholischen) Abendlandes so überaus prägenden Kulturfaktoren der Renaissance, der Reformation und des Humanismus, das Erbe der Antike, des christlichen Mittelalters und des Römischen Rechts, im Moskauer Rußland nicht zum Tragen gekommen. Sie konnten sich dort nicht entfalten, und sie konnten auch nicht nachgeholt werden. 12 Rußland gehörte infolgedessen fraglos zum europäischen Kulturkreis, doch es gehörte keineswegs zum Abendland, d. h. zum germanisch-romanisch dominierten Völkerkosmos des "Westens". Die mittelalterliche res publica christiana hatte sich ohne den Faktor ,,Rußland" gebildet, und sie war wenig bereit, Moskau als "zur Christenheit" gehörig anzuerkennen. 13 Rußland wurde, vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts, als jenseits der Rechtsordnung Europas stehend betrachtet. Es galt nicht als Teil der christlichen Staatengemeinschaft des Abendlandes, erschien vielmehr fremd und barbarisch und wurde furchtsam beäugt von den wenigen, die, wie etwa englische Handelsgesandte 14 oder der habs10 Dazu die gründliche und ausgewogene Untersuchung von Günther Stöld, Gab es im Moskauer Staat ..Stände"? (1963), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat (Anm. 8), S. 146-167; ferner Werner Philipp, Zur Frage nach der Existenz altrussischer Stände, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 27 (1980), S. 64 - 76. 11 Günther Stöld, Der Moskauer Zemskij Sobor. Forschungsproblem und politisches Leitbild (1960), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat (Anm. 8), S. 124-145. 12 Günther Stökl, Das Echo von Renaissance und Reformation im Moskauer Rußland (1959), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat (Anm. 8), S. 255-272; ferner Walther Kirchner, Russia and Europe in the Age of the Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 43 (1952), S. 172-186. 13 Für den Zusammenhang Jürgen Fischer, Oriens - Occidens - Europa. Begriff und Gedanke ,.Europa" in der späten Antike und im frühen Mittelalter, Wiesbaden 1957, bes. S. 59 ff.; grundlegend und mit einer Fülle weiterführender Literatur jetzt Klaus Oschema, Der Europa- Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 2 (2001), S. 191-234.

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Frank-Lothar Kroll

burgische Diplomat und Staatsmann Siegmund von Herberstein (1486- 1566)15, infolge vereinzelt vorgenommener Reisen l6 ein verschwommenes und äußerst widerspruchvolles Bild vom fernen Moskovitischen Reich zu zeichnen versuchten. 17 Herberstein selbst freilich war ein scharfer und vorurteilsloser Beobachter russischen Lebens, das ihm in allen seinen Einzelheiten und Erscheinungsformen berichtenswert erschien. Zwei diplomatische Aufträge nach Moskau gaben ihm 1517 und 1527 die Gelegenheit, in seinen 1549 erschienenen Rerum Moscoviticarum commentarii erstmals umfassend, und geschult durch den Wissensdurst des humanistisch gebildeten Gelehrten, einem abendländischen Leserkreis über Rußland und die Russen zu berichten. 2. Frühe Annäherungen Trotz weithin herrschender Beziehungslosigkeit hat es auch im Moskauer Reich, also im vor-petrinischen Rußland, vereinzelte Formen des Austausches mit dem Westen und der Annäherung an Europa gegeben. 18 Sie reichten von kulturellen 14 Lloyd E. Berry / Robert O. Crummey, Rude and Barbarous Kingdom. Russia in the Accounts of Sexteenth-Century English Voyagers, Madison 1968; wichtig ferner Klaus Zernack, Handelsbeziehungen und Gesandtschaftsverkehr im Ostseeraum. Voraussetzungen und Grundzüge der Anfänge des ständigen Gesandtschaftswesens in Nord- und Osteuropa (1957), wiederabgedruckt in: Ders., Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, S. 81-104. IS Günther Stökl, Siegmund Freiherr von Herberstein. Diplomat und Humanist (1960), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat (Anm. 8), S. 318 - 329; als Forschungsbericht ferner ders., Herbersteiniana, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 15 (1967), S. 423 -432; Berthold Picard, Das Gesandtschaftswesen Ostmitteleuropas in der frühen Neuzeit. Beiträge zur Geschichte der Diplomatie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach den Aufzeichnungen des Freiherm Sigmund von Herberstein, Graz/Wien/Köln 1967; zuletzt Walter Leitsch. Das erste Rußlandbuch im Westen - Sigismund Freiherr von Herberstein, in: M. KellerlU. Dettbam/K.-H. Kom (Hrsg.), Russen und Rußland (Anm. 2), S. 118 - 149, mit ausgewählter Textedition. 16 Friedhelm Berthold Kaiser I Bemhard Stasiewski (Hrsg.), Reiseberichte von Deutschen über Rußland und von Russen über Deutschland, Köln/Wien 1980. 17 Aus der reichhaltigen Literatur Theodor Jacob Gottlieb Locher; Das abendländische Rußlandbild seit dem 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1965; Andreas Kappeier; Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Rußlandbildes, Bern/Frankfurt a. M. 1972; Martin Welke, Rußland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts (1613 bis 1689), in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 23 (1976), S. 105 - 276; Aleksandr Lvovic Goldberg, Die Rezeption staatspolitischer Ideen des Moskauer Rußland im westeuropäischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Slawistik 21 (1976), S. 334 - 350; Frank Kämpfer; Facetten eines deutschen ,,Rußlandbildes" um 1600, in: M. KellerlU. Dettbam/K.-H. Kom (Hrsg.), Russen und Rußland (Anm. 2), S. 206-222; Monika Hueck, ,,Der wilde Moskowit". Zum Bild Rußlands und der Russen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: ebd., S. 289-340; instruktive Zusammenfassung des seinerzeitigen Verhältnisses ,,Rußland - Europa" bei Erich Donnert, Rußland an der Schwelle der Neuzeit. Der Moskauer Staat im 16. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1972, S. 453-473.

Rußland und Europa

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Kontakten l9 über die Aktivitäten westlicher Spezialisten, allen voran Architekten und Offiziere, Kaufleute, Händler und Handwerker, die als ausländische Fachkräfte in Moskauer Diensten standen und sich mancherlei religiöse Repressalien seitens der russischen Orthodoxie gefallen lassen mußten,20 bis hin zu den Bemühungen des Zaren Aleksej Michajlovic (1629-1676, reg. seit 1645) um ein Bündnis zwischen Moskau und den maßgebenden europäischen Höfen zwecks gemeinsamer Abwehr der drohenden osmanischen Gefahr im Jahr 1672, was indes scheiterte, so daß die Armee des Zaren in ihrem ersten Türkenkrieg (1677 -1681) allein gegen die Ungläubigen im Feld stand. 21 Doch 1686 ist es dann tatsächlich zu einer antitürkischen Liga zwischen Rußland, dem römisch-deutschen Kaiser, Venedig und Polen-Litauen gekommen, wesentlich vermittelt durch den westlich gebildeten damaligen Leiter des russischen Außenamtes Fürst Vasilij Vasilevic Golicyn (1643 _1714)22, und mit offensiver Stoßrichtung nicht nur gegen die Türken, sondern auch gegen die mit ihnen liierten (Krim-)tataren.

ill. Öffnung zum Westen Infolge der Reformen Peters des Großen (1672-1725, reg. seit 1682/89) begann Anfang des 18. Jahrhunderts jener viel beschriebene Prozeß der ,.Europäisierung" des Zarenreiches, der hinsichtlich seiner Intensität alle bisherigen Ansätze und Kontaktnahmen in dieser Richtung weit hinter sich lassen sollte und dem Verhältnis Rußlands zum Westen eine grundsätzlich neue Qualität verlieh. Das galt im übrigen für beide Geschehensräume. Denn nicht nur das Reich der Moskoviter Zaren sah sich seitdem mit der kontinuierlichen Herausforderung eines ,,richtigen" 18 Zur "Vorgeschichte" der petrinischen Europäisierung Rußlands vgl. grundlegend und gedankenreich Günther StökI, Rußland und Europa vor Peter dem Großen (1957), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat (Anm. 8), S. 294 - 317, bes. S. 309 ff. 19 Hierzu speziell Hanmut Rüß, Moskauer "Westler" und ,,Dissidenten", in: Dagmar Herrmann/Johanne Peters/KarI-Heinz Korn/Volker Pallin (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht: 11. bis 17. Jahrhundert, München 1988, S. 179-216. 20 Dazu überblickshaft Erik Amburger, Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Rußlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1968. Für den Zusammenhang speziell Hans-Heinrich Nolte, Religiöse Toleranz in Rußland 1600-1725, Göttingen 1969; tiers., Verständnis und Bedeutung der religiösen Toleranz in Rußland 1600-1725. Zur Kirchlichkeit des Moskauer Reiches, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 17 (1969), S. 494-530; wichtig ferner Margarete Woltner, Zur Frage der Untertanenschaft von Westeuropäern in Rußland bis zur Zeit Peters des Großen einschließlich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (1938), S. 47 -60. 21 Georg von Rauch, Moskau und die europäischen Mächte des 17. Jahrhunderts (1954), wiederabgedruckt in: Ders., Studien über das Verhältnis Rußlands zu Europa (Anm. 2), S. 1-22, bes. S. 16 ff. 22 Über ihn in diesem Zusammenhang Nikolaj Nikolaevic Danilov, V. V. Golicyn bis zum Staatsstreich vom Mai 1682, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1 (1936), S. 1-33; zuletzt Lindsey Hughes, Russia and the West. The Life of the Seventeenth-Century Westernizer Prince Vasily Vasilevich Golitsyn (1643 - 1714), Newtonville 1984.

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Umgangs mit dem westlichen Import konfrontiert. Auch für den Westen wurde das Zarenreich nun zunehmend relevant - als Projektionsfläche wie als Spiegelbild europäischen Selbstverständnisses gleichennaßen. 1. Europäische Hoffnungen

Das petrinische Refonnwerk erfuhr nahezu von der gesamten gebildeten Welt Westeuropas fOrdernde Zustimmung. Es wurde dabei zumeist als ein Versuch gewertet, europäische Gesittungsfonnen in aufklärerischer Absicht einern "von Natur aus" barbarischen, fast halbasiatischen Volk nahezubringen. 23 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) war der erste europäische Denker, der das Zarenreich in diesem Sinn als ein großräumiges Experimentierfeld betrachtete, in dessen Areal europäische Kultur und Bildung Fuß zu fassen habe, damit der innerrussische Zivilisierungsprozeß voranschreite. Nur durch eine solche kulturelle Erschließung durch den Westen könne Rußland seiner Aufgabe als vermittelndes Bindeglied zwischen Europa und China, den Hauptträgem der Weltkultur, gerecht werden. 24 Peter der Große selbst galt dabei vielfach als Idealbild eines im Dienst der Aufklärung wirkenden Fürsten, der das Kulturgefälle zwischen seinem Land und Europa vermindere. Voltaire (1694 - 1778) sollte dann später diese Sichtweise - unter vollkommener Unkenntnis der tatsächlichen Situation im Land - auf Peters I. Nachfolgerin Katharina 11. übertragen und damit ein Musterbeispiel für die ideologische Verschleierung realer politischer Sachverhalte bieten.2s Doch es gab auch damals schon gegenläufige Sichtweisen. Jean Jacques Rousseau (1712-1778) etwa hatte über Peters des Großen Reforrnrnaßnahmen erheblich skeptischer geurteilt. Während sie für Voltaire einen Markstein auf dem Weg des (selbstverständlich von Europa dominierten) Fortschritts des Menschen23 Dazu wie auch für das Folgende grundlegend Dieter Groh, Rußland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte, Neuwied 1961, hier S. 17 - 80. Zum Rußlandbild der Aufklärung vgl. auch die grundSätzlichen Bemerkungen von Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, S. 77 -89; für Deutschland speziell Lew Kopelew, Neues Verständnis und neue Mißverständnisse, neue Verbindungen und neue Widersprüche. Zum Rußlandbild der deutschen Aufklärung, in: Mechthild Keller (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, München 1987, S. 11-34; für Frankreich Albert Lortholary, Les "philosophes" du xvme siec1e et la Russie. Le mirage russe en France au xvme siec1e, Paris 1951. 24 Liselotte Richter, Leibniz und sein Rußlandbild, Berlin 1946; Ernst Benz. Leibniz und Peter der Große. Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit, Berlin 1947; zuletzt Mechthild Keller, Wegbereiter der Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz' WIrken für Peter den Großen und sein Reich, in: Dies. I U. Dettbarn I K.-H. Kom (Hrsg.), Russen und Rußland (Anm. 2), S. 391-413. 25 Zur Wirkungsgeschichte vgl. Petr Zaborov. Voltaire im Rußland des 18. Jahrhunderts, in: Heinz Duchhardt/Claus Scharf (Hrsg.), Interdisziplinarität und Internationalität. Wege und Formen der Rezeption der französischen und der britischen Aufklärung in Deutschland und Rußland im 18. Jahrhundert, Mainz 2004, S. 81-90.

