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German Pages 437 [442] Year 2017
Tobias Schmitt
Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis Die politische Ökologie des Wassers im Nordosten Brasiliens Geographie Franz Steiner Verlag
Erdkundliches Wissen – Band 162
Tobias Schmitt Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis
e r dk und l i ches w i ssen Schriftenreihe für Forschung und Praxis Begründet von Emil Meynen Herausgegeben von Martin Coy, Anton Escher und Thomas Krings Band 162
Tobias Schmitt
Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis Die politische Ökologie des Wassers im Nordosten Brasiliens
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher finanzieller Unterstützung des Exzellenzclusters „Integrated Climate System Analysis and Prediction“ (CliSAP), Universität Hamburg. Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck gedruckt.
Umschlagfoto: © Tobias Schmitt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11721-0 (Print) ISBN 978-3-515-11724-1 (E-Book)
Für José (Zé) Maria Filho 1965–2010
INHALTSVERZEICHNIS ABBILDUNGSVERZEICHNIS .......................................................................... 13 TABELLENVERZEICHNIS................................................................................ 15 VERZEICHNIS DER TEXTBOXEN .................................................................. 15 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ......................................................................... 16 ZUSAMMENFASSUNG ..................................................................................... 19 SUMMARY .......................................................................................................... 20 VORWORT .......................................................................................................... 21 1. EINLEITUNG .................................................................................................. 25 1.1 Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens ................ 27 1.2 Wissensproduktion als meine Erzählung von Welt ........................................ 30 TEIL I: DIE KONSTITUTION VON WIRKLICHKEIT 2 DIE PRODUKTION VON WISSEN ................................................................ 32 2.1 Die globale Wasserkrise als hegemoniale Erzählung ..................................... 32 2.1.1 Die Konstitution von Problemlagen ...................................................... 35 2.1.2 Die Konstitution der globalen Wasserkrise ........................................... 37 2.2 Eine poststrukturalistisch inspirierte Geographie ........................................... 39 2.3 Positionalität: Wissensproduktion als (m)eine Erzählung von Welt .............. 42 2.4 Wissenschaft als Praxis: Forschen in Brasilien als neokoloniales Projekt? ... 49 2.4.1 Re-writing you, I write myself anew: Die Konstitution des Anderen und des Selbst ...................................... 52 2.4.2 Empirisches Umherschweifen: Ein offener Prozess des Suchens und Findens ..................................... 55 2.4.3 Ich schreibe, um mich zu verändern..................................................... 57 2.5 Was ist Kritik? Wissenschaft als politisches Projekt ...................................... 59
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Inhaltsverzeichnis
3 DIE ORDNUNG DES WISSENS ..................................................................... 62 3.1 Diskurs ............................................................................................................ 62 3.1.1 Die Ordnung der Dinge: ... die von weitem wie Fliegen aussehen ...... 64 3.1.2 Die Ordnung des Diskurses .................................................................. 65 3.1.3 Konstruktion von Diskursen über Diskurse ......................................... 67 3.1.4 Alles nur Text? Vom Diskurs zum Dispositiv ..................................... 68 3.1.5 Dispositiv als Netz ............................................................................... 69 3.2 Macht .............................................................................................................. 72 3.2.1 Möglichkeits- und Vermögensmacht ................................................... 72 3.2.2 Foucaults Analytik der Macht .............................................................. 75 3.2.2.1 Mikrophysik der Macht ............................................................ 76 3.2.2.2 Strategien ohne Strategen ......................................................... 77 3.2.2.3 Macht als hegemoniales Projekt .............................................. 79 3.3 Wo es Macht gibt, da gibt es Widerstand ....................................................... 80 3.3.1 Auf der Suche nach dem widerständigen Subjekt ................................ 82 3.3.2 Analyse von Macht- und Widerstandsverhältnissen ............................ 83 4 GESELLSCHAFTLICHE NATURVERHÄLTNISSE ..................................... 87 4.1 Politische Ökologie ......................................................................................... 88 4.1.1 Historischer Materialismus: Mensch und Natur als produktives Austauschverhältnis ............................................................................. 91 4.1.2 Die Produktion der Natur ..................................................................... 92 4.1.3 Neoliberalisierung der Natur ................................................................ 93 4.1.4 Akteur-Netzwerk-Theorie: Überwindung der Mensch-Natur-Dichotomie? ................................................................. 95 4.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse ................................................................ 97 4.2.1 Kritische Theorie: Natur- und Selbstbeherrschung .............................. 98 4.2.2 Mensch-Natur Verhältnis als Vermittlungsverhältnis ........................ 100 4.2.3 Nicht-Identität von Natur ................................................................... 102 4.2.4 Naturverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse .................................... 102 4.3 Die Produktion von Natur als Ressource ...................................................... 104 4.3.1 Die Produktion von Knappheit ........................................................... 106 4.3.2 Ressourcenmanagement ..................................................................... 108 4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse ...... 110 4.4.1 Symbolische Produktion des Wassers ................................................ 112 4.4.2 Zu bewässern bedeutet zu herrschen: Wasser als Herrschaftsverhältnis ....................................................... 115 4.4.3 Wasser Macht Geschlecht .................................................................. 116 4.4.4 Wasser als knappe Ressource ............................................................. 119 4.4.5 Integriertes Wasserressourcen-Management...................................... 122
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TEIL II: DIE GENEALOGIE DER DINGE 5 DIE KONSTITUTION DES NORDOSTENS ALS REGION........................ 124 5.1 Die Geschichte der Ab- und Eingrenzungen des Nordostens ....................... 126 5.2 Die Konstitution von Nation und Region ..................................................... 128 5.3 Die Erfindung des Nordostens und andere Künste ....................................... 131 5.4 Die Konstitution des Nordostens über gesellschaftliche Naturverhältnisse . 135 5.4.1 Os Sertões ........................................................................................... 138 5.4.2 Rassismus als konstitutives Element .................................................. 140 6 GENEALOGIE DER GESELLSCHAFTLICHEN DÜRREVERHÄLTNISSE IM NORDOSTEN BRASILIENS .................................... 143 6.1 Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis................................................. 144 6.2 Bruchlinie I: Die Konstitutionsbedingungen der Großen Dürre ................... 146 6.2.1 Besitzstrukturen als Vermittlungsverhältnis von Herrschaft ............. 146 6.2.2 Arbeits- und Produktionsstrukturen als Voraussetzung für Dürre ..... 148 6.2.3 Die Produktion von Rückständigkeit über Wirtschafts- und Kapitalstrukturen ................................................................................ 151 6.2.4 Die Produktion der Großen Dürre ...................................................... 152 6.2.5 Die Große Dürre als gesellschaftliche Katastrophe ........................... 153 6.2.6 Die Große Dürre als politische Wasserscheide .................................. 154 6.2.6.1 Die Dürre als Katalysator von Widerstand ............................ 155 6.2.6.2 Institutionalisierung der Dürrebekämpfung: A fase hidráulica..................................................................... 158 6.2.7 Dürre als Diskurs ................................................................................ 163 6.3 Bruchlinie II: SUDENE – Entwicklung durch Planung ............................... 165 6.3.1 Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ........................ 165 6.3.2 Diskursverschiebung über den Entwicklungsdiskurs ......................... 167 6.3.2.1 Lösungsansätze für den Nordosten: Entwicklung statt Veränderung .............................................. 169 6.3.2.2 Lösungsansätze für den Nordosten: befrieden, um zu bewahren..................................................... 170 6.3.3 Die Zeit der Militärs: Nationale Sicherheit und integrierte Entwicklung ............................. 171 6.3.3.1 Bewässern heißt entwickeln ................................................... 174 6.3.3.2 Konservative Modernisierung ................................................ 176 6.4 Bruchlinie III: Ceará und der Governo das Mudanças ................................. 180 6.4.1 Die Industrialisierung des Nordostens und die Entstehung neuer Subjektpositionen ..................................... 181 6.4.2 Diskursverschiebung: Vom Armenhaus zum Land der Möglichkeiten ................................. 182 6.4.3 Neoliberale Umstrukturierungsprozesse ............................................ 187 6.4.4 Das Machtkarussell:
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Umstrukturierung, Zentralisierung und Isolierung............................. 189 6.5 Kontinuitäten: Macht- und Naturverhältnisse............................................... 190 6.5.1 Der Coronelismo ................................................................................ 190 6.5.2 „Para os amigos pão, para os inimigos pau”: Funktionsweise des Coronelismo ....................................................... 192 6.5.3 Machtsicherung über Naturaneignung: Die Industrie der Dürre ........ 197 6.5.3.1 (Ver)teilen und herrschen I: Açudes ....................................... 199 6.5.3.2 (Ver)teilen und herrschen II: Carro Pipa ............................... 201 6.5.3.3 (Ver)teilen und herrschen III: Frentes de Trabalho ............... 203 6.5.3.4 „Besser als ein regenreicher Winter“ ..................................... 205 6.5.4 Brüche und Kontinuitäten: Neocoronelismo ...................................... 206 TEIL III: DIE ORDNUNG DER DINGE 7 INSTITUTIONALISIERUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN NATURVERHÄLTNISSE.............................................................................. 208 7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará ... 209 7.1.1 Organisationsstruktur des IWRM in Ceará ........................................ 212 7.1.2 Prinzipien und Instrumente des Integrierten Wassermanagements.... 216 7.1.2.1 Wassereinzugsgebiete als territoriale Grundlage des Ressourcenmanagements ................................................. 217 7.1.2.2 Wasserkomitees als organisatorische Grundlage eines partizipativen Ressourcenmanagements ....................... 220 7.1.2.3 Wassertarife als ökonomische Grundlage des Ressourcenmanagements ................................................. 225 7.2 Programme als institutionalisierte Praktiken ................................................ 229 7.2.1 Staatliche Wasserprogramme in Ceará .............................................. 233 7.2.2 Finanzierungsprogramme als Steuerungsinstrument ......................... 234 7.3 Wasserpolitik als Inwertsetzungsstrategie .................................................... 236 8. ARCHÄOLOGIE DES WISSENS: DIE ORDNUNG DES DÜRREDISKURSES ................................................ 238 8.1. Grundlagen der Diskursanalyse ................................................................... 240 8.1.1 Auswahl des Textkorpus .................................................................... 240 8.1.2 Methodische Heran- und Vorgehensweise ......................................... 245 8.2 Freilegung des Dürrediskurses I: Diário do Nordeste .................................. 247 8.2.1 Die Rahmung des Dürrediskurses ...................................................... 247 8.2.2 Die Disziplinierung des Blickes: Bilder als Diskursfragmente .......... 248 8.2.3 Diskursive Konstitution des Dürreproblems ...................................... 252 8.2.4 Benennung von Lösungsstrategien als Einhegung des Praxisfeldes .. 254 8.3 Freilegung des Dürrediskurses II: Die Senatsdebatte zum Ableitungsprojekt des Rio São Francisco................ 263 8.3.1 Rahmung der Auseinandersetzung um die Flussableitung ................ 265
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8.3.2 Religiös-moralische Rahmung als hegemoniale Schließung ............. 267 8.3.3 Bruchlinien und Möglichkeiten der Verschiebung des Dürrediskurses .................................................................................... 269 8.3.4 Etablierung einer wahren Wissensordnung ........................................ 272 8.3.5 Stabilisierung über Integration ........................................................... 273 8.4 Zusammenfassung der Diskursanalysen: Festigung der dominanten Bearbeitungsweise über den Dürrediskurs ......... 274 9 KONSTITUTION VON SUBJEKT- UND SPRECHER_INNENPOSITIONEN ............................................................... 280 9.1 Konstitutionsbedingungen von Subjektivität ................................................ 281 9.1.1 „Ich ist ein Anderer“ .......................................................................... 283 9.1.2 Orte des legitimen Sprechens ............................................................. 284 9.2 Sprecher_innenpositionen im Dürrediskurs.................................................. 285 9.2.1 Zuweisung von Handlungsmacht und Opferrollen ............................ 285 9.2.2 Legitimierung und Inszenierung der (eigenen) Sprechposition ......... 288 9.3 Verortung der Subjektpositionen innerhalb des Dürredispositivs ................ 290 9.3.1 Vom Campesinato zum Produzententum ........................................... 291 9.3.2 Neuaushandlung von Geschlechterverhältnissen ............................... 293 9.4 Wissen als zentrales Anordnungskriterium .................................................. 296 10 MATERIALISIERUNGEN ........................................................................... 299 10.1 Zäune als Materialisierung von Machtverhältnissen .................................. 301 10.2 (Wasser)Infrastruktursysteme als Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen ............................................................. 305 10.2.1 Wasserinfrastruktursysteme in Ceará ................................................ 306 10.2.2 Die Flussableitung des Rio São Francisco ........................................ 307 10.2.3 ‚O Sertão vai virar mar‘ – Der Castanhão als Ort der Verheißung .. 310 10.2.4 Exklusion statt Integration ................................................................ 313 10.3 Territoriale Umstrukturierungen ................................................................. 315 11 PRAKTIKEN DER NATURANEIGNUNG UND DEREN (NICHT)INTENDIERTE FOLGEN .............................................................. 320 11.1 Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum ....................................... 321 11.2 Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse ....................................................... 326 11.3 Ökologische Auswirkungen und gesundheitliche Folgen .......................... 328 12 KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE: PRAKTIKEN DER REPRODUKTION UND DES WIDERSTANDES ...... 333 12.1 Partizipationsprozesse als Möglichkeitsraum für Reproduktion und Widerstand .................................................................................................. 334
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12.1.1 Repräsentation ................................................................................... 335 12.1.2 Autonomie und Entscheidungsmacht ................................................ 336 12.1.3 Wissensasymmetrien oder: Can the subaltern speak? ....................... 339 12.1.4 Verwaltung statt Gestaltung: Die Bestimmung der Wasserabflussmenge ....................................... 342 12.1.5 Partizipation als Herstellungsmechanismus von Hegemonie............ 347 12.2 Vielfältigkeit des Widerstandes .................................................................. 349 12.2.1 Mobilisierungen ................................................................................ 352 12.2.2 Direkte Aktionen ............................................................................... 358 12.2.3 Kampf um eine grundlegende Agrarreform ...................................... 360 12.2.4 Streiks ................................................................................................ 363 12.2.5 Widerstand gegen Vertreibungen ...................................................... 364 12.2.6 Indigener Widerstand ........................................................................ 369 12.3 Wissen als Grundlage der (Re)produktion von Machtverhältnissen .......... 372 12.3.1 Convivência com o semiárido ........................................................... 374 12.3.2 Educação contextualizada ................................................................ 375 12.3.3 Praktiken nachhaltiger Naturaneignung ............................................ 376 12.3.4 Solidarische Ökonomie ..................................................................... 380 12.4 Reaktionärer Widerstand: Kriminalisierung & Gewalt .............................. 383 12.4.1 Konflikte um Naturaneignung........................................................... 384 12.4.2 Praktiken der Gewalt ......................................................................... 386 12.5 Preguntando Caminamos ........................................................................... 387 FAZIT 13 DÜRRE MACHT GESELLSCHAFT ........................................................... 389 13.1 Das Dispositiv der Dürre im Nordosten Brasiliens .................................... 390 13.1.1 Hegemonialisierung der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur .. 392 13.1.2 (Nicht)intendierte Folgen der hegemonialen Inwertsetzungsstrategie ..................................................................... 400 13.1.3 Widersprüche als Erweiterung des Möglichkeitsraums .................... 402 13.2 Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis............................................... 404 14 LITERATUR ................................................................................................. 407
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28:
Verortung der globalen Wasserkrise über eine kartographische Darstellungsweise................................................................................. 34 Die (eigene) Sprechposition dekonstruieren (lassen) ........................... 44 Das Fremde und das Eigene ................................................................. 50 Kontextualisierung der Untersuchungsregion ...................................... 56 Situated Knowledge: Erklärungen, die auf unterschiedlichen Erfahrungen beruhen ............................................................................ 58 Dimensionen einer Dispositivanalyse .................................................. 71 Verweigerung als Widerstand .............................................................. 81 Carrancas in der Region des Rio São Francisco ............................... 112 Verantwortliche Personen für die Wasserversorgung pro Haushalt und Region (2005–2007) .................................................................... 117 Die brasilianischen Großregionen und die semiaride Region ............ 128 CÂNDIDO PORTINARI: Os Retirantes (1944) ....................................... 134 Klimaanomalie eines El Niño-Jahres ................................................. 137 Kolonisierung von Ceará über die Aufteilung von sesmarias ............ 147 ‚ANTONIO CONSELHEIRO‘, PADRE CÍCERO und LAMPIÃO als Protagonisten (Helden?) der Geschichte – Wandbild im Banco do Nordeste, Fortaleza............................................................................. 157 Finanzmittel der IOCS (IFOCS) 1909–1930 ..................................... 160 Ceará: Terra fértil de oportunidades................................................... 184 Carro Pipa in Ceará ............................................................................ 202 Formale Institutionalisierung der staatlichen Wasserpolitik im Bundesstaat Ceará .............................................................................. 210 Organisationsstruktur des Integrierten WasserressourcenManagements in Ceará ....................................................................... 212 Die Wassereinzugsgebiete in Ceará ................................................... 219 Programme des Wassermanagements ................................................ 230 Als negativ und als positiv konnotierte Bilder aus dem Diário do Nordeste (2008–2012) ........................................................................ 250 O Bispo que negou água (Der Bischof der Wasser verweigerte) ....... 268 Entwicklung der Besitzstrukturen in Ceará 1950–2006 ..................... 302 Zäune als unmittelbarer Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse............................................................................... 303 Raumstrukturen auf der Chapada do Apodi ....................................... 304 Die Kanäle des Ableitungsprojektes und schematische Darstellung der Baumaßnahmen ............................................................................ 309 Exklusion durch Gestaltung: Der Kanal der Integration .................... 312
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 29: Wassersituation bei den Wiederansiedlungen und Exklusion am Kanal der Integration................................................... 314 Abb. 30: Durchschnittliche Jahresniederschläge in Ceará zwischen 1974 und 2003 .................................................................... 316 Abb. 31: Wasserbilanz nach Wassereinzugsgebieten, Ceará ............................ 316 Abb. 32: Pole der Bewässerungslandwirtschaft und der Shrimpszucht in Ceará................................................................................................... 317 Abb. 33: Kartierung der Situation in den vom Agrobusiness umgebenen Gemeinden ......................................................................................... 321 Abb. 34: Verteilung der extremen Armut in Ceará (2010) ............................... 325 Abb. 35: Entwicklung des Agrarchemikalieneinsatzes in Brasilien 2005–2010 .......................................................................................... 329 Abb. 36: Ausbringung von Agrarchemikalien mit und ohne Schutzkleidung .. 330 Abb. 37: Palhano: Leben mit dem Kampf um Wasser ...................................... 344 Abb. 38: Palhano: Im toten Winkel der Wasserinfrastruktur ............................ 345 Abb. 39: Vielfalt des Widerstandes................................................................... 351 Abb. 40: Der Schrei der Ausgeschlossenen (2009)........................................... 354 Abb. 41: Selbstermächtigte Aneignung von Wasser als Widerstandsform ...... 359 Abb. 42: Tabuleiro de Russas: Produktionsweise der Gemeinden vs. monokultureller Anbau im Bewässerungsprojekt; eigene Kartierung der Gemeinden ................................................................. 366 Abb. 43: Convivência com o semi-árido (Biogasanlage, Samenbank, Mandala, Gemeinschaftsnutzug, Planengraben, Zistene) .................. 379 Abb. 44: Konflikte im ländlichen Raum Brasiliens (2003–2012) .................... 385 Abb. 45: Hegemonialisierung der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur ... 391 Abb. 46: Der Kanal der Integration als Spiegel gesellschaftlicher Widersprüche ...................................... 403
TABELLENVERZEICHNIS Tab. 1:
Neoliberale Reformen und Alternativen der globalisierungskritischen Bewegung .......................................................................... 109 Tab. 2: Wichtige internationale Wasserkonferenzen – Etappen zur Etablierung eines globalen IWRM ..................................................... 121 Tab. 3: Vorschläge zur Bearbeitung der Dürre in der semiariden Region (18.–20. Jh.)........................................................................................ 163 Tab. 4: Entwicklungsprogramme im ländlichen Nordosten der 1970er und 1980er Jahre ....................................................................................... 173 Tab. 5: Entwicklung der Bewässerungsfläche im Nordosten Brasiliens (1970–1980) ....................................................................................... 175 Tab. 6: Staatlich & privat finanzierte Staudämme der IOCS/IFOCS bzw. des DNOCS (1909–1981) .................................................................. 200 Tab. 7: Wassertarife in Ceará nach Sektoren ................................................. 227 Tab. 8: Investitionen im Wassersektor in Ceará im Rahmen von PAC und PAC2 ........................................................................................... 232 Tab. 9: Formal Beschäftigte in der Landwirtschaft im Nordosten (1985–2004) ....................................................................................... 295 Tab. 10: Tagesablauf eines Arbeiters von Del Monte ...................................... 327 Tab. 11: Vielfalt von Widerständen gegen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse ................................................................................ 350 Tab. 12: Praktiken nachhaltiger Naturaneignung im Sertão............................. 378
VERZEICHNIS DER TEXTBOXEN Textbox 1: Textbox 2: Textbox 3: Textbox 3:
Die dominante Beschreibung der globalen Wasserkrise.................... 33 ROSA LUBIA FALK GARCIA: Schatten in dem Land der Weißen ........ 54 Umriss einer Kulturgeschichte des Wassers .................................... 113 Das Klimaphänomen El Niño und seine Auswirkungen auf den Nordosten Brasiliens ........................................................................ 136 Textbox 4: Organisationen des Wassermanagements in Ceará.......................... 213 Textbox 5: Das Konzept des virtuellen Wassers ................................................ 318 Textbox 6: Zustandsanalyse (2009) ................................................................... 355
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ANA ANT ASA BNB CAC CBHSF CENTEC CEPAL CHESF CIC CNBB CODEVASF COGERH CPS CPT CVSF DNOCS DOU EES EMBRAPA EMBRATER FAFIDAM FAPIJA FIEC FINOR FPM FUNAI FUNCEME FUNORH GATS GEIDA GTDN GTZ IBGE IFOCS IHGB INCRA IOCS
Agência Nacional de Águas Akteur-Netzwerk-Theorie Articulação no Semi-Árido Brasileiro Banco do Nordeste do Brasil Cinturão das Águas do Ceará Comitê da Bacia Hidrogáfica do Rio São Francisco Instituto Centro de Ensino Tecnológico do Ceará Comissão Econômica para a América Latina Companhia Hidreléctrica do São Francisco Centro Industrial do Ceará Conferência Nacional dos Bispos do Brasil Companhia de Desenvolvimento dos Vales do São Francisco e do Paranaíba Companhia de Gestão dos Recursos Hídricos Conselhos de Participação da Sociedade Comissão Pastoral da Terra Comissão do Vale do São Francisco Departamento Nacional de Obras contra as Secas Departamento de Organização de Usuários Empreendimento Econômico Solidário Empresa Brasileira de Pesquisa Agropequária Empresa Brasileira de Assistência Técnica de Extensão Rural Faculdade de Filosofia Dom Aureliano Matos Federação das Associações do Perímetro Irrigado JaguaribeApodi Federação das Indústrias do Estado do Ceará Fundo Industrial do Nordeste Fundo de Participação dos Municipios Fundação Nacional do Índio Fundação Cearense de Meterologia e Recursos Hídricos Fundo Estadual de Recusos Hídricos General Agreement on Trade in Services Grupo Executivo de Irrigação e Desenvolvimento Agrário Grupo de Trabalho para o Desenvolvimento do Nordeste Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística Inspetoria Federal de Obras Contra as Secas Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária Inspetoria de Obras Contra as Secas
Abkürzungsverzeichnis
IRPAA IWF IWRM KfW MAB MST NGO P 1+2 P1MC PAC PAPP PLANERH PMDB PMSS PND POLONORDESTE PPI PPP PROCEAGRI PRODES PRODHAM PROGERIRH Projeto Sertanejo PRONAF PROURB PSJ PT RSA SDA SIGERH SINGERH SOHIDRA SRH SUDENE UECE UFC UNIFOR
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Instituto Regional da Pequena Agropecuária Apropriada Internationaler Währungsfonds Integrated Water Resources Management Kreditanstalt für Wiederaufbau Movimento dos Atingidos por Barragens Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra Nichtregierungsorganisationen Programa uma Terra e Duas Águas Programa 1 Milhão de Cisternas Programa de Aceleração do Crescimento Programa de Apoio aos Pequenos Produtores Rurais Plano Estadual de Recursos Hídricos Partido do Movimento Democrático Brasileiro Programa de Modernização do Setor Saneamento Plano Nacional de Desenvolvimento Programa de Desenvolvimento de Áreas Integradas do Nordeste Programa Plurianual de Irrigação Private Public Partnership Programa Cearense de Agricultura Irrigada Programa Despoluição de Bacias Hidrográficas Projeto de Desenvolvimento Hidroambiental Programa de Gerenciamento e Integração dos Recursos Hídricos Programa Especial de Apoio ao Desenvolvimento da Região Semi-Árida do Nordeste Programa de Fortalecimento da Agricultura Familiar Projeto de Desenvolvimento Urbano e Gestão dos Recursos Hídricos Projeto São José Partido dos Trabalhadores Região Semi-árida Secretaria do Desenvolvimento Agrário do Ceará Sistema Integrado de Gestão dos Recursos Hídricos Sistema Nacional de Gerenciamento de Recursos Hídricos Superintendência de Obras Hidráulicas Secretaria dos Recoursos Hídricos Superintendência do Desenvolvimento do Nordeste Universidade Estadual do Ceará Universidade Federal do Ceará Universidade de Fortaleza
ZUSAMMENFASSUNG In einer semiariden Region wie dem ländlichen Raum im Nordosten Brasiliens stellt das Vorhandensein bzw. das Nicht-Vorhandensein von Wasser ein zentrales Element der gesellschaftlichen Naturverhältnisse dar. Über die Kontrolle des Zugangs zu und der Nutzung von Wasser wird gesellschaftliche Teilhabe geregelt und werden wirtschaftliche und politische Machtverhältnisse hergestellt und manifest. Gleichzeitig werden bestimmte Niederschlagsverhältnisse über Besitzstrukturen, Produktionsweisen, Infrastruktureinrichtungen und institutionelle Regelungen in Dürreverhältnisse für unterschiedliche Regionen und einzelne gesellschaftliche Gruppen transformiert. Indem Dürre in der vorliegenden Arbeit als gesellschaftliches Naturverhältnis begriffen und indem die Hervorbringung eines Dispositivs der Dürre, insbesondere in der Region Baixo Jaguaribe im Bundesstaat Ceará im Nordosten Brasiliens, untersucht wird, können die miteinander verwobenen Prozesse der gesellschaftlichen Produktion von Natur und der Naturalisierung sozialer Verhältnisse aufgezeigt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Untersuchung der diskursiven Rahmung der Dürre, die in erster Linie als Ursache für die Armutsverhältnisse und die ‚Rückständigkeit‘ des Nordostens verhandelt wird. Innerhalb eines modernistischen Diskurses von Fortschritt und der Beherrschbarkeit von Natur werden der Ausbau großer Wasserinfrastrukturprojekte – wie etwa die Flussableitung des Rio São Francisco – und die Expansion der Bewässerungslandwirtschaft zu legitimen Lösungsansätzen der Dürreproblematik erhoben. Indem Wasser zu einer knappen und wirtschaftlich wertvollen Ressource erklärt wird, wird eine möglichst effiziente und gewinnmaximierende Nutzung des Wassers als Handlungsmaxime festgeschrieben. Anhand der Analyse des Dispositivs der Dürre kann gezeigt werden, welche Sprech- und Subjektpositionen über den Diskurs zur Verfügung gestellt werden und wie über die institutionelle Ordnung eines Integrativen WasserressourcenManagement und die Materialisierung des Diskurses über Staudämme und Kanäle Machtverhältnisse auf Dauer gestellt und Ungleichheitsverhältnisse reproduziert werden. Gleichzeitig wird danach gefragt, über welche Praktiken des Widerstandes das hegemoniale Modell der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur aufgebrochen und welche alternativen Projekte der Naturaneignung zur Verfügung gestellt werden.
SUMMARY The existence or absence of water represents a central element of society-nature relationships especially in a semi-arid region such as the rural area in northeast Brazil. Social participation and economic and political power relationships are produced by the control of the access and the use of water. At the same time ownership structures, modes of production, infrastructure and institutional arrangements transform certain variations in precipitation into drought conditions which affect different regions and social groups. The present work understands drought as a society-nature relationship and analyses the creation of a drought dispositive, particularly in the Baixo Jaguaribe Region in the state of Ceará in northeast Brazil. Through this it is possible to show the interwoven processes of the societal production of nature and the naturalization of social relationships. The main focus is on the study of the discursive framing of the drought, which is primarily negotiated as a cause of poverty conditions and the ‚backwardness‘ of the Northeast. Within a modernist discourse of progress and the mastery over nature, large water infrastructure projects, like the transfer of the São Francisco River and the expansion of the irrigation agriculture, become legitimate solutions to the constituted drought problem. By defining water as a scarce and economically valuable resource, an efficient and profit-maximizing use of water is established as a guiding principle. By analysing the drought-dispositive, it is possible to show what kind of subject positions are made available by the discourse and which position becomes hegemonial. Furthermore it can be illustrated how power relations and inequalities are reproduced by the establishment of an Integrated Water Resource Management and by the materialization of the discourse through water infrastructure (dams, channels etc.). At the same time the study considers practices of resistance to break the hegemonic model of the capitalistic valorisation of nature and examines alternative projects that provide different modes of the appropriation of nature.
VORWORT „Für manche bedeutet, ein Buch zu schreiben, stets, etwas zu wagen. Zum Beispiel, es nicht zu schaffen, es zu schreiben. Wenn man vorweg schon weiß, wo man ankommen will, dann fehlt eine Dimension der Erfahrung, nämlich die, welche ebendarin besteht, ein Buch zu schreiben, bei dem man Gefahr läuft, nicht zum Abschluss zu kommen“ (FOUCAULT 2007: 280).
Dieses „Buch“ zu schreiben war für mich tatsächlich eine besondere Erfahrung und es war lange nicht sicher, ob es auch zum Abschluss – sprich zur Publikation – kommen wird. Ständig haben sich neue Termine, Verpflichtungen und andere Veröffentlichungen dazwischen geschoben, sodass sich die Abgabe des Manuskriptes an den Verlag immer wieder verschoben hat. So sind drei Jahre vergangen, in denen sich auch in Brasilien und in der zentralen Untersuchungsregion der Studie vieles ereignet und einiges verändert hat. Nach 14 Jahren PT-Regierung wurde die Nachfolgerin des überaus populären Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, Dilma Rousseff, im August 2016 durch ein umstrittenes Amtsenthebungsverfahren aus dem Amt gedrängt. Seitdem ist die brasilianische Gesellschaft so gespalten wie seit der Redemokratisierung Ende der 1980er Jahre nicht mehr. Der Nationalkongress wird mittlerweile von einer Fraktion aus Vertreter_innen des Agrobusiness, der Sicherheitsindustrie und der evangelikalen Kirchen (Boi, Bala, Bíblia) dominiert, und viele soziale Bewegungen ringen – nach jahrzehntelanger (zu) großer Nähe zum politischen Machtsystem – um eine Neupositionierung. Während die Dürre im Nordosten Brasiliens zur Zeit meiner Erhebungen und Feldforschungen in erster Linie ein diskursives Narrativ und ständiges Bedrohungsszenario darstellte, Stauseen wie der Castanhão jedoch zu fast 100% gefüllt waren, lagen die Niederschlagswerte seit 2012 bei nur 20–50% der langjährigen Durchschnittswerte. In den Staubecken im Bundesstaat Ceará befinden sich zurzeit (Februar 2017) lediglich 6% der maximalen Wasserspeicherkapazität. In 129 Munizipien (70%) wurde mittlerweile der Notstand ausgerufen, und für viele ländliche Gemeinden stellt der Carro Pipa, der Wassertanklastwagen, die wichtigste, manchmal sogar die einzige Wasserquelle dar (Diário do Nordeste 2016c). Die Dürre als reale Bedrohung der Lebensverhältnisse vor allem der ländlichen Bevölkerung ist in den Nordosten Brasiliens zurückgekehrt. Doch trotz der anhaltenden Dürreperiode und der bedrohlichen Vorhersagen für die Niederschlagsentwicklung im Jahr 2017 (Diário do Nordeste 2017b) wird weiterhin auf ein neoliberales, exportorientiertes Entwicklungsmodell und eine auf Monokulturen basierte Bewässerungslandwirtschaft gesetzt. Trotz der Wasserknappheit war 2016 der Landwirtschaftssektor der einzige Wirtschaftsbereich in Ceará, der positive Wachstumsraten zu verzeichnen hatte (Diário do Nordeste 2016b). So wird nach wie vor Wasser für die Bewässerung der Obstplantagen freigegeben und werden neue Tiefbrunnen für die Erschließung des Grundwassers
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gebohrt, um die Obstproduktion für den Export weiter gewährleisten und eine Abwanderung der Unternehmen der Agrarindustrie verhindern zu können. Das Projekt der Flussableitung des Rio São Francisco, das größte und umstrittenste Projekt zur Bekämpfung der Dürre im Nordosten Brasiliens, das ursprünglich auch den Ausgangspunkt für meine Untersuchungen darstellte, ist nach wie vor noch nicht fertig gestellt. Der Abschluss der Bauarbeiten, der ursprünglich für 2012 vorgesehen war, wird mittlerweile auf Ende 2017 datiert, während sich die Baukosten von veranschlagten 4,5 Mrd. R$ auf 9,6 Mrd. R$ mehr als verdoppelt haben (Diário do Nordeste 2016a) – Großprojekte in Berlin, Hamburg oder Stuttgart lassen grüßen. Doch selbst bei einer Fertigstellung des Ableitungsprojektes wäre eine ausreichende Wasserversorgung der nördlichen Bundesstaaten nicht garantiert. Denn aufgrund der geringen Niederschläge der letzten fünf Jahre hat auch der Rio São Francisco historisch niedrige Wasserstände zu verzeichnen. Besonders dramatisch erschien die Situation im September 2014, als zum ersten Mal seit der Kolonialisierung der Region die Quelle des Rio São Francisco austrocknete. Während die industrialisierte Landwirtschaft weiterhin mit ausreichend Wasser versorgt wird, wird über Kampagnen wie ‚faça xixi no banho‘ (‚pinkel in die Dusche‘) und über die Einführung von erhöhten Tarifen für Privathaushalte, die es nicht schaffen, ihren Wasserverbrauch um mindestens 20% zu reduzieren (tarifa de contingência), versucht, den Wasserkonsum der privaten Nutzer_innen in Ceará zu senken. Dadurch werden jedoch letztendlich die strukturellen Ursachen der Wasserkrise verschleiert und die Kosten weiter individualisiert. Dringend notwendige Veränderungen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, insbesondere auch der Besitz- und Produktionsverhältnisse, und eine Ausweitung von alternativen Produktionsformen (convivência com o semi-árido), wie sie auch in dieser Arbeit eingefordert werden, werden dadurch nicht in Angriff genommen. Gerade aufgrund der Bilder von ausgetrockneten Seen und verendeten Tieren, welche die Berichterstattung über den Nordosten wieder dominieren, scheint der Zusammenhang zwischen physischen Bedingungen und sozialen Verhältnissen offensichtlich zu sein. Dadurch werden, trotz aktuell hitziger Debatten um Korruption und Vetternwirtschaft in Brasilien und trotz zahlreicher Veröffentlichungen zu Coronelismo und der Dürreindustrie (indústria da seca), die Niederschlagsverhältnisse nach wie vor ungebrochen als bestimmende Ursache für die sozialen Verhältnisse im Nordosten Brasiliens benannt. Die vorliegende Arbeit ist demnach keine Studie über die aktuelle Situation der Dürre im Nordosten Brasiliens – und wollte es auch nie sein. Sie ist jedoch in dem Sinne aktuell, als dass in ihr grundlegende Fragen über den Zusammenhang von scheinbar natürlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Verhältnissen aufgeworfen werden. Dabei werden die bestehenden Verhältnisse – auch vermeintlich natürliche Verhältnisse wie etwa eine Dürre – nicht einfach als gegeben angenommen, sondern als historisch gewachsen und gesellschaftlich hergestellt und insofern immer auch als veränderbar verstanden. Ein Aufbrechen von linearen Kausalitäten und eine De-Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist
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somit dringend erforderlich, um die Dürreverhältnisse im Nordosten Brasiliens und ihre beharrliche Permanenz im 21. Jahrhundert verstehen zu können. Somit ist das Ziel der Studie, eine theoretisch fundierte Analyse der Zusammenhänge vorzulegen, die auch längerfristig Bestand hat. Mit Hilfe einer Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen (poststrukturalistische Konzepte, Diskurstheorie, politische Ökologie) können die Dürreverhältnisse im Nordosten Brasiliens nicht nur aus einem bestimmten Blickwinkel heraus beleuchtet und dadurch neu verstehbar gemacht werden. Vielmehr lassen sie sich dadurch auch von den konkreten lokalen Bedingungen abstrahieren und sind (bis zu einem bestimmten Grad) auch auf andere Regionen übertragbar. Indem die Dürre in dieser Arbeit als Dispositiv verstanden wird, kann die Vielschichtigkeit des Phänomens benannt und analysiert werden, ohne sie dabei auf eine materielle, handlungstheoretische oder diskursiv-symbolische Dimensionen zu reduzieren. Doch nicht nur in Brasilien hat sich einiges verändert – auch ich habe mich in den letzten Jahren weiter entwickelt und neue Erkenntnisse und Einsichten gewonnen. Heute würde ich den ein oder andere Satz sicherlich etwas anders formulieren und den einen oder anderen Schwerpunkt etwas anders setzen. Gerade aufgrund einer intensiven Auseinandersetzung mit post- und dekolonialen Theorien stellen sich Fragen nach einer Forschung im Globalen Süden aus einer weißen, männlichen und europäischen Position heraus noch einmal stärker und grundlegender, als sie in der Konzipierung und Durchführung der vorliegenden Studie aufscheinen. Aber auch das ist Teil des Prozesses, der zu dieser Studie geführt hat, der mit ihr jedoch keinesfalls abgeschlossen ist. Denn schreiben bedeutet immer auch, sich zu entwickeln. Dieses „Buch“ zu schreiben stellte somit immer auch ein Wagnis im Sinne Foucaults dar, das ohne die tatkräftige Hilfe und zahlreiche Unterstützung so vieler Menschen sicherlich nicht zum Abschluss gekommen wäre. Insofern möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die auf irgendeine Art und Weise in den Prozess dieser Dissertation involviert waren. Und auch wenn eine Benennung immer auch die Gefahr des Verschweigens bzw. des Ausschlusses beinhaltet, möchte ich mich insbesondere bei denjenigen bedanken, denen ich auf meinen Streifzügen durch Brasilien begegnet bin, die mir ihre Zeit geschenkt und die mit mir ihr Wissen und ihre Sichtweisen geteilt haben, die mir ihr Haus geöffnet und Kaffee angeboten haben, die mich für eine oder mehrere Nächte aufgenommen haben und in deren Hängematte ich schlafen durfte. Stellvertretend für so viele seien hier nur Francisco Rosângelo Marcelino da Silva, Diego Gadelha de Almeida, Sergiano Lima de Araújo, Maria Pastora, Regilvânia Mateus, Padre Júnior, Hidelbrando dos Santos Soares, Raquel Rigotto, Osarina Lima (und Familie), Ruben Siqueira und Andrea Zellhuber genannt. Ganz besonders möchte ich mich bei Zé Maria bedanken, der für mich und viele andere immer eine verlässliche Ansprechperson war, und der sich trotz zahlreicher Morddrohungen unermüdlich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen auf der Chapada do Apodi eingesetzt hat, wofür er letztendlich mit seinem Leben bezahlen musste. Am 21. April 2010 wurde er mit 19 Kugeln hingerichtet, was auch als Warnung für alle, die sich gegen die bestehenden (Macht)Strukturen in der Regi-
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on zur Wehr setzen, gedacht war. Bis heute wartet seine Familie vergebens darauf, dass seine Mörder_innen und deren Auftraggeber_innen zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden. Ganz besonders ihm und dem Gedenken an seinen furchtlosen Kampf ist diese Arbeit gewidmet. Bedanken möchte ich mich auch bei allen, die mich in den letzten Jahren bei meinem Forschen und Suchen begleitet und unterstützt haben. Insbesondere bei Martin Coy, der mir in Innsbruck überhaupt erst ermöglicht hat, diese Dissertation zu schreiben, der mich mit seiner Kritik begleitet und mir dennoch immer die Freiheit gelassen hat, meinen Weg zu gehen; bei Tobias Töpfer, auf den ich mich immer verlassen konnte, und ohne dessen Korrekturen und Hinweise diese Arbeit sicherlich nicht so leserlich geworden wäre; bei Katrin Singer für ihre kritischen Kommentare und insbesondere das aufbauende Stempelsystem; bei Jakob Kroneck, für die graphische Unterstützung bei den Karten; bei Markus Wissen und Klemens Laschefski, die trotz ihres knappen Zeitbudgets die Gutachten übernommen haben; bei Martina Neuburger, die einen großen Anteil daran hat, dass ich überhaupt in der Wissenschaft geblieben bin und die mir Wege aufgezeigt hat, wie Wissenschaft auch gestaltet werden kann; bei den Arbeitsgruppen in Innsbruck und Hamburg für die gute Zeit und die zahlreichen Diskussionen, die ebenfalls in die Arbeit eingeflossen sind; und bei Tim Neufert, von dessen Dissertation über die „Macht der Dürre“ ich erst nach der Fertigstellung meiner Arbeit erfahren habe, der sich aber die Mühe gemacht hat, die komplette Arbeit Korrektur zu lesen und von dessen Anmerkungen und Anregungen insbesondere die Ausführungen zu den historischen Entwicklungen ungeheuer profitiert haben. Ein besonderer Dank gilt dem Vizerektorat für Forschung der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck und dem Exzellenzcluster CliSAP der Universität Hamburg für die finanzielle Unterstützung der Publikation. Bedanken möchte ich mich auch bei der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung für die Verleihung des ADLAF-Preises (2014), durch den die Publikation eine weitere Finanzspritze erhalten hat. Mein Dank gilt auch dem Franz Steiner Verlag und insbesondere Susanne Henkel und Harald Schmitt für die anhaltende und immer freundliche Unterstützung trotz des doch etwas längeren Prozesses. Und nicht zuletzt möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich auch jenseits des akademisches Betriebes unterstützt und begleitet haben, insbesondere bei meinen Eltern, die mir diesen Weg ermöglicht und die immer daran geglaubt haben, dass diese Arbeit einen Abschluss finden wird, bei all den Freund_innen in Innsbruck, Tübingen, Bremen, Hamburg und Lüneburg, die mit mir geteilt und mich mit anderen Realitäten konfrontiert haben, die mich aufgebaut und abgelenkt haben, für die ich keine Zeit hatte und die trotzdem wieder nachgefragt haben, die da waren und da sind. Danke, valeu! Hamburg, im Februar 2017
1. EINLEITUNG Die Benennung von Natur als Ressource und der Verweis auf die Knappheit von Ressourcen als Ursache von Konflikten und als Gefahr für das bestehende Entwicklungs- und Wohlstandsmodell gehören sicherlich zu den großen Erzählungen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Innerhalb dieser Erzählung wird auch Wasser als Ressource bezeichnet, deren Knappheit für Dürren, Armut, Hunger und Kriege verantwortlich gemacht wird. Wasserknappheit wird dabei als ‚natürliches‘ Ereignis begriffen, das weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen existiert und von außen auf diese einwirkt. Die gängige Vorstellung von knappen natürlichen Ressourcen beruht auf der Dichotomisierung zwischen Natur und Kultur (bzw. Gesellschaft) und der Annahme der Existenz von natürlichen Grenzen. Natur wird dabei zu dem Anderen der Kultur gemacht, das angeeignet, beherrscht und in Wert gesetzt werden kann. Die Beschäftigung mit dem Thema Wasser zeigt jedoch die Begrenztheit eines solch dichotomen Naturverständnisses auf. Wasser ist nicht nur ein Naturstoff, der bei fast allen Stoffwechselvorgängen und bei den meisten geologischen und ökologischen Prozessen eine zentrale Rolle spielt. Vielmehr stellt Wasser eine Grundlage für viele ökonomische Produktionsprozesse dar, wird in unzähligen Kulturen, Religionen und Mythologien als zentrales Symbol verwendet und ist eine elementare Bedingung für die Entstehung und Existenz allen Lebens. Letztendlich besteht auch der menschliche Körper überwiegend aus Wasser, sodass der Mensch dem Wasser nie als souveränes Subjekt gegenüber treten kann. Vielmehr ist der Mensch „dem Wasser gegenüber [...] immer zugleich Subjekt und Objekt“ (BÖHME 1988: 16). Auch unsere Sinne, wie das Sehen, Riechen, Hören, Schmecken und Fühlen, die als Grundlage unserer Wahrnehmung verstanden werden können, sind auf das Engste mit der Existenz von Wasser verwoben (ebd. S. 19). Somit verweist Wasser unweigerlich über ein dichotomes Mensch-Naturverständnis hinaus und fordert zu einer umfassenden Konzipierung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen heraus. Auch die als Naturkatastrophen bezeichneten Ereignisse wie beispielsweise der Hurrikan Katrina (2005), die Überschwemmungen in Mitteleuropa (2013), die Dürre am Horn von Afrika (2011) oder die anhaltende Dürre im Nordosten Brasiliens (2012–2013) machen sowohl auf die Bedeutung des Wasserthemas, als auch auf die gegenseitige Bedingtheit von natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen aufmerksam. Wenn jedoch solche Katastrophen nicht als der Gesellschaft äußerliche Ereignisse, sondern als Produkte aus klimatischen Bedingungen, geomorphologischen Verhältnissen, Siedlungs- und Sozialstrukturen, Besitz- und Machtverhältnissen etc. konzipiert werden, können die Verwobenheiten der Mensch-NaturBeziehungen untersucht und ein tiefer gehendes Verständnis der Ursachen- und Wirkungszusammenhänge herausgearbeitet werden.
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1. Einleitung
Um die Komplexität solcher Beziehungen in den Blick nehmen und um soziale Strukturen und Prozesse in ihrer unweigerlichen Verbundenheit mit naturräumlichen Bedingungen analysieren und verstehen zu können, wurde in der vorliegenden Arbeit der Ansatz der gesellschaftlichen Naturverhältnisse gewählt (s. Kap. 4.2). Der Ansatz, der der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entstammt und vor allem innerhalb der Politikwissenschaften Verwendung findet (GÖRG 2003; BRAND & GÖRG 2003; WISSEN 2011), soll anhand eines konkreten empirischen Beispiels – den Dürreverhältnissen im Nordosten Brasiliens – für eine geographische Mensch-Natur-Forschung fruchtbar gemacht werden. Über die Integration von diskurs- und machttheoretischen Überlegungen, die sich insbesondere auf die Arbeiten von MICHEL FOUCAULT stützen (s. Kap. 3), und durch die Anwendung von diskurs- und dispositivanalytischen Methoden, soll das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse aus einer poststrukturalistischen Sichtweise interpretiert werden. Dabei stehen nicht die Analyse von bestehenden Problemen und die Suche nach möglichen Lösungsvorschlägen im Vordergrund der Arbeit. Vielmehr fokussieren die Untersuchungen auf die Bedingungen der Hervorbringung spezifischer gesellschaftlicher Naturverhältnisse und auf die Prozesse ihrer Reproduktion und den Möglichkeiten der Transformation. Wasserknappheit wird insbesondere über internationale Organisationen – wie die Vereinten Nationen oder die Weltbank – aber auch über eine akademische Wissensproduktion überwiegend als globale Wasserkrise thematisiert (s. Kap. 2.1). Doch trotz der Benennung als ‚globale Krise‘ wird diese vor allem in den Ländern des Globalen Südens verortet und als Problem von Unterentwicklung dargestellt. Dabei deuten sämtliche Prognosen und Statistiken darauf hin, dass sich die Wassersituation für Milliarden von Menschen in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zuspitzen wird. Als einer der Lösungsansätze wurde insbesondere von der Weltbank das Konzept des Integrierten Wasserressourcen-Managements (IWRM) entwickelt (s. Kap. 4.4.5), das seit den 1990er Jahren weltweit implementiert wird. Dadurch soll ein dezentrales und partizipatives Management der als knapp definierten Ressource Wasser ermöglicht werden, das – flankiert mit der Einführung von Marktmechanismen – zu einer effizienten Wassernutzung führen soll. Für eine theoriegeleitete Auseinandersetzung mit den dominanten Erzählungen und Lösungsstrategien stellt das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse eine Sichtweise zur Verfügung, mit der die Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen beleuchtet werden können. Insbesondere kann dabei herausgearbeitet werden, inwiefern lokale und globale Ungleichheitsstrukturen und Machtverhältnisse in gesellschaftliche Naturverhältnisse eingeschrieben sind und wie sie über diese fortgeschrieben werden. Besitzverhältnisse und der Zugang zu Land und Wasser können dabei als Produkte einer (post)kolonialen Geschichte der Aneignung von Natur gelesen werden, die auf der Ausbeutung von Natur und Menschen und der Exklusion einer Mehrheit der Bevölkerung beruht. Gleichzeitig können die Herstellung von landwirtschaftlichen Produkten für den Weltmarkt und der damit verbundene Export von Wasser als Praktiken angesehen werden, die unmittelbar
1.1 Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens
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mit den Lebens- und Konsumgewohnheiten im Globalen Norden verbunden sind und somit zur Herstellung von Dürreverhältnisse im Globalen Süden beitragen. Indem in der vorliegenden Arbeit gesellschaftliche Naturverhältnisse in einer Region des Globalen Südens behandelt werden, stellt sie somit auch einen Beitrag zu einer geographischen Entwicklungsforschung dar, ohne sich explizit darin zu verorten. Jedoch verweisen die Integration der Region in den Weltmarkt, die Rolle von internationalen Organisationen und Multinationalen Unternehmen oder auch der in Brasilien wirkmächtige Fortschrittsdiskurs auf postkoloniale und globale Zusammenhänge, die benannt und auf ihre lokalen Auswirkungen hin untersucht werden müssen. Letztendlich bedeutet Forschen im Globalen Süden immer auch eine Auseinandersetzung mit globalen Machtverhältnissen und verlangt nicht zuletzt eine Positionierung der eigenen Forschungstätigkeit und der eigenen Person (s. Kap. 2.3). 1.1 DIE GESELLSCHAFTLICHEN NATURVERHÄLTNISSE IM NORDOSTEN BRASILIENS Für die Untersuchung der Bedeutung spezifischer Aneignungsweisen von Natur bei der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse wurde der Nordosten Brasiliens, insbesondere die Region Baixo Jaguaribe im Nordosten des Bundesstaates Ceará, als Untersuchungsregion gewählt. Seit der Kolonisierung Brasiliens durch die Europäer wurde der Nordosten über den Anbau von Zuckerrohr an den Küsten und eine extensive Rinderweidewirtschaft im Hinterland (Sertão) angeeignet und als Rohstofflieferant in das internationale Handelssystem integriert. Aufgrund des auf Sklavenarbeit ausgerichteten Produktionssystems und spezifischer Regelungen der Vergabe von Land entlang von Machtstrukturen (sesmaria) entwickelte sich eine stark hierarchisierte und stratifizierte Gesellschaftsstruktur heraus. Dabei standen wirtschaftliche und politische Macht und gesellschaftliche Teilhabe immer in einem engen Wechselverhältnis mit dem Zugang zu und der Verfügung über Land und Wasser. Durch die natürlichen Bedingungen einer semiariden Region wurde insbesondere der Zugang zu Wasser zu einem entscheidenden gesellschaftlichen Machtfaktor. Große Dürreereignisse wurden zu Kristallisationspunkten der Entstehungsgeschichte des Nordostens, durch die der Nordosten als einheitliche Region wahrgenommen und die Verbindung zwischen natürlichen Bedingungen, Armut und Rückständigkeit verfestigt wurde. Somit wurde die Dürre zu einem konstitutiven Element der Entstehung des Nordostens (s. Kap. 5). Indem in Kapitel 6 die Geschichte des Nordostens aus dem Blickwinkel der gesellschaftlichen Naturverhältnisse erzählt wird, können die Verbindungen zwischen den diskursiven und nicht-diskursiven Aneignungsweisen von Natur und der Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse nachgezeichnet werden. Damit kann auch der Frage nachgegangen werden, warum insbesondere im Nordosten postkoloniale Ungleichheitsverhältnisse bis heute fortbestehen und wie die langen
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Kontinuitäten des als Coronelismo bezeichneten Systems reziproker Machtverhältnisse (s. Kap. 6.5) zu erklären sind. Im Zuge dieser Analyse wird Dürre jedoch nicht als rein natürliches Phänomen beschrieben, sondern als Produkt aus Niederschlagsverhältnissen, Diskursen, Produktionsweisen, Besitzverhältnissen und Umgangsweisen. Über die Genealogie der gesellschaftlichen Naturverhältnisse kann somit herausgearbeitet werden, welche Wissensordnungen sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchgesetzt und die gesellschaftlichen Bearbeitungsweisen der Dürre bestimmt haben und wie darüber Niederschlagsverhältnisse in Dürreverhältnisse transformiert wurden. Insbesondere durch den in Brasilien wirkmächtigen Diskurs des Positivismus hat sich eine wissens- und technologiebasierte Strategie der Naturbeherrschung herausgebildet, durch die der Bau großer Wasserinfrastrukturprojekte und somit die Erhöhung der Wassersicherheit zum zentralen Lösungsansatz wurde. Bis heute ist die Idee der Beherrschbarkeit der Natur fest im Dürrediskurs verankert. Jüngstes Beispiel stellt das Projekt der Flussableitung des São Francisco, dem drittgrößten Fluss Brasiliens, dar. Jedoch hat sich das Megaprojekt, dessen Ideengeschichte bis in die Kaiserzeit zurückreicht, zu dem umstrittensten Großprojekt im Nordosten entwickelt. Anhand der Auseinandersetzungen um das Ableitungsprojekt können die Bruchlinien innerhalb des Dürrediskurses und aktuelle Auseinandersetzungen und Konflikte um die gesellschaftlichen Naturverhältnisse herausgearbeitet werden (Kap. 8). Durch den massiven Ausbau der Wasserinfrastruktur, insbesondere durch den Bau zahlreicher Staudämme, steht im Nordosten eine größere Wasserspeicherkapazität zur Verfügung als in jeder vergleichbaren semiariden Region der Welt. Dennoch führten und führen die regelmäßig auftretenden Dürreereignisse immer wieder zu verheerenden Auswirkungen auf die Landwirtschaft, die Viehzucht und die Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung. Auch momentan erlebt der Nordosten Brasiliens eine der schlimmsten Dürren der letzten 50 Jahre. Nach dem Dürrejahr 2012 fiel im Bundesstaat Ceará im ersten Halbjahr 2013 weniger als die Hälfte der sonst üblichen Niederschlagsmenge (FUNCEME 2013; AGÊNCIA BRASIL 2013a). Über 90% der Munizipien der semiariden Region und somit rund 22 Mio. Menschen sind momentan von der anhaltenden Dürre betroffen, während allein in Ceará in 175 Munizipien der Notstand ausgerufen wurde (AGÊNCIA BRASIL 2013b). Dennoch bleiben die sonst üblichen Reaktionen auf die Dürre, die das Bild des Nordostens in der Vergangenheit so eindrücklich geprägt haben, weitestgehend aus. Weder sind große Migrationsströme in die Städte, noch Plünderungen von Lebensmittelgeschäften oder Belagerungen von Bundesstraßen zu verzeichnen. Zwar kommt es aufgrund der Dürre zu einem massenhaften Rindersterben, doch die Menschen im ländlichen Raum scheinen nicht zuletzt durch die staatlichen Umverteilungsprogramme wie Bolsa Família und Garantia Safra und den intensiven Einsatz von Wassertanklastwagen die Auswirkungen der Dürre kompensieren zu können. Anfang Juni 2013 kündigte die Bundesregierung zur akuten Dürrebekämpfung die Aufstockung der Hilfszahlungen und die weitere Verteilung von Lebensmitteln und Plastikzisternen an (AGÊNCIA BRASIL 2013a; PEIXOTO 2013).
1.1 Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens
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Auf die Agrarproduktion wirkt sich die Dürreperiode allerdings recht unterschiedlich aus. Während die Getreideernte in Ceará 2012 im Vergleich zum Vorjahr um 56% einbrach, stiegen die Exportgewinne von Obst aus der Bewässerungslandwirtschaft sogar noch von 102 Mio. US$ auf 108 Mio. US$ um fast 6 % an. Auch für das Jahr 2013 werden trotz der geringen Niederschläge gute Ernteergebnisse bei der Obstproduktion erwartet. Somit scheint der Obstanbau auf Bewässerungsbasis zum Rettungsanker für die Agrarproduktion in Ceará zu werden: „Esta expansão na fruticultura, em plena seca, mostra que a irrigação vem se desenvolvendo e salvando a produção em diversas regiões do Ceará 1“ (Bringel in Leite & Áquila 2013). Wurde demnach aus den Dürreereignissen der Vergangenheit gelernt? Können die Strategie der Wasserakkumulation und der Ausbau der Wasserinfrastruktur, wie beispielsweise das Ableitungsprojekt des Rio São Francisco, als erfolgreiche und unausweichliche Maßnahmen der Dürrebekämpfung bezeichnet werden? Stellt die weitere Inwertsetzung der Natur, insbesondere die Ausweitung der exportorientierten Bewässerungslandwirtschaft, somit eine adäquate Lösungsstrategie für die Probleme im Nordosten dar? Konnten über die Einführung des Integrierten Wasserressourcen-Managements Machtverhältnisse aufgebrochen und der Zugang zu Wasser dadurch demokratisiert werden? Oder stellen die kurzfristigen Hilfsprogramme und Verteilungsmaßnahmen nicht viel eher eine Fortsetzung der Logik der Dürreindustrie dar? Weist der massive Einsatz von Wassertanklastwagen nicht sogar darauf hin, dass der Ausbau großer Wasserinfrastrukturprojekte an den grundlegenden Verhältnissen, insbesondere dem Zugang zu Wasser für die verstreut lebende Bevölkerung, nichts verändert? Verhindert die Verteilung von Plastikzisternen nicht vielmehr die Umsetzung von selbstermächtigenden Maßnahmen dezentraler Wasserversorgung, wie den gemeinschaftlichen Bau von gemauerten Zisternen? Und verweisen nicht gerade die Gewinne der Exportlandwirtschaft in Dürrezeiten auf die ungleiche Verteilung von Wasser zwischen Agrobusiness und Kleinbauern? Können sie nicht auch als Hinweise auf die Mechanismen der Produktion von Dürreverhältnissen durch den Export virtuellen Wassers gedeutet werden? Indem in der vorliegenden Arbeit die aktuelle Bearbeitungsweise der Dürre untersucht und die ihr zugrunde liegende Wissensordnung herausgearbeitet wird, sollen Antworten auf diese Fragen zur Verfügung gestellt werden. Hauptaugenmerk der Untersuchungen liegt dabei vor allem auf den Strukturen, Prozessen und Praktiken, durch die Niederschlagsverhältnisse für bestimmte Regionen und gesellschaftliche Gruppen in Dürreverhältnisse transformiert werden. Gleichzeitig soll der Frage nachgegangen werden, wie über die Dürreverhältnisse Machtverhältnisse stabilisiert, fortgeschrieben oder auch aufgebrochen werden können. Um das Zusammenspiel der einzelnen Elemente, die zur Entstehung von Dürrever1
„Diese Expansion des Obstanbaus mitten in einer Dürrephase zeigt, dass die Bewässerungslandwirtschaft dabei ist, sich zu entwickeln und die Produktion in vielen Regionen Cearás zu retten“ (BRINGEL in LEITE & ÁQUILA 2013; eigene Übersetzung).
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1. Einleitung
hältnissen beitragen, besser rahmen zu können, soll die Dürre mit FOUCAULT als Dispositiv gedacht werden (FOUCAULT 1978: 119–120; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008) (Kap. 3). Dabei stellen Diskurse, Subjektivierungen, Institutionalisierungen, Materialisierungen und Praktiken die einzelnen Elemente eines Dürredispositivs dar, die jedoch erst in ihrem Zusammenwirken und durch ihre gegenseitigen Wechselbeziehungen die spezifischen Verhältnisse herstellen. Insbesondere wird danach gefragt, wie über institutionelle Arrangements, wie etwa die Einführung des Integrierten Wasserressourcen-Managements in Ceará, der gesellschaftliche Umgang mit Wasser vorstrukturiert wird und welche Inklusions- und Exklusionsmechanismen dadurch verfestigt werden (Kap. 7). Darüber hinaus wird mit Hilfe einer Diskursanalyse herausgearbeitet, wie die Dürre als spezifisches Problem diskursiv hergestellt wird und welche Lösungsansätze dadurch ermöglicht, welche marginalisiert werden (Kap. 8). Aufgrund der gewählten poststrukturalistischen Sichtweise werden Akteure nicht einfach als gegeben angenommen, sondern es wird danach gefragt, welche Sprech- und Subjektpositionen innerhalb des Dürredispositivs zur Verfügung gestellt werden, wie diese eingenommen werden können und wie dadurch Handlungsmacht entsteht (Kap. 9). Schließlich soll über den Dispositivansatz das Verhältnis zwischen diskursiven und materiellen Elementen ausgelotet und der Frage nachgegangen werden, wie sich eine bestimmte Wissensordnung in die Natur einschreibt und auf Dauer gestellt wird und wie dadurch wiederum Praktiken und Diskurse vorstrukturiert werden (Kap. 10). Während in Kapitel 11 die Folgen dieses Dürredispositivs, insbesondere für den ländlichen Raum in der Region Baixo Jaguaribe, besprochen werden, werden in Kapitel 12 die alltäglichen Praktiken der Reproduktion der gesellschaftlichen Naturverhältnisse beleuchtet und die Möglichkeiten des Aufbruchs und des Widerstandes erörtert. Wie sich über das Wechselspiel zwischen den einzelnen Elementen des Dürredispositivs eine spezifische Wissensordnung etabliert und inwiefern dadurch eine bestimmte Aneignungsweise von Natur hegemonial wird, soll schließlich in Kapitel 13 zusammengefasst werden. 1.2 WISSENSPRODUKTION ALS MEINE ERZÄHLUNG VON WELT Die gängigen Motive und Absichten, die mit dem wissenschaftlichen Sprechen und der akademischen Wissensproduktion normalerweise verbunden sind, fasste PAUL MECHERIL einmal in drei Punkten zusammen: „daß das Sprechen der Wahrheitsfindung diene, daß es Modelle der praktischen Behandlung zur Verfügung stellen wolle, oder, daß es die Geschichte der Subjekte zu erzählen beabsichtige“ (MECHERIL 1999: 251).
Letztendlich trifft jedoch kein einziger dieser Punkte auf die hier vorliegende Arbeit und auf meine Intentionen der Wissensproduktion zu. Zwar kommen in der Arbeit unterschiedliche Standpunkte vor und es wird über die Verwendung wörtlicher Zitate aus Interviews und Texten versucht, die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Dennoch kann die Arbeit nicht als Sprachrohr für die Men-
1.2 Wissensproduktion als meine Erzählung von Welt
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schen, denen ich bei meinen Forschungsaufenthalten begegnet bin, gesehen werden. Denn letztendlich lag bei mir die Entscheidung, welche Aussagen in diese Arbeit einfließen und welche nicht, in welchen Kontext sie eingebettet werden und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können. Somit sind es nicht ihre Geschichten, die ich erzähle, sondern meine Geschichte, die ich mit ihrer Hilfe erzähle. Auch tritt die Arbeit nicht dazu an, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen und darauf aufbauend, Lösungsvorschläge und -modelle zu entwerfen. Vielmehr geht es ganz explizit darum, bestehende Evidenzen und Wahrheiten zu hinterfragen, ihr historisches und gesellschaftliches Gewordensein aufzuzeigen und die Vielzahl der möglichen anderen Deutungsweisen und Handlungsmöglichkeiten offen zu legen. Dies geschieht jedoch nicht aus einer objektiven Beobachterrolle und in Bezug auf eine allgemeingültige Wahrheit, sondern aus einer markierbaren Position heraus, in die Gesellschafts- und Machtverhältnisse eingeschrieben sind (Kap. 2). „Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann... Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen“ (JEAN-FRANÇOIS LYOTARD in HAMEDINGER 1998: 145).
Somit ist die vorliegende Arbeit notwendigerweise unabgeschlossen, offen, franst an vielen Stellen aus, stößt an die Grenzen der Benennbarkeit, läuft Gefahr, über Beschreibungen Essentialisierungen zu reproduzieren, deutet mitunter nur an oder verkürzt. Dies ist oftmals unbefriedigend. Jedoch kann sie als Anregung und Aufforderung gelesen werden, mit- und weiterzudenken, zu kritisieren, bestimmte Erzählfäden aufzugreifen und dort weiter zu forschen, wo mir der Raum, die Zeit oder die Möglichkeiten gefehlt haben. Die Arbeit stellt somit einen Versuch da, die Dürre im Nordosten Brasiliens als gesellschaftliches Naturverhältnis zu denken, um dadurch auszuloten, welche Erkenntnisgewinne eine solche Sichtweise mit sich bringt. Oder, um es mit den Worten FOUCAULTS auszudrücken: „Ich möchte nicht sagen: ‚Hier, das denke ich‘ - denn ich bin mir dessen, was ich da vorbringe, noch nicht so sicher. Ich habe vielmehr sehen wollen, ob man das so sagen kann und wie weit es trägt“ (FOUCAULT 1978: 118).
TEIL I: DIE KONSTITUTION VON WIRKLICHKEIT 2 DIE PRODUKTION VON WISSEN 2.1 DIE GLOBALE WASSERKRISE ALS HEGEMONIALE ERZÄHLUNG Während ich diese Zeilen im Herbst 2011 schreibe, sind über zehn Millionen Menschen aufgrund einer langanhaltenden Dürreperiode im Osten Afrikas akut vom Hungertod bedroht – rund ein Drittel davon sind Kinder. Die ausbleibenden Regenfälle haben laut den Vereinten Nationen zu der „schlimmsten humanitären Katastrophe der Welt“ (HEDEMANN 2011) geführt. Doch auch abseits der großen Katastrophen spielt die Verfügbarkeit von und der Zugang zu Wasser eine entscheidende Rolle bei den Ursachen für Armut und Unterentwicklung 1. Weltweit haben laut Schätzungen des UNDP über 1,1 Milliarden Menschen keinen ausreichenden Zugang zu Wasser und 2,6 Milliarden Menschen fehlt es an einer grundlegenden Sanitärversorgung. Pro Tag sterben etwa 5.000 Kinder an Durchfallerkrankungen, die überwiegend auf verschmutztes Wasser zurückzuführen sind. Gleichzeitig schätzt das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dass im Jahr 2025 über drei Milliarden Menschen in Ländern leben werden, in denen Wasserknappheit herrscht (UNDP 2006: 22). Wasser ist zu einem globalen Problemthema geworden. Gleichzeitig wird Wasser zunehmend auch als Sicherheitsthema verhandelt. So meinte bereits 1995 ISMAIL SERAGELDIN in der Rolle des damaligen Vize-Präsidenten der Weltbank, einer Institution, die weltweit Millionenkredite für den Bau von großen Wasserinfrastrukturprojekten vergibt: „Many of the wars of this century were about oil ... wars of the next century will be over water“ (SERAGELDIN in SELBY 2005: 201). Wasser gilt als elementare und strategische Ressource des 21. Jahrhunderts (LEHN & PARODI 2009), deren Aneignung zu sozialen Spannungen und politischen Konflikten führt (s. u.). In der hier nur kurz skizzierten, hegemonialen Darstellungsweise der globalen Wasserkrise wird das Thema in erster Linie als globale Krise, als Konfliktpotential, als messbares und somit abgrenzbares und in Karten darstellbares Problem (s. Abb. 1) beschrieben, das vor allem auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist (s.
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Mit dem Begriff der Unterentwicklung ist in diesem Zusammenhang in erster Linie die Einschränkung der persönlichen Entwicklung aufgrund von Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln gemeint. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar der Entwicklung respektive Unterentwicklung will ich an dieser Stelle lediglich auf die einschlägigen Debatten insbesondere innerhalb des Post-Development Ansatzes verweisen (ESTEVA 1992; FISCHER et al. 2004; ZIAI 2006).
2.1 Die globale Wasserkrise als hegemoniale Erzählung
Textbox 1: Die dominante Beschreibung der globalen Wasserkrise.
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2. Die Produktion von Wissen
die Darstellungsweise der Dürrekatastrophe in Ostafrika). Dabei wird das Problem an sich als gegeben, als unhinterfragbare Voraussetzung und gesetzte Realität dargestellt. Die Auseinandersetzungen um die Aneignung von Wasser und die verschiedenen Möglichkeiten der Konfliktlösung gelten als umkämpftes Terrain, nicht jedoch die Darstellungsweise der Wasserkrise an sich. Jedoch kann bereits die Beschreibung der Wasserkrise als Setzung angenommen werden, die es zu hinterfragen und in ihrer Produziertheit von machtdurchdrungenen Wissensstrukturen zu dekonstruieren gilt. Denn es gibt, wie es CHRISTOPH GÖRG (2003: 132) formulierte, „nicht erst Probleme, und dann setzen Konflikte um ihre Interpretation und Bearbeitung ein, sondern schon die Existenz selbst ist kognitiv vermittelt und damit von Deutungsmustern abhängig.“
Abb. 1: Verortung der globalen Wasserkrise über kartographische Darstellungsweisen.
2.1 Die globale Wasserkrise als hegemoniale Erzählung
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2.1.1 Die Konstitution von Problemlagen Bei der Untersuchung von Wasserkrisen und der Analyse von Problemkonstellationen allgemein sollten also nicht nur die gesellschaftlichen Bearbeitungsweisen im Vordergrund stehen. Vielmehr muss danach gefragt werden, wie und von wem eine spezifische Krisensituation konstruiert wird, wie und warum welches Wissen über die Zusammenhänge hegemonial wird, welche Begriffe und Kategorien Verwendung finden und aufgrund welcher gesellschaftlicher Konstellationen sich eine solche Deutungsweise von Wirklichkeit durchgesetzt hat. Die Darstellungsweise von Umweltkrisen kann demnach nicht als eine exakte Abbildung natürlicher Prozesse aufgefasst werden, sondern ist ein Resultat von Aushandlungsprozessen und Konflikte um Deutungsmacht. Im Vordergrund stehen dabei, wie es PIERRE BOURDIEU betont, Sinnkonstitutionen und die Bedingungen des Sehens: „Darum geht es in den Auseinandersetzungen um die Definition des Sinns der Sozialwelt: um Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme, die den Vorstellungen [...] zugrunde liegen. Es geht um das Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerungen, das anders sehen läßt [...] oder das, indem es Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata modifiziert, anders sehen läßt [...]; es geht um das Trennungsvermögen, Distinktion [...] , das aus der unteilbaren Kontinuität diskrete Einheiten auftauchen läßt, aus dem Undifferenzierten die Differenz“ (BOURDIEU 1982: 748).
Wirklichkeit wird demnach aus ihrer ‚unteilbaren Kontinuität‘ herausgelöst und in differenzierbare und benennbare Einheiten unterteilt. Dabei spielen die sprachlichen Äußerungsmodalitäten eine entscheidende Rolle: Die Begriffe, Definitionen und Kategorien, die einem bestimmten Problemdiskurs zugeordnet und innerhalb dessen wahre Aussagen gemacht werden können, stellen die Grundlage dar, wie über einen Bedeutungszusammenhang gedacht, gesprochen und geschrieben werden kann (vgl. Kap 8). Letztendlich kann nur das analysiert werden, was innerhalb einer Problemkonstellation überhaupt benannt werden kann, d.h. „die Kriterien werden aus dem Gegenstand selbst rekonstruiert“ (KELLER 2008: 80). Somit kommt den Begrifflichkeiten eine entscheidende Bedeutung bei der Konstitution von Wirklichkeit zu, da „bereits mit der Wahl des Begriffs Vorannahmen getroffen werden, welche seine theoretische Verwendbarkeit einschränken“ (OPITZ 2008: 178). Die Benennung des Wassers als Ressource ermöglicht beispielsweise die Vorstellung einer abgrenzbaren und somit auch nutz- und handelbaren Einheit, über deren Verwendung in partizipativen Managementprozessen abgestimmt werden kann. Religiös-spirituelle Vorstellungen einer Einheit von Wasser, Fischen, Erde und Menschen werden mit dem Begriff der Ressource konzeptionell ausgeklammert (vgl. Kap. 4.3). Gleichzeitig betonen beispielsweise GILLES DELEUZE und FÉLIX GUATTARI, dass Begriffe einen Sachverhalt nie unmittelbar abbilden (ebd.). Aufgrund der Differenz zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden entstehen Risse, Möglichkeiten der Bedeutungsverschiebung, kann der Sinnzusammenhang nie endgültig fixiert werden – es kommt zu einem ewigen Spiel von Verweisen (DERRIDA in GLASZE & MATTISSEK 2009b: 25). Über die Gleichsetzung des Begriffs mit seinem Gegenstand wird dieser geformt und der möglichen Vorstellungsweise angepasst.
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2. Die Produktion von Wissen
Die Konstitution von Problemlagen formt die Möglichkeiten, Wirklichkeit wahrzunehmen und zu denken. So interessiert sich auch MICHEL FOUCAULT für „Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden“ (FOUCAULT 1989: 19). Wichtig ist dabei der Hinweis auf die Praktiken, durch die Wirklichkeitskonstitutionen produziert und reproduziert werden 2. Bei der Erstellung von Karten, dem Schreiben von Artikeln, dem Berechnen von Statistiken, der Auswahl bestimmter Bilder, beim Halten von Vorträgen oder bei der Unterhaltung mit Freund_innen 3 wird auf bestimmte Begrifflichkeiten und Definitionen rekurriert und Wirklichkeit strukturiert (PEET et al. 2011: 34–35). Hierbei kommt ein Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlicher Strukturierung und der Strukturierung von Wirklichkeit zum Tragen. Gesellschaftliche Prozesse konstituieren Problemlagen. Gleichzeitig werden über die Rahmung, Wahrnehmung und Vermittlung von Problemen gesellschaftliche Verhältnisse strukturiert. Dies ist jedoch nicht in einem strikten Strukturalismus im Sinne einer Determinierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen. Vielmehr formen sich in einem dialektischen Prozess des gegenseitigen Hervorbringens Problemlage und Gesellschaft im Verweis auf die historischen Bedingungen ständig neu. Die Konstitution von Problemlagen findet somit zwar in einem historischen Setting einer spezifischen gesellschaftlichen Situation statt, ist aber letztendlich ein kontingenter Prozess. In ihn sind die gesellschaftlichen Machtverhältnisse eingeschrieben, über die bestimmte Deutungsmuster privilegiert, andere marginalisiert werden und anhand derer sich Trennlinien der Differenzierung herauskristallisieren. Somit erscheint es für die Analyse der hegemonialen Darstellungsweise der Wasserkrise bedeutend, welche Kategorien hegemonial erscheinen, welche Macht-Wissens-Komplexe dabei zum Tragen kommen und auch, welche Lösungsansätze innerhalb der Problemkonstitution bereits vorgezeichnet sind.
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Zum Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken s. auch Kap. 3.2.1 Mit dem Unterstrich zwischen der männlichen und weiblichen Endung soll nicht nur die Unsichtbarmachung von Frauen mittels einer patriarchalen Sprache überwunden, sondern auch einer bipolaren Geschlechteraufteilung entgegen gewirkt werden. Mit dem Gender Gap sollen auch soziale Geschlechter wie Intersexualität, Transgender, Transsexualität, Bi-Gender etc. in die Nennung einbezogen werden FISCHER & WOLF (2009). „Wir könnten uns das so vorstellen: eine Leerstelle anzuzeigen schlägt sich in ihr dialektisches Gegenteil um, die Leerstelle verweist so auf Vorhandenes. Im Sinne der Unterstrichvariante auf Menschen, die gesellschaftlich und strukturell unsichtbar gemacht werden“ (GUDRUN PERKO in HAUSBICHLER 2008).
2.1 Die globale Wasserkrise als hegemoniale Erzählung
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2.1.2 Die Konstitution der globalen Wasserkrise Über die Darstellungsweise der Wasserkrise als globale Krise, die real, messbar und überwiegend auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist, erfolgt eine Universalisierung und Generalisierung sowohl der Problemlage als auch der darin eingeschriebenen Lösungsansätze. Vor dem Hintergrund der Diskussionen um Ressourcenverknappung und die ´Grenzen des Wachstums´ (MEADOWS 1972) wurde innerhalb der ecological security Forschung in den 1980er Jahren die These der Wasserkriege zunehmend populär (EBERTZ 2009: 8). Der zunehmende Verteilungswettbewerb um die knappe, lebenswichtige Ressource Wasser würde, so die These, unvermeidbar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nationalstaaten führen. Entscheidend ist dabei der unmittelbare kausale Zusammenhang, der zwischen einer attestierten Wasserknappheit und zwischenstaatlichen Konflikten hergestellt wird. Der historische Kontext, Konfliktregulierungsmechanismen und Machtverhältnisse bleiben dabei jedoch weitgehend außen vor. Die innerhalb eines neoliberalen Verständnisses plausibel wirkende These der Konkurrenz um Aneignung blendet jedoch andere, kooperative Sichtweisen aus. Dabei können transnationale Probleme wie die oftmals existenzielle Frage nach dem Zugang zu Wasser eine langfristige Kooperation zwischen ansonsten verfeindeten Staaten sogar befördern. So untersuchte beispielsweise AARON T. WOLF und seine Forschergruppe an der Universität Oregon mit Hilfe der Transboundary Freshwater Dispute Database (TFDD) 1.831 zwischenstaatliche Interaktionen, in denen der Zugang zu Wasser eine Rolle spielte. Im Untersuchungszeitraum von 1948 bis 1999 kam es bei 28% der untersuchten Fälle zu einem Konflikt zwischen Nationalstaaten, während in 68% der Fälle die Frage der Wasserverteilung zu zwischenstaatlichen Kooperationen führte und 157 internationale Verträge ausgehandelt wurden (WOLF in EBERTZ 2009: 28–29). Die Betonung der zwischenstaatlichen Ebene von Wasserkonflikten übersieht gleichzeitig auch, dass die meisten Konflikte um die Aneignung von Wasser als innerstaatliche Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Nutzer_innengruppen auftreten. Diese werden jedoch über die Wahl der Maßstabsebene vereinheitlicht bzw. ganz ausgeblendet. Anstelle einer Analyse von nationalstaatlichen Konfliktkonstellationen sollten somit vielmehr die Verwobenheiten unterschiedlicher Maßstabsebenen und die Beachtung der lokal spezifischen Konfliktkonstellationen im Vordergrund stehen. Gleichzeitig müssen dabei auch die Auseinandersetzungen entlang der Differenzlinien Klasse, Gender, Ethnie, Kultur etc. herausgearbeitet werden (TERHORST 2008: 138). In der hegemonialen Problembeschreibung einer globalen Wasserkrise scheint ebenfalls die These der ´tragedy of the commons´ (HARDIN 1968) auf. Dieser liegt die Annahme zugrunde, dass aufgrund des nutzenmaximierenden Verhaltens von Individuen Gemeingüter wie Weiden, Wälder, Ozeane oder auch Wasser automatisch übernutzt und somit degradiert werden. Dabei legt die Reduzierung des Menschen auf einen profitmaximierenden Homo oeconomicus – bei gleichzeitiger Ausblendung historischer Entwicklungen und wirtschaftspolitischer Strukturen – nahe, dass Wasserkrisen über ganz bestimmte Regulierungsweisen am besten zu
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2. Die Produktion von Wissen
‚managen‘ sei. Die Kommodifizierung und Privatisierung von Wasserressourcen und die Einführung marktbasierter Verteilungsinstrumente wie das Integrierte Wasserressourcen-Management (s. Kap. 4.5) erscheinen im Licht einer solchen Problembeschreibung als optimale Lösungsstrategien (JOHNSTON 2003: 87). Innerhalb des hegemonialen Wasserdiskurses werden bestimmte Sprecher_innenpositionen zur Verfügung gestellt, über die geregelt wird, wer aus welcher Position heraus mit welcher Legitimation über was reden kann (vgl. Kap. 9). Dabei wird ein bestimmtes akademisch-technisches Expert_innenwissen abgerufen, das, beruhend auf speziellen quantitativen und mathematischen Messmethoden, das Problem rahmt und eine bestimmte Schließungslogik zur Verfügung stellt. Dadurch wird anderes Wissen, das beispielsweise auf traditionelle Praktiken und lokale Erfahrungen aufbaut, tendenziell zum Schweigen gebracht. Für die Umsetzung der angedeuteten Lösungsstrategien, für die eine bestimmte Ausstattung an Wissen, Technologien und Kapital vorhanden sein muss, scheinen der Staat, privatwirtschaftliche Unternehmen und multinationale Organisationen wie die Weltbank ganz besonders geeignet. In diesem Sinne kommt etwa das Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in einer Studie zum Integrierten Wasserressourcen-Management zu dem Schluss: „Ein nachhaltiger Umgang mit der Ressource Wasser setzt voraus, dass geeignete Strategien, Konzepte, Maßnahmen und auch Standort angepasste Technologien entwickelt werden, um eine optimale Verteilung und Nutzung zu erreichen [...]. Europa und insbesondere Deutschland besitzen große wissenschaftliche und technologische Kompetenzen, die genannten globalen Wasserprobleme mit einem Systemansatz zu lösen“ (UFZ 2009: 7).
Durch die Fokussierung auf die natürlichen Ursachen von Dürresituationen besteht die Gefahr, dass die sozialen Wirkungszusammenhänge in den Hintergrund treten, während technische Maßnahmen zur Erhöhung der Wassersicherheit, wie Staudämme und Wassertransferprojekte, zur geeigneten gesellschaftlichen Reaktion erhoben werden (vgl. Kap. 10). Probleme existieren somit nicht an sich. Vielmehr ist die Darstellungsweise von Problemen ein Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die in machtdurchdrungenen Diskursen eingebettet sind. Für die Untersuchung von Konflikten um die Aneignung von Wasser am Beispiel des Nordosten Brasiliens treten somit die historischen Bedingungen, die diskursiven Formationen und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in den Vordergrund. Für die Durchführung eines solch ambitionierten Unterfangens soll versucht werden, Anregungen aus den Debatten um den Poststrukturalismus, der kritischen Geographie und der Politischen Ökologie für mein spezifisches Forschungsvorhaben fruchtbar zu machen.
2.2 Eine poststrukturalistisch inspirierte Geographie
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2.2 EINE POSTSTRUKTURALISTISCH INSPIRIERTE GEOGRAPHIE In der Auseinandersetzung mit einem Verständnis von Problemlagen, bei dem diese nicht als objektiv gegeben, sondern immer als Ergebnis von Konstitutionsprozessen gedacht werden, wurde bereits die in dieser Arbeit eingeschlagene erkenntnistheoretische Perspektive angedeutet. Dabei soll hier keine allumfassende und einzig mögliche Theorie vorgestellt werden. Vielmehr stellt eine poststrukturalistisch 5 geprägte Herangehensweise lediglich eine von vielen Möglichkeiten dar, Wirklichkeit zu (re)konstruieren. Oder, wie es GILLES DELEUZE in Bezugnahme auf MARCEL PROUST formulierte: „Behandelt mein Buch wie ein auf das Draußen gerichtetes Paar Sehgläser, und, tja, wenn sie euch nicht passen, dann nehmt doch andere, findet selbst euren Apparat, der notwendigerweise ein Kampfapparat ist. Die Theorie, das totalisiert sich nicht, das vervielfältigt sich und das vervielfältigt“ (DELEUZE in FOUCAULT 2005a: 55).
Die Metapher der Sehgläser gibt dabei einen Hinweis auf das Theorieverständnis: Theorie kann dazu verwendet werden, bestimmte Bereiche in den Blick zu nehmen, bestimmte Fragen zu stellen und dementsprechende Antworten zu erhalten. Gleichzeitig erscheinen andere (Erkenntnis)Bereiche dadurch unschärfer oder können erst gar nicht ´wahr´genommen werden. Somit gibt es nicht eine, totalisierende Theorie – ein Anspruch, der bei vielen Denker_innen der Moderne oder etwa der Philosophie Hegels noch durchscheint (WEICHHART 2008: 346) – sondern vielfältige Theorien, die jedoch dem Erkennen dienen müssen und nicht um ihrer selbst willen existieren (DELEUZE in FOUCAULT 2005a: 54). Neben Fragen nach den Möglichkeiten und Bedingungen des Erkennens, den erkenntnistheoretischen Vorannahmen und Einschränkungen treten Schwierigkeiten des Benennens, denen wir unweigerlich ausgesetzt sind. Jede Theorie ist allein durch die notwendige Verwendung von Begrifflichkeiten im höchsten Maße voraussetzungsvoll und kann somit nie als absolute Grundlage verwendet werden. FOUCAULT legt hier den Finger in die Wunde: „Da jede Theorie eine Objektivierung voraussetzt, kann keine Theorie als Grundlage für die Analyse dienen. Aber man kann keine Analyse vornehmen, ohne die behandelten Probleme in Begriffe zu fassen“ (FOUCAULT in GRETH 2011: 124).
Dadurch ist jede Beschreibung einer uns äußerlichen Wirklichkeit unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Denn, so Foucault an anderer Stelle:
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In den folgenden Ausführungen soll es weniger um die Ideengeschichte des Poststrukturalismus, seine führenden Vertreter_innen, unterschiedlichen Strömungen und die Abgrenzung zum Strukturalismus gehen. Vielmehr sollen hier einige Kerngedanken, die als theoretisches Hintergrundrauschen für die vorliegende Arbeit fungieren, vorgestellt werden. Für eine intensivere Beschäftigung mit dem Strukturalismus s. u.a. SAUSSURE 1998; STRÜVER 2005: 44 ff.; GLASZE & MATTISSEK 2009b; KELLER 2007. Für die Abgrenzung zum Poststrukturalismus s. u.a. MOEBIUS & RECKWITZ 2008; ZIERHOFER 2003; GLASZE & MATTISSEK 2009c; KELLER 2007; RECKWITZ 2008.
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2. Die Produktion von Wissen „Die ‚nackte‘ Erfahrung des Außen steht schweigsam außerhalb des Sagbaren, ‚weil das Außen niemals sein Wesen preisgibt; es kann sich nicht als positive Gegenwart darbieten [...], sondern nur als Abwesenheit, die sich ständig von sich selbst zurückzieht und tiefer in das Zeichen hineingräbt, in dem sie uns auffordert, ihr zu folgen, so als ob es möglich wäre, sie jemals zu erreichen“ (FOUCAULT in SCHREIBER 2009: 206).
Dies ist jedoch nicht im Sinne eines radikalen Konstruktivismus zu verstehen, bei dem die Welt als eine uns äußerliche Wirklichkeit nicht existent erscheint. Stattdessen wird damit die Vorstellung aufgegeben, dass wir über einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit verfügen. Vielmehr ist unser Zugang zur Welt immer diskursiv geformt und beruht somit auf gesellschaftlich hergestellten, symbolischen Ordnungen. Wir können uns also nicht auf eine objektive, den Diskursen vorgängige und von uns unabhängige Wirklichkeit beziehen, auch wenn unser alltagsweltliches Welt-Verstehen und die Erfahrungen von Materialität dies zunächst plausibel erscheinen lassen. Es geht nicht um eine Ablehnung der Erfahrungen von Materialität, sondern um ein Aufweichen von feststehenden, gegebenen Beziehungen und ein Aufbrechen eines geschlossenen Systems von Bedeutungszuschreibungen. „To say that ideas of nature are socially shaped is not to say that they can be anything at all… ‘Okay, go and jump in front of the train,’ say the relativity rejectors… But of course no one is saying that perception is completely fluid, only that it is not completely solid“ (THOMPSON ET AL. IN FORSYTH 2008: 96).
Kontingenz heißt nicht Beliebigkeit Während im Strukturalismus nach objektiven Gesetzmäßigkeiten und Strukturen einer gegebenen Realität gesucht wird, stehen in poststrukturalistischen Ansätzen die Offenheit und Mehrdeutigkeit der Produktionen von Wirklichkeit im Vordergrund. Strukturen werden über diskursive und nicht-diskursive Praktiken reproduziert, dabei aber immer auch ein stückweit verändert, da – im Gegensatz zu den Annahmen der Strukturalist_innen – eine exakte Wiederholung nicht möglich ist (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 25–26). In der Iterabilität der Zeichen ist somit immer die Möglichkeit der Bedeutungsverschiebung eingeschrieben. Hierbei eröffnen sich Optionen für Transformationen und Widerstand (vgl. Kap. 12). Somit ist Bedeutung nie eindeutig bestimm- oder festlegbar sondern kontingent. Kontingenz ist dabei nicht im Sinne einer völligen Beliebigkeit möglicher Entwicklung, unabhängig von bestehenden Strukturen zu verstehen, sondern als strukturierter aber chaotischer Spielraum, in dem sich Strukturen immer wieder neu konstituieren. „Die Offenlegung der Strukturprinzipien gesellschaftlicher Sinnproduktion zielt in vielen Fällen also darauf ab, die Diskussion um zusätzliche Optionen zu erweitern, marginalisierte Positionen stärker ins Zentrum zu rücken und vermeintlich ’natürliche‘ Objektivierungen zu hinterfragen und aufzubrechen“ (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 27).
2.2 Eine poststrukturalistisch inspirierte Geographie
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Mit einem solchen Aufbrechen ’natürlicher‘ Objektivierungen geraten universelle Erklärungen von Wirklichkeit, der Glaube an einen (insbesondere wissenschaftlichen) Objektivismus und die Suche nach einem hinter den Dingen liegenden Wesensgehalt in die Kritik. Essentialistische Auffassungen von Natur, räumlichen Strukturen oder einem autonomen, rationalen Subjekt müssen dabei dem Verständnis von einem ständigen Prozess der Sinnkonstitution weichen. Damit kommt auch der aufklärerische Glaube nach absoluten Wahrheiten und Letztgewissheiten ins Wanken. In poststrukturalistischen Ansätzen findet sich kein fixierter oder transzendentaler Ursprung, kein Archimedischer Punkt, von dem aus Bedeutung eindeutig festlegbar wäre (ZIERHOFER 2003: 93–94). Somit sind letztendlich immer nur temporäre und partielle Bedeutungszuschreibungen möglich, es kommt zu einem permanenten Entschlüpfen (DERRIDA) und unabweisbaren Scheitern von Sinn (ZIERHOFER 2003: 90; MOEBIUS & RECKWITZ 2008: 14). Die historische Wandelbarkeit der (Sinn)Strukturen ist jedoch nicht in einer teleologischen, linearen Geschichtsauffassung zu verstehen. Vielmehr erfolgt die Verschiebung von Bedeutungsstrukturen entlang von nicht-kausalen Ursache-Wirkungszusammenhängen, in Brüchen, Diskontinuitäten und Sprüngen (vgl. Kap. 6) (KLEINER 2001: 12). Ein Denken in Beziehungen Ein solch nicht-essentialistisches Verständnis von Welt stellt jedoch hohe, möglicherweise nicht einlösbare Anforderungen an eine nicht nur theoretisch agierende Geographie. An die Stelle eines Denkens in eindeutigen Gegensätzen zwischen genau abgrenzbaren Entitäten tritt ein Denken in Beziehungen (GEBHARDT et al. 2003: 16), das wechselseitige Konstitutionsprozesse und dialektische Prozesse des gegenseitigen Hervorbringens in den Mittelpunkt rückt (vgl. Kap. 4.2). Bei solch einer dialektischen Herangehensweise stehen laut DAVID HARVEY nicht die Elemente, Dinge, Strukturen und Systeme im Vordergrund, sondern die Prozesse, Verläufe, Flüsse (fluxes) und Beziehungen, wobei diese nicht außerhalb oder vor den Dingen existieren (HARVEY 2007: 49). Zur Konkretisierung einer solchen dialektischen Denkweise führt HARVEY den Welle-Teilchen-Dualismus aus der Quantenphysik an, bei der beispielsweise Elektronen als Teilchen und gleichzeitig auch als elektro-magnetische Welle angenommen werden müssen: „Quantum theory, for example, has the same entity (e.g. an electron) behaving ‚under one set of circumstances as a wave, and in another set of circumstances as a particle‘ (Bohm and Peat, 1987: 40). Since matter (thing-like substances) and energy (a flow) are interchangeable, neither one nor the other can be prioritized as an exclusive focus of enquiry without serious loss of insight and understanding. Electrons thus appear as both ‘things’ and as ‘flows.’ Yet it took many years for physicists to recognize that these two conceptions were not incommensurable or mutually exclusive. Only when they overcame this barrier, could modern quantum theory begin to take shape. It was likewise proven very difficult for social scientists to abandon what Ollman (1993: 34) calls the ’common sense view‘– erected into a philosophical system by Locke, Hume, and others – that ’there are things and there are relations, and that neither can be subsumed in the other‘“ (HARVEY 2007: 50).
