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German Pages 104 [112] Year 1930
VEITS KLEINE
SCHACHBÜCHEREI
HERAUSGEGEBEN -
VON
B A N D
Dr. F.
PALITZSCH
13 =
^
EIN RUNDFLUG DURCH DIE SCHACHWELT VON
RUDOLF SPIELMANN
M I T 33 D I A G R A M M E N
BERLIN
UND
LEIPZIG
1929
W A L T E R D E G R U Y T B R & C O . VORMALS G.J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG- J. GUTTENTAG, VERLAGSBÜCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT 4 COMP.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig
Vorwort. Ein Rundflug meiner Gedanken durch, die Schachwelt — das ist der Inhalt dieses Bändchens. Bunt und zahlreich waren die Stoffe, die mich anzogen, nur wenige konnte ich auswählen. Da habe ich mich bemüht, recht mannigfaltiges zu bieten und all die Dinge zu berühren, welche dem Schachliebhaber am nächsten liegen. Ohne besondere Methode bin ich vorgegangen. Vielerlei wollte ich möglichst allgemein verständlich mitteilen. Hoffentlich habe ich glücklich gewählt. W i e n , März 1929. Rudolf Spielmann.
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Inhaltsverzeichnis. Seite
Das Schachspiel als Vergnügen und Wissenschaft
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Was ist Spielstärke ?
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Vorbereitungen Die Kontrolluhr, ihre Herren und Sklaven
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Die Falle
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Tricks
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V o m Zufall
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Morphy
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Die Meisterei
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Schach im Olymp
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Schachmeister als Privatmenschen
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Eröffnungslehre für den Hausgebrauch
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K o m p a ß fürs Mittelspiel
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Vom praktischen Endspiel Vom Remistod
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Das Schachspiel als Vergnügen und Wissenschaft. Die Frage, wie das Schachspiel zu klassifizieren sei, ob als Kunst oder Wissenschaft, als Sport oder Spiel, wird verschieden beantwortet. Es ist dies eine Sache des Geschmackes und schließlich von geringer praktischer Bedeutung. Viel genauer läßt sich der Zweck des Schachspiels als Zeitvertreib feststellen. Zwar ein sehr schöner Zeitvertreib, mit künstlerischem und wissenschaftlichem, mit sportlichem und spielerischem Einschlag, aber doch nicht mehr. Die weitaus meisten Schachspieler setzen sich nur mit dem Gefühl ans Brett, daß jetzt nach des Tages Mühen die Zeit friedlichen Behagens gekommen sei. Eine Zeit, innerhalb welcher die Gedanken sorglos und unbeschwert im Freien herumtollen können. Und ein solcher „Spaziergang" ist gewiß nützlich, ebenso nützlich, wie ein wirklicher Spaziergang dem Körper. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, ist ein Großteil der umfangreichen Schachliteratur für die breiten Schichten der Schachspieler von geringem Interesse. Viele, ja die meisten Schachbücher sind zu wissenschaftlich gehalten. Sie erfordern entweder große Vorkenntnisse oder fleißiges Studium, um verstanden zu werden und berücksichtigen nicht, daß die Mehrzahl der Schachspieler weder Lust, noch Zeit hat, dem harmlosen Vergnügen viele Stunden angestrengter Geistesarbeit zu opfern. Oft und oft habe ich diese Klage gehört. Oft wurde ich nach einem Schachbuch gefragt, welches zwar sachlich ist — also nicht bloß Betrachtungen enthält —, aber doch leicht genießbar und verdaulich. Ein Buch, welches ohne Zuhilfenahme des Schachtisches, etwa vor dem Einschlafen im Bett gelesen werden kann. Und ich muß ehrlich gestehen, daß ich immer in Verlegenheit kam, wenn eine solche Frage an mich gerichtet wurde, denn die Auswahl an derart beschaffenen Büchern ist denkbar gering. Aus diesem Grunde erklärt sich auch der im Vergleich zur großen Masse der Schachspieler nur geringe Absatz, den die Schachwerke finden. Das Publikum sucht Belletristik und lehnt die Wissenschaft als Zeitvertreib ab.
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Das breite Publikum hat wenig Interesse für Variantentheorie, für subtile Neuerungen und Widerlegungen. Das breite Publikum sucht einfache Informationen, verzichtet gerne auf genaue wissenschaftliche Darlegung. Es sucht Schachbücher, welche in unterhaltlicher Beziehung mit Detektivromanen konkurrieren können. Ich selbst habe diesen Mangel schon empfunden und wäre ich schriftstellerisch veranlagt; so hätte ich längst versucht, den Ton anzugeben für jene Musik, welche das Publikum liebt und begehrt. Nun bin ich aber kein Schriftsteller. Ich schreibe schlecht und recht wie irgendwer und habe bisher nur wenig veröffentlicht. Nachdem aber das Schachspiel und seine Literatur in den letzten Jahren einen so gewaltigen Aufschwung mitgemacht haben, der streng wissenschaftliche Charakter der Neuerscheinungen aber weiterhin vorherrscht und populäre Bücher heute mehr denn je fehlen, habe ich mich entschlossen, ein Buch der letzteren Gattung zu schreiben. Ich bin mir wohl bewußt, daß es bessere Schriftsteller und objektiv bessere Werke gibt und ich bin mir ebenso bewußt, daß mich niemand verdächtigen wird, ich sei bestrebt, meine Meisterkollegen, unter denen es auch mehrere Meister der Feder gibt, herabzusetzen und mich selbst zu beweihräuchern. Aber ich bin mir auch bewußt, daß die ideelle Grundlage meines Buches gut ist, denn bestimmend waren hier jene Anregungen und Wünsche, welche mir aus den Kreisen des Schachpublikums bekannt wurden. Ich weise nur auf die drei Artikel über Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel hin. Hier werden die Themata möglichst populär behandelt, wissenschaftliche Gründlichkeit und analytische Beweisführung nahezu ausgeschaltet. Wer das Schachspiel als Zeitvertreib auffaßt und von ernstem Schachstudium nichts wissen will, der wird hier für seine Zwecke genügend brauchbare Winke und Anregungen finden. Im übrigen habe ich mir gesagt — so paradox es klingen mag — daß es besser sei, zu wenig als zu viel zu bieten. Denn das Zuwenig läßt den Wunsch nach mehr wach werden, während das Zuviel abschreckt! In den anderen Kapiteln wird teils geplaudert, teils erklärt, teils auch polemisiert. Ich sehe den Schächer vor mir, welcher seine Partien abseits von Theorie absolviert und vielleicht auch interessiert ist, einen allgemeinen Einblick in die engere Welt der Schachmeister zu gewinnen, wenn er sich nur zu diesem Zwecke nicht den Hals ausrecken muß. Es gibt sehr viele Bücher, welche mit mehr oder weniger Erfolg bestrebt sind, Schachgelehrte zu züchten. Nun wäre es an der Zeit, daß Bücher folgen, welche Schachfreunde werben!
Ein Rundflug durch die Schachwelt.
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Was ist Spielstärke? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so einfach wie es scheint. Die Spielstärke ist relativ und kann immer nur an jener der Gegner gemessen werden. Den Maßstab gibt der jeweilige Weltmeister ab, der die höchste Stufe menschlichen Schachkönnens repräsentiert. Wer sich mit einiger Aussicht auf Erfolg praktisch betätigen will, muß über eine Reihe wichtiger Eigenschaften und Kenntnisse verfügen : Eröffnungstheorie, Endspielkenntnisse, Mittelspielprinzipien, Kombinationsverständnis, Phantasie und vor allem Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit! Der Blick muß geübt sein, grobe Fehler und Versehen dürfen nur ganz selten vorkommen. Letzteres ist zum großen Teil eine Sache der Übung, besser gesagt der Gewöhnung an das Schachbrett. Mit der Summe der hier aufgezählten Faktoren steigen die Erfolgsmöglichkeiten. Jedermann kann auf dieser Grundlage ein ganz guter Spieler werden und, ohne auf den Zehenspitzen stehen zu müssen, in das Lager der anerkannten Meister hinübergucken. Der weitere Aufstieg gestaltet sich aber dann unvergleichlich schwieriger. Die Stimme des Lehrers ist verhallt, die Bücher haben ihr Letztes gegeben, alle markierten Wege sind verschwunden, der Sucher und Kämpfer sieht nichts als schaurig-schöne Wildnis vor sich. Er befindet sich in der Lage des Kindes, das Schule und Elternhaus verlassen hat und nun darauf angewiesen ist, alle die Ratschläge, Regeln und Warnungen, die ihm irgendwann eingetrichtert und eingebläut wurden, praktisch zu verwerten. Der strebsame Schachjünger gerät allmählich in eine Gesellschaft von Gegnern, von denen jeder einzelne bis an die Zähne theoretisch bewaffnet ist. Er sieht allmählich ein, daß mit Kenntnissen allein keine außergewöhnlichen Erfolge zu erringen, daß die Kenntnisse nichts anderes als die Waffen sind, daß aber wahre Größe von der Geschicklichkeit abhängt, mit der diese Waffen gebraucht werden! Reiten, fechten, musizieren usw. kann jeder lernen, aber nur wenige werden darin Meister. Millionen und Abermillionen haben in der Muttersprache lesen und schreiben gelernt und doch gibt es nur einen S h a k e s p e a r e , einen G o e t h e , einen T o l s t o i . Und viele, viele haben Schachspielen gelernt Sobald ein Spieler über die elementaren Kenntnisse hinweg ist, muß er also zeigen, ob er nicht nur viel kennt, sondern auch etwas kann, die Kenntnisse anzuwenden versteht. Jetzt erst kann sich eine persönliche Spielstärke äußern.
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Die praktische Anwendung der Theorie ist wahrscheinlich auf allen Gebieten menschlicher Kunstfertigkeit, bestimmt aber im Schachspiel ein schwieriges Problem, welches an die persönlichen Fähigkeiten die größten Anforderungen stellt. Denn was sagt die Theorie ? Dies ist ein Gambit, dies eine solide Eröffnung, dies eine bequeme, dies eine beschwerliche Verteidigung! Sie spricht von offenen und geschlossenen Eröffnungen und Stellungen, gibt unendlich viele Ratschläge. Und immer wieder kann man die Klage hören: man sei der Theorie gefolgt und dennoch in Nachteil geraten. Ist die Theorie unzuverlässig ? Nein! Sie enthält nur verhältnismäßig wenige Irrtümer, denn sie wird aus der Praxis der Großen und Größten geschöpft. Gewöhnlich befindet sich der Kläger im Irrtum. Er ist meist einem bestimmten Beispiel längere Zeit gefolgt, hat aber, nachdem die Variante zu Ende war, den Faden verloren. Oder der Gegner ist abgewichen (egal ob gut oder schlecht) und unser Kläger hat sich, auf sich selbst angewiesen, prompt verirrt. Voraussetzung für die richtige Anwendung theoretischer Weisheiten ist die Fähigkeit, jederzeit die Situation richtig zu erfassen, zu beurteilen. Diese Fähigkeit muß jedoch gegeben sein, sie ist nur in geringem Maße erlernbar und dadurch das wichtigste trennende Moment zwischen dem Dogmatiker und dem Genie. In den Kreisen der Laien ist die Ansicht verbreitet, daß sich die Meister von den übrigen Schachspielern einfach dadurch unterscheiden, daß sie imstande sind, meilenweit vorauszurechnen und daß das Schachspiel auf diese Art nichts weiter als eine mathematische Kunstfertigkeit ist. Dies ist ein arger Irrtum. Wohl kann der geübte Spieler besser und weiter kombinieren als der ungeübte, doch ist dies keineswegs die wichtigste Voraussetzung zur Meisterschaft. In jeder ernsten Partie läßt sich nämlich die Mehrzahl der Züge schon mit Rücksicht auf die übliche Zeitbeschränkung (siehe Kapitel „Die Kontrolluhr usw.") nicht exakt berechnen. Hier muß das Gefühl, die Urteilskraft oder — um einen Schachausdruck zu gebrauchen — das Positionsurteil entscheiden. J e feiner das Positionsurteil, desto größer der Spieler, desto klarer das Talent, desto näher das Genie! Das Positionsurteil ist wichtiger als alle exakten Kenntnisse, es ist das Rückgrat der Spielstärke, ihre Nuancen sind letzten Endes nur Nuancen des Positionsurteils. Das Positionsurteil ist die Grundlage für alle Pläne und Unternehmungen. Es sagt dem Spieler, ob er nach Gewinn oder nach Remis streben soll, es rät bald zum Angriff, bald zur Verteidigung, es sagt, welche Wahrscheinlichkeit für das Gelingen dieser oder jener Kombination besteht usw. Die rechnerischen Aufgaben, welche der Spieler zu bewältigen hat, werden auf diese Weise ungemein erleichtert, denn
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er wird nur dort sein Glück versuchen, wo die entsprechenden Chancen gegeben sind und seine Kräfte nicht nutzlos an unfruchtbarer Stelle verschwenden. Das Positionsurteil ist die Wünschelrute des Schachspielers ! In den späteren Kapiteln werde ich noch einige Male auf die Bedeutung des Positionsurteils zurückkommen, auch an Hand von Beispielen. Vorläufig will ich mich daher nicht weiter damit abgeben und mit folgender Antwort auf die Titelfrage schließen: Spielstärke = Urteilskraft!
Vorbereitungen. Es gibt für den Schachmeister verschiedene Arten der praktischen Betätigung: Simultanspiel, Blind-Simultanspiel, das Spiel mit Zeitvorgabe (wenn er gegen mehrere Gegner spielt und insgesamt nur so viel Zeit verbrauchen darf, wie jeder einzelne seiner Partner), das Spiel mit Vorgabe von Material, das sogenannte Schnellspiel, in welchem die Bedenkzeit pro Zug auf einige Sekunden beschränkt ist u. a. m. Aber die weitaus schwierigste Art, die anstrengendste Arbeit, der härteste Prüfstein ist doch die ernste Turnierpartie mit einem Ebenbürtigen. Der Schachfreund, welcher gelegentlich seinen Verein oder sein Stammcafe besucht, um mit dem oder jenem einige Partien auszutragen, kann sich kaum eine Vorstellung machen, welch hohe Anforderungen das ernste Turnierspiel an einen Meister stellt. Bei einem richtig arrangierten Turnier ergeht die Einladung an die Teilnehmer schon einige Wochen, oft sogar Monate im Vorhinein. Und mit diesem Zeitpunkt beginnt für den Meister bereits die Turnierarbeit, beginnen nämlich die Vorbereitungen. Diese sind ungleich zeitraubender, in gewissem Sinne sogar schwieriger, als die Partien selbst. Hängt doch der Ausgang des Turniers zum großen Teile vom Resultat der Vorbereitungen ab! Es handelt sich dann sozusagen um das Meisterstück eines Gesellen, der nun in einer einzigen Arbeit alle im Laufe von längerer Zeit gesammelten Kenntnisse vereinigen soll. Freilich besteht zwischen den Vorbereitungen und dem Spiel selbst doch ein gewaltiger Unterschied. Während sich nämlich jene auf das Studium, auf das Experimentieren beschränken, stellt die Partie den Kampf dar. Wir haben den Unterschied zwischen Manöver und Krieg, zwischen Theaterprobe und Premiere, zwischen Traum und Wirklichkeit. Worin besteht nun die Vorbereitung zum Turnier ? Beileibe nicht etwa bloß darin, in den verschiedenen Büchern nachzuschlagen
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und einige Trainingspartien zu spielen. Die für jedermann erreichbaren Bücher sind zwar zum Zwecke des Nachschlagens auch für den Schachmeister wertvoll und unentbehrlich, genügend aber sind sie nicht. Die Schachtheorie ist ein Werk der Schachspieler, vor allem natürlich der Meister und an diesem Werk heißt es immer weiter bauen, Neuerungen, Verbesserungen zu suchen, die bestehenden Urteile zu überprüfen, um sie allenfalls umzustoßen. Dann aber geht die Vorbereitung weiter, sie wird spezialisiert auf jeden einzelnen Gegner des bevorstehenden Turniers. Sein Stil wird an Hand von vielen Partien nochmals (er ist ja meist schon bekannt!) geprüft, seine in Wort und Schrift geäußerten Ansichten werden filtriert und etwa zurückbleibende Irrtümer und Fehlurteile wie kostbare Schätze verwahrt. Dann bleibt noch übrig, die Routine aufzufrischen. Es genügt gewöhnlich, einige Partien mit starken Spielern zu wechseln, doch muß sich der Meister wohl hüten, das allenfalls günstige Resultat solcher Partien zu überschätzen. Der objektive Meister wird dann nie danach urteilen, ob sondern wie er gewonnen hat. Und solche Partien sind im großen und ganzen nicht mehr als eine Art geistiger Gelenksübungen. Ist nun die geistige Vorbereitung auf diese Weise abgeschlossen, beginnt der zweite, nicht minder wichtige Teil, nämlich die körperliche Vorbereitung. Allerdings muß gleich im vorhinein betont werden, daß nicht alle Meister in der glücklichen Lage sind, sich eine solche zu leisten, was sich dann gewöhnlich im Kampfe irgendwie bemerkbar macht. Von der körperlichen Turnierverfassung hängt ebensoviel ab, wie von der geistigen. Funktioniert der Organismus nicht tadellos, sind die Nerven nicht genügend gestärkt, um eine Rekordleistung bewältigen zu können, dann wird alles Wissen und Können wertlos. Ein Schnupfen, ein wenig Kopfweh oder Zahnschmerz sind Kleinigkeiten, die im übrigen Leben eine wenig beachtete Rolle spielen. Während eines Turniers können sie jedoch von weittragenden, ja schicksalsschweren Folgen sein. Solche Fälle sind sehr häufig, jedoch wenig bekannt. Man weiß von überraschenden Resultaten, indem Meisterpartien oft durch unbegreifliche Fehler entschieden werden, man erfährt aber selten, wie es dazu kam. Wer weiß es z. B., daß R u b i n s t e i n im Turnier zu Prag 1908 die besten Chancen auf den ersten Preis hatte, aber während seiner Partie mit D u r a s , gegen den er fast immer erfolgreich war, von Zahnschmerzen befallen wurde. Er gab das Spiel in besserer Stellung remis, konnte aber auch in der Folge nicht mehr mit Vollkraft kämpfen und fiel auf den vierten Platz zurück. Und wer weiß es, daß R é t i seinen ersten großen internationalen Erfolg, den ersten Preis von Göteborg 1920 dem Schicksal verdankte, welches ihn gnädiger behandelt hat, als den polnischen
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Großmeister. Wenige Stunden nach der letzten Partie, welche er gegen mich zu spielen hatte und gewann, wurde er von einer mit heftigen Schmerzen verbundenen Beinhautentzündung befallen, die ihn bestimmt zurückgeworfen hätte, wenn sie auch nur einen Tag früher aufgetreten wäre. Und welches Unheil hat erst der Schnupfen angerichtet! Seine teuflischen Triumphe sind gar nicht aufzuzählen. Am ärgsten hat er wohl dem armen T e i c h m a n n mitgespielt, den er fast regelmäßig gerade bei günstigstem Turnierstand befiel. Wie gesagt: im bürgerlichen Leben sind das nichts weiter als kleine Störungen, die nur unter ganz besonderen Umständen an Bedeutung gewinnen können. Im sportlichen Leben aber und speziell in jenen Zweigen, wo es sich um individuelle, nicht um Teamleistungen handelt, ist eben das individuelle Wohlbefinden ausschlaggebend. Ein Fabrikbetrieb wird nicht stille stehen, wenn der Chef ernstlich erkrankt, geschweige denn, wenn er Zahnschmerzen hat. Ein Boxkampf aber . . . Nun gut, wir befinden uns körperlich wohl, sind geistig bis aufs äußerste gewappnet und treten zum Turnier an. Man möchte meinen, daß jetzt alle Vorbereitung ein Ende hat und alle Energie nun dem Kampfe selbst gilt. Aber nein! Jetzt erst beginnt die Vorbereitung nochmals. Tagtäglich müssen ihr mehrere Stunden fieberhafter Anspannung, sollen ihr mehrere Stunden der Ruhe und Erholung gewidmet werden. Nach vollzogener Auslosung weiß jeder Spieler, in welcher Reihenfolge er mit den Gegnern zusammentrifft, weiß, ob er gegen diesen oder jenen An- oder Nachziehender, d. h. Angreifer oder Verteidiger sein wird. Nun beginnt die individuelle Vorbereitung nochmals, die Vorbereitung auf den Angriffspieler so und so, den Verteidiger so und so, den feinen Strategen, den schwachen Taktiker, den optimistischen Draufgänger oder den ängstlichen Zauderer usw. Welche Eröffnung wird er wählen ? Wie wird er gestimmt sein, siegesdurstig oder friedliebend ? Soll ich den Löwen reizen ? Ist es denkbar, daß der Outsider so und so nun in ununterbrochener Reihenfolge auch die siebente Partie verliert ? Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß er endlich morgen etwas leisten wird und ich das Opfer sein werde. Ich könnte ja auf Remis spielen, aber dann haben mich plötzlich alle Konkurrenten überholt! Soll ich eine besondere Variante ausklügeln oder ist es besser, wenn ich mich gründlich ausruhe, ausschlafe ? Es ist furchtbar schwer, das Richtige zu treffen, man muß es mehr erraten, mehr erfühlen als errechnen. Ahnlich verhält es sich mit den abgebrochenen Partien. Gewöhnlich ist in den Turnieren nach vier Stunden Spiel eine Pause vorgesehen. Hier läßt sich die Vorbereitungstaktik der einzelnen Spieler genau erkennen. Die Zeit ist kurz und gestattet wenig Einteilung. Dr. L a s k e r z. B. hat in
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den letzten Turnieren sein Hauptaugenmerk auf die Ruhe gerichtet, der geniale T o r r e war ein leidenschaftlicher Spaziergänger, ähnlich wie C a p a b l a n c a , der ein ausgesprochener Feind des Analysierens ist, während sich G r ü n f e l d gerade vom Analysieren alles Heil verspricht und Dr. A l j e c h i n sowie N i m z o w i t s c h zwischen Analysieren, Essen und Spazierengehen Maß zu halten verstehen usw. Wir sehen — des Vorbereitens ist kein Ende. Tage- und wochenlang heißt es oft für einen Kampf zu rüsten, der maximal 8 bis 10 Stunden dauern kann. In dieser Beziehung ist das Schachspiel ein richtiger Sportzweig. Ein Spieler, dem alle diese Dinge neu sind, der aber den Wunsch nach Höherem in sich trägt, wird es wohl gerne sehen, wenn dieser Schilderung auch einige Ratschläge beigefügt werden. Nun denn — vor allem ist richtige Einteilung nötig. Theoriestudium, Analysieren ist gewiß sehr wertvoll, wird aber •— besonders von schwächeren Spielern — stark überschätzt, während andererseits auch sehr starke Spieler oft in den Fehler verfallen, auf die körperliche Schlagfertigkeit zu wenig Bedacht zu nehmen. Ruhe, viel Bewegung im Freien, geistige Ablenkung sind nach meiner Erfahrung einem schließlichen Erfolg sehr zuträglich. Die Übertreibung des Theoriestudiums führt — namentlich bei Spielern, die nicht groß genug sind, um sich jeweils eigene Urteile bilden zu können — oft zu einem Zustand völliger Ratlosigkeit, erzeugt Nervosität und Ängstlichkeit und führt zu Mißerfolgen. Da ist es schon besser, weniger schachliches Rüstzeug mitzubringen, dafür aber mit unbeschwertem Kopf und frischem Mut ans Werk zu gehen. Wer Begabung hat, der wird vorerst gut auskommen, wenn er in guter körperlicher Verfassung nur das wichtigste der bekannten Eröffnungen, sowie die notwendigsten allgemeinen Regeln kennt. Letzten Endes ist das Vorbereiten freilich eine große Kunst, ebensogroß wie das Spiel selbst. Der größte Künstler der Vorbereitung ist wohl Dr. L a s k e r . Er versteht dieses Metier wie kein anderer. Allerdings muß er alle Kräfte hierfür aufwenden. Seine philosophischen Eigenschaften kommen ihm hierbei sehr zugute. Wieviel Sorgfalt er in dieser Beziehung anwendet, erhellt aus der Bedingung, die er den Turnierveranstaltern zu stellen pflegt: mehrere Monate vor Beginn muß ihm die definitive Einladung zugestellt werden! Als er noch Weltmeister war, forderte er für Wettkämpfe sogar eine mindestens sechsmonatige Frist! Also mehrere Monate braucht dieser größte aller Turnierspieler, um kampfbereit zu sein! Der Strebende merke sich dies und nehme sich's zu Herzen. Er kann daraus zumindest etwas lernen, was als vorbereitender Faktor für Erfolg und Größe von hervorragender Bedeutung ist. Nämlich Erkennen der mensch-
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liehen Unvollkommenheit, Erkennen der Grenzen der eigenen Fähigkeiten, Erkennen, wie unergründlich tief, schön und rätselvoll das Schachspiel ist, oder mit einem Wort — B e s c h e i d e n h e i t !