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geschlechts bildeten, erhob Rousseau, wohl als einer der ersten, den später so geläufigen Vorwurf, der Zar habe durch sein gewaltiges Umschichtungswerk Rußland von dessen ,,natürlicher" Entwicklungsrichtung abgelenkt und auf grundsätzlich falsche Bahnen geführt. Statt die Maßstäbe für eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft aus den Gegebenheiten der eigenen, russischen Kultur, Geschichte und Volkstradition zu gewinnen, seien unter Peter dem Großen Normen und Wertvorstellungen von Europa nach Rußland übertragen worden, die nicht zu diesem Land passten und die ihm nicht bekamen. Die Russen wurden so daran gehindert, das zu werden, was sie "eigentlich" hätten sein können. Sie wurden niemals wirklich zivilisiert, weil sie der europäischen Zivilisation, für die sie noch nicht ,,reif' genug waren, viel zu früh unterworfen wurden. 26 Noch einen Schritt weiter als Rousseau ging damals Johann Gottfried Herder (1744-1803), indem er das von seinem Zeitgenossen Voltaire aufgestellte Bestimmungsverhältnis von russischer und europäischer Kultur schlechthin in sein Gegenteil verkehrte: Nicht Europa sei Leitbild und Entwicklungsnorm für das vermeintlich rückständige Zarenreich. Vielmehr sei es Rußlands Bestimmung, an die Spitze der europäischen Kultur zu treten, ja sogar deren zukünftiger Träger und Repräsentant zu werden - wenn denn einmal der Gang der Weltgeschichte seine Schwerpunktverlagerung von Westen nach Osten vollzogen haben wird. Daß eine solche west-östliche Kulturwanderung in absehbarer Zeit bevorstand, zählte zu den unumstößlichen Axiomen der Herderschen Geschichtsphilosophie. 27

26 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Alla Zlatopolskaja, Die religiös-moralischen und sozialphilosophischen Ideen Rousseaus im Kontext des russischen Denkens in der zweiten Hälfte des 18. und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, in: H. Duchhardt/C. Scharf (Hrsg.), Interdisziplinarität und Internationalität (Anm. 25), S. 165 -185. 27 Darüber speziell Kurt Stavenhagen, Herders Geschichtsphilosophie und seine Geschichtsprophetie, in: Zeitschrift für Ostforschung 1 (1952), S. 16-43; ferner die älteren Untersuchungen von Konrad Bittner, Herders Geschichtsphilosophie und die Slawen, Reichenberg 1929, bes. S. 137 ff.; tiers., Die Beurteilung der russischen Politik im 18. Jahrhundert durch Johann Gottfried Herder, in: Erlch Keyser (Hrsg.), Im Geiste Herders. Gesammelte Aufsätze zum 150. Todestage J. G. Herders, Kitzingen 1953, S. 30-72; Ernst Birke, Herder und die Slawen, in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfiinfzig Jahre, Düsseldorf 1950, S. 81-102; Erich Keyser, Die Volker Osteuropas im Urteil Herders, in: Syntagma Friburgense. Historische Studien Hermann Aubin dargebracht zum 70. Geburtstag am 23. 12. 1955, Lindau/Konstanz 1956, S. 69-86, bes. S. 75 ff.; als knapper Überblick Wolfgang Gesemann, Herder's Russia, in: Journal of the History ofIdeas 26 (1965), S. 424 -434; zuletzt Mechthild Keller; "Politische Seeträume": Herder und Rußland, in: Dies. (Hrsg.), Russen und Rußland (Anm. 23), S. 357-395,650-652; Peter Drews, Herder und die Slawen, München 1990, bes. S. 69-104, sowie H. Barry Nisbet, Herder's Conception ofNationhood and its Influence in Eastern Europe, in: Roger Bartlett/Karen Schönwälder (Hrsg.), Tbe German Lands and Eastern Europe. Essays on the History of their Social, Cultural and Political Relations, London 1999, S. 115 -135.

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2. Zweckgebundene Westorientierung

Weit entfernt von solch innereuropäischen Diskussionen und Kontroversen über das zukünftige Schicksal Rußlands 28 vollzog sich im Moskoviterreich damals tatsächlich das, was man später die Formierung eines ,,Neuen Staates" genannt hat. Doch auch wenn dessen Konturen in deutlicher Anlehnung an Vorbilder aus dem Westen Gestalt gewannen, so entsprach die Konkretion ihrer jeweiligen Ausprägungen kaum jenen Erwartungen, Hoffnungen und Wunschvorstellungen, die man dem petrinischen Reformwerk im zeitgenössischen Europa entgegenzubringen geneigt war. Bereits die Grundintention des zarischen Projektes ist von den meisten seiner zeitgenössischen Interpreten schlechthin verkannt worden. Peter ging es nicht, oder doch nur sehr bedingt, um eine aus philosophisch-philanthropischen Erwägungen gespeiste "Beglückung" des größtmöglichen Teiles seiner zahlreichen Untertanenschaft. Ausgangspunkt und Zielvorgabe aller seiner Unternehmungen war es vielmehr, Rußlands Macht im Kreis der europäischen Staaten sichtbar und dauerhaft zu stärken, die Handhabung der dafür notwendigen Methoden zu intensivieren, die dazu benötigten Instrumente bereitzustellen und sie zu erhalten. Daraus ergab sich eine spezifische Verknüpfung von "Westorientierung", Machtstreben und "Staatsnutzen", die auf nahezu allen Feldern und Bereichen petrinischer Reformaktivität greifbar ist: 29 Die Schaffung eines Stehenden Heeres folgte einer Entwicklung, die in zahlreichen Staaten Kontinentaleuropas, allen voran in Brandenburg-Preußen, bereits Schule gemacht hatte - und bildete zugleich die Voraussetzung für jegliche Form machtstaatlichen Ausgriffs; die Bemühungen um einen Aufschwung der industriellen Produktion standen ganz unter dem Zeichen der im Westen so erfolgreich angewendeten Wirtschaftsprinzipien des Merkantilismus - und vollzogen sich zugleich im Schatten der alles beherrschenden fiskalischen Bedürfnisse des militärischen Sektors, allen voran der Flotte; die Maßnahmen im Bereich der staatlichen Administration, gipfelnd in der Etablierung von Fachministerien, zentralen Verwaltungsbehörden und regionalen Verwaltungsbezirken, orientierten sich bis ins Detail an schwedischen Vorbildern und dienten zugleich stets den organisatorischen Erfordernissen kriegerischer Expansion; die kirchenpolitischen Eingriffe in den klösterlichen Grundbesitz, in die kirchliche Verwaltung und in die Handhabung religiöser Toleranz zugunsten der in Moskau lebenden nicht-orthodoxen Christen fanden zwar den Beifall der auf28 Eckhard Matthes, Das veränderte Rußland. Studien zum deutschen Rußlandverständnis im 18. Jahrhundert zwischen 1725 und 1762, Frankfurt a. M.lBern/Cirencester 1981; ferner Gert Robel, Deutsche Biographien Peters des Großen aus dem 18. Jahrhundert, in: M. Keller (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht (Anm. 23), S. 153 -172. 29 Für das Folgende noch immer maßgeblich Reinhard Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Bde., Göuingen 1964 (mit aller bis dahin einschlägigen Literatur); zur "Westeuropäisierung" Rußlands durch Peter I. zuletzt Eckhard Hübner; Peter der Große: Auch Deutschland lag im Westen, in: Dagmar Herrmann/KarlHeinz Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung, München 1992, S. 77 -100.

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geklärten Kirchenkritiker im Westen - doch stets geschah auch all das im Interesse einer Nutzbarmachung der dadurch freigesetzten Mittel für die politisch-strategischen Ziele des neuen Macht- und Militärstaates. Anwendungsorientierte, "nützliche" und praxisrelevante Fertigkeiten standen mithin im Zentrum entsprechender Übernahmen aus dem "Westen", worunter nicht zuletzt die Rezeption bestimmter Elemente westlicher Absolutismus-Modelle zu rechnen w~o - allerdings auch hier zunächst weniger in inhaltlicher als vielmehr in formaler bzw. instrumentaler Hinsicht zum Zweck einer Steigerung und Neufundierung der herrscherlichen Gewalt. 31 Als Musterbeispiel einer "gelenkten" Europäisierung und Modernisierung,32 also eines bewußten Selektionsvorgangs, sollte die von Peter dem Großen betriebene Übernahme "westlicher" Vorbilder jedenfalls Schule machen und sich seitdem zu einem typischen und durchgängigen Merkmal der Kontaktnahme zwischen Rußland und Europa entwickeln. Einzelne Segmente der westlichen Kultur wurden zu bestimmten Zeiten auf spezifisch russische Verhältnisse übertragen, verblieben dabei indes vielfach an der Oberfläche und erwiesen sich als ein ausgesprochenes Elitenphänomen. Daß es - jenseits aller staatlich verordneten Adaptionen - seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch eine begrenzte ,,inoffizielle" Aufnahmebereitschaft für westliche Ideen und Doktrinen in bestimmten gebildeten Kreisen der russischen Gesellschaft gegeben hat, verdeutlicht die Komplexität und Vielschichtigkeit des mit dem Begriff der ,,Europäisierung" nur sehr unzureichend gekennzeichneten Vorgangs. IV. Begegnungen mit Europa 1. Eintritt in die europäische Staatenwelt Rußlands Weg nach Europa33 verband sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem Eintritt des Zarenreiches in die europäische Staatenwelt. 34 Das Imperium 30 Hans-Joachim Torke. Autokratie und Absolutismus in Rußland. Begriffsklärung und Periodisierung, in: Uwe Halbach!Hans Hecker! Andreas Kappeier (Hrsg.), Geschichte Altrußlands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl, Stuttgart 1986, S. 32-49. 31 Grundlegend Helmut Neubauer, Car und Selbstherrscher. Beiträge zur Geschichte der Autokratie in Rußland, Wiesbaden 1964; ferner Günther Stökl, Die Begriffe Reich, Herrschaft und Staat bei den orthodoxen Slawen (1954), wiederabgedruckt in: Ders., Der russische Staat (Anm. 8), S. 104-118; Frank Kämpfer, Das russische Herrscherbild von den Anfangen bis zu Peter dem Großen. Studien zur Entwicklung politischer Ikonographie im byzantinischen Kulturkreis, Recklinghausen 1978. 32 So treffend Wemer Markert, Rußland und die abendländische Welt. Zum Problem der Kontinuität in der russischen Geschichte (1951), wiederabgedruckt in: Ders., Osteuropa und die abendländische Welt. Aufsätze und Vorträge. Mit einem Geleitwort von Hans Rothfels, Göningen 1966, S. 61-77, hier S. 65. 33 So der Titel des für die Epoche zwischen Peter I. und Katharina n. bis heute grundlegenden Werkes von Walther Mediger, Moskaus Weg nach Europa. Der Aufstieg Rußlands zum europäischen Machtstaat im Zeitalter Friedrichs des Großen, Braunschweig 1952.

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Peters des Großen wurde zu einem Faktor von erstrangiger Bedeutung im System der europäischen Mächtekonkurrenz. Mithin handelte es sich bei dem Problem "Rußland und Europa", spätestens seit den petrinischen Reformen und deren außenpolitischen Weiterungen, nicht nur um eine kulturelle Frage, sondern stets auch um eine eminent machtpolitische Angelegenheit. Vor allem im Ostseeraum rückte das Zarenreich seit Peters endgültigem Sieg über Schweden im Nordischen Krieg (1700-1721) geographisch nahe an Europa heran. 3s Durch die Eroberung und Erwerbung der bisher von Schweden verwalteten baltischen Ostseeprovinzen Estland und Livland (1721), später dann auch durch den Gewinn großer Teile Polens (1772, 1792, 1795) und Finnlands (1809) wurden dem Zarenreich Regionen mit eindeutig "abendländischer" Kulturprägung eingegliedert. Man wird nicht fehlgehen, darin eine zusätzliche Verstärkung "westlicher", auf Europa hin orientierter Charakterzüge in der russischen Politik, Kultur 34 Noch immer brauchbar Heinrich Doerries, Rußlands Eindringen in Europa in der Epoche Peters des Großen. Studien zur zeitgenössischen Publizistik und Staatenkunde, KönigsberglBerlin 1939, bes. S. 108 ff., 145-155; instruktiv ferner Walther Mediger, Rußland und die Ostsee im 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher fUr Geschichte Osteuropas 16 (1968), S.85-103. 35 Über die frühen Beziehungen Rußlands zu den einzelnen europäischen Mächten liegt eine reichhaltige, vielfach ältere Spezialliteratur vor. - Für Schweden Erich Hassinger, Brandenburg-Preußen, Schweden und Rußland 1700-1713, München 1953, bes. S. 187-223; Georg von Rauch, Moskau und der Westen im Spiegel der schwedischen diplomatischen Berichte der Jahre 1651-1655 (1951), wiederabgedruckt in: Ders., Studien über das Verhältnis Rußlands zu Europa (Anrn. 2), S. 23 - 67; Klaus Zernack, Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Gießen 1958. - Für Brandenburg-Preußen lose! Krusche, Die Entstehung und Entwicklung der ständigen diplomatischen Vertretung Brandenburg-Preußens am Carenhofe bis zum Eintritt Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slawen 8 (1932), S. 143-216; Kun Forstreuter; Preußen und Rußland von den Anfängen des Deutschen Ordens bis zu Peter dem Großen, Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1955, bes. S. 158-182; Wolfgang Stribmy, Die Rußlandpolitik Friedrichs des Großen 1764-1786, WÜfzburg 1966, bes. S. 12 ff., 230 ff. - Für England grundlegend Dietrich Gerhard, England und der Aufstieg Rußlands. Zur Frage des Zusammenhanges der europäischen Staaten und ihres Ausgreifens in die außereuropäische Welt in Politik und Wirtschaft des 18. Jahrhunderts, München/Berlin 1933, bes. S. 6-30; aus primär ideengeschichtlicher Perspektive KarlHeinz Ruffmann, Das Rußlandbild im England Shakespeares, Göttingen 1952, bes. S. 78 -123, 173 ff. - Für Österreich Hans Übersberger, Österreich und Rußland seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, Bd. 1 (1488 -1605), Wien 1906; Walter Leitsch, Moskau und die Politik des Kaiserhofes im 18. Jahrhundert, Teil I (1604-1654), Graz/Köln 1960; Reiner Pommerin, Bündnispolitik und Mächtesystem. Österreich und der Aufstieg Rußlands im 18. Jahrhundert (1986), wiederabgedruckt in: Ders., Mächtesystem und Militärstrategie. Ausgewählte Aufsätze, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 42-92. - Für Frankreich Charles de Lariviere, La France et la Russie au XVIIIe siecle. Etudes d'histoire et de litterature franco-russe (1909), Neudruck Genf 1970; Ellinor von Puttkamer, Frankreich, Rußland und der polnische Thron 1733. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Ostpolitik, Königsberg/Berlin 1937, bes. S. 71 ff.; Ferdinond Gränebaum, Frankreich in Ost- und Nordeuropa. Die französisch-russischen Beziehungen von 1648-1689, Wiesbaden 1968. - Für Spanien Ano Maria Schop Soler, Die spanisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, München 1970.