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2. Die Produktion von Wissen
Ein Denken in Prozessen, Beziehungen und Gleichzeitigkeiten stellt unweigerlich unsere Deutungen von Welt und die auf der Aufklärung beruhenden rationalen Auffassungen von Erkenntnis und Wissenschaft in Frage. Für eine poststrukturalistische Geographie stehen dabei grundlegende Konzepte wie das der Natur und daran anschließend der Mensch-Umwelt-Beziehungen, die Auffassung eines autonomen Subjektes und das Verhältnis zwischen Praktiken und Strukturen auf dem Spiel. Ob und inwieweit dies konkret operationalisierbar und anhand empirischer Fallbeispiele realisierbar ist, soll in dieser Arbeit ausgelotet werden. Dies ist jedoch kein neutrales Projekt, sondern unmittelbar verknüpft mit einer bestimmten Vorstellung von Wissenschaft und der Art und Weise, Wissenschaft zu betreiben und Geographie zu machen. Oder, um bei dem Verweis auf die Quantenphysik zu bleiben: Nach Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation ist es nicht möglich, eine sichere Aussage sowohl über die momentane Position des Teilchens als auch über seine Zustandsform zu geben. Der_die Beobachter_in ist somit gezwungen, sich für eine Messung zu entscheiden und legt somit die Möglichkeiten des Ergebnisses bereits mit der Wahl der Messsituation fest: „Die Umwertung von der Relativität der Wahrheit zur Wahrheit der Relativität bedeutet, dass eine Darstellung recht eigentlich erst dann objektiv ist, wenn sie die Messanordnung bzw. Beobachtersituation in die Konzeption von Objektivität selbst integriert und gerade nicht, wenn diese ausgeschlossen wird“ (VENTAROLA 2010: 190).
Somit wird die Person der Wissenschaftler_in als Wissenschaffende_r für die Ergebnisse und deren Bewertung zentral. 2.3 POSITIONALITÄT: WISSENSPRODUKTION ALS (M)EINE ERZÄHLUNG VON WELT „Beim Geschichtenerzählen stehst du nicht darüber, sondern darin. Du machst deine Beobachtungen als deine Tat-Sachen erkenntlich und beanspruchst nicht, Fakten abzugeben, die die Welt repräsentieren. Auch diese Tat-Sachen sind keineswegs beliebig, sie beinhalten eine relative, kontextabhängige Wahrheit. Aber das ist nur eines. Ich glaube, daß Geschichten neben dieser kontextabhängigen Wahrheit auch noch eine allgemeinere in sich tragen können, nur: die läßt sich nicht als buchstäbliche Wahrheit erfragen. In der Geschichte wird die Allgemeinheit irgendwie anders hergestellt. [...] Als Kinder haben wir das gewusst. Hast du als Kind jemals die Frage gestellt, ob eine Geschichte buchstäblich wahr sei?“ (REICHERT in GRETH 2011: 46).
Wie aus den vorangehenden Ausführungen deutlich wurde, sind Problemlagen, Gegenstände und Forschungsobjekte weder ‚an sich‘ gegeben, noch können sie als ahistorische Ereignisse oder als bloße Resultate bestehender, fixierter Strukturen betrachtet werden. Damit kann es kein Erkenntnis-Apriori geben, und wir können keine verlässlichen Aussagen über außerhalb unseres Erkenntnisvermögens liegende Dinge oder Zusammenhänge treffen. Vielmehr
2.3 Positionalität: Wissensproduktion als (m)eine Erzählung von Welt
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„können [wir] also nur das mit Sicherheit erkennen, was wir selbst produziert haben. Ein Erkenntnisobjekt kann nur in dem Maße vollständig erfasst werden, in dem es Produkt des erkennenden Subjektes ist“ (HOLLOWAY 2006: 130).
Ich stelle also erst die Dinge her, über die ich forsche und rede. Dabei kann ich keinen neutralen, von außen auf meinen Forschungsgegenstand gerichteten, objektivistischen Blick einnehmen. Der_die Forscher_in ist keine über dem Geschehen schwebende Größe (REUBER 2007: 156), der_die jenseits von Diskursen und Machtverhältnissen zu verorten ist. Ein solcher god trick, wie ihn DONNA HARAWAY gerne nennt (HARAWAY 1988), verleiht dem_der Forschenden „die Macht zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen“ (HARAWAY in MECHERIL 1999: 237). Durch den „Blick von nirgendwo und überall her“ (ebd.) wird der_die Forscher_in unsichtbar gemacht, seine und ihre Position innerhalb einer kapitalistischen, rassistischen, post/kolonialen und patriarchalen Gesellschaftsordnung bleibt unmarkiert: „The eyes have been used to signify a perverse capacity – honed to perfection in the history of science tied to militarism, capitalism, colonialism, and male supremacy – to distance the knowing subject from everybody and everything in the interests of unfettered power“ (HARAWAY 1988: 581).
Ich muss mich also positionieren. Ich muss mich als weißen, europäischen Mann erkenntlich machen, der innerhalb eines post-kolonialen Kontextes und im Namen einer machtvollen Institution Forschung betreibt und damit eine bestimmte Art von Wissen produziert. Dabei geht es nicht nur darum, meine eigene Position transparent und mir meine Sichtweisen und Vor-Urteile über meinen Forschungsgegenstand bewusst zu machen und sie als solche auszuweisen (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 88). Denn bei einem solch klassischen Verständnis der Reflexivität von Forschung besteht die Gefahr, den_die Forschende_n als erkennendes Subjekt, das die Welt aus sich heraus versteht, darzustellen und das Forschungsergebnis als individuelle, subjektive Deutung von Welt zu interpretieren (ebd.: 35). Dies würde aber letztendlich auf eine essentialistische Auffassung von Subjekten rekurrieren. Aus einer poststrukturalistischen Sichtweise kann jedoch die Position des_der Forschenden nicht als autonomes, verstehendes Subjekt gedacht, sondern muss als innerhalb von Diskursen verankerte und zugewiesene Position konzipiert werden. „Die Aufgabe besteht darin, für sich selbst und für andere transparent zu machen, wie der Forschende [...] dazu gebracht wird bzw. sich dazu bringt, das zu verstehen, was er oder sie zu verstehen glaubt, und wie er oder sie wissen kann, was er oder sie zu wissen meint“ (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 88).
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2. Die Produktion von Wissen
Abb. 2: Die (eigene) Sprecherposition dekonstruieren (lassen).
Es geht also sowohl um das Verstehen des Verstehens, um die Beobachtung zweiter Ordnung (LUHMANN), als auch um die Position des Verstehens. Der_die Forschende kann somit als Subjektposition gesehen werden, in der sich verschiedene Diskurse, die die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des (wissenschaftlichen) Sprechens darstellen, überschneiden. Wissenschaft ist eine von vielen Positionen innerhalb eines vorstrukturierten Feldes, von der aus gesprochen und sich (glaubhaft) Gehör verschafft werden kann. Erkenntnis muss dabei als Effekt von diskursiv vermittelten Wissensordnungen (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 37) verstanden werden, die eine Gesellschaft in einer historisch spezifischen Situation hervorbringt. Die Erkenntnisgrenzen sind demnach keine absoluten, universellen und notwendigen Grenzen, sondern „spezifische Grenzen des gegenwärtigen historischen konkreten Seins“ (ebd.: 41). In ‚Die Ordnung der Dinge‘ zeichnet FOUCAULT beispielsweise die Bedin-
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gungen der Möglichkeit von Wissen unterschiedlicher Epochen (Renaissance, Aufklärung, Romantik und Moderne) nach. Diese Wissensordnungen (Episteme), die aufeinander aufbauen, sich ablösen und überlagern, bilden die grundlegenden Erkenntnisstrukturen, die den verschiedenen Disziplinen zugrunde liegen (FOUCAULT 1974; KELLER 2007: 16). Bereits KARL MANNHEIM benannte diesen Zusammenhang innerhalb seiner Wissenssoziologie als die grundsätzliche Seinsverbundenheit des Denkens, was sowohl die soziale Bedingtheit des (eigenen) Denkens als auch die Seinsverbundenheit der (eigenen) Erkenntnisse einschließt (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 36). Aus einem anti-essentialistischen Subjektverständnis und der gesellschaftlichen Bedingtheit allen Denkens und Erkennens folgt unweigerlich auch, dass eine Beurteilung von dargestellten Zusammenhängen und eine mögliche Parteinahme sich nie auf Letztgewissheiten und endgültige Wahrheiten berufen können. In einem selbst-reflexiven Forschungsprozess kann sich der_die Forschende zwar auf bestimmte Normen und Werte beziehen und sollte dies dementsprechend transparent machen. Doch dies ist immer nur als eine Entscheidung zwischen konkurrierenden Wertesystemen zu verstehen. Ein Rückzug auf eine sichere Position, von der aus ‚wahre‘ Aussagen getätigt und moralisch ‚richtige‘, universell gültige Wertentscheidungen getroffen werden können, ist nicht mehr möglich. Vielmehr sind auch Normen und Wertesysteme als Effekte historisch spezifischer diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken zu verstehen. In diesem Sinn ist auch FOUCAULTs vielzitierter Satz: „Die Wahrheit ist von dieser Welt“ zu verstehen, denn „jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit“ (FOUCAULT 2005b: 105). Somit wird Wissenschaft als Projekt einer sich kontinuierlich entwickelten, ständig voranschreitenden und verbesserten Wahrheitsfindung obsolet (KELLER 2007: 16). Die Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch‘ können nicht mehr als absolute Unterscheidungsmechanismen wissenschaftlicher Aussagen behandelt werden, sondern müssen innerhalb eines wahrheitsproduzierenden Diskurses betrachtet und auf ihr soziales Eingebettet-Sein hin untersucht werden. Situated Knowledges In diesem Zusammenhang hat DONNA HARAWAY den Begriff situated knowledges geprägt (HARAWAY 1988), der betont, dass Wissen immer auch an die Person und den Körper des_ der Forscher_in, an eine bestimmte Geschichte und an einen spezifischen Ort gebunden ist (STRÜVER 2005). Das heißt, die Positionalität der Wissensproduktion nimmt nicht nur mich als Wissen Produzierenden in den Blick, mein Eingebunden-Sein in unterschiedliche, sich verschneidende Diskurse und meine Position innerhalb eines (wissenschaftlichen) Diskurses, sondern auch das Eingebettet-Sein des Wissens selbst. Wissenschaft kann demnach als Ort gedacht werden, an dem eine bestimmte Art des Wissens produziert wird, der eine eigene Geschichte in sich trägt, der spezifische Praktiken hervorbringt und der in der Institution Universität verankert ist und sich durch sie räumlich manifestiert. Alle
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2. Die Produktion von Wissen
Facetten dieses Ortes sind dabei in machtvolle Kräfteverhältnisse eingebettet. Über sie und durch sie wird Macht ausgeübt. So bezeichnen RICHARD PEET, PAUL ROBBINS und MICHAEL WATTS Wissenschaft als „a highly problematic global political enterprise. Science is never conducted entirely separately from the global political and economic forces that make it possible“ (PEET et al. 2011: 38). Dabei verleiht insbesondere der scheinbar unpolitische und neutrale Status der Wissenschaft ihr ihre spezielle politische und gesellschaftliche Machtposition. Gleichzeitig bilden sich innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft (oder besser: -community) bestimmte Praktiken heraus, die ebenfalls nicht in einem sozialen und politischen Vakuum stattfinden und zu bestimmten Paradigmen und einem ‚group think‘ führen (ebd.: 39). Die eigene Logik des Publizierens in bestimmten, mit einem möglichst hohen Impact Factor ausgestatteten Fachzeitschriften, der Druck des Einwerbens von Drittmitteln und der Trend der Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft ermöglichen und erfordern bestimmte Praktiken, Forschungsfragen und Denkweisen, während andere dadurch inadäquat gemacht und marginalisiert werden. Dabei sollte der Blick nicht allein auf dem Wissenschaftssystem haften bleiben, sondern immer auch die gesellschaftlichen Strukturen, aus denen es hervorkommt (BARTHOLL 2008: 29), und die dialektischen Beziehungen zwischen Theorien und ihren gesellschaftlichen Stützformationen (BERGER & LUCKMANN 2004: 137) einbeziehen. Innerhalb eines neoliberalen Gesellschaftsmodells werden Universitäten mittlerweile als Unternehmen mit eigener corporate identity geführt, um in der Konkurrenz um Anerkennung, Rankingplätze, Exzellenz und letztendlich Geldmittel bestehen zu können (BELINA 2008: 340). In einer solchen gesellschaftlichen Konstellation schwindet der gesellschaftsverändernde Anspruch von Wissenschaft, die immer mehr zu einem vermarktbaren Produkt degradiert wird. Eingebettet in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, in der Frauen 6 nach wie vor vielfältigen Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt und gerade auch in gesellschaftlich anerkannten Positionen stark unterrepräsentiert sind 7, drückt sich ihre Diskriminierung auch in der Wissenschaft aus. Bei mittlerweile ausgeglichenen Geschlechterverhältnissen bei den Studierenden in der Geographie wird „der Anteil der Frauen in der Regel niedriger, je höher die Position ist“ (SCHIER 2006: 2). So sind fast Dreiviertel der wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen in der Geographie in Deutschland Männer. 87% der Professor_innenstellen sind von Männern besetzt (ebd.). Geographie wird nach wie vor überwiegend als androzen-
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Gemeint ist hierbei das soziale weibliche Geschlecht (gender), das über Sozialisations- und Zuweisungsprozesse erworben, bzw. angeeignet wird. Wobei insbesondere JUDITH BUTLER darauf hingewiesen hat, dass auch das biologische Geschlecht (sex) über Anrufungs- und Zuweisungsprozesse entsteht BUTLER (1991). Die aktuelle Diskussion um die Einkommensschere zwischen Männern und Frauen, die für Österreich einen durchschnittlichen Einkommensunterschied von fast 25% bei gleicher Arbeit und Qualifikation aufweist (DIE STANDARD 2011), stellt nur eine (überwiegend ökonomische) Dimension dieser Diskriminierung dar.
2.3 Positionalität: Wissensproduktion als (m)eine Erzählung von Welt
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trische Wissenschaft von einem männlichen Standpunkt aus betrieben, was eine Normierung der männlichen Position und eine Abwertung und Unsichtbarmachung von weiblichen Sichtweisen impliziert (KELLER 1998). Der weiße, bourgeoise und heterosexuelle Mann stellt auch in der Geographie das ‚master subject‘ dar, von dem aus Weiblichkeit als das Abweichende, das Andere wahrgenommen wird (STRÜVER 2005: 58). Auch Ideen haben Geschichte Situiertes Wissen heißt gleichzeitig auch, dass Wissen in einer bestimmten Disziplin hervorgebracht wird, die sich nicht nur über Inhalte und Methoden von anderen Disziplinen abgrenzt, sondern deren Wissensproduktion innerhalb einer spezifischen historischen Tradition zu verorten ist. Insbesondere muss geographische Wissensproduktion – und ganz besonders diejenige in Deutschland und Österreich – vor dem Hintergrund ihrer historischen Verwicklungen und mit Blick auf die ihr eingewobenen Kontinuitäten betrachtet werden. Umso mehr, als dass Auseinandersetzungen mit der Rolle der Disziplin in Bezug auf Kolonialismus, Imperialismus und Nationalsozialismus insbesondere in der Lehre nur sehr marginalisiert stattfindet. In der geographischen Entwicklungsforschung wird die Kolonialgeographie als disziplinäre Vorläuferin nach wie vor nur gelegentlich thematisiert 8. Mit Blick auf die Anfänge einer institutionalisierten Geographie in Deutschland kann Geographie als „Kolonialwissenschaft schlechthin“ (ZIMMERER 2004: 76) bezeichnet werden, die – in enger Verschneidung mit politischen Interessen – Informationen über Land und Leute, über Rohstoffe, Nutzflächen, Siedlungsmöglichkeiten und über Möglichkeiten der Ausbeutung einheimischer Arbeitskräfte zur Verfügung stellte. In seiner Antrittsvorlesung auf die Professur für Koloniale Geographie, die 1911 in Berlin eingerichtet wurde, strich der RICHTHOFENSchüler FRITZ JÄGER den praktischen Nutzen der Geographie für die Kolonialwirtschaft hervor: „Bei der Geographie und zumal bei der kolonialen Geographie, ist der praktische Nutzen sehr unmittelbar zu sehen. (...) [E]s ist Aufgabe der Geographie, das Gesamtbild des Landes richtig zu zeichnen. Die richtige Beurteilung der Natur des Landes und seiner Bewohner ist aber die notwendige Grundlage für die richtige Verwertung. Wirtschaftliche Verwertung und Ausnutzung zugunsten des Mutterlandes ist der Zweck der Kolonien. Wenn kein wirtschaftlicher Nutzen herausspringt, so sind die Kolonien ein Luxus, der volkswirtschaftlich nicht zu rechtfertigen ist. Die koloniale Geographie bildet daher eine wichtige Grundlage rationaler Kolonialwirtschaft“ (JÄGER in ZIMMERER 2004: 90).
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Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Verwobenheiten geographischer Wissensproduktion, geographischer Praxis und Kolonialismus bietet hingegen die Dissertation von Carsten Gräbel (2015) mit dem Titel: ‚Die Erforschung der Kolonien – Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884–1919‘.
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2. Die Produktion von Wissen
Der wachsende Informationsbedarf über fremde Länder und die bürgerliche Begeisterung über die kolonialen Abenteuer bildeten dabei Grundvoraussetzungen für die Herausbildung der Geographie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin (ebd.: 80f.). Nach der Reichsgründung von 1871 beschloss die preußische Regierung, Geographielehrstühle an allen deutschen Universitäten einzurichten und Geographie als eigenständiges Schulfach einzuführen, um die ‚vaterländische Erziehung‘ voranzutreiben und die Legitimation der deutschen Großmachtbestrebungen wissenschaftlich zu verankern (LACOSTE 1990: 22). Geographen wie FRIEDRICH RATZEL, der als einer der Begründer der deutschen Anthropogeographie und der Politischen Geographie angesehen wird, versuchten Naturgesetze aufzustellen (Gesetz der wachsenden Räume), um geopolitische Vorstellungen wissenschaftlich zu begründen. Solch naturdeterministisch biologistische Argumentationsweisen, die insbesondere von KARL HAUSHOFER weiterentwickelt wurden, ebneten dann unter anderem auch den Weg für die Lebensraum-Ideologie des Nationalsozialismus (REUBER & WOLKERSDORFER 2007: 753). Mit diesen kurzen Verweisen auf die deutschsprachige Disziplingeschichte sollte auf den Zusammenhang zwischen geographischer Wissensproduktion und politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. dem herrschenden ‚Zeitgeist‘ (SCHULTZ 2004: 45) hingewiesen und die Bedeutung der Ideengeschichte für das heutige Geographie-Machen betont werden. So sollten heutige Vorstellungen über Fortschritt und Entwicklung und die Inwertsetzung von Räumen und Ressourcen auf Kontinuitäten und Brüchen, mit den oftmals rassistisch kolonialistischen Vorstellungen eines CARL RITTER, ALFRED HETTNER oder FRIEDRICH RATZEL hin überprüft werden (ZIMMERER 2004; SCHULTZ 2004). Auch würde sich eine Untersuchung lohnen, ob und inwiefern naturdeterministische Annahmen und Begründungszusammenhänge, wie sie insbesondere in der Volks- und Kulturbodenforschung zur Legitimation von Expansionsgelüsten herangezogen wurden, auch heute noch in der Mensch-Umwelt-Forschung ausgemacht werden können. Nicht zuletzt muss sich eine geographische Entwicklungsforschung ihrer kolonialen Geschichte bewusst sein, und das Forschen in und über die Länder des sogenannten Globalen Südens 9 muss ständig neu kritisch hinterfragt werden. Dabei gilt es,
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Trotz vielfältiger Bemühungen passende Begrifflichkeiten für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Länderkategorien zu finden, habe ich bisher noch keine befriedigende Sprechweise gefunden. Eine Unterscheidung zwischen Erster und Dritter Welt macht nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation und somit auch der sozialistischen Zweiten Welt, nicht nur keinen Sinn mehr. Auch die klare Hierarchisierung, bei der die ´westliche´ Welt zur Nummer Eins erhoben und über die Dritte Welt gestellt wird, ist als eurozentristisch abzulehnen. Ähnliches gilt auch für die Unterscheidung zwischen Entwicklungs- und Industrieländer, bei der neben dem eurozentrischen Blickwinkel auch die Logik hinter den Begrifflichkeiten zu hinterfragen ist. Während die einen sich anscheinend noch in Entwicklung befinden, haben die anderen das oberste Ziel der Industrialisierung offensichtlich bereits erreicht. Mit der Bezeichnung ‚Globaler Norden‘ und ‚Globaler Süden‘ soll ein solcher Eurozentrismus überwunden und gleichzeitig eine irreführende geographische Verortung der Ländergruppen aufgehoben werden. Mit dem Adjektiv ‚Global‘ soll darauf verwiesen werden, dass die beiden
2.4 Wissenschaft als Praxis: Forschen in Brasilien als neokoloniales Projekt?
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die bestehenden Kontinuitäten aufzuzeigen und zu brechen und ihnen Ansätze einer relationalen Geographie entgegen zu stellen, allerdings ohne dabei einem naiven Glauben an eine neutrale, ahistorische und unpolitische Wissenschaft zu verfallen. 2.4 WISSENSCHAFT ALS PRAXIS: FORSCHEN IN BRASILIEN ALS NEOKOLONIALES PROJEKT? Die geographische Entwicklungsforschung und das Forschen in Ländern des Globalen Südens in die Tradition der Kolonialgeschichte zu stellen und nach Kontinuitäten und ungebrochenen Verständnissen zu suchen, heißt jedoch nicht, sie simplifizierend gleichzusetzen. Gleichzeitig würde eine radikale Ablehnung der Forschung in Ländern des Globalen Südens weder den Herausforderungen einer globalisierten und vernetzten Welt gerecht, noch könnte damit die grundlegende Problematik des Forschens in Kontexten, in denen wir nicht ‚beheimatet‘ sind, und der Konfrontation mit ungleichen Machtverhältnissen aufgehoben werden. Empirische Forschung bedeutet immer Interaktion in einem historischen und machtgeladenen Setting, das sich ganz unterschiedlich ausgestaltet, sei es, ob ich als Deutscher in Tirol Interviews führe, als Mann mit Frauen, als Akademiker mit Menschen mit geringerer institutionalisierter Schulbildung spreche oder als Europäer in Ländern mit kolonialer Vergangenheit forsche, als Weißer innerhalb eines Kontextes, in dem Hautfarbe immer noch Positionen markiert. Insbesondere begegneten mir in Brasilien überaus starke und emotionale Zurückweisungen, auch von sich selbst als ´links´ bezeichnenden Akademiker_innen, wenn es um Fragen der Abholzung oder Inwertsetzung des amazonischen Regenwaldes und die damit im Zusammenhang stehenden sozialen und ökologischen Problematiken ging. Hier wurde mir mehrmals die Berechtigung des Sprechens entzogen, bzw. meine Kritik an der aktuellen brasilianischen Politik als Neokolonialismus gedeutet. Auch war ich während meiner Forschungsaufenthalte öfters mit der Frage konfrontiert, welches Interesse eine österreichische Universität bzw. der österreichische Staat daran haben kann, Forschung im Nordosten BraHemisphären nicht homogen sind, sondern überaus divergierende Situationen von Verteilungsgerechtigkeit, Armut, politischer Beteiligungsmöglichkeit, Umweltzerstörung etc. aufweisen. Darüber hinaus soll damit aber auch die Fixierung auf nationalstaatliche Grenzen aufgeweicht und auf das Vorhandensein von oftmals extremen Gegensätzen innerhalb von Nationalstaaten, insbesondere auch in der westlichen Welt, verwiesen werden. Trotz des Anspruches auf Reflexivität werden die Begriffspaare Globaler Norden und Globaler Süden oftmals auf dichotomisierende Art und Weise verwendet, wobei meist ein eurozentrischer Unterton mitschwingt. Ein oberflächlich korrektes Bezeichnen ist somit nie Garant für eine reflektierte Verwendungsweise. Die Bezeichnung Globaler Süden bleibt somit eine Hilfskonstruktion, bei der historische Erfahrungen des Kolonialismus, die ungleiche Einbindung in eine ungerechte Welt(wirtschafts)ordnung und aktuelle Phänomene von Armut und Ungleichverteilung mitgenannt werden sollen.
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siliens zu unterstützen. Dabei halfen mir solche Fragen, um mich mit meiner Position und der Legitimation meines Forschens und Suchens auseinander zu setzen. Letztendlich waren es Gespräche über Gemeinsamkeiten und Unterschiede und der gegenseitige Austausch sowohl auf akademischer Ebene, beispielsweise über die Teilnahme an Lehrveranstaltungen oder einer Podiumsdiskussion, die Vernetzung der Arbeit von NGOs in Brasilien und Deutschland, insbesondere mit dem Netzwerk KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) als auch auf persönlich-privater Ebene, auf der sich durch drei längere Aufenthalte in Brasilien Bekanntschaften und Freundschaften entwickelten, die mich ermutigten, trotz vielfältiger Zweifel den Prozess fortzuführen und mein Geographie-Machen auch für sinnvoll zu erachten.
Abb. 3: Das Fremde und das Eigene.
Voraussetzung für ein Forschen in Ländern des Südens muss jedoch sein, die geschichtlichen und politischen Verwobenheiten und ungleichen Machtverhältnisse und meine eigene, privilegierte Position anzuerkennen. Die Bewusstmachung der eigenen Privilegien und das insbesondere von GAYATRI SPIVAK proklamierte „unlearning one´s privileges as loss“ (SPIVAK 1990) heißt jedoch nicht, diese einfach ablegen zu können. Solidarische Zusammenarbeit, sei es im akademischen Kontext oder im Bereich der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit, kann nie im Sinne der vielbeschworenen Partnerschaft auf Augenhöhe stattfinden. Trotz aufrichtiger Bemühungen, meine eigene Position in Frage zu stellen, Herrschaftsund Unterdrückungsverhältnisse abzulehnen und mich für eine andere, ‚bessere‘
2.4 Wissenschaft als Praxis: Forschen in Brasilien als neokoloniales Projekt?
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Welt einsetzen zu wollen, gibt es aus den strukturellen Gegebenheiten kein Entkommen. Denn „Geschichte ist mächtiger als persönliches Wohlwollen. (...) In diesem Geschäft der Solidarität mit den Ärmsten der Armen im globalen Süden macht persönliches Wohlwollen nichts wett. Es ist christlich zu denken, dass man Tausende Jahre von Unrecht wieder gut machen kann, indem man einfach freundlich ist. Also gehe ich hin und (...) versuche, von ihnen und meinen Fehlern zu lernen. Solidarität? Um Himmels willen. Ich bin eine Kasten-Hindu. Vergessen Sie's“ (SPIVAK in DHAWAN 2009: 61).
Die eigenen Privilegien zu verlernen heißt zunächst einmal, die Unmöglichkeit anzuerkennen, aus den Verwobenheiten der Geschichte und den hegemonialen und rassistischen Macht- und Herrschaftsstrukturen heraustreten zu können. Die eigenen Privilegien in den Blick zu nehmen bedeutet, „unseren Blick nicht nur zu schärfen, sondern auch zu wenden, d. h. nicht nur auf diejenigen zu schauen, die marginalisiert, unterdrückt und diskriminiert werden, da genau dieser Blick oftmals ein kolonialer Blick bleibt, der Hierarchisierungen und Dichotomien aufrecht erhält“ (NEUBURGER & SCHMITT 2012: 122).
Vielmehr gilt es, die Privilegierungs-, Normalisierungs- und Universalisierungsmechanismen in den Blick zu nehmen, die auch in meiner Arbeit aufscheinen. Europa muss dabei als unbenannte Referenzgröße (silent referent) markiert und provinzialisiert werden (CHAKRABARTY 2007). Bei einer kritischen Analyse meines Forschungsprozesses muss ich anerkennen, dass dieser letztendlich auch den ‚üblichen‘ Nord-Süd-Bias aufweist. Von vorneherein war mein Vorhaben als ‚Einbahnstraßenforschung‘ konzipiert, bei dem ich als Wissenschaftler aus dem Globalen Norden Daten und Erkenntnisse in Brasilien sammle, um sie dann in den Fundus einer deutschsprachigen Wissenscommunity einzuspeisen. Ein solches Sammeln von Informationen in Ländern des Globalen Südens und deren Transformation in den Forschungseinrichtungen des Globalen Nordens in dominantes Wissen kann als epistemische Gewalt bezeichnet werden (HUSSEINI ARAÚJO & KERSTING 2012: 141). Durch diese Art der Wissensproduktion besteht die Gefahr, existierende Ungleichheitsstrukturen im Kleinen zu reproduzieren. Ein Austausch, bei dem ein_e Wissenschaftler_in aus Brasilien im Gegenzug die Möglichkeit erhält in Europa zu forschen, war im Forschungsdesign nie vorgesehen. Trotz eines experimentellen, offenen Forschungsansatzes, bei dem sich sowohl die genaue Forschungsfrage als auch das Untersuchungsgebiet erst im Laufe des Prozesses vor Ort herauskristallisierte, einem intensiven Austausch vor Ort und ausgiebiger Lektüre brasilianischer Publikationen, beziehe ich mich in erster Linie auf europäische Theoretiker_innen und wende Konzepte, die in einem europäischen Kontext entworfen wurden, auf die Untersuchungsregion an. Wenn ich es schaffe, die Überlegungen, die ich in dieser Dissertation anstelle, mit den Menschen vor Ort zu diskutieren und mich mit meinem Hintergrund in Diskussionen vor Ort einzubringen, könnte dies für einen gegenseitigen Austausch befruchtend sein. In diesem Sinne bedeutet selbstreflexive Forschung jedoch auch immer, ohne Garantien zu arbeiten und offen zu sein – auch für das eigene Scheitern (ILAN KAPOOR in HUSSEINI ARAÚJO & KERSTING 2012: 142).
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2.4.1 Re-writing you, I write myself anew: Die Konstitution des Anderen und des Selbst Als epistemische Gewalt kann auch ein Sprechen über Andere, ihre Festschreibung auf bestimmte Subjektpositionen und die Reproduktion von Herrschaftswissen über die Beforschten gedeutet werden. Dabei ist nicht nur mein persönliches Verhältnis zu meinem jeweiligen Gegenüber, sondern insbesondere auch das Eingebundensein in eine spezifische historische und politische Situation von entscheidender Bedeutung: „Wenn Heterosexuelle über Schwule oder Lesben sprechen, wenn Mehrheitsangehörige über Minderheitenangehörige schreiben, wenn das Zentrum über die Peripherie schreibt, wenn Aristokraten sich über Bauern unterhalten, wenn Inländerinnen über Ausländer sprechen, dann haben wir es mit einer spezifischen Situation des Aussagens zu tun. Für sie ist charakteristisch, daß sich Erfahrungs- und Selbstverständniszusammenhang des Sprechers von dem des Gegenübers unterscheiden. Doch die Differenz der Horizonte ist nur die eine analytisch angebbare Seite der Untersuchungssituation. Die andere ist die, daß es sich um EtablierteAußenseiter-Beziehungen (Elias & Scotson, 1993) handelt, um Beziehungen der Macht also“ (MECHERIL 1999: 240).
Mit ihrem viel beachteten und viel diskutierten Essay ‚Can the subaltern speak?‘ (SPIVAK 2008) kritisiert GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK unter anderem auch die Rolle von Intellektuellen – stellvertretend hierfür GILLES DELEUZE und MICHEL FOUCAULT – bei der Repräsentation subalterner Gruppen. Dieser Text war vielfältiger Anlass, um über das Verhältnis zwischen Subjekten und Objekten von Forschung und Artikulation nachzudenken. In SPIVAKS Lesart repräsentieren sogenannte Expert_innen, Forscher_innen und Intellektuelle das „Für-sich-selbstSprechen“ der Anderen, sie werden zu einer Art „Bauchredner für unterprivilegierte Gruppen“ (STEYERL 2008: 11), worin SPIVAK eine „uneingestandene Geste der Selbstüberhöhung“ (ebd.) entdeckt. Trotz des pointierten Titels geht es SPIVAK letztendlich nicht um die Frage, ob subalterne Gruppen sprechen können oder nicht, sondern vielmehr darum, ob und inwiefern sie sich Gehör verschaffen können und welche Mechanismen der Repräsentation ihre Stimmen ausblenden, vereinnahmen oder zum Schweigen bringen. Im Sprechen über die Anderen ist oftmals ein gewaltvolles Moment der Aneignung und Kolonisierung angelegt, wodurch die Welt als Objekt westlichen Wissens reproduziert wird. In der Konstruktion des Anderen findet jedoch gleichzeitig die Konstitution des Eigenen als integrales, autonomes und wissendes Subjekt statt. Nicht zuletzt darauf verweist BELL HOOKS, wenn sie proklamiert: „I am waiting for them to stop talking about the ‚other‘, to stop even describing how important it is to be able to speak about difference. ... Often this speech about the ‚other‘ is also a mask, an oppressive talk hiding gaps ... [it] annihilates, erases: ‚No need to hear your voice when I can talk about you better than you can speak about yourself. No need to hear you voice. Only tell me about your pain. I want to know your story. And then I will tell it back to you in a new way. Tell it back to you in such a way that it has become mine, my own. Rewriting you, I write myself anew. I am still author, authority. I am still colonizer, the speaking subject, and you are now at the center of my talk‘“ (BELL HOOKS in HARVEY 2007: 103).
2.4 Wissenschaft als Praxis: Forschen in Brasilien als neokoloniales Projekt?
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Jedes Forschen, Schreiben und Sprechen ist daher immer auch ein ‘Sprechen über’ und jede Positionierung unweigerlich auch ein ‚Sprechen für‘. Problematisch wird ein solches Sprechen vor allem dann, wenn ich es nicht als meine Erzählung von Welt markiere, sondern wenn ich es als Abbild der Realität derer verstehe, die ich bespreche (MECHERIL 1999: 249). Somit wendet sich auch hier der Blick von den essentialisierten Subjekten und von der Suche nach der ‚wahren Subalternen‘ hin zu den Konstitutionsprozessen von Subalternität und den Bedingungen meines Erkennens. Es geht nicht darum, der Subalternen ein Mikrofon vor den Mund zu halten (STEYERL 2008: 10) und ihr zum Sprechen zu verhelfen, sondern vielmehr um mein Hören, mein Sehen, mein Lesen. Denn letztendlich ist mein eigenes Erleben der einzige Zugang, der mir zu den Phänomenen der Welt offen steht. Somit ist „nicht nur das untersuchte Objekt [...] der entscheidende Ort, an dem relevante Wahrnehmungen gemacht und Informationen gesammelt werden können. Auch an den Forschenden zeigen sich Regungen und Erfahrungen, deren Wahrnehmung für die Forschungssituation von Bedeutung sind [sic]. [...] Durch die Konfrontation mit dem Fremden werden Rollenbilder und kulturelle Gewissheiten, die die Identität der Forschenden stützen und ihre Wahrnehmung lenken, erschüttert. Mit der Beherrschung von abstrakten Begriffen und theoretischen Modellen, wie sie die Wissenschaft anbietet, ist immer auch die Vorstellung von Macht verbunden, weil man glaubt, die Welt für sich geordnet zu [haben]“ (MEINRAD ZIEGLER in PLODER 2009: 8).
Meine Ordnung der Welt kann somit in der Konfrontation „mit dem irritierenden Fremden als produktive Störung“ (ebd.: 9) in Frage gestellt werden und in Unordnung geraten. Anstelle eines künstlichen Heraufbeschwörens einer SubjektSubjekt-Konstellation, wie sie meiner Meinung nach in Ansätzen partizipativer Aktionsforschung oftmals versucht wird, könnten über den „bewussten Einsatz der Differenz zwischen Subjekt und Objekt der Forschung sowie die Mobilisierung von ‘Wissen um die soziale Logik der subjektiven Bedingtheit’ [KANNONIERFINSTER & ZIEGLER]“ (ebd.: 12)
Widersprüche und Unstimmigkeiten zu Tage treten und artikuliert werden. Forschung verstehe ich somit als Prozess, bei dem meine eigenen Gewohnheiten, Vor-Urteile und Zuschreibungen, meine Wissensordnungen und mein Wertesystem in Frage gestellt werden und ins Wanken geraten. Dies kann auch in einer Forschungssituation herausgefordert werden, wenn ich (mehr oder weniger bewusst) die Kontrolle über die Gesprächssituation verliere, meine privilegierte Rolle als Fragesteller einbüße und plötzlich Fragen zu mir und meinem Kontext gestellt bekomme. Solche Momente der Irritationen, des gegenseitigen Verständigens (nicht immer Verstehens) und Zuhörens bildeten die Grundlage für die Annäherungen an meinen Forschungsgegenstand, die Mensch-Umwelt Beziehungen im Nordosten Brasiliens. Dabei stellte das Zuhören und das Zuhören-Lernen die wichtigste Komponente meiner empirischen Forschungen dar. Subcomandante MARCOS beschrieb den Prozess des Zuhören-Lernens zwischen der Zapatistischen Befreiungs-
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2. Die Produktion von Wissen
Textbox 2: ROSA LUBIA FALK GARCIA: Schatten in dem Land der Weißen.
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bewegung EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) und den indigenen Gemeinden einmal in einem Interview: „Das ist die große Lektion, die die indigenen Gemeinden der ursprünglichen EZLN vermittelt haben. […] Die indigenen Gemeinden bringen ihr das Zuhören bei, und das ist es, was wir lernen. Die wichtigste Lektion, die wir von der indigenen Bevölkerung lernen, ist, dass wir hören lernen, zuhören lernen müssen“ (MARCOS in HOLLOWAY 2006: 151).
2.4.2 Empirisches Umherschweifen 10: Ein offener Prozess des Suchens und Findens Wie bereits erwähnt war mein Forschungsprozess als offener und experimenteller Prozess des Suchens und Findens (RAHE 2009: 10) konzipiert. Aufgrund meines Geographiestudiums in Tübingen und Rio de Janeiro mit dem Regionalschwerpunkt Lateinamerika und meiner institutionellen Einbindung innerhalb der Arbeitsgruppe Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsforschung (AGEF) bei Prof. MARTIN COY am Institut für Geographie der Universität Innsbruck hatte ich mich schon relativ früh auf Brasilien und eine thematische Verortung innerhalb der Mensch-Umwelt Beziehungen eingelassen. Der Beginn der Bauarbeiten für das Ableitungsprojekt des São Francisco Flusses und die sich daraufhin konstituierenden Widerstandsbewegungen erweckten mein Interesse für den Nordosten Brasiliens und die kausal hergestellten Zusammenhänge zwischen natürlichen Bedingungen und sozio-ökonomischen Entwicklungen. Doch die genaue Ausgestaltung meiner Arbeit und die Fokussierung auf eine bestimmte Untersuchungsregion blieben lange Zeit offen. Meine Selbstverortung innerhalb einer politischen Linken und meine Mitarbeit im Vorstand von KoBra haben dabei Einfluss auf mein Sehen und meine Praktiken ausgeübt. Mein Selbstverständnis beeinflusst(e) dabei auch das, was ich auch außerhalb eines akademischen Kontextes lese und interpretierend verstehe, führte zur Fokussierung auf die Widerstandsbewegungen und filterte meinen Zugang zu den unterschiedlichen Akteursgruppen. Von Anfang an hatte ich einen eher kritischen Blick auf das Ableitungsprojekt des São Francisco, war viel empfänglicher für die negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen des Projektes als für die Argumente der Befürworter_innen. Die Kontaktaufnahme mit Politiker_innen und Vertreter_innen multinationaler Unternehmen fiel mir schwerer als der Kontakt, der Umgang und das Zusammenleben mit Menschen aus der NGO-Szene, mit Kleinbäuer_innen und Wissenschaftler_innen. Diesen Forschungs-Bias im Blick versuchte ich von Beginn an, Kontakte zu den Vertreter_innen unterschiedlichster Positionen aufzubauen und meine Gesprächs10 Mit dem Ausdruck des Umherschweifens lehne ich mich an das ‚dérive‘ der Situationistischen Internationalen an, womit ein zunächst zielloses Durchstreifen von (zumeist urbanen) Räumen gemeint ist, um ein „kritisches Bewußtsein [ihres] [...] spielerischen Potentials“ und ihre „Möglichkeiten, neue Wünsche zu erwecken“ (ANDREOTTI in SCHRAGE O.J.) erfahrbar zu machen.
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führung, mein Eingenommen-Sein und mein Verhalten in Interviewsituationen in den Gesprächsprotokollen und Aufzeichnungen meines Feldtagebuchs kritisch zu reflektieren. Aufgrund meiner Lehrverpflichtungen am Institut für Geographie war es mir nur möglich, in den Semesterferien nach Brasilien zu reisen. Meine ‚Feldaufenthalte‘ teilten sich in drei längere Aufenthalte im Februar–März 2008, Juli– September 2008 und Juli–September 2009 auf, womit der „Ideologie des langen Forschungsaufenthaltes“ (SPLITTER in PFAFFENBACH 2007: 157) nicht ganz entsprochen werden konnte. Andererseits ermöglichte mir diese Art der NäheDistanz-Beziehung eine Begleitung der Ereignisse über einen längeren Zeitraum hinweg und eine regelmäßige kritische Prüfung meines Forschungsprozesses aus der österreichischen Distanz heraus.
Abb. 4: Kontextualisierung der Untersuchungsregion.
Meine Suche vor Ort führte mich von Salvador da Bahia, wo ich insbesondere mit ANDREA ZELLHUBER von der Landpastoral Comissão Pastoral da Terra (CPT) einen engen Kontakt aufbauen konnte, über die Widerstandsbewegungen im Tal des São Francisco selbst (insbesondere in den Städten Sobradinho, Juazeiro und Cabrobó) bis in die Region Baixo Jaguaribe im Nordosten des Bundesstaates Ceará, die letztendlich zu meiner primären Untersuchungsregion wurde (s. Abb. 4). Die Gründe der Entscheidung für diese Region lagen zum einen in der Annahme, dass die wirtschaftlichen und politischen Interessen im Bundesstaat Ceará einen erheblichen Anteil an der tatsächlichen Umsetzung des Ableitungsprojektes
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haben. Somit schien ein genauer Blick auf die wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen (Macht)Verhältnisse und ihr Eingebundensein in das nationale Integrationsprojekt vielversprechend zu sein. Zum anderen boten die aktuelle Dynamik der Expansion der exportorientierten Bewässerungslandwirtschaft, der Ausbau der Tourismusinfrastruktur und des Hafenkomplexes von Pecém und die sich dabei artikulierenden und manifestierenden Konflikte und Widerstände bessere Möglichkeiten für eine empirisch-ethnographisch angelegte Studie als die Auseinandersetzungen um zukünftige Auswirkungen der Flussableitung im São Francisco Tal selbst (s. Kap. 10.3.1). Die methodische Grundlage für meine empirischen Untersuchungen stellte die teilnehmende Beobachtung dar. Neben dem alltäglichen Leben und Erleben in Fortaleza, Limoeiro do Norte und einigen kleinen Gemeinden nahm ich regelmäßig an Veranstaltungen und (Diskussions)Prozessen teil, wobei ich mich jeweils als Forschender zu erkennen gab und versuchte, die Beobachtungssituation möglichst transparent zu gestalten. Neben der Teilnahme an Seminaren, Konferenzen und Fortbildungen, beteiligte ich mich an Strategietreffen und Partizipationsprozessen, an Demonstrationen, Streiks und Besetzung, an internen Sitzungen und öffentlichen Anhörungen, an Seminaren, Diskussionsrunden, Festen etc. Darüber hinaus spielten offen gestaltete Leitfadeninterviews eine zentrale Rolle innerhalb meines Methodenmixes. Die Interviews waren zumeist grob vorstrukturiert, nahmen jedoch je nach Interviewsituation und Redefreudigkeit der Gesprächspartner_innen einen sehr unterschiedlichen Verlauf. Die meisten Interviews – vor allem die formelleren und langfristig geplanten – wurden mit einem Aufnahmegerät aufgezeichnet, so dass allein dadurch die Forschungssituation performativ deutlich wurde. Neben der Transkription der Interviews fanden auch die dabei notierten Beobachtungen und Notizen Eingang in den Auswertungsprozess. Darüber hinaus wurden in 13 Gemeinden rund um den Stausee Castanhão Umfragen mit einem halbstandardisierten Fragebogen durchgeführt, die eine quantitative Auswertung ermöglichten (s. Kap. 10.3.3). Um die Argumentationslogiken von einzelnen Gruppen (soziale Bewegungen, Gemeinden) und deren kollektives Verständnis der aktuellen Prozesse in der Region herausarbeiten zu können, wurden in einigen Fällen auch Gruppeninterviews durchgeführt.
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2. Die Produktion von Wissen
2.4.3 Ich schreibe, um mich zu verändern Eine solche Vorgehensweise zielt darauf ab, einen „maximalen Spielraum für die Relevanzsetzung der Sprecherinnen und eine möglichst große Bandbreite an Themen und narrativen Settings zu gewährleisten“ (TATE in PLODER 2009: 14). Dabei bleibt die Produktion von Wissen notwendigerweise immer unabgeschlossen. Wenn Wissen immer nur aus einem bestimmten Kontext heraus produziert und im Umkehrschluss auch verstanden werden kann, dann ist dieses Wissen immer nur temporär gültig, immer auch veränderlich und letztendlich kontingent. Es geht also nicht darum, widerspruchsfreies, kategorisches Wissen hervorzubringen und die „bedrohlichen Zwischenräume zuzuschütten“ (PFISTER in RADTKE & SCHULZ-FORBERG 2006: 4), sondern darum, die „Phänomene in der Schwebe zu halten [und] offenzubleiben für irritierende Strukturelemente des Felds“ (BERESWILL & RIEKER in PLODER 2009: 18). In diesem Sinne plädieren GILLES DELEUZE und FÉLIX GUATTARI für eine nomadische Denkweise, die anstelle einer „Verdichtung zu einer einheitlichen Perspektive“ die „Heterogenität der Ereignisse und die Vielfalt möglicher Anknüpfungs- und Anschlussmöglichkeiten“ herausstellt und somit „jeglicher Verfestigung von Strukturen, Begriffen und Denkschemata“ entgegenwirkt (SCHROER 2008: 153).
Abb. 5: Situated Knowledge: Erklärungen, die auf unterschiedlichen Erfahrungen beruhen.
2.5 Was ist Kritik? Wissenschaft als politisches Projekt
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Dadurch wird aber auch der Prozess des Schreibens und die Person des_der Leser_in als Adressat des Textes und als Ort, an dem das produzierte Wissen auf eine ganz bestimmte Art und Weise verstanden wird, aus der Bedeutungslosigkeit geholt und zumindest in den Randbereich der Aufmerksamkeit verschoben. Schreiben wird zur Interaktion zwischen mir und dem_der Leser_in. Dabei wird die Sprache zu einem Ort der Auseinandersetzung. Begrifflichkeiten und Ausdrucksformen bedingen, ob Zwischenräume zugeschüttet oder die Dinge in der Schwebe gehalten werden können, eine bestimmte Sprache ermächtigt mich, eine Dissertation zu schreiben, mir Gehör zu verschaffen, während mich andere nicht verstehen werden. „This language, that enabled me to attend graduate school, to write a dissertation, to speak at job interviews, carries the scent of oppression. Language is also a place of struggle... . Dare I speak to oppressed and oppressor in the same voice? Dare I speak to you in a language that will move beyond the boundaries of domination – a language that will not bind you, fence you in, or hold you?“ (BELL HOOKS in HARVEY 2007: 102).
Die eigene Rolle als Wissen-Produzierenden ernst zu nehmen heißt gleichzeitig aber auch, den Prozess der Wissensproduktion ernst zu nehmen. In der Auseinandersetzung mit der Thematik, während der Aufenthalte im ‚Feld‘ und durch die Konfrontation mit den produzierten Texten und Bedeutungszuweisungen verändere ich mich, verändert sich mein Denken und meine Sicht der Welt. Foucault bezeichnete sich einmal als Experimentator, der schreibt, um sich zu verändern: „Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So daß das Buch ebenso mich verändert hat wie das, was ich denke. Jedes Buch verändert das, was ich gedacht habe, als ich das vorhergehende Buch abschloß. [...] Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor“ (FOUCAULT 1980: 24).
Der Schreibprozess als selbsttransformative Praxis hat demnach zum Ziel, meine Veränderungen transparent zu machen und die Widerstände und Irritationen, die sich im Zuge der Beschäftigung mit der Thematik ergeben haben, an den_die Leser_in weiterzugeben, dadurch Sichtweisen auf die Welt zu verändern, um somit mögliche Handlungsmöglichkeiten und -kompetenzen zu erweitern.
2.5 WAS IST KRITIK? WISSENSCHAFT ALS POLITISCHES PROJEKT „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern“ (KARL MARX, 11. Feuerbach-These).
Es ist ein sehr hoher Anspruch, den KARL MARX in seiner 11. Feuerbach-These formuliert. Vermag kritische Wissenschaft einen solchen Anspruch jedoch einzulösen, zumal ein Rückgriff auf universelle Wahrheiten nicht möglich und Wissenschaft somit nicht in der Lage ist, wahre und richtige Erkenntnisse zu liefern? Ist es denn überhaupt möglich, von einer kritischen Wissenschaft zu sprechen, oder
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2. Die Produktion von Wissen
handelt es sich dabei nicht eher um eine Tautologie, da „wissenschaftliches Denken immer kritisches Denken ist“ (MARKARD in BELINA 2008: 343)? BERND BELINA antwortet auf die zweite Frage mit MAX HORKHEIMER, der kritische Wissenschaft von einer Wissenschaft unterscheidet, die innerhalb der gegebenen Bedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse argumentiert und agiert, für die somit die „(Herrschafts/-)Struktur der Gegenwart [...] den Maßstab [bildet]“ (HORKHEIMER in BELINA 2008: 343). Somit setzt kritische Wissenschaft an der Hinterfragung der momentanen Verhältnisse und der Aufdeckung ihrer gesellschaftlichen Produziertheit und ihrer scheinbaren Evidenz an. Auch ohne einen simplifizierenden Rückgriff auf eine feststehende Position besteht dabei die Möglichkeit der Kritik, die Naturalisierungsprozesse und Reproduktionsmechanismen zu dekonstruieren und über die scheinbare Gegebenheit der Verhältnisse hinaus zu weisen. In seinem Vortrag vor der Société française de philosophie von 1978 stellt MICHEL FOUCAULT in Anlehnung an IMMANUEL KANTS Text „Was ist Aufklärung?“ die Frage: Was ist Kritik? Zunächst formuliert er die Gemeinsamkeit verschiedener Verständnisse von Kritik. Demnach ist Kritik „eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch – etwas, was man die Haltung der Kritik nennen könnte“ (FOUCAULT 1992: 8).
Kritik ist somit in erster Linie ein Verhältnis, eine Haltung, die sich als „Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ (ebd.: 12) bestimmen lässt. Regieren wird dabei nicht im engeren Sinne einer staats-politischen Führungstechnik verstanden, sondern im Sinne von Mechanismen, die die Möglichkeiten der Existenz vorschreiben und eine bestimmte Ordnung der Wahrheit etablieren (BUTLER 2000: 257). Nicht regiert werden wollen heißt, eine vorgegeben Ordnung der Wahrheit abzulehnen bzw. zu hinterfragen, „nicht als wahr annehmen, was eine Autorität ansagt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt“ (FOUCAULT 1992: 14). Kritik dient dabei nicht in erster Linie als Instrument der Unterscheidung, durch das Wahrheit im aufklärerischen Sinne erkannt werden kann, noch als Instrument der Bewertung, mit dessen Hilfe zwischen gut und schlecht unterschieden werden kann. Vielmehr stellt die Kritik das System der Bewertung selbst in den Mittelpunkt, fragt nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Macht und stellt somit epistemologische Gewissheiten grundsätzlich in Frage (BUTLER 2000: 251). Es geht somit sowohl um die Konstitutionsbedingungen der Ordnung der Welt und die Bedingungen ihrer Akzeptanz, als auch und ganz wesentlich um die Grenzen dieser Bedingungen, um die Bruchstellen, die innerhalb dieser Ordnung ausfindig gemacht werden können, und die ihre Kontingenz und Veränderbarkeit offenbaren (ebd.: 259). FOUCAULT träumt von einem Kritiker (hinzugefügt werden sollte noch eine Kritikerin) als einem „Zerstörer von Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht, der fortwährend
2.5 Was ist Kritik? Wissenschaft als politisches Projekt
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seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen sein, noch was er denken wird“ (FOU1978: 197).
CAULT
Eine solche produktive Unruhe im Denken (MECHERIL 2010) ermöglicht dann auch, die Dinge immer wieder neu in Frage zu stellen, neue Perspektiven einzunehmen und somit die prinzipielle Kontingenz von Wirklichkeit ernst zu nehmen. Das bedeutet nicht, die Bedeutung sozialer Strukturen zu unterschätzen, sondern sie als Sedimentierungen gesellschaftlicher Prozesse zu begreifen, auf ihre Produziertheit innerhalb von machtvollen Strukturen zu verweisen, um somit ihre Veränderbarkeit hervorzuheben (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 13ff.). Diese grundsätzliche Transformationsmöglichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und die Betonung ihrer Widersprüchlichkeit, Heterogenität und Komplexität (LANTZSCH 2011: 34) zielt darauf ab, zusätzliche Optionen in den Möglichkeitsraum einzuführen und marginalisierte Positionen stärker ins Zentrum zu rücken (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 27). Dies eröffnet den Raum für eine Vielzahl von Widerstands- und Handlungsmöglichkeiten. In diesem Sinne die natürlich erscheinenden, verkrusteten „Ordnungen zum Tanzen [zu] bringen“ (BELINA & DZUDZEK 2009: 144) wäre mehr als die Welt nur neu zu interpretieren. Allerdings warnt u.a. CHANTAL MOUFFE davor, die momentanen Verhältnisse wiederum in einer Vorstellung einer harmonischen Gesellschaft auflösen zu wollen. In ihrem Konzept einer ‚radikalen Demokratie‘ plädiert sie dafür, die „niemals vollständig aufzulösenden Brüche, Differenzen und Widersprüche als notwendigen Bestandteil sozialer Wirklichkeit anzuerkennen und als Potenziale für eine fortwährende Debatte um die Gestaltung von Gesellschaft zu nutzen“ (GLASZE & MATTISSEK 2009a: 168).
3. KONSTITUTION VON WIRKLICHKEIT II: DIE ORDNUNG DES WISSENS 3.1 DISKURS Der Begriff ‚Diskurs‘ hat in den letzten Jahren sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der Alltagssprache einen enormen Aufschwung erlebt. Ob vom Klimadiskurs die Rede ist oder vom Diskurs der Kanzlerin – die inflationäre Verwendung des Diskursbegriffes erfreut sich großer Beliebtheit und dadurch auch fast grenzenloser Beliebigkeit. Somit hat sich der Begriff von seiner Bedeutung als Analysekategorie immer mehr gelöst und ist zu einem „nebulösen Allerweltswort“ mutiert (BETTINGER 2007: 76). Diese Bestandsaufnahme gilt jedoch in erster Linie für den deutschsprachigen Raum, während in anderen Sprachregionen der Begriff schon seit langem fester Bestandteil der Alltagssprache ist. Im angelsächsischen Raum wird ein einfaches Gespräch als discourse bezeichnet; im Französischen und auch im Portugiesischen wird unter discours bzw. discurso eine Rede, ein Vortrag, eine Predigt oder Vorlesung verstanden (KELLER 2007: 13). Den Begriff der Diskursanalyse prägte in den 1950er Jahren zunächst der Linguist ZELLIG S. HARRIS. In Anlehnung an die Sprachphilosophie – insbesondere an Überlegungen von LUDWIG WITTGENSTEIN, JOHN AUSTIN und JOHN SEARLE – bezeichnete er seinen Ansatz der Analyse von satzübergreifenden sprachlichen Strukturen indigener Sprachen als discourse analysis (KELLER 2008: 102). Der dieser Arbeit zugrunde liegende Diskursbegriff lehnt sich stark an das Diskursverständnis MICHEL FOUCAULTS an. Dies ist insofern problematisch, als dass FOUCAULT keine konsistente Diskurstheorie vorgelegt hat, sondern seine Schriften sich durch Diskontinuitäten und Bedeutungsverschiebungen auszeichnen, was gewissermaßen bereits als eines seiner methodischen Prinzipien bezeichnet werden kann (BETTINGER 2007: 75): „Foucault entzog sich zeit seines Lebens jeder theoretischen Festlegung, stellte seine Überlegungen immer wieder in Frage, überarbeitete fortlaufend seine eigenen Definitionen und verwendete beispielsweise auch den Diskursbegriff in voneinander abweichenden Varianten“ (BURTSCHER-BECHTER 2004: 257–258).
Allgemein wird FOUCAULTS Werk in eine diskurstheoretische, eine machttheoretische und eine ethische Phase eingeteilt, wobei FOUCAULT selbst diese Phasen nicht als Brüche, sondern als „sukzessive theoretische Verschiebungen im Hinblick auf eine leitende Fragestellung“ (FOUCAULT in KLEINER 2001: 8) begreift, nämlich die Frage, wie sich moderne Subjektivierungsweisen formieren bzw. transformieren (ebd.). Somit ist es nicht weiter verwunderlich, dass die definitorischen Annäherungen und Umschreibungen des Diskursbegriffes bei Autor_innen, die sich explizit
3.1 Diskurs
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auf FOUCAULT beziehen 1, zunächst sehr heterogen erscheinen. Diskurse werden dabei als „Ensemble von Ideen, Konzepten und Kategorien“ (HAJER 2003: 275), als „Aussagenkomplex“ (KELLER 2008: 236), „gesellschaftliche Äußerungsformen“ (BETTINGER 2007: 76) oder als „institutionalisierte und geregelte Redeweisen“ (STRÜVER 2009: 64) bezeichnet. Sie bilden somit ein strukturiertes „Bündel von Aussagen“ (MATTISSEK & REUBER 2007: 178), das eine bestimmte „Sprechweise zur Verfügung stell[t]“ (HALL 2002: 150). Darüber hinaus werden Diskurse als „institutionalisierte [...] Bedeutungsarrangements“ (KELLER 2003: 205), als „strukturierte Zusammenhänge“ (KELLER 2008: 233) im Sinne einer „Struktur, welche die symbolische Praxis von Akteuren anleitet“ (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 32), bzw. als „kontinuierlich[e] Bemühungen um Strukturierung“ (NONHOFF 2007: 9) benannt. Hierbei wird vor allem auf den strukturierenden Charakter von Diskursen bei der Herstellung symbolischer Ordnungen verwiesen. FOUCAULT selbst hat Diskurs einmal lakonisch als „gesprochenes oder geschriebenes Ding“ (FOUCAULT in BETTINGER 2007: 76) bezeichnet, dessen Wirkung über die Sprache hinausgeht. In Abgrenzung zu strukturalistischen Ansätzen sieht er die Aufgabe einer Diskursanalyse darin, Diskurse nicht mehr als „Gesamtheit von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (FOUCAULT 1973: 74).
Dieses wirklichkeitskonstituierende Moment ist von zentraler Bedeutung für eine poststrukturalistische Diskursanalyse. Dadurch erscheint es möglich, die Prozesse der Hervorbringung und Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse und die Möglichkeiten ihrer Transformation jenseits starrer, (natur)deterministischer Vorstellungen auf der einen und handlungstheoretischer Annahmen autonomer Subjekte auf der anderen Seite zu fassen und methodisch zu bearbeiten. Doch anstelle der Darstellung einer methodisch kohärenten Vorgehensweise hat FOUCAULT eher Spuren und „gestrichelte Linien“ gelegt, und so liege es nun an uns, sie „fortzuführen oder anderswohin zu lenken“ (FOUCAULT 1978: 56). Insofern ist auch die hier vorgeschlagene und verfolgte Vorgehensweise eines Be-Greifens von Diskursen und der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse mithilfe der Diskurs- und
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Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht näher auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu weiteren Ansätzen der Diskursanalyse, wie eher sprachwissenschaftlich orientierte Ansätze, etwa der linguistischen Diskurssemantik (u.a. DIETRICH BUSSE & WOLFGANG TEUBERT), oder marxistisch-ideologiekritische Ansätze, wie die Critical Discourse Analysis (u. a. NORMAN FAIRCLOUGH, RUTH WODAK), oder die im deutschsprachigen Raum prominente Kritische Diskursanalyse (u.a. JÜRGEN LINK & SIEGFRIED JÄGER) eingegangen werden (vgl. u.a. KELLER 2007;, GLASZE & MATTISSEK 2009b; JÄGER 2004). Deutlich grenzt sich der FOUCAULTSCHE Diskursbegriff jedoch von der normativ orientierten Diskursethik von JÜRGEN HABERMAS ab, bei der Vorstellungen eines ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ und von wahrhaftigen und gültigen Aussagen vernunftbegabter Sprecher_innen eine zentrale Rolle spielen KREISKY 2002: 6; KELLER 2007: 18.
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3. Die Ordnung des Wissens
Dispositivanalyse als ein Bedienen aus der FOUCAULTSCHEN Werkzeugkiste zu verstehen, bei der „diese[r] oder jene[r] Satz, diese oder jene Idee oder Analyse als Schraubenzieher verwendet [wird], um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demonstrieren oder zu sprengen“ (FOUCAULT 1976: 53).
3.1.1 Die Ordnung der Dinge: ... die von weitem wie Fliegen aussehen Die Entstehung von FOUCAULTS einflussreichem Werk ‚Die Ordnung der Dinge‘ geht auf die Lektüre eines Textes von JORGE LUIS BORGES zurück, in dem eine „‚gewisse chinesische Enzyklopädie‘“ erwähnt wird, „in der es heißt, daß ’die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebären, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen‘“ (FOUCAULT 1974: 17).
Neben dem Lachen, das bei der Lektüre des Textes „alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt“, gesellt sich alsbald das „Erstaunen über diese Taxonomie“, die uns an die „Grenzen unseres Denkens“ führt, über „die schiere Unmöglichkeit, das zu denken“ (ebd.). Doch warum erscheint eine solche Ordnung der Dinge so unmöglich? Wieso ist sie für uns nicht sinn-voll und somit auch nicht denk- und sagbar? „Das Unbehagen, das uns lachen läßt“ (ebd.: 21), wenn wir diese Aufzählung lesen, hat damit zu tun, dass wir die vorgeschlagene Ordnung der Dinge mit unseren Denkgewohnheiten, mit uns vertrauten logischen Schließungsmöglichkeiten und Kategoriensystemen abzugleichen versuchen und keine Übereinstimmungen dabei finden können. Das heißt, die Möglichkeiten zu denken, Dinge zu benennen und über Dinge sinnvoll sprechen zu können sind begrenzt und sind nicht von individuellen Entscheidungen abhängig. Sie sind bereits vorhanden, wenn wir über die Dinge sprechen wollen, sind uns vorgängig: „Foucault ist der Überzeugung, dass etwas in uns (der ’Diskurs‘ oder die Sprache selbst) immer schon viel länger denkt als wir. (...) Der Diskurs ist rar, denn jede Zeit sagt und sieht nur, was sie über die mit Scheuklappen versehenen Diskurse wahrzunehmen vermag. Der für sie sichtbare Teil einer historischen Tatsache erscheint ihr vertraut, natürlich und vernünftig“ (VEYNE in BETTINGER 2007: 78).
In einer ersten Annäherung können Diskurse als Instanz angesehen werden, über die geregelt wird, was innerhalb einer spezifischen raum-zeitlichen Konstellation sinnvoll gesagt werden kann und was nicht. Ein solches Sagbarkeitsregime hat beispielsweise EDWARD SAID in seinem Werk Orientalism untersucht (SAID 1979). Dabei analysierte er, wie im ‚aufgeklärten Westen‘ – SAID wertete dafür Werke von britischen und französischen Wissenschaftler_innen und Schriftsteller_innen aus – Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts über den ‚mysteriösen Orient‘ gedacht und gesprochen werden konnte. Mit Orientalism bezeichnet er
3.1 Diskurs
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„jene Sammlung von Träumen, Bildern und Vokabeln, die für jeden verfügbar sind, der einmal versucht, über das zu sprechen, was östlich der Trennlinie liegt“ (SAID in HALL 2002: 159). Der Diskurs stellt dabei eine bestimmte Sprechweise zur Verfügung, wodurch erst die Gegenstände, von denen gesprochen wird, auf eine bestimmte Art und Weise hergestellt werden – beispielsweise ‚der Orient‘. Bei der Analyse von Diskursen geht es jedoch nicht um die Analyse von einzelnen Äußerungen als singuläre, einmalige Ereignisse. Vielmehr interessiert die „typische Gestalt“ (KELLER 2008: 168) von Äußerungen im Sinne von diskursiven Aussagen, die auf ihren Zusammenhang als „strukturell verknüpfte Aussagenkomplexe“ (ebd.: 236) hin untersucht werden. Dabei ist von besonderem Interesse, wie innerhalb solch strukturierter Aussagenkomplexe die verschiedenen Elemente in Beziehung gesetzt werden und wie ihnen somit Bedeutung zugeschrieben wird. Solche Bedeutungsarrangements (ebd.: 205) werden über den Diskurs auf Dauer gestellt und mit mehr oder weniger starken Geltungsansprüchen versehen (NONHOFF 2007: 9; KELLER 2008: 236). So sind in der von FOUCAULT zitierten chinesischen Enzyklopädie nicht die „Fabeltiere [...] unmöglich – sie werden als solche bezeichnet –, sondern der geringe Abstand, in dem sie neben den Hunden, die herrenlos sind, oder den Tieren, die von weitem wie Fliegen aussehen, angeordnet sind. Was jede Vorstellungskraft und jedes mögliche Denken überschreitet, ist einfach die alphabetische Serie (A, B, C, D), die jede dieser Kategorien mit allen anderen verbindet. [...] Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten können“ (FOUCAULT 1974: 18–19).
Eine Sinn-Ordnung, innerhalb derer die Anordnung der Plätze und die Bedeutung der Nachbarschaftsbeziehungen geregelt sind, kann als diskursive Formation bezeichnet werden, über die das Sag- und Denkbare und somit letztendlich auch die Handlungsweisen vorstrukturiert werden. 3.1.2 Die Ordnung des Diskurses Der Wille zur Wahrheit Diskurse 2 bilden Wirklichkeit – im Sinne einer objektiven Realität – nicht ab. Vielmehr stellen sie diese her, indem sie regeln, wie über die Dinge gedacht und gesprochen werden kann, wie sie ‚wahr‘genommen werden können und welche Bedeutungszuschreibungen möglich sind, um innerhalb einer ‚wahren‘ Ordnung der Dinge agieren zu können. Analog dazu ist mit Wahrheit nicht eine einzige objektive Wahrheit, nicht „die Gesamtheit der wahren Dinge [...] [gemeint], son2
Ich habe versucht, mich auf einige wesentliche, für das Verständnis des von mir gewählten Diskursansatzes notwendige Funktionsweisen zu beschränken. Für eine ausführlichere Beschäftigung mit der Diskurstheorie in Anlehnung an MICHEL FOUCAULT siehe u.a.: KELLER 2008; BETTINGER et al. 2007; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008; GLASZE & MATTISSEK 2009c; BAURIEDL 2007 oder die verschiedenen Schriften und Ausführungen von FOUCAULT selbst.
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3. Die Ordnung des Wissens
dern die Gesamtheit der Regeln, denen entsprechend man das Wahre vom Falschen scheidet“ (FOUCAULT 2005e: 106). Diskurse stellen Regulierungsweisen zur Verfügung, anhand derer zwischen Wahrem und Falschem unterschieden werden kann, anhand derer geregelt wird, was als gültiges Wissen anerkannt werden kann und was nicht. Zu solchen Formationsregeln zählen Mechanismen der Grenzziehung (bspw. zwischen wahr und falsch), Mechanismen der Verwerfung und der Ausschließung (beispielsweise über Verbote) (SEIER 2001: 93). Die Entstehung solcher Formationsregeln erfolgt jedoch nicht in einem luftleeren Raum. Vielmehr sind sie Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, deren Voraussetzungen sie gleichzeitig sind. Sie bilden sich innerhalb gesellschaftlicher Strukturen heraus und fungieren als Konstitutionsbedingungen des Sozialen (BETTINGER 2007: 77). Demnach hat „jede Gesellschaft [...] ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskursarten, die sie annimmt und als wahr fungieren läßt; die Mechanismen und Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden; die Art und Weise, wie man die einen und die anderen sanktioniert; die Techniken und die Verfahren, die wegen des Erreichens der Wahrheit aufgewertet werden: die rechtliche Stellung derjenigen, denen es zu sagen obliegt, was als wahr fungiert“ (FOUCAULT 2005e: 105).
Sprecher_innenpositionen Mit dem Hinweis auf die „rechtliche Stellung“ deutet FOUCAULT gleichzeitig auch das Verhältnis zwischen Diskursen und den diese (re)produzierenden sozialen Akteure an. Diskurse regeln die Sprechweisen und die Positionen, von denen aus sinnvoll gesprochen werden kann. Sie stellen Sprecher_innenpositionen zur Verfügung und regeln die Bedingungen der Zulassung bestimmter Akteure (KELLER 2008: 255). Über die innere Logik der Diskurse ergibt sich, wer von welcher Position heraus über was wie sprechen kann. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass souveräne Subjekte Diskurse gemäß ihrer Interessen formen und sie strategisch einsetzen können. Vielmehr ist ihre Art zu denken, ihre Sprechweise und Selbst-Erfahrung bereits diskursiv geprägt: „Wo Menschen ihre Erfahrungen rationalisieren, nehmen sie sich als Subjekte wahr, sie erliegen der Illusion, dass ihre Erfahrungen nur ihnen gehören, dass sie Herren [sic] Ihrer Erfahrungen sind. Eine Aussage, die beansprucht, wahr zu sein, beruht auf dieser Illusion, man sei ein autonomes Subjekt“ (BABEROWSKI in BETTINGER 2007: 80).
Das Subjekt selbst konstituiert sich innerhalb des Diskurses, wobei es auf diskursive Strukturierungen zurückgreifen muss. Der Diskurs ist dem Subjekt vorgängig und somit seiner Verfügungsgewalt weitgehend entzogen (KELLER 2008: 233). Es gibt nicht „auf der einen Seite unbewegliche Diskurse [...] und dann auf der anderen Seite ein allmächtiges Subjekt, das sie manipuliert, sie umwälzt, sie erneuert, sondern [...] die diskurrierenden Subjekte [sind] Teil eines diskursiven Feldes [...] – hier finden sie ihren Platz [...], ihre Funktion [...]. Der Diskurs ist nicht der Ort eines Einbruchs purer Subjektivität; er ist für die Subjekte ein Raum differenzierter Positionen und Funktionen“ (FOUCAULT 2005a: 33).
3.1 Diskurs
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Dieser Raum ist vorstrukturiert und wirkt strukturierend, er stellt die Bedingungen, die eine bestimmte symbolische Ordnung ermöglichen und stellt die Bedingungen für das Auftreten von Subjekten (vgl. Kap. 9). Transformationsmöglichkeiten von Diskursen Soziale Akteure können Diskurse somit nicht völlig frei gestalten. Gleichzeitig sind sie ihnen jedoch auch nicht bedingungslos ausgeliefert, denn Diskurse sind nicht als starre Strukturen zu verstehen, die Bedeutungen ein für alle Mal festschreiben. Das Fehlen eines Zentrums und die Unmöglichkeit eines Verweises auf objektive Wahrheiten macht eine eindeutige Bedeutungszuschreibung und eine endgültige Schließung von Verweisketten unmöglich (MOEBIUS & RECKWITZ 2008: 14). In solch offenen Verweiszusammenhängen wandeln sich Bedeutungen kontinuierlich (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 25f.). Dieses „ewige Spiel von Verweisen“ (DERRIDA in GLASZE & MATTISSEK 2009b: 25) führt dazu, dass sich in Diskursen mehrere, möglicherweise widersprüchliche Bedeutungssysteme überschneiden, so dass es zu einer „Überdeterminierung“ (ALTHUSSER) von Bedeutung kommt (ebd.: 27ff.). Dadurch werden bestehende Sinnstrukturen permanent herausgefordert und destabilisiert, was zu einem unabweisbaren Scheitern von Sinn (MOEBIUS & RECKWITZ 2008: 14) führt. Solche „Sinnzusammenbrüche und Unentscheidbarkeiten“ (DERRIDA) müssen jedoch wiederum durch Entscheidungen aufgelöst werden. Dies geschieht, indem unterschiedliche Diskurselemente neu zusammengefügt werden, wodurch neue Sinnzusammenhänge und symbolische Ordnungen entstehen (MOEBIUS 2008a: 63). Somit weist jeder Diskurs „Risse, Spalten und Bruchlinien“ (DELEUZE) auf, an denen sich unterschiedliche Aneignungs- und Umdeutungsmöglichkeiten ergeben (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 53). Diskursstrukturen werden somit nie völlig identisch reproduziert, sondern bei ihrer Aktualisierung treten mehr oder weniger weitreichende Abweichungen auf, die eine ständige Transformation der Diskurse bewirken (KELLER 2008: 2373). 3.1.3 Konstruktion von Diskursen über Diskurse Ziel einer Diskursanalyse ist es nicht, eine hinter den Dingen stehende Wahrheit aufzudecken, nach ihr im Verborgenen der Texte und Aussagen zu suchen und sie in detektivischer Feinarbeit offen zu legen (vgl. Kap. 8). Vielmehr geht es darum, nach überindividuellen Regeln der Herstellung sozialer Wirklichkeit zu fragen (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 25), die Ordnung der Dinge als gesellschaftliches und historisches Produkt zu markieren, um ihr somit ihre naturalisierenden Wirkungen und universalisierenden Wahrheitseffekte zu entreißen (BUBLITZ 2001: 33). Das Besondere einer Diskursanalyse besteht jedoch darin, dass ihr Untersuchungsgegenstand – der Diskurs – nicht einfach vorhanden ist, nicht befragt, foto-
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3. Die Ordnung des Wissens
grafiert, vermessen oder kartiert werden kann. Es gibt keine abgeschlossene Einheit von Aussagen, die eindeutig einem bestimmten Diskurs zugeordnet werden können. Welche Aussagen zu einem Diskurs gehören und welche nicht, liegt im Ermessen des_der Forscher_in, der_die bestimmte Aussagen zueinander in Beziehung setzt und sie nach ihren Regulierungsweisen hin untersucht. Diskursive Formationen existieren nicht an sich, sondern werden „unter analytischen Gesichtspunkten aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat ‘herausgeschnitten‘“ (BETTINGER 2007: 86) und dadurch hervorgebracht. Die Diskursanalyse stellt somit die Gegenstände erst her, die sie analysiert (BUBLITZ 1999: 29). Bei einer solch „geduldige[n] Konstruktion von Diskursen über Diskurse“ (FOUCAULT 1988: 14) nimmt der_die Wissenschaftler_in eine zentrale Rolle ein. Dabei kann er oder sie nicht von außen einen Diskurs konstruieren, sondern ist Bestandteil des Konstruktionsprozesses, agiert selbst innerhalb einer diskursiven Rahmung, seine oder ihre Position selbst ist diskursiv erzeugt (DREYFUS & RABINOW in BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 87). So wie Forschende nicht außerhalb der Diskurse stehen können, müssen auch die Ergebnisse einer Diskursanalyse immer als Bestandteil eines speziellen (Wissenschafts)Diskurses betrachtet werden. Dabei unterliegen sie wiederum bestimmten Formationsregeln, eigenen Möglichkeiten und Zwängen der Aussagenproduktion und einem spezifischen Regime des Sagbaren und der Wahrheit (KELLER 2007: 61). 3.1.4 Alles nur Text? Vom Diskurs zum Dispositiv Die Produktion und Reproduktion von Diskursen erfolgt nicht allein über geregelte Sprechweisen, durch die Sinnordnungen etabliert und transformiert werden. Auch Handlungen von sozialen Akteuren finden in einem bestimmten Sinnzusammenhang statt und können nur innerhalb einer bestimmten Ordnung ‚sinnvoll‘ verstanden werden. Im praktischen Handeln wird auf diskursive Bedeutungsstrukturen zurückgegriffen, womit diese wiederum realisiert und zum Teil verdinglicht werden. Über Praktiken haben Diskurse ‚reale‘ Folgen in der Welt. Soziale Praktiken sind bedeutungsvoll, gleichzeitig wird über sie Bedeutung (re)produziert (HALL 2002: 150). Somit macht es keinen Sinn, Diskurse auf die Ebene sprachlicher Bedeutungsstrukturen zu reduzieren. Vielmehr wird Bedeutung in der Relation und Differenzierung zwischen ganz verschiedenen Elementen der sozialen Wirklichkeit hergestellt (NONHOFF 2007: 9). Möglichkeiten zur Benennung der Dinge spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Dinge selbst; soziale Praktiken sind genauso Bestandteil einer gesellschaftlichen Sinnordnung wie institutionelle Arrangements. In diesem Sinne gibt es keinen Bereich, der nicht in die Sinnordnung eingebunden ist, der außerhalb des Diskurses steht, zumindest keinen, der uns zugänglich ist. Dieses allumfassende Verständnis von Diskursen hat JACQUES DERRIDA in einer eher „scherzhafte[n] Bemerkung“ einmal damit umschrieben, dass es „kein Außerhalb des Textes“ gäbe (DERRIDA in ENGELMANN 1987: 107). Dies wurde als „popular-dekonstruktivistische[r] Slogan[s] ’Alles ist Text‘“
3.1 Diskurs
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(SANDBOTHE 2002: 155) vielfach kritisiert. Dabei wurde der Begriff ‚Text‘ als Schrift bzw. Worttext missverstanden. Für DERRIDA beschränkt sich Text jedoch „nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne“ (DERRIDA in ENGELMANN 1987: 108).
Alle Objekte und Phänomene werden diskursiv hervorgebracht, in ihnen sind Diskurse strukturierend eingewoben (texere) (SPIVAK 2008: 138). Wichtig ist dabei vor allem, dass alle Elemente einer Sinnordnung ihre Existenz über Differenzierungen und Bedeutungszuweisungen erlangen, „daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen fixieren kann“ (DERRIDA in ENGELMANN 1987: 107). Daran anknüpfend wird auch in dem diskurstheoretischen Ansatz von ERNESTO LACLAU und CHANTAL MOUFFE Diskurs in einem allumfassenden Sinn als „strukturierte Totalität“ konzipiert, über die Sinn generiert und dadurch eine symbolische Ordnung etabliert wird (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 44). Da alles Soziale immer notwendigerweise in eine symbolische Ordnung eingebunden ist und somit jede soziale Praxis eine Praxis der Sinnproduktion ist, setzen sie das Soziale mit dem Diskursiven gleich (KELLER 2008: 161). Es gibt nichts Soziales, das außerhalb des Diskurses bestimmbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Welt außerhalb von Sprache und Diskursen nicht existent sei. Ein Erdbeben ereignet sich auch jenseits diskursiver Ordnungen und sprachlicher Strukturen. Doch ob es als Naturphänomen oder als Ausdruck des Willens Gottes wahrgenommen wird, hängt von der Strukturierung des diskursiven Feldes ab (LACLAU & MOUFFE in GLASZE & MATTISSEK 2009a: 158). 3.1.5 Dispositiv als Netz Einem solchen Diskurskonzept folgend, erscheint es meiner Meinung nach eher irreführend, von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu sprechen und zu versuchen, die dazwischen liegenden Grenzlinien zu definieren (zu verschiedenen Definitionen siehe u.a. BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 47ff., KELLER 2008: 258f.). Viel klarer erscheint mir eine Unterscheidung zwischen sprachlichen Praktiken oder Praktiken des Sprach- und Zeichengebrauchs (wie Texte, Vorträge, Gespräche etc.) und nicht-sprachlichen Praktiken (wie Handlungen, Gesten, das Tragen von Kleidung etc.). Auch FOUCAULT hielt es für „kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht“ (FOUCAULT 1978: 125). Wichtiger erschien ihm der analytische Blick, der die Architektur eines Gebäudes, verschiedene Handlungsmuster und Vergegenständlichungen auf den Gehalt ihres diskursiv vermittelten Wissens hin untersucht (ebd.: 121 ff.). FOUCAULT interessierte sich folglich für mehr als nur für die Untersuchung von diskursiven Formationen innerhalb von Texten. Um den Zusammenhang zwischen sprachlichen Äußerungsformen, Handlungsweisen, Institutionen und Materialitäten in den Blick nehmen zu können, prägte er den Begriff des Dispositivs:
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3. Die Ordnung des Wissens „Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“ (FOUCAULT 1978: 119–120).
Ähnlich wie der Begriff des Diskurses ist auch der Begriff des Dispositives in der französischen Sprache ein fest verankerter Ausdruck. Damit wird ein Ensemble von Maßnahmen und Objekten, die zu einem spezifischen Zweck miteinander in Verbindung stehen, bezeichnet. Beispielsweise könnte eine Alarmanlage mitsamt ihrer technischen Vorrichtungen (Sensoren, Kabel, Apparaturen), dem in ihr vorhandenen technischen Wissen, den eingeschriebenen Handlungsweisen (An- und Ausschalten mit Hilfe eines Geheimcodes), den rechtlichen Rahmenbedingungen usw. als Dispositiv beschrieben werden (KELLER 2007: 50; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 51–52). Demzufolge werden Dispositive oftmals als „materielle und ideelle Infrastruktur“ (KELLER 2008: 235) bezeichnet, über die Diskurse stabilisiert werden. Eine solche Infrastruktur-Metapher birgt jedoch die Gefahr der Verkürzung in sich. Es geht nicht einfach nur um das Nebeneinander einzelner Elemente eines Dispositivs, um eine einfache Bestandsaufnahme der beteiligten Einheiten, sondern um das Netz, das zwischen ihnen geknüpft werden kann, um das Dazwischen, um die Verbindungen und den Zusammenhalt zwischen den Elementen (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 52–53). Eine Dispositivanalyse nimmt die einzelnen Elemente in ihren spezifischen Gegebenheiten und ihrer eigenen Logik ernst, und erlaubt es, Materialitäten anders in den Blick zu nehmen als sprachliche Äußerungen oder institutionelle Bedingungen. Die Differenzierung und die analytische Trennung zwischen den Elementen lässt dabei erst einen Raum zwischen ihnen entstehen, eröffnet die Möglichkeit, ein Netz zwischen ihnen zu spannen. Das Aufspannen eines solchen Netzes lenkt den Blick auf die Verbindungen, auf die unterschiedlichen Beziehungen zwischen den Elementen, auf die gegenseitigen Bedingungsverhältnisse. Dabei geht es nicht um kausale Ursachen-Wirkungszusammenhänge, sondern um das „Spiel von Positionswechsel und Funktionsveränderungen“ (FOUCAULT 1978: 120), das in seiner Vielfalt sicherlich nicht vollständig erfasst, jedoch zumindest in den Blick genommen werden kann. In Anlehnung an die Darstellungsweise von ANDREA BÜHRMANN und WERNER SCHNEIDER (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 94) werden in Abbildung 6 die Dimensionen eines Dispositivs dargestellt. Dabei ist zunächst von Bedeutung, dass ein Dispositiv nicht einfach vorhanden ist, sondern „zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt [...] auf einen Notstand (urgence) [antwortet]“ (FOUCAULT 1978: 120). Dieser Notstand ist jedoch nicht objektiv gegeben, sondern wird – wie in Kapitel 2 anhand der globalen Wasserkrise dargestellt – über Aushandlungsprozesse und Bedeutungszuschreibungen gesellschaftlich hergestellt. Somit gilt es zunächst einmal zu klären, wie zu einem historisch spezifischen Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation eine Problemlage entsteht,
3.1 Diskurs
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und welche Lösungsansätze über die einzelnen Elemente eines Dispositivs zur Verfügung gestellt werden.
Abb. 6: Dimensionen einer Dispositivanalyse.
Eine explizite Methodologie zur Durchführung einer Dispositivanalyse gibt es bisher jedoch noch nicht (JÄGER 2001: 72). FOUCAULT selbst hat in seinen Schriften Überlegungen zu einem Sicherheits- bzw. Sexualitätsdispositiv angestellt. ANDREA BÜHRMANN und WERNER SCHNEIDER geben in ihrem Buch „Vom Diskurs zum Dispositiv“ anhand zweier Beispiele (Geschlechterdispositiv, Sterbe/Todesdispositiv) Hinweise zur methodischen Umsetzung einer Dispositivanalyse. Jedoch bleibt die Durchführung einer solchen Analyse mit der Einbeziehung des umfangreichen, unterschiedlichen und oft widerständigen Materials aus der empirischen Forschungspraxis eine beträchtliche Herausforderung. Nichtsdestotrotz soll in dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern eine Dispositivanalyse für eine empirisch arbeitende Geographie fruchtbar gemacht werden kann und welche speziellen Fragestellungen und Erkenntnisse sich aus einer solchen Herangehensweise ergeben.
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3. Die Ordnung des Wissens
3.2 MACHT Das Netz, das sich zwischen den einzelnen Elementen, zwischen Diskursen, Praktiken, Materialisierungen, Institutionen und Subjektpositionen aufspannt, das deren Beziehungen und gegenseitige Verhältnisse symbolisiert und das bei einer Dispositivanalyse im Mittelpunkt stehen soll, stellt keinen neutralen Zusammenhalt dar. Ganz im Gegenteil: Gerade über die Verhältnisse zwischen den Elementen wird die (An)Ordnung der Dinge strukturiert. Die Möglichkeiten der Verbindungen und Verschränkungen bringen bestimmte Anordnungen hervor während andere wiederum verhindert werden. Wenn FOUCAULT von Dispositiven als formierende Netze mit machtstrategischer Funktion spricht (FOUCAULT 1978: 119ff.; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 52), dann geht es ihm in erster Linie um die Art und Weise der Verknüpfung zwischen Diskursen, Praktiken, Wissen und Macht (STRÜVER 2009: 65). Diese Verknüpfungen sind mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet und an Machtsysteme gebunden, über die ‚wahres‘ Wissen produziert und gestützt wird (FOUCAULT 1978: 53–54). Somit spielen Machtverhältnisse eine ganz entscheidende Rolle bei der Frage, welche Subjektpositionen ermöglicht werden, wie über institutionelle Formen soziale Ordnung stabilisiert und Kontingenz temporär geschlossen wird und wie die Produktion des Diskurses „kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird“ (FOUCAULT 1982: 11). Doch was heißt das genau, wenn von Macht die Rede ist? Auch FOUCAULT stellt die Frage, „was man eigentlich inhaltlich meint, wenn man diesen majestätischen, globalisierenden, substanzialisierenden Ausdruck gebraucht“ (FOUCAULT 2005f: 251). „Marx und Freud reichen vielleicht nicht aus, um uns zu helfen, diese so rätselhafte, zugleich sichtbare und unsichtbare, anwesende und verborgene, überall eingesetzte Sache zu erkennen, die man Macht nennt“ (FOUCAULT 2005c: 59).
Macht stellt eine zentrale, gleichzeitig aber auch subtile Analysekategorie dar, die oft benannt, selten aber wirklich beleuchtet wird, die für viele Erklärungen von Ungleichheiten und gesellschaftlichen Prozessen herangezogen, aber selten auf ihre Wirkungsweise hin befragt wird. Dieses rebellische Wort, dass sich jeglicher Definition entzieht (RAFFESTIN 1993: 51), soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Dabei scheint es oftmals einfacher zu sein, das zu benennen, was Macht nicht ist und welches Verständnis von Macht eher in die Irre führt, als eine eindeutige Definition von Macht festzuschreiben. Vielleicht gelingt über eine negative Abgrenzung und gewappnet mit verschiedenen Überlegungen FOUCAULTS die Annäherung an einen Machtbegriff, der auch für diese Arbeit von Nutzen sein kann. 3.2.1 Möglichkeits- und Vermögensmacht Etymologisch lässt sich der Begriff Macht aus dem Gotischen magan (mögen, können, vermögen) ableiten. Der Begriff Macht hat also weniger mit der direkten
3.2 Macht
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Aktion im Sinne von ‚machen‘, als vielmehr mit dem Können, der Fähigkeit oder dem Vermögen (lat. potentia) etwas zu tun (KRAUSE & RÖLLI 2008b: 8). In der westlichen Denktradition können zwei zentrale Machtkonzepte ausgemacht werden: das Konzept der Vermögensmacht und das der Ermöglichungsmacht. Bereits im ARISTOTELISCHEN Machtbegriff der dynamis ist ein ambivalentes Verständnis von Macht angelegt. Macht wird dabei sowohl als Möglichkeit, als ermöglichende Relation, als auch als Vermögen oder Fähigkeit verstanden. Diese Unterscheidung wird im scholastischen Denken des Mittelalters weiter fort- und festgeschrieben. Dabei werden theologische Vorstellungen einer All- und Ursprungsmacht, insbesondere der Vorstellung eines Schöpfergottes als Ursprung allen Seins, immer bedeutsamer (vgl. KERTSCHER 2008: 33–34; KRAUSE & RÖLLI 2008a: 8; GEHRING 2008: 176). Dies korrespondiert mit dem Begriff der politischen Macht, die als Verfügungsgewalt (potestas) verstanden werden kann und insbesondere bei HOBBES und seinem Konzept der Übertragung von Macht auf einen Souverän zum Tragen kommt (ZENKERT 2008: 21; KRAUSE & RÖLLI 2008b: 8). In Abgrenzung zu einem relationalen Machtverständnis der Ermöglichung steht ein Machtbegriff, bei dem Macht als Handlungs- oder Tätigkeitsvermögen (potentia agendi) aufgefasst wird. Diesem Machtmodell liegt eine physikalistische Metapher zugrunde, bei der Macht eine quasistoffliche Qualität zugewiesen bekommt und somit zu einer eindeutig lokalisierbaren Substanz gerinnt. Ähnlich wie eine Batterie elektrischen Strom aufnehmen, speichern und wieder abgeben kann, kann auch Macht akkumuliert und wieder verloren werden (HETZEL 2008: 142). Das heißt aber gleichzeitig auch, dass Macht besessen werden kann, dass es einen lokalisierbaren Ursprung gibt, von dem die Machtwirkungen ausgehen. Ähnlich wie die Fließrichtung beim Strom kann eine eindeutige kausale Wirkungsweise bestimmt werden. Macht wirkt von oben, von denen, die viel Macht haben, nach unten auf diejenigen, die wenig Macht besitzen. Diese können ‚unterdrückt‘ werden, im Sinne eines mechanischen Druck- und Gegendruck-Modells, wobei die Machtverteilung letztendlich auf ein Nullsummenspiel hinausläuft. Eine Situation, bei der beide Seiten an Macht gewinnen oder verlieren ist somit kaum denkbar (vgl. GEHRING 2008: 177; HETZEL 2008: 142). In einem solchen kausalistischen Ursprungsmodell ist Macht die Bedingung und Folge intentionaler Handlungen von Akteuren. Bekanntester Vertreter dieses handlungstheoretischen Machtverständnisses ist MAX WEBER, für den Macht „jede Chance [bedeutet], innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (WEBER in KRAUSE & RÖLLI 2008b: 11).