Die Kontrolluhr, ihre Herren und Sklaven. Die Schachuhr, dieses unscheinbare Ding, besitzt eine ungeheure Macht. Für viele Turnierspieler ist sie ein wahrer Schrecken, ein Tyrann. Sie kommt mir vor wie eine drakonische Disziplinarordnung etwa beim Militär: man ächzt und stöhnt unter ihrer rücksichtslosen Härte, aber sie muß sein; ihre Beseitigung hätte Anarchie zur Folge. Zu M o r p h y s Zeiten gab es noch keine Kontrolluhren. Sie wurden erst etwa in den Jahren 1862 bis 1867 allmählich eingeführt und waren in der ersten Zeit noch sehr unvollkommen. Die Zeitbeschränkung hatte sich nämlich im Laufe der Turnierpraxis als unbedingt notwendig erwiesen. Die schrankenlose Bedenkzeit hatte zu Auswüchsen geführt, welche eine programmäßige Durchführung von Turnieren unmöglich machten. L o u i s P a u l s e n z. B. war zwar ein erster Meister der damaligen Zeit, war aber auch wegen seines langsamen Spiels allgemein gefürchtet. Bekannt ist, daß er in den New Yorker Partien mit M o r p h y (1857) stets etwa drei- bis viermal so viel Bedenkzeit verbrauchte als sein Gegner. So dauerte z. B. eine der Partien, welche nur 34 Züge hatte, insgesamt 11 Stunden. Solche Fälle bereiteten nicht nur den Veranstaltern technische Schwierigkeiten, sondern enthielten auch eine Ungerechtigkeit gegen die Spieler. Wer mehr Zeit übrig hatte, ein Privatier z. B., konnte dies seinen Partner unangenehm fühlen lassen. Und im theoretischen Sinne waren die Schwierigkeiten, welche auf diese Weise entstehen konnten, geradezu unabsehbar. Man entschied sich daher für das Prinzip der Zeitbeschränkung, für das Spiel mit Kontrolluhren. Zunächst versuchte man es mit Sanduhren, ging aber schließlich zu den zur Zeit gebräuchlichen Stoppuhren über. Zwei Wecker sind miteinander verbunden. Sobald der eine im Gang ist, steht der andere automatisch still. Hat ein Spieler seinen Zug ausgeführt, so drückt er auf den Hebel seiner Uhr, wonach die Bedenkzeit des Gegners läuft usw. Diese Uhren haben sich seit dem Londoner Turnier 1883 allgemein eingebürgert. Ursprünglich wurden gewöhnlich 20 Züge pro Stunde verlangt, erst seit dem Turnier von Hastings 1895 ging man ziemlich allgemein zu der noch heute üblichen Bedenkzeit von 30 Zügen pro 2 Stunden über. Seit Einführung der Kontrolluhren wurde nur ein einziges Mal der Versuch gemacht, diese Beschränkung im Turnierspiel aufzuheben. Der Versuch scheiterte vollkommen, es war die Katastrophe von Nürnberg 1906. Dr. T a r r a s c h hatte damals für die Abschaffung
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der Uhr Propaganda gemacht. Er hatte einst ohne Uhr einen Wettkampf gegen W a l b r o d t gespielt, gewann mit 7 : 0 bei einer Remise und schrieb darüber, es wäre dies der einzige Fall gewesen, wo es ihm die Verhältnisse gestatteten, seine volle und wahre Spielstärke zu entfalten. Er hatte schließlich von seinem Standpunkte aus nicht unrecht, denn er hat das Schachspiel immer als Kunst gewertet, im Gegensatz zu vielen anderen, vor allem Dr. L a s k e r , welcher im Schachspiel einen Kampf sieht. In seinem Gefühl als Künstler mußte natürlich Dr. T a r r a s c h ein Gegner der Übertragung sportlicher Momente in das Schachspiel sein und so begann er voll Idealismus seinen Kampf gegen die Uhr. Im Turnier zu Nürnberg 1906 drang Dr. T a r r a s c h mit seinem Vorschlag durch, das Komitee setzte die Zeitbeschränkung ab. Nachdem aber doch gewisse Bedenken aufgestiegen waren und zwar wegen der möglichen Auswüchse — von denen wir vorher sprachen — entschloß man sich, die Spieler unter einen Zwang anderer Art zu stellen. Man wiederholte einen Versuch, der schon im Pariser Turnier von 1867 unternommen wurde, nämlich die Festsetzung von Geldbußen für eine übertriebene Ausnutzung der freien Bedenkzeit. Man nahm einen Zeitverbrauch von einer Stunde für 15 Züge als normal an, ließ eine Überschreitung von etwa fünf Minuten straffrei, von da ab wurde jedoch jede Minute mit einer Mark Strafe belegt. Überdies sollte eine Überschreitung von mehr als einer halben Stunde eine Verwarnung nach sich ziehen und drei Verwarnungen sollten den Ausschluß vom Turnier zur Folge haben. Schön. Das Turnier begann, und gleich nach der ersten Runde wurden mehrere hundert Mark an Strafgeldern fällig. In der nächsten Runde einigten sich die Spieler stillschweigend dahin, Partien, die bereits aufzugeben waren, im Schnelltempo bis zum Matt weiterzuführen, nur um Zeit zurückzugewinnen. Aber es half alles nichts. Der Tag kam, an dem die Turnierleitung programmäßig mehrere Teilnehmer nach vorangegangener dreimaliger Verwarnung mit dem Ausschluß bestrafen sollte. Da dies den völligen Zusammenbruch des Turniers bedeutet hätte, wurden die Strafbestimmungen sistiert. Die Begleichung ihrer '„Schulden", die bereits in die Tausende Mark gingen, wäre ohnedies den meisten Teilnehmern unmöglich gewesen! Infolge der entfesselten Denkfreiheit mußte das Turnier verlängert werden. Ich kann mich erinnern, daß z. B. die Partie zwischen S c h l e c h t e r und M a r s h a l l gegen Schluß des Turniers, ein inhaltsloses Remis von 28 Zügen, volle 8 Stunden in Anspruch nahm! Trotz allem war das Nürnberger Experiment nicht wertlos. Es hat vielmehr den letzten Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Kontrolluhr beseitigt. Auch Dr. T a r r a s c h mußte dies wohl einsehen, denn sein
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Erfolg in diesem Turnier reichte auch nicht annähernd an seine früheren Großtaten heran. Seit diesem mißglückten Putschversuch blieb die Uhr unangefochten. Stolz und unbarmherzig tickt sie dem Spieler zur Seite. Wehe dem, der sich nicht ihr gegenüber richtig verhält! E s ergeht ihm wie dem Dompteur, der rettungslos verloren ist, wenn ihn angesichts der wilden Bestien plötzlich die Energie, die magnetische K r a f t verläßt. Die Uhr hat ihre Herren und Sklaven. Herr wird nur derjenige bleiben, der den Kampf mit Selbstvertrauen und nüchterner Entschlossenheit aufnimmt, der seinen Überzeugungen und Eingebungen ohne Zögern folgt und der es versteht, sich von lähmender Angst frei zu halten. Sklave aber bleibt der Furchtsame, der Unentschlossene. Wer seinen Kenntnissen und Ideen nicht traut, wer fortwährend mit Zittern an die Möglichkeit eines Mißerfolges denkt, der wird von Anfang an zu einer verderblichen Methode gedrängt, nämlich zur ü b e r t r i e b e n e n G e w i s s e n h a f t i g k e i t ! E r wird in jeder Stellung den objektiv besten Zug suchen, aber nur allzubald in einem Chaos von Für und Wider jede Orientierung verlieren. Unersetzliche Zeit wird vergehen und er wird sich schließlich in den meisten Fällen doch zu einem mehr gefühlsmäßig als mathematisch begründeten Schritt entschließen müssen. Dann aber wird sein Gefühl oft schon durch tausenderlei Bedenken vergiftet sein und zu Mißgriffen raten. E s ist nicht leicht, sich der Uhr anzupassen. Der Spieler wird in dieser Beziehung ganz besonders von seinem Charakter beeinflußt. Aber Schulung kann hier sehr viel nützen und ich will deshalb einige Ratschläge folgen lassen. Spiele nie zu rasch! Prüfe jeden Zug, mag er auch noch so selbstverständlich scheinen! Aber träume nicht! Hast du dich nach kurzer Überlegung überzeugt, daß der beabsichtigte Zug nicht schlecht ist, so zieh! Hast du zwischen mehreren scheinbar gleichwertigen Zügen zu wählen, so versuche nicht, langwierige Vergleiche anzustellen. Vergiß nicht, daß es in den meisten Stellungen mehrere gute Wege gibt, du mußt nur einem von ihnen herzhaft folgen, sonst kommst du zu spät! Suche nicht immer den objektiv besten Zug — den gibt es oft gar nicht, er ist in den meisten Fällen Geschmackssache — sondern suche e i n e n guten Zug! Kombiniere nicht zu viel, besonders nicht zu Beginn der Partie, träume nicht vom Gewinn, wenn du als Nachziehender spielst und die Pflicht hast, zunächst auszugleichen. Denn wenn du zu viel anstrebst, wirst du zu wenig erreichen, da du unnütz Zeit verlieren wirst! Trachte besonders in der Eröffnung flott vorwärts zu kommen, damit du später, wenn sich dramatische Spannungen ergeben, ruhig länger überlegen kannst, ohne vor der Kontumazierung zittern zu müssen! Wenn du die Eröffnung zwar
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ideal behandelt, jedoch ein Übermaß an Zeit verbraucht hast, so bist du wie Einer, der sein Frauenideal endlich gefunden, aber unterdessen 80 Jahre alt geworden ist! Vorwärts, vorwärts Don Rodrigo! Nur dadurch wirst du das Unheil der Zeitnot von dir abhalten können. Gewiß, ab und zu kommt fast jeder Spieler in Bedrängnis, selbst bei C a p a b l a n c a , der von allen Meistern den weitaus schnellsten Überblick besitzt, ist dies schon der Fall gewesen. Aber das muß Ausnahme bleiben, nicht Regel werden! Bekannt ist das tragische Los der Meister L e o n h a r d t und S ä m i s c h . Beide besitzen ein sehr feines Verständnis für das Spiel, verstehen es, Partien ganz gediegen anzulegen, kommen aber allzu häufig in die Lage, schließlich eine Serie von Zügen in wenigen Sekunden ausführen zu müssen. Oft sind ihnen auf diese Art die Früchte tadelloser Arbeit entglitten. S c h l e c h t e r , der nie in Zeitnot zu kommen pflegte, hatte das Prinzip, sich für den letzten Zug vor der Kontrolle mindestens 5 Minuten in Reserve zu halten. Ich habe dieses Prinzip übernommen und damit nur gute Erfahrungen gemacht. Es auf die letzte Minute oder gar auf die letzten Sekunden ankommen zu lassen, ist eine jedenfalls sehr gewagte Sache. Es wäre unlogisch, die Uhr wegen der schweren Pflichten, die sie den Spielern auferlegt, zu verdammen. Schach ist Kampf und der Kampf verträgt keine Gefühlsduselei. Dem verträumten Idealisten wird das Mitleid hin und wieder goldene Moralkronen aufsetzen, aber der wirkliche, lebendige, fruchtbringende Sieg wird doch immer wieder dem Tatmenschen, dem Kämpfer zufallen. Im Leben wie im Schach: Heil dem, der nicht zitternd auf die Uhr sehen muß!
Die Falle. Es gibt verschiedene Meister wie z. B. M a r s h a l l , welche in dem Ruf stehen, große Fallensteller zu sein. Aber mit Unrecht. Ich bilde mir ein, sowohl die lebenden als auch die Meister der Vergangenheit genau zu kennen, aber ich wüßtq nicht einen, der besonders als Fallensteller hervorzuheben wäre. Gemeinhin wird nämlich unter dem Wort „Falle" jede hübsche plötzliche Wendung verstanden, jede geschickte Kleinkombination. Der Begriff „Falle" verlangt jedoch eine viel schärfere Fassung. Die Falle ist eine meistens inkorrekte Notkombination. Sie kommt fast nur in bedrängten Stellungen vor, denn in günstiger Lage hat es der Spieler nicht nötig, sich in wagehalsige Unternehmungen einzulassen, er geht lieber geradewegs aufs Ziel. Die
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Falle unterscheidet sich, von einer normalen Kombination vor allem dadurch, daß sie den Gegner n i c h t z w i n g t , sondern nur l o c k t ! Also ist zu jeder Falle eine Verführung nötig! Hat man eine Falle durchschaut, so kann man ihr immer ohne Nachteil ausweichen, eben weil sie nicht d r o h t , sondern nur lockt! Lag zu einem Fehler keine Verführung vor, so kann man nicht von einer Falle sprechen. Richtige Fallen kommen in der Praxis selten vor. Selten ergibt sich eine entsprechende Gelegenheit, noch viel seltener kommt es vor, daß die Falle glückt und veröffentlicht wird. Sie muß natürlich entsprechend raffiniert und versteckt sein. Es gehört dazu nicht nur eine besondere Chance in der Stellung, sondern auch ein entsprechend schlagfertiger Taktiker, der das Glück beim Schöpfe packt. Die meisten Fallen sind viel zu durchsichtig. Natürlich wird ein spitzfindiger, kaltblütiger Spieler doch auf die Dauer mehr solcher Gelegenheiten erspähen als ein Dogmatiker. Aber von einem ausgesprochenen Fallensteller zu reden, wäre doch zu viel behauptet. Man hört häufig von sogenannten „kleinen Fallen". Diese werden von jedem bedeutenderen Spieler oft gebraucht, gehören aber mehr in das Kapitel der indirekten Deckungen. Man wendet sie ohne Rücksicht auf die Stellung an. ,,Wenn du den Bauer b2 schlägst, verlierst du in zwei Zügen die Dame!" Oder: „Wenn du das scheinbare siegreiche Opfer auf g6 bringst, dann gebe ich dir zuerst ein Schach mit der Dame, räume damit dem König das Fluchtfeld d8 und kann dann das Opfer vorteilhaft annehmen!" So oder ähnlich lauten die „kleinen Fallen", die „unechten Fallen", wie ich sie lieber nennen möchte. Sie sind meist nur Paraden feindlicher Drohungen, es fehlt ihnen das Schöpferische, die Lockspeise. Betrachten wir z. B. die folgende Stellung; sie ereignete sich in der Partie S c h l e c h t e r - F o r g a c s , Hamburg 1910.
Kleine Schachbücherei. Nr. 13.
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F o r g a c s (Schwarz) am Zuge spielte Dd8—a5 und drohte durch Sd5—c3: den Bauer a2 zu gewinnen. S c h l e c h t e r zog nun 1. Dc2—d3 und die Folge war: 1 Sd5—c3: 2. b2—c3:, Da5—a2: 3. Lei—h6:!, g7—h6: 4. T d l — a l mit Eroberung der schwarzen Dame. Die Glossatoren hatten übereinstimmend geschrieben, S c h l e c h t e r habe mit Dc2—d3 seinem Gegner eine Falle gestellt. Nach meiner Auffassung handelt es sich aber hier nicht um eine Falle, sondern lediglich um eine indirekte Deckung des bedrohten Bauern a2. Denn nicht Weiß, sondern Schwarz hat zu der Affäre Anlaß gegeben, indem er zuerst aktiv wurde und den Bauer angriff. Lassen wir dieser „unechten" Beispiele von „echten" Fallen folgen. Zunächst ein ganz primitives, das primitivste, welches ich in meinem Leben gesehen habe. Es stammt aus einer Partie, welche zwischen zwei schwachen Spielern im Cafe Central in Wien ausgetragen wurde.
Schwarz am Zuge steht wie leicht ersichtlich ganz elend. Er machte nun den Zug Ta8—b8, den ich absolut nicht verstehen konnte, schon deshalb nicht, weil ich die Spielstärke der Beiden nicht recht kannte. Aber als Weiß nun frohlockend Tal—a7:??? zog und sich mit Dd8—b6f nebst Db6—a7: unter Wehgeschrei eines Turmes berauben ließ, da verstand ich plötzlicn alles. Der Turmzug nach b8 war eine Falle gewesen und zwar eine vom reinsten Wasser. Mit Ta8—b8 hatte Schwarz seinen einfältigen Gegner durch die Lockspeise a7 verführt. Seine Aufgabe bestand nicht darin, eine bestimmte Drohung zu parieren, sondern den Gegner in eine Sackgasse zu locken und dadurch vom Gewinnweg abzubringen. Er mußte etwas besonderes erfinden. Und sein schöpferischer Geist (ich meine das durchaus ernst!) führte ihn auf die Idee Ta8—b8. Alle Merkmale der echten Falle treten scharf hervor.
Ein Rundflug durch die Schachwelt.
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Nun aber einige kompliziertere Fälle. Im internationalen Hauptturnier zu Barmen 1905 ergab sich, zwischen M i d d l e t o n und R u b i n s t e i n (dem späteren Großmeister) folgende Stellung: Schwarz: R u b i n s t e i n .
Weiß: M i d d l e t o n .
Das Spiel stellt für Weiß sehr schlecht, denn der Bauer d6 ist todgeweiht. M i d d l e t o n am Zuge sah dies ein und stellte dem Gegner noch rasch vor Torschluß eine ebenso schlaue wie schöne Falle: 1. T h l — e l ! Scheinbar sieht Weiß die Aussichtslosigkeit der Verteidigung von d6 ein, will bzw. erst dann die Türme verdoppeln, wenn Schwarz dasselbe getan hat. 1 Tf 8—d8 ? Die Lockspeise hat gewirkt! Auf den so selbstverständlich aussehenden Zug hat Weiß nur gelauert. Die richtige siegreiche Fortsetzung bestand in 1 b7—b5, um auf 2. a2—a4 mit Tf8—b8! nebst Tb8—b6 fortzufahren. Der Bauer d6 wäre dann rasch gefallen. 2. Sf4—e6:! Scheinbar schlecht, denn der König wird zum Angriff auf den Bauer d6 getrieben. 2 Kf7—e6: 3. f2—f4ü Die reizende Pointe! Weiß gewinnt nun eine Figur, denn sowohl das Schlagen en passant e4—f3: als auch ein Zug des Se5 würde 4. Le2—c4 =)= zur Folge haben. R u b i n s t e i n schlug auf d6, behielt bei besserer Stellung zwei Bauern gegen einen Springer und es gelang ihm, noch knapp Remis zu erreichen. 2»
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Rudolf Spielmann.
Die nächste Stellung entnehmen wir der Partie Dr. L a s k e r D u r a s aus Petersburg 1909. Weiß hatte im Endspiel einen Bauern gewonnen, aber den richtigen Augenblick zur Klarstellung seines Vorteils verfehlt. Nun ist der Kampf schwer zu gewinnen. L a s k e r , der in allen Sätteln Gerechte, versteht es sehr gut, Positionsspiel mit taktischen Finessen zu verbinden. So auch hier. Schwarz: D u r a s .
Weiß: L a s k e r .
1. Sc3—e4|! Der letzte Zug von Schwarz war Sf6—d5 und damit stellt eigentlich Schwarz eine aparte Falle. Wenn nämlich Weiß 1. Sc3—d5: zieht, um nach e6—d5: mit 2. b2—b3, Tal—a3: 3. b3—c4:, Kc5—b4:? 4. c4—d5: nebst eventuell Tc2—c7 oder d5—d6 ein sehr günstiges Turmendspiel herbeizuführen, so müßte er nach 3 d5—c4:! (statt Kc5—b4:) bald die Waffen strecken, denn die zwei verbundenen Freibauern sind dem Springer weit überlegen. Läßt sich Weiß auf solche Abenteuer nicht ein, sondern tauscht bloß auf d5 (egal mit welchem Springer), so wird der freie Damenbauer enorm stark. Da aber Schwarz außerdem sowohl mit dem Schlagen auf b4 als auch mit Kd4 usw. droht, scheint Weiß nichts Besseres zu haben als den Textzug, der das Eindringen des feindlichen Königs als notwendiges Übel hinnimmt. Doch das s c h e i n t nur so! 1 Kc5—d4? Der weitblickende L a s k e r hatte diese Entwicklung der Dinge sicherlich schon einige Züge vorausgesehen und sich eine sehr schlaue Falle zurechtgelegt; er hätte anderenfalls lieber den Bauer zurückgegeben als den Textzug erlaubt. Schwarz hätte richtig Kc5—b6 ziehen sollen und begründete Aussicht gehabt, das Spiel zu halten.
Ein Rundflug durch die Schachwelt.
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2. Tc2—c4f!! Ein 'höchst fataler Schlag! Schwarz ist auf alle Fälle verloren. 2 Kd4—c4: Sonst geht mit Sb4—c2f sofort der Turm verloren. 3. Se4—d2f Kc4—d4 Kc4—c5 gibt dasselbe. 4. Sd2—b3f Natürlich nicht Sb4—c2f? wegen Kd4—d3 usw. 4 Kd4—e3 5. Sb4—d5f e6 —d5: 6. Sb3—al: und Weiß gewinnt. Äußerst selten glücken in der Praxis die sogenannten Pattfallen. Es muß schon ein besonderer Zufall sein, wenn die Stellung dem schwächeren Teil eine entsprechend versteckte Pattwendung bietet und der Gegner ahnungslos bleibt. Ein Prachtbeispiel dieser Art ereignete sich in der Partie W a l t er Dr. N a g y , Raab 1924. Es ergab sich folgende Stellung:
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Weiß (Walter) hatte zuletzt Dg7—g4 gezogen. Er steht trotz Qualität weniger klar auf Gewinn, denn er hat drei Bauern als Ersatz und überdies starken Angriff, da der feindliche König des Bauernschutzes entraten muß. In dieser trostlosen Lage kommt dem erfinderischen Dr. Nagy ein sehr schöner Rettungsgedanke. Er arbeitet eine prächtige Pattfalle aus und zieht 1 Ke8—f8! Läßt also die weiße Dame auch noch auf den anderen Flügel eindringen, während es weit näher lag, mit Td3—c3 das Einbruchsfeld c8 zu decken.
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Rudolf Spielmann.
2. Dg4—c8f Df7—e8 3. Dc8—a6: ? Es ist verzeihlich, daß Weiß in die Falle geht. Er stand ja so überlegen, daß er die Aufgabe des Bauern a6 als Resignation auffassen mußte. Überdies hatte er wohl gesehen, daß die Drohung De8—d7 mit 4. Lh4—g3 leicht abgewehrt werden kann. Gewinnfortsetzungen standen zahlreich zur Verfügung, etwa 3. Df5 oder 3. Dc5f oder vielleicht am besten 3. Db7. 3 Td3—h3fü Dieses überraschende Vorbereitungsopfer macht die Falle besonders reizvoll. Weiß muß natürlich annehmen, sonst verliert er den Läufer und die Partie. 4. Kh2—h3: De8—e6fü 5. Da6—e6: Schwarz ist Patt. Das nächste Beispiel stammt aus meiner Nachzugspartie gegen R u b i n s t e i n im Berliner Tageblatt-Turnier 1928. R u b i n s t e i n geriet in eine offenbar verlorene Situation. Er machte nun einen Zug, der noch etwas schwächer schien als der gebotene. Nun sah es aus, als könnte ich mit einem Qualitätsopfer sofort gewinnen, und ich wollte tatsächlich schon losschlagen, bereits zuckte die Hand. Glücklicherweise überprüfte ich doch nochmals die Stellung und kam zu dem überraschenden Resultat, daß R u b i n s t e i n s „schwächerer Zug" eine raffinierte Falle enthielt und daß ich mit dem geplanten Qualitätsopfer nicht zu meinen Gunsten, sondern zu meinen Ungunsten entschieden hätte! Ich hielt mich zurück und gewann allmählich auf andere Art. R u b i n s t e i n s Falle verdient es aber, als Musterbeispiel angeführt zu werden. Schwarz: S p i e l m a n n .
Weiß: R u b i n s t e i n .
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Rubinstein spielt nun 1.
Dd2—e2
Obwohl Dd2—g2 objektiv etwas besser Sellien. Ich antwortete 1 Le5! und gewann schließlich.
Die Falle meines Gegners lautete:
1 2. L f l — h 3 : 3. K h l — g l
Th5—h3f? Dh6—h3f Tf8—f5
und es sieht aus, als müßte die Drohung Tg5f sofort entscheiden. Aber es würde gefolgt sein: 4. 5.
Te4—e8f De2—e7f
Kg8—g7 Kg7—h6
Was soll hier dem König noch passieren ? Dieses : 6. 7. 8. 9.
De7—h7^ü Tel—e7| Te8—h8f Th8—h3:
Kh6—h7: Kh7—h6 Kh6—g5
und Weiß gewinnt glatt durch den Mehrbesitz der Qualität. Alles in allem eine neunzügige Teufelei von besonderem Raffinement. Die Bombe D e 7 — p l a t z t erst nach sechs Zügen und wirkt ungemein überraschend. Ich hätte mir keinen großen Vorwurf machen dürfen, wenn ich ins Netz gegangen wäre. Als Letztes nun eine delikate Endspielfalle. Man sollte nicht glauben, welch tückische Kombinationen noch in den einfachsten Stellungen möglich sind! Der Fall ereignete sich in der Partie K o s t i t s c h — R é t i des Götcborger Turniers 1920. R é t i hatte im Verlaufe eines Turmendspiels einen Bauer gewonnen und zwei Verbundene erlangt, dem Gegner gelang es jedoch, eine Remisstellung herbeizuführen. R é t i plagte sich auf alle Arten a b , konnte aber nichts erreichen. Schließlich komponierte er eine gerissene Falle. E r machte anscheinend einen Verlustzug und der optimistische Gegner beeilte sich, nach kurzem Überlegen mit dem „Gewinnzug" zu antworten. Schwupps war die Falle zugeschnappt und R é t i ging als Sieger aus dem Kampf. (Siehe Diagramm S. 24.) Das Spiel ist remis, denn Schwarz am Zuge kann weder mit dem König, noch mit dem f-Bauer auf die dritte Reihe ziehen. Auf 1 Kg4—h3 folgt 2. Tb4—f4:, T d 2 — d l f 3. T f 4 — f i , Tdl —fl f 4. K g l — f l : , Kh3—h2 5. b6—b7, g3—g2f 6. K f l — e 2 und im nächsten Zuge bekommen beide Teile eine Dame. 1 Kg4—f3 wird mit
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Rudolf Spielmann. Schwarz: R é t i .
Weiß: K o s t i t s c h .
Tb4—b.'jf beantwortet und 1 g3—g2? würde sogar wegen b6—b7 zum Verlust führen. R é t i versuchte endlich : Kg4—g5ü 1 Das Zurückweichen des Königs ist frappant und lockt fast unwiderstehlich zu dem folgenden Vorgehen. 2. b6 —b7? Er will gewinnen, sollte aber mit 2. Tb4—b5f am Eemis festhalten. Geht darauf der schwarze König nach g4 oder h4 vor, so folgt wieder 3. Tb5—b4 mit Remis, geht der König weiter zurück und zwar nach f6 oder g6, so kann Tb5—b4 geschehen, denn der Vorstoß f4—f3 würde nun nach Tb4—f4f bzw. Tb4—g4f sofort einen der beiden Bauern kosten. Und weicht schließlich der König von g5 nach h6 zurück, so stellt Tb5—f5 das Remis klar. Der leichtgläubige Textzug hingegen verliert. 2 f4—f3 3. Tb4—bl Soweit hatte Weiß vorausgerechnet. Nun aber folgen bittere Enttäuschungen. Der Gegner hatte besser vorausgesehen. 3 Td2—g2f! 4. K g l — f l Auf 4. K g l — h l gewinnt Tg2—h2| 5. K h l — g l , f3—f2f 6. K g l — f l , Th2—hlf usw. 4 Tg2—h2 Droht sowohl einzügig matt, als auch Turmgewinn, falls der König nach gl oder el zieht. Weiß kann sich nicht retten. 5. Tbl—b5f Kg5—g4 6. K f l — e l
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Auf 6. Tb5—b4f verkriecht sich der schwarze König nach h3 und 6. K f l — g l wird mit f3—f2f Th2—hlf f2—fl D | usw. beantwortet. 6 Th2—e2f! Dies ist viel präziser als f3—f2f bzw. g3—g2, denn auf 7. Kel—dl (oder K e l — f l ) folgt g3—g2 und die neue Dame des Schwarzen tritt mattgebend auf den Plan. K o s t i t s c h resignierte daher. Diese Ausführungen lassen gewiß den Wunsch nach Ratschlägen einerseits zur Erlernung, andererseits zur Verhütung des Fallenstellens offen. Nun — der Pädagoge kann hier im Detail wenig ausrichten. Es hängt von den Fähigkeiten des Einzelnen ab, ob er auch in gefährdeter Lage genügend Ruhe bewahrt, um seine Erfindungsgabe spielen zu lassen, seine Chancen wahrzunehmen. Weit eher ist es aber möglich, prophylaktische Ratschläge zu erteilen. Hereinfälle kommen selten durch ganz besondere Tücke der Falle, sondern meist durch eine augenblickliche Überschätzung der eigenen Stellung und Unterschätzung des Gegners zustande. Wenn du glaubst, dein Gegner habe eben einen Fehler begangen, so prüfe erst recht sorgfältig, bevor du an die Ausnützung schreitest! Sei überhaupt namentlich in guter Stellung auf der Hut, denn du mußt wissen, daß dein Gegner in diesem Falle besonders bestrebt sein wird, dich zu überlisten, dir ein Bein zu stellen! Sei nicht hitzig! Denn die Hitzigkeit ist dein schlechtester Berater!