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und Gesellschaft zu erblicken. 36 Einen sinnfälligen Ausdruck für die Teilnahme des durch Peter den Großen neufonnierten Zarenreiches am Konzert der europäischen Mächte und für den damit verbundenen Anspruch, die Schicksale des Kontinents aktiv mitzugestalten, bot die Verlegung der Hauptstadt des Imperiums von Moskau nach Sankt Petersburg 1712.37 Erst die bolschewistische Staatsführung sollte diese Entscheidung 1918 wieder riickgängig machen. 2. Dynastische Veiflechtungen

Zu den maßgeblichen Bestimmungsfaktoren der seit Peter dem Großen forciert betriebenen Europäisierung Rußlands zählten im Zeitalter des Absolutismus auch die zahlreichen familiären Beziehungen, die das russische Kaiserhaus seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts mit westlichen Dynastien verband. Dabei dominierten in auffälliger, ja ausschlaggebender Weise protestantische Herrscherhäuser des norddeutschen Raumes. 38 Peter I. hatte seinen - allerdings in Ungnade gefallenen und nicht zur Regierung gelangenden - Sohn Alekseij (1690 -1718) 1711 mit Charlotte Christine Sophie von Braunschweig-Wolfenbüttel (1694 - 1715) verheiratet. Der aus dieser Verbindung stammende Enkel des Zaren, Peter 11. (1715-1730), ein Neffe des Habsburger Kaisers Karl 11., vennochte während seiner kurzen Regierungszeit als Kind (1727 -1730) freilich keinerlei eigene Akzente zu setzen. Gleiches galt von Zar Ivan VI. (1740-1764), einem Urenkel von Peters I. schwachsinnigem Halbbruder und zeitweiligem Mitherrscher Ivan V., der, im Alter von zwei Monaten zum Zaren proklamiert, nach gut einem Jahr durch einen Putsch des Thrones beraubt und - fast ein Vierteljahrhundert gefangengehalten - 1764 bei einem sinnlosen Befreiungsversuch von seinen Wärtern ermordet wurde. Als Sohn der Zarin-Nichte Anna Leopoldovna, geborene Prinzessin Elisabeth von MecklenburgSchwerin (1718-1746) und des Prinzen Anton-Ulrich von Braunschweig-Bevem (1714 -1776) war Ivan VI., genealogisch gesehen, ein Deutscher. Gleiches galt für Zar Peter m. (1728 - 1762), geboren in Kiel als Herzog Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorp, Neffe und glücklos agierender Nachfolger der Zarin Elisabeth (1709 -1761), der Tochter Peters des Großen. Und es galt, einmal mehr, für dessen Gemahlin (seit 1745) und Nachfolgerin (1762 -1796) Katharina 11., geboren 1729 in Stettin als Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst. 36 Wemer Markert, Die Kultur Rußlands in historischer Sicht. Gedanken zu einer alten und neuen Diskussion (1963), wiederabgedruckt in: Ders., Osteuropa und die abendländische Welt (Anm. 32), S. 38-60, hier S. 40. 37 Dazu sehr instruktiv Dietrich Geyer; Peter und St. Petersburg, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 10 (1962), S. 181-200; ferner Klaus Zemack, Im Sog der Ostseemetropole. Petersburg und seine Ausländer (1987), wiederabgedruckt in: Ders., Nordosteuropa (Anm. 14), S. 277-287. 38 Dazu die ältere, jedoch unentbehrliche dynastiegeschichtliche Untersuchung von Martha Lindemann. Die Heiraten der Romanows und der deutschen Fürstenhäuser im 18. und 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung in der BÜßdnispolitik der Großmächte, Berlin/Bonn 1935, bes. S. 16-55.

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Während Peter ill., immerhin ein Enkel Peters des Großen, zeitlebens eine Haltung offen bekundeter Verachtung gegenüber seiner russischen Umwelt an den Tag legte und damit eine in ihrem Ausmaß unüberbietbare, letztlich selbstmörderisch wirkende "europäistische" Extremposition bezog,39 strebte seine durch Staatsstreich und Mord an die Macht gekommene Frau und Nachfolgerin Katharina vielleicht gerade wegen des ,,Makels" ihrer vollkommen nichtrussischen Herkunft eifrig nach einer Legitimierung ihrer Herrschaft, welche die Tradition russischer Macht- und Prestigepolitik mit aufklärerischen, dem "westlichen" Gedankengut entlehnten politischen Prinzipien und Maximen zu verbinden suchte. Daß dies, anders als im Fall Peters des Großen, weithin mißlang, lag nicht nur an den charakterlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten der Kaiserin, deren Politikstil zuweilen mehr darauf abzielte, das europäische Ausland und dessen führende geistige Repräsentanten - allen voran die französischen Aufklärungsphilosophen Voltaire, Diderot und d' Alembert, mit denen Katharina bekanntlich im Briefwechsel standzu beeindrucken,4o als ernsthafte Abhilfe für die prekäre Sozialverfassung des russischen Reiches zu schaffen. Die fragwürdige Bilanz ihrer von zahlreichen westlichen Reformimpulsen - etwa den Theorien Montesquieus - gespeisten Regierungsaktivitäten41 war auch eine Folge ihres in hohem Maß prinzipiengeleiteten 39 Hedwig Fleischhacker; Porträt Peters W., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 5 (1957), S. 127 -189; Mare Raeff, The Domestic Policies of Peter 1lI. and his Overthrow, in: American Historical Review 75 (1970), S. 1289-1309. 40 Allgemein Ekkehard W. Bornträger; Katharina H., die "Selbstherrscherin aller Reußen". Das Bild der Zarin und ihrer Außenpolitik in der westlichen Geschichtsschreibung, Fribourg 1991; materialreich Vasilij Alekseevic von Bilbassoff, Katharina 11. Kaiserin von Rußland im Urtheile der Weltliteratur. Aus dem Russischen mit einem Vorwort von Theodor Schiemann, 2 Bde., Berlin 1897; gelehrt und umfassend Claus Scharf, ,,La Princesse de Zerbst Catherinisee". Deutschlandbild und Deutschlandpolitik Katharinas 11., in: D. Herrmann/K.-H. Korn (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 29), S. 271-340; ders., Katharina 11., Deutschland und die Deutschen, Mainz 1995; Katharinas Verhältnis zur Aufklärungsphilosophie skizziert Isabel de Madariaga, Catherine and the Philosophers, in: Anthony G. Cross (Hrsg.), Russia and the West in the Eighteenth Century. Newtonville (Mass.) 1983, S. 30ff.; zu Voltaire speziell Otto Haintz. Peter der Große, Friedrich der Große und Voltaire. Zur Entstehungsgeschichte von Voltaires "Historie de l'empire de Russie sous Pierre le Grand", Wiesbaden 1961; Carolyn H. Wilberger; Voltaire's Russia: Window on the East, in: Theodore Besterman (Hrsg.), Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Oxford 1976, S. 145 ff.; zur "aufgeklärten" Schriftstellerin Katharina H. vgl. Grigorij Aleksandrovic Gukovskij, The Empress as Writer, in: Marc Raeff (Hrsg.), Catherine the Great. A Profile, New York 1972, S. 64-89; ferner die feinsinnige Analyse von Hedwig Fleischhacker; Mit Feder und Zepter. Katharina 11. als Autorin, Stuttgart 1978, bes. S. 65 ff., 129 ff., sowie neuerdings Claus Scharf (Hrsg.), Katharina H., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, Mainz 200 1. 41 Die Forschungsmeinung ist hinsichtlich der Bilanz dieser ,,Europäisierung" Rußlands unter Katharina H. noch weitaus gespaltener als mit Blick auf die petrinischen Reformen. Vor allem angelsächsische Interpretationen unterstellen der Kaiserin - in teilweise geradezu naiver Sicht - einen grundsätzlich vorhandenen Willen, "die selbständig handelnden und autonomen Kräfte" der russischen Ständegesellschaft freizusetzen und dadurch im Ergebnis "die Herausbildung einer Gesellschaft von aktiven, produktiven und gebildeten Menschen"

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HandeIns, ihres nahezu grenzenlosen Vertrauens auf die Machbarkeit politischer Zustände, die man nach leicht zu findenden, vernunftgemäßen Regeln konstruieren und organisieren könne. 42 Mit Blick auf das ambitionierteste - und am kläglichsten gescheiterte - politische Projekt der Kaiserin, ihren "Großen Plan" einer Gesetzeskodifikation, offenbarte sich diese Schwäche in besonders eklatanter Weise: Anders als etwa im zeitgenössischen friderizianischen Preußen, wurde unter Katharina 11. keine systematische Sammlung des geltenden Rechts unternommen, sondern versucht, abstrakte Prinzipien einer "nützlichen" Gesetzgebung zu formulieren, die indes mit der russischen Rechtswirklichkeit kaum in Übereinstimmung zu bringen waren. 43 Bezeichnenderweise zeigte die Übernahme westlich-aufldäregeschaffen zu haben, "die man als bürgerliche [tl Gesellschaft bezeichnen könnte"; so repräsentativ (und kaum zutreffend) Mare Raeff, Katharina 11. 1762 - 1796, in: Hans-Joachim Torke (Hrsg.), Die russischen Zaren 1547-1917,2. Aufl., München 1999, S. 233-261, Zitat S. 253; ähnlich, in zeitlich weiter gefaSter und teilweise komparatistisch argumentierender Perspektive, bereits ders., Tbe Well-Ordered Police State and the Development of Modernity in Seventeenth- and Eighteenth-Cenmry Europe. An Attempt at a Comparative Approach, in: Tbe American Historical Review 80 (1975), S. 1221 ff.; ders., Tbe Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia 1600-1800, New Haven 1983; ders., Understanding Imperial Russia. State and Society under the Old Regime, New York 1984. - Hingegen betont die deutsche Forschung, allen voran Dietrich Geyer, "Gesellschaft" als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert (1966), wiederabgedruckt in: Ders. (Hrsg.), WlI1schaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1975, S. 20-52, den obrigkeitsstaatlichen, vom Grundsatz der Unantastbarkeit der Autokratie ausgehenden Charakter der auf Formierung einer kleinen adligen Gesellschaftselite zielenden Unternehmungen der Zarin, die es versäumt hätten, "die öffentliche Gewalt auf den lokalen Ebenen aus der Verklammerung mit dem adligen Landeigentum herauszuführen und den Staat von den Herrschaftsformen der Leibeigenschaft zu entbinden" (ebd., S. 46); ähnlich ders., Staatsausbau und Sozialverfassung. Probleme des russischen Absolutismus am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Cahiers du monde russe et sovietique 7 (1966), S. 366-377; zum Problem ferner die Analysen des politischen Systems Katharinas 11. und seines Verhältnisses zur russischen Gesellschaft unter ausdrücklicher Akzentuierung des "westlichen" Einflusses von lohn P. LeDonne, Ruling Russia. Politics and Administration in the Age of Absolutism, 1762-1796, Princeton 1984; ders., Absolutism and Ruling Class. Tbe Formation of the Russian Political Order, 1700 -1825, Oxford 1991; zuletzt, gleichfalls unter Einbeziehung "europiÜscher" Perspektiven Aleksandr B. Kamenskii, Die Reformen Katharinas der Großen und die Modernisierung Rußlands im 18. Jahrhundert, in: Claus Scharf (Hrsg.), Katharina 11., Rußland und Europa. Aspekte der internationalen Forschung, Mainz 1999, S. 333-346; Oleg A. Omelchenko, Tbe System of State and Law in Eighteenth-Century Russia and the Political Culture of Europe: Some Historical Interactions, in: Slavonic and East European Review 80 (2002), S. 217 - 236. 42 Zum Problem des ,,Aufgeklärten Absolutismus" in Rußland Dietrich Geyer, Der Aufgeklärte Absolutismus in Rußland. Bemerkungen zur Forschungslage. In Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30 (1982), S. 176-189; Erich Donnert, Autokratie, Absolutismus und aufgeklärter Absolutismus in Rußland. Das Zarenreich in vor- und frühmoderner Zeit, in: Harm Klueting/Helmut Reinalter (Hrsg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 181-206. - Zur Diskussion "aufgeklärter Politik" im Rußland des 18. Jahrhunderts und der dadurch bedingten Indienstnahme der "Untertanen" für den Staat vgl. auch Eckhard Hübner / lan Kusber / Peter Nitsche (Hrsg.), Rußland zur Zeit Katharinas 11. Absolutismus - Aufklärung - Pragmatismus, Köln / Weimar / Wien 1998.

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rischer Grundsätze seitens der Selbstherrscherin noch am ehesten auf jenem Gebiet einigen Erfolg, das den idealistisch-optimistischen Konstruktionen und Experimenten vernunftgeleiteten Denkens den meisten Raum zu produktiver Entfaltung bot: der Reform des Schul-, Bildungs- und Erziehungswesens. 44 3. "Ausländer" in russischen Diensten Weitgehend unabhängig von den dynastischen Verflechtungen des Hauses Romanov und den stark von "westlichen" Impulsen dominierten Reformbemühungen der russischen Staatsführung wirkte im 18. Jahrhundert ein intensiver, zeitweise beherrschender Einfluß europäischer, vornehmlich deutscher Günstlinge und Favoriten am Hof von Sankt Petersburg im Sinn einer allerdings zumeist nicht unproblematischen "Westorientierung" des Zarenreiches. Schon Peter der Große hatte bekanntlich - unter dem durch ausgedehnte Auslandsreisen verstärkten Eindruck des im Westen Europas Gesehenen - zahlreiche ,,Ausländer" in seine Dienste gestellt. Getragen vom Willen zur Übernahme technischer Errungenschaften, nützlicher Fertigkeiten und unmittelbar greifbarer Effekte, weniger hingegen geleitet vom Streben nach Auseinandersetzung mit den Idealen europäischer Wissenschaft, Kunst und Philosophie,45 waren vor allem Handwerker und Kaufleute, Techniker und Ingenieure, Militärs und Verwaltungsfachleute, später auch Akademiker und Architekten nach Rußland berufen worden, übrigens auch der Baumeister des Berliner Schlosses Andreas Schlüter (1660-1714)45a. Unter der Regierung der Zarin Anna, verwitweter Herzogin von Kurland (1693-1740, reg. seit 1730), erlangte die Bedeutung ausländischer Experten ihren Höhepunkt. Sie kulminierte in einem umstrittenen Günstlingsregiment, in dessen Gefolge drei deutsche "Favoriten" der Zarin maßgeblichen Einfluß auf die russische Staatsführung gewannen. Ernst Johann von Biron (1690-1772), kurländischer Gutsbesitzer aus der westfälischen Familie Bühren, avancierte rasch zum allmächtigen Ratgeber Annas und etablierte 43 Zur Rechtsentwicklung vgl. weiterhin die ältere Studie von Georg Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Rußland, Breslau 1940; ferner lohn P. LeDonne, Judicial Reform of 1775 in Central Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 29 ff. 44 Zur Bildungspolitik unter Katharina II. vgl. loseph Laurence Black, Citizens for the Fatherland. Education, Educators, and Pedagogical Ideals in Eighteenth Century Russia, New York 1979; Isabel de Madariaga, The Foundation of the Russian Educational System by Catherine II, in: Slavonic and East European Review 57 (1979), S. 369 ff.; Max 1. Okenfuss, Education and Empire: School Reform in Enlightened Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979), S. 41 ff. 45 Zu diesem Aspekt speziell und ausführlich Walther Hinz, Peters des Großen Anteil an der wissenschaftlichen und künstlerischen Kultur seiner Zeit, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 8 (1932), S. 349-447. 45. Dazu Lindsey Hughes, German Specialists in Petrine Russia: Architects, Painters and Thespians, in: R. Bartlett/K. Schönwälder (Hrsg.), The German Lands and Eastern Europe (Anrn. 27), S. 72-90.