Macht wirkt somit in Entscheidungsprozessen, wobei mit dem Begriff der Chance eine einfache Kausalität im Sinne eines mechanischen Druck- und Gegendruckmodells zumindest teilweise relativiert wird (GEHRING 2008: 178). Während in der marxistischen Theorie ebenfalls eine Bezugnahme auf die Metapher von Druck und Gegendruck – insbesondere mit dem Begriff der Unterdrückung – ausgemacht werden kann, betonen liberale Theorien eher die ausgleichende Wirkung
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3. Die Ordnung des Wissens
von Druck und Gegendruck im Sinne eines sich selbstständig einstellenden Gleichgewichts der Kräfte (ebd.: 177–178). Tritt Macht bei WEBER, MARX oder HOBBES in erster Linie als Zwang, Disziplinierung und Herrschaft in einem asymmetrischen Setting auf, so stehen bei HANNAH ARENDT Formen der Kooperation, der Kommunikation und des Konsenses im Vordergrund (MOEBIUS 2008b: 158). Macht ist dabei nicht etwas, was ein einzelner Akteur, Herrscher oder Staat besitzen oder speichern kann. Vielmehr entsteht Macht erst im Zusammentreffen zwischen Menschen, in den gemeinsamen Ideen und Handlungen, sie entsteht „zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“ (ARENDT in GROSSMANN 2008: 52). In kollektiven Aktionen wird Macht aktualisiert, doch sie kann dabei niemals vollständig materialisiert werden (ALLEN 2003: 53). Sie ist vom Vorhandensein eines Gegenübers abhängig und dadurch gleichzeitig auch begrenzt. Stärker noch als HANNAH ARENDT lehnt FRIEDRICH NIETZSCHE ein Verständnis von Macht als subjektives Vermögen und die Suche nach einem Ursprung der Macht ab (JÄGER 2000: 6). Bei NIETZSCHE stehen der Ermöglichungscharakter von Macht und die Modalitäten ihrer Ausübung im Vordergrund. Macht ist dabei allen Prozessen der Sinn- und Handlungskonstitution immanent. An ein solches Prozessverständnis von Macht und an das Verständnis der „unhintergehbare[n] Pluralität von Machtverhältnissen“ (KRAUSE & RÖLLI 2008b: 9) knüpft MICHEL FOUCAULT an, wenn er Macht als die „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnisse“ (FOUCAULT 1983: 113) bezeichnet. In seiner unverwechselbaren, spielerischen, teilweise verwirrenden und widersprüchlichen, dann wieder recht klaren Sprache beschreibt FOUCAULT in „Der Wille zum Wissen“ seinen Machtbegriff: „Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern“ (FOUCAULT 1983: 113–114).
Indem FOUCAULT die Facetten der Macht benennt, verweigert er sich gleichzeitig einer genauen, trennscharfen Definition. Macht ist demnach vielfältig und vielfältig wandelbar. Sie verwandelt, verstärkt, und verkehrt, stützt, verkettet und isoliert. Macht kristallisiert sich in Institutionen, in Staatsapparaten und Gesetzgebungen, sie verkörpert sich in gesellschaftlichen Hegemonien. Dieser Machtbegriff soll nun genauer untersucht werden.
3.2 Macht
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3.2.2 Foucaults Analytik der Macht Eine Annäherung an FOUCAULTS Machtbegriff 3 kann zunächst über eine Abgrenzung zu einem negativen Machtbegriff erfolgen. FOUCAULT wendet sich explizit gegen ein juridisches Machtverständnis, bei dem Macht vor allem in Regeln, Gesetzen und Verboten zum Tragen kommt, bzw. gegen die Vorstellung einer Souveränitätsmacht, bei der Macht in erster Linie staatliche Institutionen inne haben und Fragen nach der Legitimität und der Durchsetzung von Macht im Vordergrund stehen (UNTERTHURNER 2008: 100; MOEBIUS 2008b: 159; KÄMPF 2008: 88). Unter Macht versteht FOUCAULT weder eine „Regierungsmacht“, noch „eine Unterwerfungsart“ oder ein „allgemeines Herrschaftssystem“ (FOUCAULT 1983: 113). Ein Verständnis von Macht als Repressionsmacht hält er für „merkwürdig beschränkt. Diese Macht wäre zunächst arm an Ressourcen, haushälterisch in ihrem Vorgehen, monoton in ihren Taktiken, unfähig zur Erfindung und gleichsam gezwungen, sich beständig zu wiederholen. Sodann wäre es eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sagen, außerstande, etwas zu produzieren, nur fähig, Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie; ihre Wirksamkeit bestünde in dem Paradox, daß sie nichts vermag, als dafür zu sorgen, daß die von ihr Unterworfenen nichts vermögen, außer dem, was die Macht sie tun läßt. Endlich handelt es sich um eine Macht, deren Modell wesentlich juridisch ist, einzig und allein auf die Verkündung des Gesetzes und das Funktionieren des Verbots ausgerichtet. Alle Arten der Beherrschung, Unterwerfung und Verpflichtung laufen somit am Ende auf Gehorsam hinaus“ (FOUCAULT 1983: 106).
FOUCAULT lehnt ‚ein‘ Konzept, bei dem Macht als Repressions- und Unterdrückungsinstanz nur „‚ausschließen‘, ,unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘“ (FOUCAULT 1998: 250) kann, als unzureichend ab. Eine solche Macht würde lediglich den Möglichkeitsspielraum einschränken und dabei keine Neuerungen zulassen. Demgegenüber betont FOUCAULT die produktive Funktion der Macht. Gerade durch das unaufhörliche Spiel der Kräfteverhältnisse können Bedeutungszuschreibungen aufgebrochen und verschoben werden, ändern sich die Möglichkeitsbedingungen an sich, treten neue Konstellationen auf und eröffnen sich neue Handlungsspielräume. Die Omnipräsenz und Durchsetzungskraft der Macht lässt sich letztendlich nur dadurch verstehen, dass sie nicht in Form einer äußeren Kraft auf die Menschen einwirkt, nicht auf diese angewandt wird, sondern sie, ihre Körper und alle Beziehungen durchzieht. Macht wirkt produktiv indem sie Wissen hervorbringt, Lust erzeugt und dadurch bestimmte Verhaltensweisen befördert (MOEBIUS & RECKWITZ 2008: 15; ZIAI 2007: 25f.).
3
Ähnlich wie den Diskursbegriff verwendet FOUCAULT auch den Machtbegriff in seinen Schriften nicht einheitlich. Während in ‚Die Ordnung des Diskurses‘ Macht in erster Linie als Ausschluss- und Verknappungsmechanismus begriffen wird, wendet er sich vor allem in ‚Der Wille zum Wissen‘ gegen ein solch negatives Verständnis der Macht und streicht ihren produktiven Charakter hervor (LOREY 1999). Im Folgenden werde ich mich in erster Linie auf solch ein produktives Verständnis der Macht beziehen.
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3. Die Ordnung des Wissens „Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht“ (FOUCAULT 1978: 35).
3.2.2.1 Mikrophysik der Macht Macht kann also nicht wie Reichtum einfach angeeignet, kann nicht von einer Regierung, einer herrschenden Klasse oder einem Herrn besessen werden (FOUCAULT 2005g: 114; FOUCAULT 2005b: 288). Somit ist sie auch nicht lokalisierbar, hat weder Zentrum noch Ursprung, „quillt nicht aus einer verborgenen Tiefe, die man suchen, finden und dingfest machen muss“ (GEHRING 2008: 180), sondern sie zirkuliert. Macht wird nicht von den Herrschenden auf die Unterdrückten von oben nach unten ausgeübt, sondern muss als vielfältiges Geflecht von Machtbeziehungen gedacht werden. Als zirkulierende Kraft löst sie gleichzeitig auch dichotome Vorstellungen von Macht und Ohnmacht, Täter_in und Opfer, Subjekt und Objekt auf (STRÜVER 2009: 68). „Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher Beziehungen vollzieht“ (FOUCAULT 1983: 115).
Die Macht vollzieht sich in Beziehungen, dringt in jeden Winkel vor und ist allgegenwärtig und zwar nicht „weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt“ (ebd.: 114). Wie in KAFKAS Prozess wird Macht gerade dadurch omnipräsent, da sie nirgends ‚real‘ existiert (HETZEL 2008: 147). Das bedeutet jedoch gerade nicht, dass Macht überall ist, sondern vielmehr, dass sie allen Formen von Beziehungen immanent ist. In allen Formen menschlicher Beziehungen existiert ein „ganzes Bündel von Machtbeziehungen“ (FOUCAULT 2008: 255). Demzufolge bevorzugt FOUCAULT den Ausdruck der Machtbeziehungen anstelle von Macht, um die Komplexität, die Mehrdimensionalität und den Beziehungscharakter zu betonen. Diese Machtbeziehungen bilden keine Struktur, die über oder außerhalb der Gesellschaft existiert, sondern sind „tief im gesellschaftlichen Nexus verwurzelt“ (FOUCAULT 2005f: 258). Gleichzeitig sind sie dynamisch und veränderbar, „mobil, reversibel und instabil“ (FOUCAULT 2005b: 288). Die Machtbeziehungen etablieren sich mikrophysisch zwischen den Körpern und Subjekten, zwischen den Institutionen und Ordnungen. Unter der Mikrophysik der Macht versteht FOUCAULT in erster Linie ein dezentralisiertes Netzwerk, in dem sich die Macht in den Beziehungen und Handlungen aktualisiert, fortschreibt und verwandelt wodurch sich zugleich die Ordnung der Dinge konstituiert (BUBLITZ 2008: 274). Von der Allgegenwart der Machtbeziehungen ausgehend, kann man sich der Macht nicht einfach per Willensakt entziehen (HIERLMEIER 2006: 155). Es kann kein soziales Feld, kein Außerhalb der Machtbeziehungen existieren. „Eine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen kann nur eine Abstraktion sein“ (FOUCAULT
3.2 Macht
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1994: 257). Dies heißt jedoch nicht, dass die bestehenden Verhältnisse einfach zu akzeptieren sind und es keine Möglichkeiten des Widerstandes und der Veränderung gibt. „Denn dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, bedeutet keineswegs, dass die bestehenden Machtbeziehungen notwendig sind oder dass Macht innerhalb der Gesellschaft ein unabwendbares Schicksal darstellt, sondern dass es eine ständige politische Aufgabe bleibt, die Machtbeziehungen [...] zu analysieren, herauszuarbeiten und in Frage zu stellen, ja dass dies sogar die eigentliche politische Aufgabe jeglicher sozialen Existenz darstellt“ (FOUCAULT 2005f: 258–259).
3.2.2.2 Strategien ohne Strategen Doch was bedeuten diese Überlegungen für eine auch empirisch unterfütterte Forschungsarbeit? Welche Rolle spielen soziale Akteure, wenn in allen Handlungen Macht immanent ist? Kann dabei überhaupt noch von freien Entscheidungen und von Freiheit gesprochen werden? Oder mündet die Vorstellung von einem komplexen Geflecht von Machtbeziehungen nicht unweigerlich in einen Determinismus strukturalistischer Prägung? Entscheidend für FOUCAULTS Überlegungen der Machtbeziehungen ist, dass Macht keine von außen auf die Subjekte einwirkende Größe ist, dass Macht nicht auf sie angewandt wird, dass sie nicht die „Zielscheibe der Macht“ sind (FOUCAULT 2005g: 114). Individuen stehen der Macht nicht gegenüber, sondern Macht wird durch die Individuen und ihre Handlungen erst aktualisiert und wirksam, die Macht geht gewissermaßen durch sie hindurch (ebd.). Aus dem Netz von Machtbeziehungen können einzelne Individuen nicht einfach ausbrechen und eigene, davon unabhängige Strategien verfolgen. Ganz im Gegenteil: die eigene Identität ist unmittelbar an die Machtbeziehungen gebunden, die Macht „verwandelt die Individuen in Subjekte“ (FOUCAULT 2005f: 245). Die Subjektpositionen, die über Diskurse zur Verfügung gestellt werden (vgl. Kap. 9), sind in das Geflecht der Machtbeziehungen eingewoben. Wenn FOUCAULT Macht als „Name“ bezeichnet, „den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (FOUCAULT 1983: 114), dann spielt er damit auf die verschiedenen strategischen Positionen innerhalb einer gesellschaftlichen Konstellation an, die von den Individuen eingenommen und in einem mehr oder weniger offenen Feld der Möglichkeiten gestaltet werden können (KÄMPF 2008: 95–96). Somit sind in Handlungsweisen sehr wohl Strategien erkennbar. Doch diese können nicht als intentionale Entscheidungen einzelner Subjekte verstanden werden: „Machtnetze sind ‚Strategien ohne Strategen‘. Die Strategien sind ’erkennbar‘ und analysierbar, ohne dass sie auf einzelne Subjekte zurückgeführt werden könnten“ (LOREY 1999: 93– 94).
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3. Die Ordnung des Wissens
Macht & Freiheit: Gegensatzpaar oder Bedingungsverhältnis? Macht wird über Handlungen aktiviert und durch die Handlungen von Subjekten wirkmächtig. Über Handlungen werden Handlungsmöglichkeiten anderer Subjekte bedingt, indem sie das „Feld eventuellen Handelns der anderen strukturieren“ (FOUCAULT 1994: 255). Das heißt, Machtbeziehungen wirken „nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren [...] mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln“ (FOUCAULT 2005f: 255). Machtausübung ist demnach ein „auf Handeln gerichtetes Handeln“ (ebd.: 257). Über ihre Handlungen wirken Subjekte auf die Handlungen anderer Subjekte ein, ohne sie jedoch direkt bestimmen oder vorgeben zu können. Über Handlungen bietet die Macht „Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen“ (ebd.: 256).
Dieses Einwirken kann dabei sowohl beschränkend oder ermöglichend sein, wichtig ist dabei jedoch, dass der oder die Andere als handelndes Subjekt – innerhalb eines vorstrukturierten Feldes – immer noch die Freiheit der eigenen Entscheidung innehat. Somit schließen Freiheit und Macht sich nicht gegenseitig aus, vielmehr wird Freiheit zur Voraussetzung von Macht (FOUCAULT 2005f: 257). „Macht wird nur auf ’freie Subjekte‘ ausgeübt und nur sofern diese ’frei‘ sind“ (FOUCAULT 1994: 255). Machtbeziehungen finden immer innerhalb von Möglichkeitsfeldern statt, die instabil und veränderbar sind. Somit bleiben die machtgeladenen Beziehungen stets umkämpft und umkehrbar, ohne dass eine Seite die Bedingungen des Handelns der anderen vollständig determinieren könnte. Falls es jedoch „einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern“ (FOUCAULT 2008: 256),
kann nicht länger von Machtbeziehungen gesprochen werden. Denn „wenn die Freiheit sich der über sie ausgeübten Macht entzöge, verschwände im selben Zuge die Macht und müsste bei reinem Zwang oder schlichter Gewalt Zuflucht suchen“ (FOUCAULT 2005f: 257).
Bei Abwesenheit von Freiheit liegen keine Machtverhältnisse, sondern Herrschafts- und Gewaltverhältnisse vor, die „zwingen, beugen, brechen, zerstören“ (ebd.: 255). Bei Herrschafts- und Gewaltverhältnissen sind die Handlungsmöglichkeiten der anderen blockiert und ihre Handlungen mehr oder weniger determiniert. Eine solche Fixierung der strategischen Positionen innerhalb eines sozialen Feldes kann zum Beispiel in Verhältnissen der Sklaverei ausgemacht werden, bei denen die Handlungsweisen der Sklaven physisch eingeschränkt, die sozialen Kräfteverhältnisse institutionalisiert, somit verfestigt und schwer umkehrbar zu machen sind (FOUCAULT 1994: 255–256; LEMKE 2002: 485).
3.2 Macht
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Regierungstechnologien Die Gegenüberstellung zwischen Machtbeziehungen als „strategische Spiele zwischen Freiheiten“ (FOUCAULT 2005b: 298) und Herrschaftszuständen, bei denen die Machtbeziehungen blockiert und erstarrt sind, erscheint zunächst etwas schematisch. Sie wirken wie idealisierte Pole eines Möglichkeitsfeldes, deren Zustand niemals erreicht werden kann. Machtbeziehungen ohne Herrschaftseffekte scheinen dabei genauso unmöglich wie Herrschaftszustände, die den Handlungsspielraum der Anderen vollkommen (und dauerhaft) schließen (SCHÖLZEL 2008: 128– 129). Viel plausibler erscheint die Vorstellung, dass Freiheit in allen Beziehungen vorhanden ist und sei es nur die Möglichkeit, „sich zu töten, aus dem Fenster zu springen oder den anderen zu töten“ (FOUCAULT 2005b: 288). Als vermittelnde Ebene zwischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen führt FOUCAULT den Begriff der Regierungstechnologien ein. Dies sind Formen der Machtausübung, die über die Spontanität und Unregelmäßigkeit der strategischen Spiele hinausgehen, ohne jedoch die Machtbeziehungen dauerhaft zu fixieren (LEMKE 2001: 119). Mit dem Blick auf die Technologien des Regierens stellt sich nicht länger die Frage nach der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Herrschaftszuständen, sondern nach den Prozessen, die den Möglichkeitsraum des Handelns begrenzen und dauerhafte Beziehungen zu etablieren versuchen (SCHÖLZEL 2008: 130). Mit der Einführung des Begriffs des Regierens, der weit über die allgemein gebräuchliche Bedeutung im Sinne der Lenkung eines Staates hinausgeht, gelingt es FOUCAULT, Techniken des Führens und Techniken des „Sich-selbst-Regierens“ zusammenzubringen und sie auf ihre Machtwirkung hin zu untersuchen (LEMKE 2008: 261). 3.2.2.3 Macht als hegemoniales Projekt Dass Macht in Handlungen wirkt, bedeutet jedoch nicht, dass sie nur im konkreten Tun ausgeübt wird. Vielmehr wirkt sie in allen sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken, in Liebesbeziehungen, in institutionellen und ökonomischen Beziehungen, sie kommt letztendlich in allen sozialen Interaktionen zum Tragen (FOUCAULT 2005b: 288). Sie kann sowohl ermächtigend als auch beschränkend wirken und zwar auch jenseits der Absichten handelnder Akteure. Auch wenn ich keine Macht über andere ausüben will, so werden Machtbeziehungen in meinem performativen Auftreten als weißer Mann oder in meinem Reden, beispielsweise über die Bezugnahme auf bestimmtes Wissen, wirksam. Je nach historisch-gesellschaftlicher Konstellation, je nach einnehmbarer Sprecher_innenposition, nach vorhandener diskursiver Formierung und in Abhängigkeit mit den aktivierbaren und aktivierten Ressourcen ändern sich die Möglichkeiten, Bedeutungszuschreibungen zu wandeln und Ordnungen aufrechtzuhalten oder zu verschieben. Versuche, eigene Sinndeutungen, Vorstellungs- und Verhaltensschemata sowie Identitätspositionen als alternativlos darzustellen und sie als einzig mögliche
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3. Die Ordnung des Wissens
Ordnungen zu universalisieren, können dabei als hegemoniales Projekt bezeichnet werden (MOEBIUS 2008b: 166–167). In Anlehnung an den marxistischen Philosophen ANTONIO GRAMSCI haben sich vor allem ERNESTO LACLAU und CHANTAL MOUFFE aus poststrukturalistischer Perspektive mit dem Hegemonie-Konzept auseinander gesetzt, wobei sie die bei GRAMSCI angelegte Vormachtstellung des Ökonomischen ablehnen (GLASZE & MATTISSEK 2009a: 160). Ebenfalls wird der Hegemoniebegriff nicht auf bestimmte Akteure bzw. die Versuche einer herrschenden Klasse, „ihre Überzeugungen als ’kollektiven Willen‘ zu etablieren“ (ebd.) beschränkt. Vielmehr werden alle Versuche der Universalisierung und Schließung der diskursiven Ordnung als hegemoniale Praxis bezeichnet. Hegemonie wird dabei nicht (oder zumindest nicht allein) über Zwang hergestellt, sondern über die Etablierung bestimmter Ideen, Bedeutungsmuster und Identitäten, die „als erstrebenswert gelten“ und denen man „leidenschaftlich verhaftet bleibt“ (MOEBIUS 2008b: 167). Letztendlich stehen weniger die allgegenwärtigen Machtbeziehungen, sondern die hegemonialen Bestrebungen gesellschaftspolitischer Projekte im Mittelpunkt einer Machtanalyse. Dabei liegt ein Hauptaugenmerk auf den Tendenzen der Naturalisierung soziohistorischer Gesellschaftskonstellationen und den Versuchen der Fixierung sozialer Ordnungen und deren Auswirkungen auf kollektive Bedeutungsmuster und auf die Lebenswirklichkeit der Menschen. 3.3 WO ES MACHT GIBT, DA GIBT ES WIDERSTAND Wird Macht als „ubiquitäres Merkmal menschlicher Interaktion“ (LEMKE 2002: 484) verstanden, dann wird FOUCAULTS viel zitierter Satz „Wo es Macht gibt, da gibt es Widerstand“ (FOUCAULT 1983: 116) zu einer fast tautologischen Bestimmung des Widerstandsbegriffes. Wenn Macht in jeder Interaktion wirkt, dann ist Widerstand nichts anderes als eine bestimmte Form der Macht, eine Reaktion auf bestimmte Formen von Machteffekten. Wenn aber weniger die Omnipräsenz der Machtbeziehungen als vielmehr die hegemonialen Bestrebungen innerhalb der Machtbeziehungen im Mittelpunkt stehen, kann Widerstand spezifiziert werden. In diesem Sinne haben DANIEL HECHLER und AXEL PHILIPPS FOUCAULTS Ausspruch dahingehend verändert: „Mag sein, dass Macht überall ist, doch kann es Widerstand nur dort geben, wo die Macht zur Herrschaft gerinnt“ (HECHLER & PHILIPPS 2008: 10). Widerstand richtet sich nicht gegen die Macht, sondern ist eine Spielvariante der Macht (RAO 2008: 225), die sich gegen Tendenzen der Vereinnahmung und gegen eine Verfestigung von Machtbeziehungen in Diskursen, Praktiken und Institutionen richtet. Somit lösen sich Macht und Widerstand als Gegensatzpaar auf und werden zu „fluktuierenden, punktuellen und ephemeren Positionen in einem komplexen Netzwerk relativer Über- und Unterordnung“ (ebd.: 219). Widerstand ist somit weder ein Gegenüber der Macht noch jenseits der Macht zu verorten. Er ist Teil des strategischen Feldes der Machtspiele und kann nur aus diesem Feld heraus wirken. Die Möglichkeit der Transformation oder Umkehrung der Machtverhältnisse ist somit immer schon in den Verhältnissen selbst angelegt
3.3 Wo es Macht gibt, da gibt es Widerstand
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und bildet deren Existenzbedingung. Diese Idee einer „immanenten Transzendenz, eines im Sagbaren implementierten Unsagbaren“ (KUPKE 2008: 80) verdeutlicht FOUCAULT beispielsweise an dem Diskurs der Homosexualität, der erst die Konstitution eines Gegendiskurses ermöglichte: „die Homosexualität hat begonnen, von sich selber zu sprechen, auf ihre Regelmäßigkeit oder auf ihre ’Natürlichkeit‘ zu pochen – und dies häufig im Vokabular und in den Kategorien, mit denen sie medizinisch disqualifiziert wurde“ (FOUCAULT 1983: 123).
Sozialen Interaktionen sind somit immer Macht- und Widerstandsverhältnisse immanent. Das heißt aber gleichzeitig auch, dass die „Widerstandspunkte überall im Machtnetz präsent [sind]. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung –die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellion, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im Feld der strategischen Machtbeziehungen existieren können“ (ebd.: 117).
An die Stelle der einen großen Weigerung, dem Glauben an die eine große Revolution oder Befreiung setzt FOUCAULT die Praktiken der Freiheit, die vielfältigen Formen der Unfügsamkeit und Abweichung (FOUCAULT 2005b: 276–277). Mit dem Begriff der Desertation als Ausbruch aus vorgefertigten Verhaltensweisen umschreibt er die Vielfalt subversiver Praktiken, auf die sich der Einzelne in seinen Handlungen beziehen kann: Das Nicht-Befolgen von Befehlen, das Brechen von Normen oder die Verweigerung der Zustimmung (KASTNER 2008: 46).
Abb. 7: Einzelne Verweigerung als Widerstand.
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3. Die Ordnung des Wissens
In seinem Buch ‚Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen‘ bezieht sich JOHN HOLLOWAY auf die Idee der vielfältigen Verweigerungen bei gleichzeitiger Ablehnung des Aufbaus neuer Herrschaftsstrukturen (HOLLOWAY 2006). Ausgehend von der Betrachtungsweise, dass der Kapitalismus nicht das eine große Monster ist, das es zu bekämpfen gilt und das in seiner Größe die Widerstände von vorneherein zu erdrücken droht, sondern dass kapitalistische Strukturen durch jeden Einzelnen in unzähligen kleinen Handlungen fortwährend (re)produziert werden, plädiert er für vielfältige Formen der Verweigerung, des Nein-Sagens, der Nicht-Unterordnung als Ausgangsbasis für den „unspektakulären Kampf um die Gestaltung des eigenen Lebens“ (ebd.: 173): „Wenn wir morgen alle im Bett bleiben, wird der Kapitalismus aufhören zu existieren. [...] Wenn wir die Revolution so denken ’Wie könnten wir aufhören, den Kapitalismus zu machen?‘, löst sich das Bild des Kapitalismus als übermächtiges gegnerisches Monster auf. Und wir können anfangen, Möglichkeiten zu öffnen, eine neue Hoffnung und neue Formen, über Revolution nachzudenken und unsere Gesellschaft zu ändern“ (HOLLOWAY 2005: 38).
3.3.1 Auf der Suche nach dem widerständigen Subjekt „Letztendlich sind wir, was wir tun, um zu ändern, was wir sind“ (GALEANO 1991: 117).
Während HOLLOWAY Fragen nach der Freiheit von Akteuren und Handlungen in seinen Überlegungen eher ausklammert, geht JUDITH BUTLER explizit auf die Möglichkeiten widerständigen Agierens innerhalb bestehender Bedeutungsordnungen und Machtverhältnisse ein. Dreh- und Angelpunkt ihrer Überlegungen ist dabei die Notwendigkeit der Aktivierung von Bedeutungen über Praktiken, wodurch sich Möglichkeiten der Verschiebung eröffnen: „Die Bedingungen der Macht müssen ständig wiederholt werden, um fortzubestehen, und das Subjekt ist der Ort dieser Wiederholung, einer Wiederholung, die niemals bloß mechanischer Art ist“ (BUTLER 2001: 20).
Gerade weil die Wiederholungen trotz normierender Begrifflichkeiten, Verhaltensschemata und Körperpraktiken nie völlig schematisch ablaufen können, sind in ihnen bereits die Möglichkeiten der Differenz eingeschrieben. Das heißt, in den Machtverhältnissen sind bereits die Voraussetzungen subversiver Praktiken vorhanden. Durch die unkontrollierbaren und unvorhergesehenen Abweichungen entsteht Handlungsmacht und dadurch Potentiale des Umdeutens, des Widersprechens und Intervenierens (MOEBIUS 2008a: 70–71; STRÜVER & WUCHERPFENNIG 2009: 115ff.) Über Resignifikationen erhält das Subjekt die Möglichkeit, sich den vorangegangenen Strukturen zu entziehen, die Festschreibung kontingenter Prozesse zu verhindern und zugewiesene Subjektpositionen erneut in Frage zu stellen. Widerstand bedeutet in diesem Sinne immer auch Widerstand gegen das „Positioniert-Werden“, bedeutet Kampf um die Zuweisung von legitimen Sprecher_innenpositionen und um Definitionsmacht (KASTNER 2008: 51). Widerstand heißt demnach auch, einen neuen Blickwinkel auf die etablierte Ordnung der
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Wahrheit einzunehmen und somit die Bedingungen der eigenen Existenz erneut in Frage zu stellen (BUTLER 2000: 257). Die Einsicht, dass Widerstand den Machtverhältnissen immanent ist, dass er somit immer und für jeden möglich ist, und dass jede Interaktion nicht absehbare und kontrollierbare Folgen haben kann, haben sich auch die Situationisten zu eigen gemacht. Über die bewusste Herstellung von Situationen sollen Bedeutungsverschiebungen provoziert und Veränderungen der gegebenen Verhältnisse ermöglicht werden. Unter der Bezeichnung der Psychogeographie verweisen sie dabei auch auf die Bedeutung der materiellen Umgebung, die in Wechselwirkung mit den Verhaltensweisen soziale Ordnung erschaffen: „Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d. h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft. Wir müssen eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durchführen: die materielle Szenerie des Lebens und die Verhaltensweisen, die sie hervorbringen und durch die sie umgestaltet wird“ (DEBORD 1957).
Über subversive Praktiken und situative Resistenzen werden Handlungsspielräume eröffnet, die, im Falle einer Verbindung und Überschneidung einzelner Ereignisse, bis hin zu gesellschaftlichen Transformationen oder Verwerfungen führen können (HECHLER & PHILIPPS 2008: 12). Widerstand zielt darauf ab, „hegemoniale Strukturen in Bewegung zu versetzen“ (CASTRO VARELA 2007: 68), zielt auf die Zerstörung von Evidenzen, die Verflüssigung von verfestigten Machtbeziehungen und die Erweiterung der Möglichkeitsräume. Dabei bleibt jedoch sowohl die Möglichkeit des Scheiterns von Widerstand bestehen, als auch die Gefahr der Formierung einer neuen Ordnung, die ihrerseits wiederum zu Verfestigungen tendiert (HECHLER & PHILIPPS 2008: 11 f.). 3.3.2 Analyse von Macht- und Widerstandsverhältnissen Es bleibt also festzuhalten, dass Macht nicht als eine Art Ressource gedacht werden kann, die ein Staat oder eine Regierung, eine Person oder herrschende Klasse innehat, während ‚die Anderen‘ über keinerlei Macht verfügen (FOUCAULT 2005b: 288). Vielmehr gilt es, das strategische Spiel der Kräfteverhältnisse zu untersuchen, bei denen alle auf ganz unterschiedliche Art und Weise Macht und Gegenmacht ausüben und sich die Positionen ständig vertauschen können. Wenn FOUCAULT behauptet, das Wort ‚Macht‘ kaum zu gebrauchen (ebd.), dann will er damit nicht nur irritieren und verunsichern, sondern – indem er auf die Verwendung von ‚Mächten‘ im Plural pocht – vor allem auf die Heterogenität der Machtbeziehungen verweisen und auf die Notwendigkeit, ihre jeweiligen konkreten „geschichtlichen und geographischen Besonderheiten zu erfassen“ (FOUCAULT 2005d: 224). Eine Machtanalyse sollte demnach nicht deduktiv vorgehen, indem von einer spezifischen Form der Macht ausgegangen wird und danach gefragt wird, bis zu wem und bis wohin sie sich auswirkt (FOUCAULT 2005g: 115). Es
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geht eher darum, den vielfältigen lokalen Formen der Macht und deren spezifische Funktionsweisen und Techniken nachzuspüren. Somit darf sich auch „niemals [...] die Ansicht einschleichen, daß ein Wissen oder eine Macht existiert – oder gar das Wissen oder die Macht, welche selbst agieren würden. Wissen und Macht – das ist nur ein Analyseraster“ (FOUCAULT 1992: 33).
Wenn Macht nur ein Analyseraster darstellt, dann werden Fragen danach, was Macht ist, woher sie kommt und warum sie wirkt, letztendlich irrelevant. Ins Zentrum einer solchen Machtanalyse rücken dann die Fragen nach den Funktionsund Wirkungsweisen von Machtbeziehungen, danach „was da geschieht, wenn jemand, wie man sagt, Macht über andere ausübt“ (FOUCAULT 2005f: 251). Es geht also um die Mechanismen von Machtbeziehungen, die auf der einen Seite von formalen Grenzen, wie den Regeln des Rechts (Gesetze etc.) begrenzt werden, auf der anderen Seite Wahrheitswirkungen hervorrufen, indem sie Subjektpositionen ermöglichen und Wirklichkeit erschaffen (FOUCAULT 2005g: 108– 109). Es gibt also weder die eine Macht noch die eine große Theorie der Macht, sondern viele verstreute Machtmechanismen, die letztendlich nur anhand konkreter empirischer Beispiele auf ihre Wirkungen und Effekte hin untersucht werden können (KÄMPF 2008: 87). Genau wie die Diskursanalyse nicht außerhalb des Diskurses vorgenommen werden kann, kann auch eine Machtanalyse nicht jenseits von Machtbeziehungen stattfinden. Bereits die Definition von Macht und die Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten nimmt Definitionsmacht in Anspruch und ist von Machteffekten durchzogen (HETZEL 2008: 143). Somit kann eine Machtanalyse nicht den Anspruch verfolgen, anhand einer ‚richtigen‘ Definition der Macht und mit den richtigen Instrumenten und Methoden wahres Wissen über ‚die Macht‘ zu produzieren. Innerhalb eines machtdurchdrungenen Feldes der akademischen Wissensproduktion würde sich ein solcher Selbstanspruch in einem performativen Widerspruch verheddern (KRAUSE & RÖLLI 2008b: 7–8). Die Relevanz einer Machtanalyse ergibt sich nicht aus der Angemessenheit des Machtbegriffes, sondern daraus, welche Perspektiven über eine Machtanalyse in den Blick genommen werden können (SEIER 1999: 85), ob und inwiefern durch die Analyse die Historizität der Ordnung markiert werden kann und ob durch sie ihre „naturalisierenden Wirkungen und universellen Wahrheitseffekte“ (BUBLITZ 2001: 33) offen gelegt werden können. Aus diesen Überlegungen heraus wird deutlich, warum FOUCAULT keine konkreten Analysewerkzeuge und keine standardisierten Verfahren für eine Machtanalyse vorschlägt. Lediglich in dem Aufsatz „Subjekt und Macht“ wird er etwas konkreter und schlägt fünf Analysefelder vor, die auch für diese Arbeit von Bedeutung sein können (FOUCAULT 2005f: 259–260). Die für eine Machtanalyse zu klärenden Punkte sind demnach: 1. Das System der Differenzierungen Differenzierungen stellen für FOUCAULT zugleich die Voraussetzungen als auch die Wirkungen für Machtbeziehungen schlechthin dar. Solche Unter-
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scheidungen können aufgrund von rechtlichen Regelungen oder Traditionen, aufgrund der wirtschaftlichen Stellung, sprachlichen oder kulturellen Unterschiede, unterschiedlichem (praktischen) Wissen oder unterschiedlicher Fähigkeiten herrühren und Auswirkungen auf den Status, den Zugang zu Privilegien oder zu materiellen Gütern etc. haben. Über die Prozeduren der Abgrenzung und Ausschließung werden über solche Unterscheidungen Einteilungen vorgenommen, die wiederum ungleiche Machtbeziehungen verfestigen. 2. Die Art der Ziele Die Wirkungen von Machteffekten unterscheiden sich, je nachdem welche Ziele in den Handlungen verfolgt werden. Ob Privilegien geschützt, Profite akkumuliert oder Ämter ausgeübt werden sollen, beeinflusst die Art und Weise der Handlungen und die in den Handlungen abgerufenen Machtwirkungen. Hierbei könnte man jedoch Gefahr laufen, in eine handlungstheoretische Perspektive zu verfallen und nach dem intentionalen Handeln der Akteure, ihren Absichten und Motiven zu fragen und somit die Macht „von ihrer Innenseite her“ (FOUCAULT 2005g: 113) zu untersuchen. Bei der Auswertung von Interviews oder der Analyse von Diskursen stellt sich jedoch nicht die Frage nach den intentionalen Vorstellungen und Rationalitäten der Akteure, sondern nach den vorherrschenden Deutungsschemata und überlappenden Erklärungsmuster, die als Machteffekte gedeutet werden können (FÜLLER & MARQUARDT 2009: 98–99). 3. Die instrumentellen Modalitäten Je nachdem auf welche Ressourcen Bezug genommen wird, üben Handlungen und die in ihnen zum Tragen kommenden Machteffekte unterschiedliche Wirkungen aus. Ob mit Hilfe von Kommunikation (z.B: Drohung, Aufforderung), ökonomischer Ungleichheit, Mechanismen der Kontrolle und Überwachung, mit Hilfe von Regeln oder materiellen Dingen (Waffen etc.) das strategische Spiel der Freiheiten gespielt wird, kann unter Umständen erhebliche Auswirkungen auf die Machtkonstellationen haben. 4. Die Formen der Institutionalisierung Gewohnheiten, Modeerscheinungen, Traditionen oder rechtliche Regelungen können in Institutionen verfestigt werden. Solche Institutionen können beispielsweise die Familie, geschlossene Einrichtungen wie Schule oder Armee sowie hochkomplexe Systeme wie der Staat sein, die bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle und Verteilung der Machtbeziehungen regeln. Auch wenn Institutionen als Kristallisierungen der Machtbeziehungen gelten können (FOUCAULT 1983: 113) und man an ihnen die elementaren Machtmechanismen erkennen kann (FOUCAULT 2005f: 258), sollten sie dennoch „von den Machtbeziehungen her analysiert werden und nicht umgekehrt“ (ebd.). „Wenn man Machtbeziehungen auf der Basis der Institutionen untersucht, besteht [...] die Gefahr, dass man in den Institutionen Ursprung und Erklärung der Machtbeziehungen sucht, letztlich also Macht durch Macht erklärt“ (ebd.).
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3. Die Ordnung des Wissens
5. Der Grad der Rationalisierung Machtausübung nennt Foucault ein „mehr oder weniger gut angepasstes Verfahren“ (FOUCAULT 2005f: 260), das sich „entwickelt, verwandelt, organisiert“ (ebd.). Dabei müssen je nach eingesetzten Mitteln und je nach aufkommendem Widerstand bestimmte (ökonomische) Kosten zur Erreichung der Ziele aufgewandt werden. Somit fließen auch Wirksamkeit und Effizienz der Machtausübung in die Analyse mit ein. Darüber hinaus gibt FOUCAULT noch einen weiteren Hinweis dazu, wo bei der Analyse von Machtverhältnissen anzusetzen sei. Speziell für die empirische Untersuchung von Machtverhältnissen schlägt er das Aufspüren von Widerständen vor, um Machtverhältnisse lokalisieren und untersuchen zu können (SCHOCHOW 2008: 193–194). Ein solcher Forschungsansatz geht von den Widerständen aus, um die verschiedenen Formen der Macht analysieren zu können, „er benutzt diesen Widerstand als chemischen Katalysator, der die Machtbeziehungen sichtbar macht und zeigt, wo sie zu finden sind, wo sie ansetzen und mit welcher Methode sie arbeiten. Statt die Macht im Blick auf ihre innere Rationalitäten zu analysieren, möchte ich die Machtbeziehungen über das Wechselspiel gegensätzlicher Strategien untersuchen“ (FOUCAULT 2005f: 243).
Die Machtverhältnisse über die Widerstandsformen zu lokalisieren, die Vielfältigkeit der Machtbeziehungen und ihre Umkehrbarkeit sichtbar zu machen, auf die Verfestigungstendenzen hegemonialer Ordnungen hinzuweisen und ihre Naturalisierungseffekte in Frage zu stellen sind Ansätze, die auch die Überlegungen dieser Arbeit leiten sollen. Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung stellt eine Dispositivanalyse dar, bei der die einzelnen Elemente des Dispositivs (Diskurse, Materialitäten, Institutionen, Subjektpositionen und Praktiken) sowohl für sich als auch in ihrem Zusammenwirken als Dispositiv betrachtet werden sollen.
4. KONSTITUTION VON WIRKLICHKEIT III: GESELLSCHAFTLICHE NATURVERHÄLTNISSE Der Begriff der Natur ist, vielleicht stärker als jeder andere Begriff, an die Idee einer jenseits von Gesellschaft und subjektiver Wahrnehmung existierenden, materiellen Wirklichkeit gebunden. Als Natur gilt, was nicht durch den Menschen hervorgebracht wurde, was ‚an sich‘ existiert (KÖGLER 2008: 428). Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen einer geistigen und einer materiellen Welt lässt sich in der Ideengeschichte der europäischen Moderne vor allem auf den von RENÉ DESCARTES formulierten Dualismus zwischen einer zweifelnden, denkenden, nicht-räumlichen Substanz (res cogitans) und einer materiellen, körperlichen Substanz (res extensa) zurückführen (vgl. KRAEMER 2008: 54; GILL 1998: 224). Im Zuge der Aufklärung und der mit ihr einhergehenden Ablehnung einer göttlichen Ordnung der Welt erschien der Zugang zur Natur nur mehr über rationale Erklärungen und exakte, wissenschaftliche Methoden möglich. Dadurch sollten die natürlichen Gesetzmäßigkeiten erkannt und für die Menschen nutzbar gemacht werden. Mit dem Glauben an einen wissenschaftlichen und technologischen, vor allem aber linearen Fortschritt verband sich die Idee der prinzipiellen Berechenbarkeit der Welt und damit letztendlich der Beherrschbarkeit der Natur (SWYNGEDOUW 2009: 377; KRAEMER 2008: 228; HOFMEISTER 2008: 818). Damit einher ging eine Aufteilung der Wissenschaften in Natur- und Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaften und die Stärkung der Idee einer objektiven, positivistischen Wissenschaft, die Natur an und für sich begreifen kann (KÖGLER 2008: 428). Bis heute ist die Natur-Kultur-Dichotomie fest in unserem Wissenssystem verankert, wobei oftmals übersehen wird, dass sowohl im Laufe der Geschichte als auch in vielen nicht-westlichen Traditionen eine Vielzahl von unterschiedlichen MenschUmwelt-Konzeptionen existier(t)en (FLITNER 2003: 225; CASTREE 2005: 226). Im ‚Mainstream‘ der Umweltforschung gelten nach wie vor der Mensch und seine Handlungen als externe Größe von Umweltsystemen, so dass gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse und Rückkopplungen zwischen Öko- und Sozialsystemen nur schwer in den Blick genommen werden können (FOLKE 2006: 262). Jedoch ist die moderne Trennlinie zwischen Natur und Kultur im Laufe des 20. Jahrhunderts immer brüchiger geworden. Die Atomenergie, gentechnisch veränderte Lebensmittel oder geklonte Lebewesen haben die Unmöglichkeit einer solchen Trennung immer deutlicher werden lassen. Auch Unterscheidungen zwischen einer natürlichen und einer geformten Umwelt verschwimmen immer mehr, was DAVID HARVEY auf die Aussage zuspitzt: „there is nothing unnatural about New York city“ (HARVEY 2007: 186). Insbesondere die als krisenhaft wahrgenommenen Phänomene und Prozesse wie der Klimawandel, Flutkatastrophen, der
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Verlust an Biodiversität oder Krankheiten wie BSE oder H5N1 1, die sich weder eindeutig auf natürliche noch auf soziale Ursachen zurückführen lassen, haben die Natur-Kultur-Dichotomie aufgeweicht (HOFMEISTER 2008: 816; SWYNGEDOUW 2009: 378; ROBBINS 2008: 27). Die Natur ist somit gar nicht so natürlich, wie sie uns oftmals erscheinen mag oder dargestellt wird. Die Bedeutungen, die wir dem Begriff Natur zuteilen, sagen meist ebenso viel über uns wie über das Phänomen, das wir zu benennen versuchen, aus (JASANOFF 2010: 245). Ob wir die Funktionsweise von Zellen mit der hierarchischen Ordnung fordistischer Fabriken vergleichen oder vielmehr die Metapher von intelligenten Netzwerken und flexiblen Organisationsstrukturen bemühen, hängt wesentlich mit unseren eigenen Erfahrungen, Sichtweisen und Werten zusammen und weniger mit den natürlichen Phänomenen ‚an sich‘ (HARVEY 2007: 163). Nicht die Natur, sondern die Praktiken der Unterscheidung gehen der Erkenntnis voraus, wodurch die Bedingungen einer Trennung zwischen Natur und Kultur erst geschaffen werden (ZIERHOFER 2003: 199) (vgl. Kap. 2.2). Somit ist Natur auf der ontologischen Ebene gar nicht existent. Es gibt nichts, das wir Natur nennen können. „Nature is simply a name that is ‘attached’ to all sorts of different real-world phenomena. Those phenomena are not nature as such but, rather, what we collectively choose to call ‚nature‘“ (CASTREE 2005: 35).
Dabei erscheint es nur auf den ersten Blick eindeutig, was als Natur bezeichnet wird. Laut RAYMOND WILLIAMS ist der Begriff ‚Natur‘ eines der komplexesten Wörter der englischen Sprache, mit dem sowohl essentielle Charaktereigenschaften (die Natur einer Sache), eine externe, materielle Welt (die Natur) oder eine allumfassende, universelle Kraft (das natürliche Gesetz) benannt werden (GINN & DEMERITT 2009: 301). Insofern kommt WOLFGANG ZIERHOFER zu dem Schluss, dass „es [...] kein natürliches Verständnis von Natur [gibt], sondern nur eine Geschichte dieses Begriffes und der seiner Verwendung“ (ZIERHOFER 2003: 193). 4.1 POLITISCHE ÖKOLOGIE Die Kritik an einem Naturverständnis, bei dem Natur als etwas außerhalb von gesellschaftlichen und somit auch politischen Prozessen begriffen wird, stellte die Grundlage für erste Überlegungen einer politischen Ökologie dar. Die Einführung des Begriffspaares ‚politische Ökologie‘ wird von vielen Autor_innen auf den 1972 erschienenen Aufsatz „Ownership and political ecology“ des Anthropologen ERIC WOLF zurückgeführt, auch wenn vor ihm bereits andere von einer politischen Ökologie sprachen (bspw. BERTRAND DE JOUVENEL 1957; STEIN ROKKAN & HENRY VALEN 1965; WOLF 1972; ALIER 2007: 111). Im deutschsprachigen Raum erregte der 1973 erschienene Essay „Zur Kritik der politischen Ökologie“ von 1
BSE: Bovine spongiforme Enzephalopathie, besser auch als Rinderwahn bekannt, H5N1: Influenzavirus, auch als Vogelgrippe bekannt.
4.1 Politische Ökologie
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HANS MAGNUS ENZENSBERGER in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch einige Aufmerksamkeit. Dabei kritisierte er sowohl die vorherrschende Analyse der sich abzeichnenden ökologischen Krise der 1970er Jahre als auch die vorgeschlagenen Lösungsansätze, die letztendlich der Legitimierung von Klassenherrschaft und Ausbeutung dienen würden. Für ENZENSBERGER ist die Umweltkrise in erster Linie kein wissenschaftliches oder technisches, sondern vielmehr ein politisches Problem (ENZENSBERGER 1973), was – in verschiedenen Variationen – zum Kernargument der politischen Ökologie avancierte. Zunächst wurde die politische Ökologie vor allem in der Anthropologie und Geographie rezipiert und weiterentwickelt, wobei vor allem Formen der Umweltdegradation in den Ländern des Globalen Südens und die davon betroffenen marginalisierten Bevölkerungsgruppen im Vordergrund standen (BRYANT & BAILEY 1997; KÖHLER 2008b: 852). Dabei entwickelte sich jedoch kein kohärentes Theoriekonzept zur Bearbeitung von Mensch-Umwelt-Prozessen, vielmehr können verschiedene und teilweise recht unterschiedliche Ansätze, die die Verbindung zwischen politökonomischen, sozialen und ökologischen Prozessen untersuchen, unter den Begriff der politischen Ökologie subsumiert werden (PEET & WATTS 2004: 9; KÖHLER 2008a: 214). Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Kritik an einer apolitischen Ökologie, bei der Umweltdegradation in erster Linie auf Bevölkerungswachstum, die Verwendung unangepasster Technologien, schlechtes Management und somit letztendlich auf die Unwissenheit und den Eigensinn der lokalen Bevölkerung zurückgeführt wird (PEET et al. 2011a: 24; ROBBINS 2008: 90). Demgegenüber betonen die Vertreter_innen der politischen Ökologie die Verwobenheiten von ökologischen und politökonomischen Prozessen und das dialektische Verhältnis von Gesellschaft und Natur, was u. a. auch in der vielzitierten Definition von PIERS BLAIKIE und HAROLD BROOKFIELD zum Ausdruck kommt: „The phrase ‚political ecology‘ combines the concerns of ecology and a broadly defined political economy. Together this encompasses the constantly shifting dialectic between society and land-based resources and also within classes and groups within society itself“ (BLAIKIE & BROOKFIELD 1987: 17).
Während der Ansatz von BLAIKIE und BROOKFIELD jedoch als zu unsensibel gegenüber sozialen Kämpfen und Klasseninteressen kritisiert und vor allem ihre kausalen Erklärungskette (chain of explanation) als deterministisch und eindimensional abgelehnt wurde (PEET & WATTS 2004: 9f.), rückten beispielsweise RICHARD PEET und MICHAEL WATTS in ihrem Buch „Liberation ecologies“ (1996) und RAYMOND BRYANT und SINÉAD BAILEY mit „Third World political ecology“ (1997) die ungleichen Machtverhältnisse in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Zentraler Ausgangspunkt ist dabei der Begriff der politisierten Umwelt, in die die ungleichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben sind und die strukturierend auf den Diskurs- und Handlungsraum wirkt (BRYANT & BAILEY 1997). In einer groben Übersicht lassen sich zwei Phasen der politisch-ökologischen Forschung ausmachen, die jedoch nicht als abgeschlossen angesehen werden können, sondern auch heute noch nebeneinander existieren. In einer ersten Phase do-
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
minierten strukturalistische und postmarxistische Erklärungsansätze, wobei übergeordnete Prozesse der kapitalistischen Produktionsweise, globale Abhängigkeitsund Klassenverhältnisse mit lokalen Prozessen der Ressourcennutzung und -degradation und deren Auswirkungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen im Vordergrund standen. Der im Laufe der Zeit zunehmende Einfluss von poststrukturalistischen, postkolonialen und feministischen Ansätzen in den Sozialwissenschaften machte sich auch in der politischen Ökologie bemerkbar. Somit wurden in einer zweiten Phase verstärkt Fragen der diskursiven Produktion und symbolischen Aneignung von Natur, der Konstitution von Geschlechterverhältnissen und Identitäten in Bezug auf Prozesse der Naturaneignung und Fragen nach der Rolle der Forscher_in und der Art der Wissensproduktion verhandelt. Gleichzeitig erfolgte eine Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes. Behandelten politökologische Arbeiten zunächst hauptsächlich den ländlichen Raum im Globalen Süden, so finden mittlerweile auch der städtische Raum und der Globale Norden mehr und mehr Beachtung (KÖHLER 2008b: 852; ZIMMER 2010; FORSYTH 2008: 8; PEET & WATTS 2004: 7; ROBBINS 2008: 91). Auch wenn den unterschiedlichen Ansätzen der politischen Ökologie die Ablehnung der Mensch-Natur-Dichotomie und der Versuch einer Politisierung der ökologischen Forschung gemein sind, so unterscheiden sie sich doch in ihren theoretischen Annahmen, methodologischen Ausrichtungen und Erkenntnisinteressen. Sowohl zwischen der angelsächsischen Debatte um eine Political Ecology (vgl. u. a. BRYANT & BAILEY 1997; PEET & WATTS 2004; ZIMMERER & BASSETT 2003; ROBBINS 2008; PEET et al. 2011b) und der deutschsprachigen Diskussion um eine Politische Ökologie (vgl. u. a. KRINGS 2011; COY & NEUBURGER 2008; FLITNER 2003), aber auch zwischen den Konzepten einer Sozialen Ökologie rund um das Frankfurter Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) (BECKER & JAHN 2006), dem Metabolismus-Ansatz rund um das Institut für soziale Ökologie in Wien (FISCHER-KOWALSKI et al. 1997) und dem Ansatz der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (vgl. u. a. JAHN & WEHLING 1998; GÖRG 2003b; BRAND & GÖRG 2003; WISSEN 2011) bestehen teilweise erhebliche erkenntnistheoretische und terminologische Unterschiede. Für die Einordnung des für diese Arbeit gewählten Ansatzes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse sollen nun schlaglichtartig einige (post)marxistische und poststrukturalistische Konzepte der politischen Ökologie vorgestellt und im Hinblick auf das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse erörtert werden. Dabei steht die Frage nach der Möglichkeit der Überwindung einer essentialistischen Mensch-Natur-Dichotomie im Vordergrund, wobei bereits DONNA HARAWAY und DAVID HARVEY feststellen mussten: „it's terribly important to overcome these divides [...] and it's terribly hard to find a language to do so“ (HARVEY & HARAWAY 1995: 515).
4.1 Politische Ökologie
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4.1.1 Historischer Materialismus: Mensch und Natur als produktives Austauschverhältnis Vor allem im angelsächsischen Raum lassen sich viele polit-ökologische Ansätze in die Tradition des historischen Materialismus einordnen. Auch wenn im Rahmen dieser Arbeit keine Darstellung der vielschichtigen ökomarxistischen Diskussionen und keine ausführliche Erörterung des MARXSCHEN Naturbegriffes geleistet werden kann, so sollen doch einige zentralen Punkte der marxistischen Überlegungen angedeutet werden, da sie grundlegende Impulse für viele weitere Ansätze geliefert haben. Ausgangspunkt der MARXSCHEN Erörterungen zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur stellt die Feststellung der Leiblichkeit und Naturbezogenheit des Menschen dar. Der Mensch ist ein „Naturwesen“ (MARX 1968b: 578) und als solches immer schon Teil der Natur. Mensch und Natur bilden eine Einheit, ihr Verhältnis bildet somit eine innere Beziehung (BRAUN 2008: 195). Insofern der Mensch Teil der Natur ist, stellt die Natur den „unorganischen Körper“ des Menschen dar, „nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben“ (MARX 1968b: 515).
Der Mensch ist somit auf einen Austausch mit der Natur angewiesen – der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur wird zur „ewige[n] Naturbedingung des menschlichen Lebens“ (MARX 1968a: 198). Auch wenn die Prozesse dieses Stoffwechsels – MARX gebraucht den Begriff des Stoffwechsels sowohl in einem metaphorischen, als auch in einem physisch-biologischen Sinne – nur innerhalb der Grenzen und Gesetzmäßigkeiten der Natur erfolgen können (GROß 2001: 35), existiert hierbei kein feststehendes Austauschverhältnis, wodurch die menschliche Existenz von bestimmten Naturgegebenheiten determiniert werden würde. Vielmehr sieht er das Verhältnis des Menschen zur Natur als ein produktiv-tätiges Verhältnis, durch das die vorgefundenen materiellen Gegebenheiten umgestaltet und dadurch neu erschaffen werden können (KRAEMER 2008: 59). Es kann also nicht von Zwangsmechanismen und von fixen, vorgegebenen Prozessen des Stoffwechsels ausgegangen werden. Die Gesamtheit der möglichen ökonomischen und technischen Aneignungspraktiken bildet vielmehr die Bedingung für den Stoffwechselprozess mit der Natur und ist somit immer relational und historisch wandelbar (ebd.: 61). Diese Aneignungspraktiken nehmen einen zentralen Stellenwert innerhalb des Vermittlungsverhältnisses zwischen Mensch und Natur ein, wofür MARX den Begriff der Arbeit prägte: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. [...] Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur“ (MARX 1968a: 192).
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Über die Arbeit können also nicht nur die physisch-materiellen Gegebenheiten einer äußeren Natur, sondern auch die Bedingungen der inneren Natur transformiert werden. Die Arbeit wird zur „zentralen Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Selbsterzeugung“ (KRAEMER 2008: 59). In der Arbeit als Prozess der Produktion des Lebens spiegelt sich somit ein doppeltes Verhältnis wider, einerseits ein natürliches, andererseits ein gesellschaftliches (MARX 1962: 29). Das heißt, dass die historisch wandelbaren, gesellschaftlichen Bedingungen entscheidend für die Möglichkeiten der Aneignung und Transformation von Natur sind. Insofern sind im Austauschverhältnis zwischen Mensch und Natur immer auch die Macht- und Herrschaftsbeziehungen eingeschrieben. Diese kommen in den Aneignungsprozessen zur Geltung und werden gleichzeitig über die Aneignung von Natur reproduziert und verfestigt. Natur ist somit immer ein historischgesellschaftliches Produkt der praktisch tätigen Auseinandersetzung mit den materiellen Gegebenheiten. Das MARXSCHE Konzept des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur plädiert weder dafür, Mensch und Natur in einer Einheit aufgehen zu lassen, noch ihre Verschiedenheit zu verabsolutieren: „In der Vorstellung von Natur und Gesellschaft als differente und zugleich wechselseitig – durch Arbeit – verschränkte Sphären der Wirklichkeit liegt eine wichtige Besonderheit des Marx'schen Materialismus begründet“ (KRAEMER 2008: 62).
Die kapitalistische Produktionsweise kann nun als historisch spezifische Form der gesellschaftlichen Organisation des Stoffwechsels mit der Natur angesehen werden. Da dieser Stoffwechsel auf Tausch und nicht auf Gebrauch ausgerichtet ist, nimmt er die Form der Warenproduktion an, deren Zwang zur Mehrwertproduktion auf eine notwendige Ausweitung der Naturaneignung ausgerichtet ist. Diese spezifische sozio-ökologische Dynamik des Kapitalismus stellt den grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Warenproduktion dar, da die Verwertungslogik des Kapitals mit den Gesetzmäßigkeiten und der Reproduktionslogik der Natur nicht übereinstimmt (GROß 2001: 36; SWYNGEDOUW 2010; SPANGENBERG 1991: 64). Aufgrund dieses Widerspruchs „produziert der Kapitalismus Natur negativ, d.h. in Gestalt von Umweltzerstörung – in letzter Konsequenz produziert er sie als seine eigene Schranke“ (DIETZ & WISSEN 2009: 365).
4.1.2 Die Produktion der Natur MARX war somit einer der ersten Theoretiker, der die These der sozialen Produktion der Natur, im Sinne einer Transformation der materiellen Gegebenheiten in eine gebaute, zweite Natur, vertrat (GINN & DEMERITT 2009: 304). Vor allem von der Radical Geography und insbesondere von NEIL SMITH wurde diese These in Abgrenzung zum Begriff der Naturbeherrschung, der die Gegenüberstellung von Mensch und Natur nicht zu überwinden vermag, aufgegriffen und weiterentwickelt (SMITH 1984; WISSEN 2011: 124). Bei diesem Ansatz der Produktion der Natur wird Natur in Anlehnung an MARX als stofflich-materielles und zugleich historisch-gesellschaftliches Produkt verstanden, das über spezifische Praktiken
4.1 Politische Ökologie
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hergestellt wird. Innerhalb des Produktionsprozesses kommen sowohl gesellschaftliche Kräfteverhältnisse als auch institutionelle Arrangements wie Eigentumsrechte, gesetzliche Regelungen oder gesellschaftliche Wertvorstellungen zum Tragen, die sich in die produzierte Natur einschreiben und dadurch alle weiteren Aneignungspraktiken präkonfigurieren (KÖHLER 2008a: 215). Aufgrund des sozialen und historischen Charakters der Produktion von Natur können – je nach gesellschaftlicher Konstellation – verschiedene Formen von Natur produziert werden, so dass in der Analyse vor allem danach gefragt werden sollte, wie Natur produziert wird und wer die Produktion von Natur kontrolliert (SMITH 1984: 64). Die Tatsache, dass Natur somit immer eine sozial produzierte Natur darstellt – die HEGELSCHE Unterscheidung zwischen einer ersten und zweiten Natur wird somit aufgelöst (SMITH & O`KEEFE 1980: 33) – ist jedoch nicht mit einer vollständigen Kontrolle über die Natur zu verwechseln. Da die Produktionsprozesse nie vollständig kontrolliert werden können, ist auch Natur als Produkt dieser Prozesse nicht vollständig kontrollierbar. Auch die Materialität der Natur entzieht sich einer absoluten Kontrolle durch den Menschen, so dass Aneignungspraktiken zu unintendierten Folgen führen können, die wiederum das Mensch-NaturVerhältnis transformieren. Der Klimawandel oder genetisch veränderte Organismen sind anschauliche Beispiele einer sozial produzierten Natur, die jedoch der vollständigen Kontrolle durch den Menschen entzogen ist (SMITH 2007: 28; CASTREE 2002: 130). Gleichzeitig betont NEIL SMITH, dass der Ansatz der Produktion der Natur nicht mit dem Ansatz der Konstruktion der Natur gleichzusetzen sei. Während das konstruktivistische Mantra der 1990er Jahre lautete: „nature is discursive all the way down“ (SMITH 2007: 29) kritisiert SMITH, dass dabei sowohl die Verbindung zwischen Materialität und Diskursen als auch zwischen sozialen Prozessen und der diskursiv konstruierten Natur oft unspezifisch und unklar blieben. Demgegenüber könne mit dem Ansatz der Produktion von Natur die historische Entstehung von Diskursen innerhalb sozialer Praktiken in den Blick genommen werden (ebd.). Die dramatische Transformation der sozialen Natur (socionature) könne nicht über ihre diskursive Konstruktion, sondern müsse über die Regulation und Produktion der Natur verstanden werden. So habe die Kommodifizierung und Kapitalisierung der Natur und der gestiegene Einfluss der Finanzmärkte beispielsweise zu einer völlig neuen Dimension der Produktion von Natur geführt: „When the price of ecological credits changes, investment priorities do too; when the weather changes, the price of pollution credits changes as traders anticipate greater or lesser generation of electricity; when interest and currency rates change, environmental policies are directly affected by capital moving in or out“ (ebd.).
4.1.3 Neoliberalisierung der Natur Dieser in den letzten Jahrzehnten feststellbare sozio-politische Wandel, der zu einem qualitativ völlig neuen Mensch-Natur-Verhältnis geführt und die Art und Weise, wie Natur wahrgenommen, kontrolliert, gemanagt und produziert wird,
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
grundlegend verändert hat, veranlasste einige Autor_innen dazu, von einer neuen Epoche der Produktion von Natur zu sprechen. Neue Politikformen, die Ausweitung von Marktmechanismen auf die nicht-menschliche Sphäre, die Kommodifizierung und Privatisierung von Natur gemeinsam mit den zerstörerischen Auswirkungen solcher Maßnahmen wird dabei als Neoliberalisierung der Natur bezeichnet (HEYNEN & ROBBINS 2005: 6). Der Ansatz wird vor allem von kritischen Geograph_innen verfolgt, die eine ablehnende Position gegenüber der neoliberalen Doktrin beziehen, sich oftmals in einer marxistischen Theorietradition verorten und meist überwiegend empirisch arbeiten (BAKKER 2009: 1781). Neoliberalismus wird dabei sowohl als soziales, ökologisches und globales Projekt verstanden, durch das die Grenzen zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft neu verhandelt werden und der Umgang mit und der Zugang zur Natur neu geregelt wird. Der Ansatz unterscheidet sich zu anderen Theorien insbesondere durch die Annahme, dass Neoliberalismus notwendigerweise ein ökologisches Projekt darstellt, bei dem die Natur eine Schlüsselrolle innerhalb der Akkumulationsstrategien einnimmt (CASTREE 2008: 143). Für NIK HEYNEN und PAUL ROBBINS (2005) sind der neoliberalen Agenda insbesondere vier Politikformen inhärent, durch die sich das Mensch-Natur-Verhältnis verändert: 1. Governance – als institutionalisierte Form der Kompromissfindung in kapitalistischen Gesellschaften; 2. Privatisierung – als Übertragung von Eigentums- oder Nutzungsrechten von öffentlichen zu privaten Akteuren; 3. Einfriedung (enclosure) – als Aneignung von Gemeingütern und Ausschluss von traditionellen Nutzer_innen; 4. Bewertung – als Prozess der Reduzierung von Ökosystemen auf einen monetären Wert (HEYNEN & ROBBINS 2005: 6). Die Frage danach, wie die Neoliberalisierung der Natur vorangetrieben wird, versucht NOEL CASTREE (2008) mit einer Analyse der Strategien der Inwertsetzung der Natur zu ergänzen. Als environmental fixes bezeichnet er: 1. Free Market environmentalism – die Erreichung von Umweltschutzzielen durch die Entfaltung freier Marktkräfte; 2. Akkumulation durch Enteignung – Erschließung neuer Bereiche der Naturaneignung durch private Akteure; 3. Verstärkung der Ausbeutung – Ausweitung der Rechte und Möglichkeiten der Naturnutzung; 4. Rückzug des Staates – nur minimale Einmischung des Staates oder Abgabe der Verantwortung an private Akteure (Castree 2008: 146–149). Bei einem solch breiten Verständnis, bei dem beinahe jegliche Art des Umgangs mit der Natur unter das Label des Neoliberalismus gefasst werden kann, stellt sich allerdings die Frage nach dem Mehrwert und dem Erkenntnisgewinn des Ansatzes. Wenn so unterschiedliche Prozesse wie Privatisierung, eine zunehmende Marktorientierung, Kommerzialisierung, Deregulierung und Reregulierung unter dem Begriff der Neoliberalisierung zusammengefasst werden, kann die Komple-
4.1 Politische Ökologie
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xität der Vorgänge möglicherweise nicht mehr ausreichend erfasst werden (BAK2007: 433 f.). Andererseits stellt sich die Frage nach den UrsacheWirkungszusammenhängen zwischen neoliberalen Agenden und Veränderungen in den Naturverhältnissen:
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„But the most fundamental objection […] is that the chain of causality in the study of environmental impacts arising from projects of neoliberalization is so attenuated, and the confounding variables so numerous […], that it is almost impossible to prove that the environmental ‘impacts’ we might identify do indeed arise from a particular strategy identified as neoliberal“ (BAKKER 2009: 1785).
Für den Ansatz der Neoliberalisierung der Natur stellt sich somit die Herausforderung, das Spezifische der Produktion unter neoliberalen Vorzeichen – insbesondere im Vergleich zu den Bedingungen im Kapitalismus allgemein – herauszuarbeiten und gleichzeitig den unterschiedlichen Artikulationen neoliberaler Umweltpolitik und den konkreten Auseinandersetzungen in ganz unterschiedlichen geographischen Kontexten gerecht zu werden (ebd.: 1786; BRIDGE & JONAS 2002: 761). 4.1.4 Akteur-Netzwerk-Theorie: Überwindung der Mensch-Natur-Dichotomie? BRUNO LATOUR und die Vertreter_innen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gehen in der Konzeptualisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses noch einen Schritt weiter. Für sie bedeutet jedes Reden über ‚die Natur‘ oder ‚die Gesellschaft‘ – und seien diese als noch so gegenseitig verwoben und wechselseitig abhängig konzeptualisiert – bereits eine Kategorisierung und somit eine a priori Trennung von scheinbaren Entitäten. Der Ansatz der Produktion der Natur wird dabei als soziozentristisch abgelehnt. Natur wird nicht einfach gesellschaftlich produziert, sondern das Natürliche und das Gesellschaftliche sind ko-konstitutiv, sie bilden hybride Mischwesen zwischen Natur und Kultur (WISSEN 2011: 126; BRAUN 2006: 202). Diese Natur-Kultur-Hybride, die von DONNA HARAWAY auch als Cyborgs bezeichnet werden (HARAWAY 1991), nennt LATOUR Quasi-Objekte (LATOUR 1998), die zwischen den Polen Natur und Kultur existieren, die keinem dieser polaren Ontologien angehören und beides zugleich sind (SWYNGEDOUW 2009: 374). Als Beispiel für ein solches Quasi-Objekt nennt LATOUR das Ozonloch, bei dem die sozialen, diskursiven und chemischen Konstitutionsbedingungen so eng miteinander verbunden sind, dass eine Einteilung des Phänomens in eine der Sphären unmöglich erscheint: „Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf chemische Reaktionen, um allein auf Macht und Interessen reduziert werden zu können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial, um ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen“ (LATOUR 1998: 14).
Solche Quasi-Objekte werden jedoch nicht als isolierte Orte betrachtet, an denen sich verschiedene Bereiche überschneiden. Vielmehr handelt es sich um ganze Netzwerke heterogener und kollektiver Verbindungen zwischen menschlichen, pflanzlichen und tierischen Wesen und artifiziellen Objekten (CASTREE 2005: 227
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
f.; GOODMAN 1999: 22). Über diese Netzwerke werden den beteiligten Phänomenen „bestimmte Eigenschaften, Kompetenzen, Handlungsprogramme, Rollen und Funktionen zugewiesen“ (KNEER 2009: 24). Somit werden durch die Verknüpfungen, Interaktionen und Aushandlungen innerhalb des Netzwerkes sowohl die Relationen zwischen den einzelnen Entitäten als auch die Entitäten selbst konstituiert und verändert (ebd.). Die einzelnen Elemente eines Netzwerkes – die Akteure oder Aktanten – verfügen somit über keine vom Netzwerk unabhängige Eigenschaften und Handlungsmöglichkeiten. Sie können nur gemeinsam mit den anderen Akteuren und nur innerhalb des Netzwerkes als Akteurs-Netzwerke handeln. Letztendlich ist es vor allem das Konzept des Akteurs, mit dem die dichotome Redeweise von Natur und Gesellschaft, aber auch von Subjekt und Objekt überwunden werden soll. Jede wirkmächtige Einheit, sei sie ein Mensch, eine Muschel, ein Türöffner oder Schlüsselanhänger kann dabei ein Akteur sein. Somit sind Menschen nicht die alleinigen Urheber von Handlungen und können keine Handlung ohne die sie umgebende Umwelt, die technischen Gegenstände und diskursiven Bedeutungen vollziehen (ebd.: 21 f.). Ein Akteur ist eine Einheit, die „von vielen anderen zum Handeln gebracht wird“ (LATOUR 2007: 81). Bei dem von BRUNO LATOUR vielzitierten Beispiel der Entdeckung der Milchsäurehefe durch LOUIS PASTEUR stellt weder PASTEUR noch die Hefe einen eigenständig handelnden Akteur dar. Vielmehr bedarf es eines komplexen Netzwerkes aus Forscher_innen, Mikroben, Labormaterialien, Sponsoren etc., damit PASTEUR entdecken und benennen und schließlich die Hefe ‚handeln‘ kann (KNEER 2009: 24; 29). Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie soll somit sowohl der natürliche Realismus als auch der soziale Konstruktivismus überwunden werden. Natur ist weder passiv real noch das einfache Produkt sozialer Konstruktionsleistungen (RUDY & GAREAU 2005: 89). Radikal ist die ANT vor allem in ihrer Begriffswahl und symmetrisierenden Beschreibungssprache, bei der alle Begriffe gleichermaßen auf menschliche Wesen wie artifizielle Dinge angewandt werden. Gleichzeitig werden alle Begrifflichkeiten verworfen, die die Welt in eine natürliche und eine gesellschaftliche unterteilen (SCHULZ-SCHAEFFER 2000: 210; KNEER 2009: 20). Doch genau hier setzt die Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie an: Sie bediene sich einer „vagen, häufig metaphorischen oder suggestiven Begrifflichkeit, die den Ansprüchen wissenschaftlichen Arbeitens und Argumentierens nicht gerecht wird“ (KNEER 2009: 35).
Das Postulat, die Beobachtungen und Analysen ohne theoretische Vorannahmen vorzunehmen, grenzt dabei an einen naiven Realismus (ebd.), der die Selbstreflexivität der eigenen Forscher_innenposition mit starken Annahmen der Neutralität unterwandert. Eine weitere Schwachstelle des Ansatzes ist die Annahme der Einmaligkeit und Unterschiedlichkeit aller Akteurs-Netzwerke. Somit können die gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnisse, die den Netzwerken zugrunde liegen und diese bedingen, nur für den Einzelfall bestimmt, nicht aber von ihnen abstrahiert werden, um generelle Prozesse der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu bestimmen (CASTREE 2002: 134; WISSEN 2011: 127; PEUKER 2011:
4.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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163). Viele Kritiker_innen der ANT teilen zwar die Ablehnung einer dichotomen Mensch-Natur Vorstellung, sehen aber insbesondere bei den vorgeschlagenen hybriden Mischwesen die Schwierigkeit, das Spezifische der gesellschaftlichen Verhältnisse und der materiellen Bedingungen herauszuarbeiten: „Latour’s critique of modern dualisms is excellent, but finding the solution in the middle is a problem“ (RUDY 2005: 114). Wenn LATOUR die Versuche von Wissenschaftler_innen, Kammermuscheln auf eine bestimmte Art und Weise zu kultivieren, als Verhandlungsprozesse benennt (SCHULZ-SCHAEFFER 2000: 190), dann ist die Möglichkeit des Scheiterns der Naturaneignung dabei durchaus mitgedacht. Und wenn er von gusseisernen Anhängern von Hotelschlüsseln, automatischen Türöffnern oder in den Boden eingelassenen Fahrbahnschwellen spricht, dann ist es gerade deren widerspenstige Materialität, die bestimmte Handlungen hervorbringt und Rollen zuschreibt. Dennoch fehlt dem Ansatz eine explizite Betrachtung von natürlichen Prozessen. Gerade durch die Auflösung der Subjekt-Objekt-Spannung in dem Begriff der Hybride geht der Blick auf das Nicht-Verfügbare der Natur verloren (WISSEN 2011: 126) 4.2 GESELLSCHAFTLICHE NATURVERHÄLTNISSE Die Kritik an der einseitigen Konzeptualisierung und Darstellungsweise der ökologischen Krise in den 1970er und 1980er Jahren stellte den Ausgangspunkt des Konzeptes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse dar. Die Krise wurde in erster Linie über einzelne, isolierte Umweltprobleme verhandelt, die (natur)wissenschaftlich erfasst und dementsprechend technisch gelöst werden sollten (JAHN & WEHLING 1998: 80 f.). Im deutschsprachigen Raum wurde insbesondere am Institut für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt am Main (ISOE) der Versuch unternommen, eine „kritische Theorie der ökologischen Krise“ (GÖRG 2003b: 25) zu erarbeiten, die den sozio-ökologischen Charakter der Krise in den Blick nehmen kann (KÖHLER & WISSEN 2010: 218; BECKER & JAHN 2006). Dabei geht die These der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse davon aus, dass nicht die Natur krisenhaft gestört ist, sondern die gesamten „wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Formen, in denen insbesondere die hochindustrialisierten Gesellschaften ihren Umgang mit der natürlichen Umwelt gestalten“ (JAHN & WEHLING 1998: 81).
Gleichzeitig werden die vorherrschenden Bearbeitungsformen der ökologischen Krise nicht als Lösungen, sondern als integraler Bestandteil der ökologischen Krisendynamik verstanden (KÖHLER 2008b: 851). Analog zur Akteur-Netzwerk-Theorie will der Ansatz der gesellschaftlichen Naturverhältnisse die Fallstricke realistischer bzw. konstruktivistischer Ansätze vermeiden, indem er insbesondere das Vermittlungsverhältnis zwischen Natur und Gesellschaft betont. Naturalistische Konzeptionen, bei denen bestimmte Naturgesetzmäßigkeiten und natürliche Grenzen den Umgang mit der Natur zu bestimmen
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
scheinen – wie sie etwa im Tragfähigkeitsansatz und beim ÜberbevölkerungsDiskurs aufscheinen – werden dabei ebenso abgelehnt wie soziozentristische Positionen, die einseitig die symbolische Konstruktion von Natur betonen und dabei materielle Praktiken und die Widerständigkeit von Materialität unterbelichten (KÖHLER & WISSEN 2010: 218 f.; KRAEMER 2008: 140; JAHN & WEHLING 1998: 85). 4.2.1 Kritische Theorie: Natur- und Selbstbeherrschung Wesentliche Bezugspunkte des Ansatzes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse sind die marxistische Theorie, von der u.a. der Begriff des Naturverhältnisses und des Stoffwechsels entlehnt wurde, und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, insbesondere deren Überlegungen zur Naturbeherrschung und dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Natur. Wichtige Impulse kamen dabei von CHRISTOPH GÖRG, der sich in seiner Habilitationsschrift ‚Regulation der Naturverhältnisse‘ (GÖRG 2003b) dezidiert mit dem Naturbegriff der Kritischen Theorie auseinandersetzt. Ebenso wie für KARL MARX ist für THEODOR ADORNO der Begriff des Stoffwechsels, der den Zwang des materiellen Austausches mit der Natur und gleichzeitig das Vermittlungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Natur betont, wesentlich: „Der gesellschaftliche Prozess ist weder bloß Gesellschaft noch bloß Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die permanente Vermittlung beider Momente“ (ADORNO 2003: 221).
Trotz der Ablehnung eines dichotomen Verständnisses plädiert ADORNO nicht für ein Konzept hybrider Mischwesen, bei dem Natur und Gesellschaft ineinander aufgehen. Vielmehr brechen beide Momente auseinander, wobei dieser Bruch nicht als metaphysisch-ontologische Differenz, sondern als historisch-kultureller Bruch zu verstehen ist, womit der geschichtliche Charakter des Vermittlungsverhältnisses hervorgehoben wird (GÖRG 2003b: 31; BECKER et al. 2011: 89). Die gesellschaftliche Entwicklung ist demnach von Anfang an grundlegend mit den materiellen Bedingungen existenziell vermittelt und nicht – wie es bei der vorherrschenden Auffassung der ökologischen Krise den Anschein hat – erst im Nachhinein mit ökologischen Problemen konfrontiert (GÖRG 2003b: 60). In diesem Sinne erscheint die Naturaneignung nicht als Problem, sondern als Existenzbedingung menschlichen Lebens. Lediglich die Naturbeherrschung als spezifische Form der Naturaneignung mit dem Ziel einer kompletten Unterordnung der Natur unter gesellschaftliche Funktionsweisen und Nutzungsbedingungen führt demnach zu einer Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse (GÖRG 2004: 222). Mit dem Begriff der Naturbeherrschung wird die zentrale Kategorie der Herrschaft angesprochen. Dabei betonen ADORNO und HORKHEIMER das enge Verhältnis zwischen der Herrschaft des Menschen über die Natur, über andere Men-
4.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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schen und letztendlich der Verinnerlichung von Herrschaftsverhältnissen im Subjekt. „Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, wie sie die Tendenz der Naturbeherrschung hervorbringt, [...] [setzt] sich dann in der Beherrschung von Menschen durch andere Menschen [fort]“ (ADORNO 1950: 125).
Das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Natur, das sich in der spezifischen Aneignungsweise zu einem Herrschaftsverhältnis entwickelt hat, spiegelt sich in den menschlichen Beziehungen als Herrschaft über andere Menschen(naturen) wider. Solche Prozesse greifen wiederum auf das Subjekt selbst über, das sich innerhalb der Herrschaftsverhältnisse konstituiert. Zerstörerische Naturaneignung und die Unterdrückung anderer Menschen werden dabei in Form der Unterdrückung der eigenen inneren Natur und der Verdrängung von Triebregungen verinnerlicht: „Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um der Herrschaft willen ’verinnerlicht‘“ (HORKHEIMER 1967: 94).
Die ökologische Krise ist demnach nicht bloß eine Krise der Natur oder der Aneignungsformen von Natur, sondern stellt eine tiefgreifende Gesellschaftskrise dar, die bis in die Prozesse der Subjektkonstitution einzelner Individuen hineinreicht und als „zentrales Dilemma europäischer Zivilisation“ angesehen werden kann (KÖHLER 2008b: 851). Dabei erscheinen die Versuche, über eine Ausweitung der modernen, technologisch rationalisierten Aneignung der Natur (Atomenergie, Gentechnik, CO2-Sequestrierung) die Krise zu überwinden, keinen Ausweg aus dieser zu weisen, da sie die spezifische Qualität und den Eigensinn der Natur missachten: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein“ (HORKHEIMER & ADORNO 1988: 19). Die enge Verzahnung von Naturbeherrschung, gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen und verinnerlichten Herrschaftsverhältnissen bedeutet zugleich, dass nur über Veränderungen in allen drei Bereichen eine wirkliche Befreiung der Gesellschaft möglich wird. Ein Aufbrechen der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse ohne eine Umwandlung der Ausbeutungsverhältnisse mit der Natur stellt für ADORNO und HORKHEIMER keinen gangbaren Weg für eine Emanzipation des Menschen dar (WIGGERSHAUS 1996: 15): „Und denken wir selbst den Fall, alle gesellschaftlichen Antagonismen seien überwunden – wäre unser Denken dann damit befriedigt, daß jetzt die Menschheit nichts anderes mehr wäre als eine konfliktlose Aktionsgesellschaft zur gemeinsamen Ausbeutung der Natur?“ (HORKHEIMER in FLASCH 1995: L23).
An den Überlegungen der Kritischen Theorie wurde jedoch die Gleichstellung jeglicher menschlicher Verhältnisse – dem Naturverhältnis, den zwischenmenschlichen Verhältnissen und dem Selbstverhältnis – kritisiert. So hat u. a. AXEL HONNETH darauf hingewiesen, dass eine „Analogie von Naturherrschaft und sozialer Herrschaft“ (HONNETH 1985: 67) die Menschen als „passiv-intensionslose Opfer“
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
(ebd.) darstellt, die den Unterdrückungsverhältnissen mehr oder weniger wehrlos ausgesetzt sind, während Widerstandsstrukturen ausgeblendet werden: „die Verfügungsprozeduren prägen sich, so scheint es, den Individuen ein, ohne auf Versuche sozialen Widerstandes und kultureller Gegenwehr zu stoßen“ (ebd.).
4.2.2 Mensch-Natur Verhältnis als Vermittlungsverhältnis Das dieser Arbeit zugrunde liegende Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse geht von einer Beziehung zwischen Mensch und Natur aus, die als Vermittlungsverhältnis gedacht werden kann. Diese Vermittlung führt jedoch nicht zu einer großen Einheit, sondern die beiden Entitäten bleiben in einem Spannungsverhältnis von Relation und Differenz bestehen, das – im Gegensatz zur AkteurNetzwerk-Theorie – nicht aufgelöst werden kann (JAHN & WEHLING 1998: 85). THOMAS JAHN und PETER WEHLING nennen in ihrem programmatischen Aufsatz von 1998 als die drei zentralen Momente des Konzeptes „die Vorstellung eines unaufhebbaren Zusammenhangs von Natur und Gesellschaft, die Behauptung einer Differenz zwischen ihnen sowie die These der historischen Konstitution dieser Differenz“ (ebd.: 82).
Darin findet sich sowohl die MARXSCHE Vorstellung des Stoffwechsels als „ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens“ (MARX 1968a: 198) wider als auch die Ablehnung von essentialistischen Auffassungen von Mensch und Natur als separate, statische Entitäten, die ‚an sich‘ existieren und unabhängig voneinander erkannt werden können. Mensch bzw. Gesellschaft und Natur werden als „aufeinander bezogene gegensätzliche Pole einer Differenz“ (JAHN & WEHLING 1998: 83) begriffen, die sich sowohl voneinander unterscheiden als auch gegenseitig bedingen. Genau dieses Vermittlungsverhältnis zwischen Verbindung und Unterscheidung stellt den kleinen aber bedeutenden Unterschied zu einem dichotomen Mensch-Natur-Verständnis dar: „Eine Unterscheidung wird zum Dualismus wenn ihre Bestandteile so unterschieden werden, dass ihre charakteristische Beziehung zueinander letztlich unverständlich wird. Descartes‘ Dualismus ist, wie immer, das Paradigma“ (BRANDOM in BECKER et al. 2011: 88).
Diese beiden Pole treten jedoch nicht als homogene Groß-Entitäten miteinander in Beziehung, sondern sind in sich differenziert. Im Gegensatz zur Kritischen Theorie, die aus einer philosophischen und psychoanalytischen Perspektive überwiegend von einem holistischen Naturbegriff ausgeht (JAHN & WEHLING 1998: 84), treten hierbei die einzelnen Elemente und Prozesse auf ganz unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Skalen in den Mittelpunkt des Interesses. Natürliche Elemente werden auf ganz verschiedenen Maßstabsebenen von unterschiedlichen Akteuren oder Akteursgruppen in gesellschaftliche Prozesse eingebunden und transformieren so die gesellschaftlichen Naturverhältnisse (ebd.: 83). Wenn über die Abholzung von Wäldern oder den Bau von Bewässerungsinfrastruktur, über das Düngen von Böden oder die genetische Veränderung von Erbgut Natur pro-
4.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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duziert wird, dann sind die Auswirkungen und Ergebnisse nicht immer dieselben, sondern unmittelbar von den räumlichen Dimensionen, den handelnden Akteuren und gesellschaftlichen Machtstrukturen abhängig. Ähnlich wie bei MARX, bei dem der Begriff der Arbeit die zentrale Kategorie im Austauschverhältnis zwischen Mensch und Natur einnimmt, wird im Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse der gesellschaftlichen Praxis – die u. a. die Bereiche Arbeit, Technik, Wissenschaft und Kommunikation umfasst – eine zentrale Vermittlungsfunktion zugesprochen. Über soziale Praktiken werden gesellschaftliche und natürliche Elemente und Prozesse verbunden und somit die gesellschaftlichen Naturverhältnisse gestaltet und reguliert. Diese Regulierung ist dabei jedoch nicht als geplanter Prozess, der von einem zentralen Akteur (Staat, Kapital) gesteuert werden kann, zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um heterogene soziale Praktiken ganz unterschiedlicher Akteure und um nicht-intendierte Folgen sozialer Prozesse, die sich wechselseitig stützen und verstärken oder miteinander in Konflikt geraten können (JAHN & WEHLING 1998: 87 f.). Die Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse ist somit ein gesellschaftlicher Vermittlungsprozess, bei dem politische, symbolische und rechtliche Institutionen sowie kulturelle Deutungsmuster und Wertvorstellungen involviert sind (GÖRG 2003b: 126). Somit handelt es sich um einen kulturell und historisch spezifischen Prozess, der zu ganz bestimmten und in jedem Fall veränderlichen gesellschaftlichen Naturverhältnissen führt (BECKER et al. 2011: 81; JAHN & WEHLING 1998: 83). Die vielfältigen Formen der politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Regulierung der Naturverhältnisse machen deutlich, dass man nicht von einem bestimmten homogenen gesellschaftlichen Naturverhältnis sprechen kann. Die „in Raum und Zeit variierenden institutionellen Bedingungen und sozialen Kräfteverhältnisse“ (WISSEN 2011: 133) führen vielmehr zu einer Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die nebeneinander bestehen oder konflikthaft verwoben sein können (JAHN & WEHLING 1998: 84; GÖRG 2003b: 131). Innerhalb der pluralen gesellschaftlichen Naturverhältnisse kann jedoch eine spezifische Form der Naturaneignung oder ein spezifischer Diskurs hegemonial werden (JAHN & WEHLING 1998: 84). Die Neoliberalisierung der Natur kann aus dieser Sicht als hegemoniales gesellschaftliches Naturverhältnis begriffen werden. Wird jedoch – wie im Konzept der Neoliberalisierung der Natur – die Betrachtungsweise auf nur eine spezifische Form der gesellschaftlichen Naturverhältnisse konzeptionell eingeschränkt, kann der Blick auf die miteinander konkurrierenden, pluralen Verhältnisse verloren gehen. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass mit den gesellschaftlichen Naturverhältnissen nicht „singuläre und rasch verschwindende Relationen zwischen gesellschaftlichen und natürlichen Entitäten“ gemeint sind, „sondern relativ dauerhafte Beziehungsmuster“ (BECKER et al. 2011: 89). Solche Beziehungsmuster weisen sowohl eine stofflich-materielle als auch eine kulturell-symbolische Dimension auf, wobei eine solche Unterscheidung nur analytisch vorgenommen werden kann. Faktisch kann die gegenseitige Durchdringung nicht voneinander getrennt werden. Symbolische Konstruktionsprozesse sind immer abhängig von
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
materiellen Bedingungen, gleichzeitig schreiben sich symbolische Ordnungen in materielle Prozesse und Praktiken ein und werden dadurch auf Dauer gestellt (JAHN & WEHLING 1998: 84 ff.; WISSEN 2011: 132). Die symbolische Dimension bezieht sich auf die Einbettung der Naturverhältnisse in kulturelle Deutungszusammenhänge und Wahrnehmungsmuster, wie sie in religiösen und ästhetischen Naturbildern oder wissenschaftlichen Erklärungen zum Ausdruck kommen. Letztendlich braucht es also die Vermittlung über bestimmte Repräsentationen, damit Natur – oder ein bestimmter Ausschnitt von Natur – eine gesellschaftliche Bedeutung erhält (WISSEN 2011: 121; JAHN & WEHLING 1998: 84 f.; BECKER et al. 2011: 78). 4.2.3 Nicht-Identität von Natur Demgegenüber bezieht sich die materielle Dimension der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf die stofflich energetischen Eigenschaften und deren Wirkungsbeziehungen. Die Materialität von Natur bedingt die Wirkungspotenziale und -zusammenhänge, durch die gesellschaftliche Aktivitäten möglich sind und Natur gestaltbar ist. Dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis weist auch darauf hin, dass von den materiellen Bedingungen nicht beliebig abstrahiert werden kann (GÖRG 2003a: 124). Natur ist somit nicht beliebig produzierbar. Sie weist eine gewisse Widerständigkeit gegenüber sozialen Praktiken auf und entzieht sich damit einer vollständigen Verfügbarkeit und Kontrolle (JAHN & WEHLING 1998: 83). Diese Eigenständigkeit von Natur bezeichnet CHRISTOPH GÖRG in Anlehnung an ADORNO mit der Nicht-Identität von Natur. In den sprachlichen und praktischen Konstitutionsprozessen von Natur kann die Totalität der Dinglichkeit der Gegenstände nie vollständig erfasst und benannt werden. Somit besteht zwischen den Begrifflichkeiten und den Dingen immer eine gewisse Lücke, etwas, das nicht benannt werden kann, ein nicht-identischer Gehalt (GÖRG 2003a; GÖRG 2005: 234). Die Grenzen der Benennung weisen zugleich auf die Grenzen der Aneignung der Natur hin und widersprechen somit dem aufklärerischen Versprechen der vollständigen Naturbeherrschung (KÖHLER 2008b: 854). Ein solcher Eigensinn der Natur kann aber nicht positiv, apriori bestimmt werden, sondern erschließt sich nur dann, wenn bestimmte Formen der Naturaneignung mit dieser Eigenlogik in Widerspruch treten. Erst in der Erfahrung des Scheiterns der praktischen Naturaneignung wird die Nicht-Identität der Natur ersichtlich (GÖRG 2005: 234). 4.2.4 Naturverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse Der Rekurs auf die Kritische Theorie als Grundlage des Konzeptes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse machte deutlich, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse nie losgelöst von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen begriffen werden können. Machtverhältnisse beziehen sich somit nicht allein auf die Bezie-
4.2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse
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hungen zwischen Menschen, sondern sind immer mit den Naturverhältnissen gekoppelt und über diese vermittelt, wodurch sich „komplexe und vielfach gebrochene Machtverhältnisse“ (GÖRG 2003b: 200) ergeben. Zum einen schreiben sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse in die Natur ein und werden darüber verstetigt. Zum anderer kann die Kontrolle über die Naturverhältnisse die sozialen Machtverhältnisse beeinflussen und stellt somit ein wichtiges Medium sozialer Herrschaft dar (ebd.: 201; KÖHLER & WISSEN 2010: 223). Während in den Ansätzen der politischen Ökologie Macht als „ability of an actor to control their own interaction with the environment and the interaction of the other actors with the environment“ (BRYANT & BAILEY 1997: 37)
verstanden wird, geht die Kritische Theorie noch darüber hinaus. Mit dem Verweis auf die Verinnerlichung von Herrschaftsbeziehungen betont die Kritische Theorie die Rolle von gesellschaftlichen Naturverhältnisse bei den Prozessen der Subjektkonstitution. Somit spielen gesellschaftliche Naturverhältnisse bei der Konstitution von Subjektivität und Gesellschaftlichkeit eine entscheidende Rolle. Dabei sind sie ebenfalls Bestandteil des Prozesses der Konstitution von Geschlechterverhältnissen, die als „historisch entwickelte Strukturkategorie moderner Gesellschaften“ (KÖHLER 2008b: 854) verstanden werden können. Diese sind „auf vielfältige Weise mit symbolischen Repräsentationen und materiellen Praktiken des Umgangs mit Natur und Umwelt verbunden“ (POFERL in KÖHLER 2008b: 854).
Über unterschiedliche Praktiken, Erfahrungen und Möglichkeiten des Zugangs zu und der Kontrolle über Natur werden Naturverhältnisse strukturiert. Gleichzeitig findet, vermittelt über die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die Konstitution von Subjektpositionen und von gesellschaftlichen Strukturkategorien statt: „Das für die Selbst- und Fremdwahrnehmung entscheidende Verhältnis von Selbst und Anderen ist mit einem Dualismus von Natur und Kultur verbunden, der die Unterwerfung anderer Gruppen durch deren Markierung und Identifikation mit Natur (Frauen, Wilde) und somit die Ausarbeitung hierarchischer Verhältnisse zwischen Geschlechtern, 'Rassen' oder Klassen strukturiert“ (HAMMER & STIEß in WISSEN 2011: 125).