Tricks. Neben den verschiedenen geistigen und körperlichen Eigenschaften, welche im Schachkampfe von hervorragender Bedeutung sind, gibt es noch ein weiteres Mittel zum Zweck, welches jedoch dem „fair play" mehr oder weniger zuwiderläuft. Es handelt sich um sogenannte Tricks. Sie werden ziemlich häufig gebraucht, wiewohl in den seltensten Fällen zugestanden. Was ist ein Trick ? Ein Trick ist eine Falle. Während aber unter dem Wort Falle gemeinhin nur eine bestimmte Art von Kombinationen zu verstehen ist, Kombinationen, welche sich auf dem Brette abspielen, besteht der Trick in einer p s y c h o l o g i s c h e n Falle. Er ist eine Kombination, die nicht mit Schachzügen, oder speziell auf das Schachspiel bezüglichen menschlichen Schwächen rechnet, etwa: mein Gegner ist furchtsam, also wird sich ein riskanter Angriff lohnen! Nein, der Trick ent-.
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Rudolf Spiclraann.
springt der Verschlagenheit und ist niclxt darauf gemünzt, des Gegners Schwächen auszunützen, sondern seine Ehrlichkeit zu mißbrauchen ! Da zerbricht sich z. B. einer lange den Kopf, wie er gegen seinen morgigen Gegner gewinnen soll, muß sich aber schließlich eingestehen, daß ein Sieg unwahrscheinlich und ein Remis zu erwarten sei. Aber mit Remis ist ihm nicht geholfen, da sein Turnierstand schlecht ist. Nun weiß er aber, daß sein gutplacierter Gegner nur Remis anstrebt. Er versucht also folgenden Trick: Streut Gerüchte aus, daß er jedes Interesse am Turnier verloren habe, daß er zwar versuchen werde, morgen zu remisieren, aber auch einen Verlust ziemlich gleichgültig hinnehmen würde. In Wirklichkeit ist er aber durchglüht von dem Gedanken zu siegen! Sein Gegner, ein ebenso starker Spieler wie biederer, rechtschaffener Mensch, nimmt dies alles für bare Münze und ist froh, daß ihm sein Ziel, das Remis, so leicht gemacht werde. Er läßt sich in Sicherheit wiegen, spielt am nächsten Tag sorgloser als sonst und — verliert. Oder: Einer hat eine schlecht stehende Hängepartie. Er erzählt überall, das Spiel stehe für ihn vollkommen hoffnungslos, er werde vermutlich bei Wiederaufnahme sofort aufgeben. Damit erreicht er, daß sein Gegner es nicht mehr der Mühe wert-hält, die Abbruchstellung nach verborgenen Möglichkeiten zu untersuchen, gleich nach Beginn der zweiten Sitzung irgendeine Finesse übersieht und vielleicht nur remisiert, statt zu gewinnen. Beispiele von dieser Art gibt es sehr viele. Einer stellt dem anderen eine raffinierte Falle und will sich nun den Anschein größter Harmlosigkeit geben. Zu diesem Zwecke ist schon Verschiedenes versucht worden: „Harmloseste Miene"; „aufmerksames, auffälliges Studium des Damenflügels, wenn die Falle auf dem Königsflügel gestellt war oder umgekehrt"; „Störung des Gegners durch Fragen oder andere Belästigungen wie Umstoßen eines Glases Wasser, Gebrauch eines Bleistiftes, der an dem bekannten Ständer (Glassockel mit elastischer, aufrecht stehender Spiralfeder) befestigt ist, eines Galgens, wie das ärgerniserregende Instrument genannt wurde usw."; „sich bestürzt gebärden, über einen scheinbar begangenen Fehler, was zum Beispiel G u n s b e r g in der vierten Partie seines Wettkampfes gegen S t e i n i t z gelungen ist, indem letzterer rasch einen ungedeckten Bauer nahm und prompt eine Figur verlor"u. a. m Einmal kam es vor, daß sich ein Spieler etliche Züge vor Zeitkontrolle eine Falle zurechtgelegt hatte; er dachte etwa beim 26. Zuge angestrengt nach, die Falle selbst tauchte aber erst bei seinem 30. Zuge auf. Die Stellungen waren ausgeglichen und es hatte den Anschein gehabt, als ob das Nachdenken beim 26. Zug erfolglos geblieben wäre. Der
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Fallensteller führte .schließlich die Züge 26—30 sehr rasch aus, gab sich den Anschein, als wäre sein Partieprotokoll nicht ganz in Ordnung und fragte, nachdem der giftgeladene 30. Zug geschehen war, etwas erregt den Gegner, ob denn nun wirklich 30 Züge schon vorüber seien. Die nervöse Frage war zwar etwas befremdlich, da ja der Fragende noch genügend Bedenkzeit zur Verfügung hatte, erreichte aber doch ihren Zweck: der Befragte kam nicht auf die Idee, daß sich sein Gegner in der durch Angst vor Zeitnot hervorgerufenen nervösen Stimmung etwas Besonderes gedacht haben könne, gab Antwort, vollführte rasch seinen Gegenzug und — verlor die Partie. Ein spezielles Kapitel nimmt das Rauchen ein. Viele bedeutende Meister sind Nichtraucher und betrachten es als absichtliche Störung, wenn ihre Gegner rauchen. Andererseits gibt es wieder Raucher, welche sich gerade für die nichtrauchenden Gegner besonders ausrüsten und das Spiel auf eine richtige Ausräucherung anlegen. Hier ist es natürlich sehr schwer zu entscheiden, wo Unabsichtlichkeit und Absicht ihre Grenzen haben. Komisch war aber der folgende Fall zweier Nichtraucher: Sie hatten gegeneinander zu spielen und waren tags vorher beide auf dieselbe Idee verfallen, nämlich ausnahmsweise, dem Gegner „zuliebe", zu rauchen. Kamen beide mit monströsen Zigarren angerückt und räucherten vor allen Dingen sich selbst in Grund und Boden. Schließlich behielt der weniger Gehässige die Oberhand, denn sein Tabak war etwas besser, die dem Gegner zugedachte Pein fiel nicht so schwer auf ihn zurück! Bekannt ist die Feindschaft zwischen J a n o w s k i und M a s o n . Letzterer war mehr als Raucher, nämlich Priemer und überdies ein prinzipieller Gegner von Nüchternheit! Der übernervöse J a n o w s k i geriet in maßlose Wut, wenn sich ihm M a s o n in solchem Zustande gegenübersetzte, und war unfähig zu spielen. Und M a s o n machte sich dies kräftig zunutze: speziell wenn er mit J a n o w s k i spielen sollte, pflegte er mit seinen „Gewohnheiten" nicht zu sparen und gewann immer! Bleiben wir bei J a n o w s k i . Der war wegen seiner Gereiztheit ein dankbares Objekt für Störungen. Er haßte das Remis, verlor oft lieber statt Frieden zu schließen und konnte besonders dann in größte Wut geraten, wenn er überlegen stand und der Gegner so „unverschämt" war, ein Remis anzubieten. Diese Schwäche wurde von einigen seiner Gegner ausgenützt. Durch ein Remisangebot zu „richtiger" Zeit wurde J a n o w s k i tatsächlich einige Male besiegt! Überdies war T s c h i g o r i n ähnlich veranlagt, auch ihm gegenüber war ein zur rechten Zeit gestelltes Remisoffert „chancenreich". Wiederholt sind verschiedene Tricks hinsichtlich der Uhr vorgekommen. Z. B. als einmal ein Spieler in guter Stellung seinen Zug ausführte, aufstand und spazieren ging, aber vergessen hatte,
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seine Uhr zu stoppen. Der Gegner bemerkte dies und dachte absichtlich. so lange nach, bis er auf der Gegenseite Zeitüberschreitung reklamieren konnte! Wie ein Schildbürgerstreich mutet folgender Fall an: In einem Budapester Lokalturnier spielten zwei Rivalen. Der eine war in höchster Zeitnot und stand überdies schlecht. Als eben im Saal Licht aufgedreht wurde, verfiel er auf den Trick, seinem Gegner, der Brillen trug, Platzwechsel anzutragen und zwar mit der Begründung, die Belichtung sei diesseits besser; er selbst habe sehr gute Augen und werde auf dem gegenüberliegenden Platze genügend Licht haben. Der „kurzsichtige" Gegner nahm das ritterliche Angebot an, die Plätze wurden getauscht, der Kavalier sorgte aber dafür, daß die Uhr nicht umgestellt wurde! Wenige Minuten später zeigte die Uhr des nun Gutplacierten Zeitüberschreitung und er wurde kontumaziert. Eine geglückte Spekulation auf Ritterlichkeit ist auch folgender Fall: Ein Spieler geriet gegen seinen Konkurrenten in sehr üble Lage. Da er diesen als sehr ritterlich kannte, begann er sich plötzlich unter anscheinend heftigen Leibschmerzen zu krümmen und offerierte Remis, andeutend, das Spiel stünde ohndies gleich und sei für den anderen höchstens dann gewinnbar, wenn er, der Bedauernswerte, gesundheitlich zusammenbreche. Der Gentleman akzeptierte und errang schließlich den zweiten Preis, während sein bauchgrimmiger Gegner Erster wurde! Ein Fall, in welchem aber die schönsten Leibschmerzen nichts nützten, ist der folgende, bei dem freilich die Rollen anders verteilt erscheinen: D u r a s hatte einmal während des Turniers zu Petersburg (1909) höchst unerwünschte „Karlsbader Erfolge" feiern müssen. Diese traten am ärgsten und häufigsten an einem Tage auf, da er mit einem schwächeren Gegner zu spielen hatte. Dieser wollte die Gelegenheit — wenn der Ausdruck hier erlaubt ist, •— beim Schöpfe packen und den großen Meister hereinlegen. Er befolgte eine grausame Taktik: Immer wenn D u r a s sich gezwungen fühlte aufzustehen und zu verschwinden, machte der Gegner Anstalten zu ziehen, aber nur um wieder gemütlich weiter zu überlegen, wenn D u r a s trippelnd und lippenbeißend den Gang vorläufig unterlassen hatte. Gewiß ein grausames Spiel, welches aber trotzdem nichts nützte. Der unbeschreiblich zähe D u r a s gewann die Partie trotz alledem. Ein junger Spieler, den tausend Ängste plagten, wie er sich morgen als Nachziehender gegen den großen M a r o c z y verhalten soll, verfiel auf folgende List: Er begab sich eine Viertelstunde vor Beginn ans Brett, notierte auf seinem Formular 1. e2—e4 und wartete. Als nach dem Glockenzeichen M a r o c z y kam, zeigte ihm sein Gegner das Formular und bemerkte sorglos lächelnd, Nachdenken sei überflüssig, er habe 1. e2—e4 bereits notiert. Und der Großmeister ließ sich tatsächlich bluffen: Er wählte nicht seinen Lieblingszug 1. e2—e4,
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sondern — justament — 1. d2—d4. Gerade das aber hatte der Gegner angestrebt. Er war gegen 1. d2—d4 sehr wohl gerüstet und fürchtete nur die Eröffnung 1. e2—e4. Erleichtert atmete er auf, die Partie wurde Remis. Mit den letzten Beispielen sind wir immer mehr aus dem Bösartigen ins Humorvolle übergegangen. Nun noch einige Kleinigkeiten, heitere Histörchen, die sich an das Thema anschließen lassen, aber nur indirekt dazugehören. Ein Meister bemerkte einst, daß ein anderer die Gewohnheit habe, sich dann und wann während des Spiels mit Kölnisch-Wasser zu erfrischen. Der Verdacht stieg ihm auf, dies könne ein Irritierungsversuch sein. Als er nun mit dem Betreffenden zu spielen hatte, nahm er sich einen großen Fächer mit und entfachte jedesmal einen Sturm, sobald ihm der Duft des Kölnisch-Wassers in die Nase stieg; es war ergötzlich! Ein anderer Meister glaubte wieder bemerkt zu haben, daß sein Gegner — welche Teufelei! — absichtlich huste. Er beschloß, sich zu wehren und beantwortete jedes Räuspern mit einem wütenden Kontrahusten. Ein Glück, daß es nicht zum Re- und Subkontra kam! Einmal spielte T a r t a k o w e r gegen N i m z o w i t s c h ; letzterer bestellte Tee. Als er den Zucker verrührte und dies nicht vollkommen lautlos tat, schöpfte T a r t a k o w e r den Verdacht, es handle sich um absichtliche Störung. Revanche! Er bestellte keinen Tee, wohl aber eine leere Schale und einen Löffel und begann damit zu musizieren. Die Geschichte löste sich in Lachen und frühzeitigen Remisschluß auf. Mehr und minder berechtigtes Mißtrauen, vor allem aber die allgemeine Nervosität und begreifliche Überreiztheit der Turnierkämpfer spielen hier natürlich mit, untergraben die Objektivität, und oft genug wird einer vollkommen harmlosen Handlung vom Gegner die böse Absicht unterlegt. So z. B. ist mir sogar ein Fall bekannt, wo sich ein berühmter Meister bei der Turnierleitung beschwerte, weil sein Gegner — zu viel Wasser trinke! Im allgemeinen wird es gut sein, nicht mit allzuviel Mißtrauen ans Werk zu gehen. Man soll nicht gegen den Gegner und seine persönlichen Eigenschaften wie Rauchen, Wassertrinken usw., sondern gegen seine Züge kämpfen! Wenn du dir einbildest, der Gegner rauche bloß um dich zu stören, so bist du schon gestört! Kümmere dich nicht um seine Person, laß ihn rauchen, husten, Wassertrinken, Zuckerrühren, laß ihn v o r der Partie sprechen was immer und gib ihm während der Partie keine Antworten. Du wirst dann kaum Gelegenheit finden, dich über Tricks zu beklagen. Nun will ich noch, gleichsam zum Dessert, eine amüsante Steinitzanekdote erzählen. Sie ist zu reizend, um mit den anderen Beispielen und Begebenheiten gemeinsam serviert zu werden.
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S t e i n i t z spielte Vorgabepartien mit einem schwachen Partner; es ging aber um relativ hohen Einsatz. Der Gegner hatte einen Freund bei sich, welcher ein stärkerer Spieler war, sich aber nur als stummer Beobachter gab. S t e i n i t z entging es nicht, daß der Stumme eine unfaire Zeichensprache redete. In kritischen Situationen pflegte er seinem Freund auf den Fuß zu treten und ihn auf diese Weise vor hitzigen Unternehmungen zu warnen oder ihn auf günstige Gelegenheiten aufmerksam zu machen. Da klügelte S t e i n i t z folgende Doppelfalle aus: Er stellte einen Köder hin, gab seinem Gegner ,,eigenfüßig£i den Wink zuzupacken und schon saß der Folgsame im Netz! Diese gelungene Anwendung eines Tricks löst Sympathie und Befriedigung aus. War es doch nur ein Gegentrick, gerechte schlaue Notwehr. Weltmeister S t e i n i t z war eben in allen Gassen ein Verteidigungsgenie ! Bevor ich dieses Kapitel schließe, will ich noch meine verehrten Kollegen in Schutz nehmen. Ein mißtrauischer Leser könnte nämlich auf Grund des Vorstehenden zu der Ansicht gelangen, die Schachmeister seien lauter Betrüger. Das wäre natürlich ebenso ungerecht wie lächerlich. Die meisten der sogenannten Tricks sind nur durch eine allzu mißtrauische Interpretation entstanden. Fast alle Spieler befinden sich während eines Turniers in einem hochgradigen Erregungszustand und sind geneigt, selbst die harmlosesten Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten des Gegners als gewollte Störung aufzufassen. Die angeführten Beispiele von Tricks habe ich alle so gebracht, wie sie der jeweilige Gegner aufgefaßt hatte. Meine persönliche Meinung lautet aber anders. Ich sehe in meinen Nebenmenschen prinzipiell lieber Gutes als Schlechtes und habe damit die besten Erfahrungen gemacht, viel Ärger und Streit ist mir erspart geblieben. Ich bin auch überzeugt, daß manche der vorbeschriebenen Tricks sich erst in der überhitzten Phantasie des Gegners zu solchen geformt haben, daß sie aber objektiv nichts weiter als harmlose Zufälle waren. Immerhin — einigen darunter lag bestimmt Absicht zugrunde. Die Schachspieler sind eben Menschen wie alle anderen. Menschen mit Tugenden, Leidenschaften, mit Vorzügen und Fehlern. Das Gute und Böse macht nirgends Halt.
Vom Zufall. Glück gehabt! — Pech gehabt! — Diese Redensarten kann man im Laufe eines Turniers sehr oft hören. Sind sie nicht widersinnig ? Gibt es denn in diesem mathematischen, diesem ganz auf persönliches Können aufgebauten Spiel so etwas wie Glück und Unglück ?
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Es gibt so etwas. Und zwar vor allem und jedenfalls Glück, während Unglück nur in gewissem Sinne existiert. Häufiger als man glaubt, kommt es im ernsten Kampfe vor, daß ganz große Meister unwahrscheinlich grobe Fehler begehen. Bei kühler Überlegung wird man darin nichts Unverständliches finden. Irren ist menschlich! Darüber kann niemand hinweg. Auch die Größten der Großen müssen Fehler begehen, können nicht dauernd unter Volldampf arbeiten. Und da sie im allgemeinen ungefähr gleich gut gerüstet sind, beruht ihr Kräfteunterschied hauptsächlich in ihrer Disposition zu Irrungen. Der eine geht durchschnittlich in jeder zehnten, der andere schon in jeder fünften Partie fehl usw. Dieses Fehlgehen steht meist in keinem Zusammenhang mit dem Spielverständnis, der Spielauffassung und ereilt auch den genialsten Meister. Es scheint mir daher zu weitgehend, wenn etwa Dr. T a r r a s c h behauptet, Unglück gebe es im Schach überhaupt nicht, dies sei nur eine Umschreibung für schlechtes Spiel. Man muß einen Unterschied machen, ob der Spieler aus Unverständnis gehandelt, oder ob aus irgendeinem Grunde plötzlich sein Denkapparat versagt hat. Da die groben Versehen bei großen Spielern sicherlich nur auf letzteren Umstand zurückzuführen sind, scheint mir die Klassifikation „schlechtes Spiel" viel zu hart. Ich nenne das Unglück, ebenso wie es Unglück ist, wenn etwa ein Spieler nach allen Regeln der Kunst eine scheinbar günstige Stellung herbeiführt, um dann mit Schrecken zu bemerken, daß nun dem Gegner eine vorteilhafte Wendung zu Gebote steht, welche im vorhinein unmöglich zu sehen und zu berechnen war. Siehe das folgende Beispiel: Schwarz: Y a t e s .
Weiß: A l j c e h i n .
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Die Stellung entstammt der Partie Dr. A l j e c h i n — Y a t e s aus dem Turnier in Karlsbad 1923. Dr. A l j e c h i n hatte sie angestrebt, obwohl sie für Weiß recht gefährlich aussieht. Er hatte aber einen Zug in Bereitschaft, der den feindlichen Angriff anscheinend vorteilhaft pariert und zwar: 1. Se3—g4 Nun ist h2 gedeckt, der Le5 und der Bauer e7 angegriffen. Zieht jetzt der Läufer, ohne den Bauern e7 zu decken, so folgt einfach 2. D—e7:. Auf 1 Lf6 folgt 2. d6! und auf 1 Ld6 folgt 2. e5!, alles mit siegreichem Spiel für Weiß. Bleibt also nur die Partiefortsetzung, welche jedoch ebenfalls von A l j e c h i n vorausberechnet wurde. 1 Th4—g4: 2. f3—g4: Tf8—flf 3. Khl—g2 Nun kann die Dame ihren T f l nicht decken. 3 Dh5—h2f 4. Kg2—fl: Soweit hatte A l j e c h i n kombiniert. Nun aber kommt sein Pech: Die Stellung enthält einen studienhaften, etwa 15 zügigen Gewinn für Schwarz und Y a t e s findet ihn. Um alles rechtzeitig zu erkennen, hätte Weiß ursprünglich etwa 20 (!) Züge weit rechnen müssen, das ist viel mehr als — wenigstens derzeit — menschenmöglich. Y a t e s gewann wie folgt: 4 Dh2—hlf 5. Kfl—f2 Le5—d4f 6. Kf2—g3 Dhl—gif 7. Kg3—h3 Nach 7. Tg2, Delf erreicht Schwarz den Gewinn rascher. 7 Dgl—fl| 8. Te2—g2 Dfl—hlf 9. Kh3—g3 Oder 9. Th2, Df3f 10. Kh4, Df4 nebst Lf6f usw., wobei Weiß ebenfalls dem Matt nicht entrinnen kann. 9 Dhl—el| 10. Kg3—h3 g6—gö! Der erste Problemzug! Nur durch den folgenden Turmzug kann Weiß sofortigen Verlust vermeiden. 11. Tg2—c2 Del—flf 12. Kh3—h2
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Andere Züge sind nicht besser. 12 Dfl-glf 13. Kh2—h3 Dgl-hlt 14. Kh3—g3 Dhl—dl!! Der zweite Problemzug! 15. Tc2—c3 Das Einzige! Auf 15. Tg2 oder Th2 gewinnt D e l f usw. 15. Ddl-glt 16. Kg3—h3 Dgl-flf 17. Kh3—g3 Ld4—f2f Lf2-glf 18. Kg3—f3 nebst matt in 2 Zügen nämlich 19. Kg3, Df2f 20. Kh3, Dh2. Und nun sage mal einer, A l j e c h i n habe schlecht gespielt, weil er dies nicht alles voraussah! Das war einfach Pech, scheußliches Pech — außer wir stellen uns auf den rein philosophischen Standpunkt, daß es Glück und Unglück überhaupt nicht gebe. Aber so weit wollen wir nicht gehen. Hat also ein Spieler eine gut, oder gar auf Gewinn stehende Partie durch Pech verloren, so ist sein Gegner, der nun reichlich erntet, ohne gesät zu haben, zweifellos im Glück. Sein Erfolg hat mit schachlichem Können oft wenig zu tun. Sehen wir uns folgendes Beispiel an:
Diese Stellung ergab sich in der letzten Partie des zweiten Weltmeisterschaftskampfes zwischen S t e i n i t z und T s c h i g o r i n (1892). Letzterer führte die weißen Steine und sollte im Mehrbesitz einer Figur leicht gewinnen, wonach das Match beim Stande 9 : 9 unentschieden abgebrochen worden wäre. T s c h i g o r i n beging den kaum begreiflichen Fehler 1. Ld6—b4?? S t e i n i t z setzte mit Te2—h2f nebst Td2—g2 matt, womit für ihn der Wettkampf 10 : 8 gewonnen war. Kleine Schachbücherei. Nr. 13.
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Oder: Schwarz: P i l l s b u r y .
Weiß: S c h l e c h t e r .
Eine Partiestellung aus dem Turnier zu Monte Carlo 1902. P i l l s b u r y hatte Sf5—d6 gezogen und sich vom Tisch entfernt. S c h l e c h t e r besann sich längere Zeit, antwortete schließlich b2—b3??? und ging dann seiner Gewohnheit gemäß ebenfalls spazieren. Als P i l l s b u r y ans Brett kam, traute er seinen Augen nicht. Er zog nicht, sondern blickte den zurückkehrenden S c h l e c h t e r fragend an. Der wurde stutzig, sah aufs Brett und bemerkte erst jetzt, daß er die Dame eingestellt hatte. Natürlich gab er sofort auf. Ein anderes Beispiel: Schwarz: T e i c h m a n n
Weiß: Dura;
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Aus dem Turnier von Karlsbad 1907. Schwarz am Zuge. T e i c h m a n n hatte eine Prachtpartie konzipiert, Weiß steht zum Aufgeben. Der Optimist D u r a s hatte im letzten Zuge T e l — b l gespielt und mit Tb8f noch eine letzte naive Drohung aufgestellt. Schwarz konnte mit g7—g6 parieren und die Partie wäre erledigt gewesen, der Schönheitspreis gesichert. T e i c h m a n n wählte aber den Unglückszug 1 h7—h6 ? ? ? und mußte nach 2. T b l — b 8 f aufgeben, denn auf 2 Kg8—h7 schlägt Weiß schachbietend den Le4 und dann den Td3. Und nochmals echtes Durasglück: Schwarz: D u r a s .
Weiß: S p i e l m a n n ,
Ebenfalls Karlsbad 1907. Die Stellung ist klar Remis. D u r a s hatte mir im letzten Zuge Schach geboten und ich beging den schrecklichen Fehler 1. Ta4—f4Vii, um nach 1 Kg6—g5 aufzugeben, da das Bauernendspiel jetzt, nachdem W e i ß zum Tausch schreiten muß, für meinen Gegner gewonnen ist. Die Serie solcher Beispiele ließe sich noch gewaltig verlängern, ja es lassen sich noch krassere Fälle anführen. Im Turnier zu Kissingen 1928 gab es 12 Teilnehmer, jeder hatte also 11 Partien zu erledigen. B o g o l j u b o w wurde Erster, ein Erfolg, den man ihm wohl zutrauen konnte. Er erzielte ihn jedoch auf eine recht merkwürdige Art: Er gewann gegen M a r s h a l l , nachdem dieser in Remisstellung eine Figur einstellte. Er gewann gegen mich, nachdem ich in besserer Stellung ebenfalls eine Figur einstellte. Und er gewann gegen R é t i , nachdem dieser bereits bei besserer Entwicklung die materielle Überlegenheit von zwei Figuren plus Bauer gegen Turm erlangt hatte, dann aber infolge einer Serie primitivster Fehlzüge in Nachteil geriet. Einen absonderlichen Glücksfall hatte M a r s h a l l im Berliner Tageblatt3*
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Turnier 1928 zu verzeichnen. Sein Gegner R u b i n s t e i n hatte nach feiner, überlegener Spielführung zwei Bauern gewonnen, Vereinfachung erzwungen und die bessere Stellung erlangt. Außerdem hatte R u b i n s t e i n Zeit erspart, so daß er sich für den letzten Zug vor der Kontrolle noch 20 Minuten lang besinnen durfte. Es drohte ihm nichts, er konnte ziehen was immer. R u b i n s t e i n wußte, daß noch ein Zug auszuführen sei, begann jedoch lange nachzudenken und zog auch dann nicht, als er sich durch wiederholtes Befragen der Kontrolluhr davon überzeugt hatte, daß seine Bedenkzeit immer knapper werde. Und richtig überschritt er schließlich die Zeitgrenze, wurde kontumaziert, während M a r s h a l l einen Gutpunkt erhielt. — Genug der grausamen Beispiele! Natürlich interessiert uns die Frage, wie man dem Unfug des Zufalls steuern, bzw. wie man sich Fortuna gefügig machen könnte. Ist denn dieses heißersehnte Glück wirklich so ganz und gar selbständig und unabhängig, ist es wirklich so grausam unberechenbar und launenhaft ? Hat es denn gar kein Gefühl für Gerechtigkeit ? Sollte M a r c o recht haben, der einmal gemeinsam mit A l a p i n in der Spielbank von Monte Carlo zusah, wie Rouge 14 mal hintereinander gewann und daraus den Schluß zog: Ebensogut sei es im Schach durchaus möglich, daß unter vollkommen ebenbürtigen Spielern der eine oder andere (Remisen ungerechnet) 14mal hintereinander gewinnt ! ? Ich glaube, M a r c o hatte recht, diese Möglichkeit besteht, die Praxis hat Beweise geliefert. Dr. T a r t a k o w e r und R é t i , sowie N i m z o w i t s c h und B o g o 1 j u b o w sind gewiß ebenbürtige Meister. Und trotzdem hat Dr. T a r t a k o w e r gegen R é t i und N i m z o w i t s c h gegen B o g o l j u b o w jahrelang fast jede Partie verloren, jedenfalls keine gewonnen! Dennoch glaube ich nicht, daß das Spiel des Zufalls ein absolut willkürliches sei. Meiner Meinung nach ist es zum Teil doch an die Charaktereigenschaften des Menschen gebunden ist und das „corriger la fortune" scheint mir durchaus keine leere Phrase, ebenso wie das Sprichwort vom Glück, das dem Starken hilft. Nur glaube ich, daß sich im Schach dieses „stark" nicht so sehr auf die Spielstärke, wie auf den Charakter bezieht. Der innerlich Starke, der Furchtlose, Entschlossene ist eben in allen Lebenslagen zum Erfolg prädestiniert. Er hält in schlimmster Bedrängnis durch, bleibt aufrecht bis zum letzten Atemzug, während der ängstliche Zauderer innerlich längst resigniert hat und mit geschlossenen Augen untergeht, ohne sich etwa ergebende Rettungsmöglichkeiten zu erfassen. Ein Mann wie D u r a s , dessen Turnierglück geradezu sprichwörtlich geworden ist, war doch nicht grundlos vom Glück begünstigt. Denn er war ein Kämpfer ersten Ranges, kämpfte und hoffte, solange noch ein Fünkchen Leben in seiner Stellung war und hat auf diese Weise tatsächlich manch wertvollen Zähler gerettet.