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seit 1737 ein korruptes und rücksichtslos agierendes Willkürregiment, dessen törichte Maßnahmen - russische Kadetten beispielsweise mußten während der bironschen Zeit nicht russische, sondern deutsche Geschichte lernen - noch lange als ein Symbol verhaßter Fremdherrschaft gelten sollten. Hingegen wirkten die beiden anderen, das politische Geschehen unter der Zarin Anna dominierenden Ausländer der Bochumer Pastorensohn Heinrich Johann Friedrich Ostermann (1686 -1747) bzw. der aus Oldenburg stammende Burchard Christoph Münnich (1683-1767), beide bereits unter Peter I. im auswärtigen bzw. im militärischen Dienst avanciert als Vizekanzler und Außenminister bzw. als Feldmarschall und Präsident des Kriegskollegiums46 in ausgesprochen förderlicher Hinsicht. Threr beider Aktivitäten markierten den Zenith des ,,Ausländerwesens", speziell des Einflusses Deutscher, in der russischen Geschichte. Doch hat es auch in späteren Epochen, namentlich während der Regierungszeit von Zar Nikolaus I. (1796-1855, reg. seit 1825), der mit einer Schwester des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) verheiratet war, immer wieder deutsche oder deutschstämmige Inhaber hoher und höchster Regierungsämter im Zarenreich gegeben. 4. Hafkultur und Wissenschaften

Neben der dynastisch-verwandtschaftlichen Komponente und den zeitweise führenden Aktivitäten von Ausländern an der politischen Spitze des Reiches gewannen im Rahmen der intellektuellen "Verwestlichung" Rußlands während des 18. Jahrhunderts noch zwei weitere Aspekte maßgebliche und bleibende Bedeutung: Hofkultur und Wissenschaften. Unter der Zarin Anna entwickelte sich der Sankt Petersburger Hof in den 1730er Jahren allmählich zu einem immer stärker an "westlichen" Maßstäben orientierten Lebens- und Kulturmittelpunkt des Landes. 47 Westliche Mode, Musik- und Theaterkultur, vertreten durch zahlreiche ita46 Zu Ostermann Theodor Schiemann, Russische Köpfe, 2. Aufl., Berlin 1919; Erik Amburger, Der russische Staatsmann Heinrich Ostermann. Seine westfälischen Ahnen und

russischen Nachkommen, Berlin-Dahlem 1961, sowie zuletzt umfassend und repräsentativ

Johannes Volker WagnerlBernd BonwetschlWolfram Eggeling (Hrsg.), Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687 -1747, Essen 2001. - Zu Münnich Melchior Vischer, Münnich. Ingenieur, Feldherr. Hochverräter, Frankfurt a. M. 1938, bes. S. 446 ff., 462 ff.; Francis Ley, Le Marechal de Münnich (1683 -1767) et la Russie au XVIIIe siec1e, Paris 1959. Zum Thema insgesamt Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im

Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Stuttgart 1986, S.65-88. 47 Zur Sankt Petersburger Hofkultur vgl. noch immer das umfassende und sehr materialreiche Werk von Magnus Jakob von Crusenstolpe, Der Russische Hof von Peter 1. bis auf Nicolaus 1. und einer Einleitung: Rußland vor Peter dem Großen, Bde. 1 - 6, Hamburg 1855 -1856; anekdotenhaft, doch erhellend Erich Müller, Peter der Große und sein Hof. Biographie, Anekdoten, Briefe, Dokumente. Eine Sittengeschichte des russischen und europäischen Barock, München 1926; ferner Matthew Smith Anderson, Peter der Große, in: Arthur Geoffrey Dickens (Hrsg.), Europas Fürstenhöfe, Grazl Köln I Wien 1978, S. 263-282; Lindsey Hughes. The Courts of Moscow and St. Petersburg 1547 -1725, in: John Adamson

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lienische, französische und deutsche Ensembles, fanden dabei ebenso nachhaltigen Einlaß wie sich - seit den Tagen Peters I. - das städtebauliche Aussehen der Haupt- und Residenzstadt zusehends an barocken und später an klassizistischen Normen orientierte.48 Unter Annas seit 1741 regierender Nachfolgerin Elisabeth, einer eitlen, vergnügungs- und verschwendungssüchtigen, zudem politisch nicht übermäßig tatkräftigen Regentin, erfuhr das Hofleben zahlreiche weitere Anregungen und Bereicherungen "westlicher" Provenienz - der Bau des Winterpalastes in Sankt Petersburg, eines Meisterwerks des europäischen Spätbarock, sowie die Errichtung der Residenzen in Peterhof und Carskoe Selo durch den in Paris geborenen italienischen Architekten Bartolomeo Francesco Rastrelli (1700 - 1771) boten dafür weithin sichtbare Belege. Auf dem Feld der Wissenschaften schließlich erfolgte mit Begründung der Sankt Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725, der Etablierung der Sankt Petersburger Kunstakademie 1757 und der Eröffnung der Moskauer Universität 1755 eine zunächst auch rein äußerlich noch ganz "westlich" dominierte, d. h. von ausländischen Gelehrten, z. B. dem schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707 -1783), geprägte Hinwendung zu "aufgeklärten" europäischen Standards,49 deren Breitenwirkung innerhalb der russischen Gesellschaft allerdings sehr begrenzt blieb. 5o Überwog bei alledem vorerst eine stark durch deutsche Vorbilder angeregte Ausrichtung,SI so erfolgte etwa seit der Jahrhundertrnitte - forciert durch die entschieden antipreußische Haltung der Zarin Elisabeth - eine allmähliche Ablösung der deutschen Vorbilder durch französische Einflüsse. s2 Diese neue (Hrsg.), The Princely Courts of Europe. Ritual, Politics and Culture under the Ancien Regime, 1500-1750, London 1999, S. 295-313. 48 James CracraJt, The Petrine Revolution in Russian Architecture, Chicago 1990; ferner ders., The Petrine Revolution in Russian Imagery, Chicago 1997. 49 Allgemein Eduard Winter, Zur Geschichte der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1960), S. 844-855; Pavel Naumovic Berkov, Deutsch-russische kulturelle Beziehungen im 18. Jahrhundert, in: Eduard Winter (Hrsg.), Die deutsch-russische Begegnung und Leonhard Euler. Beiträge zu den Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Wissenschaft und Kultur im 18. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1958; Mechthild Keller, Von Halle nach Petersburg und Moskau, in: Dies. (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht (Anm. 23), S. 173-183; zu den weitverzweigten deutsch-russischen Kulturbeziehungen der Epoche noch immer wichtig Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert, Berlin (Ost) 1953; zu den Umständen der Akademieeröffnung 1725 detailliert Wilhelm Stieda, Die Anf'änge der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 2 (1926), S. 133 -168. 50 Dazu immer noch instruktiv Alemnder Vucinich, Science in Russian Culture. A History to 1860, Stanford 1963; ferner Erik Amburger, Die Anwerbung von Ärzten, Gelehrten und Lehrkräften durch die russische Regierung vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, in: Ders., Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen, Gießen 1961, S.24-45. 51 Erik Amburger, Aus der Geschichte der gelehrten Beziehungen zwischen Berlin und

Rußland, in: Ders., Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen (Anrn. 50), S. 107 -158; ders., Der deutsche Lehrer in Rußland, in: Ebd., S. 159-182.

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"Spielart der Europäisierung,,53 fand rasch ihren gesellschaftlichen Niederschlag bis hin zur regen Akquisition von Hauslehrern und Gouvernanten aus Frankreich, die zum Jahrhundertende geradezu den Rang einer Alltagserscheinung des Adelslebens erhielten und in der entstehenden russischen Nationalliteratur vielfältigen Ausdruck finden sollten.54 Auch der spätere Zar Alexander I. (1777 - 1825) wurde in diesem Sinn von einem konsequenten Anhänger der französischen Aufklärungsphilosophie, dem Schweizer Cesar La Harpe (1754-1838) als Hauslehrer unterrichtet55 und intensiv mit dem Bildungsgut der westeuropäischen Aufklärung bekannt gemacht. V. Wechselseitige Kontakte

1. Russisches Europäertum Im 19. Jahrhundert hat das Problem ,,Rußland und Europa" dann seine entscheidende Akzentverlagerung, Zuspitzung und Polarisierung erfahren, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst war im Rahmen der Verwicklungen des Zarenreiches in die Napoleonischen Kriege zahlreichen russischen Offizieren und Soldaten ein ,.Europaerlebnis" zuteil geworden, dessen Intensität auch nach der Rückkehr in die Heimat erhalten blieb und sich dort vielfach zu dem vagen Ziel verdichtete, Aufklärung, Freiheit und politische Partizipation, wie man sie im Kontakt mit den Ideen und Verhältnissen des "Westens", vor allem in Frankreich, erfahren hatte, nun auch im Russischen Reich dauerhaft zu etablieren. 56

Solche an der politischen Kultur des "Westens" orientierte Erwartungen trafen auf eine Staatsführung, die ihnen, zumindest zeitweise, nicht unbedingt ablehnend gegenüberzustehen schien. Denn der seit 1801 regierende Zar Alexander I., auf52 Emile Haurrumt. La culture fran~aise en Russie (1700-1900), 2. Aufl., Paris 1913; Dimitri S. Mohrenschildt. Russia in the Intellectual Life of Eighteenth-Century France, New York 1936; Petr Zaborov. Le theatre de Voltaire en Russie au XVIlle siecle, in: Cahiers du Monde russe et sovietique 9 (1968), S. 145 -176; Johan Callewaert. Relations intellectuelles de la Russie et de la France au XVIlle siecle, in: Canadian Slavonic Papers 12 (1970), S.43l-440. 53 So treffend Günther Stökl, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4., erweiterte Aufl., Stuttgart 1983, S. 430. 54 Dazu die interessante Marginalie von R. P. Thaler, The French Tutor in Radishev and Pushkin, in: The Russian Review 13 (1954), S. 210-212. 55 Detailliert Arthur Boehtlingk, Der Waadtländer Friedrich Caesar Laharpe, der Erzieher und Berater Alexanders I. von Russland, des Siegers über Napoleon I. und Anbahner der modernen Schweiz, 2 Bde., Bem/Leipzig 1925. 56 Dazu speziell Janet M. Hartley. Is Russia Part of Europe? Russian Perceptions of Europe in the Reign of Alexander 1., in: Cahiers du Monde Russe et Sovietique 33 (1992), S. 369-386; ferner Hans Haussherr, Rußland und Europa in der Epoche des Wiener Kongresses, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 8 (1960), S. 10-31; allgemeiner Überblick von Andrei A. Lobanov-Rostovs/cy, Russia and Europe 1789 - 1825, New York 1968.

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gewachsen im aufklärerischen Milieu seiner Großmutter Katharina 11., verschloß sich nicht generell dem Gedanken einer begrenzten Teilhabe gesellschaftlicher Kräfte an der politischen Macht - wenn auch unter strikter Wahrung des Prinzips ungeschmälerter zarischer Selbstherrschaft. Mehrfach ließ Alexander ebenso anspruchsvolle wie unverwirklicht gebliebene Verlassungsprojekte ausarbeiten. 57 Ein neu zu schaffender Reichsrat sollte den staatlichen Gesetzgebungsprozeß unterstützend begleiten. Und manche kaiserliche Ratgeber - allen voran Alexanders persönlicher Sekretär Michail Michailovic Speranskij (1772-1839) sowie sein Jugendfreund Nikolaj Nikolajevic Novosilcev (1761-1836) - bemühten sich redlich um Reformen besonders auf jenen Gebieten, die Rußland, verglichen mit den zeitgenössischen Verhältnissen in Westeuropa, als rückständig erscheinen ließen. In diesem Rahmen58 wurde die Effektivität der zentralen Regierungsbehörden auf dem Weg einer Verwaltungsreform gesteigert, das Justizwesen mittels einer KodifIkation des russischen Rechts vereinheitlicht, das Bildungssystem durch Errichtung von Eliteschulen und Gründung von neuen Universitäten zu verbessern versucht. Überall wirkten dabei deutsche, namentlich preußische Vorbilder beispielgebend. Darüber hinausgehende Erwartungen einer parlamentarisch-konstitutionellen Modernisierung des Russischen Reiches nach westeuropäischem Modell, wie sie in den teils föderalistischen, teils extrem zentralistischen Verlassungsprojekten jener radikalen liberalen Aristokraten und Offiziere ihren Ausdruck fanden, die sich nach 1815 in verschiedenen Geheimbünden organisierten und 1825 im Dekabristenaufstand endeten,59 hat Alexander I. zwar durch seine zumeist verschwommen und ambivalent formulierten öffentlichen Bekundungen genährt, jedoch niemals ernsthaft einzulösen gedacht. ,,Europa" war für diesen Zaren - anders als für viele andere Angehörige der damaligen russischen Oberschicht - nicht nur ein Arsenal, aus dessen Beständen "brauchbare" Muster und Vorbilder je nach Bedarf entnommen und dem eigenen Lebensumfeld dienstbar gemacht werden konnten. Alexander sah in Europa vielmehr einen gigantischen Projektionsraum für eigene, russische Ideale zur Beglückung der Menschheit. Nach dem Sieg über Napoleon 1815, der ja ganz wesentlich auf den Einsatz russischer Machtmittel zurückzuführen war, schien sich die Möglichkeit einer Realisierung entsprechender Vorstellungen des Zaren zu bieten. Diese Vorstellungen gingen davon aus, daß der Befreiung Europas von der Tyrannei des Korsen eine Neuforrnierung des Kontinents zu folgen habe, die das Zusammenleben der euro57 Zu den Verfassungsplänen im Zeitalter Alexanders I. eingehend Georg von Rauch, Rußland: Staatliche Einheit und nationale Vielfalt. Föderalistische Kräfte und Ideen in der russischen Geschichte, München 1953, S. 51-68. 58 Zur Reformpolitik Alexanders I. und ihren Grenzen vgl. maßgeblich Janet M. Hartley, Alexander 1., London 1994. 59 Darüber zuletzt, mit Angabe aller wesentlichen älteren Literatur Kirill Rogov, Erben und Gegner - die Dekabristen, in: Dagrnar Herrrnann / Alexander L. Ospovat / Karl-Heinz Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zu den Reformen Alexanders n., München 1998, S. 181-208, 1001-1003.