Vor allem die Vorstellung der Naturbeherrschung ist in patriarchale und koloniale Herrschaftsverhältnisse und in ein modernes Verständnis dichotomer Gegensatzpaare wie Mensch/Natur, Mann/Frau, zivilisiert/wild, weiß/schwarz eingebettet, die wiederum hierarchisch geordnet und bewertet werden (WISSEN 2011: 133; GINN & DEMERITT 2009: 303; BECKER et al. 2011: 89; ROBBINS 2008: 58 f.). Insbesondere ökofeministische Ansätze (u. a. MARIA MIES, CLAUDIA VON WERLHOF, VANDANA SHIVA) haben das Wechselverhältnis zwischen der ‚Herr’schaft des Mannes über die Frau und der ‚Herr’schaft des Menschen über die Natur herausgearbeitet. Die Verbindung zwischen Mann/Kultur und Frau/Natur und die Hierarchisierung und Bewertung der Kategorien sind dabei in die Geschlechterverhältnisse eingewoben. Andererseits wurden daraus jedoch auch Rückschlüsse auf einen spezifisch weiblichen Zugang zur Natur – beispielsweise begründet durch die Gebärfähigkeit der Frau – im Gegensatz zu einem spe-
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
zifisch männlichen, auf die technische Beherrschbarkeit von Natur ausgerichteten Zugang zu Natur gezogen (AGARWAL 1998: 193; KÖHLER 2008b: 854; FORSYTH 2008: 185). Ein solch essentialistisches Geschlechterverständnis blendet dabei sowohl die Aushandlungs- und Konstitutionsprozesse von Identitäten (doing gender anstelle von being gender) aus als auch die Überschneidungen und Interdependenzen verschiedener Differenzkategorien wie Einkommen, sozialer Status, Klasse, Ethnizität, Alter, Geschlecht usw. (BAURIEDL 2011: 3). Darüber hinaus werden dabei auch die Zusammenhänge zwischen Geschlechterverhältnissen und weiteren gesellschaftlich-materiellen Verhältnissen (Arbeitsteilung, Besitz- und Ressourcenverteilung) weitestgehend unterbelichtet (AGARWAL 1998: 195, 197). Natur- und Herrschaftsverhältnisse im Nordosten Brasiliens Für den Nordosten Brasiliens hat die renommierte Soziologin und Ökonomin TÂNIA BACELAR DE ARAÚJO verstärkt auf die Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Naturverhältnissen – insbesondere dem Zugang zu und der Kontrolle von Land und Wasser – und den verfestigten, ungleichen Macht- und Herrschaftsstrukturen hingewiesen (ARAÚJO 2000; SOARES 2008). Ein Ziel der vorliegenden Arbeit stellt die Denaturalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens dar. Das heißt, ihnen ihren gegebenen, natürlichen und unvermeidbaren Charakter zu nehmen und sie als Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Machtverhältnissen zu thematisieren. Wichtig ist dabei herauszuarbeiten, wie gesellschaftliche Verhältnisse der Natur zugeschrieben werden und wie über solche Naturalisierungen und räumliche Objektivierungen gesellschaftliche (Ungleichheits)Verhältnisse verschleiert und somit verfestigt werden (SCHROER 2008: 145; ROBBINS 2008: 12). Zu untersuchen ist, wie über die Darstellung der Armutsverhältnisse im Nordosten als direktem Effekt von Niederschlagsmengen Herrschaftsverhältnisse stabilisiert und Widerstandsstrukturen gebrochen werden. Mit der Dekonstruktion der kausalen Begründungszusammenhänge und vermeintlichen Gesetzlichkeiten geht dabei gleichzeitig eine Infragestellung der bestehenden, kapitalistischen Naturverhältnisse und eine Suche nach alternativen gesellschaftlichen Naturverhältnissen einher. 4.3 DIE PRODUKTION VON NATUR ALS RESSOURCE „Resources are not; they become“ (ZIMMERMANN 1951: 15).
Was bedeuten die theoretischen Annahmen des Ansatzes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse aber nun konkret? Wie können sie auf das Wasserthema und auf die Dürresituation im Nordosten Brasiliens angewandt werden? Aus den vorausgegangenen Überlegungen wird deutlich, dass Natur nicht als Einheit außerhalb von gesellschaftlichen Strukturen, Diskursen und kulturellen Wertvorstellungen, sondern immer nur in einem Vermittlungsverhältnis zwischen Gesellschaft und
4.3 Die Produktion von Natur als Ressource
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natürlichen Phänomenen gedacht werden kann. Wenn Wasser im hegemonialen Diskurs der globalen Wasserkrise (s. Kap. 2.1.2) als knappe Ressource bezeichnet wird, dann wird mit dem Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse die Konstruiertheit einer solchen Setzung deutlich. Mit dem Wort ‚Ressource‘ kann somit nicht eine objektive Substanz außerhalb des menschlichen Einflussbereiches benannt werden, sondern es bezieht sich immer auf eine Abstraktion, in der sich gesellschaftliche Wertvorstellungen und Bedürfnisse widerspiegeln (ZIMMERMANN 1951: 7). Ressourcen existieren somit gar nicht. Vielmehr werden bestimmte biophysikalische Eigenschaften der materiellen Welt aufgrund von historisch spezifischen, gesellschaftlichen Bedürfnissen und mit Hilfe bestimmter (Produktions)Mittel sozial hergestellt. Oder, wie es ERICH ZIMMERMANN mit seinem berühmten Diktum ausdrückte: „Resources are not; they become“ (ZIMMERMANN 1951: 15). Anhand des Begriffes der Ressource kann der Doppelcharakter der gesellschaftlichen Naturverhältnisse deutlich gemacht werden. Nur vermittelt über symbolische Bedeutungszuschreibungen erhält ein bestimmter materieller Ausschnitt der Natur eine gesellschaftliche Bedeutung als Ressource. Um diesen Produktionscharakter und die Relationalität des Ressourcenbegriffes zu betonen, bezeichnet DAVID HARVEY natürliche Ressource als eine „cultural, technical and economic appraisal of elements and processes in nature that can be applied to fulfill social objectives and goals through specific material practices“ (HARVEY 2007: 147).
Für die Bewertung der Elemente und Prozesse in der Natur sind demnach sowohl kulturelle Aspekte (was wird von einer Gesellschaft in welcher Art und Weise wie wertgeschätzt?), ökonomische Entwicklungen (welche Einträge braucht eine bestimmte Produktionsweise?) und technologische Innovationen (mit welchen Techniken kann Natur in Wert gesetzt werden?) entscheidend. Hierbei spielen Wissensformen und die Art und Weise der Wissensproduktion eine wichtige Rolle. Dabei stellen die Ziele und Bedürfnisse einer Gesellschaft keine fixen, festgelegten Konstanten dar. Sie verändern sich je nach vorherrschenden Machtverhältnissen, in die die Klassen- und Geschlechterverhältnisse eingeschrieben sind, werden politisch organisiert und institutionalisiert. Ob eine mit Bäumen bewachsene Fläche als Hindernis für den Ackerbau, als Rohstoffquelle, ‚deutscher Wald‘, Erholungsgebiet oder CO2-Senke angesehen wird, ist abhängig von hegemonialen Diskursen, Interessenskonstellationen und Prioritätensetzungen. Mit den materiellen Praktiken spielt HARVEY auf die vorherrschenden Produktionsweisen und deren intendierte und nicht-intendierte Folgen an, mit denen Natur angeeignet und in Wert gesetzt wird. Schließlich verändern sich auch die Elemente und Prozesse der Natur selbst. Nicht nur, da Wandel einen der Natur immanenten Prozess darstellt, sondern auch, da über die sozialen Praktiken Natur immer wieder neu hergestellt wird (HARVEY 2007: 147). Ressourcen sind demnach immer in die konkreten und historisch wandelbaren gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden und somit immer veränderbar und dynamisch (ebd.; WISSEN 2011: 121; LINTON 2006; KRAEMER 2008: 157).
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
4.3.1 Die Produktion von Knappheit Mit der Vorstellung der Unterteilbarkeit von Natur in voneinander abgrenzbare, natürliche Einheiten bzw. Ressourcen ist gleichzeitig die Vorstellung von der Begrenztheit der Natur verbunden. Dabei bestimmen ‚natürliche‘ Grenzen die Verfügbarkeit von Ressourcen und legen somit deren Knappheit fest. Insbesondere durch die Ölkrisen der 1970er Jahre und die Diskussion über die ‚Grenzen des Wachstums‘ (MEADOWS 1972) 2 ist in der westlichen Welt ein Bewusstsein über die Endlichkeit der für die vorherrschende Lebensweise dringend notwendigen Ressourcen verankert worden. Mit der Annahme der Knappheit als natürliches Gesetz wird dabei letztendlich auf MALTHUSIANISCHE Argumentationslogiken zurückgegriffen. Der Ökonom und anglikanische Pfarrer THOMAS ROBERT MALTHUS analysierte in seinem 1789 erschienenen Buch ‚An Essay on the Principle of Population‘ die Armutsverhältnisse in England im ausgehenden 18. Jahrhundert als Resultat zweier vermeintlicher Naturgesetzmäßigkeiten: die Möglichkeiten der Nahrungsmittelproduktion und das Bevölkerungswachstum. Da, so MALTHUS, die Bevölkerungszahl exponentiell steigt (die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern nimmt er als konstant an), die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear zunimmt, kommt es zwangsläufig zu Armut, Hungersnöten und Elend. Zentral ist dabei der angenommene, direkte kausale Zusammenhang zwischen Ressourcenverknappung und Armutsverhältnissen und die Behauptung von Naturgesetzmäßigkeiten, die „absolutely independent of all human regulation“ (MALTHUS in HARVEY 2007: 142) funktionieren. Da Hungersnöte in dieser Sichtweise ‚natürliche‘ und somit unvermeidbare Ereignisse darstellen, zieht MALTHUS den radikalen, aber konsequenten Schluss, dass sich staatliche Eingriffe und Wohlfahrtsmaßnahmen gegen ‚die Natur‘ richten und somit nicht nur sinnlos, sondern sogar kontraproduktiv seien. Diese würden die Zahl der Armen nur erhöhen und das Problem somit nur verstärken. Einzig mit Hilfe von Maßnahmen der Bevölkerungskontrolle – und zwar im Sinne der Kontrolle der unteren Einkommensschichten – könne laut MALTHUS die Armut (und somit letztendlich die Armen) bekämpft werden 3 (WISSEN 2011: 109; ROBBINS 2008: 9; BRAUN 2006: 195). 2 3
In aktualisierter Form finden sich solche Argumente bspw. in den Debatten um ein peak oil wieder. Ähnlich argumentiert GARRET HARDIN, wenn er für den Zustand der Welt die Metapher eines Rettungsbootes bemüht, in dem sich die Reichen der westlichen Welt befänden, umgeben von einer Armutsbevölkerung, die verzweifelt versucht, in das Rettungsboot zu gelangen. Da der Platz auf dem Rettungsboot jedoch begrenzt sei, sieht HARDIN die einzige ‚ethische‘ Lösung darin, die Hilferufe der Armutsbevölkerung zu ignorieren, um somit zumindest das Überleben der Besatzung des Rettungsbootes garantieren zu können CASTREE (2005: 113). In jüngster Zeit bemühte THILO SARRAZIN mit seinen rassistischen Äußerungen über Migrant_innen, die ständig neue, kleine Kopftuchmädchen produzieren, eine neomalthusianische Argumentationslogik. Schuld an der Vermehrung der funktions- und arbeitslosen Unterklasse sei der moderne Sozialstaat und eine Lösung sieht SARRAZIN in erster Linie im Entzug staatlicher Sozialleistungen (vgl. BÜHL 2009).
4.3 Die Produktion von Natur als Ressource
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Auch wenn solche Lösungsansätze heutzutage außerhalb der legitimierten Schließungslogik stehen, scheinen dennoch einige Argumente und Denkmuster in den aktuellen Debatten um Ressourcenverknappung und ökologische Krise immer wieder auf. Mit der Annahme eines rein quantitativen, äußeren Verhältnisses zwischen Naturgrößen und Bevölkerungszahlen (z.B. verfügbare Wassermenge pro Einwohner_in) wird die gesellschaftliche Produktion der Knappheit ignoriert. „To say that scarcity resides in natures and that nature limits exist is to ignore how scarcity is socially produced and how ‘limits’ are a social relation within nature (including human society) rather than some externally imposed necessity“ (HARVEY 2007: 147).
In einer solchen Sichtweise wird die ‚Begrenztheit der Natur‘ zu einem Problem für die Gesellschaft erhoben, während die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise ausgeblendet bleiben. Die Zusammenhänge zwischen Klassen-, Geschlechter- oder rassistischen Unterdrückungsverhältnissen, den Produktionsformen und den Naturverhältnissen können dabei nicht gefasst werden (ebd.: 381; BELINA 2008: 522; WISSEN 2011: 109). Demgegenüber steht das Konzept der gesellschaftlichen Konstruktion von Nutzungsknappheiten. Dabei wird Verknappung als relational-dynamischer Prozess verstanden, über den – in Abhängigkeit von den verfügbaren wissensbasierten, technischen Praktiken und vermittelt über gesellschaftliche Bedürfnisse, Wertevorstellungen, politische und ökonomische Regulationsmechanismen – der Grad der Knappheit bestimmt wird (KRAEMER 2008: 223 f.). Folglich steht nicht eine absolute Verfügbarkeit von Ressourcen im Vordergrund der Überlegungen, sondern Fragen nach dem Zugang zu und der Kontrolle über Ressourcen. Grenzen sind demnach gesellschaftliche Verhältnisse innerhalb der Natur, in die Herrschafts- und Geschlechterverhältnisse eingeschrieben sind (FORSYTH 2008: 194; BELINA 2008: 522). So betonte AMARTYA SEN beispielsweise den gesellschaftlichen Charakter einer Hungerkrise, die nicht notwendigerweise auf einen absoluten Mangel an Nahrungsmittel zurückzuführen ist: „Starvation is the characteristic of some people not having enough food to eat. It is not the characteristic of there being not enough food to eat“ (SEN 1981: 1).
Mit dem Konzept der Knappheit, das eine zentrale Rolle innerhalb der klassischen und neoklassischen Wirtschaftswissenschaften spielt, wird nicht nur von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen abstrahiert, sondern es werden gleichzeitig Begründungszusammenhänge für eine effiziente Nutzung und ökonomische Inwertsetzung vermeintlich knapper Ressourcen geschaffen. Die Abgrenzbarkeit und Knappheit eines bestimmten Ausschnittes von Natur stellen gleichsam die Voraussetzungen dafür dar, dass Natur ökonomisch in Wert gesetzt und in eine handelbare Ware transformiert werden kann. Bereits mit der Benennung von Natur oder von Menschen als Natur- oder Humanressourcen beginnt der Prozess der Abstraktion und Ausbeutung (BAURIEDL 2007: 109; LINTON 2006). Somit umfasst laut ELMAR ALTVATER der Prozess der Inwertsetzung von Natur ganz unterschiedliche Dimensionen der Abgrenzung, Aneignung und Bewertung. Zum einen muss aus dem Zusammenhang der Natur ein bestimmter Stoff identifiziert, gedanklich
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
isoliert und auf einen bestimmten Nutzen hin identifiziert werden. Daran anschließend muss dieser Stoff physisch abgegrenzt und gewonnen werden, was oftmals mit der Zerstörung oder zumindest der Umstrukturierung der sozionatürlichen Umgebung einher geht. Darüber hinaus stellen die Kommodifizierung und Monetarisierung wichtige Schritte der Umwandlung von materiellen Ausschnitten von Natur in handelbare, mit Wert versehene Waren dar. Somit stellt die Inwertsetzung von Natur eines der zentralen Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise dar, wobei nicht nur ein bestimmter materieller Ausschnitt der Natur, sondern immer auch bestimmte soziale Verhältnisse in Wert gesetzt werden (ALTVATER 1991; KÖHLER 2005: 24–25). Wenn Natur zur Ressource wird, dann verliert sie laut VANDANA SHIVA ihre schöpferische Kraft, „sie erscheint als ein Reservoir von Rohmaterial, das nur dazu da ist, in Produktionsfaktoren der industriellen Gütererzeugung verwandelt zu werden. Ressourcen sind damit nichts weiter als ‚wirtschaftlich nutzbares Material oder nutzbare natürliche Gegebenheiten‘“ (SHIVA 1993: 322).
Dabei wird Natur auf ihre produktive Dimension beschränkt und erscheint, wenn sie nicht als (knappe) Ressource innerhalb des Prozesses der Warenproduktion ver‚wertet‘ werden kann, wertlos (ebd.: 340 f.). 4.3.2 Ressourcenmanagement Dem Narrativ der Ressourcenknappheit tritt spätestens seit den 1980er Jahren im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte das Narrativ des Ressourcenmanagements gegenüber. ‚Managing Planet Earth‘ betitelte die bekannte populärwissenschaftliche Zeitschrift Scientific American ihre Sonderausgabe im September 1989 und brachte damit das neue Bewusstsein im Umgang mit Umweltproblemen auf den Punkt (ESCOBAR 1996: 328). Dabei werden Umweltprobleme mit technologischen und ökonomischen Begrifflichkeiten und Ausdrücken aus dem Managementbereich neu gerahmt und Fragen nach der politischen Gestaltung des Umgangs mit Natur, nach Zugangsrechten oder Umweltgerechtigkeit in betriebswirtschaftliche und technische Fragen übersetzt (BLÜHDORN & WELSH 2008: 10; LINTON 2006). Die Verbindung des Nachhaltigkeitsansatzes mit dem Managementverständnis mündet in dem Versprechen, Wirtschaftswachstum und Umweltschutz miteinander zu versöhnen, ohne jedoch an den vorherrschenden Produktions- und Konsumweisen signifikant etwas verändern und den ‚Pfad der Modernisierung‘ verlassen zu müssen (ESCOBAR 1996: 328; FORSYTH 2008: 118). Mit dem Credo „was gut ist für die Natur, ist auch gut für die Profite“ (SMITH 2008: 875) sollen der Antagonismus zwischen Wirtschaftswachstum und Naturschutz aufgehoben und gleichzeitig neue Bereiche der Inwertsetzung für das Kapital (CO2-Emmissionsreduktionszertifikate, Kommodifizierung des Wassers) erschlossen werden. Geradezu programmatisch klingt dabei der Titel eines Artikels, der im Juni 1995 im an-
4.3 Die Produktion von Natur als Ressource
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gesehenen Wirtschaftsmagazin The Economist erschien: „How to make lots of money and save the planet too“ (HARVEY 2007: 381). Innerhalb eines solchen Verständnisses der Mensch-Natur Beziehungen werden ökologische Belange zu einer Frage des richtigen und effizienten Managements von Natur. Umweltkrisen gelten als Störfall oder Defekt, die es fallweise zu beheben gilt (ebd.: 373 f.). Es geht um das Management der Folgewirkungen von Entscheidungen und nicht um eine grundlegende Infragestellung der Entscheidungen selbst: „Die Einführung der Bewässerungslandwirtschaft zur Produktion von Cash-Crops für den Weltmarkt ist aus einer Management-Perspektive kein Thema. Das Ressourcenmanagement setzt erst an, nachdem der Staudamm längst steht“ (BAUHARDT 2009: 403 f.).
Umweltmanagement dient somit zur Abfederung ökologischer Folgen der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur und wird, insbesondere im Vorfeld der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (Rio+20), unter dem Stichwort der Green Economy (früher eher Green New Deal) oder des Grünen Kapitalismus als Modell für eine ökologische Modernisierung weltweit verhandelt. Tab. 1: Neoliberale Reformen und Alternativen der globalisierungskritischen Bewegung.
Mit dem Managementkonzept ist auch eine Umwandlung der staatlichen Entscheidungsstrukturen hin zu einem New Public Management bzw. einer Umweltgovernance verbunden. Dabei sollen die staatszentrierten Regulationsweisen des
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Regierens (government) in integrierte Steuerungsformen (governance) transformiert und die unterschiedlichen Stakeholder (Staat, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft) und formellen und informellen Kooperationsformen eingebunden werden. Damit einher geht eine institutionelle Umstrukturierung staatlicher Organisationsstrukturen, das Outsourcing administrativer Aufgaben, die Privatisierung von Ressourcenmanagement-Institutionen und die Einführung von marktbasierten Steuerungsmechanismen, insbesondere von Preismechanismen zur Ressourcenverteilung und eine zunehmende Kommodifizierung der Natur (s. Tab. 1) (BAKKER & BRIDGE 2008: 223 f; BAKKER 2011: 359; BRAND 2008: 860 f.). Die Kritik an dem Managementmodell zielt in erster Linie auf die Aufrechterhaltung und Stabilisierung eines als ungerecht und zerstörerisch bewerteten Gesellschaftssystems. Die Reduktion von Fragen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf Fragen des Managements von Ressourcen und Umweltkonflikten blendet letztendlich die elementaren Widersprüche kapitalistischer Kapitalakkumulation weitestgehend aus. Dadurch dass die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die Eigentumsstrukturen und Zugangsrechte, die zunehmende Inwertsetzung von Natur und die imperiale Lebensweise des Globalen Südens (BRAND & WISSEN 2012: 133 f.) nicht in Frage gestellt werden, wird ein auf Naturzerstörung ausgerichtetes Entwicklungssystem aufrechterhalten (BRAND 2009: 477). Solange Umweltschutz über ein verbessertes Management und eine Effizienzsteigerung erreicht werden kann, erscheint eine radikale Änderung der bestehenden Verhältnisse nicht erforderlich: „Dass zur Bearbeitung von Problemen evtl. eine Änderung der strukturellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erforderlich sein könnte, kommt beim ‚Managen globaler Umweltprobleme‘ erst gar nicht in den Horizont der Reflexion. Damit wird aber der Gestaltungsspielraum künstlich eingeengt und eine Anerkennung vermeintlicher Sachzwänge vorgenommen, durch die Sachzwänge erst zu solchen werden“ (GÖRG 2003b: 217).
4.4 WASSER ALS VERMITTELNDES ELEMENT GESELLSCHAFTLICHER NATURVERHÄLTNISSE Der Ansatz der gesellschaftlichen Naturverhältnisse soll in dieser Arbeit insbesondere am Beispiel des Wassers angewandt werden. Dabei kann Wasser als „vermittelndes Element innerhalb der gesellschaftlichen Naturverhältnisse“ (BAUHARDT 2009: 396) angesehen werden, da es auf allen Ebenen „‚unersetzbar‘ an allen maßgeblichen biophysischen Prozessen auf dem Planeten beteiligt ist“ (KÖHLER 2008c: 16) und darüber hinaus sowohl eine ökonomische, geopolitische als auch symbolisch-mythische und religiöse Bedeutung besitzt. Auch die geforderte Aufhebung der Dichotomie zwischen Mensch und Natur lässt sich besonders gut am Beispiel des Wassers nachvollziehen. Bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mensch und Wasser wird offensichtlich, dass eine dichotome Gegenüberstellung eines objektiven Naturstoffes und eines souveränen Subjektes nicht aufrechterhalten werden kann. Vielmehr deutet die „unaufhebbare Angewiesenheit des Menschen auf Wasser“ (BÖHME 1988: 11) das Ver-
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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mittlungsverhältnis zwischen Mensch und Natur an. Der Mensch tritt dem Wasser nicht als unabhängiges Subjekt gegenüber, da sein Körper selbst zu einem Großteil aus Wasser besteht und alle menschlichen Sinnesorgane (Auge, Nase, Ohr, Mund, Haut, Gleichgewicht) „aufs heftigste oder zarteste“ (ebd. S. 19) mit Wasser verbunden sind. Der Wasserkreislauf kann somit nicht als eine abgeschlossene Zirkulation des Elements Wasser in der physischen Welt verstanden, sondern muss als hydrosozialer Kreislauf begriffen werden (BAKKER 2002: 774), in den menschliche Bedürfnisse, gesellschaftliche Nutzungen und materielle Infrastrukturen eingebunden sind. Das Wasser vermittelt zwischen den Entitäten, „weil das Wasser keine Grenzen kennt; weil es sich nicht nur in einem komplexen natürlichen Weltkreislauf bewegt, sondern in jedem Augenblick auch die Körper aller Menschen und Lebewesen sowie die Körper der Gesellschaften, der Häuser und Fabriken, der Städte und Dörfer durchströmt und weil dieser anthropogene Kreislauf in den natürlichen Kreislauf des Wassers unvermeidlich eingeschlossen ist und ihn zugleich verändert“ (BÖHME 1988: 9).
Diesen hydrosozialen Kreisläufen kann sich der Mensch nicht entziehen. Seine wasserbezogenen Praktiken betreffen immer gleichzeitig auch ihn selbst und seine Körperlichkeit, so dass „der Mensch als in Natur Handelnder immer zugleich Natur Seiender ist“ (ebd.: 17). Ganz im Sinne von THEODOR W. ADORNO und MAX HORKHEIMER bedeutet die Zerstörung der Natur somit immer auch die Zerstörung der eigenen Existenz. Oder, wie es ein Vertreter der Truká, einer indigenen Gemeinschaft, die heutzutage vor allem am Ufer des Rio São Francisco lebt, ausdrückte: „Nos alimentamos a partir do rio, é a nossa vida, a terra é o nosso corpo. As matas e o céu são os nossos pensamentos e o rio é o nosso sangue. E uma parte não vive sem a outra – se ele morre todos nos morremos 4“ (Interview Feb. 2008).
Der Kampf der indigenen Völker im Tal des Rio São Francisco gegen die Umweltzerstörung, insbesondere die Zerstörung des Flusses, stellt für sie somit gleichsam ein Kampf um die eigene Existenz dar. Das Wasser berührt alle Sphären des sozialen und physischen Lebens. Durch das Wasser verbinden sich die stofflich-materiellen und symbolischen Dimensionen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Ob Wasser als Ressource für die Landwirtschaft oder als reinigende Substanz, als verkehrstechnisches Hindernis oder als eines der vier Elemente, als standardisiertes Trinkwasser oder als Quelle des Lebens betrachtet wird – Wasser erhält seine gesellschaftliche Bedeutung immer erst über die Beziehung zu anderen Dingen, Symboliken und Prozessen (LINTON 2006). Wasser wird sozial produziert, gleichzeitig konstituieren sich im Verhältnis mit Wasser Gesellschaften, Religionen und Kulturen.
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„Wir ernähren uns vom Fluss, er ist unser Leben; die Erde ist unser Körper. Die Wälder und der Himmel sind unsere Gedanken und der Fluss ist unser Blut. Und ein Teil lebt nicht ohne den anderen – wenn er stirbt, werden wir alle sterben“ (Interview mit einem Vertreter der Truká; eigene Übersetzung).
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
4.4.1 Symbolische Produktion des Wassers Ein Blick auf den Symbol- und Zeichengebrauch des Wasser eröffnet eine unermessliche Vielfalt an Bedeutungen und Praktiken, die allesamt das Wasser in einer ganz bestimmten Art und Weise herstellen und über die das Wasser in die Vorstellungen und Alltagswelten der Menschen Eingang erhält. Zentralen Stellenwert nimmt das Wasser in mythisch-religiösen Erzählungen (Schöpfungsmythologien 5) und rituellen Praktiken (Initiations- oder Reinigungsrituale) in fast allen Religionen und spirituellen Traditionen ein, wobei es sowohl als Symbol des Lebens, der göttlichen Energie und der Fruchtbarkeit als auch als Symbol des Todes und der Vernichtung (Sintflut) fungiert. So ist Wasser im alten Ägypten sowohl Teil der Unterwelt als auch ein Symbol der Wiederbelebung und der Auferstehung. In Babylonien müssen die Götter in die Unterwelt hinabsteigen, um das Wasser des Lebens zu finden. In der griechischen Mythologie trennt der Fluss Styx die Ober- und die Unterwelt voneinander und stellt somit eine Verbindung zwischen dem Leben und dem Tod her (BARROS 2004: 96–98). Gleichzeitig stellt in vielen Mythologien das Wasser einen Ort der Gefahr, des Abenteuers und des Unbekannten dar. In der Psychologie steht das Wasser als Sinnbild für das Unbewusste und die Tiefen der menschlichen Seele (ebd.: 97).
Abb. 8: Carrancas in der Region des Rio São Francisco.
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Insbesondere in der christlichen Schöpfungsgeschichte wird dem Wasser eine herausragende Stellung zuteil. Im 1. Buch Mose (Genesis) steht Wasser bspw. sinnbildlich für das Urchaos, das immer schon existierte: „Die Erde aber war wüst und leer. Finsternis lag über der Urflut, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern“ (Gen 1,1; vgl. SPRENGER 2004: 20 f.).
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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Auch der Nordosten Brasiliens ist reich an Mythen, Erzählungen, Praktiken und Ausdrucksformen bezüglich des Wassers, über die sich die gesellschaftlichen Naturverhältnisse formieren. Insbesondere in der Region des Rio São Francisco wird Wasser als „verborgener Schatz“ oder als „Wassermutter“ (ebd.: 100) verehrt. Die hölzernen Fratzen (carrancas), die die Boote auf dem Rio São Francisco zieren und sie vor bösen Geistern schützen sollen, rituelle Praktiken und Wasserzeremonien und unzählige Lieder, Sagen und mythische Erzählungen zeugen auch heute noch von der Bedeutung des Wassers in der Region (ebd. S. 100–104). Aufgrund der umfassenden und unüberschaubaren Vielfalt der Symbolkraft des Wassers kommt HARTMUT BÖHME in seiner ‚Kulturgeschichte des Wassers‘ zu dem Schluss: „Es gibt keine Kunst-, Text- oder Stilform, die nicht mit Wasser zu tun haben könnte und tatsächlich hat; es gibt keine geschichtliche Epoche, in der nicht zentrale Texte oder Kunstwerke Wassererscheinungen zum Gegenstand haben; es gab und gibt keine Kultur auf dieser Erde, die in ihren Symbolwelten nicht nachhaltig vom Element des Wassers bestimmt wäre“ (BÖHME 1988: 19).
Exkurs: Umriss einer Kulturgeschichte des Wassers „Ursache für die Unerschöpflichkeit des Wassers als Reservoir kultureller Symbolwelten ist der Reichtum und die Evidenz seiner Erscheinungen. Wasser tritt aus der Erde als Quelle, bewegt sich als Fluß, steht als See, ist in ewiger Ruhe und endloser Bewegtheit das Meer. Es verwandelt sich zu Eis oder zu Dampf; es bewegt sich aufwärts durch Verdunstung und abwärts als Regen, Schnee oder Hagel; es fliegt als Wolke. Es ist der Samen, der die Erde befruchtet. Es spritzt, rauscht, sprüht, gurgelt, gluckert, wirbelt, stürzt, brandet, rollt, rieselt, zischt, wogt, sickert, kräuselt, murmelt, spiegelt, quillt, tröpfelt, brandet... Es ist farblos und kann alle Farben annehmen. Im Durst weckt es das ursprünglichste Verlangen, rinnt erquickend durch die Kehle; es wird probiert, schlückchenweise getrunken, hinuntergestürzt. Es läßt Enge und Weite des Leibes spüren; es weckt beim Schwimmen die Ahnung davon, was Schweben, Gleiten, Schwerelosigkeit sind. Im Wasser wohnt der Embryo. Wasser reinigt Körper und Dinge, ja Seele und Geist. Wassertaufe. Wasser löst auf und verbindet, es grenzt ab und vereinigt. In den Übergängen zwischen Flüssigem und Festem bildet es seltsame Zonen: schleimig, schmierig, quallig, glitschig, schlammig, moorig, matschig – Aggregate, ohne die wir kaum wüßten, was z. B. Ekel ist. Es öffnet Weite im Anblick des Meeres und bildet als Quelle oder Bach die Mitte des locus amoenus. Es ist formlos, paßt sich jeder Form an; es ist weich, aber stärker als Stein. So bildet es selbst Formen: Täler, Küsten, Grotten. Es gestaltet Landschaften und Lebensformen durch extremen Mangel (Wüsten) oder periodischen Überfluß (Regenzeit). Es ängstigt, bedroht, verletzt und zerstört den Menschen und seine Einrichtungen durch Überschwemmungen, Sturmfluten, Hagelschlag. Symbolische Wasser-Katastrophen lagern tief
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
im kollektiven Gedächtnis: Sintflut, Atlantis, Titanic. So enthält das Wasser den Tod und gebiert alles Leben. Der »Urgrund« ist das Wasser, erklärt Thales vor 2500 Jahren; »Wasser ist Leben«, sagen die Ökologen heute. Wasser ist Krankheit (z. B. Wassersucht) und Wasser heilt: Hydrotherapie, Brunnenkuren. Das weiß man seit Hippokrates. Seit den Flußkulturen Mesopotamiens, Ägyptens oder Chinas fordert das Wasser den menschlichen Erfindungsgeist heraus: Flußregulierung, Dammbau, Bewässerungsanlagen, Kanalisation, Schiffsbau, Navigation, Fischereitechnik. Im Kampf mit dem Wasser bilden sich die heroischen Innovationen der Kultur: Tiphys, der mythische Erfinder des Schiffs; Odysseus, der Heros, der den Übergang einer binnenländischen zu einer thalassalen Kultur markiert; Kolumbus, mit dem die ozeanische Stufe der Geschichte anhebt. Das Wasser als Verkehrsweg, als natürliche Straße des Handels: vom Flußhandel zum Überseeund Welthandel. Das Wasser als Medium der Macht: Seemilitär, Flottenpolitik, Seekriege, Salamis, Trafalgar, Skagerrak. Das kolonialistische Zeitalter: Wasserpolitik, Beherrschung der Ferne jenseits des Meeres. Das Wasser als Bollwerk gegen Feinde oder als strategische Basis der Macht: Venedig im 13.–16. Jahrhundert, England im 17.–19. Jahrhundert, USA im 20. Jahrhundert. Jeweils ist die Macht die führende, die hinsichtlich des Wassers die avanciertesten Strategien realisiert. Unterwasser: Reich der Tiefe, des Geheimnisses, des Abgrunds. Von der Mythologie des Tauchers bis zur Realisierung von ‚20000 Meilen unter dem Meer‘ (J. Verne): Atom-U-Boote, Strömungsphysik: Optimierung der Kriegsschiffe. Überwachtes Wasser: Luftaufklärung, Satelliten, Echolot, Mikrowellensensoren, Hydrophone, Erfassung sämtlicher ziviler und militärischer Schiffsbewegungen auf allen Meeren dieser Erde. Das Wasser und seine Schätze: die eingefrorenen Süßwasserreservoirs der Antarktis; die Nahrungsressourcen; die ungeheuren unterseeischen Rohstoffreserven: Edelmetalle, Mangan, Öl, Minerale. Das Wasser und das Recht: Wassernutzungsordnungen in antiken Städten; Fischereirecht im Mittelalter; das Recht der freien Meere seit Hugo Grotius im 17. Jahrhundert; die binnenstaatliche und internationale Verrechtlichung des gesamten Wassers dieser Erde heute. Dagegen die Seeräuber, Meerschäumer, Korsaren, Kaperfahrer, Flibustiers, merchant-adventurers. Die Kämpfer im ewigen Eis um die Pole. Wal-Fänger. Sie alle haben ihre eigenen Heroen hervorgebracht, die in mythischen und literarischen Erinnerungen der Völker überleben. Das Wasser und das Göttliche: Urstoff der Schöpfung; Chaos, von Gott besiegt. Die Götter und Göttinnen der Meere und Flüsse; die Quellnymphen, Nixen, Sirenen, Melusinen, Undinen. Auch sie unvergeßlich. Rhein-Romantik: Loreley. Wasser und Weiblichkeit. (Zieht ‚das Ewig-Weibliche uns hinan‘ oder nicht vielmehr hinab, in den Strudel, den Abgrund, die Tiefe, den Tod im Wasser?) Eros des Wassers. Das Wasser, das Unbewußte und die Träume. ‚Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser‘ (Goethe). Das Wasser und die Zeit: Du steigst nicht zweimal in denselben Fluß, sagt Heraklit. Die Künste: Wasser und Gartenkunst; Wasser in der Landschaftsmalerei; Wasser-Lyrik.“ (Quelle: BÖHME 1988: 12–15) Textbox 3: Umriss einer Kulturgeschichte des Wassers.
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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4.4.2 Zu bewässern bedeutet zu herrschen 6: Wasser als Herrschaftsverhältnis Die Vermittlung von Herrschaftsverhältnissen über spezifische Naturverhältnisse stellt einen zentralen Gedanken des Konzeptes der gesellschaftlichen Naturverhältnisse dar. Am Beispiel des Wassers kann aufgezeigt werden, wie – besonders in ariden und semiariden Regionen – über die Kontrolle des Zugangs und der Verteilung von Wasser Herrschaft ausgeübt wird. Darüber hinaus schreiben sich insbesondere über zentral geplante, großflächige Wasserinfrastrukturen wie große Staudämme, Bewässerungskanäle und -projekte Herrschaftsstrukturen in die Natur ein und verfestigen diese. Dadurch werden bestimmte Praktiken und Nutzungen ermöglicht (Cash-Crop Produktion für den Export), andere hingegen eingeschränkt oder verdrängt (Subsistenzproduktion). Gleichzeitig entstehen dadurch neue Subjektpositionen und eine Neukonfiguration der Subjektkonstellationen. Die wohl bekannteste Studie über den Zusammenhang zwischen Wassermanagementstrukturen und politischem System ist das 1957 erschienene Buch ‚Oriental Despotism‘ (Die orientalische Despotie) von KARL AUGUST WITTFOGEL. Inmitten des Kalten Krieges und mit einer explizit antikommunistischen Stoßrichtung 7 entwickelt WITTFOGEL darin die These, dass die von ihm ausgemachten ‚despotischen Gesellschaften‘ Asiens, inklusive der UdSSR und Chinas, als direktes Ergebnis der natürlichen Bedingungen und der sich daraus entwickelten zentralisierten Bewässerungssysteme anzusehen sind (WITTFOGEL 1977). Laut WITTFOGEL entsteht als „spezifische [...] Reaktion auf die wasserarme Landschaft [...] eine spezifische hydraulische Lebensordnung“ (ebd.: 37), wobei mit dem Ausdruck ‚hydraulisch‘ der „agrarmanageriale und agrarbürokratische Charakter all dieser Kulturen“ (ebd. S. 25) bezeichnet werden soll. Ihre Macht beziehen die despotischen Gesellschaften dabei in erster Linie aus der Kontrolle der Produktionsfaktoren, insbesondere der Wasserressourcen und der Bewässerungssysteme. Die ‚hydraulischen Agrarkulturen‘ bedingen dabei eine bestimmte Form der Arbeitsteilung, zentrale und effiziente Organisationsstrukturen und Formen der Überwachung und Kontrolle, die bis hin zur Ausübung von Zwang, totaler Unterwerfung und Terror reichen. Dabei bildet sich eine strikt hierarchisch organisierte Gesellschaftsordnung heraus, an deren Spitze große Baumeister und industrielle Großunternehmer stehen, die von einer administrativen Elite aus Bürokraten und Wissenschaftlern geleitet und mit Hilfe von Staatsbeamten und der Armee durchgesetzt wird. Die spezifischen gesellschaftlichen Naturverhältnisse hydraulischer Gesellschaften bedingen somit bestimmte Prakti6 7
Joaquín Costa (vgl. Swyngedouw 2008: 31). Nachdem WITTFOGEL als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und Mitarbeiter des Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main von den Nazis verhaftet und in ein Konzentrationslager deportiert wurde, konnte er nach internationalen Protesten 1934 nach New York emigrieren. Aus Enttäuschung über den Hitler-Stalin-Pakt wandelte er sich zu einem überzeugten Antikommunisten und schreckte nicht davor zurück, bekannte Persönlichkeiten und Kollegen, wie etwa den Asienforscher OWEN LATTIMORE, als Kommunisten zu denunzieren und dadurch deren Karriere zu zerstören. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung seines berühmten Werkes ‚Die orientalische Despotie‘ (vgl. ROBBINS 2008: 49).
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
ken der Verwaltung, der Organisation der Eigentumsverhältnisse und Stratifizierung der Gesellschaft. Innerhalb einer solch hierarchisch organisierten Klassengesellschaft werden bestimmte Subjektpositionen ermöglicht, die in Bezug auf die Ressource Wasser Herrschaft ausüben (ebd.; vgl. ROBBINS 2008: 47–50; PEET 1985; SWYNGEDOUW 2008: 29 f.; STRAUß 2006: 13 f.). Auch wenn WITTFOGEL zu bedenken gibt, dass „zu wenig oder zu viel Wasser [...] nicht notwendigerweise zu staatlicher Wasserregulierung [...] und staatliche Wasserregulierung [...] nicht notwendigerweise zu despotischen Herrschaftsformen [führt]“ (WITTFOGEL 1977: 36 f.),
sieht er doch verallgemeinerbare Tendenzen hydraulischer Gesellschaften, die zu einem „System der bürokratischen Staatssklaverei“ (ebd.: 551) führen und eine Bedrohung für den Westen darstellen. Eine solch reduktionistische und eurozentristische Sichtweise hält weder einer empirischen Überprüfung stand, noch kann sie die Unterschiede zwischen den ausdifferenzierten asiatischen Gesellschaften, deren Grundlage die Bewässerungslandwirtschaft darstellt, erklären (PEET 1985: 11; ROBBINS 2008: 48). Dennoch sind in der Auseinandersetzung mit den Überlegungen WITTFOGELS zahlreiche Studien über den Zusammenhang zwischen Naturverhältnissen, gesellschaftlicher Arbeitsteilung, (staatlicher) Regulationsweise und der Stabilisierung und Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen entstanden, die insbesondere in Bezug auf den Wassersektor von Bedeutung sind (vgl. SWYNGEDOUW 2008: 31). Gleichzeitig zeigt die tragische Biographie WITTFOGELS deutlich auf, dass Wissenschaft und die Produktion von Wissen nie als apolitisches Projekt angesehen werden kann, sondern immer als Produkt wirkmächtiger Ideologien und Episteme verstanden werden muss (ROBBINS 2008: 49) (s, Kap. 2.3). 4.4.3 Wasser Macht Geschlecht Herrschaftsverhältnisse und Subjektpositionen konstituieren und verfestigen sich demnach in den Praktiken des Umgangs mit Natur, respektive Wasser. Auch Geschlechterverhältnisse sind in Wasserpraktiken eingeschrieben. Gerade in Berichten internationaler Organisationen 8 über die globale Wasserkrise wird hervorgehoben, dass in ariden und semiariden ländlichen Regionen oftmals vor allem Frauen und Mädchen für die Wasserversorgung der Familien verantwortlich sind. Aufgrund großer Entfernungen zu den Quellen und Wasserspeichern müssen Frauen und Mädchen oft mehrere Stunden in der Woche für die Wasserbeschaffung aufbringen, was sowohl eine schwere körperliche als auch zeitliche Belas8
Hierbei sollen die Aussagen von Berichten internationaler Organisationen herangezogen werden, um den gegenseitigen Herstellungsprozess zwischen Geschlechterverhältnissen und Wasserpraktiken zu beleuchten. Wie über solche Berichte und insbesondere über die einseitige Fokussierung auf subalterne Positionen von Frauen in Ländern des Südens ebenfalls Geschlechterverhältnisse (re)produziert werden, sollte dabei zwar mitberücksichtigt, kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt werden.
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
117
tung darstellt. So führt der Welt-Frauenbericht der Vereinten Nationen eine Statistik an, nach der in 63 Prozent aller Haushalte in den ländlichen Regionen Afrikas südlich der Sahara Frauen für die Wasserbeschaffung verantwortlich sind, während in nur elf Prozent der Haushalte ein Mann die Hauptverantwortung übernimmt (UN 2010: 143). In der gleichen Region übernehmen in sieben Prozent der Haushalte Mädchen und in drei Prozent der Haushalte Jungen unter 15 Jahre die Aufgabe der Wasserbeschaffung. Die Zahl der Haushalte, in denen Kinder auf die eine oder andere Art und Weise mit der Wasserversorgung beauftragt sind, ist jedoch deutlich höher als es diese Zahlen suggerieren, da in der Statistik nur diejenigen Haushalte erfasst sind, in denen Mädchen oder Jungen die Hauptverantwortung der Wasserversorgung tragen (ebd.) (s. Abb. 9).
Abb. 9: Verantwortliche Personen für die Wasserversorgung pro Haushalt und Region (2005–2007).
Die Aufgabe des Wasserholens stellt einen der Gründe für die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit des Schulbesuchs dar. In Tansania sind die Fehlzeiten in der Schule bei denjenigen Mädchen, bei denen die Wasserquelle mehr als 15 Minuten von ihrem zu Hause entfernt liegt, um 12 Prozent höher als bei den anderen Mädchen. Die Schulbesuchsraten von Jungen sind hingegen wesentlich weniger von der Entfernung der Wasserquelle abhängig (UNDP 2006: 47). Unangemessene oder nicht geschlechtsspezifisch getrennte sanitäre Einrichtungen stellen zugleich einen Grund dar, warum Mädchen während der Menstruation nicht in die Schule gehen oder von ihren Eltern nicht in die Schule geschickt werden (UNESCO 2006: 230). Somit werden auch über Wasserpraktiken Unterschiede zwischen den Geschlechtern produziert und in die Zukunft fortgeschrieben. Auch in Bezug auf Bewässerungsprojekte wirken gesellschaftlich tradierte Geschlechterverhältnisse und werden gleichzeitig über sie stabilisiert. Gesellschaftliche Praktiken, die Männer als Eigentümer, Haushaltsvorstand oder Entscheidungsträger festschreiben, führen zu einer Marginalisierung der Sichtweise
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
und Bedürfnisse von Frauen (WSP 2010: 9). Gerade innerhalb von Bewässerungsprojekten ist die Verteilung von Wasser oftmals vom Zugang zu Land abhängig. Da formelle Landtitel jedoch oftmals entlang von Geschlechterrollen vergeben werden, wird der Zugang zu Wasser und die Teilnahme an Wassernutzer_innen Komitees geschlechtsspezifisch geregelt (WAHAJ & HARTL 2007: 7 f.; WORLD BANK et al. 2010: 230). Aufgrund von gesellschaftlichen Positionen, geschlechtlicher Arbeitsteilung und geschlechtsbasierter Gewalt entstehen unterschiedliche Prioritätensetzungen hinsichtlich der Nutzungsart (Wasser für CashCrops oder Viehzucht vs. Wasser für den Eigenbedarf und Hausgebrauch), hinsichtlich architektonischer Arrangements (Orte gemeinschaftlicher Wassernutzung, Schutz der Intimsphäre) oder hinsichtlich der Bewässerungszeiten (Ablehnung von nächtlicher Bewässerung) innerhalb von Bewässerungsprojekten. Die Unterrepräsentation von Frauen in den Wasserkomitees, ein geschlechtlich selektiver Informationsaustausch oder auch ein dominantes männliches Verhalten führen jedoch zu einer Marginalisierung spezifisch weiblicher Sichtweisen und Bedürfnisse. So hat eine Studie über ein Wasserkomitee in Peru, bei dem die Hälfte der Mitglieder Frauen sind, eine durchschnittliche Redezeit der Frauen von 3,5 Minuten erhoben, während die Männer im Schnitt 28 Minuten redeten (WAHAJ & HARTL 2007: 16). Gleichzeitig wird die Tätigkeit des Bewässerns oftmals mit physischer Stärke und technischem Geschick assoziiert und dadurch als spezifisch männliche Praxis wahrgenommen. Wenn jedoch nur Männer für die Bedienung und Wartung der technischen Geräte – wie beispielsweise der Wasserpumpen – geschult werden und ihnen die Aufgabe der Bewässerung zufällt, werden weitere Abhängigkeiten zwischen den Geschlechterpositionen erzeugt und Geschlechterdichotomien verstärkt. (ebd.: 12; BAUHARDT 2009: 401). Vermittelt über Naturverhältnisse und eingebunden in Machtstrukturen werden Geschlechterverhältnisse aufrechterhalten und reproduziert. Wenn das Wasserholen zu einer typisch weiblichen Praxis wird, dann wird die gesellschaftliche Geschlechterrolle u. a. auch über das Wasserholen wahrgenommen und gelebt. Wasserholen wird zu einer weiblichen Tätigkeit, über die Identität hergestellt wird. Wer Wasser holt ist weiblich. Die Quelle wird zu einem Ort ‚weiblicher Begegnung‘ zu einem Schutz- und Kommunikationsraum. Gleichzeitig schränkt eine einseitige Aufgabenverteilung aber auch die Teilnahme an anderen Tätigkeiten ein, sei es der Schulbesuch von Mädchen, die Erwerbsarbeit oder das Auftreten in öffentlichen Entscheidungsgremien. Wasserholen wird zur Hausarbeit, die der Privatsphäre zugerechnet wird. Wenn Bewässern als typisch männliche Praxis angesehen wird, wenn über Bewässerungspraktiken Produktions- und Lebensweisen bestimmt werden, kann über die Praxis des Bewässerns Männlichkeit als machtvolle Geschlechterrolle inszeniert werden. Ob wasserspezifische Praktiken somit als Privileg, als machtwirksame Tätigkeit oder als Teil von Marginalisierungsprozessen wahrgenommen werden, ist somit nicht evident, sondern immer abhängig von Bedeutungszuschreibungen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
119
4.4.4 Wasser als knappe Ressource Im Zuge des Diskurses einer globalen Wasserkrise (s. Kap. 2.1.2) und eingebettet in eine sich weltweit durchsetzende Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung hielt auch im Wassersektor das Modell des Ressourcenmanagements Einzug. Um jedoch Wasser überhaupt ‚managen‘ zu können, musste es zunächst als abgrenzbarer Ausschnitt der Natur definiert und gleichzeitig als knapp beschrieben werden. Ein wichtiger Meilenstein bei der Etablierung eines globalen Wasserressourcen-Managements (Integrated Water Resources Management, IWRM) war die Konferenz zu Wasser und Umwelt, die im Vorfeld zum Rio-Gipfel im Januar 1992 in Dublin stattfand. Auf der Konferenz wurden vier Prinzipien verabschiedet, die bis heute für den Wassersektor richtungsweisend sind: Prinzip 1: Trinkwasser ist ein endliches und anfälliges Gut, das zur Aufrechterhaltung von Leben, Entwicklung und Umwelt unverzichtbar ist. Prinzip 2: Wassererschließung und Wassermanagement müssen von einem partizipatorischen Ansatz ausgehen, der alle Verbraucher, Planer und Entscheidungsträger auf allen Ebenen einschließt. Prinzip 3: Frauen spielen eine entscheidende Rolle bei der Beschaffung, der Bewirtschaftung und dem Schutz von Wasser. Prinzip 4: Bei allen seinen konkurrierenden Nutzungsformen hat Wasser einen wirtschaftlichen Wert und sollte als wirtschaftliches Gut betrachtet werden (Laskowski 2010: 67). Durch die Festschreibung des Wassers als endliches Gut wird auf eine absolute, physische Knappheit verwiesen. Dabei finden Überlegungen zur gesellschaftlichen Herstellung von Knappheit über Zugangsrechte und Verteilungsmechanismen und die darin eingeschriebenen sozialen (Macht)Beziehungen und politischen Implikationen keine Beachtung. Das Wasserthema wird zu einem reinen Versorgungsthema, das technisch gelöst und über institutionelle Arrangements gemanagt werden muss. Durch die Darstellung der Wasserknappheit als natürliches und somit unabänderliches Phänomen entsteht die Bereitschaft einer breiten Öffentlichkeit, „den Markt als den besten, wenn nicht einzig möglichen Mechanismus der Zuteilung zu akzeptieren“ (SWYNGEDOUW 2008: 35). Die diskursive Inwertsetzung des Wassers als knappes Gut ermöglicht somit die Einführung von Preismechanismen und Eigentumsrechten zur effizienten Verwaltung der Knappheit und leistet einer Kommodifizierung und Privatisierung des Wassers Vorschub. Denn „eine Marktwirtschaft braucht natürlich ‚Knappheit‘, um zu funktionieren“ (ebd.; METHA 2011: 372 f.; BUDDS 2008: 63 f.; KÖHLER 2008c: 20). Wird Wasser zu einem knappen Gut, so bietet es beste Voraussetzungen für hohe Investitionsrenditen und beste Ertragserwartungen. So wirbt beispielsweise der Investmentfonds DWS der Deutschen Bank damit:
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse „Wasser, das blaue Gold, wird knapp. – Wasser ist schon heute ein knappes Gut und angesichts des Bevölkerungswachstums in den Entwicklungs- und Schwellenländern dürfte sich die Situation dramatisch verschärfen. Knappheit ist per se Voraussetzung für gute Erträge“ (DWS in LOEWE 2007: 20).
Neben der Einführung von partizipativen Ansätzen des Wassermanagements und der Erwähnung der besonderen Rolle von Frauen im Umgang mit Wasser wird in den Dublin-Prinzipien Wasser ‚offiziell‘ zum Wirtschafts- und Handelsgut erklärt. Durch die Betonung der Wirtschaftlichkeit wird nun auch das Wasser dem „gospel of efficiency“ (LINTON 2006) unterworfen. Über die Einführung von kostendeckenden, marktregulierenden Wasserpreisen soll eine effiziente, sparsame und gerechte Wassernutzung erreicht werden (ebd.). Effizienz und Gewinn sollen somit anhand von Marktmechanismen darüber entscheiden, wer das Wasser wie nutzen kann. Damit einher geht die Abkehr von der Vorstellung des Wassers als öffentliches und freies Gut und die Umwandlung der Versorgungspflicht des Staates hin zu einer nachfrageorientierten Versorgungsstrategie (LASKOWSKI 2010: 68; REKACEWICZ 2005; KREUTZMANN 2006: 4). Die Dublin-Prinzipien galten als Vorlage für die Agenda 21, die auf der UNKonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Juni 1992 verabschiedet wurde. Dabei wird zwar die Bedeutung des Wassers als wirtschaftliches Gut festgeschrieben, gleichzeitig aber auch ein holistischer Ansatz verfolgt und die Priorität der menschlichen Bedürfnisbefriedigung betont. In Kapitel 18.8 heißt es: „Bei der integrierten Bewirtschaftung der Wasserressourcen wird von der Annahme ausgegangen, dass Wasser ein integraler Bestandteil des Ökosystems, eine natürliche Ressource und ein soziales und wirtschaftliches Gut ist, wobei Menge und Güte die Art der Nutzung bestimmen. [...] Bei der Erschließung und Nutzung der Wasserressourcen muss der Deckung der Grundbedürfnisse und dem Schutz der Ökosysteme Vorrang eingeräumt werden. Abgesehen davon soll der Wassernutzer jedoch in angemessenem Umfang für das von ihm verbrauchte Wasser bezahlen“ (UN 1992).
Im Laufe der 1990er Jahre kommt es jedoch zu einer Verschiebung des hegemonialen Wasserdiskurses. Der Schauplatz der politischen Wasserdiskussionen verlagert sich weg vom UN-System und hin zu internationalen Konferenzen, wie dem seit 1997 in einem Dreijahresrhythmus stattfindenden World Water Forum, das von den großen Entwicklungs- und Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank, Regionale Entwicklungsbanken) und privatwirtschaftlichen Wasserkonzernen 9 dominiert wird (HOERING 2003: 33) (s. Tab. 2). Gleichzeitig wird Wasser zu einem der umstrittensten Verhandlungsthemen in internationalen Handelsabkommen, insbesondere dem Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Tra-
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Der internationale Wassermarkt wird von einigen wenigen, meist europäischen Unternehmen dominiert. Marktführer sind die französischen Unternehmen Suez, Veolia Water und SAUR, neben den großen, international operierende Konzerne sind Thames Water, United Utilities und Bechtel DECKWIRTH (2004: 6). RWE hat sich hingegen nach dem Verkauf von Thames Water (2006) wieder aus dem Wassergeschäft zurückgezogen.
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
121
de in Services), wobei vor allem die Privatisierung der Wasserversorgung 10 und der Zugang zu den Wassermärkten der Länder des Südens für internationale Konzerne umstritten sind (METHA & LA MADSON 2005). Tab. 2: Wichtige internationale Wasserkonferenzen – Etappen zur Etablierung eines globalen IWRM.
10 Nach dem Privatisierungsboom ab Mitte der 1990er Jahre liegt mittlerweile der Anteil des Privatsektors an der Wasserver- und -entsorgung in den Ländern des Globalen Nordens bei durchschnittlich 80%, in den Ländern des Globalen Südens bei durchschnittlich 35% (Lateinamerika: 41%) (UNESCO 2006: 419).
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4. Gesellschaftliche Naturverhältnisse
4.4.5 Integriertes Wasserressourcen-Management Aufbauend auf dem 1993 von der Weltbank herausgegebenen Water Resources Management Policy Paper wird das Konzept des Integrierten WasserressourcenManagement, insbesondere von internationalen Organisationen des Wassersektors wie dem Netzwerk Global Water Partnership (GWP) und dem Think Tank World Water Council (WWC), als „the only viable way [...] for sustainable water use and management“ weltweit verbreitet (ROGERS & HALL 2003: 30). Dabei wird das IWRM als Prozess definiert, „which promotes the coordinated development and management of water, land and related resources, in order to maximise the resultant economic and social welfare in an equitable manner without compromising the sustainability of vital eco-systems“ (GWP 2000: 15).
Hierbei scheint das Versprechen der Nachhaltigkeit wieder auf, wobei sowohl die wirtschaftlichen Gewinne als auch die soziale Wohlfahrt maximiert werden können, ohne dabei die lebenswichtigen Ökosysteme zu zerstören. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Bezeichnung des Wassermanagements als ‚integriert‘. Darunter werden sowohl eine Fokusverschiebung von sektoralen zu transdisziplinären Ansätzen als auch eine Einbeziehung weiterer Ressourcen (insbesondere Land) verstanden. Darüber hinaus bedeutet ‚integrativ‘ die Beachtung aller Nutzungsformen und Nutzergruppen, insbesondere auch die Interessen der Unteranlieger eines Flusses, die Berücksichtigung nicht nur von quantitativen, sondern auch qualitativen Aspekten des Wassermanagements und eine Herangehensweise, die die verschiedenen Ebenen des Managements, von den lokalen Prozessen bis hin zu internationalen Kooperationsformen mit einbezieht. Wasserpolitik sollte dabei sowohl eine nachfrage- als auch eine angebotsorientierte Strategie verfolgen, d. h. sowohl das Wasserangebot durch die Erweiterung der Wasserinfrastruktur erhöhen als auch über die Förderung von effizienten Nutzungsformen und Sparmaßnahmen die Wassernachfrage verringern (UFZ 2009: 8 f.; WORLD BANK 2004: 12; STRAUß 2006: 22). Die Einführung eines IWRM geht mit der Etablierung neuer Planungs- und Steuerungsinstrumente einher, flankiert mit der Durchführung von rechtlichen Reformen und institutionellen Umstrukturierungen. Als eines der wichtigsten Instrumente wird die Einführung von Marktmechanismen im Wassersektor betrachtet, wobei insbesondere über den Preismechanismus der Wert des Wassers ermittelt und das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage geregelt werden soll. Ein erhöhter Wasserpreis soll demnach Anreize für einen sparsamen Umgang mit der ‚knappen‘ Ressource Wasser schaffen. Können die Wassernutzungsrechte dabei auch frei gehandelt und verkauft werden, soll dies letztendlich zu einer größtmöglichen Effizienz der Wassernutzung führen (BANCO MUNDIAL 2005: 74). Nach dem Vorbild des französischen Wassermanagementsystems wurde das Wassereinzugsgebiet eines Flusses (Sees, Küstenzone) als adäquate Planungsund Bewirtschaftungseinheit für das IWRM festgelegt. Da ein solches Einzugsgebiet normalerweise nicht mit den bestehenden administrativen und politischen Planungseinheiten übereinstimmt, setzt ein solcher Ansatz auf eine radikale Um-
4.4 Wasser als vermittelndes Element gesellschaftlicher Naturverhältnisse
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strukturierung und Neuaufstellung von institutionellen Zuständigkeiten und politischen Entscheidungsstrukturen (PEREIRA 2007: 33; UFZ 2009: 8) (s. Kap. 7.1.2). Wie schon in den Dublin-Prinzipien angelegt, sind die Einbeziehung der unterschiedlichen Stakeholder und die Einführung partizipativer Entscheidungsstrukturen wichtige Elemente des IWRM. Auch hierfür muss in den meisten Fällen der rechtliche, politische und institutionelle Rahmen verändert werden. Die Umsetzung des IWRM ist somit eingebettet in über den Wassersektor hinausgehende politische Reformen, meist verbunden mit einer wirtschaftlichen Liberalisierung, die zu einschneidenden Veränderungen in den einzelnen Ländern führen können (UFZ 2009: 9; WORLD BANK 2004: 3). Solche Umstrukturierungsprozesse stellen erhebliche Herausforderungen für nationale Regierungen und lokale Verwaltungsstrukturen dar. Für die Umsetzung und Finanzierung, insbesondere für den Ausbau und Betrieb der Wasserinfrastruktur setzt die Weltbank auf einen Public-Private-Partnership-Ansatz: „Attracting private investment into low-income countries is particularly important and necessarily a major focus for institutions like the World Bank“ (WORLD BANK 2004: 12).
Gleichzeitig sieht sich die Bank selbst als eine der wenigen Institutionen, die einer so komplexe Aufgabe wie dem IWRM gewachsen ist: „the Bank is perceived as one of the few institutions that can provide integrated support on the macroeconomic, financial, technical, social and environmental dimensions. On the other hand, borrowers find that the Bank is unique in convening power, relations with almost all riparian countries, a combination of knowledge and financial resources, engagement at all scales […] and ability to integrate across these“ (ebd.: 3).
In Brasilien, insbesondere im Bundesstaat Ceará, wird der Ansatz des Integrierten Wasserressourcen-Managements seit Mitte der 1990er Jahre durchgesetzt. Fragen nach den Auswirkungen des Konzeptes auf die lokalen Prozesse, gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnisse und nach den Chancen und Problematiken, die sich daraus ergeben, soll anhand unterschiedlicher Fallbeispiele in der Region Baixo Jaguaribe im Bundesstaat Ceará nachgegangen werden.
TEIL II: DIE GENEALOGIE DER DINGE 5. DIE KONSTITUTION DES NORDOSTENS ALS REGION 1
„O Nordeste é uma história mal contada “ (FELIPE GUERRA in GUERRA 1981: 323). 2
„É o Nordeste uma das regiões geográficas mais discutidas e menos conhecidas do País “ (ANDRADE 2004: 35).
Bisher war scheinbar selbstverständlich immer wieder vom Nordosten Brasiliens als dem Ort, an dem die theoretischen Überlegungen empirisch überprüft und unterfüttert werden sollen, die Rede. Da Brasilien heutzutage offiziell in fünf verschiedene administrative Großregionen, die klar definiert und räumlich scharf abgetrennt werden können, untergliedert wird, schien ein Verweis auf die Region des Nordostens zunächst unproblematisch und verständlich. Wird der Nordosten jedoch unhinterfragt als Analyseeinheit angenommen und weder auf seine Konstruiertheit über soziale Praktiken und Diskurse hin untersucht noch auf die verschiedenen Bedeutungen und Imaginationen, die die Region für unterschiedliche Akteure aufweist, verwiesen, so wird der Nordosten letztendlich als eine außerhalb der gesellschaftlichen Praxis verortete Wirklichkeit festgeschrieben. Die Konzeption des Nordostens als regionale Einheit ist eng mit der Vorstellung von gegebenen natürlichen Bedingungen, die die gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussen, wenn nicht bestimmen, verbunden. Der physische Raum und die natürlichen Bedingungen, wie etwa die Niederschlagsverhältnisse, die Vegetation und die ‚Landschaft‘ werden dabei oftmals ‚an sich‘ betrachtet und als Hintergrund und Vorbedingung für menschliches Handeln untersucht. Eine solche Fetischisierung des Raumes (BELINA 2008: 529) abstrahiert jedoch von den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen räumlicher Strukturen und blendet die Wechselbeziehungen zwischen Materialitäten und sozialen Praktiken tendenziell aus. Dadurch werden gleichzeitig die in den Naturverhältnissen eingeschriebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse stabilisiert und auf Dauer gestellt (WISSEN 2011: 15). Neben der physisch-materiellen Ebene konkreter Räume existieren gleichzeitig vielfältige symbolische Repräsentationen von Räumen. Insbesondere HENRI LEFEBVRE hat bei seiner Konzeption von sozial produzierten Räumen auf solch einen gedanklich-konzeptionellen Raum (le conçu) hingewiesen, der über Bilder und Projektionen, Symbole und Theorien in Wissenschaft, Planungen und Diskur1 2
Der Nordosten ist eine falsch erzählte Geschichte. Der Nordosten ist eine der am meisten diskutierten und am wenigsten gekannten geographischen Regionen des Landes.
5.1 Die Geschichte der Ab- und Eingrenzungen des Nordostens
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sen produziert und reproduziert wird (LEFEBVRE in ANARCHITEKTUR 2002; DEFFNER 2010: 51 f.). Solche Repräsentationen von Räumen stellen eine besonders dominante Ebene des Räumlichen dar, da sie mit Wissen und Bedeutungen aufgeladen sind und in Bildern und Diskursen wirkmächtig werden (RANGAN & KULL 2009: 37). Die vielfältigen Studien über die Dürre im Nordosten und die oft beschriebenen Zusammenhänge zwischen den natürlichen Bedingungen und den sozialen Verhältnissen lassen eine bestimmte Repräsentation des Nordostens entstehen, die in Texten und Filmen, politischen Diskussionen und raumplanerischen Entwürfen aufscheint und über diese hegemonial wird. Insofern spielen die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen (Macht)Verhältnissen, symbolischen Repräsentationen, natürlichen Bedingungen und räumlichen Strukturen bei der Analyse von empirischen Fallbeispielen eine wichtige Rolle. Dabei kristallisieren sich Strukturen nicht einfach heraus. Vielmehr sind sie das Ergebnis vielfältiger Aushandlungsprozesse und sozialer Kämpfe und somit immer auch gestalt- und veränderbar (BÜRK 2006: 44). Es handelt sich dabei demnach um historisch gewordene Beziehungen, die nur temporär gefestigt werden können und somit immer instabil und brüchig bleiben (GLASZE & MATTISSEK 2009: 42). Mit der Betonung der Gegenseitigkeit von Beziehungen räumlicher Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen wird gleichzeitig hervorgehoben, dass räumliche Strukturen nicht nur als Ergebnis sozialer Praktiken, sondern immer auch als Konstitutionsbedingung der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden müssen (HOLM 2004: 34). „Die Konstitution von Räumen ist dabei immer Teil der Konstitution der Gesellschaft“ (GLASZE & MATTISSEK 2009: 42) – und umgekehrt. Demnach kann der Nordosten nicht als eine feststehende räumliche Einheit, die auf einer bestimmten Maßstabsebene angesiedelt ist, verstanden werden. Vielmehr ist er ein historisches Produkt gesellschaftlicher Prozesse, das im Wandel begriffen ist und in dem sich verschiedene Maßstabsebenen überschneiden. In ihm kommen sowohl kleinräumige Prozesse lokaler Bedingungen als auch globale Entwicklungen zum Tragen. Raum muss somit als multiskalar und vielfältig hergestellt konzipiert werden (BAURIEDL 2009: 228). Auch für DOREEN MASSEY ist die Vielfältigkeit ein wesentliches Element von Räumen: „Ich möchte Raum als den Bereich von Vielfältigkeit konzipieren; als den Bereich, in dem verschiedene Erzählungen gleichzeitig existieren; als den Bereich, in dem mehr als (nur) eine Stimme zu Wort kommt“ (MASSEY 2003: 32).
Somit kann auch der Nordosten nicht als kohärentes und zusammenhängendes Ganzes dargestellt und widerspruchsfrei erzählt werden. Vielmehr gilt es, die Produziertheit der Region in ihrer historischen Dimension aufzuzeigen, ohne dabei die Vielfalt der unterschiedlichen Konzeptionen des Nordostens einebnen zu wollen. Denn letztendlich gilt, dass „[…] hoje, não existe apenas um Nordeste, mas vários, com profundas diferenciações entre si 3“ (ELIAS 2006: 32). 3
„[...] heutzutage nicht nur ein Nordosten existiert, sondern mehrere, die untereinander stark differenziert sind“ (ELIAS 2006: 32; eigene Übersetzung).
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
5.1 DIE GESCHICHTE DER AB- UND EINGRENZUNGEN DES NORDOSTENS Bis ins 19. Jahrhundert bestand eine lose Zweiteilung Brasiliens in die von der Zuckerökonomie dominierten Provinzen des Nordens (heutiger Nordosten) und die von der Kaffeeökonomie dominierten Provinzen des Südens (heute Südosten und Süden) (GUIMARÃES NETO 1997: 42). Die Idee, Brasilien in voneinander abgrenzbare regionale Einheiten zu unterteilen, ist eng mit der Herausbildung eines Nationalstaates nach europäischem Vorbild, der Notwendigkeit der Verwaltung und Kontrolle des Territoriums und der Suche nach einer nationalen Identität verbunden. 1840 schrieb das brasilianische Institut für Geschichte und Geographie (Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro (IHGB)) eine Prämie von 200.000 Réis für denjenigen 4 aus, der die beste Struktur für eine brasilianische Geschichtsschreibung entwickeln würde (MARTIUS & RODRIGUES 1956: 438). Ziel des Projektes war es, über eine einheitliche Geschichtsschreibung ein brasilianisches Nationalbewusstsein zu formieren, das zu einer gemeinsamen Identität führen, die Akzeptanz eines einheitlichen Nationalstaates erhöhen und die Legitimität der Zentralregierung stärken könne. Die Ausschreibung gewann der deutsche Naturforscher, Botaniker und Ethnograph CARL FRIEDRICH PHILIPP VON MARTIUS, der zwischen 1817 und 1820 gemeinsam mit JOHANN BAPTIST SPIX Brasilien – insbesondere die Amazonasregion – bereist und dabei eine umfangreiche Klassifizierung der gefundenen Pflanzen und Tiere und der von ihm wahrgenommenen Sprachen und ‚Kulturen‘ erstellt hatte. In seinem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Como se deve escrever a história do Brasil 5“ macht er auf die Schwierigkeit aufmerksam, für ein solch großes Territorium mit seiner enormen Vielfalt an Natur, Verhaltensweisen und ‚Ethnien‘ eine einheitliche Geschichte zu erzählen: „Quão diferente é o Pará de Minas! Uma outra natureza, outros homens, outras precisões e 6 paixões, e por conseguinte outras conjunturas históricas “ (MARTIUS & RODRIGUES 1956: 456).
Um die Zusammengehörigkeit des ‚Vaterlandes‘ jedoch deutlich zu machen, solle der patriotische Historiker nicht für jede Provinz eine eigene Geschichte schreiben, sondern diejenigen Landesteile, die sich aufgrund ihrer natürlichen Gegebenheiten ähneln, zusammen behandeln (ebd.: 455 ff.). Neben den Analogien der physischen Natur ergeben sich die Großregionen laut MARTIUS aus den historischen Entwicklungen, so dass beispielsweise Pernambuco, Ceará, Rio Grande do Norte und Paraíba eine ‚natürliche Gruppe‘ bilden (ebd.). 4 5 6
Die Nichtverwendung von gegenderter Schreibweise verweist an dieser wie an vielen anderen Stellen auf eine männliche Dominanz. „Wie die Geschichte Brasiliens geschrieben werden soll.“ „Wie unterschiedlich ist Pará von Minas! Eine andere Natur, andere Menschen, andere Nuancierungen und Leidenschaften und infolge dessen andere historische Zusammenhänge“ (MARTIUS & RODRIGUES 1956: 456; eigene Übersetzung).
5.1 Die Geschichte der Ab- und Eingrenzungen des Nordostens
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Im Folgenden versuchten sich der Ingenieur ANDRÉ REBOUÇAS, der vor allem durch den Bau des Wasserversorgungssystems von Rio de Janeiro eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, und der französische Geograph und Anarchist ELISÉE RECLUS mit einer Regionalisierung Brasiliens. Während REBOUÇAS (1889) Brasilien in verschiedene Agrarzonen einteilte, orientierte sich RECLUS (1893) in erster Linie an natürlichen Gegebenheiten, insbesondere den Flusseinzugsgebieten (GUIMARÃES 1941: 343 ff.). Doch erst die Regionalisierung des französischbrasilianischen Geographen CARLOS MIGUEL DELGADO DE CARVALHO, die ebenfalls auf der Einteilung in natürliche Großregionen beruhte, setzte sich in ganz Brasilien durch. Als Mitglied des IHGB erreichte er, dass sein Buch „Geographia do Brasil“ (1913) in den weiterführenden Schulen in ganz Brasilien gelehrt wurde und somit für die nächsten Jahrzehnte als Grundlage des „Wissens über Brasilien“ fungierte (ebd.: 346). Dadurch wurde eine spezifische Sichtweise als akzeptiertes Wissen gesellschaftlich verankert. 1941 legte schließlich der Nationale Rat der Geographie (Conselho Nacional de Geografia) die von FÁBIO DE MACEDO SOARES GUIMARÃES vorgeschlagene Regionalisierung Brasiliens als offizielle Einteilung des Landes in Großregionen fest. Da die großen staatlichen Institutionen wie die SUDENE (Superintendência do Desenvolvimento do Nordeste) und die Bank des Nordostens (Banco do Nordeste (BdN)) in ihrer täglichen Praxis jedoch eigene administrative Einheiten verwendeten, konnte sich auch diese Regionalisierung nicht vollständig durchsetzen. Erst die Einteilung des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE)) von 1968 schaffte eine allgemeingültige Untergliederung Brasiliens in fünf Großregionen, die – abgesehen von kleineren Veränderungen – durch die neue Verfassung von 1988 bestätigt wurde. Zu der Region, die als Nordosten bezeichnet wird, zählen somit die Bundesstaaten Maranhão, Piauí, Ceará, Rio Grande do Norte, Paraíba, Pernambuco, Alagoas, Sergipe und Bahia (ANDRADE 2004: 36; GUIMARÃES 1941). Die Bildung des Nordostens als administrative Großregion war somit kein sich organisch entwickelnder, sondern ein bewusst vorangetriebener Prozess, der immer auch an bestimmte Institutionen gebunden und somit immer von Interessen und Machtverhältnissen abhängig war. „The idea that the Northeast had a simple, straightforward origin is false: it was something invented to hide the fact that it is a recent artificial political and cultural construct foisted upon us as a ‘natural’, ‘neutral’, or ‘historical’ verity“ (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 43).
Auch wenn die Regionen in Brasilien über keinerlei politische Autonomie oder eine eigene politische Vertretung verfügen, werden sie in Brasilien als regionale Einheiten wahrgenommen, was insbesondere über Vereinheitlichungen in statistischen Erfassungen und deren kartographischen Darstellungen produziert und reproduziert wird.
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
Abb. 10: Die brasilianischen Großregionen und die semiaride Region
5.2 DIE KONSTITUTION VON NATION UND REGION Die Konstitution des Nordostens war jedoch kein rein von außen auferlegter Prozess und wissenschaftlich-administrativer Diskurs. Vielmehr kann die Stärkung einer regionalen Identität und die „Erfindung des Nordostens“ (ALBUQUERQUE 1999) als bewusste Strategie der traditionellen Oligarchien des Nordostens gegenüber den Prozessen der Nationenbildung und aus Angst vor einer fortschreitenden politischen und wirtschaftlichen Marginalisierung verstanden werden: „The ‚Northeast‘ came into existence in reaction to the strategies of nationalization brought about by the idea of nationhood and the formation of a discourse on the Brazilian people and nation. […] It was a region born of a new type of regionalism nevertheless rooted in the discourse of tradition and a position of nostalgia in relation to the past. The Northeast arose from the construction of a political and cultural totality: the response of the traditional producers of sugar and cotton and of the businessmen and intellectuals linked to them when they began to fear that they were losing their economic and political space. They reached out for topos, symbols, types, facts with which they might create a new unity to protect them from the threat of being dissolved into a greater whole that they could no longer dominate: the Brazilian nation“ (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 43 f.).
Die Entstehung eines neuen Regionalismus – und insbesondere die Herausbildung des Nordostens als regionale Einheit Ende des 19. Jahrhunderts – fand in einer politischen und wirtschaftlichen Umbruchsituation statt, in der die sozialen Bezie-
5.2 Die Konstitution von Nation und Region
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hungen und räumlichen Konstellationen aufgebrochen und neu zusammengesetzt wurden. Es war die Zeit des Übergangs vom Kaiserreich zur Republik, in der sich mit dem zumindest formalen Ende der Sklaverei die Arbeitsmärkte neu formierten und mit der beginnenden Industrialisierung im Südosten des Landes die ersten Abwanderungswellen aus den Nordprovinzen einsetzten. Die in der Kolonialzeit herausgebildeten starren Gesellschaftsstrukturen, die auf bestimmten Eigentums-, Arbeits- und Klassenverhältnissen beruhten (Großgrundbesitz, Plantagenwirtschaft, Weltmarktintegration, Sklavenarbeit etc.) und auf den Anbau von Zuckerrohr an den Küsten und der Rinderweidewirtschaft (später auch Baumwollanbau) im Hinterland ausgerichtet waren, erwiesen sich angesichts der sich verändernden internationalen und regionalen Bedingungen als wenig anpassungsfähig. Mit dem formalen Verbot der Sklavenarbeit (1888), niedrigen Zuckerpreisen auf dem Weltmarkt aufgrund von neuen Anbietern (v.a. von den Antillen) und der Etablierung des Zuckerrübenanbaus in Europa verlor der Zuckerrohranbau in Brasilien seine internationale Wettbewerbsfähigkeit. Mit dem wirtschaftlichen Abschwung büßte die Agraroligarchie der Nordprovinzen ihre politische Vormachtstellung innerhalb Brasiliens ein. Gleichzeitig erlebten die Südprovinzen mit der Expansion des Kaffeeanbaus einen regelrechten Wirtschaftsboom. Das durch die Kaffeeproduktion akkumulierte Kapital ermöglichte erste Industrialisierungsprozesse, wodurch sich die wirtschaftliche Dominanz des Südens endgültig verfestigte. Mit dem Kaffeeanbau war jedoch nicht nur die Erschließung neuer (Wirtschafts)Räume verbunden. Vielmehr konstituierte sich ebenfalls eine neue wirtschaftliche und politische Elite, die die Industrialisierung und Urbanisierung vorantrieb und die Prozesse und Diskurse der Nationenbildung mehr und mehr dominierte (SILVEIRA 2007: 68 f; RODRIGUES 2008: 26). Als Reaktion auf die zunehmende Marginalisierung innerhalb des nationalstaatlichen Kontextes suchten die regionalen Eliten des Nordostens vermehrt die Rückbindung an regionale Strukturen und setzten auf die Herausbildung einer ‚eigenen‘ regionalen Identität. Der sich herausbildende Nordosten wurde zu dem ‚Anderen‘ des Südens. In Abgrenzung zum Süden, der für Urbanität und Moderne stand, repräsentierte der Nordosten die Idee einer ländlichen, präkapitalistischen Vergangenheit. Der Nordosten wurde zu einem Ort idealisierter Traditionen – folkloristische Elemente wurden zu Symbolen der Volksnähe und der Verbundenheit mit dem Land „a terra“ stilisiert (SILVEIRA 2007: 73 f.). Die Konstitution des Nordostens als Region entstand als Verteidigung gegenüber der Expansion der Moderne und gegenüber der beschleunigten Ausbreitung einer industrialisierten und urbanisierten Nation (ebd.: 77). „The ‚region‘ was invented as a protection from the ‚nation‘“ (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 43). Die sich verstärkende Kluft zwischen dem Norden und dem Süden und die zunehmende Marginalisierung des Nordostens manifestierte sich erstmalig durch den Ausschluss der Repräsentanten der Agraroligarchie des Nordostens beim Congresso Agrícola (Agrarkongress) 1878 in Rio de Janeiro. Als Reaktion wurde im gleichen Jahr ein Agrarkongress in Recife organisiert, der sich – neben Diskussionen über die Krise der Zuckerrohrproduktion, über die Dürreprobleme und die steigenden Sklavenverkäufe in den Süden – zu einer Plattform der Kritik an
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
der nationalstaatlichen Politik entwickelte. Insbesondere durch die Investitions-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik und durch den einseitigen Ausbau der Infrastruktur sahen sich die Vertreter der nördlichen Bundesstaaten strukturell benachteiligt und ihre Interessen in der nationalstaatlichen Politik nicht ausreichend berücksichtigt (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 46; SILVEIRA 2007: 70; RODRIGUES 2008). Dabei wurde Recife nicht ohne Grund als Austragungsort für den Kongress gewählt. Die Hauptstadt von Pernambuco war nicht nur das kommerzielle Zentrum des Nordostens, sondern auch im medizinischen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereich die ‚erste Adresse‘ für die bürgerliche Oberschicht. In der juristischen Fakultät von Recife und dem Priesterseminar von Olinda erhielten die Söhne der Großgrundbesitzer des Nordostens ihre Ausbildung. In den Institutionen formierten sich langjährige Freundschaften, gemeinsame Ansichten und Weltbilder. Insbesondere mit dem Verfall des kolonialen Agrarmodells und der Sorge um die eigene wirtschaftliche Basis und politische Zukunft, entstand innerhalb der Mauern der Bildungsstätten ein eigenständiger regionaler Diskurs (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 47 f.; SILVEIRA 2007: 70 f.). Gleichzeitig war Recife auch der Erscheinungsort der wichtigsten Zeitung des Nordostens, dem Diário de Pernambuco, der ältesten, bis heute noch erscheinenden Zeitung Lateinamerikas. Für den Regionaldiskurs wurde die Zeitung zum „principal vehicle for the dissemination of the complaints of the Northern states, just as it made itself the first instrument for promoting and spreading the arguments for a new regional division, that of the Northeast“ (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 48).
Besonders aktiv bei der Etablierung der Idee des Nordostens war der junge Soziologe GILBERTO FREYRE, der später zu einem der bekanntesten brasilianischen Soziologen avancierte und mit seinem Klassiker ‚Casa Grande e Senzala‘ (Herrenhaus und Sklavenhütte) eine der wirkmächtigsten Erzählungen über die Gesellschaftsstruktur des Nordostens schuf. In 100 verschiedenen Aufsätzen, die er zunächst aus den USA der Zeitung schickte, veröffentlichte er seine Gedanken über den Nordosten und dessen Traditionen und gab 1925 zum 100jährigen Bestehen der Zeitung das Buch ‚O livro do Nordeste‘ (Das Buch des Nordostens) heraus. Ziel des Buches war nicht nur, den Nordosten aufgrund seiner spezifischen Traditionen, Erinnerungen und Geschichten von den übrigen Regionen des Landes abzugrenzen, sondern auch, ihn als Wiege der brasilianischen Nation festzuschreiben (SILVEIRA 2007: 71 f.; ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 48). Der Regionaldiskurs institutionalisierte sich in der Gründung des Centro Regionalista do Nordeste (Regionalistisches Zentrum des Nordostens), dessen explizite Ziele darin bestanden, diejenigen Organisationen zu unterstützen, die den Nordosten moralisch und materiell entwickeln und die Interessen der Region verteidigen wollen (SILVEIRA 2007: 71). Überregionale Sichtbarkeit erhielt das Regionalzentrum durch den 1926 organisierten Congresso Regionalista do Recife (Regionalkongress von Recife), der mit dem Ziel antrat, den Nordosten vor einer fremden Invasion und den Geist des Nordostens vor einer langsamen Zerstörung zu bewahren (ebd.). In Anbetracht der Kolonialgeschichte der Region werden bei solchen Formulierungen bereits die beschränkten Bezugspunkte für eine regionale
5.3 Die Erfindung des Nordostens und andere Künste
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Identität und die rassistischen Auslassungen der eigenen Geschichtsschreibung deutlich. Die Dringlichkeit, die in der Bewahrung der Werte und Traditionen des Nordostens vor der Welle eines ‚falschen Modernismus‘ gesehen wurde, kommt in dem Manifesto regionalista (regionalistisches Manifest) zum Ausdruck, das GILBERTO FREYRE auf dem Regionalkongress in Recife verlas. Darin preist er die regionalen Produkte, einfachen Bauweisen der Hütten und kulinarischen Köstlichkeiten des Nordostens – die am besten schmecken würden, wenn sie von schwarzen Händen zubereitet werden (s. Kap. 5.4.2) – an und stellt ihnen ein blindes Imitieren fremder Gepflogenheiten (wie etwa dem Weihnachtsmann) gegenüber. Um zu einer authentischen regionalen Identität zu gelangen, plädiert er schließlich für eine Annäherung an das ‚Volk‘ (o povo 7) und die populären Traditionen und ruft zur Verteidigung der Kultur des Nordostens auf (FREYRE 1996 [1926]). 5.3 DIE ERFINDUNG DES NORDOSTENS UND ANDERE KÜNSTE 8 Das Manifest war u. a. auch gegen die in den 1920er Jahren aufkommende Strömung der Modernen Kunst, wie sie vor allem in der seit 1922 organisierten Semana de Arte Moderna (Woche der Modernen Kunst) in São Paulo zum Ausdruck kam, gerichtet. Widerhall erhielt es vor allem innerhalb der intellektuellen und kulturellen Elite des Nordostens, insbesondere bei einer Reihe von Schriftsteller_innen, die als Romance de trinta (Romane der 30iger) bekannt wurden (GREENFIELD 2001: 106). Schriftsteller_innen wie GRACILIANO RAMOS, ALFREDO PIRUCHA, JOSÉ LINS DO REGO, JOSÉ AMÉRICO DE ALMEIDA, RACHEL DE QUEIROZ, JORGE AMADO oder JOÃO CABRAL, die zumeist selbst aus traditionellen Familien aus dem Nordosten stammten und somit den Niedergang der Agraroligarchie anhand der eigenen Familiengeschichte erlebten, schrieben über den Verfall einer patriarchalen Gesellschaft, über das Leiden der ländlichen Bevölkerung und die Widrigkeiten der kargen Natur des Sertão. In Abgrenzung zur künstlichen Sprache der Modernisten lehnten sie ihre Sprache an die Alltagssprache der Nordestinos an, benutzten Themen und Ausdrücke der Populärkultur und sahen sich oftmals als Fürsprecher für die Anliegen der Unterschicht. Mit der Idealisierung des Populären und einer starken Identifizierung mit ‚dem Volk‘ (o povo) bewegten sie sich dabei oftmals auf dem schmalen Grad zwischen einer gesellschaftlichen Sensibilisierung für die sozialen Missstände im Nordosten und einem traditionellen Paternalismus (SILVEIRA 2007: 78). Durch ihre Romane wurde der 7
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Mit der Bezeichnung o povo (das Volk) schwingt im brasilianischen Portugiesisch nicht so sehr wie im Deutschen und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte die völkische Bedeutung einer Blutsgemeinschaft mit. Vielmehr werden mit o povo in Brasilien oftmals ‚Menschen vom Land‘, ‚einfache Menschen‘ oder auch nur ‚die Leute‘ bezeichnet. In Anlehnung an den Titel eines Buches von DURVAL MUNIZ DE ALBUQUERQUE (1999): „A invenção do nordeste e outras artes“.
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
Nordosten als Region sichtbar, gleichzeitig verfestigten sich dadurch jedoch die Bilder eines armen, kargen, von Konflikten und Korruption geprägten Nordostens, die bis in die heutigen Tage wirkmächtig sind. Als eines der zentralen Elemente der Erzählungen fungierte dabei die Dürre, die zum Ausgangspunkt von Elend und Flucht und zum Sinnbild für den Nordosten wurde: „O romance de trinta institui uma série de imagens em torno da seca que se tornaram clássicas e produziram uma visibilidade da região à qual a produção subseqüente não consegue fugir. Nordeste do fogo, da brasa, da cinza e do cinza, da galharia negra e morta, do céu transparente, da vegetação agressiva, espinhosa, onde só o mandacaru, o juazeiro e o papagaio são verdes. Nordeste das cobras, da luz que cega, da poeira, da terra gretada, das ossadas de boi espalhadas pelo chão, dos urubus, da loucura, da prostituição, dos retirantes puxando jumentos, das mulheres com trouxas na cabeça trazendo pela mão meninos magros e barrigudos nordeste da despedida dolorosa da terra, de seus animais de estimação, da antropofagia. Nordeste da miséria, da fome, da sede, da fuga para a detestada zona da cana ou 9 para o Sul “ (ALBUQUERQUE 1999: 121).
Im Gegensatz zu GILBERTO FREYRE wollte GRACILIANO RAMOS in seinen Romanen nicht den Nordostens des Zuckerrohrs nachzeichnen, sondern konzentrierte sich auf den Nordosten des Hinterlandes, des Sertão und des Schmerzes (ebd.: 228 f.). Mit seinem Roman Vidas Secas (Karges Leben) schuf er den Dürreflüchtlingen des Nordostens ein literarisches Denkmal und brannte das Bild von abgemagerten Körpern in einer kargen, staubigen Umgebung in das Gedächtnis ganzer Generationen ein: „Quatro sombras, no caminho estreito coberto de seixos miúdos, empurrados pela seca, sem destino. No alto, no céu, em vez de nuvens grossas, bojudas, o grasnar dos urubus; na terra, ao invés de searas verejando, cascalhos, rios secos, espinho, cactos rasgando o sertão, bichos 10 morrendo, gente morrendo, terra morrendo “ (RAMOS in BORGES 1999: 327).
Dürre und Flucht stehen auch im Mittelpunkt des Romans O Quinze (Das Jahr 15) von RACHEL DE QUEIROZ, in dem sie die Ereignisse rund um die Dürre von 1915 aufarbeitet. Während QUEIROZ die Dürre als Schicksal beschreibt, durch die die „Die romance de trinta begründet eine Reihe von Bildern über die Dürre, die zu Klassikern wurden und eine Sichtbarkeit der Region produzierten, vor der die nachfolgenden Werke nicht mehr entkommen konnten. Nordosten des Feuers, der Glut, der Asche und des Graus, des dunklen und toten Gestrüpps, des klaren Himmels, der aggressiven, dornigen Vegetation, wo nur der Mandacaru-Kaktus, der Juazeiro-Baum und der Papagei grün leuchten. Nordosten der Schlangen, des Lichtes, das erblindet, des Staubes, der aufgerissenen Erde, der verstreuten Rinderskelette, der Geier, des Wahnsinns, der Prostitution, der eseltreibenden Flüchtlinge, der Frauen mit Bündeln auf ihren Köpfen, an ihren Händen magere, dickbäuchige Kinder, Nordosten der schmerzvollen Abschiede vom Land, von seinen Haustieren, des Kannibalismus. Nordosten der Armut, des Hungers, des Durstes, der Flucht in die verabscheute Region des Zuckerrohrs oder den Süden9“ (ALBUQUERQUE 1999: 121, eigene Übersetzung). 10 „Vier Schatten, auf dem schmalen Pfad der mit Kieselsteinen bedeckt ist, angetrieben durch die Dürre, ziellos. Hoch im Himmel anstelle dicker Wolken nur das Gekreische der Geier; am Boden, anstelle von Kornfeldern, Geröll, ausgetrocknete Bachläufe, Dornen, Kakteen, die den Sertão durchziehen, sterbende Viecher, sterbende Menschen, sterbende Erde“ (RAMOS in BORGES 1999: 327; eigene Übersetzung). 9
5.3 Die Erfindung des Nordostens und andere Künste
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traditionellen Produktions- und Machtstrukturen aufgebrochen werden, sucht JORGE AMADO in seinen Romanen nach einer Neukonstruktion des Nordostens und nach den Perspektiven einer sozialen Revolution (SILVEIRA 2007: 83, 98). Auch in Theaterstücken, der Musik, der Malerei und später dann im Film spielt der Nordosten als spezifische Region, die geprägt ist von Mystik und Tradition und in der die natürlichen Bedingungen Ursache und Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen, eine wichtige Rolle. Exemplarisch sei hier nur auf die Theaterstücke von ARIANO SUASSUNA verwiesen, die fast ausnahmslos vor der Kulisse eines kargen Sertão spielen, als Ort, der in erster Linie auf das Heilige und Mystische verweist und somit als Gegenstück zu einer aufgeklärten Moderne fungiert (ebd.: 90). In der Musik steht vor allem ein Name als Repräsentant für die Musik des Nordostens: LUIZ GONZAGA. Die meisten seiner Stücke drehen sich um den Nordosten als Ort der Dürren und der Flüchtlinge, als Ort des PADRE CÍCERO und der Banditen, als Ort des einfachen Volkes – vor allem aber als Ort der Sehnsucht: „Saudade de seus cheiros, seus ritmos, suas festas, suas alegrias, suas sensações corporais 11“ (ALBUQUERQUE 1999: 164). Es sind vor allem die Migrant_innen aus dem Nordosten und deren Sehnsucht, die Gonzaga mit seiner Musik anspricht. Indem er das Radio als neues Kommunikationsmittel geschickt einzusetzen weiß, verbreitet sich seine Musik in ganz Brasilien und somit auch das Bild des Nordostens, das diese Musik vermittelt. Es ist das Bild einer homogenen Region, einer Region des Stillstandes und der Vergangenheit, frei von den Veränderungen der Moderne, in der die hierarchischen Beziehungen für immer zu bestehen scheinen und die in dem ewigen Zyklus der Natur zwischen Regenzeiten und Dürren gefangen ist (SILVEIRA 2007: 87). Bilder, wie sie auch in den Gemälden von CÂNDIDO PORTINARI zum Ausdruck kommen (s. Abb. 11), die in ihrer Anschaulichkeit den Anspruch einer wahren Repräsentation des Nordostens erheben, und die später als Vorbilder für viele Filme dienten, insbesondere für eine neue cinematographische Bewegung, die in den 1950er Jahren aufkam: dem Cinema Novo (ebd.: 85, 106 f.). Insbesondere die Filme des wohl bekanntesten Vertreters des Cinema Novo GLAUBER ROCHA leben von dem Gegensatz eines dürren, menschenfeindlichen und rückständigen Sertão – als Sinnbild für den Nordosten und für das Leiden der Bevölkerung – gegenüber der Küste und dem Meer als Ort der Verheißung und der Veränderung. Geprägt von der Überzeugung, den Film als Instrument für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen und einen sozialrevolutionären Menschen formen zu können (HERMANNS 2008: 129), bleibt ROCHA nicht bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Missstände im Nordosten stehen, sondern schafft mit dem Meer einen Ort kollektiver Utopien. Die Migration wird zur Möglichkeit, aus den vorhandenen Strukturen aus- und zu neuen Ufern aufzubrechen (ebd.; SILVEIRA 2007: 114 ff.).