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T e i c h m a n n dagegen, der zwar ein ganz großer Meister, innerlich aber jedem K a m p f e abhold war, der den bescheidensten Frieden dem schönsten Krieg vorzog, T e i c h m a n n war ein richtiger Pechvogel, ewig verfolgt vom Mißgeschick. Der jetzige Weltmeister Dr. A l j e c h i n ist vom Schlage eines D u r a s , C a p a b l a n c a dagegen hat mehr die Psychologie eines T e i c h m a n n . D a ß bei diesen Spielern Glück eine verhältnismäßig geringe Rolle spielt, ist nur in deren technischer Vollkommenheit begründet. A l j e c h i n liebt den Kampf und ist ungemein zäh und ausdauernd, C a p a b l a n c a ist sensibel und fühlt sich nur so lange wohl, als er seine Gegner unter technischer Überlegenheit halten kann. Würde man beide ihrer technischen Größe berauben, so würde sich A l j e c h i n als ein Glückskind, C a p a b l a n c a als Schlemihl entpuppen. Im Wettkampf zwischen diesen Beiden gab auch dieser psychologische Unterschied den Ausschlag. Die vollendetste Kampfnatur war und ist übrigens Dr. L a s k e r , dessen Name nie fehlen darf, wenn von Schachidealen die Rede ist. Für L a s k e r waren Glück und Unglück immer etwas Selbstverständliches, das ihn nicht aus der Ruhe bringen konnte. Dieser psychologischen Meisterschaft verdankt er viele Erfolge, denn sie verhalf ihm zu einer stets gleichmäßigen Kraftentfaltung. B o g o l j u b o w z. B. besitzt zwar die Eigenschaft, im Unglück auszuharren, dafür aber die Neigung, im Glück übermütig zu werden. Bei mir sind umgekehrte Anlagen vorhanden: ich werde kaum übermütig, verzage aber leicht im Unglück. Nun lieber Leser und Schachfreund! Es wäre töricht von mir, wenn ich dir eine Unzahl von Regeln und Verhaltungsmaßregeln in puncto Zufall vorsetzen wollte, du würdest nur konfus werden. Darum beschränke ich mich auf die wichtigste Forderung, die da lautet: Kämpfe gleichmütig! Juble nicht, wenn du glücklich warst — es geht auf Kosten der so notwendigen Objektivität! Und ärgere dich nicht, verzage nicht im Unglück — es geht auf Kosten der K r a f t ! Der Kummer über einen eingestellten Bauer kann dich leicht im nächsten Spiel die Dame kosten! Achte deinen Gegner, bleib aber ruhig und siegeswillig! Auf diese Weise wird es dir am besten gelingen, dich vom Spiel des Zufalls möglichst weitgehend zu befreien und dein schachliches Können zur Geltung zu bringen.
Morphy. Einst hatte ich in der dänischen Stadt Aalborg eine Simultanvorstellung gegeben. Tags darauf erschien bei mir im Hotel ein Reporter, um mich zu interviewen. Er stellte unter anderem dieselbe Frage, die ich schon so oft gehört hatte, nämlich, ob man in früheren Zeiten genialer gespielt habe als heute, ob M o r p h y oder C a p a b l a n c a das
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größere Sehachgenie sei. Ich antwortete mit einer Gegenfrage: „Wer glauben Sie, war ein größerer Feldherr, Hannibal oder Napoleon ?" Der Reporter lächelte und bedankte sich, er hatte verstanden. Fragen dieser Art werden immer wieder an mich gestellt, ob M o r p h y auch heute noch den Rang eines großen Meisters bekleiden, wie er wohl in den modernen Meisterturnieren abschneiden, ob der Orkan seiner Angriffswucht nicht all die modernen Meister hinwegfegen würde ? Denn diese Meister — man sagte mir's nie ins Gesicht, aber man schrieb es oft — die modernen Meister seien so unter uns gesagt doch recht dekadent! Wie steht es aber mit dem ewigen Feuer M o r p h y s und mit der modernen Asche in Wirklichkeit ? Ich will wieder mit einer kleinen Begebenheit aus meinem Leben beginnen: Einst hatte ich einen Artikel über Angriffsstile zu schreiben und benötigte eine Musterpartie M o r p h y s . Ich nahm also M a r o c z y s Morphybuch zur Hand und begann die Partien der Reihe nach durchzuspielen; eine von den sehr bekannten wollte ich ja nicht verwenden. Und wozu auch? M o r p h y hat doch lauter Glanzpartien gespielt! Ich war überzeugt, Auswahl in Hülle und Fülle zu finden. Wer aber beschreibt mein Erstaunen und meine Enttäuschung, als ich im Buche immer weiter und weiter und schließlich zu Ende kam, ohne eine brauchbare Partie gefunden zu haben! Endlich wählte ich eine aus, welche leidlich entsprach, aber alles andere denn eine ideale Musterpartie war. Um es vorweg zu sagen: M o r p h y trifft an meiner Enttäuschung nicht der leiseste Vorwurf. Er war ein Genie und seine Partien beweisen es. Wenn er trotzdem nach heutigen Begriffen so wenig schöne Partien gespielt hat, so liegt die Ursache ganz auf Seite der Gegner. Die haben damals — ebenfalls nach heutigen Begriffen — herzlich schwach gespielt. Vielfach waren es ja erfolgreiche, anerkannte Meister, waren begabt und verstanden zu kombinieren. Was sie aber nicht verstanden, wovon sie keine Ahnung hatten, das war der gesunde Aufbau, die allgemeine Positionsbehandlung, kurz, die strategischen Grundlagen. Die waren ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Als ich M o r p h y s Partien durchspielte, hatte ich den Eindruck, die gesammelten Simultanpartien irgendeines großen Meisters vor mir zu haben. Seine Gegner hatten fast immer durch e i g e n e S c h u l d schon nach wenigen Zügen ein positioneil verlorenes Spiel, sie hatten sich bereits selbst zugrunde gerichtet, noch bevor M o r p h y auch nur einen Kombinationszug ausgeführt hatte! M o r p h y s p i e l t e n i c h t b e s s e r und n i c h t s c h l e c h t e r a l s irgendein bedeutender Meister unserer Zeit, aber seine G e g n e r s t a n d e n t i e f , t i e f u n t e r dem a l l g e m e i n e n S c h a c h niveau von heute!
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Führende Geister sind im allgemeinen ihrer Zeit voraus. So verhält es sich auch im Schachleben. Die hervorstechenden Talente bilden nur eine dünne Oberschicht über dem Gros der Schachfreunde. Dieses Gros aber hat nur losen, äußerlichen Kontakt mit den Meistern der Gegenwart. Gefühlsmäßig ist es ein halbes Jahrhundert zurück, M o r p h y ist noch immer sein unvergängliches Ideal. Das große Publikum sieht in jeder Kombination und n u r in der Kombination den Talentbeweis. In der Buchweisheit sieht es nur eine armselige Krücke für Talentlose. M o r p h y hat immer kombiniert, glänzend kombiniert, unsere modernen Meister kombinieren selten. Folglich Aber das ist ein Holzweg! Man muß die F ä h i g k e i t und die Mögl i c h k e i t zum Kombinieren unterscheiden. Oft ist der genialste Spieler gezwungen, das ödeste Remis zu schieben, wenn ihm das Spiel des Gegners keine Möglichkeit offen läßt, seine Fähigkeiten zu entfalten. Allerdings hat das Publikum nicht ganz unrecht, wenn es an der (scheinbaren) Verödung des Schachspiels der Buchweisheit die Schuld gibt. Gäbe es keine Bücher, keine Theorie, dann wäre auch heute noch der Boden für einen M o r p h y da, und ich bin überzeugt, daß wir sogar mehrere M o r p h y s hätten. Die meisten Spieler stünden in mittelalterlicher Finsternis und die paar Genies könnten nach Belieben in glänzenden Kombinationen schwelgen. Aber wir leben im 20. Jahrhundert, in einem Zeitalter, das den Absolutismus auf allen Gebieten heftig bekämpft und zurückdrängt. Man lernt und lernt, man übt, stählt und reckt sich empor. Die Erfindung von heute ist das Allgemeingut von morgen. Der im Geiste G u t m a y e r s erzogene Schachfreund wird freilich auch jetzt noch den Kopf schütteln. „ G u t " wird er sagen, „ich gebe zu, daß M o r p h y vor allem deshalb glänzen konnte, weil seine Gegner tief unter ihm standen. Aber ist dies nicht trotzdem ein Armutszeugnis für unsere Zeit ? Warum haben wir keinen modernen M o r p h y , der sich relativ genau so hoch über uns erhebt, wie jener über seine Zeitgenossen?" Und der Nörgler wird mit fluchgestrecktem Zeigefinger auf uns weisen: „Ihr seid eben dekadent!" Gemach, lieber Freund! Ich werde versuchen, auch diesen Einwand zu widerlegen. Mit dem Fortschritt verhält es sich derart, daß die Strecke des Primitiven für jedermann leicht passierbar ist und verschiedene Geschwindigkeiten zuläßt, daß aber die Passierbarkeit der Wege rapid abnimmt, je näher es zum Gipfel der Vollendung geht. Die wachsenden Schwierigkeiten üben eine wachsende nivellierende Wirkung aus. Im Schachspiele sind wir seit M o r p h y s Zeiten ein gewaltiges Stück vorwärts, dem Gipfel näher gekommen, wobei die
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nivellierende Wirkung der Schwierigkeit nicht ausgeblieben ist. Eine so eklatante Überlegenheit, wie sie M o r p h y über seine Zeitgenossen gehabt hat, ist heute nicht mehr möglich, da die Materie schon so weit durchforscht ist, daß sie der Entfaltung subjektiver Fähigkeiten einen viel geringeren Raum übrig läßt als dazumal. Deshalb soll man nicht sagen, daß unsere Zeit arm an Talenten ist. Im Gegenteil: sie ist reicher an Schachspielern und sicherlich auch entsprechend reicher an Talenten. M o r p h y hat eine überaus glückliche Folie. Er war gewiß objektiv ganz groß, er scheint aber noch viel größer, weil seine Umgebung klein war! Wer würde nicht lachen, wenn ich unser Zeitalter verhöhnen wollte, weil es keinen Kolumbus hervorgebracht hat ? Haben wir nicht viele Männer, deren Großtaten der Entdeckung Amerikas sicherlich ebenbürtig sind ? Nein, an Talenten fehlt es uns heute wahrhaftig nicht. Das Buchstudium hat noch keinem Genie geschadet und die Erfahrung hat uns nur gewitzigt, keineswegs stumpf gemacht. Nicht von einem Mangel an überragenden Talenten, sondern eher von einer Uberproduktion kann die Rede sein! Ist's ein Wunder, wenn sich die großen Talente untereinander ziemlich ebenbürtig erweisen und sich eines im Kampfe nur sehr selten jene Blöße gibt, welche es dem anderen ermöglicht, seine Kombinationsfähigkeiten leuchten zu lassen! Unter Blinden ist der Einäugige König; aber unter Falken . . . . ?
Die Meisterei. Es ist das Ziel jedes halbwegs strebsamen Menschen, in seinem Fache zu möglichster Vollkommenheit, zur Meisterschaft zu gelangen. Der Schneiderlehrling träumt von Poiret, der Gesangsschüler von Caruso, der Banklehrling von Pierpont Morgan und der Damenvorgabespieler vom Schachmeister. Aber der Weg vom Anfänger zum Meister ist lang und beschwerlich. Selten sind die Fälle, wo es durch bloße Tüchtigkeit und Beharrlichkeit gelingt, den Traum zu verwirklichen und die Meisterschaft zu erlangen. Meistens ist hierzu noch das Glück erforderlich. Der schönste Carusotraum kann an einem chronischen Schnupfen, die schönste Börsenlaufbahn endgültig an dem bloßen Gerücht scheitern, Grönland habe zu Feuerland die diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Auch im Schachspiel ist neben persönlicher Tüchtigkeit die günstige Gestaltung der allgemeinen Lebensbedingungen von ausschlaggebender Bedeutung. So zum Beispiel wird es ein noch so begabter Spieler kaum sehr hoch bringen, wenn er gezwungen ist, in provinzialer Weltabgeschiedenheit zu leben. Vielleicht begründet er aber gerade dadurch sein Lebensglück, indem
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er das Schachspiel nur als gelegentlichen Zeitvertreib betrachtet und seinem Ehrgeiz lohnendere Ideale verschafft. Er wird ein guter Kaufmann, ein angesehener Rechtsanwalt, vielleicht aber auch nur ein guter Skatspieler. Neben den Leuten, welche es in einem besonderen Fache zu anerkannter Meisterschaft gebracht haben, gibt es auch Meister vom Fach, denen aber das Schicksal die öffentliche Anerkennung versagt hat. Solche Fälle gibt es bei Handwerkern, Künstlern und Gelehrten, nicht aber im Sportleben, nicht im Schachspiel. Der Geschmack ist verschieden und man kann z. B. ohne weiteres sagen, Rubens sei bedeutender als Rembrandt, denn das Streiten ist in diesem Falle sogar sprichwörtlich verboten. Man kommt aber nicht über mathematische Tatsachen hinweg. Wenn Schultze 120, Kohn (obgleich es speziell bei Kohn unwahrscheinlich ist) 121 kg stemmt, so ist eben Kohn der Stärkere und wenn Schultze und Kohn schachspielen und Kohn (diesmal liegt mehr Wahrscheinlichkeit vor) immer gewinnt, so ist er ebenfalls der Stärkere. Man muß ihm die Anerkennung zollen, obwohl er vielleicht sehr unsympathisch, Schultze dagegen ein Prachtmensch ist. Wären die Beiden etwa Schauspieler, ja, dann wäre Kohns Geschick besiegelt und Schultze, der reizende Schultze, bliebe trotz seiner geringeren Fähigkeiten die anerkannte Größe. Wir sehen also, daß die Anerkennung im Schachspiel dem Können automatisch folgen muß, ebenso wie der Straßenautomat den Einwurf eines Groschens mit einem trefflichen Bonbon anerkennt. Mit der Meisterschaft im Schachspiel verhielt es sich einst ebenso und so sollte es auch sein. In der Vorkriegszeit waren Meistertitel und tatsächliche Meisterschaft identisch. Der Titel war äußerst schwer zu erlangen und hatte eine außergewöhnliche Leistung zur Voraussetzung. Er war eine hohe Ehrung, verlieh seinem Träger Glanz und Würde und berechtigte zu einem gewissen Stolz. Das ist nun anders geworden. Der Glanz, die Würde und der gewisse berechtigte Stolz haben viele Spieler verblendet und das Bestreben gezeitigt, den heißersehnten Meistertitel auf Schleichwegen, das heißt, ohne vorhergegangene Meisterleistung zu erlangen. Die Gelegenheit war überaus günstig, denn in dem zerstückelten Europa waren zahlreiche neue Staaten entstanden, die wirtschaftliche Dezentralisierung ging mit der kulturellen JTand in Hand. So entstanden u. a. auch überall neue selbständige Schachverbände und diese glaubten ihre Zwecke nicht besser fördern zu können, als durch größte Freigebigkeit im Verleihen des Meistertitels. Plötzlich schössen diese „Meister" überall wie Pilze aus dem Boden und ich glaube, daß es heute in Europa schon einige Tausend gibt! Wie leicht es heute ist, die „Meisterwürde" zu erlangen, möge folgender Fall illustrieren: Ein Schachverband hatte ein Meister-
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schaftsturnier ausgeschrieben, zu dem sich sieben Spieler meldeten, welche bisher erfolglos an anderen Hauptturnieren teilgenommen hatten. Das Turnier dieser sage und schreibe Sieben wurde abgehalten und es gelangten schließlich zwei Spieler mit je 3 J / 2 Punkten (aus 6 Partien) an erste Stelle. Der betreffende Verband ernannte beide Sieger zu Meistern. Bravo! Ebensogut hätte dieser Verband die beiden „Sieger" zu Weltmeistern und die fünf übrigen Teilnehmer zu Großmeistern ernennen können. Ein anderer Schachverband ging zwar ebenfalls sehr entgegenkommend, aber wenigstens aufrichtiger vor. Er erkannte, daß die Abhaltung von Scheinturnieren überflüssig sei und knüpfte die Verleihung des Meistertitels lediglich an die „Meisterleistung", zugunsten des Verbandes eine Spende von (umgerechnet) fast 20 Mark zu erlegen. Aber nicht genug an dem, der blinde Meisterschaftsdrang hat noch schönere Blüten getrieben. Zu den verschiedenen Reichsverbänden haben sich vielfach Landesverbände, zu diesen wieder Gauverbände und schließlich auch Städteverbände gebildet, und alle diese Verbände veranstalten ununterbrochen sogenannte Meisterschaftsturniere, welche natürlich, da es eine so große Anzahl starker Spieler überhaupt nicht gibt, mitunter kaum die Stärke rechtschaffener Nebenturniere erreichen. Aber unbeschadet dessen erhält jeder Sieger fertig den Meistertitel, kommen zwei oder drei an erste Stelle, so werden eben zwei oder drei neue Meister ernannt. Und damit ihrer ja nicht zu wenige werden, ist es Mode geworden, gleich zwei oder sogar drei derartiger Meisterschaftsturniere parallel zu veranstalten. Vergeblich wird man fragen, was denn diese Meistersingerei für einen Sinn haben, wohin sie führen soll. Wäre es nicht zweckmäßiger, für alle diese Veranstaltungen den Vorkämpfertitel einzuführen, der jedesmal neu verteidigt werden müßte ? Ich habe diese Entwicklung der Dinge schon seinerzeit vorausgesehen, als in der ersten Nachkriegszeit die Selbständigkeitsbewegung der Schachverbände begann. Die Gefahr sah ich von zwei Seiten kommen, und zwar einerseits in dem zu erwartenden Überhandnehmen der Meisterschaftsturniere, andererseits in der resultierenden Meisterinflation mit dementsprechender Entwertung des Meistertitels. In einem Artikel, welchen ich im Jahre 1920 verfaßte und der dann in verschiedenen Blättern erschien, habe ich den — leider erfolglosen — Versuch unternommen, die maßgebenden Kreise zu warnen. Ich schrieb damals u. a.: „Hauptturnier des Deutschen Schachbundes! Welche magische Kraft wohnt diesen Worten inne. Welchem begabten Schachjünger, der in jugendlichem Ungestüm gleich die ganze Welt zum Kampf herausfordern wollte, hat dabei das Herz nicht höher geschlagen ? Auch ich habe diese Sturm- und Drangperiode mitgemacht und mir
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im Hauptturnier zu Koburg 1904 die ersten Sporen verdient. Ja, eine richtige Hochschule für werdende Schachmeister sind die Hauptturniere des Deutschen Schachbundes bis zum Mannheimer Kongreß 1914 gewesen. Eine Hochschule, offen für die begabten und ehrgeizigen Schachspieler a l l e r H e r r e n L ä n d e r . Hier gab es keine Deutschen, Russen oder Amerikaner, sondern nur Spieler erster Klasse. Und welche Größen lernte der wißbegierige Schachadept im täglichen Umgang kennen. Man wurde sozusagen in Meisteratmosphäre großgezogen. Und wie schwer waren die Examina, die man dort zu bestehen hatte. Nur dem Tüchtigsten wurde der Doktorhut, d. h. der Meistertitel verliehen. Und was bedeutete dieser Titel! Nicht weniger, als daß der aus so schwerem Kampfe als Sieger Hervorgegangene nicht nur in Deutschland, nein, in der ganzen Schachwelt als Meister anerkannt wurde. Die Pforten zu allen internationalen Meisterturnieren öffneten sich ihm. Diese alte Burschenherrlichkeit soll nun vorbei sein. Nach einem Beschluß des Deutschen Schachbundes sollen die Kongresse künftighin nur für Deutsche offen sein. Dadurch wird das deutsche Hauptturnier seines Charakters als Hochschule entkleidet. Und je mehr nationale Meister gezüchtet werden, desto mehr verliert der Titel auch im eigenen Lande an Klang. Ich will deshalb hoffen, daß der Beschluß des Deutschen Schachbundes nicht bestehen bleiben wird, auf daß die deutschen Hauptturnierspieler keine geistige Inzucht treiben, sondern im erfolgreichen Wettbewerb mit dem Ausland treten können und deutsche Größen wie Dr. L a s k e r oder Dr. T a r r a s c h aufs neue erstehen. Aus rein schachlichen Gründen sollte an der so bewährten Tradition aus der Vorkriegszeit festgehalten werden." In Friedenszeiten gab es nämlich die Einrichtung des internationalen Hauptturniers fast nur in Deutschland. Hier wurden internationale Hauptturniere periodisch, in anderen Staaten dagegen nur äußerst selten veranstaltet. In Deutschland hielt der Schachbund jedes zweite Jahr seinen Kongreß ab, der regelmäßig mit einem Meisterturnier und mit ein bis zwei internationalen Hauptturnieren verbunden war. Die stärksten Hauptturnierspieler der ganzen Welt trafen hier zusammen. Es gab entweder Runden- oder Gruppenhauptturniere. Zu einem der ersteren Gattung wurden 16—22, zu letzteren aber oft 40—50 Spieler zugelassen. Es galt damals für einen Schachspieler schon als gewisse Ehrung und Anerkennung seiner Stärke, wenn er zu einem solchen Hauptturnier, besonders zum Turnier A, überhaupt angenommen wurde! Nur den Besten stand also die Möglichkeit offen, sich um den Meistertitel zu bewerben, und durchschnittlich ging jährlich in Deutschland nur ein neuer Meister hervor. Der aber war vollwertig!
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Ähnlich gewissenhaft war man bezüglich der Verleihung des Großmeistertitels. Dieser Titel ist in der letzten Vorkriegszeit eingeführt worden. Zu den Turnieren in San Sebastian 1911 und 1912 wurden nur Meister eingeladen, welche in den letzten 10 Jahren mindestens zwei vierte Preise in großen internationalen Meisterturnieren davongetragen hatten. Und man nannte das Turnier ein Großmeisterturnier. Im Turnier von Petersburg 1914 ging das dortige Komitee noch strenger vor: als Großmeister wurde nur derjenige angesehen, der mindestens einmal im Leben in einem großen internationalen Meisterturnier den e r s t e n Preis erstritten hatte. Also das waren früher die Meister und Großmeister im Schachspiel. Heute bedeutet das Wort Schachmeister herzlich wenig. Wenn sich die herrschende Meistermode erhält, dann kommt es vielleicht in absehbarer Zeit so weit, daß schon derjenige als Meister gelten wird, der einen richtigen Rösselsprung ausführen kann. Zur Verteidigung der Meistermode wurde oft eingewendet, daß man eben heute beträchtlich stärker spielt als früher, daß sich das allgemeine Niveau gehoben habe. Das ist ganz richtig. Trostlos unrichtig ist dagegen der Schluß, der daraus gezogen wird. Meister ist ein relativer Begriff. Er drückt nicht aus, wie viel der Betreffende kann, sondern um wie viel er mehr kann als die anderen! Einstens mag derjenige als gebildet betrachtet worden sein, der des Lesens und Schreibens kundig war. Schreibt doch der Minnesänger Hartmann von Aue: „Ein Ritter war wohl so gelehrt, daß er in Büchern unbeschwert las, was darin geschrieben stand " Darf man aber deshalb heute noch einen Menschen als „gelehrt" ansprechen, der gerade nur lesen und schreiben kann ? Leider ist diese unselige Meisterei nicht bloß lächerlich, sondern auch tragisch. Den jungen begabten Spielern werden geradezu mit Gewalt jene Eigenschaften eingeimpft, welche die erbittertsten Feinde des Fortschrittes sind und zwar vor allem die Überheblichkeit, während jene Eigenschaften, welche die Trabanten wahrer Größe sind, völlig verkümmern: Bescheidenheit, Objektivität, Selbstkritik, Fleiß, Idealismus u. a. Wozu sollte der junge Spieler auch solche Eigenschaften benötigen ? Um Meister zu werden gewiß nicht, denn nichts ist leichter als das. Mehr als Meister kann er aber ohnedies nicht werden, es sei denn zufällig Großmeister oder Weltmeister. Wozu also bescheiden, wozu fleißig, wozu ideal sein ? Wozu an die Arbeit gehen, wenn man den Lohn schon in der Tasche hat! Unter solchen Überlegungen muß natürlich das etwa vorhandene ursprüngliche Talent ersticken, muß der Charakter leiden. Zwar ist nicht gesagt, daß jedermann den Verführungen erliegen muß, aber bekanntlich ist unter uns Menschen der Prozentsatz der Standhaften gering.
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Aber nicht genug an dem. Dem Anfänger von gestern und „Meister" von heute muß der plötzliche Triumph zu Kopfe steigen. Mancher begnügt sich nicht nur mit der Würde, sondern will daraus auch materielle Vorteile sehen. Er hat gehört, die großen Meister seien fast durchwegs Professionals. Und so wandern diese jungen Talente ins Kaffeehaus, warten auf „Kunden", um Kleinigkeiten zu verdienen und führen ein Jammerleben. Auf solche Weise hat die Meistermode zwar schon ganze Regimenter von Meistern, ganze Scharen von Hungerleidern, aber herzlich wenige vollwertige Meister hervorgebracht. Es wäre an der Zeit, daß Abhilfe geschaffen wird! Besonnene Elemente in den Schach verbänden sollten sich um die Einführung des Vorkämpfertitels an Stelle des Meistertitels bemühen, sollten trachten, den letzteren wieder zur Würde zu verhelfen, damit diese Würde wieder wie einst nur durch hohes Können, nicht durch Verbandsbeschluß erreichbar werde. Es sollte getrachtet werden, der hoffnungsfrohen Schachjugend den Meistertitel wieder als schönes, hohes Ziel vor Augen zu halten! Ich bin überzeugt, daß die Schachwelt auf diese Weise zwar tausende „Meister" verlieren, aber viele Meister gewinnen würde!