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päischen Staaten und Völker gemäß den Prinzipien christlicher Moral, Liebe und Gerechtigkeit regeln und eine immerwährende Friedensordnung ,,im Zeichen des Kreuzes" etablieren sollte. Als Heilige Allianz am 26. September 1815 feierlich proklamiert,60 manifestierte sich in diesem Programm das mystisch-religiöse Sendungsbewußtsein Alexanders I. ebenso wie die expansiven Machtinteressen des russischen ImperiumS. 61 2. Europäische Rußlandfreunde

Für das Bestimmungsverhältnis von Rußland und Europa, zumindest während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war es nicht ohne Belang, daß dem verdeckt expansiven Sendungsbewußtsein des Zarenreiches, wie es im Manifest der Heiligen Allianz zum Ausdruck gelangt war, deutsche und französische Restaurationsdenker mit eigenwilligen geschichtsphilosophischen Konstruktionen zur Seite traten, die in vielem beinahe wie eine Vorwegnahme späterer slavophiler Konzeptionen anmuteten. Louis de Bonald (1754-1840) und Joseph de Maistre (17531821) etwa erblickten, ganz im Sinn der Auffassungen Alexanders 1., in Rußland ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung, das der Regeneration Europas und damit der Rettung der Menschheit diene. 62 Verbunden waren derartige Überlegungen mit heftigen Ausfällen gegenüber dem westeuropäisch-aufklärerischen Fortschrittsdenken und mit einer strikten Ablehnung des Reformwerkes Peters des Großen, der sein Land auf einen vermeintlich falschen Weg geführt und von dessen "eigentlicher" Mission abgebracht habe. Noch einen Schritt weiter als die französischen Traditionalisten de Bonald und de Maistre ging der deutsche katholische Spätromantiker Franz von Baader (1765 -1841), für den speziell die russisch-orthodoxe Kirche, soweit und solange sie sich vor der atheistischen Zersetzung des Westens bewahre, Europas letzte Hoffnung darstellte. Baader, der an der Ausformulierung des Programms der Heiligen Allianz unmittelbar beteiligt war,63 versprach sich von der russischen Kirche 60 Die noch immer maßgebliche Darstellung dieser Zusammenhänge bei Hildegard Schaeder, Autokratie und Heilige Allianz. Nach neuen Quellen, Darmstadt 1963; allgemein Jacques-Henri Pirenne, La Sainte-Alliance. Organisation euro"eenne de la paix mondiale, Bd. 1: Les traires de paix 1814-1815, Neuchatel 1946, Bd. 2: La rivalire anglo-russe et le

compromis autrichien 1815 -1818, Neuchatei 1948; zuletzt, mit weiterführender Literatur Wolfram Pyta, Idee und Wirklichkeit der ,.Heiligen Allianz", in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderbom/ München/Wien/Zürich 1996, S. 315-345. 61 Dazu Karl Stählin, Ideal und Wrrklichkeit im letzten Jahrzehnt Alexanders 1., in: Historische Zeitschrift 145 (1932), S. 90-105, sowie Ulrike Eich, Rußland und Europa. Studien zur russischen Deutschlandpolitik in der Zeit des Wiener Kongresses, Köln / Wien 1986. 62 Groh (Anm. 23), S. 101-124. 63 Franz Büchler, Die geistigen Wurzeln der Heiligen Allianz, Freiburg 1929, S. 45 ff.; ferner detailliert Francis Ley, Alexandre 1er et sa Sainte-Alliance (1811-1825), Paris 1975, S.45-62.

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nichts Geringeres als die ,,Erlösung" des in materialistischer Gesinnung verkommenden Abendlandes von allen seinen Gebrechen und Defekten,64 wie sie sich Baader zufolge - im krisen- und kriegserschütterten Revolutionszeitalter seit 1789 unübersehbar darboten und nun, nach der ,,rettenden Tat" des russischen Zaren, einer prinzipiellen Heilung offenzustehen schienen. Auch für andere Repräsentanten des deutschen vormärzlichen Konservativismus wurde Rußland zum letzten Bollwerk gegen die immer weiter um sich greifende Gefahr revolutionärer Umwälzungen. So empfand etwa der westfälische Publizist und Rußlandreisende August Freiherr von Haxthausen (1792-1866), 1843/44 auf Einladung des Zaren in Rußland weilend,6s das glaubensstarke russische Bauerntum als eine die revolutionäre Anarchie und den drohenden Nihilismus aufhaltende Größe. Denn Haxthausen meinte auf seinen Reisen durch das Zarenreich entdeckt zu haben, was die patriarchalische russische Sozialordnung gegenüber derjenigen Westeuropas als einer "atornistisch-democratischen Gesellschaft,,66 auszeichne und weithin überlegen sein lasse: das Prinzip gemeinschaftsbezogenen und gemeinwohlorientierten bäuerlichen Wirtschaftens. 67 Sollten dann die romanischgermanischen Völker des Abendlandes, so Haxthausen weiter, tatsächlich derart 64 Dazu grundlegend Ernst Benz, Die abendländische Sendung der östlich-orthodoxen Kirche. Die russische Kirche und das abendländische Christentum im Zeitalter der Heiligen Allianz, Mainz 1950. 6S Dazu speziell Friedhelm Berthold Kaiser, August Freiherr von Haxthausen in Rußland, in: Kaiser / Stasiewski (Anm. 16), S. 95 -120. 66 August Freiherr von Haxthausen, Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands, Hannover/Berlin 1852, Bd. III, S. 150; zu Haxthausen Groh (Anm. 23), S. 206-213; ferner S. Frederick Starr, August von Haxthausen and Russia, in: The Slavonic and East European Review 46 (1968), S. 462-478, sowie detailliert zuletzt Christoph Schmidt, Ein deutscher Slawophile? - August von Haxthausen und die Wiederentdeckung der russischen Bauerngemeinde 1843/44, in: Mechthild Keller / Claudia Pawlik (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19. Jahrhundert: Von der lahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1800-1871), München 1992, S. 196-216, mit weiterführender Literatur (S. 898 f.). 67 Haxthausen begründete damit die These von der angeblich nur den Slaven eigentümlichen russischen Gemeindeverfassung, dem Mir (Obleina). Zahlreiche Vertreter der zeitgenössischen russischen Intelligenz griffen diese Idee des Mir beigeistert auf und entwickelten sie zur Theorie einer ursprünglich vorhandenen Gemeinschaftsgesinnung der Russen, zum Mythos vom "Vorsprung" Rußlands gegenüber dem Westen auf dem Weg zu einer Gesellschaft der "wahren" Menschlichkeit. Die Tatsache, daß Mir und ObScina keineswegs einer besonderen sozialen Ur-Gesinnung des russischen Volkes entstammten, sondern vielmehr in fiskalischen Gegebenheiten - der Gesamthaftung der bäuerlichen Gemeinde gegenüber dem Landesherrn - ihre Erklärung fanden, war der Gelehrtenwelt seit den späten 1850er Jahren bekannt, wurde aber von den Ideologen eines spezifisch ,,russischen" Weges geflissentlich ignoriert; zum gesamten Problem eingehend Carsten Goehrke, Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des ,,Mir", Wiesbaden 1964, bes. S. 14- 28, 32 ff., 74 ff., 150 ff.; ferner ders., Neues zum ,,Mir", in: Ders., Erwin Oberländer/Dieter Wojtecki (Hrsg.), Östliches Europa - Spiegel der Geschichte. Festschrift für Manfred Hellmann zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1977, S. 17-34; Steven A. Grant, Obshchina and Mir, in: Slavic Review 35 (1976), S. 636-651.

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tief in Anarchie und Glaubenslosigkeit versinken, "daß das Papsttum selbst zum slavischen Volksstamm hinüberzuflüchten gezwungen wäre, dann könnte freilich der Traum der Panslavisten wahr werden, daß die Slaven nach Untergang der Germanen der Mittelpunkt der Kultur und der Weltgeschichte würden".68 Im übrigen handelte es sich bei der von Haxthausen erwogenen Möglichkeit einer slavisch-russischen Zukunft Europas keineswegs um die isolierte Extremposition eines russophilen Außenseiters. Zahlreiche Vertreter des politischen Konservativismus im vormärzlichen Deutschland - von Joseph Edmund Jörg (18191901) und Jakob Philipp Fallmerayer (1790-1861) bis zu Bruno Bauer (1809-1882) und Ernst von Lasaulx (180S -1861) - waren vielmehr, mit Haxthausen, fest davon überzeugt, daß die Epoche christlich-abendländischer "Weltvorherrschaft" abgelaufen sei. 69 Angesichts der von Zerrüttung und Verfall des "Westens" einerseits, von religiöser Inbrunst und christlicher Glaubensstärke des "Ostens" andererseits geprägten europapolitischen Situation sei es nur eine Frage der Zeit, bis Rußland zur Führungsrnacht der Weltzivilisation avanciere.

VI. Distanz und Nähe 1. Krieg gegen Europa

Einen Kontrapunkt zu a1l diesen rußlandfreundlichen Stimmen aus dem Kreis europäischer Konservativer im Zeitalter der Restauration setzten die 1853 als Folge der aggressiven Balkan- und Orientpolitik unter Zar Nikolaus I. beginnenden Auseinandersetzungen zwischen Rußland und den Westmächten, die sich, wenn man so will, zum ersten Krieg Rußlands gegen Europa entwickelten. Der Krimkrieg (1853 - 1856) bildete insofern "die große Zäsur in dem außenpolitischen Verhältnis Rußlands zu Europa",1° als sich das kriegführende Zarenreich hier tatsächlich erstmals einer nahezu geschlossenen Front der europäischen Mächte gegenübergestellt sah - nur Preußen wahrte strikte Neutralität71 -, während in allen bisvon Haxthausen (Anm. 66), S. 207. Zu Jörg explizit Jürgen Kämmerer; Das Rußlandbild der ,,Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" in der Reichsgriindungszeit, in: Publizistik 22 (1977), S. 47 -60; zu Fallmerayer Georg von Rauch, J. Ph. Fallmerayer und der russische Reichsgedanke bei F. I. Tjutcev (1953), wiederabgedruckt in: Ders., Studien über das Verhältnis Rußlands zu Europa (Anm. 2), S. 158 - 200; zu Bauer Hans Hecker, Die Russen, die Germanen und das Fatum Europas. Bruno Bauer und seine Ansichten über Rußland, in: M. Keller/C. Pawlik (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht (Anm. 66), S. 662-683; zu Lasaulx Hans-Joaehim Sehoeps, Vorläufer Spenglers. Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Jahrhundert, Leiden/Köln 1953. 70 Alexander von Sehelting, Rußland und Europa im russischen Geschichtsdenken, Bem 1948, S. 213. 71 Dazu Willy Andreas, Die russische Diplomatie und die Politik Friedrich Wilhelms N. von Preußen, Berlin 1927; Kurt Borries, Preußen im Krimkrieg (1853 - 1856), Stuttgart 1930; 68

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herigen Kriegen Rußland stets im Bund mit anderen Ländern, als Mitglied einer europäischen Mächtegruppierung, agiert hatte. 72 Nun jedoch stand das Zarenreich ganz allein, und diese Situation verband sich mit einer in der öffentlichen Meinung der einander bekämpfenden Lager aufs heftigste geführten Auseinandersetzung über das vermeintliche Recht der jeweils kriegführenden Partei - gipfelnd in der Vorstellung, daß es sich bei diesem Krieg um das Aufeinanderprallen zweier wesensfremder, gegensätzlicher, ja letztlich unvereinbarer Welten handle. Während in der Tagespresse der westlichen Länder, besonders Frankreichs und Großbritanniens, die russische Politik als Bedrohung der europäischen Zivilisation und als ein Angriff auf die Fundamente der politischen Freiheit gebrandmarkt wurde, erhoben sich in der russischen Publizistik zahlreiche Stimmen, die den Kampf auf der Krim lautstark mit dem Gedanken einer "Befreiung" der christlichen Bevölkerung des Balkans und des Orients vom ,,Joch" der Osmanischen und der Habsburgischen Fremdherrschaft verknüpften und bei alledem wachsende Distanz zur Lebenswelt des "Westens" bekundeten. 73 2. Forcierte Europäisierung

Es gehört zu den Auffanigkeiten im spannungsreichen Wechselverhältnis zwischen Rußland und Europa, daß nur wenige Jahre nachdem das Zarenreich in eine große militärische Auseinandersetzung mit Europa geraten war und so, zumindest machtpolitisch, eine deutliche Frontstellung zum "Westen" eingenommen hatte, eine neuerliche Europäisierungswelle sich über das Land ergoß, die wiederum fast alle Sektoren des öffentlichen Lebens erfaßte. Sie gründete nicht zuletzt in den Erfahrungen des Krieges selbst. Dessen unglücklicher Verlauf hatte den Russen bei überwiegend vorhandener Zustimmung zur Kriegspolitik des Zaren - gravierende Mängel im Versorgungs- und Transportwesen, in der industriellen und infrastrukturellen Entwicklung sowie im Verwaltungssystel!1 offenbart und angesichts allgemeiner Desorganisation den Entwicklungsvorsprung des Westens gegenüber Christian Friese, Rußland und Preußen vom Krimkrieg bis zum Polnischen Aufstand, Berlin/Königsberg 1931, bes. S. 1-8. 12 Zu diesem Aspekt von Schelting (Anm. 70), S. 186-207. 73 Zur Einschätzung Rußlands in der öffentlichen Meinung Europas in der Ära des Krimkriegs vgl. für Preußen-Deutschland lohannes Gertler, Die deutsche Rußlandpublizistik der Jahte 1853-1879, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 7 (1959), S. 72-195; Peter lahn, Russophilie und Konservatismus. Die russophile Literatur in der deutschen Öffentlichkeit 1831-1852, Stuttgart 1980, bes. S. 15-34,231-245, sowie die instruktive Speziaistudie von Hans-Christo! Kraus, Leopold von Gerlach - ein Rußlandanwait, in: M. Keller/C. Pawlik (Hrsg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht (Anm. 66), S. 636-661; für Frankreich Ernst Birke, Frankreich und Ostmitteleuropa im 19. Jahthundert. Beiträge zur Politik und Geistesgeschichte, Köln/Graz 1960, S. 179-195; Michel Cadot, La Russie dans la vie intellectuelle franfi:aise (1833-1856), Paris 1967; für Großbritannien Hermann Wentker, Zerstörung der Großmacht Rußland? Die britischen Kriegsziele im Krimkrieg, Göttingen/Zürich 1993, bes. S. 82 ff., 92 ff.