11 „Sehnsucht nach seinen Gerüchen, seinen Rhythmen, seinen Festen, seinen Freuden, seinen körperlichen Empfindungen“ (ALBUQUERQUE 1999: 164, eigene Übersetzung).
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
Abb. 11: CÂNDIDO PORTINARI: Os Retirantes (1944).
Letztendlich wiederholen sich die Themen und Bilder in der Literatur, der Malerei, der Musik und dem Film: Der Nordosten wird als homogene Region entworfen, die geprägt ist durch Armut und Entbehrung, Religiosität und Mystizismus, Banditentum und Gewalt, deren Bewohner sich ihrem Schicksal ergeben oder vor ihm fliehen und die vor allem durch ein Element dominiert wird: die Dürre (COSTA 2005: 57).
5.2 Die Konstitution des Nordostens über gesellschaftliche Naturverhältnisse
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5.4 DIE KONSTITUTION DES NORDOSTENS ÜBER GESELLSCHAFTLICHE NATURVERHÄLTNISSE „O Nordeste não existe sem a seca e esta é atribuido particular deste espaço. O Nordeste não é verossímil sem coronéis, sem cangaceiros, sem jagunços ou santos. O Nordeste é uma 12 criação imagético-discursiva cristalizada [...] “ (ALBUQUERQUE 1999: 192).
Sowohl bei der Suche nach einer administrativen Untergliederung Brasiliens als auch nach einer regionalen Identität spielt die Abgrenzung der Region anhand von natürlichen Merkmalen eine zentrale Rolle. Zur Bezeichnung der Region werden Begriffe wie Nordosten, Sertão, semiaride Region, Dürre-Polygon oder Hinterland je nach Kontext unterschiedlich, oft aber synonym verwendet, auch wenn sie – zumindest offiziell – nach unterschiedlichen Kriterien abgegrenzt werden: mit Nordosten ist in erster Linie eine administrative Einheit gemeint, mit Sertão wird zunächst eine bestimmte Landschaftsform bezeichnet, die nach klimatischen und vegetationsgeographischen Kriterien abgegrenzt wird, während die semiaride Region über die Niederschlagsverhältnisse bestimmt wird. Als Ende des 19. Jahrhunderts eine dreijährige Dürre verheerende Auswirkungen auf große Teile der Nordprovinzen ausübte (vgl. Kap. 6.2), entwickelte sich eine räumliche Einheit, die sich anhand von physischen Kriterien von den übrigen Provinzen des Nordens unterschied. Vertreter der betroffenen Provinzen taten sich zusammen, um gemeinsam in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro Lobbyarbeit für weitere Hilfsmaßnahmen zu betreiben. Als 1909 eine nationalstaatliche Institution zur Bekämpfung der Dürre (Inspetoria de Obras Contra as Secas (IOCS)) geschaffen wurde, wurde ihr Tätigkeitsgebiet auf eine bestimmte Region beschränkt, die als ‚Nordosten‘ bezeichnet wurde (BARTELT 2001: 342). Über den Dürrediskurs wurde eine spezifische und gleichzeitig problematische Landschaft (troubled landscape) hergestellt, die sich als Nordosten in das Problembewusstsein Brasiliens eingrub (BJØRGUM 2008: 40). Die ersten Bilder, die sich über den Nordosten in den Zeitungen des Landes verbreiteten, waren Bilder der Dürre und der Dürreopfer. Vielen Brasilianer_innen aus den südlichen Provinzen wurde die Existenz eines Nordostens über eine der zahlreichen Benefizveranstaltungen, die im Süden für die Dürreopfer veranstaltet wurden, erstmalig bewusst (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 44). Somit wurde der Nordosten als ‚Kind der Dürre‘ geboren (ebd.). 1936 wurde per Gesetz der Polígono das Secas (Dürre-Polygon) als diejenige Region festgelegt, die in besonderem Maße von Dürreereignissen betroffen ist und somit entsprechende Mittel zur Dürrebekämpfung bereitgestellt bekommt. Beispielsweise operierte die Bank Banco do Nordeste lange Jahre nur innerhalb des Dürre-Polygons, wodurch – im Gegensatz zur administrativen Einteilung der 12 „Der Nordosten existiert ohne die Dürre nicht und diese ist ein Wesensmerkmal dieses Raumes. Der Nordosten ist ohne die Coronéis, ohne die Cangaceiros, ohne die Banditen und Heiligen nicht plausibel. Der Nordosten ist eine bildlich-diskursiv herauskristallisierte Schöpfung […]“ (ALBUQUERQUE 1999: 192, eigene Übersetzung).
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
Regionen – der Bundesstaat Maranhão von den Bankgeschäften ausgeschlossen, Teile des Bundesstaates Minas Gerais jedoch daran teilhaben konnten (ANDRADE 2004: 36). Auch wenn die Abgrenzung der Region anhand von Niederschlagsverhältnissen zunächst einfach, exakt und objektiv erscheint, verbirgt sich dahinter jedoch ein politisch umkämpfter Entscheidungsprozess, da die Einbeziehung oder Ausgliederung einer Region über deren Zugang zu bestimmten Geldmitteln und zu vergünstigten Kreditkonditionen entscheidet. Mit der Verfassung von 1988 wurde die regionale Einheit des Dürre-Polygons durch die Região Semi-árida (RSA) (semiaride Region) ersetzt (MMA & SRH 2004: 29). Zuletzt wurden 2005 vom Ministério da Integração (Integrationsministerium) neue Kriterien für die Abgrenzung der semiariden Region festgelegt. Demnach gilt nicht mehr allein die durchschnittliche Jahresniederschlagsmenge (< 800 mm) als Kriterium für eine semiaride Region, sondern auch ein Trockenheitsindex (als Verhältnis von Niederschlag und Verdunstung) und ein Indikator für die Dürrewahrscheinlichkeit (MIN 2005: 2 ff.). Dadurch wurden 102 Munizipien, insbesondere in Minas Gerais, neu in die RSA aufgenommen, sodass heute 1.133 Munizipien mit einer Fläche von 969.589 km2 und einer Bevölkerung von 20,85 Mio. offiziell zur semiariden Region Brasiliens gezählt werden können (ebd.) (s. Abb. 10). Die semiaride Region Brasiliens ist somit keine starre, außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse existierende natürliche Einheit. Sie ist Teil politischer Aushandlungsprozesse um Schwellenwerte, Messmethoden, Definitionshoheit, Finanzströme und Macht und somit Teil gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Exkurs: Das Klimaphaenomen El Nino und seine Auswirkungen auf den Nordosten Brasiliens Auch wenn in der vorliegenden Arbeit in erster Linie die gesellschaftlichen Bedingungen der Herstellung von Dürreverhältnissen untersucht werden, so stellen dennoch natürliche, insbesondere klimatische Prozesse eine wichtige Grundlage für die Entstehung von Dürren im Nordosten Brasiliens dar. Diese sollen hier nicht in ihrer Komplexität durchdrungen und auf die Bedeutung von gesellschaftlichen Einflussfaktoren für ihre Entstehung (bspw. Treibhauseffekt) hin untersucht werden. Vielmehr soll nur ein kurzer Hinweis auf die gängigen Erklärungen der episodisch aufkommenden Niederschlagsanomalien im Nordosten gegeben werden, um so das Verständnis für die spezifischen Mensch-Naturbeziehungen in der Region zu erhöhen. Die Dürreereignisse im Nordosten werden insbesondere auf die als El NiñoPhänomen bekannte Klimaanomalie zurückgeführt. Dabei kommt es zu Veränderungen der sich gegenseitig beeinflussenden Meeres- und Luftzirkulation im Südpazifik, was sich ebenfalls auf die Druckverhältnisse über dem Südatlantik auswirkt (Telekonnektion). Das El Niño-Phänomen bewirkt unter anderem auch einen geringeren Energieaustausch zwischen Äquator und dem Südpol, wodurch sich das südatlantische Hoch verstärkt und die Südverlagerung der Innertropischen
5.4 Die Konstitution des Nordostens über gesellschaftliche Naturverhältnisse
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Abb. 12: Klimaanomalie eines El Niño-Jahres.
Konvergenzzone (ITC) blockiert wird. In El Niño Jahren gelangt der Nordosten somit nicht in den Einflussbereich der ITC (s. Abb. 12), wodurch die Konvektionsniederschläge in den Süd-Sommermonaten ausbleiben Die Ablenkung der ITC stellt somit den Hauptgrund für die Niederschlagsanomalie im Nordosten dar. Jedoch wird diese Witterungsanomalie noch durch weitere Verschiebungen in El Niño-Jahren verstärkt. Aufgrund des stabilen südatlantischen Hochdruckgebiets verändern sich die Meeresströmungen im Südatlantik. Dadurch gelangen kalte Meeresströmungen aus der Antarktis an die Ostküste Brasiliens (Benguelastrom), wodurch sich die Verdunstung über der Wasserober-
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
fläche verringert. Somit führen die Südostpassatwinde weniger Wasserdampf mit, wodurch es zu geringeren Niederschlägen über der Landmasse kommt. Darüber hinaus wird durch die kalte Meeresober-fläche die Passatinversion abgesenkt, was die Bildung hoher Konvektionswolken unterbindet. Im Nordatlantik kommt es hingegen zu einer geringeren Ausbildung des Hochdruckgebietes (s. Abb. 12), wodurch der kalte Kanarenstrom abgeschwächt wird, was zu höheren Temperaturen der Wasseroberfläche führt. Dies bedingt aufsteigende Luftmassen über dem Atlantik nördlich des Äquators, die wiederum über Nordostbrasilien absinken und dadurch zu Wolkenauflösungen und geringen Niederschlägen führen. Zusätzlich bedingt auch die Walkerzirkulation über dem südamerikanischen Kontinent zu absin-kenden Luftmassen über Nordost Brasilien. Durch die Verlagerung der ITC kommt es zum Aufstieg feuchtwarmer Luftmassen über dem Amazonasbecken, die wiederum über dem Nordosten absinken, dadurch mehr Wasserdampf aufnehmen können und somit Niederschläge verhindern. Zu guter Letzt werden auch die aus dem Süden kommenden und normalerweise teilweise bis in den Nordosten reichenden Kaltfronten in das Landesinnere abgelenkt, wodurch auch von ihnen keine Niederschläge im Nordosten zu erwarten sind. Die unterdurchschnittlich geringen Niederschläge im Nordosten sind also ein Resultat aus einer Vielzahl sich verstärkender Witterungsanomalien, die in einen globalen Klimakreislauf eingebettet sind und in unregelmäßigen Abständen immer wieder auftreten. (Quelle: FRANKENBERG ET AL. 2007–2008, S. 216; ANA 2005, S. 10–21; WERNER & GERSTENGARBE 2003, S. 81 f.) Textbox 3: Das Klimaphänomen El Niño und seine Auswirkungen auf den Nordosten Brasiliens
5.4.1 Os Sertões MANUEL CORREIA DE ANDRADE beschreibt in dem Klassiker „A terra e o homem do Nordeste“ (Das Land und die Menschen des Nordostens) von 1963 den Sertão innerhalb einer klassischen, an VIDAL DE LA BLACHE angelehnten Regionalisierung (VESENTINI 2012) als typische Landschaft des Nordostens, die von der trockenresistenten Caatinga-Vegetation und einem semiariden Klima geprägt wird und neben der Region Meio-Norte, der Zona da Mata und dem Agreste eine der vier Unterregionen des Nordostens darstellt (ANDRADE 2004: 37 f.). Doch der Sertão ist mehr als das. Mit dem Begriff Sertão wird gleichzeitig eine bestimmte sozial-historische Kategorie benannt, bei der immer die Besiedlungsgeschichte und die gesellschaftliche Organisationsform mitschwingen (TEIXEIRA 2010: 168). Laut DARCY RIBEIRO stammt Sertão von dem Wort Desertão (große Wüste) ab und ist somit mit der Idee eines weiten, menschenfeindlichen, praktisch unbe-
5.4 Die Konstitution des Nordostens über gesellschaftliche Naturverhältnisse
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wohnten und unzivilisierten Territoriums verbunden (VINAUD et al. 2007: 106). Der Sertão ist das ‚Hinterland‘ 13, womit gleichzeitig die Blickrichtung von „der Küste auf das topographisch wie zivilisatorisch/ökonomisch/sozial etc. dahinterliegende, an das Küstenniveau heranzuführende Territorium“ (BARTELT 2001: 329)
deutlich wird. Mit der Idee eines leeren, unerschlossenen Raumes wird der Sertão zum Ort des Anderen (lugar do outro), zu einem Ort außerhalb der Macht, zu einem Ort, der noch zu erschließen und zu besetzen ist. Seine Bewohner_innen werden über den Raum zu den ‚Anderen‘, den Ausgeschlossenen und Vergessenen, zu denen, die es zu zivilisieren gilt (BARBOSA in CHACON 2007: 81). Doch diese Geschichte der ‚Erschließung‘ und ‚Zivilisierung‘ des Sertão ist eine Geschichte der Gewalt und der Unterdrückung: „Der brasilianische Sertão trat durch Genozid ins Licht der Geschichte Brasiliens“ (BARTELT 2001: 330). Auf der Suche nach Edelmetallen und Sklaven zogen zahlreiche Expeditionstruppen, sogenannte bandeirantes oder entradas, von den Küsten in das Hinterland und erschlossen das unbekannte Territorium für die portugiesische Krone. Die dort lebende, sogenannte indigene Bevölkerung wurde versklavt, größtenteils jedoch ermordet. Die Ausbreitung des heutigen Nationalterritoriums beruht somit auf der Vernichtung unzähliger Menschen und der Auslöschung von Kulturen, Erinnerungen und Geschichten. Doch mit der gewaltsamen Inbesitznahme und Besiedelung des Sertão verblassten keineswegs die dichotomen Bilder von Küste und Hinterland, Zivilisation und Barbarei, üppiger Natur und menschenfeindlicher Umgebung. Der Sertão wurde zum Stigma der dort lebenden Bevölkerung, den sertanejos: „Die sertanejos erschienen als die Produkte eines dürren und dornenbewehrten Milieus, das als Natur-Person gefaßt wurde. Sie verschmolzen mit dieser feindseligen, grausamen und undankbaren Natur und wurden ein Teil von ihr. Es ist offensichtlich, daß die derart gefaßte Natur das Andere der Zivilisation darstellte, wie sie von den bekannten Räumen (Küstenstädte, Europa) repräsentiert wurde. Gewalt war hier die vormoderne Gewalt, die die Zivilisation überwand“ (ebd.: 331 f.).
Als der charismatische Wanderprediger ANTÔNIO VIVENTE MENDES MACIEL, genannt ANTÔNIO CONSELHEIRO, 1893 mit seiner Anhängerschaft auf der Fazenda Canudos inmitten des Sertão eine religiöse Gemeinschaft gründete, in der nationalstaatliche Vorgaben wie die Steuergesetze, die Zivilehe oder eine Volkszählung abgelehnt wurden, schien sich die noch junge Republik derart bedroht zu fühlen, dass sie Canudos in mehreren Feldzügen militärisch bekämpfte und 1897 vollständig vernichtete. Die Vorstellung vom Sertão als Ort der Gewalt wurde zur Rechtfertigung von Gewalt. Die Zivilisation musste vor dem Unbekannten und Bedrohlichen verteidigt werden, notfalls auch mit unzivilisierten Mitteln. Der leere, unbekannte Raum musste besiegt werden. Jedoch wurde der Sertão mit dem Krieg von Canudos und der direkten Berichterstattung durch den Journalisten EUCLIDES DA CUNHA, der an der letzten Militärexpedition und Vernichtung von 13 Insbesondere in akademischen Texten wird das deutsche Wort ‚Hinterland‘ auch im Portugiesischen benutzt.
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
Canudos als Reporter der Tageszeitung Estado de São Paulo teilgenommen und darüber später das berühmte Buch Os Sertões (deutsch: Krieg im Sertão) geschrieben hatte, zu einem integralen Bestandteil der nationalen Identität Brasiliens: „Canudos verfestigt sich als brasilianisches Kollektivsymbol, das den Sertão als Nationalregion bezeichnete. Dieses Nationalbewußtsein vom Sertão intensivierte und veränderte sich nach dem Krieg, als die Barbarei deutlich wurde, die die Zivilisation angerichtet hatte. Die Sertanejos wurden vom nationalen Außen ins Innere geholt. Das Opfer der canudenses öffnete dem imaginären Sertanejo die Tür zur Nation“ (BARTELT 2003: 32).
Doch bis heute steht der Sertão für einen Ort der Gewalt, der Gefahr und der Unsicherheit als „ein aus dem unbekannten Raum des Sertão dringende[s] Gefühl“ (BARTELT 2001: 331). 5.4.2 Rassismus als konstitutives Element Häufiges Element des Diskurses über den Sertão Ende des 19. Jahrhunderts war eine naturalistische Argumentationsweise und die Gleichsetzung von Raum und dessen Bewohner_innen. Dabei wurden nicht selten direkte kausale Verbindungen zwischen klimatischen Faktoren, naturräumlichen Bedingungen, der Zusammensetzung der Bevölkerung und deren Charaktereigenschaften gezogen, um die sozioökonomische Situation im Nordosten zu erklären. In seiner Beschreibung über das Klima und die Dürre in Ceará (Memória sobre o clima e secas do Ceará (1877)) versuchte der aus Ceará stammende Politiker und Geograph THOMAZ POMPEU DE SOUZA BRAZIL die ‚Rückständigkeit‘ des Nordostens gegenüber dem Süden mit naturdeterministischen (einem für Europäer ungeeignetes Klima), kulturessentialistischen und rassistischen (Unterlegenheit der schwarzen und roten ‚Rassen‘) Argumenten zu erklären (BARTELT 2001: 343). Explizite und implizite rassistische Argumente und Aussagen über die Minderwertigkeit der indigenen Bevölkerung oder der sertanejos waren seit der Kolonialisierung fester Bestandteil der Argumentationsweise der weißen Elite. Auch in den Überlegungen von CARL FRIEDRICH PHILIPP VON MARTIUS, der eine Anerkennung des Beitrages aller ‚Rassen‘ bei der Formierung des brasilianischen ‚Volkes‘ forderte und somit als eher progressiver Denker seiner Zeit angesehen werden kann, sind klar rassistische Elemente der Einteilung und Hierarchisierung von ‚Rassen‘ erkennbar: „O sangue português em um poderoso rio deverá absorver os pequenos confluentes das raças índia e etiópica 14“ (MARTIUS & RODRIGUES 1956: 443). Der Krieg in Canudos und die Vernichtung von ANTÔNIO CONSELHEIRO und seiner Anhängerschaft kann als „makabre[…] Allegorie des Rassismus“ (DAVIS 2004: 383) betrachtet werden, der sich aus der Angst und tiefen Verachtung gegenüber den Armen in der Region speiste. Die Menschen des Hinterlandes wurde 14 „Der mächtige Fluss des portugiesischen Blutes sollte kleine Zuflüsse der indianischen und äthiopischen Rasse aufnehmen“ (MARTIUS & RODRIGUES 1956: 443; eigene Übersetzung).
5.4 Die Konstitution des Nordostens über gesellschaftliche Naturverhältnisse
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als caboclos bezeichnet, womit die Vermischung der europäischen, indigenen und afrikanischen ‚Rassen‘ verstanden wurde, wobei dieser „Rassenvermischung die Schuld […] an allen sozialen Abweichungen wie dem Banditenwesen, der religiöse[n] Häresie und anderen Übeln“ (EUL-SOO PANG in DAVIS 2004: 383)
gegeben wurde. Einen Ausweg wurde in der gezielten Anwerbung weißer, europäischer Migrant_innen gesehen, um die Region zu ‚entafrikanisieren‘ und ‚weißer‘ zu machen (DAVIS 2004: 383). Selbst als während der Dürre von 1888/89 die Städte Bahias keine Kapazitäten mehr sahen, weitere Dürreflüchtlinge aufzunehmen und diese gewaltsam in Lagern einwiesen, setzten die staatlichen Behörden ihre Bemühungen um die Anwerbung von europäischen Einwanderern fort. (ebd.: 382). Gestärkt wurde dieser innerhalb der brasilianischen Elite weit verbreitete Rassismus durch die Ende des 19. Jahrhunderts in Brasilien hegemonial werdende Denkrichtung des Positivismus, wie sie insbesondere von Philosophen wie EDMUND BURKE oder HERBERT SPENCER vertreten wurde. Innerhalb der aufgeklärten Fortschrittsgläubigkeit der Positivisten galten die Bewohner_innen des Sertão nicht nur als rückständig, sondern als „Schädlinge des nationalen Fortschritts“ (DAVIS 2004: 382). Insbesondere in den politischen und wissenschaftlichen Debatten über die Dürre im Nordosten und über den Umgang mit den Dürreflüchtlingen wurden Vorstellungen über die primitive Welt des Hinterlandes und die Minderwertigkeit, Faulheit und Modernisierungsfeindlichkeit der sertanejos deutlich (GREENFIELD 2001). So urteilte beispielsweise GUILHERME S. CAPANEMA, Mitglied der Wissenschaftskommission, die die Ursachen und Möglichkeiten der Bekämpfung der Dürre untersuchen sollte, dass die Probleme eher bei den Bewohner_innen als beim Klima zu suchen seien (VILA in: BJØRGUM 2008: 31) 15. Und ANDRÉ REBOUÇAS assistierte: „[…] wrested from their original barbarous indigenous inhabitants – the still primitive, unproductive back-lands required the civilizing influence of modern scientific practices“ (REBOUÇAS in GREENFIELD 2001: 15).
Der Nordosten ist somit weder eine in sich abgeschlossene Region, noch eine natürliche oder neutrale Einheit. Vielmehr stellt der Nordosten eine Konstruktion dar, die sich insbesondere Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund von sozioökonomischen Verschiebungen, anhand diskursiver Ereignisse und entlang von Machtkonstellationen herausbildete. In Abgrenzung nach außen – gegenüber dem wirtschaftlichen und politisch aufstrebendem Süden und aus Angst vor einer drohenden Marginalisierung innerhalb des sich formierenden Nationalstaates – aber auch in Abgrenzung nach innen – gegenüber messianistischen Bewegungen, sozialen Unruhen und einem aufkommenden Banditentum (cangaço) – konstituierte sich 15 TIM NEUFERT weist allerdings in seiner Dissertation darauf hin, dass der Wissenschaftskommission die bemerkenswerten Fähigkeiten der cearensischen Handwerker aufgefallen waren, und sie daher die Förderung der Metallverarbeitung empfahl (NEUFERT 2015: 153).
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5. Die Konstitution des Nordostens als Region
eine Region, die ihre spezifische Identität in der Bewahrung von vermeintlich ursprünglichen Werten und Traditionen suchte. Der Sertão wurde zum Sinnbild für den Nordosten, als idealtypischer Ort der Rückständigkeit, der Entbehrung und der Gewalt, gleichzeitig aber auch als idealisierter Ort des einfachen Volkes, einer vormodernen Vergangenheit und harmonischen Naturverbundenheit. Dabei spielte die Materialität des Raumes, insbesondere die natürlichen Bedingungen, immer eine wichtige Rolle. Die karge Natur, die staubige Erde, die heißen und trockenen Landschaften wurden zu Orten der Entbehrung und der Sehnsucht in einem. In der Kunst fand dabei die (Re)Produktion solcher Bilder ihren anschaulichsten Ausdruck. Die verschiedenen Dürreereignisse im Nordosten Brasiliens, insbesondere die sogenannte Große Dürre zwischen 1877–1879, wurden zu Kristallisationspunkten der Diskurse über den Nordosten und den Zusammenhang zwischen den natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen (s. Kap. 6.2). Dabei wurde der DürreDiskurs zunehmend hegemonial. Die Dürre wurde somit zur unhinterfragbaren Realität des Nordostens und mit ihr wurde der Nordosten zum Armenhaus Brasiliens erklärt. Die sozialen Probleme im Nordosten wurden zu Problemen eines spezifischen Raumes (ALBUQUERQUE 1999: 199; BARTELT 2001: 343 f.; BJØRGUM 2008: 109; LIMA & BOTÃO 2006: 48). Innerhalb einer solchen hegemonialen Schließung des Diskurses über den Sertão wurden nur einzelne Gegenstimmen laut, wie die des Arztes und Autors des Buches Geografia da Fome (1946) (Geographie des Hungers) JOSUÉ DE CASTRO, der seine Überlegungen über die Ursachen von Armut und Hunger im Nordosten mit dem Satz zusammenfasst: „Nem todo o Nordeste é seco, nem a seca é tudo 16“ (CASTRO 2002: 242).
16 „Weder ist der ganze Nordosten trocken, noch ist die Trockenheit alles“ (CASTRO 2002: 242; eigene Übersetzung).
6. GENEALOGIE DER GESELLSCHAFTLICHEN DÜRREVERHÄLTNISSE IM NORDOSTEN BRASILIENS „Es handelt sich also darum, eine andere Geschichtlichkeit zu denken – nicht eine neue Geschichte und noch weniger einen ‚new historicism‘ sondern eine andere Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit“ (DERRIDA in GERTENBACH 2008: 208).
Gesellschaftliche Problemlagen sind nicht einfach vorhanden, sondern finden immer in einer räumlich und zeitlich spezifischen Konstellation statt. Wurde im vorangehenden Kapitel der Nordosten als gegebener Raum dekonstruiert, bzw. die Konstitutionsprozesse der Raumproduktion nachgezeichnet, so gilt es nun, die Mensch-Umwelt-Beziehungen im Nordosten zeitdiagnostisch einzuordnen. Die Betonung der Historizität gesellschaftlicher Situationen soll dabei keineswegs auf eine lineare Herleitung und kausale Erklärung der aktuellen Verhältnisse hinauslaufen. Vielmehr geht es um die Benennung der unterschiedlichen Wissens- und Praxisformen, der vielfältigen Ereignisse, Kämpfe und Wahrheitsspiele, „in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht werden kann und muß“ (FOUCAULT 1986: 13). In Abgrenzung zur klassischen Ideengeschichte und ihrem Drang zur Vereinheitlichung und Glättung der Geschehnisse und dem Aufbau logischer und stringenter Ereignisketten verweist FOUCAULT auf die historische Kontingenz von Ereignissen und die konstitutive Rolle von Machtverhältnissen (FOUCAULT 1973: 197). Die Zurückweisung einer überhistorischen Bestimmung und linearen Vorstellung zeitlicher Abläufe und die Betonung von Diskontinuitäten, von Ereignishaftigkeit und Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse stehen dabei im Mittelpunkt der Überlegungen. Die Geschichte des Nordostens zu erzählen bedeutet somit nicht, nach einem überhistorischen Sinn oder einer den Ereignissen inhärenten Logik zu suchen, anhand derer die Dinge angeordnet werden können und durch die sich eine gewisse Unvermeidbarkeit ihres Ablaufes ergibt. Es existieren kein tieferer Ursprung, kein geheimes Wesen der Dinge, das Sinn stiften könnte, sondern lediglich unterschiedliche Wissens- und Praxisformen, über die sich die Ereignisse und Phänomene konstituieren (GERTENBACH 2008: 214). FOUCAULT hat dies an dem Beispiel des Wahnsinns deutlich gemacht. Für ihn existiert „keine ahistorische Wesensqualität des Wahnsinns, sondern historisch unterschiedliche Formen des Wissens und der Praktiken, die nicht auf ein vorgängiges, ihnen äußerliches und von ihnen unabhängiges Phänomen treffen, sondern dieses Phänomen selbst konstituieren. Wahnsinn existiert in historisch kontingenter Form“ (KELLER 2008: 126).
Die Geschichte des Nordostens zu erzählen ist somit nicht der Versuch, lineare Entwicklungslinien zu rekonstruieren, heterogene und widersprüchliche Entwicklungen einzuebnen und kausale Ursachen-Wirkungs-Ketten zu entwerfen. Es geht
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
nicht darum, Geschichte in einem teleologischen Verständnis „zwischen einem Ursprungs- und Zielpunkt [aufzuhängen]“ (ANGERMÜLLER 2008: 257), sondern darum, die Kontingenz historischer Ereignisse deutlich zu machen. Wenn FOUCAULT dafür plädiert, „alles in Stücke zu schlagen, was dem tröstlichen Spiel des Wiedererkennens Vorschub leistet“ (FOUCAULT 2002: 179), dann kann das als Aufforderung verstanden werden, Geschichtlichkeit in Brüchen und Diskontinuitäten zu denken. Historische Ereignisse sollten dabei nicht als notwendige Folgen vorgängiger Entwicklungen, sondern als eines von vielen möglichen Ergebnissen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse verstanden werden. Die Betonung der Kontingenz der Ereignisse ist dabei nicht nur erkenntnistheoretischen Überlegungen geschuldet. Vielmehr beinhaltet sie auch ein strategisches Moment, durch das sich ein Möglichkeitsspielraum eröffnet. Die Kontingenz historischer Entwicklungen zu betonen bedeutet gleichzeitig, an der Idee der grundsätzlichen Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Situationen festzuhalten und einer Verfestigung von Strukturen, Denkschemata und Gewohnheiten entgegenzuwirken. Dies soll jedoch nicht zu einem „geschichtsblinden anything goes“ (GERTENBACH 2008: 220) (ver)führen, sondern auf die Bedeutung von Machtverhältnissen und sozialen Auseinandersetzungen bei der Analyse von historischen und gegenwärtigen Ereignissen verweisen (GERTENBACH 2008; SCHROER 2008: 153; KLEINER 2001: 12; KELLER 2008: 135). Eine Geschichte des Nordostens zu erzählen bedeutet somit auch, eine „Geschichte der Nebenpositionen und der Randpositionen“ (FOUCAULT 1973: 195) zu erzählen, eine Geschichte des „seitlichen Rumorens“ (ebd.), die notwendigerweise fragmentarisch bleibt, die sich einzelne Ereignisse exemplarisch herausgreift und sich an Brüchen und Diskontinuitäten orientiert. Gleichzeitig existieren jedoch auch Kontinuitäten, die benannt, die aber nicht als an sich logisch, sondern als Ergebnisse von sich reproduzierenden Machtverhältnissen dargestellt werden sollen. Als ein bedeutender Bruch in der Erzählung der Mensch-UmweltVerhältnisse im Nordosten Brasiliens kann die Große Dürre von 1877–1879 ausgemacht werden. 6.1 DÜRRE ALS GESELLSCHAFTLICHES NATURVERHÄLTNIS Wenn auf der Insel Bali in Indonesien sechs Tage am Stück kein Niederschlag fällt, ist bereits von einer Dürreperiode die Rede. In Libyen sind zwei niederschlagslose Jahre von Nöten, damit von einer Dürre gesprochen werden kann. In den Vereinigten Staaten wird eine Zeitperiode von 48 Stunden, in denen weniger als 2,5 mm Niederschlag fällt als Dürre definiert, während in Großbritannien erst 15 aufeinander folgende Tage mit einer täglichen Niederschlagsmenge unter 0,25 mm als Dürre gewertet werden können. In der Tradition des brasilianischen Nordostens gilt der 19. März, der Josefstag, als Stichtag zur Beurteilung der Niederschlagsverhältnisse: ist bis dahin kein Regen gefallen, steht ein Dürrejahr bevor (VIEIRA 2004: 25; HALL 1978: 18). Allein diese kurze Aufzählung macht deutlich, dass keine allgemeingültige Definition von dem, was als Dürre bezeichnet werden
6.1 Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis
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kann, existiert. Vielmehr variieren die unterschiedlichen Definitionsansätze je nach regionalem Kontext, gesetzten Referenzpunkten und vorherrschenden Wissensarten. Innerhalb der akademischen Wissensproduktion wird zumeist zwischen einer meteorologischen und einer hydrologischen Dürre unterschieden. Eine meteorologische Dürre liegt dann vor, wenn die Niederschläge eines bestimmten Zeitraums (meist ein Jahr) den langjährigen Mittelwert unterschreiten. Von einer hydrologischen Dürre wird dann gesprochen, wenn die Wasserreserven in den natürlichen und künstlichen Wasserspeichern nicht mehr ausreichen, um die Wassernachfrage einer bestimmten Region zu decken (BRIONES GAMBOA 2010: 184; FERNANDES 2002: 70; TADDEI 2005: 121). Die insbesondere von internationalen Organisationen verwendeten Indizes wie Wasserstress und Wassermangel beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Wasserangebot und Wassernachfrage (MAUSER & SCHNEIDER 2007: 1006). Auch wenn über die Einbeziehung künstlicher Wasserspeicher und der Wassernachfrage (meist nur in Form der absoluten Bevölkerungszahl) auch soziale Bedingungen in die Bewertung der Wasserversorgung Eingang finden, bleiben die konkreten Verhältnisse vor Ort dennoch weitestgehend unberücksichtigt. Zumeist bleibt das komplexe Phänomen der Dürre auf die Beschreibung klimatischer Bedingungen und auf volumetrische Berechnungen reduziert (METHA 2011: 372). Das erschreckende Ausmaß der sogenannten Großen Dürre im Nordosten Brasiliens in den Jahren 1877–79 ließ (und lässt bis heute) fast ausschließlich nur eine Erzählung der damaligen Ereignisse zu: Die Dürre wird als ein von außen auf den Nordosten und die dort vorherrschende Gesellschaftsstruktur eintreffendes Natur-Ereignis beschrieben, dessen Auswirkungen mithilfe von technologischen Innovationen höchstens hätten abgemildert werden können. Doch die Menschen hatten es nicht geschafft, mit ihrem Wissen, ihren technischen Fähigkeiten und Hilfsmitteln die Natur für sich adäquat anzueignen und zu beherrschen. Doch kann die Große Dürre wirklich bloß als reine Naturkatastrophe angesehen werden, die über den Nordosten hereinbrach? Inwiefern kann davon gesprochen werden, dass eine Dürre ‚sozial produziert‘ ist? Wie kann die Große Dürre mit dem Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verstanden werden und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Welche Art von Machtverhältnissen lassen sich in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen nachzeichnen und wie äußerten sich diese während der Großen Dürre? Die Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis zu beschreiben und die Konstitutionsbedingungen der Dürre zu untersuchen bedeutet nicht, die Auswirkungen der Dürre zu relativieren und das schreckliche Leiden unzähliger Menschen zu ignorieren. Nach der gesellschaftlichen Produktion von Dürren zu fragen zielt vielmehr darauf ab, die vorgeschlagenen und unhinterfragten Kausalitäten und diskursiven Schließungsregeln zu hinterfragen, die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Dürren herauszuarbeiten und auf der Kontingenz der Ereignisse zu bestehen. Ein solcher Ansatz zielt darauf ab, das Verhältnis zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick zu nehmen. Zentraler Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach den Herrschaftsverhältnissen und wie
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
diese – vermittelt über Besitz,- Kapital- und Produktionsstrukturen – über die gesellschaftlichen Naturverhältnisse produziert und reproduziert werden. 6.2 BRUCHLINIE I: DIE KONSTITUTIONSBEDINGUNGEN DER GROSSEN DÜRRE 6.2.1 BESITZSTRUKTUREN ALS VERMITTLUNGSVERHÄLTNIS VON HERRSCHAFT Ökonomische aber auch politische Herrschaft ist im Nordosten Brasiliens seit der Inbesitznahme des Territoriums durch die Europäer_innen immer mit dem Besitz von Land verbunden gewesen. Da über Landbesitz auch die in einer semiariden Region überlebensnotwendigen Wasserquellen, Flussläufe und Staubecken privatisiert wurden, verstärkten und perpetuierten die Naturverhältnisse die ungleichen Herrschaftsverhältnisse. Die Geschichte der Besitzstrukturen im Nordosten Brasiliens ist eine Geschichte von Nepotismus, Privilegien und Bereicherung, gleichzeitig aber auch von Exklusion, Rassismus und Vertreibung. Mit der Einführung des portugiesischen Agrarsystems der sesmarias (1504) wurde die Grundlage für eine Besitzstruktur geschaffen, die bis in die heutige Zeit die ungleiche Agrarstruktur des Landes prägt (s. Abb. 13) (MELO 2006: 240; GERMANI 2006: 120ff.). Mit der Vergabe von Land an bestimmte, privilegierte Personen (Adlige, verdiente Soldaten 1 und Bürger) unter der Auflage, das Land abzugrenzen, zu bestellen, Gebäude zu errichten und Steuern zu entrichten, sollte stückweise die Kontrolle über das riesige, neue Territorium erlangt werden. Jedoch verfügte die Kolonialverwaltung nicht über die notwendigen Ressourcen, um die Landaneignungspraktiken zu kontrollieren. So konnte ein einziger Familienclan – die Familie der D´ÁVILAS – fast 300 Jahre lang über das größte Latifundium Brasiliens, das von Bahia bis nach Maranhão reichte, verfügen: das berühmte Casa da Torre. Nachdem verschiedene Mitglieder des Clans strategische Stellungen in der Verwaltung, der Justiz, dem Militär und dem Steuerwesen erworben hatten, reichte die Macht des Königshauses nicht mehr aus, der Landakkumulation der Casa da Torre Einhalt zu gebieten. Erst 1822 wurde das System der sesmarias 1
Auch in diesem Kapitel werden bestimmte Bezeichnungen von Menschen nur in ihrer ‚männlichen Form‘ verwendet. Dies geschieht bewusst und soll die männliche Dominanz in diesem Bereich hervorheben, auch wenn dabei nicht ausgeschlossen werden kann, dass dadurch eventuelle weibliche Positionen verschwiegen werden. Insbesondere in Bezug auf die Banditen des Hinterlandes (cangaços) oder die Großgrundbesitzer und regionalen Machthaber (coronéis) wird die männliche Schreibweise verwendet, um die geschlechtsspezifische Dominanz in diesen Bereichen deutlich zu machen. Der hohe Bekanntheitsgrad von MARIA BONITA als weibliches Mitglied einer der Banden im Sertão und von ANTÔNIA ALVES FEITOSA als weibliche Rinderhirtin (vaqueira) oder FIDERALINA LIMA, die nach Ermordung ihres Vaters und Mannes den Großgrundbesitz der Familie samt Sklav_innen und Armee führte, bezeugen, welche Sonderstellung diese Frauen innerhalb der patriarchalen Gesellschaft des Nordostens einnahmen (TADDEI & GAMBOGGI 2009: 150).
6.2 Bruchlinie I: Konstitutionsbedingungen der Großen Dürre
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per Gesetz abgeschafft und 1850 durch das Landgesetz (lei das terras) ersetzt (ANDRADE 2004: 161; ARTICULAÇÃO POPULAR SÃO FRANCISCO VIVO 2007: 9 f.).
Abb. 13.: Kolonisierung von Ceará über die Aufteilung von sesmarias.
Mit der lei das terras wollte die kaiserliche Regierung die Kontrolle über die Inbesitznahme von Land wieder zurück gewinnen und sich der Verfügungsgewalt über die noch ‚unbesetzten‘ Ländereien (terras devolutas) versichern. Gleichzeitig legitimierte sie die bisherige Landaneignungspraxis, indem sie die Landnutzungskonzessionen des sesmaria-Systems per Gesetz in Privatbesitz umwandelte. Hatte sich das Imperium bisher noch das Recht vorbehalten, bei einer ineffektiven Nutzung der Ländereien die Nutzungskonzessionen wieder zu entziehen, verlor es mit der Einführung von Privatbesitz jegliche Einflussnahme auf die Landnutzung. Wichtigste Neuerung des Landgesetzes war jedoch die Bestimmung, dass Land nur noch durch Kauf erworben werden konnte. Eine Landaneignung durch Besetzung und Urbarmachung des Landes wurde dadurch ausgeschlossen. Somit war der Zugang zu Land nur noch denjenigen vorbehalten, die entweder bereits Land besaßen oder über genügend Kapital für den Kauf von Ländereien verfügten. Der steigende Bevölkerungsdruck an der Küste und die Ausweitung der Rinderwei-
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
dewirtschaft im Hinterland machte Land, auch das zunächst als wertlos erachtete Land des Sertão, zu einer bedeutenden Machtressource. Vor allem vor dem Hintergrund des Verbotes des Sklavenhandels und dem bevorstehenden Ende der Sklaverei wollte die herrschende Agrarelite einen Ansturm auf die noch ungenutzten Ländereien und den Verlust der billigen Arbeitskräfte in den Plantagen und Fazendas verhindern. Über die lei das terras wurde somit eine Agrarstruktur verfestigt, bei der einige wenige über riesige Ländereien verfügten, während der Großteil der Bevölkerung vom Landbesitz ausgeschlossen wurde. Schätzungen zufolge „besaßen Mitte des 19. Jahrhunderts sicherlich weniger als fünf Prozent der Bevölkerung und wahrscheinlich weniger als ein Prozent der bäuerlichen Bevölkerung Land“ (LEVINE in DAVIS 2004: 385).
Gleichzeitig waren 70% des bepflanzten Landes im Besitz von nur 15% der Großgrundbesitzer; eine Landkonzentration, die sich im Laufe der Zeit sogar noch weiter verstärkte (TEIXEIRA 2010: 90). Da seither in Brasilien keine Bodenreform durchgeführt wurde, pausen sich die ungleichen Besitzverhältnisse und der ungleiche Zugang zu Land und somit auch zu Wasser bis in die heutige Zeit durch (s. Kap. 10.1); (SOARES 2007; ARTICULAÇÃO POPULAR SÃO FRANCISCO VIVO 2007: 10; MELO 2006: 240 f.; DEFFNER 2010: 61; UNTIED 2005: 11). 6.2.2 Arbeits- und Produktionsstrukturen als Voraussetzung für Dürre Spätestens seit dem königlichen Erlass von 1701 (carta régia), der die Rinderzucht in der Küstenregion verbot und somit eine Zweiteilung zwischen der Zuckerrohrproduktion auf den fruchtbaren Böden der Zona da Mata und der Rinderweidewirtschaft im Hinterland etablierte, breiteten sich die Rinderweiden im Sertão immer weiter aus (MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 20; CAMPOS 1997: 262). Zunächst wurden von den Rinderfazendas das fruchtbare Schwemmland entlang der Flussläufe und die feuchten Hochebenen besetzt. Die meist nomadisch lebende indigene Bevölkerung, die vom Fischfang, der Jagd und dem Sammeln von Nüssen und Früchten lebte und nur an den Flussufern Ackerbau betrieb, wurde dabei immer tiefer in die trockenen Zonen des Sertão zurückgedrängt. Somit wurden sie mehr und mehr ihrer natürlichen Lebensgrundlage und ihres Lebensstils beraubt. Der Widerstand gegen diese allmähliche Verdrängung und Vernichtung wurde von den Fazendeiros aufs Heftigste bekämpft. Die bekanntesten Auseinandersetzungen in Ceará und Rio Grande do Norte, die bezeichnenderweise unter dem Namen ‚Revolta dos Bárbaros‘ (Revolte der Barbaren) zusammengefasst werden, dauerten 41 Jahre (1683–1724) und wurden von den Siedlern letzten Endes mit Hilfe von bezahlten Söldnern aus São Paulo (bandeirantes) brutal nieder geschlagen (SILVA 2006: 38; GAESE 2003: 125). Das Produktionssystem der europäischen Siedler_innen war jedoch nicht auf ein nomadisches Jäger_innen und Sammler_innen-System ausgerichtet, sondern beruht(e) auf Sesshaftigkeit, extensiver Rinderweidewirtschaft und Ackerbau.
6.2 Bruchlinie I: Konstitutionsbedingungen der Großen Dürre
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Doch weder die aus den mittleren Breitengraden stammenden Agrartechniken, noch die eingeführten Anbauprodukte (Reis, Bohnen, Mais) waren an die spezifischen Umweltbedingungen des Sertão angepasst. Selbst die extensive Rinderweidewirtschaft stellte keine adäquate Produktionsweise für eine semiaride Region und ihre Savannenvegetation dar, da Rinder viel schlechtere Futterverwerter sind und einen sehr viel höheren Wasserbedarf haben als etwa Ziegen oder Schafe 2 (DAVIS 2004: 384, 387; PAULINO 1992: 62; TEIXEIRA 2010: 87 ff.; SCHISTECK 2011). Mit dem Anstieg der Bevölkerung im Sertão nahm auch die Nutzung und Übernutzung der natürlichen Ressourcen zu. Die Überweidung und Abholzung der Caatinga führte zu einer immer weiter fortschreitenden Entwaldung und dadurch zu verheerenden Erosions- und Desertifikationsprozessen. Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf den Wasserhaushalt der Region. Die fehlende Vegetation verursachte eine erhöhte Verdunstung und einen schnelleren Abfluss des Oberflächenwassers, insbesondere bei Starkregenereignissen, was ein Absinken des Grundwasserspiegels zur Folge hatte (DAVIS 2004: 385 ff.). Der „mystische[…], einst grüne Sertão“ (ebd.: 387) verwandelte sich mehr und mehr in eine unwirtliche Gegend: „Es war sowohl für die sertanejos selbst als auch für gelegentliche Besucher aus dem Ausland nicht zu übersehen, dass sie Teile des Hinterlandes in eine Wüste verwandelten und damit vermutlich auch das Klima veränderten“ (ebd.).
Bis heute stellen die Desertifikationsprozesse in der semiariden Region Brasiliens eines der größten Umweltprobleme des Sertão dar (MMA & SRH 2004; CEDEPLAR & FIOCRUZ 2008). Mit der Ausweitung der Rinderweidewirtschaft wurde der Sertão zum komplementären und abhängigen Hinterland der Zuckerökonomie an der Küste (SILVA 2006: 192). Die Rinderfazendas lieferten Vieh für den Transport und den Betrieb der Zuckermühlen, Trockenfleisch für die Ernährung und Leder, das für Sättel, Kleidung, Bezüge und jegliche Art von Verpackungsmaterial eingesetzt wurde. Die einseitige Fokussierung auf die Rinderzucht führte dazu, dass der Ackerbau zumeist nur als sekundäre Tätigkeit zur Eigenversorgung betrieben wurde. Bereits im 19. Jahrhundert waren die sertanejos auf den Import von billigem, minderwertigem Reis aus Indien angewiesen (DAVIS 2004: 390). Aufgrund der Zugangsbeschränkungen zu Land besaßen die meisten Landarbeiter_innen kein eigenes Land sondern waren innerhalb eines bestimmten Pachtverhältnisses von den Landbesitzern (donos) abhängig. Zwar waren sie im Gegensatz zu den Sklavenarbeiter_innen in den Zuckerrohrplantagen formal freie Menschen, jedoch standen sie über die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis. Die meisten Freiheitsrechte konnten die Viehzüchter (vaqueiros) für sich beanspruchen, die für ihre Arbeit jedes fünfte oder sechste neugeborene Kalb behalten und darüber hinaus oftmals noch ein Stück 2
Der Versuch, Kamele aus Nordafrika in Ceará einzuführen, endete 1859 in einem totalen Fiasko (TADDEI 2005: 113).
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Land bewirtschaften durften (MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 22). Parallel zur Symbolfigur des nordamerikanischen cowboys werden die vaqueiros bis heute im Nordosten als Verkörperung von Freiheit und Eigenständigkeit idealisiert. Die Mehrheit der Bevölkerung bestand jedoch aus verarmten Subsistenzbäuer_innen, die als Teilpächter_innen (parceiros) oder als Tagelöhner_innen (agregados) ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Je nach Vereinbarung mit dem Großgrundbesitzer mussten sie ein Viertel, Drittel oder meist sogar die Hälfte ihrer Ernte für die Pacht des Bodens entrichten. So wurden die meeiros (von meio = Hälfte) zum Symbol der ausgebeuteten Landarbeiter_innen. Mit dem Baumwollboom im Nordosten etablierte sich das parceria-System, durch das die Sozialstruktur im Nordosten aufrecht erhalten wurde (UNTIED 2005: 66 f.; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 24; DAVIS 2004: 385). Die große Sause: Der Baumwollboom Mitte des 19. Jahrhunderts Bereits im 18. Jahrhundert wurde Baumwolle im Nordosten Brasiliens angebaut, da sie als dürreresistente Pflanze gut an die Bedingungen der semiariden Region angepasst war und im Wechsel mit Mais und Bohnen gepflanzt werden konnte. Als in der Zeit zwischen 1845 und 1877 über 30 mehr oder weniger niederschlagsreiche Jahre aufeinander folgten, breitete sich der Baumwollanbau immer weiter aus (HALL 1978: 33). Doch erst mit dem Wegbrechen der nordamerikanischen Baumwollproduktion durch die Sezessionskriege der Jahre 1861–1865 und dem Drängen der britischen Cotton Supply Association, die Produktion in Brasilien weiter auszuweiten, entwickelte sich ein regelrechter Baumwollboom, der den Nordosten in eine einzige riesige Baumwollplantage verwandelte (OLIVEIRA 1981: 47). Allein im Bundesstaat Ceará stiegen die Baumwollexporte zwischen 1860 und 1871 von 0,8 Mio. kg auf 7,3 Mio. kg, während sich die Exporte aus Pernambuco im gleichen Zeitraum von 1,3 Mio. kg auf 16,8 Mio. kg um das Zwölffache erhöhten (DAVIS 2004: 389). Der Nordosten Brasiliens wurde in der Zeit zu einem der wichtigsten Versorger für die englischen Webstühle. Zwischen 1861 und 1863 verdoppelten sich die Baumwollpreise von 885 auf 1.600 Reis (ebd.: 388), was die Profiterwartungen schürte und zu einer weiteren Ausweitung der Baumwollproduktion auf Kosten des Nahrungsmittelanbaus führte (SILVA 2006: 42; HALL 1978: 4). Im Gegensatz zum Zuckerrohr wurde Baumwolle jedoch nicht nur in großen Plantagen angebaut. Der geringe Kapitalbedarf für den Anbau der minderwertigen Baumwolle und die bestehenden Strukturen der Rinderweidewirtschaft führten dazu, dass in erster Linie die Tagelöhner_innen und Angestellten auf den Rinderfarmen die Baumwolle anbauten. „Obwohl auch einige Großgrundbesitzer offensichtlich auf Baumwolle umstellten, war sie im Grunde die Frucht der Armen, die sich vollständig auf deren Anbau konzentrieren konnten“ (WEBB in DAVIS 2004: 388).
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Die fazendeiros fungierten in erster Linie als Zwischenhändler, die den Kleinbäuer_innen die Baumwolle abkauften und an die Baumwollgesellschaften gewinnbringend weiter verkauften. Insbesondere durch die Praxis des Vertragsanbaus (compra na folha), bei der der Abnahmepreis bereits vor der Ernte fixiert wurde, blieb den Kleinbäuer_innen eine angemessene Gewinnbeteiligung an dem Baumwollboom verwehrt (OLIVEIRA 1981: 48). Somit kam es trotz des Booms weder zu einer nennenswerten Umverteilung noch zur Herausbildung eines „bäuerlichen Kapitalismus“ (DAVIS 2004: 390). Dennoch erschienen die Möglichkeiten in den Baumwollfeldern, vor allem im Vergleich zu den Bedingungen in den Zuckerrohrplantagen, für viele Landarbeiter_innen attraktiv. Insbesondere aus dem Agreste strömten die Menschen in die Baumwollgebiete, um als Tagelöhner_innen von dem Baumwollboom profitieren zu können. So stellten 1876 die agregados im Bundesstaat Ceará mindestens 40% der Bevölkerung (ebd.: 388; HALL 1978: 4). Mit dem Ende des nordamerikanischen Bürgerkrieges und der Rückkehr der kurzfaserigen, hochwertigen Baumwolle aus den nordamerikanischen Südstaaten in den 1870er Jahren stürzten die Baumwollpreise auf den internationalen Märkten rapide ab. Zwar wurde versucht, die fallenden Preise mit einer gesteigerten Produktion zu kompensieren, doch die minderwertige Baumwolle aus dem Sertão war international nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Exporte aus Ceará fielen sogar unter die Exportzahlen von 1860 (DAVIS 2004: 388 f.) 3. Der kurze Baumwollboom hatte jedoch die Landschaft des Sertão nachhaltig verändert und die Bedingungen für die fatalen Auswirkungen der Großen Dürre geschaffen. 6.2.3 Die Produktion von Rückständigkeit über Wirtschafts- und Kapitalstrukturen Der Aufstieg und Fall der Baumwollproduktion im Nordosten ist nur eines von vielen Beispielen der einseitigen und abhängigen Einbindung des kolonialisierten Landes in den Weltmarkt. Auch wenn sich Brasilien, bzw. das brasilianische Kaiserreich 1822 unabhängig erklärt hatte, wurde es derart vom britischen Handelsund Finanzwesen beherrscht, dass es als „klassisches Beispiel einer ‚informellen Kolonie‘“ (DAVIS 2004: 377) gelten konnte. Die formelle Abhängigkeit vom „Mutterland Portugal“ war einer informellen Abhängigkeit vom britischen Kapital gewichen. Mit der Unterzeichnung „eines der ungerechtesten Handelsabkommen der Geschichte“ (ebd.) (1827), das die Importzölle auf britische Produkte auf 15% ihres Wertes festlegte, jedoch Exportzölle auf brasilianische Produkte von bis zu 300% ermöglichte, wurde Brasilien faktisch in ein „britisches Protektorat“ (ebd.) verwandelt. Das daraus resultierende permanente Haushaltsdefizit erzwang die 3
Dies trifft jedoch nicht für den gesamten Nordosten zu. So zeigt TIM NEUFERT in seiner historischen Studie zur Dürre in Paraíba beispielsweise auf, dass die Exportverluste dieses Bundesstaates Anfang der 1870er Jahre gerade aufgrund der hohen Qualität der dortigen Baumwolle weniger dramatisch ausfielen (NEUFERT 2015: 237).
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Aufnahme von Staatsanleihen, die ausnahmslos bei den in London ansässigen Rothschilds getätigt wurden. Das Bankensystem war überwiegend in britischer Hand, was sich u. a. auf die Investitionstätigkeiten auswirkte: Während die Banken sich weigerten, langfristige landwirtschaftliche Kredite zu vergeben, und im Zuge der Depression der 1870er Jahre die Kreditvergabe sogar ganz einstellten (ebd.: 390), wurde der Ausbau der Transportinfrastruktur, insbesondere der Eisenbahnbau, stark forciert und dadurch kontrolliert. Gleichzeitig wurde die Entwicklung einer eigenständigen Industrialisierung und somit einer potentiellen Konkurrenz der britischen Importe streng überwacht bzw. sogar verhindert. Stellvertretend dafür steht das Beispiel einer Nähgarnfabrik in Alagoas, die von einem britischen Unternehmen einzig zu dem Zweck erworben wurde, um die Fabrik zu schließen und die Maschinen im São Francisco Fluss zu versenken (ebd.: 379). Mit der Übernahme des Goldstandards in den 1870er Jahren vergab das Kaiserreich darüber hinaus die Möglichkeit, eine eigenständige und von England unabhängige Finanzpolitik zu betreiben. Der Kaffeeboom in den südlichen Bundesstaaten führte zu einer Aufwertung des Milreis, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit für Baumwolle und Zuckerrohr auf den Weltmärkten noch weiter verschlechtert wurde. Eine Abwertung des Wechselkurses zur Stabilisierung der Exporte aus den nördlichen Staaten war innerhalb des Goldstandards jedoch nicht mehr möglich (ebd.: 381). Die sinkenden Exporteinnahmen, die hohen Auslandsschulden und das primitive Bankensystem verhinderten, dass der Staat eine aktive entwicklungspolitische Rolle übernehmen konnte. Zwar waren zahlreiche Pläne für den staatlichen Ausbau der Bewässerungsstruktur vorhanden, doch kein einziges Vorhaben konnte vor der Großen Dürre umgesetzt werden (ebd.: 387). 6.2.4 Die Produktion der Großen Dürre Die Geschichte des Nordostens kann als Geschichte des Kampfes um Herrschaft, um den Erhalt von Privilegien und als Geschichte der Unterordnung und Unterdrückung erzählt werden. Insbesondere der Sertão entstand als Region von Abhängigkeit und Unterentwicklung, die über eine „dreifache Randständigkeit“ (DAVIS 2004: 387) produziert wurde: 1. Die Unterordnung des brasilianischen Wirtschafts- und Finanzsystems unter die Interessen des britischen Kapitals 2. Die Unterordnung des Nordostens unter die Interessen der Eliten des Südens und Südostens Brasiliens 3. Die Unterordnung des Sertãos unter die Interessen der Zuckeroligarchie der Küste. Die Entwicklungen im Nordosten müssen somit immer vor dem Hintergrund der abhängigen Einbindung des Nordostens in ein (post)koloniales Ausbeutungssystem gelesen werden. Erst dadurch lassen sich die Gesellschafts-, Besitz- und Produktionsstrukturen erklären und erst darüber erschließen sich die Bedingungen, die zu den fatalen Auswirkungen der Großen Dürre führten. Die Sicherung bestehender Privilegien mittels gesetzlicher Regelungen und die Akkumulation von
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Profit, Besitz und Macht durch eine kleine Agraroligarchie verhinderten die Entstehung von kleinbäuerlichen Strukturen und eines bäuerlichen Proletariats. Die geringe Rolle des Ackerbaus und die Verdrängung des Nahrungsmittelanbaus durch die Baumwolle, die Degradierung des Ökosystems aufgrund unangepasster Nutzungsformen, der beschränkte Zugang zu Land, Wasser und Kapital für die überwiegende Mehrheit der ländlichen Bevölkerung und der hohe Anteil an Tagelöhner_innen, die weder über eigenes Land noch über die sozialen Absicherungen des fazenda-Systems verfügten, stellten das prekäre Konglomerat dar, das durch den Ausfall der Niederschläge in die Katastrophe führte: „Kurz vor der Großen Dürre waren die Provinzregierungen […] bankrott, Unterernährung und Beriberi weit verbreitet, zahlreiche Städte von Aufständen erfasst, die fazendas wurden von den Armen geplündert, und das Banditentum war der einzige wirtschaftliche Wachstumssektor“ (ebd.: 391).
Die Große Dürre der Jahre 1877–1879 kann somit nicht als reine Naturkatastrophe verstanden werden. Vielmehr finden die katastrophalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten in den drei niederschlagsarmen Jahren Ende des 19. Jahrhunderts ihren gesellschaftlichen Ausdruck. 6.2.5 Die Große Dürre als gesellschaftliche Katastrophe Auch wenn im Nordosten Brasiliens immer wieder Dürreereignisse auftraten, so hatte doch keine Dürre so dramatische Auswirkungen auf die Bevölkerung, die (Selbst)Wahrnehmung des Nordostens und die Praktiken der Dürrebekämpfung wie die Dürre der Jahre 1877–1879. Allein im Bundesstaat Ceará starben an den Folgen der drei Dürrejahre geschätzte 500.000 Menschen, was ungefähr die Hälfte der damaligen Bevölkerung des Bundesstaates ausmachte. Über 50.000 Menschen verließen Ceará und emigrierten in die Amazonasregion. In die 25.000 Einwohner_innen zählende Stadt Fortaleza flüchteten sich über 100.000 Dürreflüchtlinge. Die Hungersnot und der Ausbruch von Krankheiten und Seuchen war so extrem, dass allein im Dezember 1878 täglich 500–1.000 Menschen in der Hauptstadt starben (TADDEI 2005: 113 f.; CARVALHO 1988: 195). „Fortaleza tinha o aspecto de uma cidade em guerra. Doentes espalhados pelas ruas, casas fechadas, comércio de portas cerradas e milhares de mendigos em busca de esmola para poder comer. [...] Não houve dia com menos de 500 óbitos 4“ (VILLA 2000: 71).
Die individuellen Leidensgeschichten, die Erfahrungen von Entbehrung, Verzweiflung und Gewalt, die sich hinter den abstrakten Opferzahlen verbergen, können nur schwerlich erfasst werden. Es sind eher individuelle Schicksale und einzelne Beschreibungen, die das Ausmaß der Katastrophe erahnen lassen: 4
„Fortaleza glich einer Stadt im Kriegszustand. Kranke waren auf den Straßen verteilt, die Häuser verriegelt, die Läden hatten ihre Türen verschlossen und Tausende Bettler waren auf der Suche nach Almosen, um etwas essen zu können. […] Es gab keinen Tag mit weniger als 500 Todesopfern“ (VILLA 2000: 71; eigene Übersetzung).
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse „Os flagelados contaram seus dramas à imprensa. Um deles relatou que foi obrigado juntamente com a mãe e três irmãs a vender a roupa do corpo para poder comprar comida. Fizeram todo o percurso até a capital totalmente nus e sendo obrigados a caminhar à noite. [...] Centenas de pessoas morreram pelos caminhos de fome e de sede, ou por se alimentaram de plantas tóxicas, especialmente crianças envenenadas pela mucunã. Alguns, não suportando 5 tanto sofrimento, se suicidaram “ (ebd.: 48 f.).
Auch wenn die genauen Opferzahlen nie wirklich festgestellt werden konnten, und die Statistiken als nicht besonders vertrauenswürdig einzuschätzen sind, da die Zahlen aufgrund von sich daraus ergebenden Hilfezahlungen möglicherweise übertrieben wurden (GREENFIELD 2001: 45), so wurde die Große Dürre, wie sie bis heute in Brasilien genannt wird, dennoch emblematisch für die gesamte Region des Nordostens, insbesondere jedoch für den Bundesstaat Ceará (NELSON & FINAN 2009: 302). Durch die Dürre von 1877–1879 wurde der ganzen Nation die Existenz von Dürre, Armut, Leiden und Tod innerhalb der Landesgrenzen erschreckend bewusst. Mit der Katastrophe der Großen Dürre war der Nordosten in das Bewusstsein einer ganzen Nation gelangt (s. Kap. 5.4), dies jedoch in erster Linie in Gestalt einer Problemregion und somit als Problem für die gesamte Nation. 6.2.6 Die Große Dürre als politische Wasserscheide Durch die Große Dürre, die als größte ‚Naturkatastrophe‘ der Geschichte Brasiliens bezeichnet wird (BARTELT 2001: 340), wurden die bereits existierenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen weiter verstärkt, was die sozioökonomischen Verhältnisse des Landes nachhaltig veränderten: Während in den Nordregionen die Wirtschaft am Boden lag und sich weder die Rinderfarmen, noch die Baumwoll- oder Zuckerrohrproduktion jemals wieder von dem Schock erholen sollten, boomte im Süden die Kaffeeproduktion und in den Wäldern des Amazonas hatte der Saft des Kautschukbaumes einen weiteren Wirtschaftszyklus ausgelöst, der die Städte Manaus und Belém in prosperierende Regionalzentren verwandelte. Die Große Dürre besiegelte das, was sich im Laufe des 19. Jahrhunderts schon längst angedeutet hatte: die Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Eliten aus dem Süden und Südosten. Doch auch innerhalb des Nordostens war das über die Jahrhunderte etablierte ungleiche Sozialgefüge ins Wanken geraten. Mit dem Einbruch der Produktion hatten die meisten Großgrundbesitzer keinen Gebrauch mehr für ‚ihre‘ 5
„Die Dürreflüchtlinge erzählten ihre Dramen der Presse. Einer von ihnen berichtete, dass er, zusammen mit seiner Mutter und drei Schwestern, gezwungen war, die Kleider, die sie am Körper trugen, zu verkaufen, um sich etwas zu essen kaufen zu können. Sie legten den Weg bis zur Hauptstadt komplett nackt zurück und waren somit gezwungen, nachts weiter zu wandern. […] Hunderte von Menschen verhungerten und verdursteten auf den Wegen, oder starben, da sie sich von giftigen Pflanzen ernährt hatten, vor allem Kinder vergifteten sich an der mucunã [Juckbohne]. Einige, die so viel Leid nicht ertrugen, begingen Selbstmord“ (ebd.: 48 f., eigene Übersetzung).
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Sklav_innen und Arbeiter_innen und konnten für deren Unterhalt – und war er noch so gering – nicht länger aufkommen. Ein Heer von Dürreflüchtlingen, die sogenannten retirantes oder flagelados, bestehend aus (meist entlassenen) Sklav_innen, Tagelöhner_innen und Kleinbäuer_innen, die auf der Suche nach Arbeit und Essen in die urbanen Zentren des Nordostens migrierten, war die Folge. In ihrer Verzweiflung und ihrem Kampf ums Überleben fielen die retirantes in fazendas, Dörfer und Städte ein und plünderten die Restbestände der Vorratsschuppen und Lagerhäuser. Die Antwort der fazendeiros, der örtlichen Polizei und der sich formierenden paramilitärischen Einheiten war zumeist die Anwendung von oft willkürlicher Gewalt, wobei die meisten Straftaten nie geahndet wurden, da die Flüchtlinge nicht als Opfer sondern als Bedrohung wahrgenommen wurden (HALL 1978: 5; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 69, 76; SILVA 2006: 39; TADDEI 2005: 127; VILLA 2000: 77). Als Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des ‚sozialen Friedens‘ und zur Verhinderung von (Hunger)Aufständen wurden Lebensmittel verteilt und Arbeitsfronten eingeführt, in denen die Flüchtlinge meist gegen eine geringfügige Bezahlung in Naturalien arbeiten mussten (s. Kap. 6.5.3.3). Darüber hinaus wurde insbesondere während der Dürren von 1915 und 1932 versucht, durch die Errichtung von sogenannten Konzentrationslagern am Rande der großen Städte das Eindringen der Dürreflüchtlinge in die Zentren zu verhindern. Die mangelhafte Ernährung und die katastrophalen sanitären Bedingungen in den Lagern führten dabei oftmals zum Ausbruch von Krankheiten und Seuchen und zu massenhaftem Sterben. Da oftmals die stärksten und gesündesten Männer ausgewählt und zum Arbeiten in Arbeitsfronten oder in andere Staaten geschickt wurden, verblieben in den Lagern die Schwachen, Kinder und Frauen, die bald als „Witwen mit lebenden Ehemännern“ (viúvas com maridos vivos) bezeichnet wurden (PAULINO 1992: 120 f.; ARAÚJO 2006a: 26; VILLA 2000: 69). Doch auch außerhalb der Konzentrationslager wurde die Migration in andere Landesteile forciert. Mit der Übernahme der Transportkosten versuchte die Regierung von Ceará beispielsweise, Anreize für die Auswanderung in den Süden bzw. die Amazonasregion zu schaffen. Teilweise wurden ganze Flüchtlingszüge zu den Häfen an der Küste eskortiert und ihre Auswanderung erzwungen. Allein zwischen Januar und Juni 1878 wurden rund 35.000 Menschen von Ceará in die Wälder Parás zum Kautschuksammeln geschickt (VILLA 2000: 62). Dabei war die Praktik der „Entvölkerung der Dürreregion“ (CALOGERAS in NEUFERT 2015: 60) bei der Agraroligarchie nicht unumstritten, befürchteten sie doch, durch den massenhaften Exodus nicht mehr ausreichend billige Arbeitskräfte für die Plantagen und Fazendas zur Verfügung zu haben (NEUFERT 2015: 60f.). 6.2.6.1 Die Dürre als Katalysator von Widerstand Die über die Dürre vermittelte Implosion der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen im Sertão, der fehlende Zugang zu Land und das Unvermögen des Staates, den Niedergang der Region abzuwenden oder aufzufangen führten dazu, dass vie-
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le sertanejos nach alternativen Strategien der Überlebenssicherung suchen mussten. Eine der wenigen Optionen stellten die Banden des Hinterlandes dar, die sich ihren Lebensunterhalt durch Überfälle auf fazendas, Märkte und Händler oder durch das Erpressen von Schutz- und Entführungsgeldern verdienten. Eingeflochten in ein System aus Klientelismus, Korruption und Selbstjustiz standen sie jedoch nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern waren integraler Bestandteil der Gesellschaftsstruktur des Nordostens. Je nachdem in welche Familienfehden sie verwickelt waren und welche strategischen Bündnisse sie mit den lokalen Machthabern eingingen, veränderte sich ihre Position innerhalb der lokalen Machtkonstellationen 6 (SINGELMANN 1975: 66). Entwurzelt durch die Große Dürre schlossen sich einige Dürreflüchtlinge den Banden des Hinterlandes an oder beteiligten sich an Überfällen und Plünderungen, was die Zahl der Banden und deren gesellschaftliche Relevanz im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich erhöhte (GREENFIELD 2001: 49).
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Die Bezeichnung der cangaceiros als Gesetzlose erscheint vor dem Hintergrund der unklaren Verhältnisse als zu stark vereinfachend: „There was nothing intrinsically ‚legal‘ about the operations of the public and private police forces, just as there was nothing intrinsically ‚illegal‘ about the operations of the cangaceiros. Whether or not an individual’s acts were ‚legal’, and whether or not he was considered an outlaw, depended entirely on whether he or his boss was ‘in’ with the dominant political faction. For this reason, many authors have defined police and cangaceiros in the same terms, except for the fact that the police managed to act under the cloak of legality and the cangaceiros did not“ (SINGELMANN 1975: 76). Trotz der notwendigen Relativierung ihrer Aktionen innerhalb des historischen Kontextes erscheint jedoch eine Idealisierung der cangaceiros als ‚ehrliche Räuber‘ und Robin Hoods des Sertão, die den Reichen nahmen und den Armen gaben, ebenfalls unangebracht. Auch die Banden der berühmtesten cangaceiros ANTÔNIO SILVINO oder des zum Volkshelden avancierten VIRGULINO FERREIRA DA SILVA, besser bekannt als Lampião, zogen raubend, mordend und vergewaltigend durch den Sertão. Es ging den cangaceiros weniger um einen Kampf gegen Ungerechtigkeit und für eine andere Gesellschaft, als vielmehr um einen Kampf um die eigene Stellung innerhalb des als ungerecht empfundenen Gesellschaftssystems: „If he complained about social injustice and economic inequities, it was not to change the existing order but to find a place for himself within it. […] If he was a hero, he was an anarchist hero who went out for himself in an anarchic political environment where everybody placed his particular interests above everything else“ (ebd.: 81 f.; s. a. HOBSBAWM 2007).
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Abb. 14: ‚ANTONIO CONSELHEIRO‘, PADRE CÍCERO und LAMPIÃO als Protagonisten (Helden?) der Geschichte – Wandbild im Banco do Nordeste, Fortaleza.
Eine erheblich größere Anziehungskraft als das entbehrliche Leben der cangaceiros übten die religiösen Massenbewegungen im Nordosten auf die verarmten sertanejos aus. Insbesondere um den als charismatisch beschriebenen Wanderprediger ANTONIO VICENTE MENDES MACIEL, der conselheiro (Ratgeber) genannt wurde, und um den katholischen Priester CÍCERO ROMÃO BATISTA, der als PADRE CÍCERO (PADIM CÍÇO) berühmt wurde, scharte sich eine große Anhängerschaft, die in erster Linie aus Landlosen, Tagelöhner_innen, entflohenen Sklav_innen und Überlebenden indigener Gemeinschaften bestand. Die schrecklichen Erfahrungen der Dürrejahre und die verzweifelte Hoffnung auf ein besseres Leben machten viele für die apokalyptischen Visionen eines bevorstehenden Weltuntergangs und die aus der sebastianischen Bewegung stammende Verheißung eines Tausendjährigen Reiches Christi empfänglich. Mit der Deutung der Dürre und des Leidens als Strafe Gottes für das sündige Leben der Menschen wurde es möglich, den schrecklichen Erfahrungen der Dürrejahre einen Sinn zuzuschreiben, und im Mystizismus und im Glauben an Wunder auf Erlösung zu hoffen (DAVIS 2004: 194; SILVA 2006: 104; SINGELMANN 1975: 77). Doch in erster Linie war es die konkrete Umsetzung eines alternativen Gesellschaftsmodells, die die Anziehungskraft der Bewegungen ausmachte. Sowohl
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‚CONSELHEIRO‘ 7 als auch PADRE CÍCERO stellten ihrer Anhängerschaft kostenlos Land zur Verfügung und leiteten sie an, Maniok und Getreide anzubauen. Sowohl die Gegend um Canudos als auch das Cariri-Tal bei Juazeiro im Süden von Ceará boten genügend fruchtbare Böden und ausreichend Wasser, um mehrere Tausend Menschen versorgen und ihnen ein neues Zuhause und neue Zukunftsaussichten bieten zu können. Die Mischung aus praktischer Selbsthilfe und religiösem Halt ließ eine Bewegung entstehen, die als Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem den herrschenden Eliten gefährlich erschien (DAVIS 2004: 194). Doch während der Laienprediger ‚ANTONIO CONSELHEIRO‘ sowohl von der Katholische Kirche als auch von den lokalen Großgrundbesitzern und der Nationalregierung als Gefahr für die bestehenden Machtstrukturen angesehen, bekämpft und vernichtet wurde (S. Kap. 5.4.1), gelang es PADRE CÍCERO durch geschicktes Taktieren und durch das Aushandeln von Allianzen mit den lokalen (und gläubigen) Großgrundbesitzern, das gleiche Schicksal von seinen Anhänger_innen abzuwenden und zu einem der einflussreichsten Männer in Ceará zu werden. Er versorgte die umliegenden Fazendas mit billigen Arbeitskräften, ließ sich zum Bürgermeister von Juazeiro do Norte wählen und schaffte es, mit dem pacto dos coronéis eine Einigung unter den lokalen Eliten herzustellen. „The absolute control of the padre over these masses made him the dominant political figure among the coronéis of the region, and thereby the single most powerful man in the state“ (SINGELMANN 1975: 77).
Das Erstarken des Banditentums und das Aufkommen der messianistischen Bewegungen stellten somit keine spontanen Erscheinungen dar, sondern können als Bestandteil der Aushandlungsprozesse um sich neu herausbildende Machtstrukturen gesehen und insbesondere im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Naturverhältnissen verstanden werden. 6.2.6.2 Institutionalisierung der Dürrebekämpfung: A fase hidráulica Mit der Großen Dürre und den aus ihr resultierenden katastrophalen Auswirkungen für die gesamte Region, dem wirtschaftlichen Niedergang und den gesellschaftlichen Umwälzungen, wurde der Agraroligarchie bewusst, dass ohne verstärkte staatliche Eingriffe das bestehende System nicht erhalten werden konnte. Somit drängten sie die Zentralregierung in Rio de Janeiro immer vehementer dazu, die Maßnahmen gegen die Dürre auszuweiten und zu verstetigen. So konnte in der Verfassung der neu gegründeten Republik von 1891 die Verpflichtung des Nationalstaates verankert werden, den Bundesstaaten im Falle einer Naturkatastrophe Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen (VILLA 2000: 88 f.). Das Einklagen 7
Insbesondere DAWID BARTELT (2003: 165) weist darauf hin, dass die Bezeichnung ‚ANTONIO CONSELHEIRO‘ eher auf eine Konstruktion der Medien des frührepublikanischen Brasiliens als auf den Menschen ANTONIO VICENTE MENDES MACIEL verweist. Somit schlägt TIM NEUFERT (2015: 152) beispielsweise vor, ‚ANTONIO CONSELHEIRO‘ stets in Anführungsstrichen zu verwenden, um diese Konstruktion zu markieren.
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der Gelder für die Dürrebekämpfung wurde im Folgenden zu einer der mächtigsten Waffen der Vertreter der nördlichen Bundesstaaten in den parlamentarischen Auseinandersetzungen um die knappen nationalstaatlichen Mittel (ALBUQUERQUE JÚNIOR & HALLEWELL 2004: 46). 40 Jahre und etliche Dürren (insb. 1915, 1932) später konnte 1934 im sogenannten Código da Água (Wassergesetz) der Anteil der Ausgaben für die Dürrebekämpfung sogar auf mindestens vier Prozent der nationalen Steuereinnahmen verfassungsrechtlich festgeschrieben werden (SILVA 2006: 51; VILLA 2000: 160 f.). Nach den Erfahrungen der Großen Dürre sollten nun die kurzfristigen, immer nur reaktiven Maßnahmen der Dürrebekämpfung durch eine strukturelle Vorgehensweise ersetzt werden. Der als solução hidráulica (hydraulische Lösung) benannte Ansatz setze in erster Linie auf die Ausweitung der Wasserverfügbarkeit über den Bau von Staudämmen und Staubecken (açudes), die Umleitung von Flüssen, das Anlegen von Kanälen und das Bohren von Brunnen. Dies knüpfte auch an Pläne für eine Flussableitung des Rio São Francisco in weiter nördlich gelegenen Regionen, insbesondere in das Flusssystem des Rio Jaguaribe an, die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts entworfen wurden (s. Kap. 10.3.1) (CARVALHO 1988: 207; HALL 1978: 5; RIBEIRO 2008; SILVA 2006: 39, 45; NEUFERT 2015: 47). Auch wenn eine nationale Untersuchungskommission, die 1877 ins Leben gerufen wurde, viel weitreichendere Maßnahmen erarbeitete – neben dem Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnlinien, Häfen) schlug sie die Errichtung eines Netzes von meteorologischen Stationen, ein Wiederaufforstungsprogramm, neue Landnutzungsmethoden (Fischzucht, Trockenfeldbau, Anbau trockenresistenter Pflanzen, Schaf- und Ziegenzucht) und den Ausbau der Bewässerungslandwirtschaft vor –, gingen die Maßnahmen über die Ausweitung der Wasserspeicherkapazität normalerweise nicht hinaus (SILVA 2006: 45; HALL 1978: 5). Nach der Gründung, Zusammenführung und Auflösung zahlreicher Kommissionen und Unterkommissionen wurde 1909 die Inspectoria de Obras Contra as Secas (IOCS) (Aufsichtskommission der Arbeiten gegen die Dürren) nach dem Vorbild des nordamerikanischen United States Reclamation Service gegründet. Hauptaufgabe der neuen Institution, die ihren Sitz zunächst bezeichnenderweise in Rio de Janeiro hatte und lange Jahre als größtes staatliches Unternehmen Lateinamerikas galt (MALVEZZI 2012), bestand darin, die Maßnahmen gegen die Dürre zu bündeln und zu zentralisieren. Dafür wurden zunächst zahlreiche Studien zu den klimatischen, geologischen, topographischen und hydrologischen Konditionen der Region angelegt, die zumeist bezeichnenderweise von US-amerikanischen und europäischen Wissenschaftler_innen geleitet wurden (MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 31 f., BJØRGUM 2008: 40, SILVA 2006: 48). Trotz zahlreicher Studien und unzähliger Debatten über den Nordosten und über die Maßnahmen gegen die Dürre wurden zunächst kaum Fortschritte beim Ausbau der Wasserinfrastruktur erzielt. Die finanziellen Mittel, die der IOCS zur Verfügung standen, wurden von 1,3% des nationalen Haushaltes (1912) auf 0,9% (1914) zusammengeschrumpft (vgl. Abb. 15) (VILLA 2000: 102). Fehlende Finanzmittel, schlecht ausgebildete Techniker, minderwertiges Material, von außen aufgestülpte Konzepte und eine fehlende Abstimmung mit den lokalen Gemeinden trugen zum Scheitern
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der Akkumulationsstrategie bei. Als 1915 die Niederschläge ein weiteres Mal ausblieben und sich eine weitere Katastrophe im Nordosten abzeichnete, wurde deutlich, wie wenig sich an den grundsätzlichen Problemen der Region verändert hatte.
Abb. 15: Finanzmittel der IOCS (IFOCS) 1909–1930.
EPITÁCIO PESSOA und die Entstehung der Dürreindustrie Die Vernachlässigung der Dürreproblematik und die Unterfinanzierung der IOCS änderten sich jedoch schlagartig, als 1919 mit EPITÁCIO PESSOAS das erste Mal ein Politiker aus dem Nordosten (Paraíba) zum Präsidenten der Republik gewählt wurde. Bereits in seiner ersten Botschaft an den Kongress erklärte er die Bekämpfung der Dürre zur primären Herausforderung seiner Amtszeit und kündigte ein umfassendes Programm von Dürremaßnahmen an (VILLA 2000: 127f.). Und tatsächlich schien er es mit der Umsetzung der Maßnahmen ernst zu meinen: Der Etat der noch von seinem Vorgänger DELFIM MOREIRA aufgewerteten und zur IFOCS (Inspetoria Federal de Obras Contra as Secas) umbenannten Behörde zur Dürrebekämpfung wurde während seiner Amtszeit von 6.135 Contos de Réis (1919) auf 95.166 Contos de Réis (1922) um ein Vielfaches erhöht (MEDEIROS FILHO 1987: 38; s. Abb. 15) 8 und erreichte 1921/22 einen bis dahin unvorstellbaren Anteil von 15% an den nationalen Staatseinkünften (NEUFERT 2015: 263). Gleichzeitig wurde eine Sonderkasse für Bewässerungsprojekte eingerichtet und die Kompetenzen des Finanzministers für eine schnellere Mittelvergabe erhöht 8
Andere Quellen geben den Etat von 1922 mit 142.000 (HALL 1978: 5) oder sogar mit 145.947 Contos de Réis an (NEUFERT 2015: 263).
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(ebd.). Das Resultat der Regierungsanstrengungen zur Dürrebekämpfung kann sich laut MARCO ANTONIO VILLA (2000: 133) auch durchaus sehen lassen: Allein in den Jahren 1920–22 wurden 291 km Eisenbahnschienen fertig gestellt und weitere 405 km vorbereitet, 500 km Straßen gepflastert und weitere 2.200 km befahrbar gemacht, ein Telegraphennetz im Nordosten errichtet, die Häfen reformiert, 230 Staubecken angelegt und Hunderte Brunnen gebohrt – mehr als in all den Jahren zuvor. Eine differenziertere Analyse der Dürremaßnahmen lässt jedoch ein anderes Bild zum Vorschein kommen: So wurde das Straßennetz nicht flächendeckend, sondern vor allem im Bundesstaat Paraíba, dem Heimatstaat des Präsidenten, ausgebaut (NEUFERT 2015: 288). Die Streckenführung der Eisenbahnlinien wurde in erster Linie an die Interessen der lokalen Machthaber angepasst, anstatt eine bessere Anbindung der am stärksten bevölkerten und von der Dürre betroffenen Regionen zu ermöglichen (ebd.: 304). Das große Prestigeprojekt Pessoas, der Bau eines internationalen Hafens in der paraibanischen Hauptstadt, wurde zum größten Skandal seiner Amtszeit. Gegen den Rat der beteiligten Ingenieure, die den Ausbau eines in der Nähe befindlichen natürlichen Hafenbeckens empfahlen, sollte direkt in der Hauptstadt ein riesiger Flusshafen entstehen. Mit einem Budget von 30.000 Contos verschlang der Hafenbau einen erheblichen Anteil der Dürregelder, ohne jedoch jemals fertig gestellt zu werden. Erst viele Jahre später wurde der Hafen – dann allerdings in der empfohlenen Bucht Cabedelo – wirklich umgesetzt (ebd.: 308ff.). Auch die Bilanz des Ausbaus der Wasserinfrastruktur stellt sich bei genauerer Betrachtung als wesentlich negativer dar. Viele der in den Statistiken aufgeführten Bauprojekten waren lediglich auf dem Papier vorhanden (obras fantasmas) (ebd.: 304). Von den 29 öffentlichen Staudammprojekten wurden nur acht in Angriff genommen; die übrigen 21 kamen über einen Planungsstadium nie hinaus (ebd.: 268–269). Da der staatlich subventionierte Bau von Brunnen auf Privatgrundstücken an eine finanzielle Selbstbeteiligung der Landbesitzer gekoppelt war, kam er nur einer kleinen Agrarelite zugute, während der Großteil der Bevölkerung von den Maßnahmen ausgeschlossen blieb (ebd.: 302). Kernstück der Dürrebekämpfungsmaßnahmen sollte eine Ausweitung der Bewässerungslandwirtschaft nach US-amerikanischem Vorbild sein. Doch während in den USA die Bewässerungsflächen in kleine Parzellen unterteilt und verpachtet wurden, verhinderten die seit der Kolonialzeit etablierten, ungleichen Besitzverhältnisse im Nordosten Brasiliens eine ähnliche Vorgehensweise. Nur über Enteignungsmaßnahmen und der Vergabe von Land an Kleinbäuer_innen – und somit letztendlich über eine Agrarreform – wäre eine Bewässerungspolitik als Mittel zur Bekämpfung von Armut und als Grundlage für die Entstehung einer kleinparzellierten Bewässerungslandwirtschaft möglich gewesen. Doch dies war weder gewollt noch vorgesehen. Auch im sogenannten Lei Epitácio Pessoa von 1919 wurde die Möglichkeit von Verstaatlichungen auf das für die Bauten notwendige Land und auf brachliegende Ländereien begrenzt. Da oftmals selbst die an die Bewässerungsbauten angrenzenden Flächen in Privatbesitz blieben, führte diese
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Art der Bewässerungspolitik letztendlich zu einer Privatisierung staatlicher Anlagen und zu einer Aufwertung der Ländereien der Großgrundbesitzer (ebd.: 270 f.). Auch wenn der enorme Anstieg der Finanzmittel zur Dürrebekämpfung beindruckend erscheint und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Bedingungen im semiariden Nordosten suggeriert, ist eine Bewertung der Politik PESSOAS letztendlich nur anhand einer Analyse ihrer Auswirkungen möglich. Aus den vorangehenden Beschreibungen wird bereits deutlich, dass in erster Linie die herrschende Agrarelite vom Ausbau der Verkehrs- und Wasserinfrastruktur profitierte. Dass dies keine fehlgeleitete Entwicklung von an sich für die notleidende Bevölkerung gedachten Hilfsmaßnahmen, sondern das eigentliche Ziel der Politik PESSOAS darstellte, zeigte sich bereits 1915, als sich PESSOA im Kongress dafür einsetzte, den Wortlaut eines Gesetzesvorhabens von „Hilfeleistungen für die von der Dürre betroffenen Menschen“ in „Hilfeleistungen für die von der Dürre heimgesuchten Staaten“ zu ändern. An den schließlich verabschiedeten Gesetzestext, in dem „direkte und indirekte Hilfeleistungen für die Betroffenen der Dürre“ benannt werden, setzte Pessoa noch den Zusatz: „bestehend aus Bautätigkeiten und Arbeitsdiensten“ durch (NEUFERT 2015: 229). Dadurch konnte sicher gestellt werden, dass die Finanzmittel nicht an die Dürreopfer direkt ausgezahlt werden müssen, sondern von den einzelnen Bundesstaaten und Munizipien verwaltet werden. Der Bevölkerung sollten die Maßnahmen lediglich indirekt über den Ausbau der Infrastruktur und über ihren Einsatz in den Arbeitsdiensten zugutekommen. Somit war den Mechanismen, die später als indústria da seca (Dürreindustrie) bezeichnet wurden (s. Kap. 6.5.3) Tür und Tor geöffnet. Es entstand ein System, das eine ‚Ableitung‘ der Gelder zur Dürrebekämpfung – über hohe Kommissionszahlungen, gefälschte Lohnquittungen, manipulierte Lieferscheine, vorgetäuschte Bautätigkeiten etc. – in die Taschen der Agraroligarchie ermöglichte (ebd.: 304). Gerade aufgrund der Höhe der aufgewendeten Finanzmittel entwickelten sich die Maßnahmen zur Dürrebekämpfung in ein lukratives Geschäftsfeld, über das die bestehenden klientelistische Strukturen verstärkt und die Macht der Agraroligarchie gefestigt wurde. Die eigentlichen Verlierer dieser Politik waren die Kleinbäuer_innen und die besitzlose Bevölkerung des ländlichen Raumes. Nicht nur, dass sie von den meisten Maßnahmen ausgeschlossen blieben, während die Großgrundbesitzer ihre wirtschaftliche und politische Macht weiter ausbauen konnten. Darüber hinaus wurde für viele die Arbeit in den Arbeitsdiensten zum Ausbau der Infrastruktur bei schlechter Bezahlung und unter prekären Bedingungen zur einzigen Alternative des Einkommenserwerbs (s. Kap. 6.5.3.3). Das Nordostprogramm, das Pessoa mit einer „Ehrenschuld gegenüber den armen Bewohnern des Sertão, welchen es an fast allem fehlt“ (ebd.: 232) rechtfertigte, führte somit letztendlich zu einer weiteren Ausbeutung der ländlichen Arbeitskräfte und zu einer Verfestigung der Ungleichheitsstrukturen. Nach den Erfahrungen der Großen Dürre Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die staatlichen Interventionen im Laufe der Jahre von einzelnen Hilfsmaßnahmen in eine Institutionalisierung der Dürrebekämpfung und schließlich in „ein systematisches Instrument zur zentralstaatlichen Förderung der Agrarelite“
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(ebd.: 366). In diesem Zusammenhang kann die Dürrepolitik von EPITÁCIO PESSOA, der nach wie vor als „Wohltäter gerade der einfachen, armen Bevölkerung“ (ebd.: 37) verehrt wird, nicht als gut gemeinter aber gescheiterter Versuch der Dürre- und Armutsbekämpfung und der Veränderung der Ungleichheitsverhältnisse im Nordosten Brasiliens verstanden werden. So arbeitet TIM NEUFERT in seiner Dissertation zu EPITÁCIO PESSOA anschaulich heraus, dass dieser nicht an den Machtinteressen der Agrarelite des Nordostens scheiterte, sondern vielmehr selbst Teil der Agraroligarchie war und seine Politik von Anfang an auf diese ausgerichtet hatte (ebd.: 346). 6.2.7 Dürre als Diskurs In seiner Doktorarbeit analysiert ROBERTO SILVA (2006) aus einer historischen Perspektive, wie die Dürre im Nordosten in Studien aus dem 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhandelt wird. In weit über der Hälfte der Studien (62% von 71 untersuchten Arbeiten) werden die klimatischen Ursachen der Dürre untersucht, aber auch die physisch-geographischen (32%), hydrographischen (25%) und ökologischen (22%) Bedingungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden auch soziologische Analysen Eingang in die Studien, wobei darin weniger soziopolitische Ursachen als vielmehr die sozialen Auswirkungen der Dürren beschrieben werden (SILVA 2006: 93 ff.). Tab 3: Vorschläge zur Bearbeitung der Dürre in der semiariden Region (18.–20. Jh.).