Schach im Olymp. Im Jahre 1925 habe ich in der Wiener Schachzeitung einen Artikel mit dem Titel „Zur Amateurfrage im Schach" veröffentlicht, in welchem ich unter anderem schrieb: „Der Kunst und Wissenschaft, überhaupt den geistigen Betätigungen jedweder Art, sind die Begriffe Amateur und Professional völlig fremd. Man unterscheidet nur zwischen hervorragenden und gewöhnlichen Leistungen, zwischen Künstlern, Gelehrten einerseits und Dilettanten, Liebhabern andererseits. Niemand fragt einen Künstler oder Gelehrten, wovon er lebt, ob er noch einen zweiten Beruf betreibt oder bei der Wahl seiner Eltern vorsichtig gewesen sei. Maßgebend ist nur, was der Betreffende in seinem Fache leistet. Niemand ist so vermessen, nach den inneren Beweggründen zu forschen, außer jener Gräfin im Simplizissimus von anno dazumal, die sich anläßlich einer Gemäldeausstellung zu der Bemerkung verstieg: „Wozu braucht der Mensch auch Kunstmaler zu sein ? Wenn meine Töchter malen, so ist es etwas anderes, die können es sich leisten." Ich verneine also schlankwegs die Amateurfrage im Schach und damit fällt eigentlich auch die Frage der Geldpreise in sich selbst zusammen. Es gibt nur Meister und Dilettanten, oder höflicher ausgedrückt, Meister und Schachfreunde. Zwischen beiden Gruppen steht noch der Hauptturnierspieler (Meisterschaftsanwärter), der beiläufig dem Eleven
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in der Kunst oder dem Kandidaten in der Wissenschaft entspricht. Das Deutsche Hauptturnier in seiner ursprünglichen, noch nicht von Chauvinismus und Amateurismus angekränkelten Form glich einer Kunstakademie oder einer Universität, das Meisterturnier einer Kunstausstellung oder einem wissenschaftlichen Kongreß. Von diesem, dem Wesen des Schachspiels einzig Rechnung tragenden Standpunkt aus, erinnert das Schachturnier der Pariser Olympiade an eine Kunstausstellung, die offiziell nur von Dilettanten beschickt werden durfte." Als ich dies geschrieben hatte, ward der Weltschachbund eben gegründet, das Schach unter die olympischen Spiele aufgenommen und die sogenannte „Amateurfrage" plötzlich in den Vordergrund gerückt. Ich muß bemerken, daß ich schon damals über die Begriffe Amateur und Professional ganz anderer Anschauung war, jedoch zwecks Erleichterung der Diskussion zunächst die landläufige, wenn auch ganz und gar unrichtige Definition übernahm. Nun will ich aber alles Übernommene abstreifen und mich im folgenden ganz und gar auf eigene Füße stellen. Wo sind die schönen Zeiten M o r p h y s und A n d e r s s e n s ! Bei dieser Klage, lieber Leser, wird dir vielleicht ein Stein vom Herzen fallen. Du wirst eifrigst beistimmen und fortfahren: Natürlich, wo, ach wo sind die Zeiten! Damals war das Schach schön und interessant, damals verstanden die Leute noch zu kombinieren Halt, halt! Du mißverstehst mich. Wenn ich M o r p h y s und A n d e r s s e n s Zeiten nachklage, so geschieht es aus einem anderen Grund. Damals war nämlich „der Mann noch was wert", damals hatte die Schachwelt nur Sinn für Kraft und Schönheit. Diese Begriffe haben allmählich ein trauriges Avancement mitgemacht: Einst saßen sie im Herzen, heute sitzen sie im Mund! Zu Zeiten M o r p h y s und A n d e r s s e n s fand man es noch selbstverständlich, den Schachspieler nach seiner Leistung und nur nach seiner Leistung zu beurteilen, und niemandem wäre es eingefallen zu untersuchen, ob der oder jener Amateur oder Professional sei. Man hatte sich damals so wenig darum gekümmert, daß heute nicht mehr feststellbar ist, ob der oder jener Meister der Vergangenheit Amateur oder Professional war. So, nun sind wir beim Thema angelangt. Für einen Amateur wie ich •— und ich bin Schachamateur, also Schachliebhaber, den seine Schachliebhaberei sogar so weit gebracht hat, ihr allein das Leben zu widmen — für einen Amateur wie ich also, ist es geradezu unfaßbar, wie es heute Menschen geben kann, welche sich darüber den Kopf zerbrechen, ob ein Liebhaber durch seine Liebhaberei auch Geld verdienen kann und darf. Wie lächerlich! Als ob die F ä h i g k e i t e n eine Null wären!
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Prinzipiell kann ein Amateur auch Professional und ein Professional auch Amateur sein! Das heißt: Ein wahrer Schachliebhaber, ein Idealist, kann ganz gut mit seiner Kunst Geld verdienen, ohne seinen Charakter zu verlieren und umgekehrt kann ein Mensch, der vom Schachspiel in irgendeiner Form lebt, innerlich auch ein wahrer Schachidealist sein! Der Amateurismus ist eine Angelegenheit des Herzens, der Professionalismus eine solche des Magens. Beide laufen parallel und nicht diametral. Ehrliche Logik vorausgesetzt, gibt es zwischen beiden keinerlei Berührungspunkte. Trotzdem sind die Begriffe Amateur und Professional ziemlich allgemein als Gegensätze anerkannt. Warum ? Weil man sie nicht mit ihrer richtigen, sondern mit einer unterlegten Bedeutung in Umlauf gesetzt hat! Diese unterlegte Bedeutung fand ich noch nirgends definiert, und das ist begreiflich, denn eine Definition müßte sehr blamabel ausfallen, sie würde nichts als eine Heuchelei aufdecken. Man versteht nämlich unter einem Amateur jemand, der sich weigert (wohl gemerkt: weigert!), aus seiner Liebhaberei Kapital zu schlagen, und man versteht unter „Professional" jemand, der sein Metier ohne Liebe zur Sache nur zwecks klingendem Lohn ausübt. Anders könnten ja Amateur und Professional keinen Gegensatz bilden! Aber wo existieren denn im Schach solche Zustände ? Sie existieren nirgends. Glaube mir, lieber Leser, nirgends. Mag sein, daß jemand ohne Liebe zur Sache, nur aus rein materiellen Gründen ein guter Leichtathlet werden kann — ein hervorragender Schachmeister wird er aber auf diese Weise bestimmt nicht. Hier müssen Begabung und Idealismus Hand in Hand gehen, mit bloßem Training ist nichts geleistet. Liebe! Das ist der springende Punkt. Schachliebe muß vorliegen, erst daraus kann sich jenes besondere Können entwickeln, welches die Vorbedingung künstlerischer Erfolge ist. Und künstlerische Erfolge sind wieder die Vorbedingung der materiellen. Vielmehr — sie sollten es sein! Hier liegt der Hund begraben. Die Schachwelt wettert gegen den Professionalismus im schlechten Sinne, wettert also gegen Schachspieler, welche ohne jeden Idealismus und ohne entsprechende Fähigkeiten das Schachspiel zu ihrem Berufe wählen. Aber die Schachwelt denkt nicht an den Widersinn, der darin liegt. Kein noch so großes Genie könnte das Schach berufsmäßig pflegen, wenn sich nicht hierzu die Gelegenheit bieten würde! Wie dann also der Durchschnittsspieler! Wir sehen also, daß niemand anders, als gerade jene Kreise, welche den Professionalismus verwerfen und bekämpfen, daß gerade diese Kreise an dem Umsichgreifen des Professionalismus in seiner üblen Form schuldtragend sind!
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Ich kenne unter meinen Meisterkollegen keinen einzigen, der nicht in seinem Herzen glühende Schachliebe, in seinem Kopfe das entsprechende Verständnis besäße. Keiner von uns hat das Schachspiel nur deshalb erlernt, um damit Geld zu verdienen. Fast alle haben wir materiell viel bessere Zukunftsmöglichkeiten ausgeschlagen. Ich will nur Dr. T a r t a k o w e r und N i m z o w i t s c h erwähnen, welche beide aus begüterten Häusern stammen, beide vielseitig gebildet und intelligent sind. Ersterem winkte als Rechtsanwalt, letzterem als Mathematikprofessor (übrigens ebenso wie mir) ein ziemlich sorgenfreies, gutbürgerliches Dasein. Mußten sie nicht beide ganz große Idealisten sein, wenn sie trotzdem auf unsicherer Basis Schachmeister, n u r Schachmeister wurden. Aber solche ideale Naturen gibt es nur wenige, wie es ja überhaupt nur wenige, wirklich bedeutende Schachmeister gibt. Prozentuell ungleich größer ist die Zahl der Durchschnittsspieler, welche von der Schachwelt zu Professionals gemacht wurden. Die zahllosen Schachredakteure, die Rundfunkleiter usw. sind fast durchwegs „Amateure" dieser Art, viele von ihnen bedienen sogar ganze Serien von Zeitungen. Dr. T a r t a k o w e r und N i m z o w i t s c h hingegen — um nur bei zweien zu bleiben — werden in dieser Hinsicht ignoriert, obwohl sie beide nicht nur als Künstler ihres Faches, sondern auch als erstrangige Schachschriftsteller bekannt sind. Keiner von beiden genießt die hohe Ehre eines Schachredakteurs. Und warum ? Ich kann es mir nicht anders als mit deren Ehrlichkeit erklären. Beide bekennen sich als Berufsspieler und sind deshalb nicht würdig, Geld zu verdienen! Man gönnt dem Durchschnittsspieler jederlei Schacheinnahmen, mißgönnt aber dasselbe den anerkannten Meistern. Es ist sehr erfreulich, daß der Weltschachbund anläßlich seines Kongresses im Haag 1928 die bis dahin eingehaltene Trennung von Amateuren und Professionsspielern fallen ließ. Vielleicht wird dieser Schritt dazu führen, daß die sogenannte Amateurfrage verebbt und die Bezeichnungen Amateur und Professional endlich aus der Schachterminologie endgültig verschwinden. Man könnte ja die Schachspieler viel besser in Dilettanten und Meister einteilen. Allerdings dürfte sich die Anwendung von Bezeichnungen wie Dilettant oder ähnlich nicht als notwendig, vielleicht sogar als überflüssig erweisen, wenn der in seinem Klang sehr heiser gewordene Meistertitel (siehe Kap. „Meisterei") wieder so rein lauten könnte wie einst. Man sollte diesen Titel etwa behandeln wie den des Doktors: Ausnahmslos sollte er bei jeder Gelegenheit dem betreffenden Namen vorangesetzt werden. Dann wäre eine besondere Titulierung der Nichtmeister gegenstandslos. Meine Ansichten könnten leicht mißverstanden werden, deshalb muß ich speziell hervorheben, daß mir j e d e E i f e r s ü c h t e l e i f e r n
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l i e g t . Ich habe nichts gegen den berufsmäßigen Dilettantismus und gönne jedem einzelnen die fettesten Schacheinnahmen. Was ich solchen Leuten aber nicht gönne, ist der blanke Amateurschild, den sie so gerne blinken lassen. Sie, die sich von den anerkannten Meistern durch nichts anderes als geringere Spielstärke auszeichnen, lassen den Schlachtruf ,,Amateurismus" am lautesten ertönen. Dabei leiten sie einträgliche Schachrubriken, machen sich wohlhonoriert im Schachrundfunk breit usw. usw. Viel verzeihlicher war es, wenn vorerst auch der Weltschachbund auf dem sogenannten Amateurstandpunkt hielt, der im Körpersport allgemein anerkannt wird. Ich glaube zwar, daß auch hier ein Unrecht geschieht, will aber als Nichtfachmann diese Frage übergehen. Als nun das Schach im hohen Olymp Eingang fand, war es verständlich, daß die Leitung auch dieses Spiel als reinen Sport behandelte und dem Amateurstandpunkt unterordnete. Aber das Schachspiel auf gleiche Stufe mit dem Körpersport zu stellen, ist denn doch zu weitgehend. Wenn es auch nicht gerade als Kunst oder Wissenschaft bezeichnet werden kann, so hat es doch mit diesen viel mehr Verwandtschaft, als etwa mit Tauziehen oder Boxen. Folglich ist ein anderer Maßstab notwendig und der Weltschachbund hat dies auch bald eingesehen. Schließlich muß noch auf die Schäden hingewiesen werden, welche der Weiterentwicklung des Schachspiels aus einer Trennung in berufsmäßige und nicht berufsmäßige Spieler erwachsen würden. Die großen Meister des Spiels sind und werden fast durchwegs Berufsspieler sein, d . h . , sie werden schwerlich die Möglichkeit haben, neben ihrer Kunst noch irgendeinen bürgerlichen Beruf auszuüben. Folglich würde sich der Kontakt zwischen ihnen und den übrigen Spielern zum Nachteil der letzteren lockern. Es würde bald an hoffnungsvollem Nachwuchs fehlen, denn die jungen Spieler können immer nur im Kampfe mit der alten Garde an Kraft gewinnen. Das Schachspiel würde sich vielleicht immer noch in die Breite, nicht aber in die Höhe entwickeln. Dies würde schließlich nur zu einem Triumph der Mittelmäßigkeit führen. Wir, die wir das Schachspiel lieben, wir Amateure (!) wollen daher unsere Gedanken lieber auf die Schönheit und den Inhaltsreichtum des Schachspiels richten, wollen schöne Leistungen aufrichtig bewundern, statt voll Neid und Mißgunst nach der ach so bescheidenen Brieftasche des Nächsten schielen.
Schachmeister als Privatmenschen. Das Leben ist ein Lotteriespiel! Keine noch so liebende Mutter, kein noch so weitblickender Vater kann mit Sicherheit frühzeitig erkennen, welche besonderen Talente in ihrem Jungen stecken. Und Kleine Schachbücherei. Nr. 13.
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so erziehen sie ihn nach bestem Wissen und Gewissen oft in einer total verkehrten Richtung. Wie viel glänzende Diplomaten mögen auf diese Art durch stille Dorfschullehrer der Weltgeschichte entgangen sein und umgekehrt! Wieviele Meisterboxer sind in dunklen Schneiderwerkstätten bucklig geworden und wieviele Schachmeister hätten besser getan, Kaufmann, Professor, Handwerker oder Rabbiner zu werden und umgekehrt. Wie gesagt: Das Leben ist ein Lotteriespiel! Auf diese Weise kommt es nun, daß man so häufig Menschen antrifft, deren private Eigenschaften in einem merkwürdigen Gegensatz zur endgültig erlangten bürgerlichen Position stehen. Dies trifft auch bei den Schachmcistern zu. Ich könnte ganz gut die Feststellung versuchen, welche von meinen Kollegen berufen und welche auserkoren sind, ziehe es aber vor, Frieden zu wahren und mich, wie es sich gebührt, mit dem Diktat der Parzen abzufinden. Wir haben unter den Großen einige mit ganz spezieller Begabung für den Schachkampf. Ihre entsprechenden Eigenschaften treten auch im Privatleben hervor. Niemals fallen uns an ihnen Wesenszüge auf, die sich nicht mit dem Ideal eines Schachkämpfers vereinigen ließen. Aber das sind nur wenige. Viele andere weichen von dem Ideal eines Schachmeisters weit ab. Sie werden dem Schachjünger, der ihnen zum erstenmal begegnet, eine vielleicht wohltuende Überraschung bereiten. Es sind durchaus nicht lauter Menschen, die Tag und Nacht Schach spielen und nichts als Schach spielen. Es ist eine bunte Handvoll verschiedenartigster Charaktere, Menschen wie überall: starke und schwache, ernste und heitere, kühle und feurige, solche mit abschreckenden Tugenden und solche mit liebenswürdigen Lastern — Menschen wie überall! Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, üben die Schachmeister keinen anderen Beruf aus. Die meisten sind während ihrer Studienjahre zum Schachspiel abgeschwenkt. Eine Einzelerscheinung ist der jugoslavische Großmeister Prof. Dr. V i d m a r . Er hat seine Studien vollendet und ist seinem bürgerlichen Beruf als Hochschulprofessor treu geblieben, trotzdem seine schon in sehr jungen Jahren errungenen Schacherfolge sehr verheißungsvoll waren. Prof. V i d m a r ist eine Kapazität auf dem Gebiete der Elektrotechnik und nebenbei eine im Schachspiel. Dies ist aber ein fast einzig dastehender Fall, denn im allgemeinen erlaubt heute die Rücksicht auf das fortlaufend notwendige Theoriestudium keine Doppelbeschäftigung. Dr. T a r r a s c h zum Beispiel hat zwar in jungen Jahren auch noch seine ärztliche Praxis voll ausgeübt, doch lagen damals die Verhältnisse anders. Im Turnierspiel war die Begabung fast ausschließlich maßgebend, während heute das nackte Wissen eine ungeheuere Rolle spielt.
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Den meisten Matadoren ist also das Schachspiel auch Beruf. Freilich nicht in engerem Sinne. Die wenigsten sind lediglich S p i e l e r , die Mehrzahl sind auch als Schachschriftsteller, Journalisten oder Schachlehrer tätig. Neben ihrem Schachberuf zeigen aber viele Meister auch eine gewisse Schachleidenschaft. Sie spielen Schach, wo immer möglich, können stunden-, tage- und nächtelang bei Schnellpartien sitzen. Ich erinnere mich an die Überfahrt zum Turnier nach New York 1927. Prof. Y i d m a r und N i m z o w i t s c h spielten ununterbrochen und empfanden es als höchst unliebsame Störung, daß sie während der Mahlzeiten pausieren mußten. Namentlich Y i d m a r , der ja in einer kleineren Stadt lebt und selten gute Partner findet, war geradezu von einem schachlichen Wolfshunger befallen, der auch durch das sehr anstrengende, wochenlang dauernde New Yorker Turnier nicht gestillt wurde. Das bekam ich auf der Rückreise zu spüren. Ich fuhr nämlich mit V i d m a r über Paris und wir hatten vereinbart, gemeinsam die Stadt zu besichtigen. V i d m a r schleppte mich aber vor allen Dingen in das dortige Schacheldorado, das Palais Royal, traf Dr. B e r n s t e i n — und ward nicht mehr gesehen! Von dieser Stunde an war ich in Paris allein. Bei V i d m a r ist diese Schachliebhaberei begreiflich. Aber es gibt Meister, welche genug Gelegenheit haben, mit ihresgleichen zu spielen, aber dennoch nie satt werden und es nur aus unersättlicher Liebe betreiben. Einer der leidenschaftlichsten Schachspieler dieser Art ist wohl V i d m a r s Landsmann K o s t i t s c h . Ehrgeiz, Interesse, Siegeswille, Feuereifer sind bei ihm in stets gleicher Hochspannung, mag es sich nun um eine entscheidende Turnierpartie oder um eine völlig belanglose Vorgabepartie handeln. Ganz dem Schachspiel ergeben ist auch unser jetziger Weltmeister Dr. A l j e c h i n . All sein Sinnen und Trachten, sein Tun und Lassen ist von dem Gedanken an Erfolg diktiert. Freilich nimmt hier die Beschäftigung mit dem Schach anderen Charakter an. Es ist ein ewiges Studium, ein ewiges Rüsten, ein ewiges Schärfen der geistigen Waffen, keine Leidenschaft, sondern zielbewußte, wissenschaftliche Tätigkeit, angestachelt durch ewig glühenden Ehrgeiz und überschäumende Kraft. Ganz anders sein Vorgänger C a p a b l a n c a . Der hat im Privatleben nichts an sich, was den Schachmeister erkennen ließe. Seine Lieblingsbeschäftigung ist Politik und Diplomatie. Hierzu hat er reichlich Gelegenheit, da sein Heimatland Cuba, trotz der Angliederung an die Vereinigten Staaten, eine gewisse Selbständigkeit bewahrt hat und aktive Politik in diesen Gegenden eine beliebte Passion ist. Außerdem liebt C a p a b l a n c a den leichten Körpersport, namentlich das Tennisspiel. Im übrigen ist er der moderne elegante Weltmann, allerdings ohne den entsprechenden eleganten Lastern zu huldigen. 4*
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Er raucht nicht, ist Alkoholgegner und lebt auch sonst streng nach bewährten Gesundheitsregeln. Man hat immer den Eindruck, er betreibe das Schachspiel nur leichthin und nebenbei. Wenn er trotzdem so gewaltige Erfolge erringen konnte, so ist dies hauptsächlich auf seine ungeheuer rasche Auffassungsgabe, auf seinen kühl berechnenden Blick und seine Geistesgegenwart zurückzuführen. Infolge dieser Eigenschaften ist er auch ein vorzüglicher Bridgespieler. Sehr stark ist sein Selbstbewußtsein ausgeprägt. Ich entsinne mich einer kleinen Episode: Zum Großmeisterturnier in San Sebastian 1911 wurde auch der damals erst 22jährige eingeladen. Man wußte nicht viel von ihm, bloß, daß er M a r s h a l l im Wettkampf überlegen besiegt hatte. Auf seinen Erfolg im Turnier iechnete man allgemein nicht besonders fest, er selbst hingegen t a t es, obwohl durchaus nicht optimistisch veranlagt. Nun gibt es in San Sebastian ein Spielkasino, in welchem übrigens auch das Turnier abgehalten wurde. Kein Wunder, daß die Meister nicht widerstehen konnten und öfters setzten. C a p a b l a n c a hielt sich jedoch fern. Als ihn einmal der Turnierleiter M i e s e s fragte: „Nun, wollen Sie nicht auch einmal Ihr Glück versuchen V kam die selbstbewußte Antwort: „Das habe ich nicht nötig!" Tatsächlich gewann er im Turnier den ersten Preis. Allerdings glaube ich, daß sich dieses starke Selbstbewußtsein allmählich zu einem verhängnisvollen Fehler entwickelte. Sein Glaube an den Erfolg entsprang zuerst kühler Beurteilung, wurde aber allmählich Selbstverständlichkeit. Das rächte sich. Es löste bei C a p a b l a n c a Enttäuschung und Zorn aus, wenn einmal das „Selbstverständliche" nicht eintraf, und die weitere Folge war ein Nachlassen seiner Urteils- und Spannkraft. In diesem Umstände sehe ich das Rätsel von Buenos Aires, wo C a p a b l a n c a bei sonstiger Ebenbürtigkeit nur an seinen eigenen geheimnisvollen Fehlern zugrunde ging. Maßhalten ist eine große Kunst. Weltmeister C a p a b l a n c a verstand sie in tausend Dingen, nur im Selbstbewußtsein nicht. Einer aber versteht das Maßhalten in tausend und einem Ding! Es ist Dr. L a s k e r . In Berlin besaß er eine Schule für Geistessport und Geistessport jeder Art ist seine Lieblingsbeschäftigung. Es muß nicht Schach sein. Bridge, österr. Tarockspiel, Skat, Go usw. sind ebenso willkommen. Alles beherrscht er, was man unter dem Titel „geistige Kampfspiele" zusammenfaßt. Hier sitzt aber beim Skat nicht ein braver Bürger nach getaner Arbeit, um im Gewinn zu jubeln und im Verlust zu zerspringen. Hier sitzt ein Philosoph. Einer, der den Gesetzen des Kampfes und dem Walten des Zufalls nachspürt und das subjektive Interesse am Fallen der Karten möglichst ausschaltet. Alle Geisteskraft verwendet er darauf, das Gegebene möglichst ökonomisch zu verwalten und zu verwerten. Das verleiht ihm Überlegen-
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heit. Denn die meisten Spieler verschwenden ein gut Teil ihrer Energie mit dem Hoffen auf Glück und lassen dadurch oft günstige Chancen vorüberziehen. Bewundernswert ist L a s k e r s Vielseitigkeit. Uberall kommt ein Zug von echter Größe zum Vorschein. So elastisch, großzügig und mutig wie sein Spiel, sein Kampf, ist auch seine Schreibweise, sein Vortrag, seine liebenswürdige Plauderei, sein Humor. Dabei ist er kein Puritaner, er läßt sich ruhig gehen, denn er weiß sich Halt zu gebieten. Er geht als Schacher und Mensch seine Wege mit wunderbarem Balancegefühl. Wenn es ein großer Vorzug Dr. L a s k e r s ist, im Spiel seine Energie nicht an Glückshoffnungen zu verschwenden, so finden wir bei Dr. T a r t a k o w e r das krasse Gegenteil. Dieser Meister besitzt großartige Fähigkeiten, tiefes Wissen, edelsten Charakter und beispiellose Arbeitskraft. Er ist ein Mensch voll Witz und Geist, eine ausgesprochene Kraftnatur, hat aber merkwürdigerweise an der eigenen Kraft kein Interesse und verschwendet sie voll und ganz für süßes Hoffen, für die Jagd nach dem Glück! T a r t a k o w e r ist bedeutend als Schriftsteller und in Mußestunden ein entzückender Plauderer voll charmantem Sarkasmus. Schade, daß er das Leben etwa in dem Stile behandelt wie seine Partie gegen C a p a b l a n c a im Turnier zu Kissingen 1928: Statt als Nachziehender auf Remis zu spielen (was er wohl unschwer erreicht hätte, denn es war die erste Runde und bekanntlich wird zu Anfang eines Turniers meist vorsichtiger gespielt), setzte er sich's in den Kopf, um jeden Preis zu gewinnen, wählte ein waghalsiges Gambit und — verlor natürlich. Ein Idealist durch und durch ist N i m z o w i t s c h . Er hat große Vorliebe für ernste Kunst, namentlich Musik und Theater. Der lange schwere Kampf, den er um seine Anerkennung durchfechten mußte, hat ihn etwas überreizt und verbittert. Er fühlt sich einsam und von Feinden umgeben und ist daher stets geneigt, auch in ganz harmlosen Dingen einen gewollten Angriff zu sehen. Dies empfindet er z. B. wenn jemand — gewöhnlich ein nichtsahnender Zuschauer — im Turniersaal mit Schlüsseln klimpert. Er ist ein Pessimist, befürchtet immer das Schlimmste und ist ewig besorgt, teils in schachlicher, teils in gesundheitlicher Beziehung. Aus letzterem Grunde ist er auch fanatischer Nichtraucher. So nervös, zerstreut und überreizt er aber im Privatleben scheinen mag, am Brette ist er ruhig und verliert auch in den schwierigsten Situationen nicht den klaren Kopf. Seine Erfindungsgabe treibt dann nur um so raffiniertere Blüten. Er ist extrem, paradoxal, unberechenbar, eine sensible Künstlernatur von ungewöhnlich hoher Intelligenz. Nichts haßt er mehr als den Alltag und das Spießbürgertum, Er besitzt immer den Mut zur