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dem Zarenreich einmal mehr sichtbar werden lassen. Die entschieden reformorientierte Politik Alexanders 11. (1818 - 1881, reg. seit 1855) war nicht zuletzt eine Reaktion auf solche Erfahrungen. Der Zar, aufgeklärt, intelligent und wohlwollend,74 "als einer der großen Reformer in der russischen Geschichte [ ... ] auf einer Stufe mit Peter dem Großen" stehend,7s erstrebte für sein Reich einen grundlegenden Systemwandel, der zu einer inneren Gesundung von Staat und Gesellschaft führen sollte und dabei erneut europäische Muster und Vorbilder zum Maßstab für Rußlands eigenen Weg erhob. Man kann sagen, daß durch die umfassenden Modernisierungsmaßnahmen Alexanders 11. seit Beginn der 1860er Jahre im staatlich-politischen Bereich die Entscheidung für Europa prinzipiell gefallen war. Dies galt zunächst für das Gerichtswesen, das durch die Justizreform von 186476 gemäß den Grundsätzen eines modemen Rechtsstaates eingerichtet wurde, basierend auf der Gleichheit aller vor dem Gesetz, der Öffentlichkeit des Prozeßverfahrens und der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter. Nach eingehendem Studium "westlicher" Vorbilder waren dann ab 1862 die Finanzverwaltung77 und ab 1874 das Heerwesen mittels Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht "europäisiert" worden. 78 Eine Reform der lokalen Selbstverwaltung (Zemstvo), welche die administrativen Zuständigkeiten des Staates in den Landgemeinden und den Städten reduzierte und Angelegenheiten des Schulwesens sowie der Infrastruktur, der ärztlichen Versorgung und der bäuerlichen Agrarhilfe in die Hand örtlicher Stellen legte, war bereits 1864 bzw. 1870 zur Durchführung gelangt.79 Auch auf dem Feld des Schu1- und Bildungswesens zeigten sich die unter Alexander 11. getroffenen Liberalisierungsmaßnahmen, jedenfalls zunächst, um eine weitgehende Anpassung an westliche Verhältnisse bemüht80 - russische Experten waren vor der gesetzlichen Neuordnung der Volksschulen (1864) und der Höheren Schulen (1865) zu Studienreisen in west74 Die wohl noch immer beste Monographie stammt von Wemer Eugen Mosse, Alexander II. and the Modemization of Russia, London 1958, Neuaufl. 1992. 75 So das zutreffende Urteil von Heinz-Dietrich Löwe, Alexander II. 1855 -1881, in: H.-J. Torke (Hrsg.), Die russischen Zaren (Anm. 41), S. 315 -338,394 f., Zitat S. 315. 76 Dazu Friedhelm Berthold Kaiser; Die russische Justizreform von 1864. Zur Geschichte der russischen Justiz von Katharina ll. bis 1917. Leiden 1972. n Dazu in umfassender Perspektive Erik Amburger; Geschichte der russischen Behördenorganisation von Peter dem Großen bis 1917. Leiden 1966. 78 Dazu umfassend Dietrich Beyrau, Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland 1700-1914. Köln 1984; für den Zusammenhang auch lohn Shelton Curtiss, The Russian Army under Nicholas 1.• 1825-1855. Durham 1965; speziell. aber erhellend Hans-Peter Stein, Der Offizier des russischen Heeres zwischen Reform und Revolution. in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 13 (1967), S. 346 - 507. 79 Dazu S. Frederick Starr; Decentralization and Self-Govemment in Russia. 1830-1870. Princeton 1972; ferner George L Yaney, The Systematization of Russian Govemment. Social Evolution in the Domestic Administration of Imperial Russia. 1711-1905. Urbana/Chicago/London 1973. 80 Speziell zur Epoche Alexanders II. Patrick LAlston, Education and the State in Tsarist Russia, Stanford 1969.

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liche Länder geschickt und dort mit der Ausarbeitung entsprechender Gutachten beauftragt worden. Nimmt man zu alledem noch die Fortschritte in der Infrastruktur und in der Gesundheitsfürsorge, in der Landwirtschaft und im Agrarwesen 81 sowie, nicht zuletzt, auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Industrie,82 so wird, gerade auch in der Rückschau, deutlich, wie stark sich das Zarenreich seit Beginn der 1860er Jahre - wenngleich mit einiger Verspätung - "europäischen" Mustern und Modellen anzunähern begonnen hatte. 83 Dabei waren es vor allem die führenden gesellschaftlichen Schichten des Landes, zumal der gebildete Teil des russischen Adels und das sich langsam formierende russische (Groß-)bürgertum, die ganz im Bann "westlicher" Lebensformen standen. In den Augen vieler zeitgenössischer Kritiker pflegten sie hier allerdings ihr spezifisch ,,russisches" Wesen oftmals allzu eklatant zurückzusetzen oder gänzlich zu verdrängen. Hieraus wiederum ergab sich ein mit der Zeit immer stärker hervortretendes gesellschaftspolitisches Problem bei der Rezeption "europäischer" Leitbilder. Der - besonders in den Kreisen der Aristokratie 84 - durch zahlreiche Bildungsaufenthalte und Studienreisen ins westliche Ausland zusätzlich angeregte Europäisierungsprozeß blieb bis zum Untergang des Zarenreiches jedenfalls weithin ein "Oberflächenphänomen,,85 innerhalb der russischen Gesellschaft.

81 Instruktive Darstellung der ,,Bauernbefreiung" von 1861, ihrer Voraussetzungen, Durchführung und Folgen noch immer bei Peter Scheibert, Die russische Agrarrefonn von 186l. Ihre Probleme und der Stand ihrer Erforschung, Köln/Wien 1973; problemorientiert Harry T. Willetts, Die russische Agrarfrage nach der Bauernrefonn (1970), wiederabgedruckt in: D. Geyer (Hrsg.), WIrtSchaft und Gesellschaft (Anm. 41), S. 168-187. 82 William L Blackwell, The Beginnings of Russian Industrialization, 1800-1860, Princeton 1968; ders., The Industrialization of Russia. A Historical Perspective, New York 1970; ferner die älteren Problemskizzen von Roger Portal, Die russische Industrie am Vorabend der Bauernbefreiung (1953), wiederabgedruckt in: D. Geyer (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 41), S. 133-163; ders., Das Problem der industriellen Revolution in Rußland, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 1 (1954), S. 205-216; Erik Amburger, Die fremden Unternehmer in Rußland bis zur Oktoberrevolution im Jahre 1917, in: Tradition 2 (1957), S. 337 - 355. 83 Darüber und zum Refonnwerk Alexanders 11. insgesamt W. Bruce Lincoln, In the Vanguard of Refonn. Russia's Enlightened Bureaucrats, 1825-1861, DeKalb (111.) 1982; ders., The Great Refonns. Autocracy, Bureaucracy and the Politics of Change in Imperial Russia, DeKalb (nI.) 1990. 84 Dazu programmatisch Karl-Heinz Ruffmann, Russischer Adel als Sondertypus der europäischen Adelswelt, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 9 (1961), S. 161-178; ferner Mare Raeff, Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility, New York 1966; Manfred Hildenneier, Der russische Adel von 1700-1917, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte und Gesellschaft. Europäischer Adel 1750 - 1950, Göttingen 1990, S. 166 ff.; zuletzt umfassend Jurij M. Lotmann, Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus 1., Köln / Weimar / Wien 1997. 85 So treffend von Schelting (Anm. 70), S. 263.

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vn. Die große Kontroverse 1. Formierung der Positionen Es war nicht zuletzt eine mittelbare Folge der seit den I 860er Jahren von staatlichen Stellen forciert betriebenen Europäisierung Rußlands, daß sich allmählich auch im politischen Denken der damaligen Gebildeten ein intensives Nachsinnen über Möglichkeiten und Grenzen der Adaption westlicher Wertmuster und Verhaltensnormen seitens der russischen Gesellschaft zu regen begann. Im Gefolge dieses vielbeschriebenen Denkprozesses86 wurde auf russischer Seite nicht nur das Bewußtsein von der fundamentalen Differenz zwischen "westlicher" und "östlicher" Lebenswelt nachhaltig befördert. Die russische ,,Intelligenz" als eine weder durch Besitz noch durch Klassenunterschiede begrenzte Gesellschaftsschicht87 spaltete sich darüber hinaus im Gefolge dieser "großen Kontroverse" nachhaltig und dauerhaft in die zumeist als einander entgegengesetzt geltenden, jedoch keineswegs in sich einheitlichen Gruppierungen der "Westler" (Zapadniki) und der ,,slavophilen". Auch hier sind die Zusammenhänge bei genauerem Hinsehen weitaus komplizierter, als man dies zunächst vermuten mag. Gemeinhin gilt die 1836 erfolgte Veröffentlichung des Ersten Philosophischen Briefes von Peter Jakovlevic Caadaev (1793 -1856) als Startsignal für die während der folgenden Jahrzehnte mit großer Heftigkeit ausgetragene Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppierungen. Caadaev hatte in dieser Schrift88 - zur allgemeinen Empörung - seinem Heimatland eine völlige Geschichts- und Kulturiosigkeit attestiert und ihm jede positive Gestaltungsmöglichkeit aus eigener Kraft abgesprochen. Bedingt durch die jahrhundertlange Trennung Rußlands von der sich unter Führung Roms vollziehenden Kulturentwicklung Westeuropas, und verstärkt durch die mongolische Fremdherrschaft, seien Kult und Lehrmeinung der russisch-orthodoxen Kirche als lebensweltlich prägender Größe zu einer Ent86 Das veIWirrende geistesgeschichtliche Labyrinth der innerrussischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis Rußlands zu Europa im 19. Jahrhundert durchmisst noch immer grundlegend von Sehelring (Anm. 70); aus der neueren Literatur vgl. bes. Alexej Peslwv, Der deutsche Komplex der Slavophilen, in: D. Herrmannl A. Ospovat/K.-H. Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 59), S. 844-872, 1027 -1029. 87 Dazu die wichtigen Bemerkungen von Wemer Markert, Zur geschichtlichen Bedeutung der ,,lntelligencija" (1957), wiederabgedruckt in: Ders. (Hrsg.), Osteuropa und die abendländische Welt (Anm. 32), S. 159-165; allgemeiner Richard Pipes (Hrsg.), Die russische Intelligenz, Stuttgart 1961; ders., Rußland vor der Revolution. Staat und Gesellschaft im Zarenreich, München 1977, S. 253-286; begriffsgeschichtlich Otto W. Müller, Intelligencija. Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlagwortes, Frankfurt a. M. 1971. gg Teildruck bei Peter Tschaadajew. Schriften und Briefe, übersetzt und eingeleitet von Elias Hurwicz, München 1921, S. 135 ff.; ders., Philosophische Briefe, in: Nicolai von Bubnoff I Hans Ehrenberg (Hrsg.), Östliches Christentum. Dokumente, Bd. 1: Politik, München o.J., S. 1-87; neuerdings auch ders., Apologie eines Wahnsinnigen. Geschichtsphilos0phische Schriften, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Lehmann-Carli und Ulf Lehmann, Leipzig 1992.