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Doch neben den wissenschaftlichen spielen auch die politischen Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle bei der Produktion von Wissen über die Ursachen und Wirkungsweisen der Dürren im Nordosten. Die Untersuchung der Parlamentsdebatten verdeutlichen laut SILVA, dass die Ursachen für die Dürre allein der Natur zugwiesen werden, um somit anhand von reduktionistischen Erklärungen die Dürre als einzige Schuldige für das Drama im Nordosten ausmachen zu können (ebd.: 94). Durch die in den wissenschaftlichen Studien vorgeschlagenen Lösungsansätze wird der Glaube an die Beherrschung der Natur über Wissenschaft und technologische Innovationen deutlich. In erster Linie werden in den Studien der Ausbau der Wasser- bzw. der Verkehrsinfrastruktur (63%, bzw. 30%) und die Einführung der Bewässerungslandwirtschaft (28%) und des Trockenfeldbaus (21%) empfohlen (s. Tab 4). Forderung nach einer Bodenreform und nach einem gerechteren Zugang zu Wasser sucht man in den Studien hingegen vergeblich (ebd.: 95). Positivismus als hegemonialer Diskurs Der Glaube an die Lösung der Probleme im Sertão allein über die Erhöhung der Wasserspeicherkapazität und das fast blinde Vertrauen in die modernen (Natur)Wissenschaften und (Ingenieurs)Techniken müssen vor dem Hintergrund der in Brasilien vorherrschenden Ideologie Ende des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Insbesondere in den Militärakademien des Landes hatten sich – vor allem über den einflussreichen Vordenker BENJAMIN CONSTANT – die Ideen des Positivismus französischer Schule durchgesetzt. Mit dem Sturz der Monarchie und der Machtübernahme durch die Militärs fand das positivistische Gedankengut in weiten Teilen vor allem der jungen brasilianischen Elite großen Anklang. In Abgrenzung zum konservativen Katholizismus und in Ablehnung von Theologie und Metaphysik beruhte das Selbstverständnis der neu gegründeten Republik auf den Ideen von universellen Gesetzmäßigkeiten und (wissenschaftlichem) Fortschritt. Bis heute zeugt die Losung ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) auf der brasilianischen Nationalflagge von dieser Gründungsmythologie der brasilianischen Republik (WINK 2008: 211 ff.; GALVÃO 1994: 6). Nach den Ideen der europäischen Aufklärung sollte die Wissenschaft, insbesondere die vermeintlich objektive Naturwissenschaft, die Grundlagen und Werkzeuge für die Entwicklung Brasiliens hin zu einer modernen, industrialisierten und v. a. zivilisierten Nation nach dem Vorbild Europas liefern (OLIVEIRA 2004: 31). Der Positivismus wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einem hegemonialen Diskurs, der die notwendigen Begrifflichkeiten, Verknüpfungsregeln und Kausalitäten bereitstellte, um die Rückständigkeit des Landes benennen und die Zukunft des Landes vorzeichnen zu können. Wichtiger Bestandteil dieses Diskurses war der Dualismus zwischen Rückständigkeit, Unterentwicklung und Barbarei auf der einen und Fortschritt, Entwicklung und Zivilisation auf der anderen Seite. In dieser einfachen Gegenüberstellung standen der Sertão und die sertanejos geradezu prototypisch für die Unzivilisiertheit Brasiliens. Die Dürren galten als Paradebei-
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spiel für die Rückständigkeit der Nation (vgl. Kap. 5.4.1). Gleichzeitig bestand der feste Glaube daran, mit Hilfe der modernen Wissenschaft und neuen Technologien über die Natur triumphieren und Brasilien auf das Niveau der europäischen Staaten heben zu können (GREENFIELD 2001: 14). Die Vorschläge und Projekte der solução hidráulica können demnach als direkter Ausdruck des positivistischen Diskurses angesehen werden. Der Nordosten wurde zu einem technischen Problem, das von Wissenschaftler_innen, Ingenieur_innen und Planer_innen zu lösen sei. Dadurch wurden jedoch die sozialen und politischen Strukturen und Prozesse und die unterschiedlichen Akteure, Interessens- und Machtkonstellationen aus den Überlegungen ausgeschlossen. Die Studien der IOCS und der IFOCS brachten zwar viele wertvolle Erkenntnisse über die klimatischen Verhältnisse, die Böden und die Hydrologie des Nordostens, die sozio-ökonomischen Bedingungen der Dürre und Fragen nach deren Bearbeitung blieben jedoch weiterhin ausgeblendet (PAULINO 1992: 110; OLIVEIRA 1981: 51). 6.3 BRUCHLINIE II: SUDENE – ENTWICKLUNG DURCH PLANUNG 6.3.1 Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse Die Institutionalisierung der Dürrebekämpfung und die Fokussierung auf ingenieurstechnische Ansätze hatten in erste Linie zu einer Stabilisierung und Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse im Nordosten geführt. Doch spätestens mit den Dürren in den 1950er Jahren, insbesondere der Dürre von 1958, war das Scheitern der Strategie der Wasserakkumulation offensichtlich geworden. In mehr als 200 Stauwehren konnten mittlerweile über 6,7 Mrd. m3 Wasser gespeichert werden, während Hungerkatastrophen, Elend, der Tod der Viehherden, Massenmigration und Plünderungen auch weiterhin das Bild des Nordostens prägten (MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 39 f.; HALL 1978: 7). Die aufgestauten Wassermengen hatten zu keinen strukturellen Veränderungen geführt, sondern dienten lediglich dazu, „[...] refletir o brilho maravilhoso das estrelas que enfeitam o céu do Nordeste 9“ (Abgeordneter HERMES LIMA in VILLA 2000: 177). Gleichzeitig führten die anhaltend schlechten Lebensbedingungen und die Verhinderung struktureller Reformen zu einer zunehmenden Organisation des ländlichen Widerstandes. Mit der Unterstützung der Kommunistischen Partei entstanden in den 1940er Jahren die sogenannten ligas camponesas (Bauernligen), die sich von Pernambuco ausgehend im ganzen Nordosten verbreiteten und in erster Linie für die Durchführung einer Agrarreform kämpften. Mit dem Erstarken der ligas camponesas erschien die (ländliche) Unterschicht zum ersten Mal in der Geschichte des Nordostens als eigenständiger politischer Akteur und stellte somit den bestehenden pax agrarie in Frage (OLIVEIRA 1981: 107). Gemeinsam mit der Kommunistischen Partei organisierten die Bauernligen im August 1955 den 9
„den schönen Glanz der Sterne, die den Himmel des Nordostens schmücken, zu reflektieren“ (Abgeordneter HERMES LIMA in VILLA 2000: 177; eigene Übersetzung).
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Congresso de Salvação do Nordeste (Kongress zur Rettung des Nordostens), auf dem das Projekt eines regionalen Entwicklungsmodells, wie es später von CELSO FURTADO aufgegriffen wurde, diskutiert wurde (CARVALHO 1988: 225). Zu einem wichtigen Akteur und Unterstützer der Landarbeiter_innen wandelte sich die Katholische Kirche, die auch aus Angst vor einer Ausbreitung des Kommunismus und vor dem Verlust des Einflusses auf die ländliche Bevölkerung ihre traditionellen Allianzen mit der Agraroligarchie zumindest in Teilen aufgab. So wird in einem offiziellen Dokument der katholischen Kirche von 1950, in dem die Landfrage in Brasilien diskutiert wird, davor gewarnt, nach dem Verlust der Arbeiter nun auch noch die Bauern auf dem Land zu verlieren (NETO 2009: 2). Die Unterstützung der ländlichen Arbeiter_innen und einer moderaten Landreform war somit immer auch der Versuch der Kirche, die Organisation der Bäuer_innen zu kontrollieren und kommunistisches Gedankengut zurückzudrängen (ebd.: 3). Jenseits der hierarchischen Kirchenstrukturen gab es jedoch zahlreiche gemeinsame Aktionen von Christ_innen, Kommunist_innen und Bauernligen, wobei sowohl befreiungstheologische als auch kommunistische Ansätze eine wichtige Rolle spielten. So zitierte beispielsweise FRANCISCO JULIÃO, einer der Führungspersonen der Ligas Camponesas, in seinen Reden sowohl MAO TSE TUNG und FIDEL CASTRO als auch verschiedene christliche Heilige und Theologen (ebd.). Zu den Befürworter_innen einer Modernisierung des Nordostens gesellten sich neben Vertretern der Katholischen Kirche und einigen progressiven Parteien auch Vertreter_innen des industriellen Bürgertums aus dem Süden Brasiliens, für die es „praktisch unmöglich erschien, im Nordosten zu operieren 10“ (ASSOCIAÇÃO COMERCIAL DE SÃO PAULO in PAULINO 1992: 68; eigene Übersetzung). Somit plädierten sie für eine verstärkte Integration des Nordostens in das nationale Wirtschaftssystem (OLIVEIRA 1981: 118). Die steigenden Spannungen auf dem Land und das Risiko der Übertragung des Widerstandes auf die Bewegungen in den Städten, die Heraufbeschwörung der Gefahr einer kommunistischen Revolution nach kubanischem Vorbild und die zunehmenden Bewaffnung der Großgrundbesitzer, um Besetzungen im Notfall auch gewaltsam zu verhindern, verwandelten den Nordosten in ein international beachtetes Krisengebiet. So sprachen die Vereinten Nationen von einem „explosiven Gebiet“ (área explosiva) (COSTA 2005: 58), und die brasilianische Regierung benannte den Nordosten als ‚Pulverfass‘ (ebd.: 60). Die zumindest wahrgenommenen Bedrohungen des ‚sozialen Friedens‘, gemeinsam mit den Forderungen nach einer Öffnung des Nordostens für die Ausbreitung des Industriekapitals aus dem Süden führten zu einer veränderten und aktiveren Rolle des Staates. Dies machte sich in erster Linie in einer Ausweitung staatlicher Funktionen und einer zunehmenden Institutionalisierung gesellschaftlicher Regulierungsweisen bemerkbar. Bereits 1945 wurde die IFOCS umstrukturiert und zur DNOCS (Departamento Nacional de Obras contra as Secas) umbenannt und gleichzeitig die Companhia Hidroeléctrica do São Francisco (CHESF) für die Ausweitung der 10 „[...] sendo practicamente impossível que se opere no Nordeste [...]“ (ASSOCIAÇÃO COMERCIAL DE SÃO PAULO in PAULINO 1992: 68).
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Energiegewinnung gegründet. In der Verfassung von 1946 wurde die Bedeutung des São Francisco für die regionale Entwicklung verankert, woraufhin 1948 die Comissão do Vale do São Francisco (CVSF) nach dem Vorbild der nordamerikanischen Tennessee Valley Authority ins Leben gerufen wurde, um die Regulierung des São Francisco und seiner Zuflüsse, die Nutzung des Energiepotentials und die Bewässerungslandwirtschaft voranzutreiben. Wichtigste Neuerung war jedoch die Gründung des Banco do Nordeste do Brasil (BNB) als erste regionale Entwicklungsbank Brasiliens. Die Aufgaben der Bank bestanden jedoch nicht nur in der Finanzierung von Industrien und Agrarunternehmen und der Kreditvergabe für Infrastrukturprojekte, sondern auch darin, Forschungen über die Region anzustellen und Führungskräfte auszubilden. Die fortschreitende Institutionalisierung kann dabei als Ausdruck eines veränderten Verständnisses der Rolle der Regionalpolitik verstanden werden, die sich von einer defensiven Krisenbewältigungsstrategie hin zu einer aktiven Strategie der Entwicklungsplanung wandelte. Für die Analyse der Probleme des Nordostens und deren Überwindung wurde von Präsident JUSCELINO KUBITSCHEK der Grupo de Trabalho para o Desenvolvimento do Nordeste (GTDN) unter der Leitung des renommierten Ökonomen CELSO FURTADO eingesetzt, deren Schlussfolgerungen 1959 letztendlich zur Gründung der regionalen Entwicklungsagentur SUDENE (Superintendência do Desenvolvimento do Nordeste) führten (SILVA 2006: 56; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 63; MONTE 2005: 96; CARVALHO 1988: 225; SOUZA & MEDEIROS FILHO 1983: 81 ff.). 6.3.2 Diskursverschiebung über den Entwicklungsdiskurs Der Bericht „Uma Política de Desenvolvimento para o Nordeste 11“, der hauptsächlich von CELSO FURTADO für die GTDN verfasst wurde, gilt als erste allumfassende Analyse der strukturellen Gründe und globalen Verwobenheiten der Probleme im Nordosten (SILVA 2006: 139). Auch wenn die Politik der Dürrebekämpfung und die Praktiken der Bereicherung der lokalen Eliten schon länger in der öffentlichen Kritik standen und mit der Umstrukturierung der staatlichen Interventionspolitik bereits institutionelle Veränderungen eingeleitet worden waren, kann der Bericht dennoch als sichtbarster Ausdruck einer diskursiven Verschiebung hinsichtlich der Dürreproblematik im Nordosten verstanden werden. Dabei füllte der Ökonom CELSO FURTADO, der an der UFRJ in Rio de Janeiro und an der Sorbonne in Paris studiert und zwischen 1949 und 1957 als einer der führenden Theoretiker der CEPAL (Comissão Econômica para a América Latina) die Entwicklung der Dependenztheorie vorangetrieben hatte, eine wesentliche Sprecherposition aus, die durch den sich verändernden Diskurs zur Verfügung gestellt wurde. Gleichzeitig prägte FURTADO den Diskurs maßgeblich. Er kann somit sowohl als Produkt als auch als wichtiger Protagonist des Diskurses verstanden
11 Eine Entwicklungspolitik für den Nordosten.
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
werden, mit dessen Namen bis heute ein ganz bestimmtes Entwicklungsverständnis verbunden wird. Die Verschiebung des regionalen Dürrediskurses kann in erster Linie auf Anknüpfungen und Überschneidungen mit nationalen und vor allem internationalen Strängen eines Entwicklungsdiskurses zurückgeführt werden, der vor dem Hintergrund des erfolgreichen Wiederaufbaus Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges und einer sich abzeichnenden Blockkonfrontation innerhalb einer (post)kolonialen Weltordnung wirkmächtig wurde. Neben einem Modernisierungsdiskurs, bei dem das Entwicklungsversprechen eng mit Vorstellungen von Modernität, Technik und Wachstum verbunden war, erstarkten insbesondere in Lateinamerika und vorangetrieben von der CEPAL strukturalistische Ansätze, bei denen die historischen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse in den Mittelpunkt der Überlegungen rückten und eine Abkopplung und eigenständige Entwicklung der Länder der Peripherie gefordert wurden. Trotz der – auch von ihrer theoretischen Basis her – sehr unterschiedlichen Diskursstränge war der Entwicklungsdiskurs jedoch grundsätzlich auf das Ziel einer modernen Industriegesellschaft ausgerichtet, was sich auch im sogenannten FURTADO-Report deutlich äußerte. Die Reduzierung der Abhängigkeitsverhältnisse mit dem Weltmarkt, die Überwindung des Status als Agrarexporteur innerhalb der internationalen Arbeitsteilung und eine eigenständige Entwicklung im Sinne einer Modernisierung und Industrialisierung des Nordostens sind somit die Hauptpfeiler des für den Nordosten vorgeschlagenen Entwicklungsweges (COY 2005: 741; SILVA 2006: 135 ff.; BJØRGUM 2008: 42–43; COSTA 2005: 58). Die im positivistischen Diskurs wirkmächtige Dichotomie zwischen rückständig und modern wird im Entwicklungsdiskurs der 1950er Jahre in die Kategorien unterentwickelt und entwickelt übersetzt, wobei der ländliche Raum und die kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft die Kategorie der Unterentwicklung, der urbane Raum, die Bewässerungslandwirtschaft und die Industrieentwicklung die Kategorie der Entwicklung zugewiesen bekommen (TEIXEIRA 2010: 84–85; vgl. auch ZIAI 2006: 36 ff.). Indem der Nordosten jedoch als unterentwickelt und peripher benannt wird, rücken historische und sozioökonomische Zusammenhänge in den Vordergrund. Somit kann die Dürre nicht länger als einzige Ursache für die Rückständigkeit der Region fungieren (MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 61). Mit dem Bericht des GTDN wurde den Problemen der Region ihre Natürlichkeit genommen. Somit lag die Lösung nicht länger in den Händen der Ingenieure und in der weiteren Akkumulation von Wasser, sondern wurde in die Sphäre des Sozialen und der Politik verlagert. FURTADO „tirou a responsabilidade das nuvens e colocou-a nas políticas 12“ (SILVA 2006: 131).
12 „nahm den Wolken die Verantwortung und gab sie den Politiken“ (SILVA 2006: 131; eigene Übersetzung).
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6.3.2.1 Lösungsansätze für den Nordosten: Entwicklung statt Veränderung Im Zentrum der Lösungsvorschläge für eine Entwicklung des Nordostens stand eine staatlich geplante und gelenkte Industrialisierung nach dem Vorbild der Entwicklungen im Südosten des Landes. Die Steigerung der industriellen Produktion und der Ausbau der Infrastruktur sollten die Basis für die Etablierung eines internen Marktes und die Steigerung der Konsumrate darstellen. Im ersten Entwicklungsplan (Plano Diretor) der SUDENE standen Investitionen in den Bereichen Elektrifizierung, Transport, Nutzung der Wasserressourcen, Restrukturierung der ländlichen Wirtschaft, Verbesserung der Versorgungsstrukturen, Bildung, Gesundheit, Wasserver- und -entsorgung und die Industrialisierung im Vordergrund (SILVA 2006: 142). Der Nordosten wurde nach wie vor als Hindernis der Wirtschaftsentwicklung Brasiliens angesehen. Somit bestand eines der vorrangigsten Ziele der Entwicklungsanstrengungen in der Integration der Region in die Nationalökonomie. Integration bedeutete gleichzeitig aber auch, die ländliche Bevölkerung, die größtenteils außerhalb kapitalistischer Marktstrukturen lebte, als Konsument_innen in das Wirtschaftsleben einzubeziehen. In Anlehnung an die in den 1950er Jahren aufkommende Theorie der Entwicklungspole von FRANÇOIS PERROUX, sollten im Nordosten in Abhängigkeit von natürlichen Bedingungen und strategischen Überlegungen bestimmte Regionen zu Entwicklungspolen ernannt und dort der Ausbau der Infrastruktur besonders gefördert werden (SILVA 2006: 61; 66; FREITAS 2010: 52; CHACON 2007: 76–77). Auch der Agrarsektor sollte einer Modernisierung und Industrialisierung unterzogen werden. Wichtigster Bereich stellte hierbei die Förderung einer modernen Bewässerungslandwirtschaft dar, durch die auf der Basis neuester Bewässerungstechnologien und modernster Organisationsstrukturen die Rückständigkeit des ländlichen Raumes überwunden werden sollte. Insbesondere im Bereich der Bewässerungslandwirtschaft sollte die Idee der Förderung sektoraler Entwicklungspole umgesetzt werden, wobei sowohl das Tal des São Francisco als auch des Jaguaribe Flusses im Osten von Ceará als agroindustrielle Entwicklungspole ausgewiesen wurden. Mit dem Bewässerungsgesetz von 1959 (Lei de Irrigação) sollten die Bedingungen für die Implementierung der Bewässerungslandwirtschaft im Nordosten auf einer Fläche von rund 250.000 Hektar geschaffen werden. Da jedoch die Umsetzung der Bewässerungspläne die Möglichkeit einer Enteignung implizierte, artikulierte sich der Widerstand gegen die Bewässerungspolitik ein weiteres Mal. Letztendlich scheiterte der Gesetzesentwurf am Widerstand der Agraroligarchie im Nationalkongress. Das Bewässerungsgesetz wurde somit zur ersten großen Bewährungsprobe der neuen Entwicklungspolitik und zu ihrer ersten großen Niederlage (MONTE 2005: 173–174; SOARES 2002: 91–92; FREITAS 2010: 52). Im Rückblick auf die Anfänge der SUDENE erklärte CELSO FURTADO 2003 in einem Interview, dass sie damals der Illusion unterlegen waren, unter der populären Regierung von JUSCELINO KUBITSCHEK Veränderungen der Agrarstruktur herbeiführen zu können:
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse „a primeira coisa que fizemos na Sudene foi um projeto de lei de reforma agrária disfarçado de uma lei de irrigação. Era preciso aproveitar melhor as terras irrigadas, e nós começamos a reforma agrária por aí. Isso foi levado a sério. Só que as forças reacionárias bloquearam tudo isso. Não foi possível tocar no problema agrário, que é o mais grave no Nordeste, sem dúvida nenhuma 13“ (FURTADO in AGÊNCIA BRASIL).
Auch im Bericht der GTDN wurde eine explizite Erwähnung einer Agrarreform vermieden. Vielmehr wurde für eine Reorganisation der Landwirtschaft und für die Einführung von kollektiven Wirtschaftsweisen und Kooperativen plädiert. Anstelle eine gerechtere Verteilung des Landbesitzes in Angriff zu nehmen und die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen, wurde der Vorschlag unterbreitet, über die Umsiedlung von Kleinbäuer_innen aus den semiariden Regionen in Kolonisationsprojekte in Maranhão und Goiás, die Konflikte im Sertão zu entkräften (SILVA 2006: 146 ff.). 6.3.2.2 Lösungsansätze für den Nordosten: befrieden, um zu bewahren Obwohl die Analyse des FURTADO-Reportes radikale Veränderungen der sozioökonomischen Strukturen des Nordostens nahe legte, gingen die tatsächlichen Veränderungen über einen Reformismus nicht hinaus. Die Reorganisation des Nordostens war in erster Linie auf die Logik des Kapitals ausgerichtet und sollte vor allem der Expansion kapitalistischer Strukturen nach dem Vorbild des Südens dienen. Die Erweiterung der staatlichen Intervention über den Ausbau der Infrastruktur, die gezielte Ansiedlung von Unternehmen, technische Hilfeleistungen und die Vergabe von Krediten waren weder darauf angelegt, die bestehenden Strukturen zu überwinden noch in der Lage, eine eigenständige Regionalentwicklung in die Wege zu leiten. Hauptnutznießer der neuen Entwicklungspolitik des Staates waren große nationale und internationale Unternehmen, die besonders von den staatlichen Subventionen profitierten (BURSZTYN 1984: 24; CARVALHO 1988: 229; ELIAS 2002: 23; SILVA 2006: 61 f.). Doch die Maßnahmen waren nicht nur außer Stande, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, sondern wurden auch dazu benutzt, bestehende Ungleichheitsverhältnisse aufrecht zu halten. So dienten die Kredite des Banco do Nordeste (BNB) in erster Linie dazu, die Vormachtstellung insbesondere der Baumwoll- und Rinderoligarchie auszuweiten. Der BNB, der offiziell als Entwicklungsbank konzipiert worden war, orientierte ihre Kreditvergabepraxis an dem Prinzip der Gewinnmaximierung, wodurch die Kredite fast ausschließlich den Großgrundbesitzern nutzten (OLIVEIRA 1981: 95; ANDRADE 2004: 51). Die Idee der Modernisierung anstelle einer Umstrukturierung des Nordostens führte 13 „[…] das Erste, was wir bei der SUDENE machten, war ein Gesetzesentwurf für eine Agrarreform, den wir als Bewässerungsgesetz tarnten. Es war nötig, die Bewässerungsflächen besser zu nutzen, und wir begannen die Agrarreform damit. Das wurde ernst genommen. Nur, dass die reaktionären Kräfte all das blockierten. Es war nicht möglich, das Agrarproblem anzugehen, das ohne Zweifel das gravierendste Problem des Nordostens ist13“ (FURTADO in AGÊNCIA BRASIL; eigene Übersetzung).
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dazu, dass die Agraroligarchie ihre Privilegien aufrecht erhalten konnte und die Politik der Reziprozität (LEAL 1949; BURSZTYN 1984) zwischen den lokalen Machthabern und der Zentralregierung weiter ausgebaut wurde. In einer Zeit, in der die sozialen Ungleichheiten zu einem Erstarken des Widerstandes insbesondere auf dem Land führten und die bestehenden Verhältnisse ins Wanken gerieten, diente die staatliche Interventionspolitik sowohl dazu, die Legitimität des Staates zu erhöhen als auch die sozialen Bewegungen auszubremsen und sie in das neue Wirtschaftssystem zu integrieren. Gleichzeitig war der GTDN und später auch die SUDENE immer darum bemüht, einer direkten Konfrontation mit den konservativen Kräften der Region auszuweichen und den Weg des geringsten Widerstandes zu suchen. Die SUDENE sah sich somit einer doppelten Aufgabe konfrontiert: Auf der einen Seite mussten die sozialen Bewegungen, allen voran die ligas camponesas, befriedet werden, indem ihnen eine Neuorganisation des Agrarsektors und die Teilhabe an dem zu erwartenden Wirtschaftsaufschwung versprochen wurde. Auf der anderen Seite musste die Agraroligarchie beruhigt und das Gespenst der Agrarreform mit reformistischen Modernisierungsversuchen entwaffnet werden. Über die staatliche Interventionspolitik wurden somit die aufgrund der historischen Konstellation der Kräfteverhältnisse möglichen tiefgreifenden Veränderungen im Nordosten Brasiliens verhindert. Zwar kam es zunächst nicht zu direkten, gewaltförmigen Auseinandersetzungen. Der reaktionäre Umschwung durch die Militärs Mitte der 1960er Jahre konnte dadurch allerdings nicht abgewendet werden (OLIVEIRA 1981: 107 f.; BURSZTYN 1984: 25; CARVALHO 1988: 229; SILVA 2006: 162 f.). 6.3.3 Die Zeit der Militärs: Nationale Sicherheit und integrierte Entwicklung Trotz der beschwichtigenden Einwirkung durch die SUDENE stand das Thema der Agrarreform Anfang der 1960er Jahre auch weiterhin ganz oben auf der politischen Agenda. Aufgrund des anhaltenden Druckes durch die sozialen Bewegungen wurde die Landfrage insbesondere von den Militärs zur Frage der ‚nationalen Sicherheit‘ erhoben und diskursiv mit dem Vorrücken des Kommunismus in Brasilien verbunden. Die Infragestellung der Besitzverhältnisse wurde dadurch zu einer Infragestellung des Privatbesitzes, als grundlegendem Pfeiler kapitalistischer Verhältnisse, hochstilisiert. Die Militärs nutzten die angebliche Gefahr der Ausbreitung des Kommunismus und die notwendige Verteidigung der ‚nationalen Sicherheit‘ als maßgebliche Rechtfertigungsstrategien für den Militärputsch am 31. März 1964 (NETO 2009: 4; VILLA 2000: 185–186). Mit der Machtübernahme durch die Militärs und der 21 Jahre andauernden Militärdiktatur kam es zu grundlegenden Veränderungen der politischen, diskursiven und institutionalisierten Konstellationen in Brasilien. Die sozialen Bewegungen sahen sich heftigen Repressionen ausgesetzt, viele Anführer_innen wurden verhaftet, gefoltert, ermordet oder mussten etliche Jahre im Exil verbringen. Das noch im März 1964 unterzeichnete Gesetz Estatuto do Trabalhador Rural, in dem die Möglichkeit der Ent-
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eignung für die Durchführung einer Agrarreform festgeschrieben worden war, wurde von den Militärs kassiert und im November 1964 als Landgesetz Estatuto da Terra neu aufgesetzt. Zwar wurde darin neben einer Modernisierung des Agrarsektors und Programmen für die Entwicklung und Kolonisierung Amazoniens auch die Sozialfunktion des Bodens und die Möglichkeit von Enteignungen festgelegt. Doch anstelle der Durchführung einer Agrarreform und der Umverteilung der Besitzverhältnisse wurden Enteignungen in den folgenden Jahren vor allem dazu angewandt, um große Entwicklungsprojekte wie Staudämme oder staatliche Bewässerungsprojekte durchzuführen. Einmal mehr eignete sich der Staat die Forderungen der sozialen Bewegungen an, um sie in Instrumente der Kontrolle und der Unterordnung unter die Interessen des Kapitals umzuwandeln (BURSZTYN 1984: 63, 137; NETO 2009: 4; DINIZ 2002: 42; BRUNO 1997: 43; UNTIED 2005: 14). Mit dem Militärputsch begann ein Prozess der Zentralisierung und Hierarchisierung der staatlichen Regionalplanung. Die einzelnen Planungsbehörden (SUDAM, SUDECO, SUDESUL und SUDENE) wurden dem Nationalen Entwicklungsplan (Plano Nacional de Desenvolvimento (PND)) unterstellt und ihre Ausrichtung der Politik der Nationalen Integration untergeordnet. Dadurch verlor die SUDENE ihre Planungshoheit und die Möglichkeit, eigenständige Strategien für den Nordosten umzusetzen. Die Planungsbehörde wurde letztlich in ein reines Ausführungsorgan und zu einem bloßen Verwalter staatlicher Mittel degradiert. Kritische Analysen der sozioökonomischen Verhältnisse des Nordostens, wie sie noch den FURTADO-Report auszeichneten, wichen einer rein technokratischen Haltung eines bürokratischen Apparates. Somit entwickelte sich die SUDENE mehr und mehr zu einem reinen Machtinstrument der regionalen Eliten (ELIAS 2002: 24; ANDRADE 2004: 43; BURSZTYN 1984: 26; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 82; SILVA 2006: 61, 154–155). Gleichzeitig verschob sich der Entwicklungsdiskurs in Richtung eines Sicherheitsdiskurses. Entwicklung bedeutete zunehmend auch, die als ‚leere Räume‘ (espaços vazios) bezeichneten Regionen zu besiedeln und die Agrarfront weiter in Richtung Amazonas voranzutreiben (MALVEZZI & REVERS 2009: 23). Parallel dazu veränderte sich der Entwicklungsdiskurs auf internationaler Ebene. Mehr und mehr wurden die allein auf Modernisierung und Industrialisierung ausgerichteten Entwicklungsvorstellungen durch Überlegungen einer integrierten Regionalentwicklung ergänzt. Dadurch rückten Themen wie Armutsbekämpfung, Grundbedürfnisbefriedigung und die Partizipation der betroffenen Bevölkerung in den Fokus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Insbesondere über die im Ausland ausgebildeten und geschulten Techniker_innen, Entwicklungsexpert_innen und Wissenschaftler_innen wurde der Diskurs einer integrierten ländlichen Entwicklung auch im Nordosten verankert. Seine Wirkmächtigkeit erlangte er jedoch in erster Linie über die im Nordosten agierenden internationalen Entwicklungsagenturen, allen voran die Weltbank, deren Finanzierungslinien und Entwicklungspraktiken von den Setzungen des internationalen Entwicklungsdiskurses bestimmt werden. Mit millionenschweren Programmen, wie etwa dem POLONORDESTE (Programa de Desenvolvimento de Areas Integradas do
6.3 Bruchlinie II: SUDENE – Entwicklung durch Planung Tab. 4: Entwicklungsprogramme im ländlichen Nordosten der 1970er und 1980er Jahre
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Nordeste und dem Programa Especial de Apoio ao Desenvolvimento da Região Semi-Árida do Nordeste (Projeto Sertanejo) wurde versucht, die Vorstellungen einer integrierten ländlichen Regionalentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der armen ländlichen Bevölkerung im Nordosten umzusetzen (vgl. Tab. 4) (CARVALHO 1988: 237). Neben dem Ausbau der ländlichen Infrastruktur, der Erweiterung der Kreditmöglichkeiten, dem Einsatz neuer Agrartechniken und der Implementierung einer modernen Landwirtschaft inklusive dem verstärkten Einsatz von verändertem Saatgut, Düngemitteln und Agrarchemikalien, sollte die Wissensproduktion im Agrarbereich weiter ausgebaut werden. Mit der EMBRATER (Empresa Brasileira de Assistência Técnica de Extensão Rural) und der EMBRAPA (Empresa Brasileira de Pesquisa Agropecuária) wurde in ganz Brasilien ein hochentwickeltes und gut ausgestattetes System der Agrarberatung und Agrarforschung geschaffen, das einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung von agrartechnologischen Innovationen leistete. In nur wenigen Jahren wurde die EMBRAPA zum wichtigsten Agrarforschungsinstitut Brasiliens und einem der bedeutendsten Forschungszentren der Länder des Südens (ELIAS 2002: 25; KOHLHEPP 1994: 277). 6.3.3.1 Bewässern heißt entwickeln Nach dem Militärputsch von 1964 stellte eine Agrarreform keine staatliche Interventionsoption mehr dar. Stattdessen investierte der autoritäre Staat in Kolonisationsprojekte und in die Modernisierung der Landwirtschaft, wobei die Bewässerungslandwirtschaft zum wichtigsten Projekt der staatlichen Agrarpolitik im Nordosten wurde (DINIZ 2002: 42). Mit einem mehrjährigen Bewässerungsprogramm (Programa Plurianual de Irrigação, PPI), das 1971 vom GEIDA (Grupo Executivo de Irrigação e Desenvolvimento Agrário) in Kooperation mit israelischen Bewässerungstechniker_innen erstellt wurde, sollten zwischen 1971 und 1980 195.000 ha für die Bewässerungslandwirtschaft erschlossen werden (UNTIED 2005: 74; HALL 1978: 13). Während die CODEVASF die Aufgabe zugeteilt bekam, auf einer Fläche von 112.000 ha 17 Bewässerungsprojekte, die in erster Linie für große Unternehmen konzipiert waren, entlang des São Francisco Flusses anzulegen, sollte der DNOCS auf einer Fläche von 78.000 ha insgesamt 36 Bewässerungsprojekte erstellen 14. Im Gegensatz zu den Projekten am São Francisco waren die Bewässerungsprojekte des DNOCS in erster Linie als Modernisierungsprojekte für die kleinbäuerliche Landwirtschaft gedacht. Dabei war der DNOCS für jegliche Aufgaben zuständig – von der Enteignung der Ländereien, der Auswahl der Kleinbäuer_innen, über die Erstellung der Infrastruktur (Bewässerungsinfrastruktur, Wohngebäude etc.) bis hin zur Verwaltung des Projektes. Doch die im PPI angestrebten Ziele wurden nie erreicht. Im Jahr 1978 waren von den geplanten 17 Bewässerungsprojekten der CODEVASF erst zwei in Angriff genommen worden, während der DNOCS immerhin zwölf seiner 36 Projekte mit 14 Die fehlenden 5.000 ha erklärt Hall (1978) leider nicht.
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900 Familien auf 9.000 ha begonnen hatte, was ungefähr 4% resp. 11% des geplanten Umfangs entsprach (ebd.; SOARES 2004a: 5; ELIAS 2002: 24). Die Strategie der Regionalentwicklung betitelte die Regierung mit dem Slogan „exportar é desenvolver“ (exportieren ist entwickeln), womit der Schwerpunkt auf die Exportlandwirtschaft – und eben nicht auf die Versorgung der Bevölkerung des Nordostens – klar vorgegeben war. Aufgrund der saisonalen Verschiebung der Erntezeiten zwischen der Nord- und der Südhalbkugel wurde in einer Ausweitung des Exports von Hochertragssorten (high-value crops) nach Europa und in die USA eine Möglichkeit gesehen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und den Nordosten am milagre brasileiro (brasilianisches Wunder) teilhaben zu lassen. Lag in einer ersten Phase der Schwerpunkt zunächst auf der Gemüseproduktion (Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, aber auch Baumwolle), so wurde später vor allem in die Obstproduktion (Melonen, Mango, Goiaba, Trauben, auch Weinproduktion) investiert (ANDRADE 2004: 270 f.; HALL 1978: 97). Tabelle 5 zeigt den enormen Anstieg der Bewässerungslandwirtschaft im Nordosten zwischen den Jahren 1970 und 1980, wobei hierbei die gesamte Bewässerungsfläche und nicht nur die staatlichen Bewässerungsprojekte einbezogen sind.
Tab. 5: Entwicklung der Bewässerungsfläche im Nordosten Brasiliens (1970–1980).
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6.3.3.2 Konservative Modernisierung Die Geschichte des Nordostens Brasiliens unter dem Blickwinkel der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu betrachten, führt zwar einerseits zu großen Auslassungen, andererseits können dadurch aber bestimmte, sich wiederholende Logiken und Mechanismen herausgearbeitet und ihre Funktion für die Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse deutlich gemacht werden. Indem bestimmte Phasen der Naturaneignung benannt werden und ihre Einbettung in einen sich ändernden gesellschaftlichen Diskurs deutlich gemacht wird, kann die Geschichte der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu einem besseren Verständnis der aktuellen Verhältnisse, in denen die historischen Phasen als Grundlage, Blaupause und/oder negative Gegenstücke weiter wirken, beitragen. Dabei sollen sowohl die Spezifik der unterschiedlichen historischen Phasen als auch die langen Kontinuitäten der gesellschaftlichen Naturverhältnisse herausgearbeitet werden. Die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien (1964–1985) kann als Fortsetzung und Intensivierung des Modernisierungsparadigmas gesehen werden, das letztendlich auf den positivistischen Vorstellungen der ersten Republik beruhte und unter GETÚLIO VARGAS und JUSCELINO KUBITSCHEK jeweils eigen interpretiert und umgesetzt wurde. Unter der Herrschaft der Militärs führte der Modernisierungsdiskurs insbesondere im ländlichen Raum jedoch zu einer qualitativ neuen Dimension der Naturaneignung. Mit Hilfe der Mechanisierung der Landwirtschaft, dem intensivierten Einsatz von Hochertragssorten, von Kunstdüngern, Herbiziden und Pestiziden, der Einbeziehung internationalen Kapitals, der Internationalisierung der Absatzmärkte und einer gezielten Förderung wissenstechnologischer Innovationen wurde die Natur verstärkt in den Verwertungskreislauf des Kapitals eingebunden. Gleichzeitig wurden immer mehr Sektoren, Räume und Menschen in die kapitalistische Produktionsweise integriert. Insbesondere über die verschiedenen Programme der ländlichen Entwicklung und speziell über die Ausweitung der Bewässerungslandwirtschaft sollten die spezifischen Bedingungen des Nordostens im Sinne einer wachstumsorientierten Entwicklung in Wert gesetzt werden. Dabei wirkten sich die Investitionen räumlich und sozial selektiv auf die Entwicklungen im Nordosten aus. Die räumliche Konzentration der Entwicklungspole führte zu einigen wenigen Inseln der Modernität und des Wohlstandes (SILVA 2006: 64, 75), wie etwa die fruchtbaren Täler des São Francisco und des Jaguaribe-Flusses. Gleichzeitig zielten die Entwicklungsprogramme darauf ab, die Kleinbäuer_innen in kapitalistische Kleinunternehmer_innen zu verwandeln und sie in die Marktstrukturen zu integrieren, ohne jedoch an den bestehenden Machtstrukturen etwas verändern zu müssen: „Os ‚programas especiais de desenvolvimento‘ inserem-se no quadro em que o Estado visa a criar novas formas de acumulação de capital (e de legitimidade), ao mesmo tempo que as antigas são preservadas. A estratégia tem sido a da transformação localizada de ‘unidades
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camponesas’ em ‘agricultura capitalista’ sem afetar a estrutura arcáica circundante 15“ (BURSZTYN 1984: 29).
Die spezifische Form der Naturaneignung über zentral geplante Großprojekte und den massiven Einsatz technologischer Innovationen hatte nicht nur sozial, sondern auch ökologisch nachhaltige negative Folgen für die gesamte Region. Große Flächen der als wertlos geltenden Cerrado- und Caatinga-Vegetation wurden im Namen des Fortschrittes vernichtet. Flüsse und Böden wurden durch den intensiven Einsatz von Agrarchemikalien verschmutzt, wodurch die natürlichen Grundlagen zunehmend degenerierten (ANDRADE 2004: 43). Gleichzeitig profitierten von dem Modernisierungsmodell nur einige wenige privilegierte Gruppen der Gesellschaft, während die Mehrheit weiteren Exklusions- und Marginalisierungsprozessen unterworfen war. In seiner Analyse der Bewässerungslandwirtschaft der 1970er Jahre kommt ANTHONY HALL beispielsweise zu dem Schluss, dass für die Durchführung der staatlichen Bewässerungsprojekte etwa sechs Mal mehr Menschen von ihren Ländereien vertrieben worden waren als in den Projekten angesiedelt wurden (HALL 1978: 70). So stellt die renommierte Ökonomin TÂNIA BACELAR DE ARAÚJO in ihrer Analyse nüchtern fest: „O Nordeste moderno é de poucos 16“ (ARAÚJO 2000: 236). Paternalismus als Machtverhältnis Ein Blick auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse impliziert immer auch einen Blick auf die in ihnen verwobenen und durch sie zum Tragen kommenden Machtverhältnisse und die Bedingungen ihrer (Re)Produktion. Auch in dem autoritären Charakter vieler Politikformen und den paternalistischen Modellen der staatlichen Bewässerungsprojekte traten die gesellschaftlichen Machtverhältnisse während der Militärdiktatur zu Tage. Stärker noch als in den vorangegangenen Phasen – und im starken Gegensatz zu den emanzipatorischen Bewegungen der ligas camponesas – wurden die Menschen auf dem Land und speziell die colonas/os 17 der Bewässerungsprojekte zu bloßen Empfänger_innen von zentral geplanten Projekten und von außen übergestülpten Entwicklungsprogrammen degradiert. Die Bevormundung durch den DNOCS als Betreiber der Bewässerungsprojekte ließ den vormals eigenständig lebenden Kleinbäuer_innen so gut wie keine Freiheiten und Entscheidungsspielräume. Die angebauten Produkte und die zu verwendende Anbaufläche, die eingesetzte Technologie und die Vermark15 “Die ‚speziellen Entwicklungsprogramme‘ passen in das Bild, bei dem der Staat versucht, neue Formen der Kapitalakkumulation (und der Legitimierung) zu schaffen, während gleichzeitig die alten fortbestehen. Die Strategie bestand in der lokalen Umwandlung der ‚bäuerlichen Einheiten‘ in eine ‚kapitalistische Landwirtschaft‘, ohne dabei die sie umgebenden archaischen Strukturen einzubeziehen“ (BURSZTYN 1984: 29; eigene Übersetzung). 16 „Der moderne Nordosten ist für wenige“ (ARAÚJO 2000: 236). 17 Wörtlich übersetzt hieße das: Siedler_innen – der Begriff soll hier jedoch als eigenständiger Name der Bewohner_innen der Bewässerungsprojekte stehen gelassen werden, da er sich im Nordosten als solcher eingeprägt hat.
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tungsstrukturen waren dabei ebenso vorgegeben, wie die monatlich benötigte Menge an Lebensmitteln oder die Kindererziehung. Der DNOCS herrschte und sicherte seine Herrschaft über ein System von Abhängigkeiten und Privilegien ab. Diejenigen, die sich besonders gut an die vorgegebenen Bedingungen anpassen konnten und wollten, konnten sich einer bevorzugten Behandlung erfreuen, während diejenigen, die das System kritisierten oder sich widersetzten, Gefahr liefen, aus dem Bewässerungsprojekt ausgeschlossen zu werden (DINIZ 2002: 45; BURSZTYN 1984: 96). „O Dnocs aqui era um ditador; por outro lado, beneficiava demais as pessoas ... de primeiro, se queimasse uma lâmpada dessa, a pessoa chegava ao Dnocs e [...] Com uma hora já tava o Dnocs botando a lâmpada. [...] Não pagava água, não pagava adubo, não pagava nada [...] se o doutor dissesse que dava pedra, a gente tinha que plantar pedra 18“ (DINIZ 2002: 45).
Aber auch für die Bäuer_innen außerhalb der Bewässerungsprojekte galt: Wer nicht bereit war, sich den staatlich festgelegten Bedingungen zu unterwerfen, hatte wenig Chancen, von den Entwicklungsmaßnahmen zu profitieren. Um beispielsweise subventionierte Kredite zu erhalten, mussten die Produzent_innen nachweisen, dass sie das von der EMATER entwickelte Technologie-Paket, das die Produktionsweise und die Verwendung von Agrarchemikalien genau festlegte, anwendeten. Gleichzeitig war es fast unmöglich, von den technischen Hilfeleistungen der EMATER zu profitieren, wenn der_die Bäuer_in nicht in eines der offiziellen Programme eingebunden oder über einen Kredit mit dem Bankenwesen verbunden war (BURSZTYN 1984: 34). Über dieses Bedingungssystem wurden die Produktions- und Verhaltensweise der ländlichen Bevölkerung konditioniert und die Umsetzung der Vorstellungen einer modernen Landwirtschaft sichergestellt. Die Art und Weise der Naturaneignung war demnach weder beliebig wählbar noch bestanden viele Möglichkeiten eines Austausch- und Vermittlungsprozesses. Der Staat, die Expert_innen der nationalen und internationalen Entwicklungsagenturen und die Agrarberater_innen legten vielmehr die Bedingungen fest und sicherten diese über ein umfassendes System von Agrarberatung, Kredit- und Privilegienvergabe ab. Das vorgegebene Modell der Naturaneignung war somit ein wichtiger Bestandteil der Kontrolle der Bevölkerung und der Beruhigung der sozialen Kämpfe auf dem Land. Das auf dem Coronelismo (s. Kap. 6.5) aufbauende System von Abhängigkeits- und Privilegienstrukturen diente gleichzeitig der Akzeptanz der Militärdiktatur und für deren Legitimierung.
18 „Der DNOCS war ein Diktator, doch andererseits haben die Leute davon auch sehr profitiert [...]. Wenn eine Glühbirne durchbrannte, ging man zur DNOCS und [...] eine Stunde später schraubte jemand vom DNOCS eine Glühbirne ein [...]. Man zahlte kein Wasser, kein Düngemittel, man zahlte für nichts [...]. Wenn der Herr ‚Doktor‘ gemeint hätte, es würde sich lohnen Steine zu pflanzen, dann hätten wir Steine pflanzen müssen“ (DINIZ 2002: 45; eigene Übersetzung).
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Verändern, um zu bewahren Die enge Verzahnung zwischen der zentralen Regierungsmacht und der lokal dominierenden Agraroligarchie und deren gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen ermöglichten es, dass auch die Entwicklungsprogramme der 70er Jahre, die zunächst auf die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ausgerichtet waren, in Instrumente des Machterhalts und der Ausweitung der bestehenden Machtstrukturen umgewandelt werden konnten. Aufgrund ihrer inhärenten wirtschaftlichen Rationalität der Gewinnakkumulation wiesen die unterschiedlichen Entwicklungsprogramme und –projekte eine klare Präferenz für eine kapitalintensive Landwirtschaft und somit einen Bias zugunsten der Großgrundbesitzer auf (BURSZTYN 1984: 31). War der Projeto Sertanejo beispielsweise zunächst ausdrücklich auf die landlose Bevölkerung und die Kleinbäuer_innen ausgerichtet gewesen, so wurde ein Viertel der möglichen Begünstigten bereits von vornherein von dem Projekt ausgeschlossen, da – so die Begründung – die Größe ihrer Produktionsfläche eine angemessene Entwicklung und Wertsteigerung verunmöglichen würde (VILLA 2000: 216). Letztendlich konnten lediglich 2,2% der Kleinbäuer_innen und 16,4% der Mittelbetriebe von dem Programm profitieren (ebd.), während die Großgrundbesitzer (mit Betrieben über 500 ha) über den Bau von weiteren Stauwehren ihre Ländereien aufwerten und mit Hilfe der Entwicklungskredite zusätzliche Grundstücke erwerben konnten (CARVALHO 1988: 249; SILVA 2006: 65). Somit verstärkte sich auch in den 1970er Jahren sowohl die Land- als auch die Einkommenskonzentration im Nordosten weiter. Machten im Jahr 1975 die Betriebe mit weniger als 5 ha Betriebsfläche noch 59% der Betriebe aus, die jedoch lediglich über 3,16% der Gesamtfläche verfügten, so fiel ihr Anteil bis zum Jahr 1980 auf rund 56 % und ihr Flächenanteil auf 2,76%. Demgegenüber konnten die Betriebe mit mehr als 1.000 ha, die im Jahr 1975 0,39% aller Betriebe stellten, ihren Anteil an der Gesamtfläche von 29,19% (1975) auf 32,66% (1980) erhöhen. In der Zeit von 1970 bis 1980 sank der Einkommensanteil der ärmsten 20% der Bevölkerung von 5,2% auf 3,8% am Gesamteinkommen, während die oberste Einkommensschicht ihren Einkommensanteil fast verdreifachen konnte (VILLA 2000: 217) (vgl. Kap. 10.1). Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, sind die Auseinandersetzungen um die Umsetzung einer Agrarreform wichtige Kristallisationspunkte der Kämpfe um den Erhalt bzw. die Veränderung der Machtverhältnisse. Die Besitzstrukturen können dabei als Materialisierung politischer, wirtschaftlicher, aber auch symbolischer Macht gedeutet werden, so dass das Thema erhebliche gesellschaftliche Sprengkraft inne hatte und hat. Die Verhinderung einer Agrarreform erscheint somit als wichtige Bedingung der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse im ländlichen Raum. In diesem Sinne sind auch die staatlichen Politiken der Militärdiktatur als Instrumente zur Verhinderung einer Agrarreform zu verstehen. Sowohl die Ansiedlung von colonos/as in Kolonisationsprojekten in Amazonien als auch in staatlichen Bewässerungsprojekten im Nordosten hatte zum Ziel, den sozialen Druck im ländli-
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chen Raum zu verringern, die Legitimität staatlichen Handelns zu erhöhen und die Durchführung einer umfassenden Agrarreform zu umgehen (DINIZ 2002: 42). Das PROTERRA-Programm (Programa de Redistribuição de Terra e de Estímulo à Agroindústria do Norte e Nordeste), das sogar eine Umverteilung der Ländereien im Namen trug, zielte darauf ab, durch den Aufkauf von Grundstücken eine ‚friedliche Agrarreform‘ durchzuführen. Somit sollte Umverteilung im Interesse aller möglich sein. Da die fazendeiros oftmals lediglich ihre schlecht zugänglichen, unfruchtbaren Ländereien, die zumeist nicht einmal über einen Wasserzugang verfügten, zu Marktpreisen verkauften, trug auch diese Maßnahme in erster Linie zu einer Bereicherung der Großgrundbesitzer anstatt zu einer grundlegenden Umverteilung bei. Die Agrarreform wurde in ihr Gegenteil umgemünzt. Das Prinzip der Nicht-Enteignung, das sich durch alle Entwicklungsprogramme zog, führte somit letztendlich zu einer Verfestigung der bestehenden Strukturen (CARVALHO 1988: 247; BURSZTYN 1984: 138; SOARES 2002: 99; FREITAS 2010: 57). Die Zeit der Militärdiktatur zeichnete sich durch eine intensive Modernisierung des Agrarsektors bei einer gleichzeitigen Bewahrung der gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnisse aus, was als konservative Modernisierung bekannt wurde (COY & NEUBURGER 2002: 74 f.; ELIAS 2002: 17; VIANA 2009: 25). Die Strategie des Staates bestand darin, „mudar um pouco para não modificar o todo 19“ (BURSZTYN 1984: 134). Gleichzeitig wurden in dieser Zeit mit einer verstärkten Einbeziehung des Kapitals, einer gezielten staatlichen Förderung agroindustrieller Unternehmen und einer wissensbasierten Agrartechnologie die Grundlagen für die Ausrichtung der Agrarpolitik auf das Agrobusiness und die Bedingungen für die aktuelle Situation im ländlichen Raum des Nordostens geschaffen. Somit kam es in einigen Sektoren und einigen Regionen durchaus zu bedeutenden Veränderungen, während jedoch die grundlegenden Probleme des Nordostens unangetastet blieben (SILVA 2006: 73; MALVEZZI & REVERS 2009: 23). 6.4 BRUCHLINIE III: CEARÁ UND DER GOVERNO DAS MUDANÇAS Wurde bisher der Nordosten als mehr oder weniger homogene Einheit betrachtet und wurde lediglich kurz auf die im Diskurs aufscheinende Unterscheidung zwischen Hinterland und Küste und nur gelegentlich auf die Besonderheiten der Entwicklungen im Bundesstaat Ceará verwiesen, so soll im Folgenden das Augenmerk besonders auf Ceará als administrative und politische Einheit gerichtet werden. Während für einen groben Überblick und eine Einordnung des historischen Kontextes die Konstitution des Nordostens als regionale Einheit im Vordergrund stand und die historischen Ereignisse, Strukturen und Praktiken darin verortet wurden, so erscheint es für die Bewertung der aktuellen Prozesse hilfreich, den Sonderweg Cearás, insbesondere auch im Wassersektor nachzuzeichnen. Seit jeher galt der Bundesstaat als Paradebeispiel für klientelistische Strukturen und Ne19 „Kleinigkeiten zu verändern, um das große Ganze nicht ändern zu müssen“ (BURSZTYN 1984: 134; eigene Übersetzung).
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potismus. So kontrollierte die Agraroligarchie Cearás die Politik des DNOCS, was sich unter anderem darin ausdrückte, dass 14 der 37 Bewässerungsprojekte des DNOCS zwischen 1970 und 2004 in Ceará angesiedelt wurden (FREITAS 2010: 53). Mit den Entwicklungen der 1980er Jahre, der Redemokratisierung Brasiliens und der Machtübernahme durch den Governo das Mudanças (Regierung der Veränderungen), mauserte sich der Bundesstaat von einem Symbol von Korruption und Armut zu einem nationalen Modell gelungener Transformationen und einem international gefeierten Vorbild „guter Regierungsführung“ (MONTE 2005: 90). Plötzlich galt der Nordosten nicht mehr als Armenhaus, sondern wurde zur Hoffnung Brasiliens. Unter der Überschrift: „Survey Brazil: Hope from the north-east“ lobte selbst das international beachtete Wirtschaftsmagazin ‚The Economist‘ die Entwicklungen in Ceará seit dem Antritt des Governo das Mudanças: „Ever since, Ceará has enjoyed that greatest of Brazilian rarities: good government“ (PARENTE & ARRUDA 2002: 139). Doch wie kam es zu diesem Umschwung des Images des Bundesstaates und inwiefern kann dabei von einem Bruch der Aneignungspraktiken und einer Verschiebung von Machtstrukturen die Rede sein? 6.4.1 Die Industrialisierung des Nordostens und die Entstehung neuer Subjektpositionen Bereits 1919 wurde in Ceará das Industriezentrum CIC (Centro Industrial do Ceará, CIC) von Unternehmern, die vorrangig aus der Textilindustrie stammten, gegründet. Der CIC verstand sich als Interessenvertretung des Industriesektors, dessen Ziele die Stärkung und Ausweitung der industriellen Produktion in Ceará darstellten. Unter GETÚLIO VARGAS wurde das CIC – wie die meisten Gewerkschaften und Verbände – aufgelöst und durch die Industrievereinigung FIEC (Federação das Indústrias do Estado do Ceará) ersetzt. Dadurch sollten in erster Linie die staatliche Kontrolle und die Gleichschaltung des Industriesektors abgesichert werden (MONTE 2005: 124 f.; KÜSTER 2003: 132). In den 1970er Jahren versuchten die Militärs – ganz im Sinne der Idee staatlicher Entwicklungsplanung und der Modernisierungsideologie – mit Hilfe staatlicher Finanzmittel die Einführung neuer Technologien und moderner Managementmethoden zu fördern, um so die Industrien des Nordostens wettbewerbsfähig zu machen. Dazu wurde 1974 der Industriefonds FINOR (Fundo Industrial do Nordeste) ins Leben gerufen, von dem vor allem mittlere Unternehmen der Textilindustrie und somit vor allem der Bundesstaat Ceará profitierten. Mit der Ausweitung des Industriesektors wurde gleichzeitig ein mittelständiges Industriebürgertum gestärkt, das dadurch eine von den traditionellen, vor allem ländlichen Eliten unabhängige und kritische Position einnehmen konnte (BARREIRA 2002: 84 f.). Angeregt durch die wirtschaftliche Aufbruchsstimmung und ermutigt durch die beginnende politische Öffnung Ende der 1970er Jahre schuf eine Gruppe junger Unternehmer, die zumeist im Süden des Landes studiert hatten und dort vornehmlich liberale Ideen gelehrt bekamen, parallel zu den Strukturen der FIEC eigene Diskussionszusammenhänge, die sie 1978 mit der Wiedereröffnung des CIC institutionalisierten. Die Gruppe bestand
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vor allem aus jungen Unternehmern traditioneller Betriebe, wie etwa BENI VERAS, SÉRGIO MACHADO und BYRON QUEIROZ (Textilindustrie), TASSO JEREISSATI (Immobilien, Handel und Nahrungsmittelindustrie), AMARÍLIO MACEDO (Nahrungsmittelinduistrie), ASSIS MACHADO (Baugewerbe) oder ÉDSON QUEIROZ FILHO (Energiesektor). Obwohl sie ihren Aufstieg der staatlichen Förderung durch die SUDENE, den BNB und den FINOR verdankten, richtete sich ihre Kritik in erster Linie gegen die starke staatliche Einmischung in die Wirtschaft. Gleichzeitig kritisierten sie vehement die weit verbreitete Korruption, die schlechte Verwaltung öffentlicher Gelder und den ineffizienten und aufgeblähten staatlichen Verwaltungsapparat. Demgegenüber plädierten die Mitglieder des CIC für eine freie Marktwirtschaft auf der Grundlage von Privateigentum und einer freien, demokratischen Gesellschaft und sahen ein erfolgreiches Unternehmensmanagement als Ideal für eine gute Regierungsführung an (ebd.: 86; MONTE 2005: 126 f.; RIGOTTO 2004: 215; CHACON 2007: 135). Nachdem sie zunächst noch versucht hatten, mit der Militärdiktatur zusammen zu arbeiten und ihre Vorstellungen über Lobbyarbeit und Beratungstätigkeiten in die Politik einzubringen, änderten sie Anfang der 1980er Jahre ihre Strategie. Spätestens ab 1982 war das erklärte Ziel des CIC, die institutionalisierte Macht in Ceará zu ergreifen, um so die für notwendig erachteten Veränderungen durchführen zu können (MONTE 2005: 128; BARREIRA 2002: 84). Als im April 1986 der Gouverneur von Ceará GONZAGA MOTA den Präsidenten des CIC, TASSO JEREISSATI, dazu einlud, als Kandidat des PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro) für das Gouverneursamt zu kandidieren, schien die Zeit für Veränderungen gekommen. Mit 52,3% gegenüber 30% von ADAUTO BEZERRA gewann JEREISSATI die Wahlen von 1986 überraschend deutlich (MONTE 2005: 130) und leitete damit die – in unterschiedlichen Varianten – letztendlich bis heute andauernde Machtperiode der Unternehmeroligarchie (oligarquia dos empresários) (CHACON 2007: 102) in Ceará ein. 6.4.2 Diskursverschiebung: Vom Armenhaus zum Land der Möglichkeiten Mit der Entstehung einer neuen, jungen und urbanen Elite in Ceará bildete sich ein Entwicklungsdiskurs heraus, über den die Notwendigkeit von Veränderungen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt wurde und der über den Wahlkampf von 1986 hinaus die politischen Diskussionen in Ceará bestimmte. Der Diskurs funktionierte hauptsächlich über die Konstruktion einer dichotomen Gegenüberstellung zwischen dem ‚Alten‘ und dem ‚Neuen‘ und einer zeitlichen Unterscheidung zwischen einem ‚Davor‘ und einem ‚Danach‘ (MONTE 2005: 129; BARREIRA 2002: 67). Dabei wurde das ‚Alte‘ mit Rückständigkeit, Armut, Hunger und Unterentwicklung gleichgesetzt, um davon das politische Projekt des Governo das Mudanças als das ‚Neue‘, Moderne und Fortschrittliche abzutrennen und als positiven und alternativlosen Gegenentwurf erscheinen zu lassen. Vor allem in zwei Bereichen funktionierte dieser einfache Unterscheidungsmechanismus besonders gut: bei Fragen nach der politischen Staatsführung und im Bereich der Bewertung und Aneignung von Natur. Unter dem Begriff des Coronelismo (s.
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Kap. 6.5) und mit der Benennung der Zeit der Militärdiktatur in Ceará als ‚Ära der coronéis‘ wurde die gesamte Kritik an einem ineffizienten und korrupten Staat und einer autoritären Staatsführung verkürzt und plakativ zusammengefasst. Der Figur des Coronel, als Symbol für Klientelismus und Paternalismus, wurde dabei die Figur eines modernen Managers gegenübergestellt (CARVALHO 2002: 10). Der moderne Staat, der auf den Prinzipien der Rationalität und der unternehmerischen Effizienz beruht, sollte demnach für Möglichkeiten der Partizipation, politische Kompetenz und gute Regierungsführung und vor allem für eine neue politische Ethik, für Ehrlichkeit und Moral stehen (SAMPAIO 2002: 30; ARRUDA 2002: 7). Gleichzeitig findet innerhalb des Diskurses eine Neubewertung der natürlichen Ressourcen statt: Die klimatischen Verhältnisse, die bisher als Gründe für die Rückständigkeit und die Armut angesehen wurden, wurden zu Vorteilen insbesondere für die Bewässerungslandwirtschaft und den Tourismussektor uminterpretiert. Die Sonne, die einst als eines der wirkmächtigsten Symbole für Hitze, Dürre und Armut galt, wurde zu einer der wichtigsten Verbündeten bei dem Versuch des Anwerbens internationaler Investitionen und der Integration der Region in einen globalisierten Weltmarkt (ARAÚJO 2006b: 348). Die Anzahl der Sonnenstunden, fruchtbare Böden, die Möglichkeit der gezielten Bewässerung und die relative Nähe zu den Märkten in Europa und Nordamerika wurden zu komparativen Standortvorteile für multinationale Unternehmen insbesondere im Bereich des Obstanbaus, der Shrimps- und der Blumenzucht. Die ca. 600 km lange Küste mit ihren hellen Sandstränden wurde durch das beständig ‚gute‘ Wetter in attraktive touristische Destinationen verwandelt. Das vormals heiße und trockene Ceará wurde zu einem ‚lugar paradisíaco‘ (paradiesischer Ort), und wurde als ‚terra do sol‘ (Land der Sonne) und als ‚terra fértil de oportunidades‘ (fruchtbares Land der Möglichkeiten) vermarktet (BEZERRA 2008: 138; KÜSTER 2003: 138; CHACON 2007: 148). In dem häufig bemühten Bild eines brasilianischen Kaliforniens drückt sich die Stoßrichtung der Entwicklungsvorstellung deutlich aus: eine durchkapitalisierte, globalisierte Gesellschaft nach nordamerikanischem Vorbild: „Realmente, se fosse utilizada a agricultura irrigada intensivamente na região, seríamos, aqui, seguramente, uma enorme Califórnia. O sol que aparentemente pode representar uma desvantagem, na verdade é uma grande vantagem, porque permite uma agricultura irrigada de altíssima produtividade 20“ (Senator BENI VERAS in COSTA 2005: 234).
20 „In der Tat, wenn wir die Bewässerungslandwirtschaft intensiv in der Region nutzen würden, wären wir hier, sicherlich, ein enormes Kalifornien. Die Sonne, die augenscheinlich einen Nachteil darstellen kann, ist in Wirklichkeit ein großer Vorteil, da sie eine Bewässerungslandwirtschaft von höchster Produktivität ermöglicht“ (COSTA 2005: 234; eigene Übersetzung).
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
Abb. 16: Ceará: Terra fértil de oportunidades.
Neuer Wein in alten Schläuchen? Transformation des Entwicklungsdiskurses Mit dem Wandel von der Idee eines interventionistischen Entwicklungsstaates hin zu der Vorstellung eines modernen und schlanken Staates und der Uminterpretation der natürlichen Verhältnisse in komparative Standortvorteile findet in der Tat eine starke Verschiebung des Entwicklungsdiskurses in Ceará statt. Doch diese Verschiebung wurde nicht von einer kleinen, intellektuellen Industrieelite erdacht und im Alleingang durchgesetzt. Vielmehr hatten sowohl die nationalen Veränderungen mit der langsamen Öffnung der Militärdiktatur als auch die internationalen Verhältnisse – mit der Schuldenkrise der 1980er Jahre und der weltweiten Durchsetzung neoliberaler Maßnahmen – eine Konstellation geschaffen, die eine Umbruchsituation ermöglichte. Die Protagonisten des neuen Diskurses verstanden es dabei geschickt, auf bereits bestehende Diskurse aufzusatteln und einzelne Stränge national und international wirkmächtiger Diskurse in den ‚Wandlungsdiskurs‘ einzubauen. Dabei wurde durchaus strategisch und aktiv daran gearbeitet, die Vorstellungen eines modernen Ceará in einer bestimmten Art und Weise zu prägen. In den Anfangszeiten verstand sich der CIC zunächst als eine Art Diskussionsplattform, die Raum bot, um unterschiedliche Vorstellungen von Entwicklung und deren Umsetzungsmöglichkeiten zu diskutieren. In enger Zusammenarbeit
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mit den lokalen Universitäten wurden dafür Seminare und Vorträge organisiert, auf denen Intellektuelle, Politiker_innen, Unternehmer_innen und Berater_innen ihre Ideen und Visionen vorstellen und gemeinsam diskutieren konnten (SAMPAIO 2002: 28; KÜSTER 2003: 132). Mit Hilfe des gezielten Einsatzes verschiedener Kommunikationsmittel wurde versucht, die dabei entwickelten Vorstellungen zu verbreiten und somit aktiv in den hegemonialen Diskurs zu intervenieren. Insbesondere während der ersten Amtszeit von TASSO JEREISSATI (1987–1991) wurden die Medien gezielt dafür genutzt, um das Image eines modernen Ceará sowohl innerhalb des Bundesstaates als auch in ganz Brasilien zu verbreiten. Neben unzähligen Reportagen über das ‚neue Ceará‘ wurde sogar die Produktion einer Telenovela (Tropicaliente) mit staatlichen Geldern unterstützt, um das Bild eines modernen Staates mit gut ausgebauter touristischer Infrastruktur und einem modernen Industriesektor in ganz Brasilien zu vermitteln (ARAÚJO 2006a: 27; KÜSTER 2003: 137). Dabei wurde die Sprache als Ressource entdeckt (SAMPAIO 2002: 29), um mit Hilfe einer globalisierten, neoliberalen Sprechweise entsprechende Inhalte zu transportieren. Über die gezielte Verwendung einer bestimmten Bildsprache sollte die ‚Marke Ceará‘ (CHACON 2007: 148) aufgebaut und ‚verkauft‘ werden: Bilder von modernen Gebäuden an der Meeresküste, modernen Transportmitteln, modernen Sportarten oder von Arbeiter_innen mit hoch entwickelten technischen Geräten wurden dabei ebenso eingesetzt wie Bilder von weißen Sandstränden, wasserreichen Stauseen oder sogar von nebelverhangenen Bergregionen (ebd.). Somit sollte das Image von Dürre und Korruption überwunden werden. Doch im Gegensatz zu der propagierten Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit der Vergangenheit waren die Ideen von Modernität, Entwicklung und Fortschritt nicht wirklich neu. Letztendlich konnte der Diskurs des Wandels relativ nahtlos an die dichotome Gegenüberstellung zwischen Barbarei und Zivilisation Ende des 19. Jahrhunderts, die Idee der Überwindung des Traditionellen während des Estado Novo, an die Fortschrittsgläubigkeit der 1950er Jahre und an die Modernisierungsrhetorik der Militärs anknüpfen. Insbesondere die Regierungszeit von VIRGÍLIO TÁVORA (1979–1982) war geprägt von einem intensiven Ausbau der Infrastruktur des Staates, begleitet von einem expliziten Modernisierungsdiskurs. Die dichotome Gegenüberstellung zwischen rückständig und modern und die Selbstpositionierung auf der Seite des Fortschrittes stellte somit keine Diskursverschiebung dar, sondern war Bestandteil des bestehenden Entwicklungsdiskurses, der von dem Governo das Mudanças geschickt aufgegriffen und neu inszeniert wurde (TADDEI 2005: 150; MONTE 2005: 129; CHACON 2007: 90). Die in dem ‚neuen‘ Diskurs aufscheinende veränderte Rolle des Staates innerhalb des Entwicklungsprozesses und der vorgeschlagene neoliberale Maßnahmenkatalog können ebenso wenig als völlig neue und eigenständige Diskursstränge eines cearensischen Entwicklungsdiskurses angesehen werden. Vielmehr sind sie das Ergebnis von Verschneidungen verschiedener Diskurse auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und müssen vor dem Hintergrund sich verändernder wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen bewertet werden. Mit dem endgültigen Ausbruch der Schuldenkrise in Brasilien zu Beginn der 1980er Jahre war es der
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
Militärdiktatur nicht länger möglich, ihre Politik der staatsfinanzierten Regionalentwicklung weiter zu verfolgen. An die Stelle der Regionalplanung als wichtigster staatlicher Aufgabe rückten verzweifelte Versuche des Krisenmanagements und die Einführung einer weitreichenden Austeritätspolitik. Dadurch verloren Institutionen wie beispielsweise die SUDENE ihre Bedeutung hinsichtlich regionaler Entwicklungsprozesse. Mit den Forderungen internationaler Gläubigerorganisationen – insbesondere von IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank – hielten neoliberale Vorstellungen Einzug in den nationalen und regionalen Entwicklungsdiskurs und wurden schließlich auch in die Praxis umgesetzt. Die Verkleinerung des Staatsapparates, Privatisierungen staatlicher Betriebe, die Deregulierung der Märkte, die Liberalisierung des Außenhandels und eine Flexibilisierung und Anpassung des Rechtssystems waren dabei die Hauptpfeiler des wirtschaftspolitischen Reformprogrammes (SILVA 2006: 173; UNTIED 2005: 64). Die unter dem Namen ‚Washingtoner Consensus‘ bekannt gewordenen Strukturanpassungsmaßnahmen wurden in den 1980er und 1990er Jahren für fast alle Länder Lateinamerikas zur hegemonialen Wirtschaftsdoktrin, die sich – übersetzt auf die regionalen Besonderheiten – auf allen Maßstabsebenen durchpauste. Die konkreten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte, mit Vetternwirtschaft, einer aufgeblähten und undurchsichtigen Bürokratie und einem autoritären Politikstil, bildeten die Grundlage dafür, dass die neoliberalen Maßnahmen nicht so sehr als von außen aufoktroyierte Wirtschaftskonzepte empfunden, sondern vielmehr als adäquate Lösungen für die strukturellen Probleme der Region angesehen wurden. Die vom Governo das Mudanças propagierten Vorstellungen eines schlanken Staates, einer effektiven Verwaltung und einer verstärkten Integration in den Weltmarkt können somit als Ausdruck des neoliberalen Entwicklungsdiskurses innerhalb eines regionalen Kontextes begriffen werden. Neben der Umstrukturierung der Wirtschaftsstrukturen dominierten Vorstellungen und Forderungen nach einer Redemokratisierung der Gesellschaft den politischen Diskurs der 1980er Jahre in Brasilien (TADDEI 2005: 151). Die Verfassung von 1988 kann als Ergebnis eines langen Aushandlungsprozesses zwischen unterschiedlichen Vorstellungen und Strömungen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft angesehen werden, durch die die Stärkung der Freiheitsrechte, die Dezentralisierung des Staates und demokratische und partizipative Strukturen als zentrale Elemente festgeschrieben wurden (PAUL 1994: 200 ff.; KÜSTER 2003: 159; SOARES DO BEM 2011). Dies wurde in den einzelnen Bundesstaaten ganz unterschiedlich ausgelegt. In Ceará wurden seit 1989 sogenannte Conselhos de Participação da Sociedade (CPS) eingerichtet, die die gesellschaftliche Mitbestimmung stärken und das Verständnis und die Praktiken der Politik verändern sollten (KÜSTER 2003: 154). Sie bildeten später auch die Grundlage für die Einführung partizipativer Strukturen im Wassermanagement (s. Kap. 7.1.2.2). Nach der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 erweiterte sich der Entwicklungsdiskurs auch in Ceará um das Thema der Nachhaltigkeit. In der zweiten Amtsperiode von TASSO JEREISSATI (1995–1999) wurde der Plano de Desenvolvimento Sustentável ins Leben gerufen, der jedoch nicht aus einer gesellschaftlichen Debatte hervorging, sondern autoritär entwickelt und umgesetzt
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wurde. Der Nachhaltigkeitsdiskurs änderte jedoch nur wenig an der Politikgestaltung in Ceará. Das Ziel einer umfassenden Industrialisierung wurde dadurch nicht in Frage gestellt, sondern lediglich durch eine soziale und ökologische Rhetorik ergänzt (ebd.: 150; CHACON 2007: 37). Die Diskursverschiebungen in den 1980er und 1990er Jahren in Ceará können zwar als bedeutende Veränderungen und Grundvoraussetzungen für die praktischen Umstrukturierungsmaßnahmen angesehen werden. Sie können jedoch nicht alleine aus dem regionalen Kontext heraus verstanden und nicht als bewusste Strategie einer bestimmten Elite gedeutet werden. 6.4.3 Neoliberale Umstrukturierungsprozesse Dennoch führten die diskursiven Verschiebungen innerhalb des Entwicklungsdiskurses in Ceará zu teilweise radikalen Veränderungen politischer Praktiken und zu strukturellen und institutionellen Transformationen, denen national und international große Beachtung geschenkt wurde. Die Weltbank feierte Ceará als Modell einer guten öffentlichen Verwaltung (MONTE 2005: 138), und auch das populäre brasilianische Nachrichtenmagazin VEJA begeisterte sich für das bisher eher als unbedeutend erachtete Bundesland im Nordosten: „[...] como se fosse um país independente, desgarrado do Brasil da crise, das denúncias de corrupção, da desordem administrativa e do imobilismo econômico, o Ceará tornou-se um lugar de prosperidade muito diferente do que se vê nos 98% do território nacional. A economia cresce em ritmo acelerado, o governo tem fama de austero e a pobreza diminui 21“ (VEJA 1993 in BARREIRA 2002: 70).
Tatsächlich können für die 1990er Jahre in vielen Bereichen positive Entwicklungen verzeichnet werden. Dazu zählen u. a. die Konsolidierung des Bundesstaatshaushaltes, eine effizientere Gestaltung der Bürokratie, der Ausbau der Grundinfrastruktur in den Städten und eine Erweiterung des Gesundheitssystems, eine höhere Grundschulbesuchsrate und eine drastische Reduzierung der Kindersterblichkeit (ARRUDA 2002: 7; KÜSTER 2003: 138; TENDLER 1997: 11). Ganz im Sinne eines schlanken und effizienten Staates wurde gleich zu Beginn der Amtszeit des Governo das Mudanças damit begonnen, die öffentliche Verwaltung zu rationalisieren. Die neuen Bestimmungen, wie beispielsweise die Einführung einer Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz, die Kopplung des Lehrer_innengehaltes an die Zahl der tatsächlich gelehrten Stunden und die ausschließlichen Vergabe von Dienststellen im öffentlichen Dienst über öffentliche Ausschreibungen zeitigten deutliche Auswirkungen auf die Haushaltskasse. So 21 „als wäre es ein unabhängiges Land, abgekoppelt vom Brasilien der Krise, von den Korruptionsanzeigen, dem administrativen Durcheinander und dem wirtschaftlichen Stillstand, entwickelte sich Ceará zu einem Ort des Wohlstandes ganz im Gegensatz zu dem, was man auf 98% des nationalen Territoriums zu sehen bekommt. Die Wirtschaft wächst in rasantem Tempo, die Regierung hat den Ruf, sparsam zu sein und die Armut verringert sich“ (Veja 1993 in BARREIRA 2002: 70; eigene Übersetzung).
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wurde die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst um ca. 40.000 Stellen reduziert, wodurch der Anteil der Staatsausgaben für die Gehälter der öffentlichen Angestellten von 87% (1987) auf 45% (1991) zurück ging (BARREIRA 2002: 95 f.; TENDLER 1997: 9). Zwischen den Jahren 1987 und 1995 wuchs das Bruttosozialprodukt in Ceará um 40,9%, während es im gleichen Zeitraum in Brasilien um 12,2% und im Nordosten lediglich um 10,9% anstieg, so dass Ceará nach Bahia zur zweitgrößten Wirtschaft im Nordosten aufstieg (KÜSTER 2003: 138). Durch die Öffnung und eine gezielte Anwerbung ausländischer Investitionen konnten zwischen 1991 und 1994 446 ausländische Firmen und Investitionen im Wert von 5,2 Mrd. R$ angelockt werden (MONTE 2005: 141). Insbesondere seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurden große Infrastrukturprojekte in Angriff genommen, wie der Bau des Industriehafens von Pecém samt der Ansiedlung der Stahlindustrie, große Investitionen im Tourismus- und Transportsektor, wie der Ausbau des Flughafens Pinto Martins und der U-Bahn in Fortaleza und nicht zuletzt Investitionen im Wassersektor, wie der Bau des Stausees Castanhão und von Verbindungskanälen zwischen den unterschiedlichen Wassereinzugsgebieten (interligação das bacias hidrográficas) (ebd.: 144; BONFIM 2002: 56 f.). Doch im Gegensatz zu der euphorischen Berichterstattung in der VEJA stellen sich die sozialen Indikatoren weit weniger positiv dar: Sowohl auf dem Land als auch in den Städten erhöhte sich in den 1990er Jahren die Zahl der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Gleichzeitig vergrößerten sich die Einkommensunterschiede, während die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellten und die Migration in die Städte weiter zunahm, verbunden mit teilweise chaotischen Verstädterungsund zunehmenden Marginalisierungs- und Verarmungsprozessen (ARRUDA 2002: 7 f.; LIMA & BOTÃO 2006: 124; CHACON 2007: 135). Selbst die dem Umstrukturierungsprogramm gegenüber so positiv eingestellte Weltbank bemängelte, dass das Wirtschaftswachstum in Ceará nicht zu einer Verbesserung der Lebensqualität der unteren Einkommensschichten beigetragen habe (KÜSTER 2003: 151). Für den Agrarsektor bedeuteten die neoliberalen Umstrukturierungsmaßnahmen eine Liberalisierung des Agrarmarktes und eine verstärkte Ausrichtung auf das Agrobusiness. Nachdem der Staat nicht mehr in der Lage war, die hohen landwirtschaftlichen Subventionen und den Betrieb staatlicher Bewässerungsprojekte zu finanzieren, veränderte sich seine Rolle und Selbstverständnis. Anstelle eigene Projekte zu betreiben, reduzierte sich seine Aufgabe dahingehend, eine geeignete Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und günstige Bedingungen für ein international agierendes Agrobusiness zu schaffen (ELIAS 2002: 26; SOARES 2004b: 3). Die zunächst für eine kleinbäuerliche Familienlandwirtschaft konzipierten staatlichen Bewässerungsprojekte wurden dadurch zunehmend privatisiert und von großen Agrarunternehmen übernommen. Waren die Flächen für Unternehmen innerhalb der Projekte zunächst auf einen Anteil von 20% reglementiert, so wurde der Anteil bald auf 50% erhöht (UNTIED 2005: 75), später wurden solche Beschränkungen zumeist ganz aufgehoben. Neben der als ‚Emanzipation‘ bezeichneten Privatisierung der Bewässerungsprojekte der CODEVASF und des DNOCS erweiterte das Agrobusiness auch außerhalb bereits bestehender Projekte
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die Anbauflächen, was zu einer zunehmenden Monopolisierung des Anbaus und zu vermehrten Verdrängungsprozessen von Kleinbäuer_innen führte. In Ceará begann die Expansion der kapital- und technologieintensiven Bewässerungslandwirtschaft zunächst auf der Chapada do Apodi, einer Hochfläche im Nordosten des Bundesstaates, wo auch heute noch die größten Produktionsflächen nationaler und internationaler Agrarunternehmen zu finden sind (s. Kap. 10.1). Mit den neoliberalen Umstrukturierungsmaßnahmen der 1990er Jahre, der Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik auf das Agrobusiness und der Konzentration von Infrastrukturmaßnahmen und Investitionen auf wenige Regionen wurden die Grundlagen für die aktuellen Strukturen des ländlichen Raums in Ceará geschaffen (CHAVES 2006: 330 f.; SOUSA 2010: 213; AMARAL 2007: 30). 6.4.4 Das Machtkarussell: Umstrukturierung, Zentralisierung und Isolierung Die Neuausrichtung der Politik in Ceará, die Umstrukturierungsmaßnahmen, die institutionellen Veränderungen und die Entstehung neuer Subjektpositionen innerhalb eines neoliberalen Entwicklungsdiskurses hatten unweigerlich auch Veränderungen der bestehenden Machtverhältnisse zur Folge. Der Versuch von TASSO JEREISSATI, das klientelistische System des Coronelismo aufzubrechen, indem die traditionellen Kommunikationswege zwischen lokalen Machthabern und Zentralregierung gekappt und neue Entscheidungsstrukturen aufgebaut wurden, hatte sowohl eine weitere Zentralisierung der Macht als auch einen Bruch mit vielen bisherigen Verbündeten zur Folge (TADDEI 2005: 278; CHACON 2007: 138). Die Konflikte mit der politischen Klasse, die JEREISSATI insbesondere in den letzten Jahren seiner ersten Amtsperiode ausfechten musste, gingen so weit, dass von den ursprünglich 30 Abgeordneten im Parlament am Ende nur noch sechs auf Seiten der Regierung übrig blieben (DIÓGENES 2002: 110). Die Zentralregierung in Fortaleza wurde zunehmend isoliert. Die Vorstellung, den Staat wie ein Unternehmen führen zu wollen, führte dazu, dass mehr und mehr Expert_innen die wichtigsten Führungspositionen im Regierungsapparat besetzten. Gleichzeitig nahmen auch die Bedeutung und der Einfluss internationaler Organisationen – in erster Linie der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank, aber auch der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) – an der Regierungsführung beständig zu. Die internationalen Banken waren dabei nicht nur wichtige Kreditgeber für den Bundesstaat, sondern auch an der Erstellung und Umsetzung von Entwicklungsplänen und deren Evaluierungen beteiligt. Die Kooperation zwischen internationalen Banken und der Regierung ging sogar so weit, dass wichtige Posten innerhalb der Regierung an Vertreter_innen der internationalen Organisationen übertragen wurden (CHACON 2007: 139). In der Regierungszeit von CIRO GOMES (1990–1994) waren 71% der Staatssekretär_innenposten von so genannten Expert_innen (técnicos_as) und 4% von Unternehmer_innen besetzt, während nur 17% der Staatssekretär_innen als ‚klassische‘ Politiker_innen gelten konnten (BONFIM 2002: 43). Die traditionellen Politiker_innen hatten ihre angestammte Funktion als Sprachrohr bestimmter Inte-
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
ressen und Regionen, über die der Zugang zu den staatlichen Mitteln erlangt werden konnte, somit weitestgehend eingebüßt. Insbesondere das ‚Hinterland‘ verlor dabei zunehmend an Bedeutung. Die Zentralisierung politischer Entscheidungsprozesse, die Schwerpunktsetzung auf der Industrialisierung und die zunehmende Bedeutung des urbanen Raums, insbesondere der Großregion Fortaleza, führten zu einer zunehmenden Marginalisierung des Sertão. Die Sicherung des Wasserbedarfs in den urbanen Zentren des Landes wurde zu einem wichtigen Entwicklungsziel erklärt, während Investitionen in die Wasserinfrastruktur des ländlichen Raumes jenseits der großen Bewässerungszentren als unrentabel galten. Der Sertão wurde somit einmal mehr zum ‚Ort ohne Zukunft‘ (lugar sem futuro) (CHACON 2007: 91), in den es sich nicht zu investieren lohnt (ebd.: 91f.). Mit Hilfe einer urbanen, industriellen Elite und mit tatkräftiger Unterstützung internationaler Organisationen wurde in Ceará ein neoliberales Vorzeigemodell implementiert, das jedoch nicht zu einer substantiellen Veränderung der Armutssituation beitragen konnte (MONTE 2005: 144). Die alten Klientelismusstrukturen wurden zwar zurückgestutzt und viele Coronéis verloren ihren traditionellen Einfluss auf die Politik der Zentralregierung. Dies hatte jedoch keine völlige Veränderung politischer Entscheidungsstrukturen zur Folge. Zwar wurden die alte Agraroligarchie durch eine ‚moderne‘ Unternehmerriege und der aufgeblähte Staatsapparat durch eine moderne, leistungsorientierte Bürokratie ersetzt. Doch bedeutete dies keineswegs eine Überwindung von klientelistischen Netzwerkstrukturen, die auch in ‚modernen‘, neoliberalen Systemen eine wichtige Rolle spielen: „Clientalism is not only a feature of a distinct social structure, it is also a political genre. This accounts for its continued pervasive presence, even in situations in which patriarchal structures are not as evident, such as in modern bureaucracies, which are supposedly organized according to meritocratic principles“ (TADDEI 2005: 153).
6.5 KONTINUITÄTEN: MACHT- UND NATURVERHÄLTNISSE 6.5.1 Der Coronelismo Die Geschichte des Nordostens anhand bestimmter Bruchlinien (Große Dürre, Entstehung der SUDENE, neoliberaler Umbruch) zu erzählen soll nicht den Eindruck erwecken, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse entlang dieser Brüche jeweils grundlegend veränderten. Vielmehr wurde immer wieder darauf hingewiesen, welche Kontinuitäten sich in den Diskursen (dichotome Gegenüberstellungen zwischen traditionell und modern) und den auf Naturaneignung beruhenden Machtverhältnissen (Besitzverhältnisse und Verhinderung einer Agrarreform) wiederfinden. Mit Blick auf die Machtverhältnisse in der semiarid geprägten Region des Nordostens lassen sich bestimmte Konstellationen und Funktionsweisen nachzeichnen, die bis heute eng mit einem spezifischen Begriff verbunden werden: dem Coronelismo. Der Begriff etablierte sich nach der Revolution von 1930 und wurde mit der Veröffentlichung des Buches ‚Coronelismo, enxada e voto‘
6.5 Kontinuitäten: Macht- und Naturverhältnisse
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(Coronelismo, Hacke und (Wahl)Stimme) von VICTOR NUNES LEAL (1949) auch innerhalb der akademischen Auseinandersetzungen weitestgehend übernommen (LEAL 1949; DOMINGOS & HALLEWELL 2004: 95; CARVALHO 1997). Mit dem Begriff des Coronelismo beschreibt LEAL in erster Linie ein spezifisches System von Machtbeziehungen, das die Erste Republik (1889–1930) charakterisierte, und auf das einige Autor_innen die Begriffsverwendung beschränkt sehen möchten. Die Grundlagen des Systems wurden bereits in der Art und Weise der kolonialen Aneignung und Kontrolle des Territoriums durch die europäischen Besetzer gelegt. Die koloniale Gesellschaft war als patriarchales System um einzelnen Führungspersönlichkeiten (senhores da terra) organisiert, deren Macht auf dem Besitz großer Ländereien und der Befehlsgewalt über ein mehr oder weniger großes Heer an bewaffneten Männern (vaqueiros, jagunços) beruhte. Da die Krone sich nicht in der Lage sah, weder das neu besetzte Territorium zu kontrollieren noch die Macht der Großgrundbesitzer zu beschneiden, wurde über eine Politik der friedlichen Koexistenz versucht, die Kolonie zu regieren. Solange die einzelnen fazendeiros die Zentralgewalt akzeptierten, wurde ihre Machtposition auf lokaler Ebene, inklusive der Ausübung von hoheitsrechtlichen Aufgaben (Gewaltanwendung, Rechtsprechung), nicht in Frage gestellt (TADDEI 2005: 108; PAULINO 1992: 38). Nach der Abdankung von Kaiser DOM PEDRO I. wurde 1831 mit der Gründung der Nationalgarde (Guarda Nacional) nach französischem Vorbild das System der Machtübertragung auf Einzelpersonen institutionalisiert. Dadurch sollte dem Militär ein ziviles Gegengewicht gegenübergestellt werden, um der Gefahr eines militärischen Umsturzes entgegenzuwirken. Rekrutiert wurden die Mitglieder der Nationalgarde unter der wohlhabenden Bürgerschicht, die ihre Titel entweder verliehen bekamen oder sich erkauften. Somit konnten die mächtigsten Großgrundbesitzer und politischen Anführer eines Munizips, die über genügend Geldmittel verfügten, um Uniformen, Waffen und die Munition ihrer Truppen bezahlen zu können, den Titel eines Coronel erwerben. Mit dem Militärputsch von 1889 und der Ausrufung der Republik verlor die Nationalgarde zunehmend an Bedeutung, bis sie 1922 vollständig aufgelöst wurde. Der Titel des Coronel hatte jedoch in den Sprachgebrauch der Bevölkerung Einzug gehalten und wird seitdem für die Benennung von mächtigen lokalen Führungspersönlichkeiten genutzt (SINGELMANN 1975: 66 f.; CARVALHO 1997; HALL 1978: 37; MONTE 2005: 76). Für das sich etablierende komplexe System der Machtbeziehungen und Abhängigkeitsstrukturen, das später als Coronelismo bezeichnet wurde, stellte die wirtschaftlich und politisch spezifische historische Situation Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlage dar. Mit der Verfassung von 1891 wurde der Zentralismus des Kaiserreichs geschwächt und ein föderales System implementiert. An die Stelle des Provinzpräsidenten trat der Gouverneur eines Staates, der nun nicht mehr von oben eingesetzt, sondern gewählt werden sollte. Somit war er direkt von einer lokalen Machtbasis und somit von der Unterstützung durch die lokalen Coronéis abhängig. Gleichzeitig erlebten jedoch die lokalen Chefs Ende des 19. Jahrhunderts eine Phase des wirtschaftlichen Abschwungs und des schwindenden sozialen Einflusses, was wiederum ihre Position gegenüber der Zentralregierung schwäch-
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
te. Der Coronelismo kann demnach als Ergebnis sich verschiebender Machtverhältnisse während der Ersten Republik angesehen werden, der auf einem System gegenseitiger Abhängigkeit und Anerkennung unterschiedlicher Machtebenen (compromisso coronelista) beruht (LEAL 1949; CARVALHO 1997; WOODARD 2005: 100). Mit der Machtübernahme durch GETÚLIO VARGAS 1930 und der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung Brasiliens, schien die Hochphase des traditionellen Coronelismo zu Ende. Spätestens mit der Verhaftung der mächtigen Coronéis von Bahia (1930) und dem Sturz von FLORES DA CUNHA als letztem der großen „caudilhos gaúchos 22“ (CARVALHO 1997) (1937) sehen viele Autor_innen die Zeit des Coronelismo für abgeschlossen an. Doch selbst wenn die Phase der personalisierten Machtpolitik auf lokaler Ebene geschwächt wurde, so haben sich die Mechanismen des Machterhalts, die mit einer Mischung aus Repressionen und Gefälligkeiten operieren, bis heute erhalten (MALVEZZI 2007: 66 f.; LEAL 1949: 256 f.; TADDEI 2005: 115; MONTE 2005: 77 ff.). 6.5.2 „Para os amigos pão, para os inimigos pau 23“: Funktionsweise des Coronelismo „E assim nos aparece este aspecto importantíssimo do ‘coronelismo’, que é o sistema de reciprocidade: de um lado, os chefes municipais e os ‘coronéis’, que conduzem magotes de eleitores como quem toca tropa de burros; de outro lado, a situação política dominante no Estado, que dispõe do erário, dos empregos, dos favores e da força policial, que possui, em 24 suma, o cofre das graças e o poder da desgraça “ (LEAL 1949: 43).
In dem Zitat von NUNES LEAL werden bereits die zentralen Funktionsweisen des Coronelismo benannt. Wichtig erscheint dabei vor allem, dass die Macht nicht einseitig von oben nach unten, von der Zentralgewalt auf die lokalen Herrscher oder von den lokalen Chefs auf die ländliche Bevölkerung ausgeübt wird. Vielmehr bestehen auf allen Ebenen und in alle Richtungen gegenseitige Abhängigkeitsbeziehungen, die LEAL als System der Reziprozität bezeichnet. Im Sinne FOUCAULTS stellt der Coronelismo somit eine komplexe strategische Situation innerhalb einer spezifischen gesellschaftlichen Konstellation dar (FOUCAULT 1983: 114). Dabei können sowohl vertikale als auch horizontale Dimensionen von Machtverhältnissen ausgemacht werden. Die vertikale Dimension besteht demnach aus einem hierarchischen System von Abhängigkeiten zwischen der Natio22 Spezielle Bezeichnung der Coronéis aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul. 23 „Für die Freunde das Brot, für die Feinde den Stock“ (Spruch, der laut VICTOR NUNES LEAL einem Abgeordneten aus Minas Gerais zugeordnet wird (LEAL 1949: 39, eigene Übersetzung). 24 „Und somit erscheint uns ein Aspekt des Coronelismo ganz besonders bedeutend, das System der Reziprozität: auf der einen Seite die Chefs der Munizipien und die ‚Coronéis‘, die die Wählermassen führen, wie jemand, der Eselherden führt; auf der anderen Seite die Regierungspartei, die über die Staatskasse, die Arbeitsplätze, die Gefälligkeiten und die Polizeigewalt verfügt, die, zusammengefasst, den Schatz der Gnade und die Macht der Ungnade besitzt“ (LEAL 1949: 43, eigene Übersetzung).