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Wahrheit und Ehrlichkeit und wenn er sich dadurch Feinde macht, so ist er höchstens stolz darauf. Er ist kein Freund der großen Gesellschaft und des lärmenden Lebens. Durchglüht vom Feuer ewiger Ideale ist N i m z o w i t s c h das Urbild eines Ganzgroßen, das Urbild eines Genies! Und wieder ein krasses Gegenteil: B o g o l j u b o w ! Auch ein Genie, aber im Gegensatz zu N i m z o w i t s c h ein Genie der Einfachheit. Grenzenloser Optimismus ist der Grundzug, das Alpha und Omega seines Wesens. In dieser Beziehung ist er ganz wie T s c h i g o r i n beschaffen, der stets überzeugt war, auf Gewinn zu stehen. Fragte man ihn einmal und er gab zur Antwort: „vielleicht nur Remis", so konnte man sicher sein, daß er knapp vor dem Aufgeben stand. Übrigens ist auch der Engländer Y a t e s genau so veranlagt. Der Privatmann B o g o l j u b o w hat außer seinem Optimismus wenig Hervorstechendes. Ein massiger Kraftmensch, der sich über nichts den Kopf zerbricht, heiter und vertrauensvoll dahinlebt und sich höchstens zufällig irgendwie erinnert, daß er auch Sorgen habe. Eine köstlich primitive Natur voll Bärenstärke und himmelblauer Zufriedenheit. Fast alle Schachmeister sind Menschen voll Schärfe, Kraft und energischem Vorwärtsdrang. Da war aber einer, der sich von all den anderen herzerquickend abhob. Ein Mensch voll Sonne und Wärme und wunderbarer Ruhe. Ein ebenso äußerlich wie innerlich schön abgerundeter Mensch mit einer Seele voll Beschaulichkeit, einem Herzen voll Freude und einem Kopf voll lachender Gedanken. Dieser Einzige war unser unvergeßlicher G e o r g M a r c o . M a r c o war überaus gebildet und feinsinnig, ein Mann voll Geist und ein Schachmeister voll Begabung. Wenn sich trotzdem seine Erfolge im Schach und seine materiellen im Leben in verhältnismäßig bescheidenen Grenzen hielten, so ist dies darauf zurückzuführen, daß all seine hervorragenden Eigenschaften völlig übertönt wurden durch seine unbändige Lebensfreude. Und er sparte nicht mit ihr, freiwillig teilte er sie im Uberfluß seiner Umwelt mit. Während der Turniere war es üblich, daß sich die Meister abends in irgendeinem Lokal trafen. M a r c o hatte von einem guten Tropfen besondere Wohlmeinung. Da saßen wir also und M a r c o erzählte, plauderte, philosophierte. Er verstand es entzückend, wurde nie müde. Die einfachsten Dinge trug er mit so viel erbaulicher Bedachtsamkeit, mit so viel geistreicher Würze vor, daß uns dabei ganz hell und leicht um die Herzen wurde. Es wird erzählt, daß er während der Amerikafahrt zum Turnier in Cambridge Springs 1904 auf die geschilderte Art das ganze Schiff in seinen Bann zog. Es füllte einen Abend aus, wenn M a r c o zum Beispiel den Fisch zu bedauern begann, der vor ihm auf dem Teller lag. Wenn er die Größe des Ozeans und die Kleinheit
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des Fangnetzes, die Ewigkeit der Welt und den einen unseligen Augenblick gegenüberstellte, an dem das Schiff mit ausgeworfenem Netz just dort vorbeifuhr, wo der arme Fisch vielleicht sein Mittagsschläfchen, vielleicht sein erstes Stelldichein, vielleicht eine wertvolle Rede hielt und mit Unrecht arretiert wurde. „Du armer Fisch, mußtest du gerade in unser Netz gehen, war dir der Ozean nicht groß genug ?" Aber M a r c o blieb nicht bei dem Schicksal des Fisches. Er kam auf das der Menschen, kam auf verschiedene Begebenheiten, auf Tagesneuigkeiten und Weltwunder zu sprechen und vergaß wohl kaum die Ansicht auszudrücken und zu begründen, daß zu den letzteren ein gutes Glas Wein zähle. Stundenlang konnte er plaudern und tagelang hätte man ihm zuhören mögen. M a r c o ist tot. Aber die viele Freude, die er so gerne gespendet hat, lebt in unseren Herzen weiter und leuchtet seinem Angedenken. Äußerlich sehr verschieden von M a r c o , aber von derselben Seelengüte und Herzensreinheit, von derselben Bescheidenheit und Gemütsruhe war mein schweigsamer Freund S c h l e c h t e r . Dem schlichten, unscheinbaren Menschen war seine Schachgenialität unmöglich anzusehen. Zwar durchaus kein Träumer, kein Idealist, etwa vom Schlage eines N i m z o w i t s c h , war S c h l e c h t e r doch recht weltfremd und verstand es aber schon gar nicht, aus seinem Können Kapital zu schlagen. Turnierspiel und Schriftstellerei waren seine Beschäftigungen. Seine Lebensaufgabe — die er leider nicht zu Ende führen konnte — war ein sorgenfreier Lebensabend für seine Mutter. Ansonsten führte er ein wunschloses Dasein, begnügte sich mit einem Glase Bier und einer Zigarre. Von geschäftlichen Dingen verstand er nichts. Nie bewarb er sich um Vorstellungen, obwohl es ihm, dem großen S c h l e c h t e r , ein Leichtes gewesen wäre, Engagements zu erhalten. Bei dieser Einstellung begann für ihn nach Ausbruch des Weltkrieges natürlich eine sehr schlechte Zeit. Es gab keine internationalen Turniere und S c h l e c h t e r wurde im wahrsten Sinne des Wortes brotlos. Still und traurig trug er sein Schicksal, aber nicht ein Zollbreit gab sein Charakter nach. Manchmal kam S c h l e c h t e r in ein bekanntes Wiener Schachcafe, setzte sich zu irgendeiner Partie und sah ruhig zu. Verzog keine Miene, sprach kein Wort. Oft wurde er natürlich erkannt, oft auch zum Spielen um Einsatz aufgefordert. Aber er lehnte ab, besonders den Einsatz. Einem Fremden, der mit ihm Partien um 10 Kronen spielen wollte, stellte er sich vor und fügte hinzu: „Ich glaube nicht, daß Sie stärker spielen als ich". Seine Rechtschaffenheit erlaubte ihm nicht, eine Wette einzugehen, deren Ausgang natürlich klar war! Seine Freunde, die ihn ja durch Einladungen zum Spiel nur indirekt unterstützen wollten, mußten unverrichteter Dinge zusehen,
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wie der Hunger immer deutlicher S c h l e c h t e r s zarten Körper untergrub. Und als der grausame Krieg schließlich, doch, zu Ende ging, da war es für S c h l e c h t e r schon zu spät. Während einer Simultanvorstellung in Budapest, Ende 1918, verließen ihn die Kräfte, er begann auf allen Brettern Figuren einzustellen, mußte abbrechen, wurde bald danach ins Krankenhaus geschafft und starb. Ein Grippeanfall hatte ihm den letzten Stoß versetzt. Aber er war letzten Endes doch kein Opfer der Grippe, kein Opfer des Krieges, sondern ein Opfer seines kindlich reinen Gemütes! S c h l e c h t e r war alles andere denn eine Kampfnatur. Es kam vor, daß seine Friedfertigkeit von gegnerischer Seite im Turnier ausgenutzt wurde. Wer gegen ihn schlecht stand und es übers Herz brachte, der konnte sich wohl durch ein geschicktes Remisangebot retten. Amüsant gestaltete sich der Wettkampf zwischen S c h l e c h t e r und J a n o w s k i in Karlsbad 1902. J a n o w s k i war wohl ebenfalls ein genialer Meister und stand sogar damals an der Spitze seines Ruhmes, aber er besaß einen zu S c h l e c h t e r ganz entgegengesetzten Charakter. Er war ein Choleriker, ein stets gereizter, aufbrausender und eigensinniger Mensch. Wehe dem, der gegen ihn gewann, er wurde mit einer Flut von Schmähungen überschüttet. Jener Wettkampf zeigte nun eine klare Überlegenheit S c h l e c h t e r s . Der Karlsbader Stadtrat T i e t z , ein berühmter Schachförderer, erzählt nun, wie S c h l e c h t e r jedesmal, wenn er bereits auf Gewinn stand, vor seinem Gegner buchstäblich die Flucht ergriff, so daß J a n o w s k i s Zornausbrüche immer ins Leere gingen. J a n o w s k i s Zorn hatte System. Sein Besieger wurde zunächst „Kaffeehausspieler ärgster Sorte!", „Korkser" bzw. „Dominospieler" genannt. Dann kam die entsprechend saftige Verwunderung an die Reihe, wie es möglich war, einen solchen Pfuscher zum Turnier zuzulassen. Und dann kam sein berühmtes Offert: „Mit Ihnen kann ich überhaupt nur mit Springervorgabe spielen!", ein Offert, das u. a. auch ich im Turnier zu Karlsbad 1907 erhalten habe. Früher pflegte J a n o w s k i nur Bauer- und Zugvorgabe anzubieten. Als es aber während des Wiener Jubiläumsturniers 1898 geschah, daß der phlegmatische Engländer B u r n dieses Angebot akzeptierte, die beiden tatsächlich eine Serie freier Partien zu je einem Gulden Einsatz spielten und J a n o w s k i natürlich alle verlor, da — da kam er zu der Ansicht, daß die Vorgabe von Bauer und Zug eben noch viel zu wenig sei, zu wenig um einen Ausgleich der Kräfte herzustellen und J a n o w s k i s Interesse anzuregen! J a n o w s k i liebte das Hasardieren über alles. Das war aber kein Jagen nach dem Glück, das war Hasardieren als l'art pour l'art! Er
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war ein Gewaltsmensch, freilich nur in geistiger Beziehung. Sein halbes Leben verbrachte er beim Hasardspiel. Dabei war er stets anfangs vom Glück begünstigt. Seine Schachkollegen wußten dies und versuchten auch verschiedene Male daraus Nutzen zu ziehen. Sie sammelten kleine Beträge und übergaben sie J a n o w s k i , um damit im Auftrage zu spielen. Die Gelegenheit ergab sich öfters, denn in den Kasinos von Monte Carlo, Ostende und San Sebastian fanden früher wiederholt Schachturniere statt. Aber bald zeigte sich der Haken. J a n o w s k i gewann wohl, war aber nicht zu bewegen, auszusteigen. Da ihn nicht das Geld, sondern das Spiel an sich reizte, pflegte er prinzipiell so lange zu setzen, bis er alles verloren hatte. So zum Beispiel hatte er im Schachturnier zu Monte Carlo 1901 den ersten Preis von 5000 Franken erkämpft. Er begann Roulette zu spielen und gewann in kurzer Zeit ein Vielfaches dieser Summe. Aber aufzuhören wäre gegen sein Prinzip gewesen. Er spielte so lange, bis er gezwungen war, sich das Geld für die Abreise von einem Schachgönner anweisen zu lassen. Trotz dieser krassen Eigentümlichkeiten, um nicht zu sagen Fehler, war J a n o w s k i im Grunde genommen nicht unsympathisch. Er war ein schöner, stets eleganter Weltmann, der durch seine schneidige Unerschrockenheit faszinierte. Niemals hatte er Freunde oder Mäzene gesucht, behandelte solche sogar äußerst grob, hat ihrer aber doch eine Menge gehabt, sie drängten sich ihm geradezu auf. Eine stolze Herrennatur, ein Genie wie er, durfte sich's leisten, unwirsch zu sein. Ein Grobian ganz anderer Natur war T e i c h m a n n . Ein Gelehrter an Bildung, athletisch gebaut und trotz seiner Einäugigkeit das Schachspiel mit wunderbarem Positionsblick beherrschend, war er von einer beispiellosen, stark an Faulheit grenzenden Behäbigkeit. Denkbar gering war sein Ehrgeiz, denkbar groß dagegen sein Bedürfnis nach friedlichem Behagen. Wenn er grob wurde, geschah es nur, weil er sich irgendwie in seiner Ruhe bedroht fühlte. Wie er trotzdem ein so bedeutender Schachmeister werden konnte, ist fast ein Rätsel. Das Schachspiel interessierte ihn auch gar nicht besonders, ein rechtschaffener Ringkampf, ein gutes Glas Whisky oder die selbstverständliche Virginiazigarre konnten ihm viel mehr Vergnügen bereiten. Seine Turnierpartien hätte er am liebsten schon nach 5 Zügen remis gegeben. Er pflegte auch sehr frühzeitig Friedensschluß anzutragen. Lehnte der Gegner ab, dann trat der Fall ein, wo T e i c h m a n n wütend, empört und grob werden konnte, das gerade Gegenteil von J a n o w s k i , der nie an Remis dachte und den ein Remisangebot ganz außer Rand und Band bringen konnte. War J a n o w s k i ein Kampfhahn, so sollte für T e i c h m a n n der Ausdruck Friedenshahn gestattet
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sein. Wenn nicht Stadtrat T i e t z gewesen wäre, so hätte T e i c h m a n n wohl nie einen ersten Preis errungen. Im großen Turnier zu Karlsbad 1911 nahm sich aber T i e t z vor, den Riesen zur Entfaltung aller schlummernden Kräfte zu zwingen. Unablässig stachelte er ihn an und T e i c h m a n n , der gutmütige Bär, fügte sich brummend, zog an und gewann trotz stärkster Konkurrenz mit großer Überlegenheit den ersten Preis! Mit zunehmendem Alter wurde T e i c h m a n n immer noch behäbiger und beteiligte sich nur höchst ungern an Turnieren. Seine Schachrubrik in einer Schweizer Zeitung kam allwöchentlich nur nach mehrtägigem Anlauf unter Ächzen und Stöhnen zustande. In einer Wettkampfpartie mit Sä m i s c h begab sich folgendes: Etwa 15 Züge waren geschehen. S ä m i s c h glaubte nach allen Regeln moderner Schachkunst eine aussichtsreiche Stellung erlangt zu haben und war eben eifrig dabei, einen geeigneten Schlachtplan auszuhecken. Während er angestrengt nachdenkt, zieht plötzlich T e i c h m a n n die Uhr, steht auf, schiebt die Steine zusammen und bemerkt einfach: „Genug des Stumpfsinns, Remis!" Empfiehlt sich und geht in den Zirkus. Es war höchste Zeit, denn die Ringkämpfe hatten eben begonnen! T e i c h m a n n s psychologisches Gegenteil war T sc h i g o r i n . Dieser prächtige Mann, ein kaukasischer Idealtypus, dieser russische Großfürst des Geistes war auch als Mensch eine erste Größe, ein lebendes Monument für Kraft und Schönheit. Leider war es mir nicht gegönnt, ihn in der Zeit seiner Vollkraft kennenzulernen. In Karlsbad 1907 war er schon ein todkranker Mann und hatte das unendlich schwere Bewußtsein zu tragen, in wenigen Monaten sterben zu müssen. Denn T s c h i g o r i n war über die unerbittliche Hoffnungslosigkeit seines Zustandes wohl unterrichtet. Kein Wunder, daß damals auf diese Weise die Kräfte des S c h a c h m e i s t e r s versagten, wunderbar war es aber, wie unberührt von der Härte des Geschickes der begeisterte S c h a c h f r e u n d T s c h i g o r i n blieb. Mich selbst hat er wiederholt geradezu gezwungen, meine freie Zeit während des Turniers am Schachtisch zu verbringen. Je niedriger das Licht seines Lebens flackerte, desto höher schlug die Flamme seiner Liebe. N i m z o w i t s c h , der in Karlsbad 1907 ebenfalls mitspielte, erzählt noch heute nachfolgende, an sich unscheinbare, aber durch die gegebenen Umstände verklärte Begebenheit: Er erreichte gegen T s c h i g o r i n eine Stellung, die für diesen klar zum Aufgeben war. Eine Fortsetzung des Spiels erschien ganz zwecklos. T s c h i g o r i n aber gab nicht auf, sondern versank in langes, tiefes Nachsinnen. Als er schließlich doch die Waffen streckte, wendete sich N i m -
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z o w i t s c h an ihn: „Erlauben Sie mir eine bescheidene Frage, warum haben Sie so lange nachgedacht, wo doch absolut nichts mehr zu erfinden war?" „Ach, das habe ich natürlich gesehen", meinte T s c h i g o r i n , „aber ich habe nachgedacht, wie sich wohl die Partie gestaltet haben würde, wenn ich vor 10 Zügen anders gespielt hätte." So spricht ein Todkranker! Ist dies nicht ein ergreifender Beweis andächtigster, alles überragender Schachliebe ? Wir haben uns hier mit einer ganzen Reihe bedeutender Schachmeister beschäftigt und haben gesehen, daß nicht alle eine ideale Eignung zu ihrem Beruf besitzen. Es hat aber auch eine Reihe von Meistern gegeben und gibt sie heute noch, welche ihren Rang unter geradezu unmöglichen Voraussetzungen erreicht haben. Es ist nicht nötig, eine ideale Lebensweise zu führen, auch im Schachspiel wird jeder nur nach seinem eigenen Geschmack selig. Die menschlichen Gegensätze der Partner machen den Kampf erst lebendig und inhaltsvoll. Da gibt es unheimliche Alkoholkonsumenten neben Wasserläusen, gibt es fromme Nichtraucher neben unheimlichen Lokomotiven, gibt es Waldläufer und Nachtbummler. Und alle sind sie irgendwie groß, wenn sie vor dem Schachbrett sitzen und ihre Turnierpartie spielen, wenn ein L e o n h a r d t mit übergroßer Gewissenhaftigkeit die Bedenkzeit bis ins äußerste ausnutzt oder ein S a l w e fast ohne Nachdenken einfach Zug auf Zug folgen ließ usw. Wir wollen unsere „Enthüllungen" nicht schließen, ohne den kuriosesten aller Schachmeister C u r t v o n B a r d e l e b e n erwähnt zu haben. Der war vor allen Dingen unbeschreiblicher Pessimist. In jeder Partie war er vom Anfang an überzeugt, auf Verlust zu stehen, obwohl er doch durchaus stark spielte und auch wiederholt erfolgreich war. Sein Pessimismus erstreckte sich nicht nur auf das Schachspiel, sondern bis auf die kleinsten Dinge des Lebens. Oft bekam er Ideen wie die folgende: Es gäbe in ganz Berlin nur ein Lokal, wo wirklich gute Butter zu haben sei. B a r d e l e b e n wohnte damals in einem guten (er wohnte nur in guten!) Berliner Hotel und bekam während des Frühstücks Appetit auf „wirklich gute" Butter. Da ließ er einen Dienstmann kommen, der den Auftrag erhielt, eine Droschke zu nehmen, ins Café Bauer zu fahren und eine Portion Butter zu holen! Man wird verstehen, daß B a r d e l e b e n , der aus einem reichen Hause stammte und überdies ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte, bald mittellos dastand und schließlich in Armut starb, ohne eigentlich ein Genießer gewesen zu sein. Ein ebenso drastisches wie tragisches Beispiel für die Weltfremdheit, welche unter den Schachmeistern in mannigfacher Form häufig zu finden ist.
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Eröffnungslehre für den Hausgebrauch. „Nur die Eröffnung kann ich nicht; im Mittelspiel finde ich mich schon zurecht". Diese Bemerkung habe ich schon oft gehört. Es gibt viele Schachfreunde, auch sehr begabte darunter, denen die fortschreitende Theoretisierung zum Nachteil gereicht. Sie finden nicht die nötige Zeit, auch nicht die Geduld, sich mit dem diesbezüglichen Studium abzugeben. Auch erschrecken sie meist, wenn sie irgendein Lehrbuch der Eröffnungen zur Hand nehmen und plötzlich vor einer undurchdringlichen Variantenwildnis stehen. Verzagt legen sie das Lehrbuch beiseite, nicht ohne den „Büchelspielern" einen Gedanken des Grolls und der Verachtung zu spenden. Und bleiben unbefriedigt. Es gibt viele ganz vortreffliche Lehrbücher, aber sie haben allesamt den Fehler, daß sie zu ausführlich sind. Sie sind entweder für jugendliche Schächer, für lernbegierige Studenten bestimmt, welche über genügend Zeit verfügen, oder für bereits ziemlich fortgeschrittene Spieler, welche den Stoff bereits in groben Zügen kennen und das Lehrbuch zu ihrer Verfeinerung, nur als Nachschlagewerk benutzen. Aber die große Masse der Schachspieler geht leer aus. Die große Masse der Schachspieler besteht nämlich weder aus den Anfängern, noch aus den Vorgeschrittenen, sondern aus den sogenannten Kaffeehausspielern. Leuten, welche seit 10 oder 20 Jahren Schach spielen, in praktischer Hinsicht oft recht gewiegt sind, aber niemals Theorie studiert haben, eben weil niemals das für sie geeignete Lehrbuch geschrieben wurde. Da sind Beamte, Kaufleute, Arzte, Rechtsanwälte, Künstler, Handwerker usw., welche nach beendetem angestrengten Tagewerk in einer Schachpartie geistige Erholung suchen. Sie haben tagsüber tausenderlei Sorgen im Kopf, sind gereifte Männer, haben das Spiel längst erlernt und schaudern bei dem lächerlichen Gedanken, daß sie jetzt nochmals lernen und ihre kostbare Energie vergeuden sollen. Trotzdem möchten sie gerne etwas von der Theorie wissen. Aber die Bücher sind eben gar zu entmutigend für sie. Sie brauchen ja nicht die gesamten Eröffnungen. Wozu ? Sie wollen nur einiges, nur das Allerwichtigste wissen. Diesen Extrakt finden sie aber nirgends. Die Bücher behandeln alles mit größter Wichtigkeit. Dutzende Eröffnungen, hunderte Varianten, tausende Züge — alles mit größter Wichtigkeit! Nun, ich will hier nicht etwa als Heiland der Kaffeehausspieler auftreten. Will nicht versuchen, mit dieser kurzen bescheidenen Abhandlung alle Lehrbücher aus dem Felde zu schlagen. Aber ich will auf die große Lücke, die da klafft, hinweisen und im folgenden versuchen,
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den Weg anzudeuten, auf dem sich Kaffeehausspieler und Theorie treffen könnten. Den meisten Spielern erwachsen die größten Schwierigkeiten aus der Eröffnungsbehandlung im Nachzuge. Deshalb will ich mich zunächst mit der Verteidigung befassen. Weiß kann das Spiel auf verschiedene Art eröffnen. Die gebräuchlichsten und wohl stärksten Züge sind 1. e2—e4, 1. d2—¿4, 1. c2—c4 oder 1. Sgl—f3. Hast du nun einen Gegner, dessen Spielstärke dir bekannt ist, so wirst du auch ungefähr wissen, was du dir in der Verteidigung erlauben darfst. Nimm aber an, dein Gegner sei dir noch unbekannt. Dann wirst du gut tun, in ihm einen starken Spieler zu vermuten. Du wirst dann die Verteidigung so führen müssen, daß du möglichst mit heiler Haut die Eröffnung überstehst. Im Mittelspiel wirst du schon annähernd Bescheid wissen, denn du bist doch erfahren! Von diesem Gesichtspunkte lasse ich mich bei den folgenden Ratschlägen leiten. Man muß dem Gegner bezüglich der Eröffnungs- bzw. Variantenwahl einen möglichst geringen Spielraum lassen! Würde man z. B. den Zug 1. e2—e4 mit e7—e5 beantworten, so hat jetzt Weiß eine reiche Auswahl an Eröffnungen. Man wählt daher besser einen ersten Verteidigungszug, der sofort eine besondere Eröffnung bedingt. Es ist nicht wichtig, die objektiv beste Variante zu spielen, viel wichtiger ist, ob die betreffende Verteidigung leicht zu behandeln ist! Für den Kaffeehausspieler gelten nämlich andere Gesichtspunkte als für das Meisterturnier. Bis zu einem gewissen Grade ist übrigens obige Regel auch unter Meistern anwendbar. Ich will von dem Grundsatz ausgehen, den einmal K m o c h aufgestellt hat: G e g e n j e d e b e l i e b i g e E r ö f f n u n g des W e i ß e n e r l a n g t S c h w a r z d u r c h B e f e s t i g u n g des Z e n t r u m s s t ü t z p u n k t e s d5 a u s r e i c h e n d e V e r t e i d i g u n g s m ö g l i c h k e i t e n (Zentrumsstützpunkt = gut gedeckter Bauer in der Mitte. Bei Weiß e4 oder d4, bei Schwarz e5 oder d5). Am einfachsten spielt Schwarz im ersten oder zweiten Zuge d7—d5. Er soll sich hierbei die Möglichkeit wahren, mit einem Bauer zurückzuschlagen, falls Weiß auf d5 tauscht. Daher ist es nicht gut, den Zug 1. e2—e4 oder 1. c2—c4 sofort mit d7—d5 zu beantworten, richtig ist zunächst ein Vorbereitungszug, nämlich c7—c6 oder e7—e6. Der erstere Zug ist empfehlenswerter, denn es wird sich oft die Möglichkeit ergeben, nach d7—d5 und vor nachfolgendem e7—e6 den Damenläufer nach f5 oder g4 zu entwickeln.