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artungsfonn des Christentums schlechthin pervertiert. 89 Statt der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit produktiven Ideen zu begegnen, erstarre die russische Orthodoxie in sterilen Riten und Zeremonien und offenbare neben einem eklatanten Mangel an Aktivität und Spontaneität eine Gesinnung, die mit ihrer monastisch-asketischen, auf Kontemplation und Selbstentäußerung zielenden Grundhaltung beinahe zwangsläufig zur Unterwürfigkeit gegenüber der weltlichen Macht führe und ,,Freiheit" aus allen Daseinsbereichen verbanne. Nur der bedingungslose Anschluß an den Westen, an die europäische Zivilisation, nur die kompromißlose Fortsetzung der von Zar Peter I. einst glanzvoll eingeleiteten Europäisierung, könne Rußland - so Caadaev - seiner "wahren" Bestimmung zuführen. Und diese Bestimmung hieß für ihn: aktive Teilhabe an der allgemeinen Fortentwicklung des Menschengeschlechts. 2. Das Dilemma der" Westler"

Die in Rußland weithin als präzedenzlose Provokation empfundene, in ihrer Radikalität tatsächlich einzigartige und nicht unbedingt ausgewogene Abrechnung Caadaevs mit der gesamten geistigen und religiösen Entwicklung seines Landes erregte ungeheures Aufsehen - in Rußland ebenso wie in europäischen Intellektuellenkreisen,90 zumal Zar Nikolaus I. den Verfasser des Ersten Philosophischen Briefes für geisteskrank erklärt hatte und ihn unter - milden - Hausarrest, später unter ärztliche Beobachtung stellen ließ. Zunächst formierte sich im Rahmen des von Caadaev angeregten ,,Europäismus" ein exklusiver Kreis radikal "links" orientierter "Westler" - Publizisten wie Nikolaj Gavrilovic Cemysevskij (1828-1889) oder Nikolaj Aleksandrovic Dobroljubov (1836-1861) gehörten zu diesem Zirkel -, die sich Caadaevs Positionen zu eigen machten, als Verfechter eines radikalen Materialismus und einer nihilistischen Vemeinung der bestehenden Ordnung auftraten und die Entfachung einer Revolution im Zarenreich als ihre Lebensaufgabe betrachteten. 91 89 Zu Caadaev speziell Martin Winkler, Peter Jakovlevic Caadaev, Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts, Königsberg 1927, bes. S. 52-90; grundlegend eharles Quinet, Tchaadaev et les lettres philosophiques, Paris 1931; Eugene A. Moskoff, Tbe Russian Philosopher Chaadaev. His Ideas and his Epoch, New York 1937; Heinrich Falk, Das Weltbild Peter J. Tschaadajews nach seinen acht "Philosophischen Briefen", München 1954, bes. S. 85-128. 90 Für den Zusammenhang von Sehelting (Anm. 70), bes. S. 26-36, 41-61, 78-85, 89-94, 153-159; ferner Peter Seheibert, Von Bakunin zu Lenin. Geschichte der russischen revolutionären Ideologien 1840-1895, Bd. 1 [mehr nicht erschienen]: Die Formung des radikalen Denkens in der Auseinandersetzung mit deutschem Idealismus und französischem Bürgertum, Leiden 1956, S. 36-60; speziell Janko Lavrin, Chaadayev and the West, in: Tbe Russian Review 22 (1963), S. 274-288; ferner Adolf Hampel, Caadaev - der Weise aus Moskau und die Sonne des Westens, in: D. Herrmann/ A. L. Ospovat/K.-H. Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 59), S. 775 - 788. 91 Vgl. allgemein Sergej V. Uteehin, Geschichte der politischen Ideen in Rußland, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1966, S. 90-123, bes. S. 118 ff.; zu Cernysevskij N. G. o. Pereira,

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Auch Aleksander Ivanovic Herzen (1812-1870), der intellektuell regsamste russische Emigrant des 19. Jahrhunderts, begann seinen Denkweg als Anhänger einer am "Westen" orientierten "fortschrittlichen" politischen ,,Freiheitskonzeption".92 Dann jedoch, nach dem Erlebnis der gescheiterten Revolution von 1848, verlor er, enttäuscht über das vermeintliche Versagen der europäischen Bourgeoisie, "des dümmsten Teils von Europas Einwohnern", und maßlos angewidert von der "vernünftige[n] Mittelmäßigkeit und selbstzufriedenen Ordnung" namentlich des deutschen Spießbürgers,93 jedes Vertrauen in die liberalen Freiheitsideale des Westens und wandte sich zurück zu Rußland, speziell zu der seit der "Entdeckung" Haxthausens 1847 kursierenden Vorstellung von der spezifisch russischen Lebensform einer kollektiven bäuerlichen Bodengemeinschaft, dem Mir (ObScina).94 Herzen überhöhte diese Vorstellung bekanntlich zum Mythos einer gleichsam naturgegebenen Disposition des Slaven für das Prinzip des Sozialismus bzw. Kommunismus und schloß daraus - die Wertungen Caadaevs gleichsam in ihr Gegenteil wendend - auf einen Entwicklungsvorsprung des russischen Volkes vor allen anderen europäischen Nationen. Herzens einstige Bewunderung Europas, sein ,,romantisches Westlertum,,9s schlug nun um in Verachtung, ja geradezu in Haß gegenüber The Thought and Teachings of N. G. Cernysevskij, The Hague 1975, bes. S. 6Off. - In begrenztem Umfang lässt sich auch der führende und einflußreichste Literaturkritiker jener Jahre, Vissarion Grigorevic Belinskij (1811-1848), diesem frühen Zirkel radikaler "Westler" zuordnen, wenngleich für ihn nicht unbedingt der revolutionäre Umsturz, sondern das Streben nach Aufklärung und Fortschritt, nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu den nachahmenswerten Errungenschaften des Westens zählte; dazu detailliert Scheibert (Anm. 90), S. 170-221, sowie zuletzt umfassend Jurij Mann. Verständnis und Mißverständnisse - Vissarion Belinskij, in: D. Herrmann, A. L. Ospovat I K.-H. Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 59), S. 789-824, mit weiterführender Literatur (S. 1025 f.). 92 Dazu explizit Martin Malia, Alexander Herzen and the Birth of Russian Socialism, 1812-1855, Cambridge 1961; ferner Edward Acton, Alexander Herzen and the Role of the Intellectual Revolutionary, Cambridge/London/New York/Melboume 1979; Hans Rothe. Revolution gegen Erinnerung: Alexander Herzen, in: Hans Bernd Harder I Bernd E. Schulz (Hrsg.), Studia Slavica. Beiträge zum Vill. Internationalen Slawistenkongreß in Zagreb 1978, Gießen 1981, S. 149-183; zuletzt umfassend Dagmar Herrmann. Aleksandr Herzens Probleme mit den Deutschen, in: Dies. I A. L. Ospovat/K.-H. Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 59), S. 873-937. 93 Beide Zitate Scheibert (Anm. 90), S. 256 bzw. 252. 94 Herzens ,,Rückwendung zu Rußland" ist oft beschrieben worden, am besten durch von Schelting (Anm. 70), S. 221-231,289 und Scheibert (Anm. 90), S. 251-265, 315 -325; ferner speziell Martin Malia, Herzen and the Peasant Commune, in: Ernest Joseph Simmons (Hrsg.), Continuity and Change in Russian and Soviet Thought, Cambridge (Mass.) 1955, S.197-217. 9S SO treffend Utechin (Anm. 91), S. 114; andere Autoren betonen in diesem Zusammenhang mit Blick auf Herzen und seine zahlreichen russischen Gesinnungsfreunde - gleichfalls überaus treffend - "die Arroganz eines radikalen Literatentums" (Stökl [Anm. 53], S. 567), dessen "beziehungslose Retortenwelt" (Scheibert [Anm. 90], S. 216) sich weitab von jeder Bereitschaft bewegte, auch nur die geringfügigste Verantwortung im öffentlichen Leben innerhalb wie außerhalb des Zarenreiches zu übernehmen.

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dem "Westen". Herzen war somit - lange vor aller späteren marxistischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft Westeuropas - der erste russische Intellektuelle, der eine enge Verbindung zwischen Sozialismus und Anti-Europäismus konstruierte. Seitdem war das russische "Westlertum" dauerhaft in zwei grundsätzlich voneinander getrennte Lager gespalten: in ein revolutionär-sozialistisch orientiertes Lager, das der bestehenden europäischen Gesellschaftsordnung und deren russischer Variante prinzipiell feindlich gegenüberstand; und in ein reformistisch-liberal orientiertes Lager, das auf eine schöpferische geistige Aneignung der freiheitlichen politischen Errungenschaften Westeuropas setzte. Groß ist dieser Kreis der - im westeuropäischen Verständnis - liberal gesinnten Verfechter eines konsequent pluralistisch orientierten Staats- und Gesellschaftsmodells in Rußland bis zum Ende des Zarenreiches nie gewesen. Es waren vor allem Repräsentanten der westlich gebildeten adligen Oberschicht, die ihrem Land - vornehmlich während der Regierungszeit Alexanders 11. - den Genuß politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Wohlstandes verschaffen wollten und mit alledem einen bürgerlichen Verfassungsstaat anstrebten, der die Gleichheit aller vor dem Gesetz und die sorgfältige Bewahrung der Grundrechte garantierte. 96 Zur Gruppe dieser liberal orientierten "Westler" zählten Promotoren der Reformpolitik Alexanders 11. wie etwa Konstantin Dmitrievic Kavelin (1818-1885) oder Gelehrte wie der Rechtsphilosoph und Rechtshistoriker Boris Nikolaevic Cicerin (1829-1904).97 Cicerin hatte bereits 1856 den Mythos von der angeblich urkommunistischen Herkunft der russischen Dorf- und Bodengemeinschaft entlarvt und nachgewiesen, daß der Mir (ObsCina) seine Existenz nicht einer besonderen russischen Sozialgesinnung verdanke, sondern allein auf steuertechnischen und finanzpolitischen Erwägungen aus der Frühzeit des Moskauer Großfürstentums beruhe. 98 96 Zur Geschichte des russischen Liberalismus im 19. Jahrhundert vgl. - neben den älteren Darstellungen von Wctor Leontovitsch. Geschichte des Liberalismus in Rußland, Frankfurt a. M. 1957, und George Fischer, Russian Liberalism. From Gentry to Intelligentsia, Cambridge (Mass.) 1958 - Derek Offord, Portraits of Early Russian Liberals, Cambridge (Mass.) 1985; Dietrich Beyrau, Liberaler Adel und Reformbürokratie im Rußland Alexanders II., in: Dieter Langewiesehe (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 499-514, sowie den knappen Überblick von Detle! Jena, Zwischen Aufklärung und Industriegesellschaft. Der russische Liberalismus von seinen Anfängen bis zum Jahre 1905, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 4 (1992), S. 9-32. - Für den Zusammenhang instruktiv ferner Reinhard Wittram, Das Freiheitsproblem in der russischen inneren Geschichte. Gedanken zu einigen Fragestellungen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2 (1954), S. 369-386. 97 Vgl. DarreIl Patrick Hammer, Two Russian Liberals: Tbe Political Tbought of B.N., Chicherin and K.D. Kavelin, Ann Arbor 1962; Daniel Field, Kavelin and Russian LiberaIism, in: Slavic Review 32 (1973), S. 59-78; Summer Benson, Tbe Conservative LiberaIism of Boris Chicherin, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 21 (1975), S. 17 -114. 98 Dazu grundSätzlich Klaus-Detlev Grothusen, Die Historische Rechtsschule Rußlands. Ein Beitrag zur russischen Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Gießen 1962, bes. S. 90-120 (K. D. Kavelin), 120-151 (B. N. Cicerin).

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Meinungsführend waren diese "westlerisch"-liberalen Denker im Rußland des späteren 19. Jahrhunderts keinesfalls. Sie hatten nicht nur gegenüber den vom Westlertum abgefallenen revolutionären Sozialisten einen schweren Stand. Auch jene Kreise, die dem bedingungslosen Europäismus Caadaevs aus patriotischen Gründen widersprachen und dessen radikale Abwertung der russischen Vergangenheit als geistig und kulturell minderwertig nicht hinnehmen mochten, hegten kaum Sympathien für das Freiheitsideal oder das Persönlichkeitsdenken "westlicher" Prägung. 3. Slavophile Träume

Eine der frühesten national-russischen Gegenpositionen zu den provozierenden Thesen des Ersten Philosophischen Briefes hatte der gelehrte Aristokrat und Publizist Aleksej Stepanovic Chomjakov (1804-1860) formuliert. Als Hauptrepräsentant der frühen Slavophilen vertrat er in seinem Manifest Die Meinungen der Ausländer über Rußland (1845) so ziemlich das Gegenteil dessen, was Caadaev wenige Jahre zuvor seiner russischen Heimat unterstellt hatte: 99 Lob der orthodoxen Kirche als der "wahren" Gestaltungsform des Christentums und Wurzelgrund des gesamten russischen Wesens wie auch Vorbild für den "Westen"; Hochschätzung des "einfachen Volkes" als Verkörperung der "Seele" Rußlands; Ablehnung der erniedrigenden Nachahmung ,,fremden" Wesens. Mehrere Autoren traten Chomjakov rasch zur Seite, etwa Ivan Vasilevic Kireevskij (1806-1856), der in zahlreichen Schriften 100 nicht müde wurde, die orthodoxe Religion im Sinne Chomjakovs als Ausdruck ,.russischen Wesens" zu preisen lOi und damit einen immer erneut wiederkehrenden Grundakkord im vielstimmigen Chor slavophiler Denker vernehmlich zum Klingen brachte. 102 Prominenten slavophilen Autoren wie Chomjakov oder Kireevskij sekundierte der Moskauer Literaturprofessor Stepan Petrovic Sevyrev (1806-1864), der den Begriff vom "verfaulten Westen" in die russische Europa-Diskussion einführte. 103 99 Zu Chomjakov speziell Albert Gratieux. A. S. Khomiakov et le mouvement slavophile, 2 Bde., Paris 1939; Peter K. Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism. A Study in Ideas, Bd. 1: A. S. Xomjakov, 's-Gravenhage 1961; ferner von Schelting (Anm. 70), S. 74-77; Quellendokumente bei von Bubnoff/Ehrenberg (Hrsg.), Bd. 1 (Anm. 88), S. 139-214; Bd. 2: Philosophie, München 1925, S. 1-27. 100 Als Auswahl Iwan W. Kirejewski. Rußland und Europa, übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. von Nicolai von Bubnoff, Stuttgart 1948. 101 Eberhard Müller, Russischer Intellekt in europäischer Krise. Ivan V. Kireevskij (1806-1856), Köln/Graz 1966; Peter K Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism. A Study in Ideas, Bd. 2: I. V. Kireevskij, Den Haag/Paris 1972; Fran~ois Rouleau, Ivan Kiriievski et la Naissance du Slavophilisme, Namur 1990. 102 Zu diesem Aspekt Nicholas V. Riasanovsky, Rußland und der Westen. Die Lehre der Slawophilen. Studie über eine romantische Ideologie, München 1954. 103 Über ihn Ludger Diethard Udolph, Stepan Petrovic Sevyrev 1820-1836. Ein Beitrag zur Entstehung der Romantik in Rußland, Köln/Wien 1986; zuletzt Alexej Peskov, Ein ,,rus-