6.5 Kontinuitäten: Macht- und Naturverhältnisse
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nalregierung, den bundesstaatlichen Gouverneuren, der Munizipalverwaltung und den regionalen Machthabern. Dabei existiert zwischen dem lokalen Wortführer, der lediglich ein paar hundert Wähler (später auch Wählerinnen) hinter sich vereinen kann, und dem Präsidenten der Republik eine ganze Abstufung unterschiedlichster Machtpositionen, die eingenommen und innerhalb eines strukturierten Handlungsfeldes gestaltet werden können. Da die Zentralregierung einen nur sehr geringen direkten Einfluss auf die lokale Bevölkerung ausüben kann, ist sie für die Absicherung und Ausübung ihrer Macht auf das komplexe System von Machtbeziehungen auf den verschiedenen Maßstabsebenen angewiesen (TADDEI 2005: 112). Durch die Übertragung der Kontrolle öffentlicher Ämter an die lokalen Machthaber und die selektive Vergabe staatlicher Mittel soll die Loyalität der untergeordneten Ebenen erhöht und die Legitimation der Machtausübung gefestigt werden. Insbesondere die Übertragung der Kontrolle der Polizeigewalt stellte in der Zeit der Ersten Republik für die lokalen Machthaber eines der wertvollsten Austauschobjekte des politischen Paktes dar: Dadurch konnten die politischen Gegner kontrolliert und in Schach gehalten werden, die Auslegung der Gesetze gedehnt und Verbrechen begangen oder verdeckt werden (LEAL 1949: 47). Daneben stellte der Zugang zu Finanzmitteln einen zentralen Mechanismus für die Absicherung der Machtverhältnisse auf unterschiedlichen Ebenen dar. Da die meisten Kleinbäuer_innen keinen Zugang zu Bankkrediten hatten, waren private Kredite und aufgeschobene Zahlungen für viele die einzigen Kreditmöglichkeiten. Dies war (und ist) gleichzeitig auch eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Praxis des Verkaufs der landwirtschaftlichen Produktion zu einem bereits vor der Ernte festgelegten Preis (compra na folha), woraus sich wiederum neue Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse speisten. Somit ist es wenig verwunderlich, dass die Versuche der Ausweitung des Kreditsystems auf die Kleinbäuer_innen, wie es in verschiedenen Entwicklungsprogrammen der 1970er vorgesehen war, immer wieder scheiterten. Zu groß war das Interesse der Großgrundbesitzer, selbst an günstige Kredite zu gelangen und das Monopol der Kreditvergabe auch weiterhin in den Händen der lokalen Chefs zu belassen. Aber auch zwischen der lokalen Ebene und der bundes- und nationalstaalichen Regierung gehörte der Transfer von Finanzmitteln zu einem der wichtigsten Machtabsicherungsmechanismen. Um wichtige und sichtbare Infrastrukturprojekte (Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser, Wasserversorgung, Energieversorgung) umsetzen zu können, waren die lokalen Machthaber auf die Mittelzuweisungen der Zentralregierung, beispielsweise über den Fundo de Participação dos Municípios (FPM), angewiesen. Somit war die Legitimierung ihrer Macht auf lokaler Basis direkt von den Zuweisungen der übergeordneten Ebenen abhängig (BURSZTYN 1984: 38; PAULINO 1992: 49; LEAL 1949: 45). Demgegenüber wurde von den Coronéis erwartet, die nötigen Mehrheiten bei den nächsten Wahlen zu garantieren. Die Wählerstimmen wurden somit zu einer Art Währung des gegenseitigen Austauschverhältnisses (NOHARA & SILVA MARCOS OLIVEIRA MARQUES 2008; ELIAS 2002: 23), wobei die gängigen Metaphern eines ‚curral eleitoral‘ (Wahlstall) oder des ‚voto de cabresto‘ (Stimme eines
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Ochsen im Zaumzeug) sowohl auf den ländlichen Raum als auch auf die Unmündigkeit der Wähler_innen verweisen (CARVALHO 2002: 11). Dabei wurden die Wahlen im ländlichen Raum, wo die meisten Wähler_innenstimmen ‚gekauft‘ werden konnten, zu einem recht aufwendigen und kostspieligen Unterfangen für die lokalen Coronéis: „Os chefes municipais organizam os meios de transporte, preparam nas povoações os alojamentos e cuidam da alimentação das centenas e, às vezes, milhares de eleitores. Essa hospedagem é dispendiosa, porque, no interior, os eleitores comparecem nas vésperas do pleito e só regressam no dia seguinte às eleições; e durante esse tempo, eles não despendem um real, nem mesmo com as diversões que são obrigatórias nos povoados em dias de pleito eleitoral 25“ (VELASCO in LEAL 1949: 35–36).
Angesichts des betriebenen Aufwandes erscheint es allzu verständlich, dass die Wähler_innen des ländlichen Raumes zumeist denjenigen ihre Stimme gaben, die für das Wahlspektakel zahlten, insbesondere da der Akt des Wählens keine direkten Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit zu haben schien (ebd.: 36). Die Machtverhältnisse im Coronelismo hatten jedoch auch einen räumlichmateriellen Charakter. Traditionell stützte sich die Macht der Coronéis auf die Kontrolle über strategische Ressourcen, vor allem über Landbesitz und den Zugang zu Wasser. Darüber hinaus stellte die räumliche und gesellschaftliche Isolierung der ländlichen Siedlungen die Grundlagen für die Aufrechterhaltung der Abhängigkeitsbeziehungen dar, da soziale Kontakte und der Bezug von Informationen zumeist nur über den lokalen Patriarchen möglich waren (SOUZA 1997: 28; TADDEI 2005: 120; CARVALHO 1997). Das vertikale Beziehungsgeflecht zwischen lokalen Machthabern umfasste jedoch nicht nur Großgrundbesitzer aus traditionellen Familien. Daneben konnten auch Geschäftsmänner den Status eines Coronel erhalten, einflussreiche Anwälte oder Ärzte, mit denen strategische Allianzen eingegangen wurden (meist Doutor genannt), bis hin zu Pfarrern, die als intellektuelle und oft charismatische Führungspersönlichkeiten großen Einfluss auf die Bevölkerung ausüben konnten (bspw. PADRE CICERO) (DOMINGOS & HALLEWELL 2004: 96 f.). Dreh- und Angelpunkt der lokalen Machtstrukturen stellten die Familien- und Freundschaftbeziehungen eines bestimmten Clans dar. Dabei wurden die moralischen Regeln eines Familienclans, der nicht alleine auf die Blutsbanden einer Familie beschränkt blieb, zu den Regeln des öffentlichen Raums. Ehre und Treue unter den Mitgliedern zählten dabei mehr als die Mitgliedschaft in einer Partei oder politische Versprechungen, wodurch die Vetternwirtschaft (Nepotismus) zum allgemein akzeptierten Verhaltenskodex mutierte: 25 „Die Chefs der Munizipien organisieren die Transportmittel, bereiten in den Dörfern die Unterkünfte vor und sorgen für die Verpflegung für Hunderte, manchmal Tausende von Wählern. Diese Unterbringung ist kostspielig, da, im Landesinneren, die Wähler am Vorabend der Wahlen ankamen und erst am Tag nach den Wahlen zurückkehrten; und während dieser Zeit geben sie keinen einzigen Real aus, nicht einmal für die Vergnügungen, die in den Dörfern an den Wahltagen zum Pflichtprogramm gehören“ (VELASCO in LEAL 1949: 35–36, eigene Übersetzung).
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„Assim entre a lei impessoal que diz ‚não pode‘ e o amigo do peito que diz ‚eu quero!‘, ficamos com o amigo e damos um jeito na lei 26“ (DA MATTA in KÜSTER 2003: 126).
Die Überschneidungen von politischen und privaten Sphären führten sowohl dazu, dass oft blutig ausgetragene und manchmal über Generationen anhaltende Familienfehden die ökonomischen oder politischen Auseinandersetzungen und Interessen überdeckten. Andererseits kam es aber auch immer wieder dazu, dass sich politische Konflikte in Familienfehden verwandelten (SINGELMANN 1975: 68). ‚Para os inimigos pau,... Gewalt war eine weit verbreitete Praxis, die den Strukturen des Coronelismo inhärent war; sei es zwischen konkurrierenden Coronéis oder Familienclans oder zwischen einem Machthaber und seinen Untergebenen: „In the politics of coronelismo, violence was endemic and pervasive“ (SINGELMANN 1975: 72). Neben der Inszenierung eines Wahlspektakels und dem Wahlbetrug gehörten auch die Anwendung von Gewalt und die Etablierung einer „cultura de medo e da adaptação 27“ (PRATA in KÜSTER 2003: 124) zu den Strategien der Machtsicherung. Da die führenden Machthaber die Polizei und den lokalen Verwaltungsapparat kontrollierten, waren sie quasi immun gegenüber der Justiz. Gleichzeitig existierten viele informelle und private Milizen, die strategische Allianzen mit den örtlichen Coronéis und Polizeitruppen eingingen, wodurch eine undurchsichtige Gemengelage aus privater und staatlicher Macht und legaler und illegaler Machtausübung entstand (SINGELMANN 1975: 75). Gewalt hatte sich „in die Machtverhältnisse des Sertão eingeschrieben“ (BARTELT 2001: 332), was sich auch in der als cordel bezeichneten Populärliteratur des Nordostens manifestiert. Von den 683 cordéis mit populären Gedichten, die RONALD CHILCOTE in seiner Arbeit über die Machtverhältnisse im Nordosten Brasiliens untersuchte, behandelt allein die Hälfte (341) das Thema Gewalt in unterschiedlichen Variationen (Banditentum, persönliche Auseinandersetzungen, Familienfehden etc.) (CHILCOTE 2006: 241). Als inhärenter Bestandteil der Machtverhältnisse wurde Gewalt jedoch nicht einseitig von oben nach unten, nicht allein von den Machthabern auf die Bevölkerung ausgeübt. Vielmehr waren auch die unteren Schichten in die Gewaltverhältnisse eingebunden – sowohl als Opfer als auch als Ausübende von Gewalt (BARTELT 2001: 333). Es bestand eine hohe Bereitschaft, Gewalt in Auseinandersetzungen einzusetzen, sei es um die eigenen Interessen oder die des Chefs (patrão) zu schützen oder durchzusetzen (SINGELMANN 1975: 72). Auch in den häufig auftretenden Plünderungen in Dürrezeiten, den Überfällen auf Lagerhäuser oder Züge zeigte sich, dass die Anwen26 “Zwischen dem unpersönlichen Gesetz, das sagt ‚das geht nicht‘, und dem Busenfreund, der sagt ‚ich will!‘, entscheiden wir uns für den Freund und finden eine passende Interpretation des Gesetzes“ (DA MATTA in KÜSTER 2003: 126, eigene Übersetzung). 27 „Kultur der Angst und der Anpassung“ (PRATA in KÜSTER 2003: 124; eigene Übersetzung).
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dung von Gewalt für viele eine praktische Handlungsoption darstellte. Waffen und körperliche Stärke waren dabei als Symbole der Macht eng mit der Absicherung von Machtverhältnissen verbunden. Speziell im Sertão war es lange Zeit noch üblich, dass sich Männer mit Gewehren oder Pistolen – als Ausdruck von Macht und von Männlichkeit – im öffentlichen Raum zeigten (CHILCOTE 2006: 241; TADDEI 2005: 119). … para os amigos pão.‘ In Machtverhältnissen kann Macht auf Dauer nicht allein über Gewalt und Unterdrückung aufrecht erhalten werden. Vielmehr sind für die Stabilisierung von Machtverhältnissen immer auch positive Anreizstrukturen vonnöten, um produktive Kräfte hervorzubringen. Das Wechselspiel zwischen Repression und Gefälligkeiten stellt eines der wesentlichen Charakterzüge des Coronelismo dar. Neben Fällen von direkter Vorteilsnahme und Korruption beruhte der Coronelismo auch auf einem subtilen System persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und sozialmoralischer Verpflichtungen. Eine ausführliche, wenn auch unvollständige Liste von Gefälligkeiten der coronéis gegenüber der ländlichen Bevölkerung hat LEAL in seinem Buch ‚Coronelismo, enxada e voto‘ zusammengetragen: „arranjar emprego; emprestar dinheiro; avalizar títulos; obter crédito em casas comerciais; contratar advogado; influenciar jurados; estimular e ‘preparar’ testemunhas; providenciar médico ou hospitalização nas situações mais urgentes; ceder animais para viagens; conseguir passes na estrada de ferro; dar pousada e refeição; impedir que a polícia tome as armas de seus protegidos, ou lograr que as restitua; batizar filho ou apadrinhar casamento; redigir cartas, recibos e contratos, ou mandar que o filho, o caixeiro, o guarda-livros, o administrador ou o advogado o façam; receber correspondência; colaborar na legalização de terras; compor desavenças; forçar casamento em casos de descaminho de menores 28“ (LEAL 1949: 38).
Dabei beruht das System stark auf der Person und dem Charisma des Coronel. Dieser muss aufgrund seiner Persönlichkeit in der Lage sein, Vertrauen zu schaffen und über andere zu dominieren. Machtverhältnisse aufrecht zu halten bedeutet in einer patriarchal geprägten Gesellschaft gleichzeitig auch, Geschlechterverhältnisse aufrecht zu halten. Die Dominanz des Mannes über die Frau fungierte als Grundvoraussetzung für die Akzeptanz der Dominanz über einen anderen Mann:
28 „einen Arbeitsplatz beschaffen, Geld leihen, Titel anerkennen, auf Kredit kaufen, einen Anwalt besorgen, Geschworene beeinflussen, Zeugen ermuntern und ‚vorbereiten‘, sich in Notfällen um Ärzte oder Krankenhausplätze kümmern, Tiere für Reisen stellen, Zugfahrkarten besorgen, Unterkunft und Verpflegung gewähren, die Beschlagnahmung von Waffen durch die Polizei verhindern, oder erreichen, dass diese erstattet werden, als Taufpate oder Trauzeuge fungieren, Briefe, Quittungen oder Verträge ausfertigen oder dafür sorgen, dass der Sohn, der Angestellte, der Buchhalter, der Verwalter oder der Anwalt dies erledigen, Schriftverkehr führen, bei der Legalisierung von Ländereien behilflich sein, Streitigkeiten schlichten, für den Fall, dass der Nachwuchs auf die schiefe Bahn gerät, Hochzeiten arrangieren“ (LEAL 1949: 38; eigene Übersetzung).
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„The caudillo had to be bold and able to dominate other men by force of his personality. He must be, as Latin Americans say, macho – male or masculine. Men must be dominant over women – this is one aspect of being a macho. But equally important is the ability to show dominance over other men. […] In the public sphere, where men deal with men, rewards go to the men able to subdue and dominate other men“ (WOLF & HANSEN in TADDEI 2005: 111).
Als Gegengewicht zu autoritären Herrschaftsformen, die auf Unterwürfigkeit und Gehorsam abzielen, dienen paternalistische Formen der Machtausübung in erster Linie der Legitimierung bestehender Machtverhältnisse und der Konsolidierung von Abhängigkeitsstrukturen. Dabei werden oftmals bestehende Rechte der Bevölkerung über die großzügige Geste des Coronel in Privilegien einzelner verwandelt. Dies führte wiederum zu Verhaltensweisen, bei denen zustehende Rechte von der Bevölkerung nicht eingefordert, sondern vielmehr als Gefälligkeiten erbeten werden (BURSZTYN 1984: 20; KÜSTER 2003: 127). Trotz unterschiedlicher Machtpositionen und unterschiedlicher Kräfteverhältnisse sollte auch bei der Analyse der Machtverhältnisse im Coronelismo eine einfache dichotome Gegenüberstellung zwischen Tätern und Opfern, Subjekten und Objekten der Macht vermieden werden (s. Kap. 3.2.2.1). Die Bevölkerung des Sertão kann nicht einfach als passives Opfer der Unterdrückung angesehen werden. Vielmehr überschneiden sich oftmals die Interessen der lokalen Machthaber und der sich diffus um sie gruppierenden Bevölkerung oder einzelner Segmente der Bevölkerung, was zu strategischen Allianzen innerhalb des Netzes an Machtbeziehungen führt. So ist es sowohl im Interesse der lokalen Machthaber als auch der ländlichen Bevölkerung, Geldmittel von der Zentralregierung einzuwerben, Infrastrukturmaßnahmen auszuweiten oder in Dürrezeiten möglichst bald den Notstand auszurufen, um Hilfsmaßnahmen verteilen bzw. erhalten zu können. Um innerhalb des ungleichen und oftmals ungerechten Systems des Coronelismo bestehen zu können, wurden auf allen Positionen aktiv Strategien der eigenen Vorteilsnahme entwickelt, wodurch sich die bestehenden Machtverhältnisse verfestigten (KÜSTER 2003: 122; TADDEI 2005: 140). 6.5.3 Machtsicherung über Naturaneignung: Die Industrie der Dürre Der besondere Blickwinkel, der in dieser Arbeit eingenommen wird, liegt nicht nur in einer auf FOUCAULT gestützten Analyse der Machtverhältnisse für ein besseres Verständnis der aktuellen Prozesse im Nordosten Brasiliens. Vielmehr soll auch der Frage nachgegangen werden, wie anhand bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen spezifische Naturverhältnisse hergestellt und wie über diese Machtverhältnisse verfestigt bzw. aufgebrochen werden. Konkret soll danach gefragt werden, wie die Niederschlagsverhältnisse im Nordosten über die als Coronelismo beschriebenen Machtstrukturen in Dürreverhältnisse transformiert, und wie darüber Machtverhältnisse produziert und reproduziert werden. Die Aneignung bzw. Ausbeutung von Natur stellte und stellt ein konstitutives Element der kolonialen und postkolonialen Gesellschaft Brasiliens dar. Die Strukturierung bzw. Stratifikation der Gesellschaft, die Produktionsstrukturen, Arbeits-
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teilung und Lebensweisen bis hin zu den räumlichen Strukturen können als Ausdruck der spezifischen gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten gelesen werden. Dabei sind in die gesellschaftlichen Naturverhältnisse Machtverhältnisse eingewoben, die über die Art und Weise der Naturaneignung gestützt werden. Die spezifischen Niederschlagsverhältnisse im Nordosten und deren zeitlich wie räumlich ungleiche Verteilung ermöglichen die Ausübung von Macht und den Ausbau von Abhängigkeitsstrukturen über die Kontrolle des Zugangs zur knappen Ressource Wasser. Dabei erscheint es erstaunlich, dass diese Abhängigkeitsstrukturen über die Jahre und Jahrhunderte hinweg so stabil geblieben sind. Insbesondere die großen, mehrjährigen Dürreereignisse bergen eigentlich das Potential, die ungleichen gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage zu stellen. Wenn langanhaltende Dürreperioden die Wirtschaft des Hinterlandes fast vollständig zum Erliegen bringen, Tausende von Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren und große Migrationsbewegungen zu immensen örtlichen Umstrukturierungen führen, bedeutet das eine radikale Herausforderung der bestehenden ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen. Doch anstelle von grundlegenden Veränderungen haben die Dürreereignisse immer wieder zu einer Stabilisierung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems geführt. Die Dürre wurde nicht zu einem Moment des Umsturzes, sondern zu einem Moment der Festigung der Machtverhältnisse. Indem die Dürren als Ursache und nicht als Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse gedeutet wurden, konnte die Verantwortung für die sozialen Ungleichheiten in den Bereich der Natur verlegt werden. Die Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gepaart mit der politischen Inszenierung der Hilfsmaßnahmen bewirkte eine zunehmende Legitimierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Gleichzeitig stellten Dürreereignisse aber nicht nur ein Moment der Stabilisierung und Legitimierung, sondern auch ein Moment der Bereicherung dar. Über die progressive Aneignung von Land- und Wasserressourcen, von Dürregeldern, Hilfsmaßnahmen und staatlichen Institutionen führten Dürren letztendlich zu einer Ausweitung der politischen und wirtschaftlichen Macht einer kleinen Elite und somit zu einer Vergrößerung der sozialen Ungleichheiten. Dieser Mechanismus der Aneignung und Bereicherung wird in Brasilien als Industrie der Dürre (indústria da seca) bezeichnet. Bereits im 19. Jahrhundert wurde der Ausdruck der Dürreindustrie benutzt, doch erst mit einer Serie von Artikeln in der Tageszeitung Correio da Manhã (1959), in der der Journalist ANTÔNIO CALLADO die Veruntreuung von Dürregeldern und die Bereicherungspraktiken im Nordosten anprangerte, wurde der Ausdruck in ganz Brasilien populär (VILLA 2000: 190 f.; SILVA 2006: 203). Die Metapher der Industrie deutet dabei auf die starke strukturelle Verankerung des Aneignungsmechanismus, den Quasi-Automatismus des Produktionsablaufes und den permanenten Zwang zur Steigerung der Produktion hin. „Die Produktivität dieser Industrie bestand und besteht darin, Notstandspolitik als Wirtschafts- und Erwerbszweig für regionale Eliten auszubauen“ (BARTELT 2001: 341).
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Mit dem Begriff der Dürreindustrie werden in erster Linie die Praktiken der Aneignung von Dürregeldern und Hilfsmaßnahmen durch die Agraroligarchie bzw. die Verteilung der Gelder und Maßnahmen entlang von Freundschaftsbeziehungen und Parteizugehörigkeit bezeichnet. Dabei spielte und spielt die staatliche Behörde zur Bekämpfung der Dürre DNOCS (ehemals IOCS bzw. IFOCS) eine wesentliche Rolle. Die Institution wurde weitestgehend von den lokalen Eliten des Nordostens – insbesondere aus Ceará – kontrolliert, so dass ihre Aktivitäten in erster Linie den Großgrundbesitzern zugutekamen. Bis zu Beginn der 1990er Jahre waren 80% der Leiter der Behörde Repräsentanten der Agraroligarchie aus Ceará (PAULINO 1992: 123), was FRANCISCO DE OLIVEIRA auf die Aussage zuspitzte: „Falar do DNOCS no Ceará, era o mesmo que falar da oligarquia e viceversa 29“ (OLIVEIRA 1981: 56). 6.5.3.1 (Ver)teilen und herrschen I: Açudes Spätestens nach der Dürre von 1877–1879 wurde der Ausbau der Wasserinfrastruktur als wichtigste staatliche Aufgabe im Kampf gegen die Dürre propagiert. Vermittelt über die Vorläuferorganisationen des DNOCS wurden im gesamten Nordosten Brunnen gebohrt und Stauseen (açudes) der verschiedensten Größen angelegt, um die Wasserspeicherkapazität der Region zu erhöhen. Doch auch die Strategie der Wasserakkumulation und die Produktion von Wissen über die Region fanden in einem machtgeladenen Setting statt, in dem sich verschiedene Interessen und Logiken überschnitten. So stellte die Dürre für viele Wissenschaftler_innen eine Chance dar, die Bedeutung der (Ingenieurs)Wissenschaft für die Lösung gesellschaftlicher Probleme in Brasilien unter Beweis zu stellen und ihre Teilhabe an den Prozessen über bestimmte Lösungsansätze zu verankern: „Engineers had an additional self-interested agenda. In proposing great hydraulic works or railroads, they in fact were advocating projects whose design and implementation would require their own participation. Furthermore, as chief or principal project engineers, they would enjoy significant patronage opportunities“ (GREENFIELD 2001: 103).
Gleichzeitig wurden die Ingenieure der IFOCS danach beurteilt, um wie viele Kubikmeter die Wasserspeicherkapazität während ihrer Amtszeit erweitert wurde, was oftmals zu einem absurden Wettlauf um ingenieurstechnische Meisterleistungen führte (HALL 1978: 9) (s. Kap. 10.2). Finanziert wurde der Bau der Staubecken entweder komplett über öffentliche Gelder oder aber in Kooperation mit den örtlichen Fazendeiros. Dabei übernahmen die Behörden die nötigen Vorstudien sowie 50–70% der anfallenden Baukosten, während die Grundstückbesitzer das Land und die benötigten Arbeitskräfte stellten (CARVALHO 1988: 211). Neben den Finanzierungsmodalitäten bestand der bedeutendste Unterschied zwischen den öffentlichen Staubecken und den Kooperations-Staubecken darin, dass letztere fast ausschließlich auf den privaten Grund29 „In Ceará von dem DNOCS zu sprechen, war das Gleiche wie von der Oligarchie zu sprechen und umgekehrt“ (OLIVEIRA 1981: 56; eigene Übersetzung).
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stücken der Landbesitzer angelegt wurden, was den öffentlichen Zugang zu Wasser weiter einschränkte und privatisierte. Schon allein ein Blick auf die Statistik des Staubeckenbaus der DNOCS gibt Hinweise auf die zugrunde liegenden Machtstrukturen und die Konsequenzen für die Wasserverteilung: Von den 861 açudes, die der DNOCS und seine Vorgänger zwischen den Jahren 1909 und 1981 im Nordosten bauen ließ, wurden 505 (59%) allein im Bundesstaat Ceará, dem Bundesstaat, der die politische Basis des DNOCS stellte, errichtet (s. Tab 6). 69% der Stauwehre wurden in Kooperation mit Grundstückeigentümern erstellt. Da die landlose Bevölkerung und die Kleinbäuer_innen ohne gültige Landtitel kein eigenes Grundstück stellen konnten und somit per Definition von dem Kooperationsprogramm ausgeschlossen blieben und viele Kleinbäuer_innen meist weder die nötigen Eigenleistungen noch die nötigen Beziehungen oder Kenntnisse hatten, um von dem Programm zu profitieren, kam der staatliche Staubeckenbau nur einer kleinen Minderheit der ländlichen Bevölkerung zugute und führte letztendlich zu einer weiteren Konzentration der Wasserressourcen. Auch die verschiedenen von dem DNOCS gebohrten Grundwasserbrunnen wurden zumeist auf den Grundstücken der lokalen Chefs und deren Verbündeten angelegt (PAULINO 1992: 141; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 53). Tab. 6: Staatlich & privat finanzierte Staudämme der IOCS/IFOCS bzw. des DNOCS (1909–1981).
Doch selbst die öffentlichen Staubecken trugen nur wenig zu einem verbesserten Wasserzugang für die ländliche Bevölkerung bei. Als der Agronom FRANCISCO DE ASSIS IGLÉSIAS während der Dürre von 1915 den Bundesstaat Ceará besuchte, stellte er verwundert fest, dass der Stausee Cedro, der damals größte Stausee des
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Nordostens, zwar ausreichend mit Wasser gefüllt war, dieses Wasser jedoch weder für die Bewässerung von Viehweiden, noch für die Produktion von Lebensmitteln genutzt wurde (CARVALHO 1988: 212). Die Bewässerung der Ländereien im Umkreis der Staubecken und die Bewirtschaftung der fruchtbaren Täler zum Anbau von Nahrungsmitteln für die lokale Bevölkerung hätte jedoch in erster Linie eine Aufteilung der Ländereien und somit eine Enteignung der Großgrundbesitzer bedeutet. Aus Angst vor einer Umverteilung setzte die herrschende Elite alles daran, eine Aufwertung der Ländereien durch den Ausbau der Bewässerungslandwirtschaft zu verhindern. Eine Erweiterung der Wasserakkumulation erscheint aber nur dann als sinnvolle Strategie zur Verhinderung von Dürren und zur Bekämpfung der Armut, wenn das gespeicherte Wasser von der lokalen Bevölkerung für die menschlichen Grundbedürfnisse, für die Produktion von Lebensmitteln und für die Viehhaltung genutzt werden kann. Da der Bau der Stauwehre nicht mit dem Bau von Bewässerungskanälen kombiniert wurde, konnten nur wenige von der erhöhten Wasserspeicherkapazität im Nordosten profitieren. Vielmehr trug die Strategie der Wasserakkumulation zu einer Perpetuierung der Herrschaftsverhältnisse bei: „as grandes obras hidráulicas se tornam um instrumento fundamental para a continuidade das relações de reciprocidade características do ‘compromisso coronelista’ 30“ (BURSZTYN 1984: 71).
6.5.3.2 (Ver)teilen und herrschen II: Carro Pipa Unbestritten ist, dass die Bemühungen des Staubeckenbaus im Nordosten Brasiliens zu einer immensen Ausweitung der Wasserspeicherkapazität geführt haben. Das brasilianische Integrationsministerium geht davon aus, dass im Nordosten bis zu 97,3 Mrd. m3 Wasser in den unterschiedlichen Stauseen gespeichert werden können (SDR & ADENE 2005: 85). In keiner anderen semiariden Region der Erde steht eine vergleichbare Wasserspeicherkapazität zur Verfügung (RIBEIRO 2007: 179 f.). Jedoch geben solche Durchschnittswerte keinen Einblick in die Gegebenheiten vor Ort. Allein in zehn der insgesamt über 70.000 Staubecken (≙ 0,01%) können über 73% der Wasserreserven gespeichert werden, was die extreme Konzentration des Wassers verdeutlicht. Die Mehrzahl der dispers lebenden ländlichen Bevölkerung hat dabei keinen Zugang zu den großen Wasserreserven (SDR & ADENE 2005: 85). Auch heute noch müssen viele Ortschaften im ländlichen Raum mit Wassertanklastwagen (carro pipa) versorgt werden. Obwohl 2008 das regenreichste Jahr seit 1985 verzeichnet wurde und noch nie in der Geschichte des Bundesstaates Ceará eine vergleichsweise Wassermenge gespeichert werden konnte, wurden von einigen Ortschaften in Ceará weiterhin die Tanklastwagen angefordert (LAGE 2009). Dabei müssen die Lastwagen meist nur recht kurze Dis30 „die großen Wasseranlagen wurden zu einem wichtigen Instrument für die Weiterführung der reziproken Beziehungen, die die ‚coronelistische Übereinkunft‘ charakterisierten“ (BURSZTYN 1984: 71, eigene Übersetzung).
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tanzen zurücklegen, um Wasser aufzufüllen und in die verschiedenen Gemeinden zu verteilen. Das Wasser ist vorhanden – lediglich die nötigen Verteilungsmechanismen sind unzureichend ausgebaut (ARTICULAÇÃO POPULAR SÃO FRANCISCO VIVO 2007: 36). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden die carros pipas zu einem der bekanntesten Symbole der Dürreindustrie. Selbst der Gouverneur von Ceará, CID GOMES, bezeichnete sie als ‚Schande für den Bundesstaat‘ (GOMES in CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008: 155). Dabei stehen sie nicht nur für die Unfähigkeit des Staates, das vorhandene Wasser an die bedürftige Bevölkerung zu verteilen. Vielmehr war die Verteilung des Wassers über die Lastwagen immer auch an politische Lager und gegenseitige Gefälligkeiten gebunden. Meist bestimmte der örtliche Coronel, wer wann wie viel Wasser zugeteilt bekam. Im Gegenzug wurde von den Gemeinden die Anerkennung der Anstrengungen des Coronel in Form von Wählerstimmen erwartet. Wurde diese Erwartung nicht erfüllt, kam es vor, dass bei der nächsten Dürre die dringend benötigten Wasserlieferungen ausblieben (COELHO 1985: 44).
Abb. 17: Carro Pipa in Ceará.
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6.5.3.3 (Ver)teilen und herrschen III: Frentes de Trabalho Eine der wichtigsten staatlichen Maßnahmen in Dürrezeiten war die Einrichtung sogenannter Arbeitsfronten (frentes de trabalho). Sie sollten eine Möglichkeit darstellen, in Dürrezeiten Arbeitsplätze für die Tausende von der Dürre betroffenen und von ihrem Land geflohenen Kleinbauern zu schaffen und ihnen somit zu einem geringen Einkommen in Notzeiten zu verhelfen. Gleichzeitig sollte mit Hilfe der Arbeitsfronten die staatliche Infrastruktur weiter ausgebaut werden. Neben dem Straßen- und Eisenbahnlinienbau und dem Errichten und Reparieren von Staubecken und Brunnen wurden vor allem öffentliche Einrichtungen und Gebäude errichtet. Somit schufen die Dürreflüchtlinge Krankenhäuser, Gefängnisse und Friedhöfe, die letztendlich vor allem für sie selbst bestimmt waren (BURSZTYN 1984: 75; GREENFIELD 2001: 58; MELO 2001). Neben der Schaffung von Einkommensmöglichkeiten wurde in der Verhinderung von Plünderungen und der Befriedung und Moralisierung der Dürreflüchtlinge der wichtigste Zweck der Arbeitsfronten gesehen. So sollte durch die Arbeit in den Arbeitsfronten die Zivilisation im Hinterland verbreitet werden: „If all these varied idlers could be brought to labor, Brazil would ‚advance to its proper place in the forefront of civilization‘“ (aus einer Kongressdebatte in GREENFIELD 2001: 10).
In erster Linie wurden die Arbeitsfronten von der führenden Agraroligarchie jedoch als Gelegenheit angesehen, mit Hilfe von billigen Arbeitskräften Arbeiten auf privatem Grund und für private Zwecke durchführen zu lassen. Einzelne Fazendeiros erhielten bis zu 2.000 Arbeiter, mit denen sie ihre Bauvorhaben günstig umsetzen konnten. Während die Kleinbauern aufgrund der Dürre oftmals ihren gesamten Besitz verloren hatten und um ihr Überleben und das ihrer Familien bangten, mussten sie die Bedürfnisse einer kleinen Elite befriedigen, was zum Teil groteske Ausmaße annahm. So wurde während einer Dürrezeit in Acari (Rio Grande do Norte) eine Arbeitsfront dazu benutzt, einen Swimmingpool in einem privaten Club zu errichten (COELHO 1985: 47; GREENFIELD 2001: 60). Auch anhand der Arbeitsfronten können die reziproken Abhängigkeitsverhältnisse des Coronelismo nachgezeichnet werden: Das Geld für die Arbeiten kam von der national- bzw. bundesstaatlichen Ebene, während die Verwaltung der Arbeitsfronten von den lokalen Machthabern übernommen wurde. Neben direkten Bereicherungen durch die Unterschlagung von Geldern wurden dadurch gleichzeitig die Loyalitätsbeziehungen gestärkt und Machtpositionen legitimiert. Bereits die selektive Aufnahme in die Arbeitsfronten stellte ein probates Mittel der Machtausübung dar. Oft wurden nur diejenigen aufgenommen, die der eigenen Partei angehörten oder von denen man sich einen strategischen Vorteil erhoffte. Frauen und Minderjährige waren grundsätzlich von den frentes ausgeschlossen. Somit wurde Frauen die Möglichkeit verweigert, in Dürrezeiten für ein eigenes Einkommen zu sorgen, wodurch ihre abhängige Position innerhalb des familiären Zusammenhangs und innerhalb der Gesellschaft verfestigt wurde (MELO 2001). Darüber hinaus konnte mit gefälschten Listen gutes Geld verdient werden. Oftmals tauchten sogenannte Geisterarbeiter (trabalhadores fantasmas) auf den Lis-
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ten auf, die niemals in den Fronten zum Einsatz kamen. Selbst bereits verstorbene Personen oder die Papageien der Großgrundbesitzer wurden auf den Listen geführt (PAULINO 1992: 124; COELHO 1985: 44; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 140; BURSZTYN 1984: 79; OLIVEIRA 1981: 55). Die Bereicherung der Großgrundbesitzer fand dabei vor allem auf Kosten der Arbeiter statt: Die Arbeitsfronten waren Arbeitslager, in denen oftmals ein militärischer Drill herrschte. Die Arbeitsbedingungen waren mit Arbeitszeiten von bis zu acht Stunden am Tag ohne eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln oder Wasser extrem hart. Meist mussten die Arbeiter ihre Werkzeuge selber mitbringen, es kam zu Ohnmachtsanfällen und sogar Todesfällen. Für die meist schwere körperliche Arbeit sollten den Arbeitern lediglich rund die Hälfte des gängigen Mindestlohns bezahlt werden. Doch häufig wurde der Lohn über Wochen oder Monate zurückbehalten, was bei einer hohen Inflationsrate einer Lohnkürzung gleichkam. Oftmals wurde ihnen nur ein Teil ihres versprochenen Lohns ausgezahlt oder sie wurden teilweise in Naturalien bezahlt. Für die Agraroligarchie des Nordostens wurden die Arbeitsfronten somit zu lukrativen Geschäften (COELHO 1985: 44 ff.; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 69 ff.; BURSZTYN 1984: 72 ff.). Da viele der Arbeiter nach ihrem Einsatz in den Arbeitsfronten nicht wieder in ihre ursprünglichen municípios zurückkehrten, forcierten die frentes die Migrationsbewegungen in die Städte. Die Folge war ein stetiges Wachstum insbesondere der Armutsgebiete am Rande der Städte mit hohen Arbeitslosenzahlen, prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen und vielen sozialen Spannungen. Gleichzeitig befürchteten viele Großgrundbesitzer, nicht mehr genügend Arbeitskräfte für ihre fazendas zur Verfügung zu haben. Mit der Dürre von 1979 wurde das Konzept der Arbeitsfronten – die nunmehr in Notfallfronten (frentes de emergência) umbenannt wurden – verändert. Die Arbeiter sollten nun nicht mehr für Arbeiten auf fremden Grundstücken eingesetzt werden, sondern Gelder für die Verbesserung der Infrastruktur ihrer eigenen Ländereien erhalten. Mit Hilfe eines abgestuften Kreditsystems wollte man den unterschiedlichen Realitäten der verschiedenen Betriebsgrößen gerecht werden. Bekamen Betriebe mit bis zu 20 ha Betriebsgröße ihre Ausgaben in vollem Umfang vom Staat erstattet, so mussten Betriebe mit bis zu 100 ha 20% der Ausgaben selbst bezahlen, Betriebe mit bis zu 500 ha 30% und Betriebe mit über 500 ha 50% der Ausgaben übernehmen (BURSZTYN 1984: 75). Dennoch konnte auch diese Maßnahme die Bereicherungsmechanismen der Dürreindustrie nicht aufbrechen. Teilten viele Großgrundbesitzer ihre Ländereien oftmals kurzerhand unter ihren Familienmitglieder auf, um so ihre Ausgaben in Dürrezeiten weitestgehend vom Staat übernommen zu bekommen, schafften es viele Kleinbauern nicht, die hohen bürokratischen Hürden für die Aufnahme in die frentes zu überwinden oder waren aufgrund fehlerhafter oder nicht vorhandener Landtitel von dem Programm ausgeschlossen (ebd.: 72 ff.; CARVALHO 1988: 255; CHACON 2007: 98).
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6.5.3.4 ‚Besser als ein regenreicher Winter‘ Über die Mechanismen, die bis heute als Dürreindustrie bezeichnet werden, werden die regelmäßig wiederkehrenden Notsituationen der Mehrheit der insbesondere ländlichen Bevölkerung des Nordostens in ein lukratives Geschäft einer bestimmten sozialen Klasse verwandelt. Mit der Aneignung von Hilfsgeldern, von Hilfsmaßnahmen, Krediten, Ländereien und Viehbeständen konnten die Großgrundbesitzer ihre wirtschaftliche und politische Macht in Dürrezeiten weiter ausbauen, während die ländliche Bevölkerung weiter verarmte. Durch die Arbeitseinsätze auf den privaten Grundstücken wurden diese erheblich aufgewertet, wodurch sie von den Großgrundbesitzern vermehrt als Kapitalanlagen eingesetzt wurden. Zusammen mit den leicht zugänglichen Krediten wurde über die Mechanismen der Dürreindustrie die Bodenspekulation angeheizt, was zu einer deutlichen Erhöhung der Bodenpreise und zu einem erschwerten Zugang zu Land führte. Somit kann festgestellt werden, dass die Maßnahmen gegen die Dürre die ohnehin bereits ausgeprägte Landkonzentration im Nordosten noch weiter verstärkte (BURSZTYN 1984: 44, 78). Für viele wurde die Dürre sogar zu einem profitableren Geschäft als ein regenreicher Winter (MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 87), was im Sertão in der Redewendung „a seca tem sido inverno para muita gente 31“ (VILLA 2000: 77) zum Ausdruck kommt. Somit bestand von Seiten der politischen Elite des Nordostens kaum ein Interesse daran, die Verhältnisse, die zu den regelmäßig auftretenden Dürreereignissen führten, grundlegend zu verändern. „Não é necessário acabar com a seca“ formulierte die angesehene Journalistin und Professorin an der Universität von Fortaleza, ADÍSIA SÁ, zugespitzt. „Pelo contrário, é indispensável que continue. De onde vão tirar as verbas para as repartições que foram criadas para cuidar disto? De onde vão tirar os eleitores? De onde vão tirar platéia para seus discursos? De onde vão tirar os ouvintes de suas promessas? De onde vão tirar o dinheiro para conservar o camponês nas suas terras? 32“ (SÁ in CARVALHO 1988: 323).
Die Dürreindustrie produziert jedoch nicht nur vermehrten Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite. Sie produziert gleichzeitig politische Abhängigkeiten und zerstört die Strukturen der Selbstorganisation der ländlichen Bevölkerung (VIEIRA 2004: 55). Über die paternalistischen Strukturen der Dürreindustrie, die Praktiken der Gefälligkeiten und des Ausschlusses werden die Kleinbäuer_innen „zu Geiseln der PolitikerInnen und Unternehmen gemacht […][, denen] das Recht genommen wird, ihre eigene Geschichte zu gestalten“ (ARTICULAÇÃO DO SEMI-ÁRIDO in CRUZ 2012: 2). 31 „Die Dürre war für viele zu einem Winter geworden“ (VILLA 2000: 77; eigene Übersetzung). 32 „Es ist nicht nötig, die Dürre zu beenden. Ganz im Gegenteil, es ist unerlässlich, dass sie weiterhin besteht. Woher sollten sonst die Mittel für die Abteilungen kommen, die dazu geschaffen wurden, sich darum zu kümmern? Woher sollten die Wähler kommen? Woher soll das Publikum für die Reden kommen? Woher sollten die Zuhörer für ihre Versprechen kommen? Woher sollen sie das Geld kommen, um den Bauern auf ihrem Land zu halten?“ (SÁ in CARVALHO 1988: 323; eigene Übersetzung).
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6. Genealogie der gesellschaftlichen Dürreverhältnisse
6.5.4 Brüche und Kontinuitäten: Neocoronelismo „What does it matter that the colonel is now a university graduate? Or that his plantation is now an industrial plant? Or that his henchmen are now advisers or technicians?“ (SOBRINHO in DOMINGOS & HALLEWELL 2004: 108).
Trotz der hier recht pauschalen und verallgemeinernden Darstellungsweise und der Betonung der Kontinuität und Beständigkeit von Machtstrukturen ist der Coronelismo kein starres System, das sich über die Jahre hinweg in gleicher Weise aufrecht erhalten konnte. Vielmehr änderten sich die Praktiken und Funktionsweisen mit den sich ändernden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Dominierten während der Kolonialzeit Praktiken des Befehlens und Gehorchens und die Durchsetzung von Interessen mit Hilfe von Zwang und Gewalt die Machtbeziehungen (Mandonismo), so wurden diese im Laufe der Jahre immer mehr durch Praktiken der Gefälligkeiten und der Vorteilsnahme (Klientelismus) abgelöst (CARVALHO 1997). Das System des Coronelismo bildet somit die Grundstruktur für die Machtverhältnisse im Nordosten Brasiliens und ist für ein Verständnis der aktuellen Mechanismen der Austausch- und Abhängigkeitsbeziehungen unerlässlich. Ob der Begriff des Coronelismo jedoch weiterhin aufrechterhalten oder lediglich als Bezeichnung für eine spezifische historische Phase verwendet werden sollte, und ob nicht etwa der Begriff des Neocoronelismo für die Beschreibung der aktuellen Machtverhältnisse vorzuziehen ist, bleibt umstritten (CARVALHO 2002: 11; WOODARD 2005: 110 f.; DOMINGOS & HALLEWELL 2004: 109; EBERTZ 2009: 65). Wichtig ist es jedenfalls, bei der Analyse der aktuellen Prozesse sowohl die historischen Wurzeln als auch die sich verändernden Rahmenbedingungen mit einzubeziehen. Dabei ist insbesondere das sich verändernde Verhältnis zwischen dem ländlichen und urbanen Raum zu beachten, mit sich miteinander immer stärker verbindenden Austauschbeziehungen, neuen Kommunikationsmitteln und -strukturen, einem zunehmenden Bildungsniveau insbesondere der ländlichen Bevölkerung, einer fortschreitenden Industrialisierung auch auf dem Land, und den sich daraus ergebenden neuen Arbeitsbeziehungen (KÜSTER 2003: 129; MALVEZZI 2007: 66). Dies hat nicht nur zu einer Aufhebung der Isolation vieler ländlicher Regionen und zu einem Bruch mit alten Privilegienstrukturen geführt, sondern auch zur Entstehung neuer Subjektpositionen, wie beispielsweise einer urbanen, industriellen Elite, einem modernen Agrobusiness, ausländischen Investoren, neuen Entscheidungsträgern (Beamte, Technokraten), aber auch zu einer neuen Rolle von sozialen Bewegungen und Widerstandsstrukturen. Zum anderen kann jedoch auch eine Kontinuität vieler Mechanismen und Praktiken nachgezeichnet werden: Nach wie vor funktionieren die Machtbeziehungen über die Aufteilung der Gesellschaft in Starke und Schwache, Schützer und zu Beschützende, in Handelnde und Empfangende (TADDEI 2005: 120), nach wie vor spielt Gewalt als politische Praxis – insbesondere auch in der Untersuchungsregion – eine wichtige Rolle und nach wie vor besteht ein System von reziproken Abhängigkeiten, das über gegenseitige Gefälligkeiten (Wahlkampffinanzierung vs. Vergabe von öffentlichen Aufträgen, Infrastrukturmaßnahmen, Steuererleichterungen, Gesetzesänderungen etc.)
6.5 Kontinuitäten: Macht- und Naturverhältnisse
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genährt wird (DOMINGOS & HALLEWELL 2004: 107 ff.; TADDEI 2005: 116, 119 f.; KÜSTER 2003: 143). Im Folgenden wird nun zu untersuchen sein, ob und inwiefern in dem Dispositiv der gesellschaftlichen Naturverhältnisse am Beispiel der Region Baixo Jaguaribe über die Einführung neuer institutioneller Arrangements (Integrated Water Resources Management), neue Subjektpositionen, Materialisierungen, Diskursverschiebungen und sich verändernde Praktiken und Partizipationsmöglichkeiten, die bestehenden Machtverhältnisse gestärkt und reproduziert, oder ob und inwiefern diese aufgebrochen und verändert werden können.
TEIL III: DIE ORDNUNG DER DINGE 7. INSTITUTIONALISIERUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN NATURVERHÄLTNISSE Um die Dürre im Nordosten Brasiliens nicht als natürliches Phänomen sondern als gesellschaftliches Naturverhältnis verstehen zu können, soll hier nicht nur eine Kontextualisierung und Historisierung der Dürre vorgenommen, sondern gleichzeitig auch ein Dispositiv der Dürre aufgespannt werden, durch das die Vielfältigkeit der Konstitution von Dürreverhältnissen in den Blick genommen werden kann. Dabei stellen institutionelle Arrangements, Diskurse, Materialisierungen und Subjektpositionen die einzelnen Elemente des Dürre-Dispositivs dar, die sowohl in ihren spezifischen Gegebenheiten als auch mit ihren gegenseitigen Wechselverhältnissen vorgestellt und untersucht werden sollen. Neben einer Analyse der intendierten und nicht-intendierten Folgen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Produktion und Reproduktion der bestehenden Verhältnisse und den Möglichkeiten von Brüchen und (emanzipatorischen) Veränderungen. Dabei stehen die Herrschafts- und Widerstandsstrukturen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Über eine Analyse der Machtverhältnisse sollen eine Bewertung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse gewagt und einzelne Elemente einer emanzipatorischen Transformation skizziert werden. Die Art und Weise, wie in einer Gesellschaft der Zugang zu, die Nutzung von und die Kontrolle über Natur geregelt und wie ein solches Regelsystem auf Dauer gestellt wird, kann als Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verstanden werden. Institutionen sind somit sedimentierte soziale Verhältnisse, die durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse strukturiert sind und gleichzeitig wiederum eine strukturierende Wirkung auf (soziales) Handeln ausüben. Indem über institutionelle Arrangements beispielsweise Eigentumsverhältnisse geregelt und Entscheidungsprozesse strukturiert werden, dienen sie der Reduktion von Komplexität und Unsicherheit und wirken gleichzeitig handlungsleitend. Somit können institutionelle Arrangements Handlungsoptionen sowohl ermöglichen als auch begrenzen, was am Beispiel des Wasserzugangs leicht veranschaulicht werden kann. Institutionen können jedoch nicht als gezielt eingesetzte Mechanismen zur Aufrechterhaltung von Machtpositionen gedeutet werden. Vielmehr sind sie Herrschaftsäußerungen und Effekte von Machtverhältnissen, über die gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert werden und die sich gegenüber Veränderungen als widerständig erweisen. Innerhalb des vielfältigen Institutionengefüges können Institutionen nach dem Grad ihrer Formalisierung (schriftlich fixiert oder lediglich faktisch akzeptiert), der Quelle ihrer Legitimation (Verfassung oder lokaler Konsens), der Formen der
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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Sanktionierungsmechanismen (Gerichtsverfahren oder sozialer Ausschluss), nach ihrer Reichweite (lokal bis global) und ihrem Regelungsfeld differenziert werden. Im Folgenden soll zunächst auf das System formaler Instututionalisierungen im Bereich des gesellschaftlichen Umgangs mit der Ressource Wasser im Bundesstaat Ceará eingegangen werden, um das Feld des Dürredispositivs zu eröffnen (BÜTTNER 2001: 34 ff.; DIETZ & ENGELS 2011: 24; LEACH et al. 1999; GIDDENS 1997: 77 f.; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 73–74; FOUCAULT 1983: 113; JÄGER 2000: 6). 7.1 DAS INSTITUTIONELLE SETTING DES STAATLICHEN WASSERMANAGEMENTS IN CEARÁ Staatliche Wasserpolitik und die Institutionen des Wassermanagements von anderen Politikfeldern abzugrenzen, ist nicht möglich. Zu sehr sind viele Bereiche der Sozial-, Wirtschafts- oder Umweltpolitik mit Fragen nach der Verfügbarkeit und Verteilung von Wasser verbunden. Ähnliches gilt für die Abgrenzung von Maßstabsebenen. Wenn im Folgenden der Fokus auf die staatliche Wasserpolitik des Bundesstaates Ceará gelegt wird, dann soll dies nicht im Sinne einer in sich geschlossenen Einheit verstanden werden. Vielmehr sollen immer wieder Verweise und Verbindungen zu den unterschiedlichen, sich gegenseitig beeinflussenden Bereichen und überlappenden Maßstabsebenen aufgezeigt und Hinweise auf die Produktion von Räumlichkeit und Territorialität gegeben werden. Die Darstellung des institutionellen Settings der staatlichen Wasserpolitik in Ceará soll für eine grobe Einordnung des lokalen Kontextes dienen, ohne jedoch dabei ein vollständiges Bild entwerfen zu können. Das institutionalisierte Verhältnis des gesellschaftlichen Umgangs mit Wasser dient gewissermaßen als Grundlage für die Herausbildung von Subjektpositionen, räumlichen Materialisierungen, diskursiven Erzählsträngen und Handlungsoptionen. Gleichzeitig ist das als ‚Wassermanagement‘ bezeichnete Regelsystem jedoch eingebettet und geprägt von bestehenden Diskursen und Praktiken des gesellschaftlichen Umgangs mit Wasser und von diesen strukturiert. In der Verfassung von 1988 wurde der Grundstein für das neue Wassermanagement in Brasilien gelegt. Bereits in ihr wurde Wasser als öffentliches Gut mit hohem ökonomischem Wert festgeschrieben und die Zuständigkeiten zwischen der Nationalregierung und den einzelnen Bundesstaaten geregelt. Demnach sind die bundesstaatlichen Behörden für die Gewässer innerhalb eines Bundesstaates zuständig, während diejenigen Flüsse und Seen, die sich über mehrere Bundesstaaten erstrecken (wie bspw. der Rio São Francisco), in den Zuständigkeitsbereich der nationalstaatlichen Institutionen fallen (GUTIÉRREZ 2006: 6–7). Mit dem am 24. Juli 1992 verabschiedeten bundesstaatlichen Wassergesetz (lei n° 11.996/92) wurde der Umgang mit der Ressource Wasser für den Bundesstaat Ceará gesetzlich geregelt. Als Vorlage diente dabei vor allem das französische Modell des Wassermanagements, das in Frankreich bereits in den 1960er Jahren eingeführt wurde (VEIGA 2007: 121 ff.). Ceará war somit nach São Paulo der
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
zweite Bundesstaat in Brasilien, in dem die Prinzipien eines Integrierten Wasserressourcen-Managements (Sistema Integrado de Gestão dos Recursos Hídricos – SIGERH) gesetzlich festgeschrieben wurden. Erst 1997 konnte man sich auch auf nationalstaatlicher Ebene auf ein Wassergesetz (lei n° 9.433/97) einigen (SRH 2005: 100; VIANA 2005: 49; für einen Überblick der Geschichte der Entscheidungsfindungsprozesse s. u. a. GUTIÉRREZ 2006: 163 ff.).
Abb. 18: Formale Institutionalisierung der staatlichen Wasserpolitik im Bundesstaat Ceará.
Die Vorreiterrolle des Bundesstaates Ceará hinsichtlich der frühzeitigen Verankerung der international vor allem von der Weltbank propagierten Prinzipien eines Integrierten Wasserressourcen-Managements (IWRM) muss vor dem Hintergrund der Umstrukturierungsmaßnahmen in Ceará Ende der 1980er Jahre gesehen werden (s. Kap. 6.4). Mit der Wahl von TASSO JEREISSATI zum Gouverneur des Bundesstaates (1986) übernahm eine junge, zumeist im Ausland ausgebildete, unternehmerische Elite die höchsten politischen Ämter. Ihr Verständnis einer guten Regierungsführung war eng an den Prinzipien eines effektiven Unternehmensmanagements angelehnt. Im Kontext der Diskurse über Modernität, Effizienz und Veränderung versprach das Konzept des Integrierten WasserressourcenManagements samt der Einführung von marktbasierten Mechanismen einen effektiven Umgang mit dem nunmehr als knappe Ressource bezeichneten Wasser und eine Überwindung traditioneller Aneignungsmethoden (FORMIGA-JOHNSSON & KEMPER 2008: 10; LIMA & BATISTA 2006: 123).
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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Mit der Gründung des Sekretariats für Wasserressourcen (Secretaria dos Recursos Hídricos – SRH) 1987 wurde in Ceará damit begonnen, technische, juristische und institutionelle Instrumente des neuen Wassermanagements zu entwickeln. Dabei wurden Wirtschaftsberater_innen, Wissenschaftler_innen und Ingenieur_innen in die Planungen und die Erstellung des bundesstaatlichen Wasserressourcenplans (Plano Estadual de Recursos Hídricos – PLANERH) einbezogen, die später dann teilweise in höhere Regierungspositionen wechselten (BANCO MUNDIAL & MINISTÉRIO DA INTEGRAÇÃO NACIONAL 2004: 4; TADDEI 2005b: 262–263; AMARAL FILHO 2003: 16). Ähnlich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts war mit dem stark wissenschaftlich-technokratischen Ansatz der Anspruch verbunden, rationale und technische Lösungen für den Wassersektor zur Verfügung stellen zu können, um so zu starke politische Einflussnahme zu verhindern. Die Gegenüberstellung eines scheinbar unpolitischen, technokratischen Ansatzes gegenüber einem politisch motivierten Ansatz hatte jedoch die Ausblendung bestehender Machtverhältnisse und die unhinterfragte Übernahme scheinbar neutraler Vorannahmen zur Folge. Gleichzeitig spielte die Weltbank eine entscheidende Rolle bei der modellhaften Implementierung des IWRM. Neben den engen personellen Verbindungen und Überschneidungen zwischen den Weltbankmitarbeiter_innen und dem Regierungspersonal werden viele der Programme im Wassersektor über millionenschwere Weltbankkredite finanziert, wodurch die Weltbank in die Konzipierung und Durchführung der Programme wesentlich eingebunden ist (s. Kap. 7.2). Auch TASSO JEREISSATI betonte immer wieder den entscheidenden Beitrag, den die Weltbank bei der Einführung des IWRM spielte: „O Banco Mundial teve um papel importante não somente pelo aporte financeiro, mas, sobretudo pelo acesso facilitado a especialistas de renome internacional e ao conhecimento de experiências bem sucedidas em outras partes do mundo. A parceria com o Banco Mundial também produziu o disciplinamento dos instrumentos, o aperfeiçoamento institucional e a modernização dos procedimentos administrativos do nosso sistema 1“ (JEREISSATI in MONTE 2005: 204).
Unter dem Kommando der Weltbank (ELIAS 2006: 34) wurde Ceará somit zum Versuchslabor und zu einem nationalen und internationalen Referenzpunkt für die Umsetzung des neuen Wassermanagement-Systems (BANCO MUNDIAL 2003b: 100; BANCO MUNDIAL 2005: 38; BEZERRA 2006: 105; FORMIGA-JOHNSSON & KEMPER 2008: 2).
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„Die Weltbank nahm eine wichtige Rolle ein, nicht nur aufgrund der finanziellen Unterstützung, sondern vor allem auch aufgrund des verschafften Zugangs zu international renommierten Spezialisten und Kenntnissen über erfolgreiche Erfahrungen in anderen Teilen der Welt. Die Partnerschaft mit der Weltbank ermöglichte auch die Schärfung der Instrumente, die institutionelle Weiterentwicklung und die Modernisierung der administrativen Vorgänge unseres Systems“ (JEREISSATI in MONTE 2005: 204; eigene Übersetzung).
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
7.1.1 Organisationsstruktur des IWRM in Ceará Mit dem bundesstaatlichen und dem nationalstaatlichen Wassergesetz von 1992 bzw. 1997 wurde die Grundlage für die Herausbildung der Organisationsstruktur im Wassersektor geschaffen. Mit der Gründung des SRH (1987), der COGERH (Companhia de Gestão dos Recursos Hídricos) (1993) und der nationalstaatlichen Wasseragentur ANA (Agência Nacional de Águas) im Jahr 2000 etablierte sich ein hierarchisches Organisationssystem, in das verschiedene Organisationstypen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen eingebunden wurden. Neben wissenschaftlich-technischen Organisationen wie der FUNCEME (Fundação Cearense de Meterologia e Chuvas Artificiais), Management- und Exekutivorganisationen wie der COGERH (Companhia de Gestão dos Recursos Hídricos) und der SOHIDRA (Superintendência de Obras Hidráulicas) entstanden Kollektivorganisationen, wie die Wasser- und die Nutzer_innen-Komitees, die den partizipativen Entscheidungsfindungsprozessen dienen sollen. Abbildung 18 zeigt eine schematische Übersicht der Organisationsstruktur in Ceará, die jedoch die Komplexität der Strukturen und die Vielfältigkeit der wechselseitigen Beziehungen nur andeuten kann. Insbesondere auf der nationalstaatlichen Ebene stehen die dargestellten Organisationen in erster Linie repräsentativ für ein weitverzweigtes System zusätzlicher Organisations- und Entscheidungsstrukturen.
Abb. 19: Organisationsstruktur des Integrierten Wasserressourcen-Managements in Ceará
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
Textbox 4: Organisationen des Wassermanagements in Ceará
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7.1.2 Prinzipien und Instrumente des Integrierten Wassermanagements Die Anfang der 1990er Jahre bestimmenden Diskurse über Knappheit, Effizienz und Nachhaltigkeit, die bereits in den Beschlüssen der internationalen Wasserkonferenz in Dublin und der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992 bestimmend waren (s. Kap. 4.4.4), prägen auch die Wassergesetzgebung von Ceará. Ein effizientes Management der als knapp definierten Ressource Wasser soll dabei sowohl über eine gewinnmaximierende Nutzung des Wassers als auch über dezentrale und partizipatorische Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen durchgesetzt werden. Das System des Wassermanagements in Ceará beruht demnach auf folgenden grundlegenden Prinzipien: – – – – – –
Anerkennung des Wassers als knappe Ressource, die eine bedeutende Rolle innerhalb der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung einnimmt; Anerkennung des Wassers als wertvolles wirtschaftliches Gut; Festlegung der Vorrangstellung der Wasserversorgung der Bevölkerung und der Tiere in Dürrezeiten; Anerkennung des vielfältigen Gebrauchs der Wasserressourcen; Festlegung der integrierten, dezentralen und partizipativen Form des Wassermanagements; Festlegung des Wassereinzugsgebietes eines Flusses als grundlegende Planungseinheit des Wassermanagements (SRH 2005: 97; BANCO MUNDIAL & MINISTÉRIO DA INTEGRAÇÃO NACIONAL 2004: 36–37; ARAUJO 2006: 17 f.; VIANA 2005: 43).
Daraus wurden folgende Kerninstrumente des Intergierten WasserressourcenManagements für den Bundesstaat Ceará entwickelt: 1. Erstellung von Wasserressourcenplänen (Plano Estadual de Recursos Hídricos – PERH), in denen insbesondere die Nutzung, Verfügbarkeit und Qualität der Wasserressourcen aufgelistet und die notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung des Wassermanagements beschrieben werden. 2. Vergabe von Baugenehmigungen für jegliche Maßnahmen der Wassernutzung, die die Wasserführung, die Wasserquantität- und/oder -qualität verändern (Staudämme, Wehre, Kanäle, Brunnen etc.). 3. Vergabe von Lizenzen für die Wassernutzung, die der Reglementierung und Kontrolle der Wassernutzung dienen sollen. Die Lizenzen werden von den jeweiligen Wasserkomitees vorgeschlagen, jedoch von der zuständigen Wasserbehörde (SRH oder ANA) erteilt. Die Lizenz berechtigt zur Wassernutzung an einem bestimmten Ort, aus einer bestimmten Quelle, mit einer definierten Menge, über einen festgelegten Zeitraum und für einen festgelegten Verwendungszweck. 4. Gründung von Wasserkomitees mit beratender und beschlussfassender Funktion, die sich aus Repräsentant_innen des Staates, der Wassernutzer_innen und der Zivilgesellschaft zusammensetzen.
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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5. Festlegung von Wassertarifen, die sowohl zu einem sparsamen Umgang mit der Ressource Wasser als auch zur Finanzierung des Baus, der Instandhaltung und Überwachung der Wasserinfrastruktur und der Finanzierung der Wassermanagementstrukturen beitragen sollen. 6. Einrichtung eines Fonds zur Finanzierung des Wassermanagements (Fundo Estadual de Recusos Hídricos – FUNORH), (SRH 2005; CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008: 135; HISSA 2005; VIANA 2005: 44; CHACON 2007: 184). Aufgrund ihrer zentralen Stellung innerhalb des Wasserressourcen-Managements und ihrer Bedeutung hinsichtlich der gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesse sollen im Folgenden drei Instrumente näher vorgestellt werden: das hydrographische Becken als Verwaltungseinheit, die Wasserkomitees und die Einführung von Wassertarifen. 7.1.2.1 Wassereinzugsgebiete als territoriale Grundlage des Ressourcenmanagements „Os homens das nascentes, do médio curso e da foz podem ignorar-se mutuamente mas não conseguirão esquecer o rio, podem guerrear-se e quase sempre guerreiam, quando não 2 conseguem bem unificar e coordenar suas relações com a vida do rio “ (LOPES 1951: 36).
In der national- und bundesstaatlichen Wassergesetzgebung wurde das Wassereinzugsgebiet eines Flusses als Verwaltungseinheit für das Flussmanagement festgelegt. Diese neue räumliche Einheit sollte somit durch vermeintlich neutrale, ‚natürliche‘ Bedingungen und nicht durch traditionelle, politisch administrative und geopolitische Einteilungen abgegrenzt werden. Die Idee war jedoch nicht gänzlich neu. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts forderte der nordamerikanische Forscher JOHN WESLEY POWELL – in einem stark kolonial gefärbten Kontext der Eroberung von Ländereien – Regelungen für die Nutzung eines Flusses für das gesamte Gebiet eines Flussbeckens aufzustellen (PEREIRA 2007: 28). Auf der ersten Wasserkonferenz der Vereinten Nationen 1977 in Mar del Plata (Argentinien) wurde das hydrographische Becken (bacia hidrográfica) eines Flusses als geeignete Raumeinheit für die Einführung eines Integrierten Wasserressourcen Managements vorgeschlagen (PORTO & LA PORTO 2010). Im Folgenden setzte sich über den wissenschaftlich-technischen Modernisierungsdiskurs, der innerhalb der Debatten um die Einführung eines Integrierten Wasserressourcen Managements vorherrschte, eine orographische Reorganisation des Territoriums gegenüber poli2
„Die Menschen der Quellen, des Mittellaufes und der Mündung können sich gegenseitig nicht kennen, aber sie werden es nicht schaffen, den Fluss zu vergessen, sie können sich bekriegen und bekriegen sich fast immer, falls sie es nicht schaffen, sich zusammenzuschließen und ihre Beziehungen mit dem Leben des Flusses abzustimmen“ (LOPES 1951: 36; eigene Übersetzung).
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tisch-administrativen Strukturen durch. Das Flusseinzugsgebiet wurde somit zur räumlichen Grundlage der Implementierung eines modernen Managementsystems. Über die Neuordnung der territorialen Basis des Wassermanagements werden somit die Maßstabsebene der Entscheidungsfindung und der Referenzrahmen für politische Entscheidungsprozesse neu definiert. Über eine solche skalare Umstrukturierung entstehen nicht nur neue Territorien, es eröffnen sich auch neue politische und organisatorische Räume, in denen Entscheidungsstrukturen und Akteurskonstellationen neu verhandelt und geknüpft werden müssen. Die Produktion von neuen sozio-ökologischen Maßstabsebenen birgt somit auch das Potenzial, traditionelle Entscheidungs- und Machtstrukturen und deren territoriale Verankerungen in Frage zu stellen oder sogar aufzubrechen (SWYNGEDOUW 2010: 12– 13, 16–17; BRANNSTROM 2004: 217–218). Der Bundesstaat Ceará wird in sieben hydrographische Becken unterteilt (Parnaíba, Coreaú, Acaraú, Litoral, Curu, Metropolitana und Jaguaribe) (s. Abb. 20), wobei die Bacia Parnaíba nur zu einem geringen Teil (sechs Prozent) auf dem Territorium des Bundesstaates Ceará liegt und somit als grenzüberschreitendes hydrographisches Becken der nationalstaatlichen Verwaltung unterstellt ist. Die Bacia Jaguaribe im Osten des Bundesstaates bedeckt mit einer Fläche von 80.547 km2 55% des bundesstaatlichen Territoriums und wird wiederum in fünf SubBacias (Salgado, Banabuiú, Alto-, Médio und Baixo Jaguaribe) unterteilt. In den 80 Munizipien, die innerhalb der Bacia Jaguaribe liegen, leben ca. 30% der Bevölkerung von Ceará, 54% davon in sogenannten urbanen Zentren (GARJULLI et al. 2003: 42–43). Da die größten Stauseen des Bundesstaates innerhalb der Bacia Jaguaribe liegen, inklusive dem 2003 fertig gestellten Stausee Castanhão, der mit einer Wasserspeicherkapazität von 6,7 Mrd. m3 der zweitgrößte Stausee des Nordostens ist, kommt der Region eine strategische Bedeutung innerhalb des Wassermanagements von Ceará zu. Insbesondere wird die Versorgung der Metropolitanregion Fortaleza und in Zukunft auch des Industriekomplexes des Hafens von Pecém hauptsächlich mit dem Wasser aus der Bacia Jaguaribe sichergestellt. Auch das Wasser, das innerhalb des Ableitungsprojektes des São Francisco Flusses für Ceará bestimmt ist, soll über den Rio Salgado in das Flusssystem der Bacia Jaguaribe eingespeist werden und über ein Kanalsystem (Canal da Integração/Eixão das Águas, Canal do Trabalhador) in die Zielregionen verteilt werden (s. Kap. 10.3) (ebd.; ARAUJO 2006: 20–21; ANA 2005: 8; MIN o. J.). Da somit sowohl ein Teil der Wasserquellen als auch entscheidende Bereiche der Wassernachfrage außerhalb des hydrographischen Beckens liegen, ist das Wassermanagement der Bacia Jaguaribe besonderen Bedingungen und externen Anforderungen ausgesetzt. Insbesondere bei Fragen nach der Regelung der Wasserverteilung und der Finanzierung von Wasserinfrastruktur und Wassermanagement spielen somit externe Interessen und Zuständigkeiten eine wichtige Rolle.
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
Abb. 20: Die Wassereinzugsgebiete in Ceará.
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7.1.2.2 Wasserkomitees als organisatorische Grundlage eines partizipativen Ressourcenmanagements Aufgrund der spezifischen klimatischen Situation der semiariden Region im Nordosten Brasiliens besteht die Hauptaufgabe des Wassermanagements darin, das Oberflächenwasser zu akkumulieren und je nach Verfügbarkeit und Nachfrage an die verschiedenen Nutzer_innen zu verteilen. Dadurch stellen nicht die Flüsse an sich, sondern die einzelnen künstlich angelegten Stauseen die zentralen Einheiten des Wassermanagements in Ceará dar (GARJULLI et al. 2003: 43; CHACON 2007: 197). Doch obwohl ein dezentrales, partizipatives Wassermanagement bereits im bundesstaatlichen Wassergesetz von 1992 vorgesehen war, wurden zunächst keine kollektiven Entscheidungsorgane eingerichtet. Dies änderte sich erst mit den sich aus der Dürre von 1993 ergebenden Wassernutzungskonflikten. Aufgrund der geringen Niederschläge in diesem Jahr bestand für die Metropolitanregion Fortaleza eine akute Wasserknappheit. Zur Verhinderung einer Notlage beschloss der damalige Gouverneur CIRO GOMES kurzerhand, den Bau eines Kanals zwischen Itaiçaba und Fortaleza, der Wasser aus dem Jaguaribe Fluss in die Hauptstadt ableiten sollte (s. Abb. 20). Die 113 km des Canal do Trabalhador (Arbeiterkanal) wurden mit Hilfe des Militärs in nur drei Monaten fertiggestellt. Um jedoch genügend Wasser aus dem Jaguaribe Fluss nach Fortaleza ableiten zu können, wurden die Schleusen des Stausees Orós am Oberlauf des Jaguaribe geöffnet und alle kleineren künstlichen Wehre, die im Juaguaribe Fluss für die Wasserentnahme errichtet worden waren, zerstört. Gleichzeitig wurde jegliche Wasserentnahme für Bewässerungszwecke, inklusive auch für das Bewässerungsprojekt auf der Hochebene von Apodi, verboten. Diese recht drastischen Maßnahmen zugunsten der Metropolitanregion und zu Lasten der ländlichen Bevölkerung im Jaguaribe Tal führten zu heftiger Kritik an der staatlichen Wasserpolitik und zu zahlreichen Protest- und Sabotageaktionen. So wurde beispielsweise der Kontrollraum des Orós Staudamms gestürmt und die Schließung der Schleusen erzwungen. Nur mit Hilfe von intensiven Verhandlungen zwischen der Bundesstaatsregierung und den Produzent_innen konnte der Konflikt letztendlich beigelegt werden (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 13–14). Um eine erneute Eskalation der Konflikte zu vermeiden, wurde am Ende der darauffolgenden Regenzeit im Juli 1994 eine Kommission zusammengestellt, die über die Verteilung der akkumulierten Wassermenge entscheiden sollte. Dafür mobilisierte ein Expert_innenteam aus Geograph_innen und Soziolog_innen, die für die Abteilung der Organisierung der Nutzer_innen (Departamento de Organização de Usuários – DOU) der COGERH arbeiteten und aufgrund ihrer Einstellungen als ‚die Roten‘ bezeichnet wurden (TADDEI 2011: 116), Landwirt_innen, Regionalpolitiker_innen, Repräsentant_innen der verschiedenen staatlichen Institutionen, Gewerkschafter_innen und unterschiedliche Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, um in einem ersten Wasserplanungsseminar (I Seminário de Planejamento das Águas dos Vales do Jaguaribe e Banabuiú) das Wassermanagement für das Jaguaribe-Becken zu diskutieren und festzulegen. Von den 180 Teilnehmer_innen wurden 26 Repräsentant_innen der drei Sektoren (Nut-
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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zer_innen, Zivilgesellschaft, Staat) ausgewählt, die die monatliche Abflussmenge überwachen und die Wasserverteilung begleiten sollten. Somit war das erste Nutzer_innen-Komitee des Jaguaribe und Banabuiú Tales geboren (GARJULLI et al. 2003: 44; TADDEI & GAMBOGGI 2011: 14). In der Folgezeit wurden in den verschiedenen Subregionen des Jaguaribe-Beckens mehrere Versammlungen organisiert, um die spezifischen Probleme der einzelnen Regionen erfassen und die jeweiligen Nutzer_innen besser in das Wassermanagement einbinden zu können. Im Oktober 1995 wurde auch in der Sub-Bacia des Unterlaufes des Jaguaribe Flusses ein erstes Nutzer_innen-Treffen veranstaltet, aus dem, über eine mehrjährige Konsolidierungsphase, das Komitee der Sub-Bacia do Baixo Jaguaribe hervorging, das im Juni 1998 gegründet und im März 1999 vom bundesstaatlichen Wasserrat CONERH offiziell anerkannt wurde (COGERH o. J.). Bis zum Jahr 2002 waren in allen fünf Sub-Bacias der Jaguaribe-Region Wasserkomitees entstanden, doch es dauerte noch bis ins Jahr 2006, bis sich in allen hydrographischen Becken in ganz Ceará ein Wasserkomitee gegründet hatte (COGERH 2008). Die Wasserkomitees sind somit nicht als eine reine Umsetzung des im Wassergesetz von 1992 festgeschriebenen dezentralen und partizipativen Wassermanagements anzusehen. Vielmehr sind sie als Resultat von historischen Entwicklungen (wie bspw. der Dürre von 1993), regional spezifischen Situationen (die bspw. zur Unterteilung in fünf Sub-Bacias führten) und insbesondere auch als ein – bis heute nicht abgeschlossenes – Ergebnis von Aushandlungsprozessen und Machtverschiebungen zwischen verschiedenen Organisationen und Persönlichkeiten zu verstehen. Der Kampf um Zuständigkeiten und Kontrolle über die Managementstrukturen zwischen dem Wassersekretariat SRH, der COGERH und der Expert_innen-Gruppe der DOU, die von der Weltbank unterstützt wurde, namentlich zwischen HYPÉRIDES MACEDO, FRANCISCO VIANNA und PEDRO MOLINA 3, prägten die 1990er Jahre, in denen sich die Organisationsstruktur des Wassermanagements in Ceará herausbildete 4. Als mit den Wahlen von 2003 die Gruppe um CÉSAR MAIA die Kontrolle sowohl über die SRH als auch über die COGERH übernahm und die COGERH dem Wassersekretariat SRH untergeordnet wurde, war der Machtkampf zwischen den Organisationen vorerst entschieden. Gleichzei3
4
Die Biographien einzelner Persönlichkeiten und deren Einflussnahme bei der Herausbildung des Wassermanagements in Ceará nachzuzeichnen, kann zwar sehr aufschlussreich sein, jedoch sollte dabei immer auf die strukturelle Eingebundenheit und somit die Subjektposition der Agierenden abgezielt werden. Dabei können insbesondere Kontinuitäten und Verzweigen von Machtpositionen sichtbar gemacht werden. So war bspw. HYPÉRIDES MACEDO bereits in den 1980er Jahren Berater der Bundesregierung von Ceará, arbeitete mit seiner Beratungsfirma Aguasolos an dem ersten Wasserresourcenplan des Gouverno das Mudanças mit, verhandelte für den Staat Ceará mit der Weltbank über die Kredite zum PROURB und war sowohl unter CIRO GOMES als auch während der zweiten Amtszeit von TASSO JEREISSATI Präsident der SRH. Später wechselte MACEDO in die nationalstaatliche Politik und war unter CIRO GOMES als Präsident des Nationalen Wasserinfrastruktursekretariats zwischen 2003 und 2007 maßgeblich an den Plänen für die Ableitung des São Francisco beteiligt, von der Ceará in besonderem Maße profitiert (41% des abgeleiteten Wassers) (GUTIÉRREZ 2006). Eine ausführliche Darstellung der Machtkämpfe in den 1990er Jahren findet sich bei GUTIÉRREZ 2006.
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
tig wurde die Einflussnahme der Expert_innengruppe beschnitten, das Wassermanagement verstärkt zentralisiert und die Autonomie der Wasserkomitees weiter eingeschränkt (s. Kap. 12.1). Dabei zeigte sich einmal mehr, „how sensitive the reform process was not only to the general packaging within the Government of Changes program, but also to singular party connections, divisions, and changes“ (GUTIÉRREZ 2006: 209).
Somit hat sich in Ceará ein mehrstufiges System von kollektiven Wasserkomitees auf drei unterschiedlichen Maßstabsebenen (Wassereinzugsgebiet, Sub-Bacia, Staubecken) herausgebildet. Während von der Nutzer_innenkomission des Jaguaribe-Banabuiú-Tales die Regeln des Wasserabflusses für das gesamte Tal festgelegt werden, bestimmen die Wasserkomitees der fünf Sub-Bacias (Salgado, Banabuiú, Alto-, Médio-, Baixo Jaguaribe) das Wassermanagement in den jeweiligen Regionen. An einzelnen wichtigen Staubecken sind darüber hinaus noch Nutzer_innenkomissionen entstanden (insg. 36), in denen das Wassermanagement eines speziellen Staubeckens geregelt werden soll. In der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe entstand beispielsweise eine solche Kommission am Stausee Santo Antônio de Russas (s. Kap. 12.1.4) (FORMIGA-JOHNSSON & KEMPER 2008: 7). Die Nutzer_innenkommission des Jaguaribe-Banabuiú Tals, die für die drei größten Stauseen und somit für 95% der akkumulierten Wassermenge des Beckens zuständig ist, trifft sich in der Regel zwei Mal im Jahr. Während beim ersten Treffen des Jahres, das normalerweise im Januar und somit zu Beginn der Regenzeit stattfindet, vor allem über die zu erwartenden Regenfälle diskutiert und Handlungsstrategien entwickelt werden, werden beim zweiten Treffen im Juni am Ende der Regenzeit die monatlichen Wasserabflussmengen für die jeweiligen Staubecken (in m3/s) diskutiert und festgelegt (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 14). Die zentralen Fragen des Wassermanagements werden jedoch auf der Ebene der Sub-Bacias diskutiert. Die Wasserkomitees der einzelnen Sub-Bacias treffen sich in der Regel vier Mal im Jahr zu ordentlichen Sitzungen, zu denen jedes Jahr verschiedene außerordentliche Versammlungen hinzu kommen. Die Anzahl der Mitglieder der Komitees ist variabel, nicht aber deren Zusammensetzung. Diese ist prozentual festgelegt und teilt sich auf in: – 30% Vertreter_innen lokaler Nutzer_innengruppen – Produzent_innenvereinigungen, Vertreter_innen von privaten und staatlichen Bewässerungsprojekten, Vertreter_innen einzelner großer Unternehmen wie bspw. des multinationalen Unternehmens Del Monte Produce Inc., etc. – 30% Vertreter_innen der Zivilgesellschaft – Landarbeiter_innengewerkschaften, NGOs, Umweltgruppen, Vertreter_innen der Kirche, der lokalen Universität oder Hochschule, GemeindeVereinigungen, etc. – 20% Vertreter_innen der Munizipalregierung – Vertreter_innen der Gemeinden – 20% Vertreter_innen von bundes- und nationalstaatlichen Behörden – Vertreter_innen der Wasseragentur, SRH, DNOCS, IBAMA, SEMACE, FUNCEME, EMATERCE, BNB, etc.
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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Die Versammlungen der Wasserkomitees sind öffentlich, jedoch haben nur die gewählten Mitglieder der Komitees Stimmrecht. Jedes Mitglied kann in das Direktorium des Komitees – bestehend aus Präsident_in, Vize-Präsident_in und Generalsekretär_in – gewählt werden, wodurch die Repräsentation nach außen und die internen Diskussionsprozesse stark geprägt werden können. Das Komitee der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe besteht in ihrer aktuellen Zusammensetzung (Mandat 2008–2012) aus 45 Mitgliedern (und nicht wie vorgesehen aus 46), wobei lediglich 8 Plätze von Frauen (18%) besetzt sind. Das Direktorium wird dabei von einem Vertreter der Gemeindeverwaltung von Russas (Munizipalregierung), einem Vertreter einer Bildungseinrichtung (bundesstaatliche Behörde) und einer Vertreterin der philosophischen Fakultät der bundesstaatlichen Universität (Zivilgesellschaft) gebildet (COGERH o. J.a). Neben der Diskussion und Festlegung der Wasserabflussmenge der in der Bacia liegenden Stauseen besteht die Aufgabe der Wasserkomitees in erster Linie darin, die Umsetzung der Wasserpolitik in der jeweiligen Bacia zu begleiten und Vorschläge für weitere Maßnahmen und Projekte, die an den bundesstaatlichen Wasserrat CONERH weitergegeben werden, zu erarbeiten. Dabei geht es insbesondere darum, die Investitionen und den Bau von Wasserinfrastrukturmaßnahmen zu überwachen, Wassertarife zu diskutieren und deren Implementierung voranzutreiben, Maßnahmen des Wasser- und Umweltschutzes anzuregen, Notfallpläne für Phasen der Wasserknappheit zu erarbeiten, Informationen an die Nutzer_innen weiter zu geben und Bildungsmaterial, insbesondere auch für Schulen zu erstellen (COGERH 2011a). Durch die Diskussion zwischen den einzelnen Teilnehmer_innen und der Erörterung der teilweise gegensätzlichen Interessen sollen Konflikte bereits im Vorfeld abgemildert und es sollen in kollegialer Form gemeinschaftlich nach geeigneten Lösungen gesucht werden. Dabei sollen die Entscheidungen wenn möglich im Konsens gefällt werden. Nur wenn sich keine einheitliche Meinung herausstellt, wird abgestimmt. Über die Konstruktion eines Konsenses über einen teilweise langen und nervenaufreibenden Verhandlungsprozess soll eine möglichst hohe Legitimität der Entscheidungen des Komitees erzielt werden, die über eine Abstimmung nicht erreicht werden kann (s. Kap. 12.1) (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 18–19). Ursprünglich waren die Komitees als Beratungs- und Entscheidungsorgane hinsichtlich des lokalen Wassermanagements konzipiert. Als es 2001 jedoch zu Auseinandersetzungen zwischen der bundesstaatlichen Regierung und dem Wasserkomitee des Baixo Jaguaribe kam, dessen Vertreter_innen die negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen der staatlichen Wasserpolitik scharf kritisierten, wurde den Komitees ihre Entscheidungsmacht vom bundesstaatlichen Wasserrat CONERH entzogen. Nunmehr haben ihre Entscheidungen nur noch beratenden Charakter für die übergeordneten Instanzen. Zwar werden die Entscheidungen der Komitees in der Regel vom bundesstaatlichen Wasserrat übernommen, im Konfliktfall ist dieser jedoch nicht an die Empfehlungen aus den Komitees gebunden (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 24; TADDEI 2011: 115; TADDEI 2005b: 316–317).
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
Eine ganz besondere Rolle innerhalb der Wasserkomitees in Ceará nimmt das Wassermanagementunternehmen COGERH ein. Die COGERH betreibt in allen hydrographischen Becken ein Regionalbüro, das gleichzeitig als Sekretariat der Komitees fungiert. Die Kommunikation und der Informationsfluss zwischen den Komitees und den übergeordneten Instanzen auf bundes- und nationalstaatlicher Ebene laufen in der Regel über das örtliche COGERH-Büro. Die Mitarbeiter_innen der COGERH sind es auch, die die Komiteetreffen einberufen und vorbereiten, die die technischen Informationen, die als Entscheidungsgrundlage für das Komitee dienen, zur Verfügung stellen und die normalerweise die Treffen der Komitees leiten und somit auch stark beeinflussen. Beispielsweise präsentiert ein_e Mitarbeiter_in der COGERH für die Festlegung der Wasserabflussmenge eines Staubeckens verschiedene Abfluss-Szenarien, die zu unterschiedlichen Wasserständen am Ende der Trockenzeit führen. In der Regel dreht sich die anschließende Diskussion um die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Szenarien, nicht jedoch um von den Szenarien abweichende Vorschläge oder alternative Lösungsansätze (vgl. Kap. 12.1.4). Eine Auswertung der Sitzungsprotokolle von 13 ordentlichen und fünf außerordentlichen Versammlungen des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe zwischen 2008 und 2011 ergab, dass sich ein Großteil der Diskussionen um die Entwicklung und Fortentwicklung der Wassermanagementstrukturen dreht: das Abhalten von Wahlen, die Gründung von Kommissionen, verwaltungstechnische Fragestellungen, Finanzplanungen, die Weiterentwicklung der Wassergesetzgebung usw. Darüber hinaus nahm der Austausch von Informationen, die Darstellung der aktuellen Wassersituation und Diskussionen über weitere Planungen und Vorgehensweisen in den meisten Sitzungen viel Zeit in Anspruch. Diskutiert wurde hingegen weniger oft über einzelne Wasserkonflikte (Nutzung des Wassers des Integrationskanals, Wasserversorgung der Gemeinden im Munizip Palhano, prekäre Wasserversorgung einzelner Gemeinden, Nutzungslizenzen für das Neubaugebiet Loteamento Paraíso da Canoa, etc.) und über bestimmte Umweltkonflikte (Verschmutzung von Oberflächenwasser durch Agrarchemikalien, Belastung des Wassers durch eine Müllhalde in Aracati, durch Einleitung der Abwässer aus der Shrimpszucht und aus einem Schlachthof, Zerstörung des Küstenökosystems durch Windkraftanlagen, Bebauung in einem Naturschutzgebiet in Flores etc.). Anhand der Protokolle und anhand eigener Erfahrungen aus der Teilnahme an Sitzungen des Wasserkomitees wurde jedoch deutlich, dass diese Diskussionen oftmals viel länger und kontroverser geführt wurden als die technischen Fragen des Wassermanagements. Darüber hinaus wurde in einigen Sitzungen, teilweise sogar in Sondersitzungen, die Abflussmenge des Açude Santo Antônio de Russas, dem einzigen größeren Stausee der Bacia, diskutiert und festgelegt (s. Kap. 12.1.4), wurden Fragen hinsichtlich der Wasserqualität und deren Kontrolle, hinsichtlich der Einführung der Wassertarife und hinsichtlich der Aufteilung der Kosten zwischen den einzelnen Sub-Komitees erörtert. Zweifellos stellen die Wasserkomitees eine wesentliche Säule des partizipativen Wasserressourcen Managements in Ceará dar. Inwiefern sie jedoch auch in der Gesellschaft verankert sind, bleibt zumindest fraglich. Von den 550 Land-
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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wirt_innen, die entlang des Jaguaribe Flusses zwischen 2007 und 2008 zu den Komitees befragt wurden, gaben 52% an, keine Kenntnisse von einem Wasserkomitee zu haben. In der Region Alto Jaguaribe war sogar 74% der Befragten ein solches Komitee unbekannt (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 23). Darüber hinaus stellen sich auch Fragen nach der Funktion der Komitees hinsichtlich der Verschiebung und/oder der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen, die in Kap. 12.1 bei der Untersuchung der Praktiken diskutiert werden sollen 7.1.2.3 Wassertarife als ökonomische Grundlage des Ressourcenmanagements Das wohl umstrittenste Instrument des Integrierten Wasserressourcen-Managements ist die Erhebung von Wassergebühren für nichtbehandeltes Oberflächenwasser (cobrança pelo uso da água bruta). Zusammen mit der Vergabe von Nutzungslizenzen (outorga), die der Erfassung der Wassernutzer_innen und der realen Wassernachfrage dienen und diese regeln sollen, komplementieren die Wassertarife das System der kontrollierten Wassernutzung. Dabei sind die Ziele der Einführungen von Wassertarifen: 1. die Verringerung des Wasserverbrauchs, 2. die Erhöhung der Effizienz der Wassernutzung (Einsatz von effizienten Bewässerungssystemen, Maßnahmen des Wasserrecyclings in der Industrie, Anbau von Produkten mit dem höchsten ökonomischen Wert und dem geringsten Wasserverbrauch), 3. die – wenn auch indirekte – Einführung des ‚Verschmutzer-zahlt-Prinzips‘, da zum einen die Wassertarife nach Sektoren gestaffelt werden und zum anderen ein höherer Wasserverbrauch Mehrkosten verursacht (Internalisierung externer Kosten), 4. die Finanzierung des Wassermanagements (HISSA 2005: 29; MONTE 2005: 198; CHACON 2007: 184; BARBOSA et al. 2006: 392). Mit dem Dekret Nr. 24.264/96 führte Ceará am 12. November 1996 als erster Bundesstaat Brasiliens die Erhebung von Gebühren von nicht behandeltem Oberflächenwasser ein. Erst 2003 wurden auch in der grenzüberschreitenden Bacia des Rio Paraíba do Sul und 2004 auch im Bundesstaat Rio de Janeiro Wassertarife eingeführt (AMARAL FILHO 2003: 41). Dabei spielte – wie bereits bei der Gründung der COGERH und der Wasserkomitees – die Einflussnahme der Weltbank auf das Wassermanagement Cearás eine entscheidende Rolle (HARTMANN 2010: 235). Zunächst wurden jedoch nur Industriebetriebe und Privathaushalte – über das Wasserversorgungsunternehmen CAGECE – zur Kasse gebeten. Da sich sowohl für die Industrie als auch für die CAGECE durch die mit den Tarifen einhergehende Versorgung mit unbehandeltem Oberflächenwasser Vorteile ergaben, regte sich zunächst kein Widerstand gegen die Einführung der Tarife (ebd.: 237– 238; Interview mit JOSÉ CARLOS DE ARAÚJO). Im Agrarsektor wurden hingegen
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
keine Wassergebühren erhoben. Lediglich die Produzent_innen innerhalb der Bewässerungsprojekte und diejenigen Landwirt_innen, die Wasser aus dem Canal do Trabalhador bezogen, mussten eine Gebühr für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur zahlen. Das änderte sich erst mit der Dürre von 2001. Ähnlich wie bei der Gründung der Wasserkomitees führte letztendlich wieder eine klimatische Ausnahmesituation zur Umsetzung der im Wassergesetz festgeschriebenen Instrumente. Aufgrund der geringen Niederschläge in der Regenzeit 2001 konnte in den großen Staubecken des Jaguaribe-Tals nur wenig Wasser aufgestaut werden. Der Orós-Stausee hatte nur 26,2% seiner maximalen Wasserspeicherkapazität erreicht, das Banabuiú-Staubecken sogar nur 7,8%. Somit war offensichtlich, dass die Agrarproduktion verringert werden musste, um die Wasserversorgung der Metropolitanregion Fortaleza nicht zu gefährden (TADDEI 2005b: 291–292). Dabei wurde die Reisproduktion als ineffizienteste Produktionsform im Jaguaribe-Tal ausgemacht, da sie sowohl einen geringen ökonomischen Wert als auch eine geringe Wassereffizienz aufweist. In dem hauptsächlich von der COGERH und der ANA erstellten Plan einer rationalen Wassernutzung des Jaguaribe und Banabuiú Tales, der als Águas do Vale (Wasser des Tales) bekannt wurde, sollte – ungeachtet von Anbautraditionen und der Bedeutung der Reisproduktion für die lokale Nahrungsmittelversorgung – die Reisproduktion zurückgedrängt werden. Stattdessen sollte die Wasserversorgung des auf den Export ausgerichteten Obstanbaus und der Shrimpszucht gesichert werden. Dafür wurde ein Anreizsystem geschaffen, über das eine effizientere Wassernutzung stimuliert und die Akzeptanz von Wassertarifen erhöht werden sollte. Zum einen sollten diejenigen Produzent_innen, die auf den Reisanbau verzichten, Ausgleichzahlungen erhalten, die – je nach Größe ihrer Produktionsfläche – zwischen 400 R$ und 600 R$ pro Hektar lagen und somit in etwa die Hälfte der Einnahmen in normalen Erntejahren darstellten. Zum anderen sollte die Sicherung der Wasserversorgung für ‚wassereffiziente‘ Produkte an die Einführung von Wassertarifen gekoppelt werden. Wurde auf effiziente Bewässerungstechniken umgestellt, bestand darüber hinaus die Möglichkeit, bis zu 50% der Wassergebühren erlassen zu bekommen (ebd.; HARTMANN 2010: 247 ff.; CHACON 2007: 194 ff.; BROAD et al. 2007: 230) Das Ergebnis des Programms Águas do Vale erscheint recht ambivalent. Zunächst kann es – gemessen an den selbst gesteckten Zielen – als recht erfolgreich eingestuft werden, da insgesamt 1.623 Produzent_innen auf den Reisanbau auf einer Fläche von 3.547 ha verzichteten, was zu Wassereinsparungen in Höhe von rund 59 Mio. m3 führte. Somit konnte eine Wasserknappheit für Fortaleza abgewendet und die Obstproduktion in der Region sogar um 20% ausgeweitet werden (HARTMANN 2010: 252). Auf der anderen Seite wurde die Akzeptanz der Wassertarife jedoch nicht erreicht. Über die Wassergebühren wurden Einnahmen in Höhe von 332.954 R$ erwartet, was bei Projektkosten von 10,8 Mio. R$, (von denen die ANA allein 8 Mio. R$ übernahm), ohnehin nur einen sehr geringen Beitrag (ca. 3%) dargestellt hätte. Doch bis zum Ende des Projektes im Februar 2002 waren erst 10% der Wasserrechnungen und bis zum Jahr 2008 nicht einmal 40% bezahlt (ebd.).