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Gegen den Eröffnungszug 1. e2—e4 führt die eben geschilderte Methode zur sogenannten „ C a r o K a n n - V e r t e i d i g u n g " : 1. e2—e4 c7—c6 2. d2—d4 auf andere Züge kommt Schwarz erst recht zu d7—d5, 2 d7—d5! Zieht nun Weiß 3. e4—e5 so folgt L c 8 — f 5 mit der Absicht, sich etwa wie folgt weiter zu entwickeln: e7—cG, c6—c5, Sb8—d7 (eventuell Sb8—c6), Sg8—e7, Se7—c6, Dd8—b6, Ta8—c8, Lf8—e7. Geboten ist Vorsicht mit der Rochade, diese ist nicht dringend! Geboten ist ferner, den Tausch c5—d4: möglichst lang hinauszuschieben! Weiß wird j a den Punkt d4 mittels c2—c3 decken müssen. Tauscht nun Schwarz frühzeitig auf d4, so gewinnt der feindliche Damenspringer das gute Austrittsfeld c3, während er sich sonst mit d2 oder a3 bescheiden muß. Die Spielweise 3. e4—e5 ist gegen Caro Kann-Verteidigung von fraglichem Wert, Schwarz erlangt leicht ein bequemes Spiel. Hat Schwarz 1. e2—e4 mit e7—e6 beantwortet, so ist die französische Verteidigung entstanden. Diese ist ebenfalls gut und korrekt, bereitet aber dem Nachziehenden nach 2. d2—d4, d7—d5! 3. e4—e5 größere Schwierigkeiten, da der Damenläufer eingesperrt bleibt. Hier ist eine genaue Variantenkenntnis erforderlich. Daher raten wir dem theoretisch unerfahrenen Praktiker zu Caro Kann. Bleiben wir bei dieser Eröffnung. S t a t t 3. e4—e5 spielt Weiß besser 3. Sbl—c3 denn nun h a t Schwarz keinen guten Figurenzug. Auf 3 Sg8—f6 würde 4. e4—e5 mit Tempogewinn folgen, der Springer müßte nach d7, wo er den L c 8 verstellt. Auch 3 Sb8—d7 würde den Damenläufer verstellen und dem Weißen 4. e4—e5 erlauben. Schwarz muß daher zunächst seinen Figuren gesicherte Plätze verschaffen. Das erreicht er mit 3 d5—e4:! Dadurch wird der angriffslustige weiße Königsbauer beseitigt und Schwarz kann sich ruhig weiter entwickeln. 4. Sc3—e4: Lc8—f5 E i n guter Zug ist auch Sg8—f6. Tauscht dann Weiß den Springer, so kann Schwarz nach Belieben zurückschlagen. Sowohl g7—fC: als auch e7—f6: ist ohne Nachteil spielbar. 5. Se4—g3 Lf5—g6 nebst Sb8—d7, e7—e6, Sg8—f6, Lf8—d6, Dd8—c7 und 0 — 0 oder 0 — 0 — 0 mit vollwertigem Spiel. Zu bemerken ist, daß die gelegentliche
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Bedrohung des Lg6 durch h2—h4 nicht mit h7—h5? sondern mit h7—h6! pariert werden soll; auf h5 könnte der Bauer schwach werden. Weiß hat noch eine dritte Möglichkeit, nämlich den Tausch 3. e4—d5: Schwarz hat aber dabei keinerlei Schwierigkeiten, er muß nur trachten, seinen Damenläufer zu entwickeln, bevor er e7—e6 zieht. Die Folge kann sein c6—d5: 3 4. Lfl—d3 Sb8—c6 5. c2—c3 Auf 5. S g l —f3 folgt Lc8—g4. 5 Sg8—f6 Um Lc8—g4 zu spielen. Weiß kann dies nicht wirksam verhindern, denn zieht er 6. h2—h3, KO folgt e7—e5! Ebenso auf 6. D d l — b 3 . Schwarz erlangt völlig befriedigendes Spiel. Durch Befolgung dieser wenigen Ratschläge wird der theoretisch Ungeschulte plötzlich in die Lage versetzt, dem Eröffnungszug 1. e2—e4 wirksam begegnen zu können. E r wird damit natürlich nicht unbesiegbar, aber er überspringt sozusagen viele Eröffnungen und Varianten, um sofort theoretisch gerüstet zu sein. Die Verteidigung gegen e2—e4 wird ihm von nun an geringe Schwierigkeiten bereiten können. Natürlich vorausgesetzt, daß er nicht etwa mit einem stark überlegenen Partner kämpft. Gehen wir zu dem Zug 1. d2—d4 Der wird am besten mit sofortigem d7—d5! 1 beantwortet. Die Vorbereitung mittels 1 c7—c6 ist nicht nötig, da j a Weiß auf d5 nicht tauschen und die feindliche Dame deplacieren kann. Allerdings kann auch 1 c7—c6 nebst d7—d5 ohne Nachteil geschehen. 2. c2—c4 Dieser Zug ist der stärkste. Auf 2. S g l — f 3 , 2. e2—e3 oder 2. L e i —f4 kann Schwarz mit 2 L c 8 — f 5 fortfahren. Sein Ziel ist dann folgender Aufbau: e7—e6 (dieser Zug ist nach erfolgtem L c 8 — f 5 diingend), c7—c6, Sg8—f6, Sb8—d7, Lf8—d6, 0—0, eventuell Sf6—e4 usw. Zu merken ist eine kleine taktische Wendung: nach 2. S g l — f 3 oder 2. e2—e3, L c 8 — f 5 muß der Zug 3. c2—c4 mit e7—e6! beantwortet werden, damit 4. D d l — b 3 mit Sb8—c6! pariert werden kann. Zieht nämlich Weiß jetzt 5. Db3—b7:, so folgt 5 Sc6—b4! 6. S b l — a 3
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und Schwarz kann bereits mit 6 Ta8—b8 7. Db7—a7:, Tb8—a8 8. Da7—b7, Ta8—b8 usw. durch ewigen Damenangriff Remis halten. 2 e7—e6 3. Sbl—c3 Hier kann auch Sgl—f3 geschehen, was meist nur zu einer Zugumstellung führt. Den Zug 3. e2—e3 beantwortet Schwarz mit c7—c5 und steht ausgeglichen. 3 Sg8—f6 4. Lei—g5 Lf8—e7 5. e2—e3 0—0 Auch Sgl—f3 kann geschehen. 6. Sgl—f3 Sf6—e4 Mit diesem Springerausfall werden zahllose Varianten des an sich sehr schwierigen Damengambits vermieden. Schwarz erlangt eine befriedigende Stellung. Das Spiel hat Neigung, sich lebhaft zu gestalten, ein Umstand, den der Praktiker begrüßen wird. 7. Lg5—e7: Dd8—e7: Für Schwarz sind folgende Verhaltungsmaßregeln zu beachten: I. Nach 8. Sc3—e4:, d5—e4: ist das Spiel mit f7—f5 nebst Sb8—d7 und womöglich e6—e5! fortzusetzen. II. Auf 8. c4—d5: folgt Se4—c3: 9. b2—c3:, e6—d5: 10. Ddl—b3, Tf8—d8! 11. c3—c4, Sb8—c6! 12. c4—d5:, De7—b4f 13. Db3—b4:, Sc6—b4: mit Rückgewinn des Bauern und ausgeglichenem Spiel. III. Auf 8. Ddl—c2 folgt c7—c6! Denn wenn Weiß zweimal auf e4 nimmt, so gewinnt De7-—b4f den Bauer auf b2 zurück. Setzt aber Weiß mit 9. Ld3 fort, so geschieht f7—f5. IV. Setzt Weiß ruhig fort, so entwickelt sich Schwarz entweder mit Se4—c3: nebst c7—c5 oder mit c7—c6, f7—f5, Sb8—d7 usw. Der Damenläufer wird dann später über d7 und e8 ins Spiel gebracht. Damit haben wir vom Damengambit und Damenbauerspiel genügend gelernt, um getrost in den Kampf ziehen zu können. Wir wollen nun noch kurz andere Eröffnungszüge streifen. Auf 1. Sgl—f3 mit nachfolgender Flankierung des Königsläufers kann sich Schwarz wie folgt aufbauen: d7—d5 nebst e7—e6, Sg8—f6, Lf8—e7, 0—0, c7—c5, Sb8—c6, b7—b6, Lc8—b7, Ta8—c8, Dd8—c7, Tf8—d8 usw. Natürlich wird es praktisch schwer möglich sein, alle in den angeführten Beispielen empfohlenen Züge, noch dazu in der beschriebenen Reihenfolge auszuführen. Ich gebe sie nur als Wegweiser an. Auf 1. c2—c4 kann nicht sofort d7—d5 geschehen, denn Weiß würde vorteilhaft tauschen und die schwarze Dame deplacieren. Der Zug d7—d5 muß daher erst vorbereitet werden und empfiehlt sich 1 e7—e6 nebst d7—d5. Das Spiel wird sich nun entweder so
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gestalten, wie nach 1. Sgl-—f3 angedeutet, oder — falls Weiß d2—d4 zieht — zu einem Damengambit werden. Auf alle anderen Anfangszüge antwortet Schwarz einfach d7—d5, entwickelt womöglich den Damenläufer nach f5 oder «4 und setzt dann fort mit e7—e6, Sg8—f6, Lf8—e7 (in zweifelhaften Fällen wird es immer besser sein, diesen Läufer nicht nach d6, sondern nach e7 zu stellen, wo er viel besser verteidigt!) nebst c7—c6 und Sb8—d7 bzw. c7—c5 nebst Sb8—c6, dann 0—0 usw. Damit sind die Richtlinien für die Verteidigung gegeben und wir wollen noch einiges betreffend die Angriffsführung (d. h. die Eröffnungsbehandlung von seiten des Anziehenden) hinzufügen. Dem Praktiker bereitet die Führung der weißen Steine im allgemeinen weit weniger Schwierigkeiten. Er ist meist auf gewisse Eröffnungen eingespielt und kennt sie genügend für seine Zwecke. Was er braucht, sind nur einige wenige Ratschläge bzw. Aufklärungen allgemeiner Natur, welche ihm namentlich gegen die verschiedenen neuen Verteidigungen ( A l j e c h i n s Verteidigung, Nimzowitsch-Verteidigung, Indische Spielarten) nützlich sein sollen. Er kennt diese Verteidigungen kaum und unterschätzt sie gewöhnlich. Dadurch läßt er sich häufig zu unvorsichtigen Angriffen verleiten und kommt in Nachteil. Das läßt sich vermeiden. Das Urteil über die verschiedenen Eröffnungen und Varianten ist selten allgemein übereinstimmend und beständig. Was man vor 10 oder 20 Jahren gehört, gesehen oder gelernt hat, muß heute nicht richtig sein. Vor 2 bis 3 Dezennien wurden unsere modernen Eröffnungen in ihren Anfängen verlacht. In der breiten Masse der Schachspieler lebt dieses Urteil — besser gesagt Vorurteil! — vielfach noch fort. Man soll sich hüten, ihm zu verfallen! Unterschätze nie die Verteidigung! Glaube nicht, daß alles schlecht sein muß, was dir nicht geläufig ist! Glaube nicht, daß du den Gegner über den Haufen werfen kannst, weil er etwa 1. e2—e4 mit Sg8—f6 beantwortet und deinen Bauernsturm provoziert. Er will dich ja nur locken! Nach einigen Zügen wird dein Angriff ins Stocken geraten, deine Luftschlösser stürzen ein, durch deine Stellung bläst der Wind! Sei daher in der Eröffnung möglichst sparsam, ja geizig mit Bauernzügen und beherzige vor allem drei Dinge: Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung! Vergiß nicht, daß man erst mobilisieren muß, um einen Krieg führen zu können. Achte auf dein Zentrum, es soll stark sein! Stark ist es aber nur, wenn es keinen Gefahren ausgesetzt ist. Es ist besser, du hast in der Mitte nur einen Bauer stehen, den aber absolut sicher gedeckt, als Kleine Schachbücherei. Nr. 13.
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drei oder vier Bauern, deren Deckung dir Sorgen bereitet. Besser kein Bauernzentrum als ein schwaches! Halte dem klassischen Eröffnungszuge 1. e2—e4 unbesorgt die Treue. Laß dich durch die Eröffnungsfinessen der modernen Meister nicht beirren. Der Zug 1. e2—ei gibt mehr Aussichten auf lebhaften Kampf und das ist es gerade, was der Schachfreund sucht. Wenn du diese Ratschläge beherzigst, wirst du immer mit befriedigendem Spiel aus der Eröffnung hervorgehen. — Mit den vorstehenden Ausführungen wird wohl an sich nichts Neues geboten. Neu aber ist die gedrängte Form. Wie ich schon eingangs erwähnte, besteht nach Theorie zwar ein allgemeines Bedürfnis, das mühselige Studium derselben ist aber nicht jedermanns Sache. Die meisten Bücher schrecken den Kaffeehausspieler (das soll nicht herabsetzend sein, ich meine damit einen bestimmten Typus!) durch ihre umfangreiche Gründlichkeit ab. Sie lehren das Beste, welches jedoch nicht so nahe liegt wie das Gute! Der Weg zum Besten führt über viele komplizierte Weisheiten und Finessen. Aber alles das braucht der Kaffeehausspieler ebensowenig, wie der Hungrige Trüffeln. Er braucht nur Gutes. Und ich habe versucht, ihm eine frugale Auslese vom Guten vorzusetzen.
Kompaß fürs Mittelspiel. Wir haben uns im vorigen Kapitel mit der Eröffnung befaßt. Die Ratschläge waren hauptsächlich für den sogenannten Kaffeehausspieler bestimmt, den geübten Praktiker, dem die Theorie völlig fremd ist. Nun gibt es aber auch einen anderen Typus: den Theoretiker, dem die Praxis fehlt. Er kennt mehr oder weniger alle Eröffnungen und viele Varianten, hat aber nicht die nötige Erfahrung. Die Folge davon ist, daß er im allgemeinen den Wert der Variantenkenntnis überschätzt. Gewöhnlich erscheint ihm alles außerhalb seiner Kenntnisse Liegende schlecht. Allzu rasch glaubt er auf Gewinn zu stehen, wenn sein Gegner nicht der Theorie gefolgt ist. Häufig hat er auch objektiv recht. Er erlangt eine weit überlegene Stellung, gewinnt einen Bauer usw. Aber noch häufiger kommt es vor, daß trotz alledem schließlich der Praktiker den Sieg davonträgt. Der Theoretiker ärgert sich dann, versucht meist analytisch nachzuweisen, daß er auf Gewinn stand, was ihm aber selten gelingt. Warum ? Weil er die Tücken des Mittelspiels nicht kennt und zur Schablone neigt. Er unterschätzt feindliche Angriffe ebenso wie er eigene überschätzt und urteilt in erster Linie vom materiellen, nicht, wie es richtig ist, vom dynamischen Standpunkt. In der Verteidigung ist er oft — etwa im Vertrauen auf einen Plusbauer — zu passiv und verpaßt die Gelegenheit zum ent-
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scheidenden Gegenhieb. Kurz: er hat ein unreifes Positionsverständnis! Er klebt an strategischen Weisheiten, findet sich aber in der taktischen Wirklichkeit nicht zurecht. Ist ganz gebrochen, wenn er etwa einen Bauern verliert, während der Praktiker, welcher schon zahlreiche auf Verlust stehende Partien gewonnen hat, noch bei viel ärgeren materiellen Einbußen Seelenruhe und Hoffnungsfreude bewahrt. Für Theoretiker solchen Schlages ist nun dieses Kapitel bestimmt. Ich will versuchen, ihnen einen Kompaß zu geben, der sie leiten soll, wenn das Festland der Variantentheorie zu Ende ist und das Meer des Mittelspiels auftaucht. Da das Mittelspiel den weitaus wichtigsten Teil der Schachpartie bildet und überdies eine variantenartige Untersuchung nicht erlaubt, will ich mich mit dem Thema etwas eingehender beschäftigen. Zunächst allgemeines. Es ist wichtig zu wissen, daß auch verhältnismäßig schlechte Stellungen noch große Widerstandskraft besitzen. Wenn die Theorie eine Variante mit + ( ± bedeutet Weiß steht besser, + dagegen Schwarz steht besser und = zeigt die Gleichheit der Spiele an) abschließt, so ist dies praktisch sehr wenig, von Gewinn oder Verlust kann noch keine Rede sein. Das Plus-Minus ist vielmehr so aufzufassen, daß in dem folgenden Mittelspiel Weiß etwas mehr Möglichkeiten hat, gute Pläne zu finden. Prozentuell ausgedrückt hat Weiß vielleicht 55 und Schwarz 45 Prozent der Chancen. Diese Chancen müssen jedoch erstwahrgenommenundausgenutztwerden. Das ist oft sehr schwer, auch für den Meister. Dr. L a s k e r z. B. wählt sogar mit Vorliebe Spielweisen, in denen er die Minorität an Chancen hat. Das beweist zur Genüge, daß das bloße Vorhandensein der Chancen nicht genügt. Hauptsache ist das Finden und Verwerten! Wer in diesem Punkte stark ist, wird auch noch Stellungen halten können, in denen seine Aussichten vielleicht nur 3 : 7 oder sogar noch schlechter stehen. Einem hitzigen Spieler gegenüber wird er sogar absichtlich derartige Spielweisen wählen, weil er mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, der Gegner werde seine guten Aussichten weit überschätzen und sich überstürzen. Darum soll sich der unerfahrene Theoretiker besonders vor dem Überschätzungsteufel hüten. Er soll sich hüten, der Theorie eine allzu große Bedeutung zuzuschreiben, er soll nie vergessen, daß der Schachkampf doch zum größten Teile aus dem Mittelspiel besteht. H a t man in der Eröffnung eine gute Stellung erlangt, so soll man das Spiel nach Möglichkeit in ruhiger, einfacher Weise fortsetzen. Seinen Figuren möglichst zentrale Felder anweisen, denn von dort aus können diese nach Bedarf rasch an richtiger Stelle eingesetzt werden. Beliebt ist bei unerfahrenen Spielern die sogenannte Bauernjagd. Sie haben natürlich die materiellen Grundlagen des Schach5*
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kampfes rascher begriffen als die dynamischen. Sie wissen, daß ein Bauer oft zur Entscheidung genügt, schätzen aber den Wert der guten oder schlechten Entwicklung schlecht ein. Mit dem üblichen Ausdruck Bauernjagd ist nicht etwa jede Eroberung von Bauern gemeint, sondern nur eine solche vor vollendeter Entwicklung. Das ist immer ein riskantes Unternehmen und es kann namentlich der unerfahrene Spieler vor solchen Abenteuern nicht genug gewarnt werden. Meist erlangt dann der Gegner die überlegene Entwicklung und demzufolge gefährliche Angriffsmöglichkeiten, deren Beobachtung und Unterdrückung viel Routine und kaltes Blut erfordert. Eigenschaften, die nicht aus der Theorie geschöpft werden können, sondern Früchte der Übung sind. Im allgemeinen wird es gut sein, wenn sich der Unerfahrene nicht in schwierige Verteidigungsstellungen begibt: er soll lieber nach Angriff trachten; der wird ihm auch viel mehr zusagen. Zur erfolgreichen Durchführung eines Angriffes ist immer eine Übermacht erforderlich. Diese kann entweder in der Zahl oder in der Kraft der Figuren bestehen. Häufiger ist der erstere Fall und es wird daher gut sein, vor Beginn einer Angriffsaktion eine Truppenschau abzuhalten, abzuzählen, wieviel Figuren für den Angriff verfügbar und wieviel der Verteidiger zur Verfügung hat. Hierbei darf man nicht vergessen, den feindlichen König als Verteidigungsfigur mitzuzählen (diese Unterlassungssünde wird oft begangen!). Man darf auch nicht vergessen, daß das Abzählen nur ein Behelf ist. Es erleichtert das Abschätzen, ist aber nichts weniger denn eine Assekuranz. Größte Vorsicht ist bei Flügelangriffen geboten. Man muß wissen, daß der beste Verteidigungsplan gegen einen Flügelangriff in einer Zentrumsaktion, allenfalls in einer Aktion auf dem entgegengesetzten Flügel besteht. Wenn nun der Flügelangriff nicht mit der nötigen Truppenübermacht unternommen wird, so besteht immer die Gefahr, daß • der Gegner unterdessen im Zentrum oder auf dem anderen Flügel früher zu entscheidendem Vorteil gelangt. Flügelangriffe sind meist nur dann dankbar, wenn das Zentrum im eigenen Besitz oder abgeriegelt ist. Ahnliches gilt von der dem Angriff entgegengesetzten Brettseite, doch kann sich der Angreifer in diesem Falle mehr erlauben, da die auf dem anderen Flügel verwendeten Feindesfiguren im Notfalle nicht so rasch zu Hilfe kommen können. Wenn irgend möglich soll der Angriff ohne materielle Opfer geführt werden. Opferangriffe sind zwar schön, effektvoll, ruhmreich und lockend, verpflichten aber im höchsten Maße, erlauben kein Zurück. Opfern soll man daher nur, wenn alle Wahrscheinlichkeit für den Erfolg spricht.
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Unbedenklich kann man opfern, wenn man z. B. für einen Bauer mindestens 3 Entwicklungszüge gewinnt. Bei Erwägung von Figurenopfern ist darauf zu achten, ob trotz Verschwindens einer Figur noch genügend Mittel zur Fortsetzung der Attacke bleiben. Rein materiell bilden drei Bauern einen genügenden Ersatz für eine Figur. Hierbei ist jedoch wichtig, ob diese Bauern auf zwei Flügel verteilt oder geschlossen sind und ob man noch weiterhin im Angriff bleibt. Ganz schlecht und fast immer selbstmörderisch sind Figurenopfer, die dem Angreifer drei oder sogar vier Bauern einbringen, jedoch weder die Fortführung des Angriffs, noch weitgehende Vereinfachung (Einlenkung ins Endspiel!) gestatten. Der Gegner kommt dann selbst zum Angriff und wird fast immer siegen, da ein — noch dazu mit klarer Übermacht unternommener — Figurenangriff ungleich rascher durchführbar ist, als ein Bauernvormarsch. In solchen Fällen ist dann gewöhnlich der König desjenigen, der geopfert hat, ein überaus dankbares Angriffsziel. Die Bauern, die im Endspiel vielleicht gewinnen würden, sind vorläufig machtlos und zählen nicht. Eng verknüpft mit dem Angreifen ist das Kombinieren. Hier müssen wir uns mit zwei Fragen beschäftigen: Wann soll kombiniert werden und wie soll kombiniert werden ? So wie der Praktiker einen übertriebenen Hang zum Kombinieren zeigt, neigt der Theoriebefangene gewöhnlich zum Unterschätzen der Kombination. Er verfällt leicht in den Fehler, der Eröffnung eine allzu große Bedeutung beizumessen und vernachlässigt sehr zu Unrecht die Weiterbildung in den anderen Phasen des Schachkampfes. Er läßt sich von der Schablone beherrschen. Das ist sehr schädlich. Das Kombinieren ist viel schwerer zu erlernen als die Eröffnungstheorie. Um darin eine gewisse Fertigkeit zu erlangen, ist vor allem große Übung erforderlich. Deshalb soll man nie versäumen, jede Stellung auf chancenreiche Kombinationsmöglichkeiten zu jirüfen. Dabei darf man allerdings nicht in den Fehler des Kaffeehausspielers verfallen, u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n kombinieren zu wollen. Das ist grundfalsch. Die Kombination bringt immer eine gewisse Verwicklung mit sich und erhöht für beide Teile die Gefahr, Fehler zu begehen. Deshalb ist der absolute Wille zum Kombinieren nur in gewissen (schlechten!) Stellungen berechtigt. Die nützliche Suche nach Kombinationen darf nicht zur schädlichen Sucht ausarten! Man muß wissen, daß man dem Gegner in die Hände arbeitet, sobald man in guter Stellung das Spiel kompliziert. In guter Stellung ist grundsätzlich Klarheit anzustreben, Verwicklungen sind nur in schlechter Lage erstrebenswert! Man soll nicht freiwillig im Trüben fischen! Gewiß kommt es sehr häufig vor, daß sich auch in Gewinnstellungen rasch entscheidende Kombinationsmöglichkeiten bieten und
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ich bin wohl der Letzte, der von dem Erfassen solcher Gelegenheiten abraten möchte. Aber dann muß die betreffende Aktion ganz exakt durchgerechnet sein! Sich auf Wahrscheinlichkeiten zu verlassen, hieße dem Gegner unnötigerweise Chancen geben. Zu gefährlich sind in solchen Fällen vielzügige Unternehmungen, namentlich wenn sie mit Opfern verbunden sind. Hier ist die Gefahr einer Verrechnung besonders groß. Soweit das Wann. Bezüglich des Wie ist schon einiges anläßlich des Themas „Angriffsführung" gesagt worden. Das Kombinieren ist in erster Linie Sache der Phantasie und der Übung, es ist daher schwer, mit Lehrsätzen zu dienen. Ich glaube aber, daß es sehr nützlich sein kann, wenn ich auf einige der häufigsten Kombinations- bzw. Denkfehlerhinweise, welche dem ungeübten Spieler in der Vorausberechnung leicht unterlaufen. Hierfür lasse ich später einige Beispiele sprechen. Was die Verteidigung anbelangt, so diene zur ersten Richtschnur, daß sie dem Nachziehenden von Anfang an auferlegt ist, und daß alle Gewaltmaßnahmen zu dem Zwecke, mit den schwarzen Steinen frühzeitig den Angriff an sich zu reißen, verwerflich sind. Den Angriff hat zunächst Weiß, d. h. der Anziehende, denn er hat ein Tempo mehr zur Verfügung, eine Figur mehr im Spiel. Natürlich verringert sich dieser Tempovorteil allmählich. Haben einmal beide Spieler alle Truppen im Gefecht, so sind die Chancen gewöhnlich annähernd gleich, dann erst ist auch für den Nachziehenden der Zeitpunkt gekommen, sich allenfalls mit Angriffsgedanken abzugeben. Weiß kann sich diesen Sport oft auch früher leisten, denn die Gefahr, im Falle des Mißlingens 1—2 Tempi zu verlieren, ist für ihn nicht sehr groß. Verliert er sie, so ist er eben in die Rolle des Nachziehenden geraten. Dem Nachziehenden dagegen kann jedes verlorene Entwicklungstempo verhängnisvoll werden, da er j a ohnedies mit einem solchen im Rückstand ist. Im allgemeinen ist auch für die Verteidigung das Wann und Wie sehr wichtig. Bezüglich des Wann sollen folgende Grundsätze beachtet werden: In guter, besser entwickelter Stellung ist die Verteidigung nicht am Platze. Selbstverständlich müssen direkte Drohungen pariert werden, aber im übrigen ist die energische Verfolgung der eigenen Pläne geboten. Der Gegner wird dadurch indirekt zurückgeworfen, denn der eigene, besser vorbereitete Angriff muß das Übergewicht bekommen und zwingt alle feindlichen Kräfte in die Verteidigung. In gedrückter, schlechter entwickelter Stellung sind Angriffsaktionen zu unterlassen. Es ist darauf zu achten, daß der Gegner nicht auf irgendeinem Abschnitt die Übermacht bekommt, und es wird gut sein, einige Figuren zu tauschen. Hierbei ist jedoch sehr wichtig, daß der Figurentausch erst n a c h beendeter Entwicklung ratsam ist. Der
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Tausch in einem sehr frühen Stadium der Partie entwickelt den Gegner und gibt ihm oft die Möglichkeit, auch mit einer verhältnismäßig geringen Figurenzahl entscheidende Schläge zu führen, da der Nachschub des Verteidigers versagt. In schlechter Stellung, wenn alle Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß der feindliche Angriff überwältigend werden muß, gibt es nur eines: rücksichtslosen Gegenangriff! Das Spiel so viel wie nur möglich komplizieren, auch wenn man sich sagen muß, daß der Gegenangriff nicht korrekt ist, nicht korrekt sein kann. Besser ein oder zwei Bauern, eine Qualität, j a sogar eine Figur zu geben, als sich vollständig zurückdrängen und matt setzen zu lassen! Besser mit drei lebendigen Figuren zu spielen, als mit vier toten Figuren tatenlos dem Untergang zuzuschauen ! Wer die Prinzipien der Verteidigung genauer kennen lernen will, dem empfehle ich das Studium des in der gleichen Bücherei erschienenen, sehr instruktiven Bändchens von K m o c h „Die Kunst der Verteidigung." E s bleibt noch einiges über das sogenannte Positionsspiel zu sagen. Man versteht darunter ein ruhiges, vorsichtiges Weiterschreiten im Aufmarsch. Direkte Aktionen werden zunächst gemieden, die Figuren bloß in starke Stellungen gebracht, der eigene König in Sicherheit gehalten. Der Positionsangriff setzt sich kleine Ziele, etwa das Belagern eines Bauern, das Festhalten einer offenen Turmlinie oder das stete Verstärken der Stellung, so daß sich schließlich verschiedene Angriffsmöglichkeiten oder Kombinationen quasi von selbst ergeben. Dementsprechend wird auch bei Postierung der Figuren mehr auf allgemeine Beweglichkeit, als auf direkte Bedrohung des gegnerischen Königs Bedacht genommen. Der weiße Königsläufer geht z. B. nur nach e2, wo er zunächst nichts droht, statt nach d3, wo er die Rochadestellung des feindlichen Königs beobachtet usw. H a t dann Weiß alle Figuren im Spiel, so kann er sich noch immer entscheiden, wohin er den Schwerpunkt des Kampfes verlegen will. Diese Methode der Spielführung verlangt jedoch viel Können. Der Gegner, welcher sich zunächst in keiner Weise bedroht fühlt, kann seine eigenen Pläne ziemlich ungestört verfolgen und oft plötzlich angriffsweise vorgehen. Für weniger geübte Spieler wird sich daher der Positionskampf nicht sehr empfehlen, es wird besser sein, den Gegner nach Möglichkeit in Atem zu halten. Das Positionsspiel ist vorherrschend in der modernen Meisterpraxis und beruht eigentlich auf der Einsicht, daß von dem in jeder Weise durchgebildeten Gegner in absehbarer Zeit keine Fehlzüge zu erwarten sind. Daher das Lauern, das Beschleichen, das hinterhältige Abwarten — das Positionsspiel. N i m z o w i t s c h zergliedert das Positionsspiel in mehrere Faktoren: Uberdeckung, Prophylaxe, Lavieren usw. Er kommt in seinen Schriften wie in dem epochalen
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Werk „Mein System" immer wieder darauf zurück. Wir aber wollen das Positionsspiel nur streifen und unterlassen daher eine genaue Analyse. In manchen Fällen ist freilich das Positionsspiel auch dem Unerfahrenen anzuraten, wenn nämlich der Positionsangriff konkrete Ziele hat. Das Erobern einer offenen Turmlinie oder der Gewinn eines Mittelbauern (Flügelbauern haben zunächst weit geringeren Wert und steigen zumeist erst im Endspiel!) ist im allgemeinen lohnender und gibt bessere Aussichten, als ein nebuloser Königsangriff. Aber von der p r i n z i p i e l l e n Einstellung auf diese Kampfmethode muß ich dem Dilettanten abraten. Sie kann nur allzu leicht zur Verkümmerung der Kombinationslust, zu einem ledernen, ideenlosen Stil führen. Was für den Schachmeister traurige Notwendigkeit ist, soll nicht das Ideal des Jüngers werden! Von den Meistern sind auch die wenigsten für den Positionsstil prinzipiell eingenommen, sie würden viel lieber kombinieren, wenn sie nicht auf Seite des Gegners allzu große Verteidigungskunst voraussetzen müßten. Dies ist beim Schachjünger bestimmt nicht der Fall. Er kann den Gegner vielleicht als sehr begabt, nicht aber als technisch vollkommen ansehen. Mit Phantasie und Unternehmungslust wird er oft dort noch erfolgreich sein, wo unter den Meistern längst der technische Abschnitt begonnen hat. Jener Abschnitt, in welchem — oft bei ziemlich vollem Brett! — Routine und Buch Weisheit wieder das entscheidende Wort haben und alle Erfindungsgabe an der Unzulänglichkeit der Materie scheitert. In das Gebiet des Positionsspiels gehört auch das Problem der Liquidation. Darunter versteht man eine zweckdienliche Vereinfachung des Spiels. Es kann sich um die Klarstellung eines Vorteils oder auch um eine Rettungsaktion handeln. Wenn ein Spieler im Mittelspiel materiell in Vorteil kommt, so muß er trachten, diesen Vorteil durch Reduzierung der Kampfmittel zur Geltung zu bringen. Zu dieser Regel gibt es zwar Ausnahmen (etwa das Vorhandensein ungleicher Läufer!), aber im großen und ganzen stimmt sie. Schematisch läßt sich dies wie folgt darstellen: Wenn eine leichte Figur die Kraft von drei Bauern besitzt, so besitzt der Turm eine solche von etwa fünf, die Dame eine solche von etwa zehn Bauern. Demnach beträgt der Wert sämtlicher Steine (mit Ausnahme des Königs) zu Beginn der Partie 40 Einheiten. Eine Einheit = eine Bauernkraft. Hat nun der Spieler zu Beginn der Partie einen Bauer weniger (z. B. durch Vorgabe), so beträgt das Kräfteverhältnis 40:39, das sind etwa 2 1 / 2 °/ 0 Überlegenheit. Gelingt es nun der stärkeren Partei, die Kräfte auf ein Endspiel von S -f- 3 Bauern gegen L + 2 Bauern zu reduzieren, so steht das Verhältnis 6:5. Die Übermacht ist gewaltig gestiegen und beträgt etwa 17°/ 0 des Materials, entspricht also einem Kräfteverhältnis von etwa 40:33 zu Beginn der Partie! Der Kurs
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des Bauern beträgt ungefähr das siebenfache! Gewiß darf man nicht allzu dogmatisch an solchen Formeln hängen, denn eine allzu weit gehende Vereinfachung kann oft die Mittel derart reduzieren, daß ein Gewinn nicht mehr möglich ist. Deshalb soll derjenige, der gewinnen will, möglichst dem weitgehenden Bauerntausch ausweichen und vornehmlich den Tausch der Figuren anstreben, während der materiell Schwächere nach Tunlichkeit jeden Tausch meiden wird, um das Kräfteverhältnis nicht weiter prozentuell zu seinen Ungunsten zu verschieben. Es gibt auch Fälle, in denen es für die Verteidigung günstig ist, Abtausch anzustreben. Z. B. wenn ein Endspiel mit ungleichen Läufern in Aussicht steht, welches bekanntlich der materiell schwächeren Partei viele Remischancen bietet; oder wenn ein Endspiel von Turm gegen 2 Springer bzw. S + L in Sicht ist, in welchem die leichten Figuren allein etwas unbeholfen sind. Ferner läßt sich in Turmendspielen der Nachteil eines Bauern häufig durch scharfes Gegenspiel wettmachen. Auf derlei Möglichkeiten werden wir noch anläßlich des Kapitels über das Endspiel zurückkommen. Und nun wollen wir die obigen Ausführungen durch entsprechende Beispiele erhärten. Sehen wir uns zunächst einen Fall des „Angriff durch materielle Übermacht" an. In der Partie R u b i n s t e i n - J a n o w s k i des Marienbader Turniers von 1925 kam es zu folgender Stellung: Schwarz: J a n o w s k i .