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Der venneintlich krankhaften, weil durch pennanente Überbetonung des Persönlichkeitsgefühls zu Gewalttätigkeit und Eroberungslust verleiteten Zivilisation des Westens stellte Sevyrev die von Demut und Liebe, Opferbereitschaft und Selbstverleugnung geprägte, weil eben vom wahren christlichen Glauben durchdrungene russische Lebensart gegenüber. Andere literarische Vertreter des Slavophilismus - Konstantin Sergeevic Aksakov (1817 -1860) etwa,I04 oder sein Bruder Ivan Sergeevic Aksakov (1823 -1886)105 bemühten sich darum, die politischen und gesellschaftlichen Zustände der vorpetrinischen Zeit als Verkörperungen des "eigentlichen" Rußlands zu idealisieren und als Vorbild für eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft in der Gegenwart zu präsentieren. Die altrussische Vergangenheit war gemäß dieser Konzeption durch ein konsensorientiertes, von jedem Zwang befreites Vertrauensverhältnis zwischen Herrscher und Volk gekennzeichnet. Der zarischen Autokratie mit ihrer unbegrenzten Machtfülle und ihrem Recht der Freiheit des Regierens einerseits stand - so die Überzeugung der Brüder Aksakov - die Anerkennung einer ebenso ausgedehnten und unantastbaren Freiheitssphäre der Untertanen andererseits gegenüber. Vollkommene Meinungs- und Versammlungsfreiheit gehörten ebenso dazu wie eine weitgehende Selbstverwaltung des dörflich-bäuerlichen Gemeindelebens. Erst die Einführung des absolutistischen Herrschaftsmodells "westlicher" Prägung durch Peter den Großen mit seinen auf Reglementierung, Zentralisierung und Unterjochung aller freiheitlichen Lebensregungen gerichteten Zielvorgaben habe den Bruch zwischen Zarenherrschaft und Volks willen herbeigeführt und beide Seiten zusehends einander entfremdet. Diesen Bruch und diese Entfremdung gelte es rückgängig zu machen, um Rußland einen eigenen Weg in die Zukunft zu ennöglichen, der alle westeuropäischen Fehlentwicklungen venneide. 106 si scher Lessing" - Stepan Sevyrev, in: D. Hemnann/ A. L. Ospovat/K.-H. Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 59), S. 825 - 843. 104 Edward Chmielewski, Tribune of the Slavophiles. Konstantin Sergeevic Aksakov, Gainesville 1962; ferner von Sehelting (Anm. 70), S. 99 ff., 159-169; Quellendokumente bei von Bubnoff/Ehrenberg (Hrsg.), Bd. 1 (Anm. 88), S. 88-138. 105 Konrad Bittner, Ivan Sergeevic Aksakov, in: Welt der Slawen 6 (1961), S. 241-263; Stephen Lukashevieh, Ivan Sergeevic Aksakov, 1823 -1886. A Study in Russian Thought and Politics, Cambridge (Mass.) 1965. 106 Zu diesem Aspekt Michael Chemiavsky. Tsar and People. Studies in Russian Myths, New York 1961; Andrzej Walieki. The Slavophile Controversy. History of a Conservative Utopia in Nineteenth-Century Russian Thought, Oxford 1975; spezieller Heinz-Dietrieh Löwe. Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, Hamburg 1978. Im übrigen offenbart diese rückwärtsgewandte Utopie der russischen Slavophilen mit ihrem Idealbild vom ,,heilen", patriarchalisch geordneten und religiös geprägten Volksleben eine enge Verbundenheit mit dem Denken der westeuropäischen Romantik, vor allem in ihrer deutschen und französischen Ausprägungsform. Diesen Aspekt betont nachdrücklich lutta Sehe"er; Politische Ideen im vorrevolutionären und revolutionären Rußland, in: Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5: Neuzeit: Vom Zeitalter des Imperialismus bis zu den neuen sozialen Bewegungen, München/Zürich 1987, S. 203 -281, hier S. 212; vgl. in

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Es mag in diesem Zusammenhang kaum überraschen, daß den Slavophilen bei ihrem Lobpreis der altrussischen Lebensordnung auch jene Einrichtung in hellstem Licht erstrahlte, die bereits den "Westlern" um Herzen und Cernysevskij als Vorbild fiir die Gestaltung der Zukunft Rußlands gegolten hatte: die bäuerliche Dorfgemeinde, der Mir (ObiCina). War sie im Blickfeld der "Westler" eine Keimzelle fiir die angestrebte Umgestaltung des Zarenreiches in revolutionär-sozialistischer Absicht, so sahen die Slavophilen in ihr die Grundlage der gesellschaftlichen Organisation des gesamten russischen Volkes im Sinn einer großen, einigen ,,Familie" unter der unanfechtbaren Führung des Zaren als "Vater des Volkes". Daß die auf gemeinsamem Bodenbesitz, solidarischer Haftung der Gemeinde und konsensualer Beschlußfassung ihrer Mitglieder beruhende Organisationsform des Mir zudem vollkommen mit der vom Grundsatz brüderlicher Liebe bestimmten orthodoxen Form des Christentums harmonierte, galt der Gruppe der Slavophilen um die Brüder Aksakov und um Kirejewskij als zusätzlicher Beleg fiir die dem russischen Volk innewohnende Veranlagung zu einer dem "Ganzen" gegenüber verpflichteten "Gemeinschaftlichkeit". So war es nur folgerichtig, daß sich führende Slavophileallen voran Jurij Fedorovic Samarin (1819 _1876)107 - mit großem Engagement in die Vorbereitungen zur Bauernbefreiung von 1861 einbrachten und nicht nur für die Zuteilung von Landbesitz an die befreiten Leibeigenen eintraten, um deren Proletarisierung zu verhindern, sondern darüber hinaus - teilweise mit ErfolglOS dafür plädierten, das Land nicht individuell zu vergeben, sondern es dem dörflichkommunalen Kollektiveigentum des Mir zu übereignen. 109 4. Panslavistische Utopien

Thre Wendung ins Offensiv-Machtpolitische erfuhr die Ideologie der Slavophilen seit den 1850er Jahren, beginnend mit dem Diplomaten und Lyriker Fedor Ivanovic Tjureev (1803 -1873), fiir den Rußland als Führungsmacht des "anderen Europa", d. h. der gesamten slavisch-osteuropäischen Welt, die Verpflichtung in sich trug, an der Schaffung eines "Ostimperiums" zu arbeiten, in welchem der "wahre" diesem Zusammenhang auch die wichtige frühe Abhandlung von Fedor Stepun, Deutsche Romantik und Geschichtsphilosophie der Slawophilen, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 16 (1927), S. 46-67. 107 Über ihn Gerd4 Hucke, Jurij Fedorovic Samarin. Seine geistesgeschichtliche Position und politische Bedeutung, München 1970; Loren David Calder, The Political Thought of Yu. F. Samarin, New York/London 1987; Peter K. Christoff, An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism. Iu. F. Samarin, Bou1der 1San Francisco 1Oxford 1991. 108 Dazu explizit Boris Mironov, The Russian Peasant Commune after the Refonns of the 1860s, in: Slavic Review 44 (1985), S. 438-467. 109 Dazu speziell Robert Stupperich, Jurij Samarin und die Anfänge der Bauernbefreiung in Rußland (1940), Neuaufl., Wiesbaden 1969; ders., Jurij Fedorovic Samarin unter Slavophilen und Westlern, in: Zeitschrift für slavische Philologie 45 (1985/86), S. 116-129; ferner Eberhard Müller, Zwischen Liberalismus und utopischem Sozialismus. Siavophile sozialtheoretische Perspektiven zur Refonn von 1861, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 13 (1965), S. 511-530.

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christliche Glaube, also die östliche Orthodoxie, zur vorherrschenden geistigen Leitnorm avanciere. 110 Dieses zu schaffende Imperium aber habe die Aufgabe, den in materialistischem Rationalismus und allgemeiner Auflösung versinkenden Westen zu ,,retten", d. h. ihn zu den alten, unverfälschten Traditionen des Christentums - also eben zur Orthodoxie - zUlÜckzuführen. Von solchen Positionen war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Ausformulierung jenes vollentwickelten panslavistisch-panorthodoxen Messianismus - unter Reaktivierung des Gedankens von Moskau als ,,Drittem Rom"l1Oa -, wie er in der zweiten lahrhunderthälfte durch Danilevskij und Dostojevskij vorgetragen worden ist. Nikolaj lakovlevic Danilevskij (1822-1885), "der eigentliche Systematiker der panslawistischen Weltanschauung,,111 bündelte in seinem 1869 erschienenen Buch Rußland und Europa die bisher angeführten Argumente slavophiler Autoren zu einem geschlossenen Gedankengebäude. Zugleich ideologisierte er die Lehre der Slavophilen im Sinn einer geschichtsphilosophischen Kulturtypenlehre, gemäß derer die Zivilisation des europäischen Westens vom erwachenden östlich-slavisehen Kulturtyp mit all seinen skizzierten "positiven" Eigenschaften abgelöst werde. Nicht mehr das von der germanisch-romanischen Völkerfamilie dominierte Europa, sondern Rußland werde demzufolge den zukünftigen Gang der Weltgeschichte bestimmen. ll2 Es sei daher die vordringlichste Aufgabe des Zarenrei110 Zuletzt Alexander Ospovat, Fedor Tjutcev über "deutsche Zustände", in: D. Herrmann I A. Ospovat/K.-H. Kom (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (Anm. 59), S. 444-462; speziell von Sehelting (Anm. 70), S. 180-186; ferner als Quellensammlung Fjodnr Tjutsehew, Rußland und der Westen. Politische Aufsätze, hrsg., aus dem Russischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Michael Harms, Berlin 1992. 1IOa Grundlegend weiterhin Hildegard Schaeder; Moskau das Dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, 2. Aufl., Darmstadt 1957, bes. S. 169 ff.; knapper Wilhelm Lettenbauer; Moskau das Dritte Rom. Zur Geschichte einer politischen Theorie, München 1961, bes. S. 73 ff. 111 So das treffende Urteil bei von Sehelting (Anm. 70), S. 238; zu Danilevskij ebd., S. 238-257; ferner Nilrolaj lakovlevitseh Danilewski, Rußland und Europa. Eine Untersuchung über die kulturellen und politischen Beziehungen der slawischen zur germanischromanischen Welt, übersetzt von Karl Nötzel, Stuttgart 1920; dazu direkt Karl Nötzel, Die Grundlagen des geistigen Rußland, Jena 1917; zu Danilevskij speziell Konrad Pfalzgraf, Die Politisierung und Radikalisierung des Problems Rußland und Europa bei N. J. Danilevskij, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte I (1954), S. 55-204; Gert Müller; Panslawismus und Kulturmorphologie. Zum Werk N. J. Danilevskijs, in: Saeculum 14 (1963), S. 340-382; Robert E. MaeMaster; Danilevskij. A Russian Totalitarian Philosopher, Cambridge (Mass.) 1967. 112 Diese These wurde - mutatis mutandis - bekanntlich von Oswald Spengler aufgegriffen und produktiv fortentwickelt; darüber zuletzt, mit aller weiterführenden Literatur HansChristof Kraus, "Untergang des Abendlandes". Rußland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers, in: Gerd Koenen/Lew Kopelew (Hrsg.), Deutschland und die Russische Revolution 1917 -1924, München 1998, S. 277 -312; spezieller Robert E. MacMaster; Danilevsky and Spengler: A New Interpretation, in: The Journal of Modem History 26 (1954), S. 154-161; wichtig ferner Xenia Werner (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Oswald Spengler und Wolfgang E. Groeger über russische Literatur, Zeitgeschichte und soziale Fragen, Hamburg 1987.

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ches, alle Slaven von ihren fremden Herren - und das hieß konkret: von der osmanischen und von der österreichisch-ungarischen Herrschaft - zu "befreien" und mit Rußland in einem "all-slavischen Reich" zu vereinen. 113 In poetisch überhöhter Form wurden Danilevskijs Positionen von Fjodor Michajlovic Dostojevskij (1821-1881) vertreten. Dostojevskij verkündete nicht nur die bevorstehende Weltherrschaft des Russenturns als des "auserwählten Volkes". Er prophezeite darüber hinaus den Europäern wie der Menschheit insgesamt Rettung, Heil und Erlösung von Chaos und Zerstörung durch die Kraft des russischen Volkes. 114 Rußland erschien in dieser Perspektive als Träger einer universalgeschichtlichen "Sendung", einer weltumspannenden "Mission", von deren Gelingen nichts Geringeres als die Zukunft der Erde abhing. Diese slavophile Utopie einer historischen Mission Rußlands,115 die sich vom nahenden Zusammenbruch der bürgerlich-dekadenten Klassengesellschaft des Westens mit seinem glaubensfernen Rationalismus, seinem menschenverachtenden Kapitalismus und seinem 113 Zur Ideologie des Panslavismus vgl. in diesem Zusammenhang überblickshaft Frank Fadner, Seventy Years of Pan-Slavism in Russia. From Karamzin to Danilevskij, 1800-1870, Washington 1972; ferner für die Ära zwischen Krimkrieg und Reichsgründung Michael Boro Petrovich. The Emergence of Russian Panslavism, 1856-1870. New York 1956; für den Zusammenhang wichtig Edward C. Thaden. Conservative Nationalism in nineteenth-centwy Russia, Seattle 1964, sowie Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 11: Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982. S. 121-149. Übrigens hat die Ideologie des Panslavismus die offizielle Politik der russischen Regierung im 19. Jahrhundert weitaus weniger beeinflußt, als dies zumeist vermutet wird. Zar Alexander 11. lehnte die panslavistische Lehre prinzipiell ab, und auch sein Sohn und Nachfolger Zar Alexander m. (1845-1894. reg. seit 1881) wahrte - bei aller Neigung zum großrussischen Expansionismus - doch deutliche Distanz zur zeitgenössischen "Slavomanie", in der richtigen Erkenntnis. daß "die richtungslose Mobilisierung nationalistischer Em