Weiß: R u b i n s t e i n .
J a n o w s k i versuchte einen verfrühten Angriff auf der Damenseite, sein Angriffsziel war der Bauer c4. Diese Strategie mußte sich rächen, denn die auf der Damenseite verlaufenen Figuren führten zu einem Vakuum auf Seite des schwarzen Königs. R u b i n s t e i n
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konnte dort plötzlich mit großer Übermacht angreifen und errang einen leichten Sieg. Es geschah: 1. Se4—g5! f6—g5: Es ist klar, daß auf 1 g7—g6 2. Ld3—g6: usw. gewinnt. 2. Ld3—h7f Kg8—h8 Auf 2 Kg8—f7 folgt 3. Dc2—g6f nebst Dg6—e6 matt. 3. Lb2—g7f Die materielle Übermacht des Weißen ist auf der Königsseite derart groß, daß er sich auch noch dieses zweite Opfer, welches unnötig war, erfolgreich leisten darf. Mit 3. Dc2—g6 nebst Dg6—h5 usw. war der Sieg einfacher und noch rascher zu erringen. 3 Kh8—g7: 4. Dc2—g6f Kg7—h8 5. Tf3—h3 Dd8—d7 6. Lh7—g8|! Dd7—h3: 7. g2—h3: und Schwarz kann das Matt auf h7 oder h6 nicht mehr verhindern. J a n o w s k i gab auf. Solche auf zahlenmäßige Überlegenheit gestützte Angriffe sind eigentlich primitiv und verhältnismäßig am leichtesten zu führen. Viel seltener ereignet es sich, daß ein nur auf dynamische Überlegenheit gestützter Angriff durchdringt. Der Gegner hat gleichviel, unter Umständen sogar mehr Truppen im Gefecht, kann sie an entsprechender Stelle einsetzen, jedoch nicht derart, daß sie zu voller Wirksamkeit gelangen. Dem Entschluß, in einem solchen Falle zum Angriff zu schreiten, muß eine sehr genaue Beurteilung der Chancen vorangehen. Der unerfahrene Spieler beachte dies besonders. Mir gelang es einmal gegen R u b i n s t e i n , den nur auf dynamische Überlegenheit gestützten Angriff durchzuführen. Das war in Karlsbad 1911. Ich erreichte folgende Stellung: Schwarz: R u b i n s t e i n .
Weiß: S p i e l m a n n .
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Schwarz hat alle Truppen im Gefecht. Nur der Lc6 ist etwas deplaciert, dafür beteiligt sich der schwarze König an der Verteidigung. Mit dem Abzählen würde Weiß nicht weit kommen, das müßte ihn vom Angreifen gründlich abschrecken. Aber es zählt ein anderes Moment mit, welches vielversprechend zum Angriff einladet: die schwarzen Figuren haben keinen Raum! Sie sind eng zusammengepfercht und behindern sich gegenseitig. Der Feind ist weder schwach noch krank, aber hilflos gefesselt. Da heißt es nun rasch zupacken, bevor er sich befreit. Es folgte: 1. Df4—h6! Nun droht Le5—d6 mit entscheidender Schwächung des Punktes g7. Die Unbeweglichkeit der schwarzen Figuren wird katastrophal. 1 Kg8—f8 Schwarz hat keine Züge. Er konnte natürlich nicht auf e5 schlagen und er konnte auch nicht den Sd7 ziehen (um Le5—d6 mit Te7—d7 zu beantworten), da dann Le5—f6: entschieden hätte. 2. Sh4—g6f Durch dieses Opfer erreicht Weiß seinen Zweck: letale Schwächung des Punktes g7. Natürlich muß Schwarz annehmen. 2 h7—g6: 3. Dhß—h8f Sf6—g8 4. Le5—d6 Der Zweck ist erreicht: Te7 von der Deckung des Feldes g7 ausgeschaltet. 4 De8—d8 Eine ausreichende Verteidigung gab es nicht mehr. Auf Sd7—f6 folgte 5. Tg2—g6: nebst Tg6—g7:, auf g6—f5: folgte 5. Tg2—g7: und auf Tf7—f5: ebenfalls 5. Tg2—g6: drohend Tg6—g7:, alles mit sofortigem Gewinn. Nach 4 Tf7—f6 konnte folgen: 5. Tg2—g6:, Tf6—g6:, 6. f5—g6:! mit der furchtbaren Drohung Tgl—el usw. Falls Schwarz nun 6 Sd7—f6 zieht, so folgt 7. Tgl—el, Sf6—e4 8. Lf3—e4:, d5—e4: 9. Tel—fl"|" usw. Diese letztere Wendung zeigt, daß der Angriff nicht starr an einem Punkt festhalten darf. Schwarz könnte schließlich g7 ausreichend decken, geht aber dann an der Bedrohung von e7 zugrunde. Solche Möglichkeiten müssen bei der Angriffsführung stets rechtzeitig ins Auge gefaßt werden. 5. Tg2—g6: Sd7—f6 6. Tg6—f ö:! Nun ist wieder g7 der sterbliche Punkt. 6 Tf7—fo: 7. Tgl—g7: u. Schwarz gab auf, da er in drei Zügen rratt geworden wäre: Kf8—e8 8. Tg7—g8f, Tf6—f8 9 . T g 8 — f 8 f , Ke8—d7 10. Tf8—d8: Matt.
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Die zwei vorangegangenen Beispiele waien mit Opferwendungen, verbunden. Trotzdem kann man hier nicht von einem eigentlichen Opferangriff sprechen, denn die Annahme der Opfer war erzwungen und führte unmittelbar zur Entscheidung. Anders verhält es sich beim richtigen Opferangriff. Dort ist das Opfer nicht unmittelbar entscheidend, es dient vielmehr nur der Verstärkung der eigenen und Schwächung der feindlichen Stellung. Die Konturen treten noch nicht klar hervor. Es handelt sich um keine exakte Kombination, sondern um eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Der Angreifer opfert gewöhnlich eine Figur für ein bis drei Bauern und bringt den feindlichen König ins Gedränge. Welche Voraussetzungen müssen aber gegeben sein, um den Erfolg wahrscheinlich zu machen ? Vor allem eine: Der Nachschub muß gut funktionieren! Der Angreifer muß die Sicherheit haben, daß er seine Figuren rascher heranführen kann als der Gegner Zwar ist auch in diesem Falle keine absolute Sicherheit, aber doch die größte Wahrscheinlichkeit für den Erfolg vorhanden. Betrachten wir das folgende Beispiel. Die Stellung kam in der Partie C a p a b l a n c a - H a v a s i , Siesta-Turnier zu Budapest 1928, ähnlich übrigens auch in der Partie C a p a b l a n c a - B o g o l j u b o w , Moskau 1925 vor. Schwarz: H a v a s i .
Weiß: C a p a b l a n c a .
Weiß am Zuge zog 1. Lc4—e6:! und brachte damit ein Opfer, für dessen Erfolg alle Wahrscheinlichkeit spricht. Schwarz muß annehmen, denn sonst hat er einfach seinen wertvollsten Mittelbauer verloren. Nach f7—e6: 2 Sd4—e6: ist die schwarze Dame bedroht, kann aber die ebenfalls bedrohten Punkte c7 und g7 nicht gleichzeitig schützen. Da der Ta8 nicht geopfert werden kann, bleibt nichts übrig als Db6 oder Da5. In beiden Fällen setzt Weiß mit 3 Se6—gif
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nebst Sg7—f5 fort. Er hat dann drei Bauern für die geopferte Figur, überlegene Stellung und Angriffsmöglichkeiten gegen den stark entblößten schwarzen König, so daß er mit vollem Vertrauen der Zukunft entgegensehen kann. Für ein klagloses Funktionieren des Nachschubes sind alle Prämissen vorhanden. Tatsächlich gewann C a p a b l a n c a die beiden erwähnten Partien und hätte sie bei bester Angriffsführung noch leichter gewinnen können als es der Fall war. Den entgegengesetzten Fall, ein inkorrektes Opfer, illustriert das folgende Beispiel. Es stammt aus meiner Göteborger Partie 1920 gegen Dr. T a r t a k o w e r . Ich hatte Schwarz.
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II p ISP ' ^ t i C s f áü • " • f a l l Weiß am Zuge.
Mit einem Bauer weniger hatte ich einen Zug vorher noch sehr gute Angriffsaussichten, wenn ich zunächst mit Ta8—e8 für den allenfalls notwendigen Nachschub gesorgt hätte. Ich hatte aber voll Opfergedanken Le6—g4 gezogen und es folgte: 1. h2—h3 Lg4—h3: ? Ein Rückzug war an dieser Stelle auch nicht mehr befriedigend, denn damit hätte Schwarz den Angriff aus der Hand gegeben und der weiße Plusbauer wäre allmählich zur Geltung gekommen. 2. g2—h3: Dh5—h3: 3. T f l — e l ! Ta8—e8 Jetzt kommt der Nachschub zu spät. Das Opfer wäre nur gerechtfertigt gewesen, wenn der Turm bereits auf e8 gestanden hätte. Da aber Weiß die e-Linie zuerst besetzen konnte, kommt er rasch in entscheidenden Vorteil. 4. Tel—e3! Te8—e3: 5. f2—e3: Dh3—g3f 6. K g l — f l und Weiß gewann ohne Schwierigkeiten. Schwarz konnte in der Folge nur noch einen Bauernsturm
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am Königsflügel versuchen, der jedoch viel langsamer fortschritt, als das Gegenspiel der weißen Figuren. Solche Opferlockungen auf h3 bzw. h6 kommen in der Praxis besonders häufig vor, sind aber oft eben nur Lockungen. Der Angreifer wird bei jeder solchen Gelegenheit sehr genau prüfen müssen, ob sich ein Opfer lohnt, das heißt ob sich die Attacke durch raschen Nachschub genügend verstärken, zumindest aber aufrecht erhalten läßt. Das folgende Beispiel soll uns zeigen, wie eine Stellung ungefähr beschaffen sein muß, um das Streben nach Königsangriff zu rechtfertigen. Die Stellung stammt aus einer oft gespielten Variante der spanischen Partie.
In dieser Stellung ist zunächst die überlegene Entwicklung der weißen Figuren augenscheinlich. Weiß hat auch die einzige offene Turmlinie in seinem Besitz und beherrscht den wichtigen Punkt f5, damit ein allfälliges, mit f6—f5 beginnendes Gegenspiel niederhaltend. In seinem Lager ist kein schwacher Punkt nachweisbar, die Position ist daher zum Angreifen wie geschaffen. Es kommt sowohl der Königsangriff, wie auch, gestützt auf die beherrschte a-Linie, der Positionsangriff auf der Damenseite in Frage. In ersterer Richtung hat der Angriff bessere Aussichten, da auf diesem Flügel mehr weiße Figuren postiert sind. Es wird nun das nächste Ziel des Anziehenden sein, auf der Königsseite eine Turmlinie zu öffnen, wozu freilich noch ein planvoller Aufmarsch hinter der Bauernfront nötig sein wird. Weiß hat jedenfalls das, was man eine schöne Angriffsstellung nennt. Eine totale Verkennung des Begriffes Angriffsstellung zeigt das folgende, aus der Partie M a r s h a l l - C a p a b l a n c a , Berliner Tageblatt-Turnier 1928 stammende Beispiel:
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Schwarz: C a p a b l a n c a .
Weiß: M a r s h a l l .
Dogmatisch beurteilt, steht Weiß am Zuge angesichts des noch nicht entwickelten feindlichen Damenspringers etwas besser. Dies ist jedoch nicht richtig, denn seine Entwicklung ist in dynamischer Beziehung mangelhaft. Das Hauptmerkmal der Stellung ist nämlich die offene d-Linie und deren rasche Besetzung für beide Teile erste Pflicht. Hierzu benötigt aber Weiß drei Züge, Schwarz nur zwei. Daraus erhellt, daß von einem Vorteil des Anziehenden keine Rede sein kann. Ein Positionsspieler wie B u b i n s t e i n oder C a p a b l a n c a hätte nun mit Weiß nicht einmal im Schlafe an etwas anderes, als an die rasche Räumung und Besetzung der d-Linie gedacht, wobei sich das Spiel sicherlich bald zum Remis geklärt hätte. Der Angreifer M a r s h a l l glaubte jedoch attackieren zu dürfen und — stand bereits 8 Züge später zum Aufgeben! Es folgte: 1. Ddl—h5 Königsangriff mit 2 Figuren (Dame und Läufer) — dazu gehört ein phantastischer Optimismus. 1 h7—h6 2. f2—f4 Sb8—d7 3. e3—e4 e6—e5! Das schwarze Gegenspiel in der Mitte beginnt! Weiß steht bereits schlecht. 4. Sd2—f3 Ta8—e8 5. Sf3—h4 Hätte er 5. f4—f5 gezogen, so wäre Sd7—f5 nebst Te8—d8 gefolgt. Zugunsten von Schwarz spräche dann nicht nur die d-Linie, sondern auch die Fixierung mehrerer weißer Bauern auf der Farbe des eigenen Läufers. Solche Bauern liefern dem gegnerischen Läufer stets — namentlich im Endspiel — gute Angriffsobjekte, während sie den
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eigenen Läufer beengen und zu völliger Passivität verurteilen (vgl. Kapitel Endspiel). 5 e5—f4:! 6. Tfl—M: De7—g5! Dieser Zug wäre auch auf 6. Sh4—f5 gefolgt. Weiß darf die Damen wegen Figuren Verlust nicht tauschen, muß also zurück, 7. Dh5—f3 Sd7—e5 8. Df3—f2 Se5—d3: 9. Tc3—d3: Te8—ei: und Schwarz steht sowohl positioneil wie materiell überlegen; C a p a b l a n c a gewann leicht. Manchmal ereignet es sich wohl, daß man irgendwie in Schwierigkeiten gerät und sich plötzlich sagen muß, auf die Dauer die Kapitulation nicht vermeiden zu können. Das ist besonders dann der Fall, wenn man entweder ohne rechten Ersatz Material verloren hat oder schwere Positionsschwächen in Kauf nehmen mußte. In solchen Fällen gibt der Angriff, die Komplikation um jeden Preis die einzige Hoffnung. Besonders wichtig ist dann das rechtzeitige Erkennen der wahren Sachlage. Das verhält sich etwa so wie mit der Diagnose in der Medizin: Man muß rechtzeitig erkennen, daß eine Operation auf Leben und Tod nötig ist und sich sofort dazu entschließen. Ein kurzes Zögern, und jede Hoffnung ist dahin. Sehen wir uns einen derartigen Verzweiflungsangriff einmal an. Ich zitiere die Partie S c h l e c h t e r - S ü c h t i n g aus dem Turnier zu Karlsbad 1911. Mein verewigter Freund, der größte Wiener Meister C a r l S c h l e c h t e r war ein genialer „Diagnostiker" und „Operateur". Schwarz:
Weiß:
Süchting.
Schlechter.
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S c h l e c h t e r ist in der Eröffnung mit c4—c5 etwas zu gewagt vorgegangen und nach einigen energischen Gegenzügen S ü c h t i n g s (vor allem e7—e5!) in eine sehr gefährdete Lage geraten, da seine Stellung in der Mitte aufgerollt wird. Mit wunderbarem Weitblick erkennt S c h l e c h t e r , daß sein Spiel auf normale Art schließlich verloren gehen müsse und beginnt mit meisterhaftem Geschick taktische Angriffskomplikationen herbeizuführen. Es gelingt ihm auf diese Art, den Gegner irre zu machen, zunächst eine Remisposition zu erreichen und schließlich gar zu gewinnen. Die folgende Partiephase ist ein Glanzstück der Komplikationsund Angriffskunst. 1. d4—e5: Lf8—c5: 2. e5—e6! Den Punkt f2 zu decken, würde zu einer aussichtslosen Stellung führen. Nach dem Textzug darf Schwarz natürlich nicht die Damen tauschen, da Weiß zuerst noch mit Schachgebot auf d7 schlagen und dann auf f4 zurücknehmen würde. 2 Sd7—e5 3. e6—f7f Ke8—d7 Dc7—f7: durfte nicht geschehen, weil dann Weiß mittels 4. h2—h3! einen der beiden Springer gewänne. Sicherer als der Textzug war Ke8—f8. Schwarz will aber begreiflicherweise die Türme verbunden haben. 4. e4—d5:! Angriff um jeden Preis! Die Deckung von f2 wäre noch immer schwach und aussichtslos. Weiß muß gegen den schwarzen König Linien öffnen. 4 Sg4—f2: 5. d5—c6f b7—c6: Hier war Se5—c6: vorsichtiger. In dieser sehr verwickelten Stellung sollte Schwarz ebenso der Vereinfachung zustreben wie Weiß der weiteren Komplikation. Schwarz will aber die Damengewinndrohung Sd3f usw. nicht aufgeben. 6. Df4—a4 Se5—f7: Das Nehmen auf hl war wegen 7. Sc3—e4 nebst eventuell Lei—g5 oder Lei—f4 und 0—0—0 zu gefährlich. Aber da sich nun Schwarz einmal zu schärfstem Gegenangriff entschlossen hatte, sollte er konsequent bleiben und neue Truppen in den Kampf führen. Statt des Springerrückzuges war Th8—f8 die richtige, günstige Fortsetzung. S c h l e c h t e r s rücksichtslose Taktik hatte bereits Erfolg! Der Gegner schwankt und wankt. 7. Lfl—e2 Dieser bescheidene Zug ist stark und zwingend! Die e-Linie wird gesperrt und es droht T h l — f l mit siegreichem Angriff. Schwarz Kleine Schachbücherei. Nr. 13.
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muß daher mit dem Nehmen des Turmes Zeit verlieren, was angesichts der exponierten Stellung seines Königs sehr gefährlich ist. 7 Sf2—hl: 8. Lei—M! Nun kann die schwarze Dame nicht ziehen, da sonst Weiß mit Schachgebot lang rochiert, dann eventuell den Shl schlägt und mit nur einer Qualität weniger weit überwiegenden Angriff behält. Demnach muß Schwarz in eine Fesselung. 8 Lc5—d6 9. T a l — d l Nun wäre 0—0—0 wegen Shl—f2 schwach. Der Textzug droht gewaltig Sc3—e4 usw. 9 Kd7—e7 10. Tdl—d6:ü Jedes Nachlassen des Angriffs wäre für Weiß der Untergang. S c h l e c h t e r versteht es prachtvoll, den Pulsschlag seiner Offensive künstlich aufzupeitschen. 10 Sf7—d6: 11. Sc3—e4 Ta8—d8 12. Da4—d4! Ein Riesenzug; er enthält vier gewaltige Drohungen, nämlich doppeltes Schlagen auf d6 nebst Dd4—h8:, ferner tödliche Damenschachs auf e5, f6 und g7. Kein Wunder, daß jetzt Schwarz an der Verteidigung welche mit Th8—f8 noch versucht werden konnte, jede Lust verliert und sich zu weitgehenden Gegenopfern entschließt. Es ergibt sich schließlich eine Remisstellung. 12. Dc7-—a5f 13. b2-—b4 Da5-—f5 14. Lf4-- d 6 f Td8-—d6: 15. Dd4-- d 6 f Ke7-—f7 Kf716. Le2-—c4f 17. Dd6-- d 4 f Kg7-- h 7 Kh7-- h 6 18. Dd4-- a 7 f 19. Da7- - e 3 t g 6 -- g 5 h2-- h 4 20. Th8-—e8 21. Lc4-- d 3 Kh622. K e l - —d2 Df5-—f4 h4-- g 5 : 23. Df4-- e 3 f 24. Kd2-—e3: Shl- " g 3 Das Endspiel, in welchem Weiß zwei Bauern für die Qualität besitzt, hätte nur Remis werden sollen. S ü c h t i n g war aber offenbar schon demoralisiert und verlor sogar.
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Dies ist eines der schönsten Beispiele für einen mit höchster taktischer Vollendung geführten Verzweiflungsangriff, der letzten Endes ein Verteidigungsmittel darstellt. Hiermit ist auch ein Übergang zu dem Thema „Verteidigung" gegeben. Ich bin in der Lage, zwei treffende Beispiele für schlechte und gute Verteidigung anzuführen. Treffend deshalb, weil es sich für beide Fälle um dieselbe Ausgangsstellung handelt. Die folgende Stellung ergab sich das erste Mal in meiner ganz unbeachtet gebliebenen Partie gegen C a r l s aus dem Turnier von Baden-Baden 1925, das zweite Mal in meiner zweiten Partie gegen C a p a b l a n c a aus dem New Yorker Matchturnier 1927. Ich hatte beide Male den Anzug, die Position entwickelte sich aus einer Caro Kann-Verteidigung, in welcher sowohl C a r l s als auch C a p a b l a n c a Spezialisten sind.
Schwarz am Zuge. Weiß hat das Läuferpaar und droht eine starke Angriffsstellung zu erlangen. C a r l s glaubte sich zunächst auf eine ruhige Weiterentwicklung beschränken zu dürfen, wurde aber bald enttäuscht. Es folgte: 1. 2. Lei—b2 c2—c4 3. 4. Dd3—e2 Sf3—h2 5. 6. Lg2—f3! 7. Sh2—g4 8. T a l — d l d4—d5! 9. c4—d5: 10. 11. d5—d6!
Tf8—d8 Ta8—c8 Ld6—e7 g7-g6 Le7—f6 Sh5—g7 Lf6—e7 Sg7—f5 e6—d5: Le7—c5 Lc5—d6:
Eudolf Spielmann. Auf Sf5—