7.1 Das institutionelle Setting des staatlichen Wassermanagements in Ceará
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Dennoch war der erste Schritt zur Einführung von Wassertarifen in der Landwirtschaft getan. Im November 2003 wurden – wiederum per Dekret (N°. 27271/03) – Wassertarife für die Landwirtschaft in Ceará festgelegt. Diese werden nach Sektoren unterteilt und unterscheiden sich je nach Art der Wasserlieferung, wobei für den Agrarsektor in Abhängigkeit vom Wasserverbrauch gestaffelte Tarife gelten. Bis zu einem Konsum von 1.440 m3 (1,4 Mio. Liter) im Monat ist die Bewässerungslandwirtschaft von den Gebühren befreit. Nach der Festlegung der Tarife im Jahr 2003 wurden diese im Jahr 2008 und 2011 modifiiert. Dabei wurden die ursprünglich fünf verschiedenen Preisstufen für den Agrarsektor auf zwei Stufen reduziert, wobei neuerdings die unterschiedliche Nutzung der Wasserinfrastruktur berücksichtigt wird (s. Tab. 7). Tab. 7: Wassertarife in Ceará nach Sektoren.
Mit der stufenweisen Einführung von Wassertarifen konnte die COGERH ihre Einnahmen kontinuierlich steigern. Lagen diese im Jahr der Einführung 1996 lediglich bei 268.410 R$, erreichten sie zehn Jahre später bereits 27,4 Mio. R$ und werden im Jahr 2011 mit 42 Mio. R$ angegeben (FORMIGA-JOHNSSON & KEMPER 2008: 15–16; COGERH 2012: 19). Dabei zahlen die Wasserversorgungsunternehmen – insbesondere die CAGECE – mit 28,7 Mio. R$ den größten Anteil der Kosten (68%), gefolgt von den Industrieunternehmen, die 30% der Kosten tragen. Demgegenüber erscheint der Anteil der Bewässerungslandwirtschaft mit 0,84%, der Fisch- und Shrimpszucht (0,29%) und der weiteren Nutzer_innen (0,22%) momentan noch sehr gering (COGERH 2012: 19). Dies schlägt sich auch in der räumlichen Verteilung der Einnahmen nieder. Im Jahr 2007 kamen über 87% der Einnahmen aus der Metropolitanregion Fortaleza, während bspw. aus der SubBacia Baixo Jaguaribe lediglich 1,5% der Einnahmen beigesteuert wurden (CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008: 131). Insofern ist das System der Finanzierung des Wassermanagements auf dem Prinzip der Quersubvention aufgebaut. Zum einen finanzieren hauptsächlich die Privathaushalte und die Industrie den Betrieb und die Instandhaltung der Wasserinfrastruktur. Zum anderen trägt die Metropolitanregion den überwiegenden Teil der Kosten für den gesamten Bundesstaat. Dies erscheint insofern problematisch, als dass im Wassergesetz festgelegt wurde, dass die eingenommenen Gelder hauptsächlich in derjenigen Bacia eingesetzt werden sollen, in der sie erhoben werden. Dies sorgte in der Vergangenheit bereits für einigen Konfliktstoff zwischen den einzelnen Komitees und wird diese wohl auch in Zukunft noch weiterhin beschäftigen (BEZERRA & CABRAL 2004: 70; ECHEVENGUÁ 2005; FORMIGA-JOHNSSON & KEMPER 2008: 16). Darüber hinaus besteht nach wie vor Uneinigkeit darüber, welche Sanktionen die COGERH gegenüber ihren Schuldner_innen einsetzen sollte und wie mit den – vor allem aus der Zeit des Águas do Vale-Projektes – angehäuften Schulden umgegangen werden soll. Diese belaufen sich mittlerweile auf über 8 Mio. R$, wobei drei Viertel der Schulden (6 Mio. R$) allein auf die Wasserunternehmen entfallen (COGERH 2012: 5). Mit 1 R$ bis höchstens 12,55 R$ pro 1.000 m3 konsumiertem Wasser fallen die Gebühren für die Bewässerungslandwirtschaft im Vergleich zu den anderen Sektoren relativ niedrig aus. Solange die Bewässerungskosten unter 5% der Gesamtkosten liegen wird davon ausgegangen, dass ein rentabler Anbau auch weiterhin möglich ist. Somit wird erwartet, dass die Wassertarife den Anbau der meisten Anbaukulturen nicht wesentlich beeinträchtigen. Für Zuckerrohr, Mais und Reis könnte mit den zusätzlichen Kosten jedoch die Rentabilitätsgrenze erreicht werden. Doch auch in Regionen, in denen ein hoher Aufwand für die Wasserversorgung betrieben werden muss (bspw. Chapada de Apodi), kann der rentable Anbau von Maracuja, Bananen, Bohnen und Kokosnüssen gefährdet sein 5 (BARBOSA et al. 2006). Da jedoch weiterhin eine Umstrukturierung der Anbaustrukturen und eine Konzentration des Anbaus auf sogenannte hochwertige Anbauprodukte angestrebt werden, ist der Prozess der Verdrängung der traditionellen Anbaukulturen wie Reis, Mais und Zuckerrohr durchaus erwünscht. Die Wassertarife können nicht nur als das umstrittenste Instrument des Wassermanagements in Ceará angesehen werden. Sie gelten gleichzeitig auch als Gradmesser für die Umsetzung partizipativer Managementstrukturen. Letztendlich zeigten sich an der Art und Weise der Einführung der Wassertarife die Limitationen des dezentralen Wassermanagements in Ceará. Auch wenn im Wasserge5
Der Wassertarif liegt bei einem Konsum zwischen 1.440 und 46.999 m3/Monat und bei einer Nutzung der Wasserinfrastruktur der COGERH bei 7,84 R$. Demgegenüber wird die zusätzliche Zahlungskapazität von Maracuja mit 5,87 R$, von Bananen mit 4,87 R$, Bohnen 4,84 R$ und von Kokosnüssen mit 4,38 R$ angegeben. Zuckerrohr, Reis und Mais werden sich nur noch in denjenigen Regionen lohnen, in denen Wasser ohne erheblichen infrastrukturellen Aufwand bezogen werden kann (Tarif 1R$/1.000m3). Bei Zuckerrohr wird die zusätzliche Zahlungskapazität mit 1,66 R$, bei Reis je nach Bodenbeschaffenheit mit 1,00 R$ bzw. 0,47 R$ und bei Mais mit 0,83 R$ angegeben (BARBOSA et al. 2006: 401).
7.2 Programme als institutionalisierte Praktiken
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setz eine partizipative Entwicklung der Wassertarife vorgesehen war, wurden diese lediglich von einer Expert_innengruppe der COGERH entwickelt und – ohne vorherige Diskussion in den Komitees – dem Wasserrat CONERH zur Abstimmung vorgelegt. Selbst der Einspruch der Vetreter_innen der Komitees im CONERH änderte nichts an der Annahme der Wassertarife durch den Wasserrat am 27. November 2003. Die Tarife wurden somit in einem autoritativen Prozess von oben nach unten eingeführt, ohne dass sie jemals wirklich zur Diskussion gestanden hätten. Gleichwohl bestand die Aufgabe der Komitees darin, die Wassertarife vor Ort zu implementieren und deren Legitimität zu rechtfertigen. Die Komitees wurden dadurch zu einem Durchsetzungsinstrument einer vordefinierten Wasserpolitik und verloren mehr und mehr ihre Funktion als kollektive Diskussions- und Entscheidungsplattform. Die Art und Weise der Einführung der Wassertarife führte letztendlich dazu, dass das Bild und die Legitimität der Komitees in der öffentlichen Wahrnehmung nachhaltig beschädigt wurde (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 23; TADDEI 2004: 280; CHACON 2007: 194). 7.2 PROGRAMME ALS INSTITUTIONALISIERTE PRAKTIKEN Die Einführung eines Integrierten Wasserressourcen Managements per Gesetz führt nicht automatisch zu einer Änderung von alltäglichen Praktiken oder einer Verschiebung von Diskursen. Vielmehr bedurfte es eines erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwands, um die ‚modernen‘ Managementstrukturen in Ceará zu implementieren. Neben dem Aufbau von Organisationsstrukturen, die Politikstile verändern und Entscheidungsstrukturen neu ausrichten können, wurde die Wasserpolitik in Ceará sowohl über ein neu eingeführtes Vokabular, das sich in einer Flut von Studien, staatlichen und wissenschaftlichen Publikationen, Zeitungsartikeln, Diskussionsforen, Reden etc. manifestierte, als auch über konkrete Materialisierungen, insbesondere durch den gezielten Ausbau einer bestimmten Wasserinfrastruktur, verankert. Für die Umsetzung eines solch allumfassenden und ambitionierten Vorhabens spielten und spielen bis heute spezifische Programmlinien, die von unterschiedlichen Organisationen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen eingeführt wurden, eine entscheidende Rolle. Spätestens seit der Gründung der SUDENE (1959) und dem verstärkten Engagement der Weltbank im Nordosten Brasiliens seit den 1970er Jahren (s. Kap. 6) hat die Umsetzung von Politik über spezifische Programmlinien eine tief verankerte Tradition. Dabei besteht das Besondere an solchen Programmen darin, dass sie innerhalb eines bestimmten Diskurses verortet werden können (Grundbedürfnisbefriedigung, Nachhaltigkeit, partizipatives Management etc.), sich zumeist mit klar definierten Zielen an eine bestimmte Zielgruppe richten und sowohl vom Staat als auch in Kooperation mit nichtstaatlichen Organisationen (Weltbank, internationalen Entwicklungsorganisationen, Privater Sektor (PPPs) etc.) eingeführt und vor allem auch finanziert werden. An dieser Stelle kann und soll nun nicht die Vielzahl der Programme des Wassersektors in Brasilien und Ceará einschließlich ihren Zielsetzungen im Einzelnen vorgestellt und ihre Ergebnisse evaluiert werden (s. hierzu
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
bspw.: BANCO MUNDIAL 2003a; BANCO MUNDIAL 2003b; ANA 2007; CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008; SRH 2008; ELIAS 2002: 29 ff.; SILVA 2006: 79 ff.; CHACON 2007: 175 ff.; SANTOS 2009). Vielmehr sollen die Programme als Transformationsriemen staatlicher Politik benannt und ihre Einordnung innerhalb der Institutionalisierung des Wassermanagements ermöglicht werden. Dabei ist es gerade im Wassersektor wichtig, die jeweiligen Programme nicht als einzelne Maßnahmen anzusehen, sondern die Überschneidungen mit anderen Politikfeldern aufzuzeigen und die bestehenden Wechselwirkungen zumindest anzudeuten.
Abb. 21: Programme des Wassermanagements.
Nach wie vor übt die Weltbank einen bedeutenden Einfluss auf die Wasserpolitik in Brasilien aus. Sie ist der wichtigste Kreditgeber für die Programme des brasilianischen Wassersektors und ist somit an der Formulierung und Ausgestaltung der Programme maßgeblich beteiligt. Im Juni 2011 unterzeichnete Brasilien mit der Weltbank einen Vertrag über einen Kredit in Höhe von 107,3 Mio. US$ für das fünfjährige Programm INTERAGUAS, an dem sich die brasilianische Regierung mit weiteren 35,8 Mio. US$ (25% des Programmbudgets) beteiligt. Mit dem Programm soll das Wassermanagement zwischen den einzelnen Sektoren besser koordiniert und die Nutzungseffizienz sowie die Wasserversorgung erhöht werden. Das Programm stellt somit eine Fortführung des seit 1998 laufenden PROAGUA 6 6
Zwischen 1998 und 2006 als PROAGUA/Semi-árido, das 2007 als PROAGUA Nacional auf ganz Brasilien ausgeweitet wurde.
7.2 Programm als institutionalisierte Praktiken
231
dar, wobei eine Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen explizit ausgeschlossen wird (THE WORLD BANK 2011; ANA o. J.). Gleichzeitig soll über das INTERAGUAS Programm die Fortsetzung des Modernisierungsprogramms der Wasserver- und entsorgung (Programa de Modernização do Setor Saneamento – PMSS) gewährleistet werden, das ebenfalls von der Weltbank mitfinanziert wird. Die Beschleunigung des Wachstums Die großen Wasserinfrastrukturprojekte in Brasilien werden mittlerweile – wie alle größeren Bauvorhaben im Infrastruktur-, Energie-, Wasser- und Wohnungsbausektor – unter dem Label des Wachstumsbeschleunigungsprogramms PAC (Programa de Aceleração do Crescimento) geführt. Direkt nach dem Antritt seiner zweiten Amtszeit 2007 verkündete Präsident LULA das ambitionierte Programm, über das durch öffentliche Investitionen in Infrastrukturmaßnahmen zusätzliche private Investitionen stimuliert werden sollen. Das ursprünglich mit 503,9 Mrd. R$ (ca. 235 Mrd. US$ 7) für vier Jahre (2007–2010) geplante Wachstumsprogramm sah staatliche Investitionen in Höhe von 67,8 Mrd. R$ vor (13,5% des Gesamtprogramms), die von Investitionen staatlicher Unternehmen in Höhe von 219,2 Mrd. R$ (43,5%) – von denen das halbstaatliche brasilianische Mineralölunternehmen Petrobrás allein 148,7 Mrd. R$ beisteuern sollte – und Investitionen des Privatsektors in Höhe von 216,9 Mrd. R$ (43%) flankiert werden sollten. Der Schwerpunkt des Wachstumsprogramms lag eindeutig auf dem Energiesektor, in den über die Hälfte der Mittel fließen sollte, während 34% der Mittel für soziale und urbane Infrastrukturprojekte und 11% für Logistik- und Transportvorhaben vorgesehen waren. Im Nordosten Brasiliens waren Investitionen in Höhe von 151,7 Mrd. R$ (23,5%) geplant, von denen rund 22,1 Mrd. R$ in Ceará getätigt werden sollten. Bis zum Jahr 2010 wurde die Investitionssumme sogar noch auf 657,4 Mrd. R$ aufgestockt, von denen bis zum Ende der ersten Programmphase 2010 rund 94% ausgegeben wurden (GOVERNO FEDERAL 2010a; GOVERNO FEDERAL 2010b; GOVERNO FEDERAL o. J.; MINISTÉRIO DO PLANEJAMENTO o. J.a; UOL NOTÍCIAS o. J.; SCHMALZ 2011: 273 f.; LEUBOLT: 43). Allein für den Bau der beiden Hauptkanäle des Ableitungsprojektes des São Francisco Flusses wurden bis 2010 3,5 Mrd. R$ (1,7 Mrd. R$ Ostkanal; 1,8 Mrd. R$ Nordkanal) investiert (GOVERNO FEDERAL 2010a: 171 f.). Hinzu kommen noch die Investitionskosten in den Bundesstaaten selbst. Für Ceará steht dabei der Ausbau der Verbindung zwischen dem Stausee Castanhão, der Metropolitanregion Fortaleza und dem Industriehafen von Pecém im Mittelpunkt. Der zunächst als Canal da Integração (Integrationskanal), später dann als Eixão das Águas (Wasserachse) bezeichnete Kanal wurde in fünf verschiedene Abschnitte unterteilt, für die bis 2010 rund 477 Mio. R$ ausgegeben wurden. Darüber hinaus wurden weitere 254 Mio. R$ in den Bau von Stauseen, Staubecken und Wasserleitungssysteme investiert und 260 Mio. R$ in den Ausbau dreier Bewässerungsprojekte. Da7
Bei einem Kurs vom Januar 2007.
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
gegen erscheinen die 1,2 Mio. R$, die für Revitalisierungsprojekte der Flusssysteme ausgegeben wurden, eher bescheiden (s. Tab. 8). Tab. 8: Investitionen im Wassersektor in Ceará im Rahmen von PAC und PAC2
Mit dem Amtsantritt von DILMA ROUSSEFF im Januar 2011, die von LULA auch als Mutter des PAC bezeichnet wurde (FOLHA DE SÃO PAULO 2010), trat auch die zweite Phase des PAC (PAC2) in Kraft, der mit einem Finanzvolumen von 955 Mrd. R$ (575 Mrd. US$) für vier Jahre (2011–2014) versehen wurde (MINISTÉRIO DO PLANEJAMENTO o. J.b). Allein für die Arbeiten am Nordkanal des Ableitungsprojektes des São Francisco sind in dieser Zeit Investitionen in Höhe von 3,5 Mrd. R$ geplant, für den Ausbau der Kanäle in Ceará rund 1,3 Mrd. R$, den Bau von Stauseen 312 Mio. R$ und für die Konsolidierung der Bewässerungsprojekte rund 314 Mio. R$ (s. Tab. 8) (MINISTÉRIO DO PLANEJAMENTO). Anhand der beeindruckenden Zahlen wird deutlich, dass der massive Ausbau der Wasserinfrastruktur und die Umsetzung von Megaprojekten wie die Ableitung des São Francisco nach wie vor das zentrale Aktionsfeld der Wasserpolitik in Brasilien sind. Neben den Revitalisierungsprojekten und den Maßnahmen der Erosionskontrolle im Rahmen des PAC, wurden in den letzten Jahren vermehrt auch Programme im Umweltbereich aufgesetzt. Mit dem Programm PRODES (Programa Despoluição de Bacias Hidrográficas) soll die Wasserverschmutzung, mit dem Projekt Água Doce die fortschreitende Versalzung der Wasserressourcen be-
7.2 Programm als institutionalisierte Praktiken
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kämpft werden. Auch in diesem Bereich soll mit der Einführung von marktbasierten Mechanismen ein effizienteres Umweltmanagement erreicht werden. Beispielsweise wird versucht, mit dem Programm Produtor de Água das Feld der Umweltdienstleistungen zu erschließen, wobei nur solche Projekte finanziert werden, durch die eine Bezahlung von Schutzmaßnahmen der Wasserressourcen durch die Nutzer_innen ermöglicht wird (ANA 2012). 7.2.1 Staatliche Wasserprogramme in Ceará Auf bundesstaatlicher Ebene finanziert die Weltbank etliche Programme des Wassermanagements. Mit dem PROGERIRH-Programm (Programa de Gerenciamento e Integração dos Recursos Hídricos), das bereits seit 1995 in Ceará umgesetzt wird, soll neben der Stärkung des institutionellen Gefüges und der technischen Kapazitäten auch die Wasserinfrastruktur des Bundesstaates, insbesondere die Verbindungen zwischen den einzelnen Flusssystemen, ausgebaut werden. Dies stellt eine der zentralen Maßnahmen dar, um speziell für das zusätzliche Wasser aus der Flussableitung des São Francisco Flusses gerüstet zu sein. Im Jahr 2000 gewährte die Weltbank für das PROGERIRH einen erneuten Kredit in Höhe von 136 Mio. US$, der 2008 sogar um weitere 103 Mio. US$ aufgestockt wurde (CHACON 2007: 179; AZEREDO 2008). Mit dem 240 Mio. US$ finanzkräftigen PROURB (Programa de Desenvolvimento Urbano de Gerenciamento dos Recursos Hídricos), das zu 60% mit Weltbankkrediten finanziert wird, soll die Wasserversorgung der Städte in Ceará abgesichert werden. Dabei fließt etwa die Hälfte in die urbanen Versorgungssysteme, während die andere Hälfte sowohl für den Ausbau der Kanäle und Stauseen im Landesinneren als auch für den Ausbau der Organisationsstrukturen vorgesehen ist. Ursprünglich war dabei auch die Finanzierung eines Pilotprojektes zur Implementierung eines Wassermarktes vorgesehen (1,6 Mio US$), was jedoch als nicht durchsetzbar eingestuft und somit zunächst verworfen wurde (GOVERNO DO ESTADO DO CEARÁ 2003; GUTIÉRREZ 2006: 191– 192). Ein spezielles Problem in Ceará stellt die Wasserversorgung der diffus lebenden Bevölkerung im Hinterland des Bundesstaates dar. Innerhalb des von der Weltbank finanzierten Projektes zur Unterstützung der Kleinbäuer_innen (Programa de Apoio aos Pequenos Produtores Rurais – PAPP) wurde für Ceará das Projeto São José ins Leben gerufen, das 2012 als Projeto São José III (PSJ III) verlängert und mit einem Volumen von 150 Mio. US$ ausgestattet wurde. Dabei soll die Wasserversorgung von Gemeinden mit weniger als 70 Familien mit Hilfe von Wasserleitungen, Brunnen oder kleinen Staubecken verbessert und mit der Förderung von alternativen Anbauweisen eine nachhaltige ländliche Entwicklung erreicht werden (KÜSTER 2003: 183; HOLANDA 2006: 38 ff.; SOHIDRA 2012; SDA 2012). Der Pacto das Águas stellt in erster Linie einen Dialogprozess zwischen dem Parlament (Assembleia Legislativa) und der Zivilgesellschaft – vor allem den Wasserkomitees, der Privatwirtschaft und verschiedenen NGOs – dar, bei dem die
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
Probleme und möglichen Lösungsansätze in den einzelnen Regionen des Staates diskutiert und in einem Abschlussdokument (Plano estratégico dos recursos hídricos do Ceará) festgeschrieben wurden (CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLEIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2009). Als zentrale Säule der Wasserpolitik in Ceará wird dabei die Integration, d. h. die Verbindung aller elf Wassereinzugsgebiete in Ceará mittels Kanälen, Aquädukten, Tunnels etc. benannt. Unter dem Titel Cinturão das Águas do Ceará (CAC) (Wassergürtel Cearás) soll neben dem Wasser aus der Flussableitung des São Francisco Flusses auch Wasser aus dem Flusssystem des Rio Tocantins in das Wassersystem Cearás eingespeist werden. Im Mai 2012 wurde mit den Ausschreibungen für das auf 7 Mrd. R$ veranschlagte Projekt begonnen, wobei in einer ersten Etappe zunächst ein Kanal zwischen Jati und Cariús im Südosten des Bundesstaates gebaut werden soll. Somit liegt der Fokus des MegaInfrastrukturprojektes weiterhin auf der Nutzung des Wassers des São Francisco, während die Tocantins-Ableitung noch als Zukunftsprojekt anzusehen ist (CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008: 155; GADELHA 2012). Bei vielen Programmen sowohl auf national- als auch auf bundesstaatlicher Ebene steht nicht das Wasserangebot (Wassermanagement und –infrastruktur), sondern vielmehr die Wassernachfrage und somit die Art und Weise der Nutzung der Wasserressourcen im Vordergrund. So werden innerhalb des Projektes der hydroökologischen Entwicklung (Projeto de Desenvolvimento Hidroambiental – PRODHAM) alternative Wasserspeichermöglichkeiten und Nutzungsweisen wie beispielsweise unterirdische Staubecken, Zisternen, Terrassenanbaumethoden, Wiederaufforstungsmaßnahmen etc., aber auch Umweltbildungs- und Umweltschutzmaßnahmen und Aktivitäten außerhalb der Landwirtschaft gefördert (SRH 2008). Während der PRODHAM und der Aktionsplan für ein Leben im Einklang mit der Dürre (Plano de Ações de Convivência com a Seca – PACS) explizit auf die diffus lebende Bevölkerung im Sertão zugeschnitten sind und zur Armutsreduzierung im ländlichen Raum beitragen sollen (CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLEIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2009: 226) (s. auch Kap. 12.3.1), sind andere Programme gezielt auf die Förderung des Agrobusiness ausgerichtet. So sollen beispielsweise über das Programm der Bewässerungslandwirtschaft (Programa Cearense de Agricultura Irrigada – PROCEAGRI) Entwicklungspole der Bewässerungslandwirtschaft in denjenigen Gebieten eingerichtet werden, die über das größtmögliche landwirtschaftliche und hydraulische Potential verfügen (s. Kap. 10.3) (ELIAS 2002: 30). 7.2.2 Finanzierungsprogramme als Steuerungsinstrument So wie die Zuständigkeiten der beiden Agrarministerien zwischen der Familienlandwirtschaft und dem Agrobusiness aufgeteilt sind, so werden auch die Gelder ganz unterschiedlich an die einzelnen Bereiche verteilt. Während das Agrobusiness in erster Linie über große Kreditlinien und gut ausgestattete Programme fi-
7.2 Programm als institutionalisierte Praktiken
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nanziert wird (MAPA 2012) und von Steuererleichterungen und von dem massiven Ausbau der Wasserinfrastruktur profitiert, wird die Familienlandwirtschaft oftmals über einzelne Projekte und Kleinkredite gefördert. Wichtigstes Finanzierungsinstrument für die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist das seit 1996 bestehende Programm zur Stärkung der Familienlandwirtschaft PRONAF (Programa de Fortalecimento da Agricultura Familiar). Verfügte das PRONAF im Erntejahr 2002/2003 über ein Finanzvolumen von 2,4 Mrd. R$, so wurde es bis zum Ende der zweiten Amtszeit LULAS auf 16 Mrd. R$ aufgestockt und wird im Erntejahr 2012/2013 mit 18 Mrd. R$ angegeben (ebd.: S. 22), (MDA 2010: 4). Darin sind auch Mittel zur Absicherung von hohen Ernteausfällen bei Dürre- bzw. Flutereignissen enthalten. Über das Garantia-Safra Programm können sich Landwirte, die bis zu eineinhalb Mindestlöhne 8 verdienen, beispielsweise gegen Ernteausfälle von über 50% der Produktion bei Kulturen wie Baumwolle, Reis, Bohnen, Maniok oder Mais versichern. Für das Erntejahr 2012/2013 wurden für das Programm Garantia-Safra 412 Mio. R$ vorgesehen (SAF/MDA; MORRISON 2010: 154 f.). Auch die Investitionen für die Agrarberatung der Familienlandwirtschaft wurden von 46 Mio. R$ (2003) auf 626 Mio. R$ (2010) um ein Vielfaches aufgestockt (MDA 2010: 12). Auch wenn durch die beachtliche Ausweitung des Finanzvolumens der Kredite für die Familienlandwirtschaft neue Handlungsmöglichkeiten für viele Millionen Kleinbäuer_innen entstehen und nicht länger von einer Monopolisierung des Kreditwesens für die Großgrundbesitzer (HALL 1978: 116) oder einem Ausschluss der Kleinbäuer_innen über die Kreditvergabepraktiken gesprochen werden kann (BURSZTYN 1984; CARVALHO 1988), so müssen dennoch die strukturellen Voraussetzungen der Reproduktion ungleicher Bedingungen im Agrarsektor im Auge behalten werden. Nach wie vor werden landwirtschaftliche Großbetriebe und agroindustrielle Komplexe bei der Kreditvergabe bevorzugt behandelt und nach wie vor hängt die Höhe des Kredits entscheidend von der Betriebsgröße ab (UNTIED 2005: 82). Den 18 Mrd. R$, die im Erntejahr 2012/2013 für die Familienlandwirtschaft vorgesehen sind, stehen 115,25 Mrd. R$ für das Agrobusiness gegenüber (MAPA 2012: 22). Obwohl 84% der Betriebe und 74% der in der Landwirtschaft Beschäftigten der Familienlandwirtschaft zuzuordnen sind und diese den Großteil der Grundnahrungsmittel produzieren (MDA 2009), steht dem Agrobusiness sechsmal so viel Geld zur Verfügung wie der Familienlandwirtschaft. Somit liegt der Schwerpunkt der brasilianischen Kreditpolitik nach wie vor auf der Förderung des Agrobusiness, wodurch die bestehenden Ungleichheitsstrukturen weiter reproduziert werden.
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Der Mindestlohn liegt in Brasilien seit dem 1. Januar 2012 bei monatlich 622 R$ und wurde am 1. Januar 2013 auf 670,95 R$ erhöht.
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7. Institutionalisierung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse
7.3 WASSERPOLITIK ALS INWERTSETZUNGSSTRATEGIE Die Wasserpolitik in Brasilien und insbesondere in Ceará hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Dabei zeugen die großen Investitionsvolumina und vielfältigen Programme von dem politischen Willen, die Wassersituation nachhaltig zu verbessern und den Bundesstaat in einen attraktiven Wirtschaftsstandort zu verwandeln. Die Sicherung der Wasserversorgung stellt dabei den Schlüssel für die Inwertsetzung des Bundesstaates mit Hilfe privatwirtschaftlicher Investitionen im Bereich der Bewässerungslandwirtschaft, der Shrimpszucht, der Industrie und des Tourismus dar. Dieser Inwertsetzungslogik folgend sind die meisten Infrastrukturprojekte im Wassersektor als Großprojekte konzipiert und ist das Wassermanagement in erster Linie auf die Erhöhung des Wasserangebots und die Wassersicherung ausgerichtet. Dabei spielen die Bedürfnisse und die Sicherung der Wasserversorgung der oftmals weit verbreitet lebenden ländlichen Bevölkerung zumeist nur eine untergeordnete Rolle. In dem für den Pacto das Águas erstellten Bericht, der aus einem mehrmonatigen Diskussionsprozess zwischen verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen, staatlichen Behörden und der Privatwirtschaft hervorging, werden die staatlichen Maßnahmen und Programme im Hinblick auf die Wasserversorgung der ländlichen Bevölkerung in erster Linie negativ bewertet: „Os programas de captação e adução de água para populações difusas não têm a amplitude necessária diante das carências e necessidades observadas. O investimento público no 9 abastecimento de água no meio rural é insuficiente, ineficiente e descontínuo “ (CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008: 115).
Demnach stellen die meisten Programme in erster Linie Hilfs- und Kompensationsmaßnahmen dar, die jedoch an den strukturellen Gegebenheiten im ländlichen Raum nur wenig zu ändern vermögen. Als weitere Kritikpunkte der staatlichen Wasserpolitik in Ceará benennt der Bericht: – – – –
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den Top-Down-Ansatz: die Programme gehen in der Regel nicht auf die Initiativen der lokalen Bevölkerung zurück, sondern werden von ‚oben nach unten‘ durchgesetzt das fehlende partizipative und dezentrale Management der Programme die überdimensionierte Verwaltung, die Verzögerung bei der Mittelausschüttung und die Inflexibilität der Programme die zu geringe räumliche Ausweitung der Programm und die zu kurzen Projektphasen „Die Programme der Wassergewinnung und -zufuhr für die weit verbreitet lebende Bevölkerung erreichen in Anbetracht des festgetellten Mangels und der Bedürfnisse nicht das notwendige Ausmaß. Die staatlichen Investitionen für die Wasserversorgung im ländlichen Raum sind unzureichend, ineffizient und unbeständig“ (CONSELHO ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS & ASSEMBLÉIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ 2008: 115; eigene Übersetzung).
7.3 Wasserpolitik als Inwersetzungsstrategie
– – – –
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die einheitlichen und starren Programmkonzepte und die Vernachlässigung der geophysischen, aber auch sozialen, kulturellen und ökonomischen lokalen Besonderheiten die geringe Nachhaltigkeit der Programme, u. a. aufgrund der Schwerpunktlegung auf den Ausbau der Infrastruktur und die Vernachlässigung des Betriebs und des Wartungsaufwandes (bspw. bei den Entsalzungsanlagen) die Missachtung der existierenden alternativen Lösungsvorschläge, wie etwa die Nutzung von unterschiedlichen Wasserressourcen und kleinen Wasserquellen und der zu geringe Einsatz angepasster Technologien die geringe Integration mit anderen Programmen, insbesondere des Agrarbereichs (ebd.: 114 ff.).
Die institutionelle (Neu)Ordnung der Wasserpolitik kann als eines der wesentlichen Elemente des Wasserdispositivs verstanden werden. Über die strukturellen Vorgaben der staatlichen Organisation der Wasserpolitik werden bestimmte Subjektpositionen ermöglicht, andere wiederum marginalisiert, Handlungsoptionen geschaffen oder beschränkt und Machtverhältnisse produziert und reproduziert. Über die massiven Investitionen in die Wasserinfrastruktur schreibt sich die Wasserpolitik in den Raum ein, während über gesetzliche Bestimmungen und einzelne Instrumente des Wassermanagements – wie beispielsweise die Wasserkomitees – Praktiken vorstrukturiert werden. Nicht zuletzt steht die Institutionalisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Natur in einem gegenseitigen Wechselverhältnis mit hegemonialen Diskursen über Knappheit, Nutzungseffizienz und muss im Kontext der dichotomen Gegenüberstellung von modernem Management und traditioneller Nutzungspraktiken verstanden werden. Solchen Diskurssträngen und ihren Verankerungen im Wasserdispositiv soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
8. ARCHÄOLOGIE DES WISSENS: DIE ORDNUNG DES DÜRREDISKURSES Innerhalb einer spezifischen räumlichen und zeitlichen Konstellation und eines bestimmten gesellschaftlichen Kontextes ist Wissen über mögliche Sinnordnungen und ‚wahre‘ Bedeutungszuweisungen vorhanden, wenn auch nicht fixiert. Wissen wird in Form von sprachlichen Praktiken (Reden, Alltagsgesprächen, Texten, etc.) und nicht-sprachlichen Praktiken (Verhaltensweisen, Materialisierungen etc.) aktiviert und reproduziert, dabei gleichzeitig aber auch modifiziert. Dieses Wissen ist strukturiert, d. h. es unterliegt als Ergebnis vorangegangener Prozesse der Sinnstiftung bestimmten Schließungsregeln und Deutungsmustern, die die Reproduktion des vorhandenen Wissens leiten, aber nicht determinieren. Gleichzeitig wirkt sich eine solche Wissensordnung wiederum strukturierend auf die „Spielräume zukünftiger diskursiver Ereignisse“ aus (KELLER 2008: 206; KELLER 2003: 206) (s. Kap. 3). Das Freilegen von Wissensordnungen und die Benennung von in einem Diskurs gültigen Regeln und Deutungszusammenhängen stellt das Ziel einer an FOUCAULT angelehnten Diskursanalyse dar. Die Arbeit des Freilegens und Aufdeckens von Strukturen und Regelhaftigkeiten innerhalb eines Diskurses kommt in dem von FOUCAULT geprägten Ausdruck der ‚Archäologie des Wissens‘ sehr treffend zum Ausdruck. Dabei ist jedoch von zentraler Bedeutung, dass damit keine Interpretation des ‚wahren Gehalts‘ von Aussagen im Sinne eines hermeneutischen Verstehens, kein Lesen zwischen den Zeilen und keine Suche nach verborgenen Wahrheiten und nach Verweisen auf hinter den Dingen liegende Ordnungen gemeint ist. Vielmehr befasst sich die Diskursanalyse mit der Oberfläche der Aussagen, damit, was tatsächlich gesagt worden ist und wie diese Aussagen als ‚wahre‘ Aussagen konstituiert werden. Es geht also nicht um die Suche nach Wahrheit, sondern um die Bedingungen der Herstellung von Wahrheit (BUBLITZ 2001: 31; GEHRING 2007: 24; ROSE 2007: 144 f.; WALDSCHMIDT 2003: 151; SCHWAB-TRAPP 2003: 178). Insbesondere in Abgrenzung zur Disziplin der Ideengeschichte macht FOUCAULT deutlich, was er unter dem Ansatz der ‚Archäologie des Wissens‘ versteht: „Die Archäologie versucht, nicht die Gedanken, die Vorstellungen, die Bilder, die Themen, die Heimsuchungen zu definieren, die sich in den Diskursen verbergen oder manifestieren; sondern jene Diskurse selbst, jene Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken. Sie behandelt den Diskurs nicht als Dokument, als Zeichen für etwas anderes, als Element, das transparent sein müßte, aber dessen lästige Undurchsichtigkeit man oft durchqueren muß, um schließlich dort, wo sie zurückgehalten wird, die Tiefe des Wesentlichen zu erreichen; sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument. Es ist keine interpretative Disziplin, sie sucht nicht einen ‚anderen Diskurs‘, der besser verborgen wäre. Sie wehrt sich dagegen, ‚allegorisch‘ zu sein“ (FOUCAULT 1973: 198).
8.1 Grundlagen der Diskursanalyse
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Es geht also weder um den verborgenen Inhalt eines Textes oder einer Aussage, noch um die Ansichten und ‚wahren‘ Intentionen eine_r Autor_in als Urheber_in von Sinn (BARTELT 2003: 21). Vielmehr lässt sich das in einem Diskurs aufscheinende Wissen als übersubjektive Wissensordnung verstehen, die historisch entstanden und somit zwangsläufig kontingent ist: „Schließlich sucht die Archäologie nicht nach der Wiederherstellung dessen, was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen, hat gedacht, gewollt, anvisiert, verspürt, gewünscht werden können; sie nimmt sich nicht zum Ziel, jenen flüchtigen Kern zu suchen, wo der Autor und das Werk ihre Identität austauschen; wo der Gedanke noch am nächsten bei sich bleibt, in der noch nicht entstellten Form des Selbst, und wo die Sprache sich noch nicht in der räumlichen und sukzessiven Dispersion des Diskurses entfaltet hat. […] Das ist nicht die Rückkehr zum Geheimnis des Ursprungs; es ist die systematische Beschreibung eines Diskurses als Objekt“ (FOUCAULT 1973: 199–200).
Den Diskurs als Objekt zu beschreiben heißt jedoch nicht, ihn als objektiv existierende Realität zu beschreiben. Vielmehr ist der Diskurs ebenfalls ein durch den_die Analytiker_in hergestelltes Konstrukt, über das zwar Wirkungsverhältnisse deutlich gemacht werden können, das aber notwendigerweise immer in der Begrenztheit der Perspektive des Forschenden verhaftet bleibt: „Die Grenzen von Diskursen sind nicht objektiv zu ermitteln, sondern stets abhängig von Auswahlentscheidungen des Beobachters [sic]: Je nachdem, welche Diskursfragmente analysiert werden und welche differentiellen Verweise in diesen Fragmenten berücksichtigt werden, kann das Ergebnis sehr unterschiedlich ausfallen“ (LEIBENATH et al. 2012: 123) (s. Kap. 3.1.3).
Eine Diskursanalyse ist somit weniger eine Methode, die erlernt und auf das jeweils zu untersuchende Material angewendet werden kann, sondern sie stellt vielmehr eine Forschungsperspektive bzw. eine Geisteshaltung dar, durch die Selbstverständlichkeiten systematisch hinterfragt, die Bedingungen ihrer Herstellung kritisch beleuchtet und die Prozesse der Hegemonialisierung von Wissen in Frage gestellt werden können (BETTINGER 2007: 86; SCHWAB-TRAPP 2003: 169; WELEBIL 2009: 5). Den Ansatzpunkt einer diskursanalytischen Herangehensweise stellen dabei Aussagen (eines Textes, einer Rede etc.) dar, die auf ihre regelhafte Anordnung hin untersucht werden können, um so die Regeln der Beziehungen zwischen einzelnen Aussagen rekonstruieren zu können. Solche Verknüpfungsregeln, über die Deutungsmuster und Legitimationszusammenhänge hergestellt werden, nennt FOUCAULT Formationsregeln: „Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalität, Begriffe, thematische Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen (aber auch Bedingungen der Koexistenz, der Aufrechterhaltung, der Modifizierung und des Verschwindens) in einer gegebenen diskursiven Verteilung“ (FOUCAULT 1973 in MATTISSEK & REUBER 2007: 178).
Eine diskursanalytische Untersuchung von Texten zielt folglich darauf ab, die Regeln zu benennen, „die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft […] die Grenzen und Formen der Sagbarkeit definieren“ (Foucault 2005a: 35). Bei der Analyse des Diskurses über die Dürre im Nordosten Brasili-
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
ens ist somit beispielsweise danach zu fragen, welche Textelemente (naturräumliche/klimatische Bedingungen, Wasserknappheit, Armut, Wasserinfrastrukturprojekte, Entwicklungsstrategien) wie miteinander in Verbindung gebracht werden und welche Regelmäßigkeiten dabei auszumachen sind. Zentraler Bestandteil der diskursanalytischen Untersuchung wird dabei die Frage nach der Problemkonstitution (was wird als Problem definiert? Welche kausalen Zusammenhänge werden erzeugt? etc.) und nach den im Diskurs angebotenen Lösungsansätzen sein. Darüber hinaus soll sowohl nach den Grenzen einzelner Diskurse als auch nach dem marginalisierten, unterdrückten oder ausgeschlossenen Wissen gefragt werden. Aufgrund der positivistischen Verfahrensweise einer Diskursanalyse, bei der von den existierenden Aussagen ausgegangen wird, stellt dies allerdings ein empirisches Problem dar. Insbesondere das offene Codierungsverfahren, bei dem die einzelnen Analysekategorien erst aus den Texten heraus gebildet werden (s. u.), stellt zunächst keine Anhaltspunkte für das Aufspüren von ausgeschlossenen Wissenselementen und nicht zugelassenen Schließungslogiken zur Verfügung. Lediglich über den Abgleich zwischen der herausgearbeiteten Diskursformation und dem eigenen, über die Feldforschung (Interviews, teilnehmende Beobachtung etc.) und über die Auswertung von aus der Sekundärliteratur erworbenem Wissen können Hinweise für ausgeschlossene Diskurselemente aufgespürt werden (BAURIEDL 2008: 296). Dabei könnte bspw. danach gefragt werden, welche Kausalzusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und den Naturverhältnissen nicht benannt und welche Lösungsansätze ausgeblendet werden. Auf der Grundlage der in Kapitel drei skizzierten diskurstheoretischen Annahmen der Konstitution von Wirklichkeit sollen mit Hilfe des diskursanalytischen Ansatzes Wissensformationen über die Zusammenhänge der Dürre im Nordosten Brasiliens herausgearbeitet, die möglichen Sprechweisen und Schließungslogiken benannt und insbesondere die innerhalb des Diskurses angebotenen Problematisierungen und Lösungsansätze nachgezeichnet werden. 8.1. GRUNDLAGEN DER DISKURSANALYSE 8.1.1 AUSWAHL DES TEXTKORPUS Doch wie soll der Diskurs über ein bestimmtes Thema in einer spezifischen Region gefunden und eingegrenzt werden? Woher stammen die zu analysierenden Aussagen und wie kann die Repräsentativität bestimmter Texte festgestellt werden? Da eine vollständige Erfassung aller zu einem bestimmten Thema getätigten Aussagen nicht möglich ist, muss über eine begründete Auswahl bestimmter Schlüsseltexte ein Textkorpus erstellt werden, über den Aussagen hinsichtlich der dominierenden Leitthemen und gültigen Formationsregeln möglich sind. Die folgende diskursanalytische Untersuchung nimmt die Thematisierung von Dürre im Nordosten Brasiliens in den Blick. Dieser Fokussierung liegt die Annahme zugrunde, dass über das Dürrethema Kausalzusammenhänge zwischen natürlichen Bedingungen und gesellschaftlichen Prozessen hergestellt werden, die
8.1 Grundlagen der Diskursanalyse
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für die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse konstitutiv sind. Mit Hilfe einer Analyse des Dürrediskurses können Texte und Reden auf das in ihnen aufscheinende Verständnis der gesellschaftlichen Naturverhältnisse hin befragt und die hergestellten Kausalbeziehungen und vorgeschlagenen Lösungsansätze herausgearbeitet werden. Die vorgenommene diskursanalytische Untersuchung stützt sich dabei auf zwei unterschiedliche Textsorten: zum einen auf Zeitungsartikel aus den Jahren 2008–2012 der größten und wichtigsten Tageszeitung des Bundesstaates Ceará, dem Diário do Nordeste, in denen die Dürre thematisiert wird. Zum anderen werden Reden von Befürworter_innen und Gegner_innen des größten hydrologischen Infrastrukturprojektes des Nordostens, der Ableitung des São Francisco Flusses, für die diskursanalytische Bearbeitung herangezogen, die in einer öffentlichen Debatte im Febraur 2008 im brasilianischen Senat gehalten wurden. Diese werden wiederum mit drei Reden des ehemaligen Präsidenten und vehementen Befürworters des Flussableitungsprojektes, LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, verschnitten. Diskursanalyse I: Diário do Nordeste Die Entscheidung, Zeitungsartikel als Grundlage für die diskursanalytische Untersuchung heranzuziehen, beruht auf der Annahme, dass (Massen)Medien als „zentrale Arenen der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion“ (KELLER 2008: 79) verstanden werden können, über die bestimmte Themen bzw. Problemkomplexe gerahmt werden (ebd.). Bei der Produktion von medial vermittelten Texten wird auf den gesellschaftlich vorhandenen Wissensvorrat zurückgegriffen. Gleichzeitig leisten Medien einen Beitrag zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Somit sind sie Teil des „permanenten Prozesses der Festschreibung und Veränderung“ (KELLER 2003: 212) von gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibung. Wichtig ist, dass sie dabei als spezifisches Medium der Wirklichkeitskonstruktion bestimmten Bedingungen unterworfen sind: Die Texte einer Tageszeitung bilden einen Diskurs nicht einfach ab, sondern sind Ergebnis von mehr oder weniger bewusst ablaufenden Entscheidungsprozessen, durch die die in einem Zeitungsartikel anzutreffende Aussagen entscheidend beeinflusst werden. Dabei wirkt sich sowohl die politische Ausrichtung und der historische, institutionelle und ökonomische Hintergrund einer Zeitung auf den Selektionsprozess der Textproduktion aus, als auch der eingeschätzte Nachrichtenwert und die „vermutete Resonanzfähigkeit“ (ebd.) eines Ereignisses. Die Häufigkeit und Art und Weise der Berichterstattung über das Ausmaß einer Dürre oder die Wasserverteilung mittels Tanklastwagen ist demnach u. a. auch der Logik der Berichterstattung geschuldet (Sensationsorientierung und Weitergabe von ‚nützlichen‘ Informationen) und kann nicht als direktes Abbild des gesellschaftlichen Diskurses analysiert werden. Die Tageszeitung Diário do Nordeste ist mit einer Auflage von 39.357 Exemplaren an Werk- und 47.840 Exemplaren an Sonn- und Feiertagen die auflagenstärkste Tageszeitung des Bundesstaates Ceará, die als einzige in allen Munizipien des Bundesstaates erhältlich ist und die Zeitung mit der größten Verbrei-
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
tung im Nordosten Brasiliens darstellt (GÖRLICH 2007: 144; COSTA 2009: 53). Die Zeitung wurde 1981 in Fortaleza gegründet, wo sie auch heute noch herausgegeben wird. Sie ist Teil des größten Medienkonzerns Cearás, dem Sistema Verdes Mares, zu dem ebenfalls drei Fernsehsender, vier Radiostationen und ein Internetportal gehören. Das Medienunternehmen ist im Besitz der Grupo Edson Queiroz, einem der einflussreichsten Konzerne im Nordosten Brasiliens. Neben dem Kommunikationssektor zählen die größten Unternehmen Brasiliens im Flüssiggassektor und in der Produktion von Mineralwasser zur Unternehmensgruppe sowie weitere Unternehmen der Nahrungs- und Elektroindustrie und des Agrobusiness. Selbst im Bildungsbereich ist der Konzern aufgestellt. So gehört auch die 1973 gegründete erste private Universität von Ceará, die Universidade de Fortaleza (UNIFOR), der Grupo Edson Queiroz an (SOUSA 2007: 3). Neben der starken wirtschaftlichen Macht der Unternehmensgruppe ist auch ihr politischer Einfluss nicht zu unterschätzen. Während der Unternehmensgründer EDSON QUEIROZ enge Beziehungen zur Militärdiktatur pflegte, zählte sein Sohn ÉDSON QUEIROZ FILHO zu der Gruppe der jungen Unternehmer, die Ende der 1980er Jahre die Modernisierung Cearás propagierten (s. Kap. 6.4.1). Er ist mit der Tochter des zweimaligen Gouverneurs des Bundesstaates, TASSO JEREISSATI verheiratet (COSTA FILHO & ISMAR CAPISTRANO 2007: 6), was zumindest als Indiz für enge politischwirtschaftliche Verschneidungen dienen kann. Trotz des ökonomischen und politischen Hintergrundes des Diário do Nordeste wäre eine vorschnelle Bewertung der Zeitung als rein regierungstreues, neoliberales Medienorgan zumindest einseitig. Vielmehr bestehen auch innerhalb einer großen Tageszeitung Spielräume und Möglichkeiten einer kritischeren Berichterstattung. Insbesondere die freien Mitarbeiter_innen und regionalen Korrespondent_innen können über ihre Themensetzung und Berichterstattung kritische Themen aufwerfen und marginalisierten Stimmen Gehör verschaffen. Beispielsweise schafft es der Korrespondent für die Region des Jaguaribe Tals, MELQUÍADES JUNIOR, immer wieder, über Veranstaltungen und Aktionen der Zivilgesellschaft zu berichten und kritische Reportagen etwa über die Auswirkungen der Obstplantagen oder den fehlenden Zugang zu Wasser im ländlichen Raum im Regionalteil der Zeitung zu platzieren, auch wenn er damit mitunter gegen interne Widerstände innerhalb der Zeitung zu kämpfen hat (persönliche Mitteilung). Für die Erstellung des Textkorpus wurde auf der Internetseite des Diário do Nordeste das Schlagwort ‚seca‘ (Dürre) eingegeben, was eine Trefferzahl von über 21.500 Artikeln ergab. Um die Datenmenge für die diskursanalytische Untersuchung in einem überschaubaren Maß zu halten, wurde die Anfrage um das Schlagwort ‚desenvolvimento‘ (Entwicklung) erweitert. Dadurch sollten insbesondere diejenigen Artikel herausgefiltert werden, in denen ein Zusammenhang zwischen natürlichen Bedingungen und spezifischen Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung hergestellt wird. Darüber hinaus wurde der Untersuchungszeitraum auf die Jahre 2008–2012 begrenzt, also auf den Zeitraum, in dem meine Untersuchungen in der Region stattfanden. Bei einer ersten Durchsicht der Artikel wurden schließlich diejenigen Texte ausgeschlossen, bei denen sich das Wort ‚seca‘ nicht explizit auf die Dürre im Nordosten bezog. Somit fielen dieje-
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nigen Artikel, die von der Promillegrenze bei Autofahrer_innen (lei seca) handelten ebenso dem Streichprozess zum Opfer, wie Artikel über Trockenfleisch (carne seca), zu trockene Pisten bei Formel 1 Rennen (pista seca), trockenem Husten (tosse/boca seca), Artikel mit dem Verb trocknen (secar) etc. und Artikel über Dürreereignisse in anderen Landes- oder Erdteilen. Übrig blieben 340 Artikel, die sich jedoch ganz unterschiedlich auf die einzelnen Jahre verteilen: Für das Jahr 2008 wurden 35 Artikel analysiert, für 2009 33 Artikel, 2010 85 Artikel, 2011 17 Artikel und für 2012 schließlich 170 Artikel. Zu erklären ist diese ungleiche Verteilung der Artikel in erster Linie mit den Niederschlagsverhältnissen in den jeweiligen Jahren. Während 2008 sehr viel Niederschlag zu verzeichnen war, so dass die Staubecken in Ceará sogar ihre maximale Speicherkapazität erreichen konnten (DIÁRIO DO NORDESTE 2008), war 2012 eines der trockensten Jahre der letzten 60 Jahre (O POVO 2012). Die diskursanalytische Untersuchung dieser 340 Artikel stellt den ersten Teil der Diskursanalyse dar. Diskursanalyse II: Senatsdebatte zum Ableitungsprojekt des Rio São Francisco Um jedoch nicht allein dem Filter einer einflussreichen Tageszeitung bei der Freilegung von Diskursen über die Dürre im Nordosten ausgeliefert zu sein, wurde darüber hinaus eine Senatsdebatte zum Ableitungsprojekt des São Francisco Flusses analysiert. Die Debatte, die am 14. Februar 2008 im brasilianischen Senat stattfand und fünf Stunden und 40 Minuten dauerte, wurde vom senatseigenen Sender TV Senado aufgezeichnet und im Internet zur Verfügung gestellt. Dieser Videomitschnitt wurde von mir transkribiert, was als textliche Grundlage für die Analyse diente. Die Auswahl genau dieser Debatte hatte mehrere Gründe: Zum einen kann das Ableitungsprojekt als größtes und umstrittenstes Infrastrukturprojekt im Nordosten Brasiliens bezeichnet werden, das in ganz Brasilien und sogar weltweit 1 überaus polemisch diskutiert wurde. Das Projekt war eines der zentralen Vorhaben der zweiten Amtszeit der Regierung Lula (2007–2010), an dem sich exemplarisch viele Bruchlinien der aktuellen brasilianischen Politik manifestier(t)en (s. Kap. 10.3.1). Insbesondere die Erzählungen von Fortschritt und Entwicklung, dichotome Vorstellungen von einem reichen und entwickelten Süden und einem unterentwickelten Nordosten und die Schwierigkeiten der sozialen Bewegungen, sich gegenüber der Regierung Lula abzugrenzen bzw. eine kritische Positionierung einzunehmen, kamen in den Auseinandersetzungen um die Flussableitung (transposição) deutlich zum Ausdruck (s. u. a. PROJETO MANUELZÃO 2007; RIBEIRO 2008; IHU ONLINE 2009; ABNER 2008; BANCO MUNDIAL 2005; VIANA 2005; BJØRGUM 2008; VAN ‘T HOFF 2010; EBERTZ 2009). Insofern kann das Ableitungsprojekt als diskursives Ereignis verstanden werden, das in Brasilien 1
Auch in Deutschland wurde über das Projekt in allen großen Tages- und Wochenzeitungen, in Internet-, Radio- und Fernsehbeiträgen (u. a. ARD Weltspiegel) und in vielen Veröffentlichungen von NGOs immer wieder berichtet.
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zum „Ort sozialer und symbolischer Auseinandersetzungen“ (BUBLITZ 1999: 25) erhoben wurde. Spätestens mit den beiden Hungerstreiks des Bischofs der Diözese Barra (Bahia), DOM LUÍZ FLÁVIO CAPPIO, in den Jahren 2005 und 2007 standen die Auseinandersetzungen um das Ableitungsprojekt im Zentrum der medialen Öffentlichkeit in Brasilien, in denen der Bischof als Gegenspieler von Präsident LULA inszeniert wurde. Die Debatte im brasilianischen Senat kann letztendlich als direkte Reaktion der institutionalisierten Politik auf die zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen rund um den zweiten Hungerstreik des Bischofs angesehen werden. Dies zeigte sich auch darin, dass DOM CAPPIO als erster Diskutant das Wort erteilt bekam und – gemeinsam mit dem Minister der Nationalen Integration, GEDDEL VIEIRA LIMA, fünf Minuten mehr Redezeit als die übrigen Diskussionsteilnehmer_innen zur Verfügung gestellt bekam. Darüber hinaus wurde die Senatsdebatte auch aus diskurstheoretischen Überlegungen heraus ausgewählt: Sie stellte einen Höhepunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um das Ableitungsprojekt dar, zu dem die ‚wichtigsten‘ Repräsentant_innen der Gruppe der Befürworter_innen und der Gegner_innen der Flussableitung zu Wort kamen. Die Entscheidung, wer als ‚wichtige_r Repräsentant_in‘ angesehen werden kann und wer nicht, wurde dabei jedoch nicht von meinen eigenen Annahmen und Sympathien, meinem Kenntnisstand oder meinen Möglichkeiten des Zugangs zu bestimmten Interviewpartner_innen beeinflusst. Vielmehr ist die Auswahl bereits Teil eines machtvollen gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsprozesses, in dem ebenfalls elitäre, rassistische, klassen- und genderspezifische Setzungen eingeschrieben sind. Beispielsweise sprach kein_e einzige_r Vertreter_in einer indigenen Gruppe, von Kleinbäuer_innen, Flussanrainer_innen oder der Landlosenbewegung. Vielmehr legitimierte ein Bischof – als Mitglied der gesellschaftlich anerkannten Institution Kirche – seine Sprecherposition damit, dass er als Vertreter der Zivilgesellschaft und der Marginalisierten spreche. Von den 16 Diskutant_innen, die zu der Debatte geladen waren, befanden sich lediglich zwei weibliche Sprecherinnen – in der anschließenden Diskussion nutzten neun Senatoren und nur eine Senatorin die Möglichkeit, ihre Positionen in die Diskussion einzubringen. Aufgrund der Bedeutung der Debatte und aufgrund der verkürzten Redezeit von 10 bzw. 15 Minuten beschränkten sich die Redner_innen auf die für sie wichtigsten Argumentationslinien, die sie zumeist von ihren vorbereiteten Manuskripten ablasen. Somit stellt die Debatte eine Art Verdichtung des gesellschaftlichen Diskurses dar, durch die die wichtigsten Diskursfragmente zum Vorschein und die geltenden Formationsregeln zur Anwendung gebracht wurden. Gleichzeitig muss die Transkription der Senatsdebatte von einem Videomitschnitt als Grundlage für (m)eine diskursanalytische Untersuchung jedoch auch kritisch betrachtet werden, da dies in gewisser Weise bereits eine doppelte Übersetzungs- und Interpretationsleistung darstellt: Zum einen wurde durch die Transkription die Debatte nicht einfach nur verschriftlicht. Vielmehr wurden audiovisuelle Informationen und Eindrücke über die performative Rahmung des Sprechens (Redegeschwindigkeit, -lautstärke, emotionale Äußerungen, Körpersprache etc.) für die Herstellung des Transkriptes ausgeblendet. Dabei wurde wäh-
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rend der Debatte durchaus geschrien, geweint, gelacht und geschwiegen, was jedoch für die Analyse der Diskursformation nicht berücksichtigt wurde. Zum anderen stellte die Analyse eines portugiesischsprachigen Textkorpus für mich, trotz guter Portugiesischkenntnisse, eine Herausforderung dar. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Wörter und bestimmte Zusammenhänge nicht oder falsch verstanden wurden und ein gewisser Subtext nicht gehört wurde. Somit muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die hier vorliegende Diskursanalyse auf einer von mir (mit)konstruierten Realität beruht, die ich als deutscher Wissenschaftler, der Portugiesisch als Fremdsprache gelernt hat, untersucht wurde (s. Kap. 2.3). 8.1.2 Methodische Heran- und Vorgehensweise Für die Analyse des Dürrediskurses im Nordosten Brasiliens wurden die zu analysierenden Zeitungsartikel des Diário do Nordeste nach Jahren geordnet in das Softwareprogramm MAXQDA eingegeben. Während der ersten Lektüre der Artikel wurden in einem offenen Codierungsverfahren Kategorien aus den Texten heraus entwickelt und die relevanten Textpassagen diesen Kategorien zugeordnet. Die einzigen Kategorien, die für die Strukturierung des Kategoriensystems vorab festgelegt wurden, waren die Oberkategorien ‚Rahmung der Dürre‘, ‚Problemkonstitution‘, ‚Lösungsansätze‘ und ‚Subjektpositionen‘. Die jeweiligen Subkategorien wurden über die in den Texten vorgefundenen Aussagen entwickelt. Dennoch handelt es sich dabei nicht um ein rein induktives Verfahren, da die Erstellung des Kategoriensystems bereits als eine interpretative Leistung angesehen werden kann, die immer auch auf meinen Einschätzungen und meinem Vor- und Kontextwissen beruht. Aufgrund der diskursanalytischen Herangehensweise, bei der weniger das Faktenwissen als vielmehr eine spezifische Wissensordnung und gewisse Regelhaftigkeiten aus den Texten herausgearbeitet werden soll, wurden die Texte nicht nach objektiven Gegebenheiten zur Erstellung von Faktencodes befragt. Vielmehr wurden thematische Codes (bspw. ‚Erklärung der Dürre über klimatische Wirkungszusammenhänge‘, ‚Wassermanagement als geeigneter Lösungsansatz‘ etc.) erstellt, die auf bestimmte Schließungsregeln verweisen (KUCKARTZ 2010: 61). Anhand der Oberkategorien wurden aus den Texten sowohl diejenigen Aussagen herausgearbeitet, über die die Dürre als natürliches bzw. gesellschaftliches Problem konstituiert wird, als auch diejenigen Aussagen, die auf bestimmte Ansätze zur Lösung des ‚Dürreproblems‘ verweisen. Darüber hinaus wurden auch die Fotos und Graphiken, die den Zeitungsartikeln zugeordnet sind und einzelne Aussagen des Textes bildhaft untermauern sollen, in Kategorien eingeteilt, wobei hierbei vor allem die in den Bildern aufscheinende Wertung (bspw. negativ konnotiert: ausgetrockneter Stausee; positiv konnotiert: vielfältige Produkte der Familienlandwirtschaft) festgehalten wurde. Aussagen, in denen keine Schließungsregeln hinsichtlich der Problemkonstitution bzw. des Lösungsansatzes erkennbar wurden, die jedoch als Rahmenhandlung für die Zeitungsartikel und für das Reden über die Dürre angesehen werden
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können (Berichte über Niederschlagsverhältnisse, Desertifikation, Wasserverteilung über Tanklastwägen etc.), wurden unter der Oberkategorie ‚Rahmung der Dürre‘ gelistet. Und schließlich wurden die in den Artikeln aufscheinenden Personen, die über die Nennung ihres Berufes oder ihrer Funktion zu legitimen Sprecher_innen erhoben werden (Landwirt_in, Vertreter_in einer bestimmten Behörde, Wissenschaftler_in etc.) unter der Oberkategorie ‚Subjektpositionen‘ eingeordnet. Nach der Phase des intensiven Lesens und Codierens wurde in einem zweiten Schritt das entstandene hierarchische Kategoriensystem analysiert und umfassend bearbeitet. Dabei wurden viele Kategorien umsortiert, unter einer Hauptkategorie zusammengefasst, neu benannt und teilweise weitere Kategorien hinzugefügt. Dafür wurde immer wieder auf die Originaltexte zurückgegriffen, die kategorisierten Textabschnitte wiederholt gelesen und gegebenenfalls neu kategorisiert oder abgegrenzt. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass der Prozess des Kodierens und der anschließenden Bearbeitung des Kategoriensystems ein interpretativer Prozess ist, durch den – in Abhängigkeit der Positionalität des Forschenden – Bedeutungsspielräume eingegrenzt und Bedeutungen festgeschrieben werden, was letztendlich immer auch einen kontingenten Prozess darstellt (GLASZE et al. 2009: 299–300). Das gleiche Verfahren wurde auch für die transkribierten Reden der Senatsdebatte angewandt. Für die Analyse der Senatsdebatte wurde ein eigenes MAXQDA-Dokument erstellt, wobei die Kategorien wiederum aus den Aussagen heraus entwickelt wurden und nicht, wie es auch möglich gewesen wäre, in das bereits vorhandene Kategoriensystem integriert. Dadurch sollte die Möglichkeit eröffnet werden, Hinweise auf Diskursverschiebungen, Auslassungen und NichtBenennungen zu finden. Da sich die Senatsdebatte explizit auf einen speziellen Lösungsansatz der Dürreproblematik, das Ableitungsprojekt des São Francisco Flusses, bezieht, wurde für die Schließungslogiken und Legitimationszusammenhänge hinsichtlich der Flussableitung eine eigene Oberkategorie ‚Schließungslogiken Transposição‘ erstellt. Darüber hinaus wurden drei Reden des damaligen Präsidenten LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA analysiert und kategorisiert. Auch wenn die Reden nicht innerhalb des gleichen Settings der Senatsdebatte stattfanden, so erscheint eine Verschneidung der Reden im Senat mit denen des populären Präsidenten durchaus sinnvoll. Auch LULAS Reden hatten nicht nur das anwesende Publikum, sondern vor allem auch die breite Öffentlichkeit als Adressaten und zielten darauf ab, das Ableitungsprojekt zu rechtfertigen. Innerhalb des präsidialen Systems Brasiliens und in Anbetracht der überaus großen Popularität des aus dem Nordosten stammenden Präsidenten, der ‚die Sprache des Volkes spricht‘, kann LULA als wichtiger einzelner Diskursteilnehmer angesehen werden, der den Diskurs wirkmächtig beeinflussen kann. Im Folgenden soll nun dargestellt werden, welche Wissensordnung das Reden über die Dürre im Nordosten Brasiliens zugrunde liegt und welche Schließungslogiken dabei zur Anwendung kommen.
8.2 Freilegung des Dürrediskurses I: DIÁRIO DO NORDESTE
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8.2 FREILEGUNG DES DÜRREDISKURSES I: DIÁRIO DO NORDESTE 8.2.1 DIE RAHMUNG DES DÜRREDISKURSES Als erste Annäherung an den Textkorpus wurde der Begriff ‚seca‘ (Dürre), über den ursprünglich die Auswahl der Zeitungsartikel erfolgt war und der somit als Schlüsselbegriff für die Analyse fungiert, in seinem direkten Bedeutungskontext betrachtet. Von den 930 ermittelten Nennungen des Begriffes in den 340 analysierten Dokumenten konnten 343 Aussagen ausgemacht werden, in denen die Dürre in einen explizit negativ bewerteten Kontext gestellt wird. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Begriff seca wurden Wörter wie Leiden (sofrimento), Hunger (fome), Armut (pobreza), Tod (morte), und Opfer (vítima), aber auch – wenn auch weniger häufig – Begriffe wie Strafe (castigo), Problem (problema), Drama (drama) und Krise (crise) gefunden 2. Diese negative bis dramatische Konnotation des Dürrebegriffes findet sich auch in weiteren Zusammenhängen wieder, in denen das Wort Dürre zwar nicht explizit genannt wird, aber als Grundlage für die Erzählung dient. So wurden an 108 Stellen Aussagen kategorisiert, in denen eine räumliche Einheit (Nordosten, Semi-Árido, Sertão, Ceará) mit Begriffen wie Rückständigkeit (atraso) (51), Misere (miséria), Armut, Hunger, Problem und Gewalt (violência) in einen Zusammenhang gebracht wird. Dieser Zusammenhang zwischen dem Raum und dessen negative Bewertung wird dabei implizit über die naturräumlichen Bedingungen, insbesondere über fehlende oder zu geringe Niederschläge hergestellt. Demgegenüber wurden lediglich 23 Aussagen gefunden, in denen der Bundesstaat Ceará, der Nordosten oder der Sertão im Zusammenhang mit Schönheit, fruchtbaren Böden, Biodiversität und Fortschritt in Verbindung gebracht und somit positiv bewertet werden. Da die Auswahl der Texte über den Begriff seca erfolgte und somit einer starken Vorselektion unterlag, lassen sich daraus jedoch keine verallgemeinerbaren Rückschlüsse über die Konstitution des Räumlichen und über eine eindeutig negative Bewertung der Region ziehen. In den Zeitungsartikeln nehmen Berichterstattungen über das Ausmaß der Dürre, die Anzahl der Munizipien, in denen der Notstand ausgerufen wurde, über aktuelle Niederschlagsverhältnisse und Menschen, die Hunger leiden, einen recht großen Raum ein. So wurde beispielsweise das Wort Notstand (emergência) bei 173 Aussagen gefunden. Darüber hinaus wurde die Problematik der Desertifikati-
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Wenn im Folgenden bestimmte Aussagen gereiht werden, ohne jedoch die Anzahl der Nennungen genau zu spezifizieren, dann erfolgt die Reihung absteigend anhand der Häufigkeit. Die ‚Trefferzahlen‘ werden dabei absichtlich nicht benannt, um keine scheinbar quantifizierbare Exaktheit der Ergebnisse vorzutäuschen. Die Anzahl der gelisteten Aussagen wird nur in den Fällen erwähnt, in denen darüber eine Ahnung über die Dimension der Häufigkeit und über Verhältnisse zwischen verschiedenen Aussagen vermittelt werden kann. Einfachheitshalber wird dann die Anzahl der Nennungen in Klammern hinter den Stichwörtern angegeben.
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on sehr häufig thematisiert (69), aber auch Konflikte um Wasser und Land und der Themenkomplex Migration und Landflucht wurden immer wieder benannt. Auch wenn hierbei keine eindeutigen kausalen Zusammenhänge hergestellt werden, so wird über den Kontext der Berichterstattung und die Erwähnung der aktuellen Niederschlagsmengen zumindest implizit darauf verwiesen, dass die fehlenden Niederschläge zu Desertifikation, Migration und Konflikten führen. Die ausgiebigen Berichte über aktuelle und prognostizierte Niederschläge und das Ausmaß des Notstands müssen dabei jedoch auch vor dem Hintergrund der Logik der Berichterstattung einer Tageszeitung betrachtet und können nicht ohne Weiteres auf einen gesellschaftlichen Diskurs übertragen werden (s. o.). Dennoch stellen diese Themen die Rahmung des Dürrediskurses dar, innerhalb derer es möglich ist, über die Dürre im Nordosten zu sprechen. Demgegenüber taucht beispielsweise der Begriff Kapitalismus in den 340 Artikeln nur ein einziges Mal auf. 8.2.2 Die Disziplinierung des Blickes: Bilder als Diskursfragmente Neben sprachlichen Aussagen (Texten, Reden etc.) können auch bildliche Aussagen (Grafiken, Fotografien etc.) als Teil eines Diskurses verstanden werden. Sowohl über Texte als auch über Bilder werden bestimmte Sprech- und Sichtweisen zur Verfügung gestellt, die eine raum-zeit-spezifische Wissensordnung prägen. Dies bedeutet gleichzeitig aber auch, dass Bilder nicht lediglich als schmückendes Beiwerk und Illustration eines Textes zu verstehen sind, sondern als „eigenständige Äußerungsform“ (MIGGELBRINK & SCHLOTTMANN 2009: 182), die nach ihrer spezifischen Wirkungsweise und Logik zu befragen ist (ebd.: 182 ff.). Dabei bilden Bilder und selbst Fotografien Wirklichkeit nicht einfach ab. Vielmehr sind sie Teil des diskursiven Prozesses der Konstitution von Wirklichkeit, die diese auf eine bestimmte Art und Weise strukturieren und somit Kontingenz reduzieren. Bilder fokussieren auf einen bestimmten Ausschnitt von Wirklichkeit, durch den einige Aspekte sichtbar, andere unsichtbar gemacht werden, und liefern somit eine bestimmte Sicht-Weise und Sinn-Deutung (ROSE 2007: 143). Sie sind demnach nicht danach zu untersuchen, welche Gegenstände sie abbilden, sondern danach, welche Ideen in ihnen zum Tragen kommen und welche Wahrheitsansprüche und Natürlichkeitsbehauptungen ihnen zugrunde liegen (MIGGELBRINK & SCHLOTTMANN 2009: 194–195; SCHLOTTMANN 2009: 42). Im Vordergrund der Analyse von bildlichen Aussagen steht somit nicht die Suche nach einem dem Bild innewohnenden Sinn, sondern vielmehr die möglichen Sichtweisen, die durch eine bildhafte Darstellung angeboten werden und die innerhalb des Diskurses auf bestimmte Schließungslogiken verweisen. JOHN URRY spricht in diesem Zusammenhang von der „Disziplinierung des Blickes“ (URRY in MIGGELBRINK & SCHLOTTMANN 2009: 194), der über Bilder gerichtet und fokussiert wird. Dabei stehen die Bilder – insbesondere die analysierten Bilder der Zeitungsartikel – jedoch nicht alleine, sondern müssen in ihrem Kontext und ihrer Einbindung in den begleitenden Text betrachtet werden. Insbesondere wurden bei der Analyse auch die Bildunterschriften als ein den Blick disziplinierendes Mittel mit einbezogen
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(SCHLOTTMANN & MIGGELBRINK 2009: 17; MIGGELBRINK & SCHLOTTMANN 2009: 189). Zu den 340 analysierten Zeitungsartikeln des Diário do Nordeste wurden 310 Abbildungen kategorisiert, wobei 299 Fotografien und lediglich elf Karten und Grafiken gelistet wurden. Allerdings wurden die durchaus zahlreichen Portraitaufnahmen (bspw. von Politiker_innen, Landwirt_innen, Menschen, die interviewed wurden), die außer dem Gesicht keine weiteren offen-sichtlichen Informationen enthielten, nicht in das Kategoriensystem aufgenommen. Darüber hinaus wurde jedem Bild nur eine einzige Kategorie zugewiesen, um so eine quantitative Vergleichbarkeit der Häufigkeit der bebilderten Themen zu ermöglichen. Somit war ich gezwungen, den Bildern eine Hauptaussage zuzuweisen, auch wenn oftmals mehrere Kategorien (‚ausgetrockneter Stausee‘, ‚Versorgung mit Wasser‘) möglich gewesen wäre. Bei den elf Grafiken handelt es sich bis auf eine Ausnahme um Karten, die die Verteilung der Dürre (7), der Wasserinfrastruktureinrichtungen oder die Ausdehnung der semiariden Region darstellen. Lediglich eine Grafik stellt ein Liniendiagramm dar, auf dem die Entwicklung der extremen Armut in Ceará zwischen 2001 und 2009 abgebildet wird. Aufgrund der Frage nach der Ausrichtung des Blickes des_der Leser_in, die über die Bebilderung der Zeitungsartikel vorgenommen wird, wurden die Fotografien zunächst hinsichtlich der in den Bildern überwiegenden aufscheinenden Wertung unterteilt. Daraus ergab sich, dass 164 Fotografien (55 %) von mir als ‚negativ konnotiert‘, während 110 Fotografien (37 %) als ‚positiv konnotiert‘ eingeschätzt wurden. Zur Bestimmung der Wertigkeit wurde in vielen Fällen insbesondere die Bildunterschrift als Indikator herangezogen. Lediglich bei 24 Fotografien (8%) (Menschen bei einem Treffen, Diskussionsrunden, Pilgerprozessionen, Heiligenfiguren) konnte keine eindeutige Wertung festgestellt werden. Bei den von mir als ‚negativ konnotiert‘ kategorisierten Bildern (164) wurden 46 recht pauschalisierend als Landschaftsaufnahmen eingeordnet, da hier kein Mensch oder Tier im Vordergrund abgebildet ist. Neben Bildern eines degradierten und ausgetrockneten Sertão und zerstörten Agrarfeldern stehen Bilder von (fast) ausgetrockneten Stauseen und Kanälen und verlassenen Häusern. Auch vier Fotos von überschwemmten Straßen und Feldern wurden gelistet. Darüber hinaus wird auf 37 Bildern das Thema Landwirtschaft und Dürre thematisiert, bei denen Landwirt_innen innerhalb eines vertrockneten Feldes, mit einer vertrockneten Ernte oder auf einem verlassenen Markt abgebildet werden. Auffallend oft wird das Thema ‚Armut‘ bebildert (64), wobei vor allem die Situation der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Geld dargestellt wird (53). Hierbei werden oftmals paternalistische Gesten der Vergabe von Lebensmitteln oder der Verteilung von Wasser über einen Tanklastwagen dargestellt. Darüber hinaus wird über Fotos von prekären Wohnverhältnissen, unterernährten Kindern, verzweifelten Gesichtern und verstaubten Füßen das Thema Armut bebildert. Ein weiteres klassisches Motiv, durch das die Dürre im Nordosten verbildlicht wird, ist das Bild eines abgemagerten Tieres oder eines Tierkadavers innerhalb einer kargen Natur (10). Auch Fotos von Demonstrationen, Besetzungen und Blockaden (7) wurden von
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mir in die Kategorie ‚negativ konnotiert‘ eingeordnet, da über den Kontext des Zeitungsartikels vermittelt wird, dass hier nicht die Selbstermächtigung sozialer Gruppen als positiver Akt im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Konflikt als negative gesellschaftliche Situation. Diesen negativ konnotierten Bildern stehen allerdings 111 Aufnahmen gegenüber, die auf die Natur, die Region und die Menschen im Nordosten positiv verweisen. So wird der Blick des_der Leser_in über 25 Aufnahmen auf die Schönheit des Sertão, seine Biodiversität, die Schönheit des Wassers und von mit Wasser gefüllten Stauseen und Bewässerungskanälen gerichtet. 77 Aufnahmen bebildern das Thema Landwirtschaft im Nordosten, die Produktionsstrukturen und die Produktpalette, wobei die Bebilderung der Familienlandwirtschaft bzw. der ökologischen Landwirtschaft (Anbaumethoden, Produkte, Zisternen etc.) (39) gegenüber einer positiven Bebilderung des Agrobusiness bzw. der großflächigen Bewässerungslandwirtschaft (26) überwiegt. Weitere Bilder verweisen auf Themen wie Regenpropheten, Selbstorganisation von Kleinbäuer_innen, technische Hilfestellungen und Wissenschaft.
Abb. 22: Als negativ und als positiv konnotierte Bilder aus dem Diário do Nordeste (2008–2012).
Die als ‚negativ konnotierten‘ Fotografien der Zeitungsartikel des Diário do Nordeste knüpfen an bestehende, sehr tief verwurzelte Diskurse über die Dürre im Nordosten an (vgl. Kap. 6.2.7). Gerade bei Themen wie Landflucht oder Armut können die Bilder teilweise als Zitate gelesen werden, die auf bekannte Abbildungen, wie etwa berühmte Gemälde, Filmszenen oder Fotografien zurückgreifen (s. Kap. 5.3) und somit mit wenigen Hinweisen starke Effekte erzielen können. Dabei wird ein kausaler Zusammenhang zwischen den natürlichen Bedingungen (Klima, Böden, Vegetation), der Dürre und der Armut im Nordosten hergestellt. Auch wenn dieser Dreiklang nicht in allen Fotografien explizit aufscheint, so tauchen doch in den meisten Abbildungen Verweise auf diese Schließungslogik auf. Dargestellt wird zumeist die Dürre als natürliches Phänomen, das in einer ländlichen Agrarlandschaft verortet wird und über ausgetrocknete Wasserläufe, eine blattlo-
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se, karge Vegetation oder einen trockenen, aufgerissenen Boden symbolisiert wird. Verweise auf die natürlichen Ursachen der Dürre können in dem zumeist wolkenlosen Himmel, den hellen Farben und der tendenziellen Überbelichtung der Fotos gefunden werden. Verweise auf die Auswirkungen der Dürre, insbesondere die Armut und das Leiden der Bevölkerung, können in der schlichten Bekleidung der abgebildeten Menschen, den einfachen Arbeitsgeräten (Hacke), den Wassereimern oder den verzweifelten Gesichtsausdrücken ausgemacht werden. Darüber hinaus wirken die Bilder über die Jahre hinweg auch untereinander. Über die ständigen Wiederholungen ähnlicher symbolischer Verweise erzählen die Bilder eine mehr oder weniger konsistente Geschichte, über die unbewusst der Blick der Leser_innen über die Dürre im Nordosten gerichtet wird. Der in den Bildern aufscheinende Diskurs ist jedoch nicht monokausal. Neben der Herstellung eines natürlichen Determinismus als dominante Schließungslogik und der Festschreibung des Nordostens als Ort der Dürre, der Armut und des Leidens, repräsentieren die als positiv konnotierten Bilder gleichzeitig auch einen Diskurs, durch den der Nordosten zu einer terra de oportunidades (Land der Möglichkeiten) erhoben wird (s. Kap. 6.4.2). Dabei werden die natürlichen Verhältnisse nicht ‚verleugnet‘, sondern vielmehr ins Positive gewendet – etwa durch Nahaufnahmen einzelner, für die Caatinga-Vegetation des Sertão typischer Pflanzen, Aufnahmen von der Vielfalt der Anbauprodukte oder der häufigen Darstellung von Wasserläufen und Seen. Die Sonne verliert dabei ihren bedrohlichen Charakter, den sie in den überbelichteten Fotografien von trockenen Böden zugewiesen bekommt und wird zum Bestandteil einer einmaligen und schönen Natur (s. Abb. 22). Auffallend stark erscheint ein ‚sattes‘ Grün in den Fotografien, insbesondere bei Darstellungen von Anbaumethoden der Familienlandwirtschaft und des Agrobusiness. Oftmals können in den Bildern – analog zu den Aussagen in den Texten – Ansätze ausgemacht werden, die einen Umgang mit der Dürre und eine Lösung des Dürreproblems offerieren: dargestellt werden Politiker_innen, die bei wichtigen Veranstaltungen über Maßnahmen gegen die Dürre diskutieren, Wasserinfrastrukturprojekte und Baumaßnahmen zur Erweiterung der Infrastruktur, Erfolge der Bewässerungs- und Familienlandwirtschaft und alternative Methoden der Wasserspeicherung (Zisternen). Interessanterweise werden – trotz des wirtschaftlichen und politischen Kontextes der Zeitung – die Anbaumethoden und -produkte der Familienlandwirtschaft bzw. der ökologischen Landwirtschaft deutlich häufiger dargestellt als die des Agrobusiness. Neben Bildern von politischen Diskussionsrunden und paternalistischen Darstellungen der Verteilung von Wasser oder Lebensmitteln werden über die Bebilderung von alternativen Anbaumethoden, wie beispielsweise Mandalas, Zisternen oder einer nachhaltigen Waldnutzung durchaus auch Praktiken der Selbstermächtigung ins Bild gesetzt. Dabei steht nicht – wie von anderen Diskursanalysen herausgestellt wurde (SILVA 2006; GÖRLICH 2007) – eine dichotome Gegenüberstellung zwischen Familienlandwirtschaft und Agrobusiness, zwischen der Hilfe von oben und der Selbsthilfe von unten oder auch zwischen dem Armenhaus Brasiliens und dem Land der Möglichkeiten im Vordergrund. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskurssträngen, die zwar um die Deu-
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tungshoheit innerhalb des Dürre-Diskurses konkurrieren, sich aber nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr eröffnen sie das Spannungsverhältnis, in dem sich der Dürrediskurs bewegt und das über die Analyse der Textaussagen näher betrachtet werden soll. Ein wichtiger Aspekt einer diskursanalytischen Vorgehensweise stellt die Frage nach den Auslassungen und Nicht-Benennung bzw. der Nicht-Bebilderung dar. Auch wenn es offensichtlich einfacher erscheint, ausgetrocknete Seen und Menschen mit Wassereimern als Symbole für Dürre und Armut im Nordosten darzustellen, so ist es dennoch interessant, dass keine Fotos gefunden wurden, die die soziökonomischen Bedingungen der Dürre oder die berühmte ‚indústria da seca‘ abzubilden versuchen. Entsprechend wirkmächtige Symbole, wie beispielsweise eingezäunte Grundstücke und Wasserquellen oder Wassertanklastwagen wären dabei durchaus vorhanden. Doch die abgebildeten Tanklastwagen sollen nicht auf die Ungerechtigkeitsverhältnisse oder das Bereicherungssystem der Dürreindustrie, sondern vielmehr auf die staatlichen Hilfeleistungen verweisen. Von den sechs Abbildungen solcher carros-pipa weist lediglich eine Bildunterschrift darauf hin, dass die Tanklastwagen nicht als Symbol für erfolgreiches staatliches Handeln, sondern als Symbol für staatliches Scheitern gelesen werden können: „Desigualdade na distribuição de água é apontada como uma das consequências da falta de planejamento para o Nordeste. Os carros-pipa ainda são uma realidade regional 3“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010a).
8.2.3 Diskursive Konstitution des Dürreproblems „Ich versuchte von Anfang an, den Prozess der ‚Problematisierung‘ zu analysieren – was heißt: Wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden“ (FOUCAULT 1996: 178).
In den analysierten Zeitungsartikeln des Diário do Nordeste wurden 384 Stellen gefunden, über die die Dürre im Nordosten auf eine bestimmte Art und Weise als Problem konstituiert wird. Dabei werden in den meisten Fällen (55%) die naturräumlichen Verhältnisse als Problem des Nordostens und als Grund für die Dürre benannt, wohingegen an 153 Stellen (40 %) sozio-ökonomische und politischstrukturelle Bedingungen problematisiert werden. In 20 Passagen (5%) wird eine (natur)deterministische Deutungsweise der Dürreproblematik im Nordosten sogar explizit kritisiert. Dabei dürfen jedoch die Textstellen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Häufig werden innerhalb eines einzelnen Artikels sowohl die geringen Niederschläge als Grund für die Dürre benannt als auch beispielsweise das schlechte Wassermanagement der Regierung kritisiert. Auch hier muss von einer Gleichzeitigkeit der Argumentationslinien ausgegangen werden, die sich 3
„Ungleichheiten bei der Verteilung von Wasser gelten als eine der Folgen der fehlenden Planung für den Nordosten. Die Tanklastwagen sind immer noch eine Realität der Region“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010a; eigene Übersetzung).
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nicht gegenseitig ausschließen. Darüber hinaus wurden nur diejenigen Stellen kategorisiert, in denen der kausale Zusammenhang zwischen geringen Niederschlägen und bspw. der schlechten Ernte direkt benannt oder die klimatischen Verhältnisse explizit als Problem beschrieben werden. Dabei wurden jedoch nur die Schließungslogiken innerhalb eines einzelnen Artikels beachtet. Jedoch stehen – wie bereits erwähnt – die Artikel untereinander ebenfalls in einem Verhältnis und etablieren implizite Wirkungszusammenhänge. So verweisen etwa Artikel über aktuelle Niederschlagsverhältnisse und über die Notlage im Nordosten aufeinander, ohne dass solche Verweise im Text explizit gemacht werden. Die als Rahmung des Dürrediskurses benannten Kategorien (Notstand, Ausmaß der Dürre, Niederschlagsverhältnisse) tragen somit dazu bei, den Nordosten als Problemregion zu verfestigen und naturalistische Wirkungszusammenhänge zu etablieren (s. o.). Bei der Benennung der naturräumlichen Faktoren, die für den Nordosten ein Problem darstellen, geht es in erster Linie um die geringen bzw. unregelmäßigen Niederschläge oder – etwas allgemeiner – um die klimatischen Bedingungen, die im Nordosten vorherrschen. Nur an vier Stellen wurden explizit die Böden (wenig tiefgründig, steinig, kristalliner Untergrund) als Problemursache benannt. Zumeist wird ein kausaler Zusammenhang zwischen Klima, geringen Niederschlägen und Wasserknappheit hergestellt und daraus werden negative Auswirkungen für die Land- und Viehwirtschaft, die Industrie, den Tourismus oder eine negative Entwicklung der Region insgesamt abgeleitet. Explizit werden auch Armut, Hunger, eine Schwächung der Bevölkerung und eine Veränderung der Sozialstruktur als negative Auswirkungen der Dürre genannt. Als Erklärungsangebot werden meteorologische Modelle, bei denen häufig auch die Temperaturen der Ozeane eine Rolle spielen, zur Verfügung gestellt, wobei an 33 Stellen auch der Klimawandel – meist jedoch als zukünftige Bedrohung – in die Problemkonstitution einbezogen wird. Neben dem Argumentationsstrang, der die natürlichen Bedingungen als Probleme der Region benennt, werden – wenn auch weniger häufig – auch die gesellschaftlichen Bedingungen in die Problemkonstitution mit einbezogen. Dabei werden nicht nur die Verteilung von und der unterschiedliche Zugang zu Wasser, sondern auch die ungleichen Besitzverhältnisse problematisiert. Darüber hinaus werden die geringe Bildung der Bevölkerung und das schlechte Bildungssystem, die geringen finanziellen Mittel, insbesondere der ländlichen Bevölkerung, und deren erschwerter Zugang zu Krediten und infrastrukturelle Mängel als strukturelle Gründe für die negativen Entwicklungen im Nordosten angesprochen (52). Auch das Fehlen bzw. die mangelnde Umsetzung staatlicher Politiken und Programme, ein unzureichendes Wassermanagement und ein falsches Entwicklungsmodell werden als Problemursachen benannt (36). Ein weiterer öfters bedienter Argumentationsstrang erklärt die Degradierung der Natur und die damit im Zusammenhang stehenden negativen Auswirkungen über einen falschen Umgang mit der Natur, insbesondere einer falschen Bodennutzung, wobei häufig die Mentalität der Landwirte und eine geringe Wertschätzung der Region als Erklärungsmuster dienen (40). An 22 Stellen werden die be-
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
stehenden Machtverhältnisse als Problem angesprochen. Dabei wird sowohl der Bereicherungsmechanismus der Dürreindustrie als auch – an lange Diskurstraditionen anknüpfend (s. Kap. 5.2) (SILVEIRA 2007: 66 ff.) – die politische Vormachtstellung der südlichen Bundesstaaten gegenüber dem Nordosten problematisiert. Hinzu kommt an insgesamt drei Stellen die (meist distanzierte) Darstellung einer Schließungslogik, bei der die Dürre als Strafe Gottes angesehen wird. Das ‚Problem des Nordostens‘ wird somit nicht rein naturdeterministisch oder rein aus den gesellschaftlichen Bedingungen heraus konstituiert. Vielmehr scheinen die beiden Argumentationsstränge friedlich nebeneinander zu koexistieren und ihre Schließungslogiken sich gut zu ergänzen. Dennoch treten innerhalb der Zeitungsartikel immer wieder einzelne Stellen auf (20), durch die die naturalistischen Ursache-Wirkungszusammenhänge des Dürrediskurses in Frage gestellt werden. In fast allen Fällen sind dies jedoch keine Äußerungen des_der Autor_in des Artikels, sondern direkte oder indirekte Zitate, die von der Zeitung wiedergegeben werden. Dabei wird die Problematisierung der Niederschlagsverhältnisse im Nordosten explizit zurückgewiesen und betont, dass in der Region genügend Wasser vorhanden sei (8). Durch die konkrete Benennung der intendierten Konstruktion eines negativen Images der Region werden bestehende Schließungslogiken des Diskurses explizit in Frage gestellt. Da dies jedoch nur in sehr wenigen Artikeln angesprochen wird (sieben Nennungen in lediglich vier unterschiedlichen Artikeln), scheint die bestehende Diskursordnung dadurch nicht in Unordnung zu geraten. Darüber hinaus werden alternative Schließungslogiken angeboten, bei denen die Dürre nicht als Ursache von, sondern als Entschuldigung für Armut, nicht als limitierender Faktor und nicht als Grund, sondern als Folge der Entwicklungen der Region dargestellt wird. Kurz und prägnant wird die Kritik an der Konstitution von Dürre als Problem mit dem Satz „[a] seca não é um problema, é uma realidade do semiárido 4“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012e) auf den Punkt gebracht. 8.2.4 Benennung von Lösungsstrategien als Einhegung des Praxisfeldes Indem bestimmte Aspekte und Zusammenhänge als Probleme benannt und in Beziehung gesetzt werden, wird das Feld des Sag- und Verhandelbaren abgesteckt. Über die Konstitution bestimmter Problemlagen werden spezifische Fragen aufgeworfen, die wiederum nach entsprechenden Lösungsvorschlägen verlangen. Die Problemkonstitution setzt demnach die „Bedingungen […], unter denen mögliche Antworten gegeben werden können; sie definiert die Elemente, die das konstituieren werden, worauf die verschiedenen Lösungen sich zu antworten bemühen“ (FOUCAULT 2005b: 733).
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„Die Dürre ist kein Problem, sie ist eine Realität der semiariden Region“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012e; eigene Übersetzung).
8.2 Freilegung des Dürrediskurses I: DIÁRIO DO NORDESTE
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Problematisierungen können somit als Aufforderungen zur Lösungsfindung und als Ansatzpunkte für Veränderungen begriffen werden (KLÖPPEL 2010: 260). In den von mir analysierten Zeitungsartikeln scheinen mögliche Lösungsansätze auf ganz unterschiedliche Art und Weise auf. Zum einen wurden alle Bestandsaufnahmen und Berichte über Ereignisse, Praktiken und Sprechakte unter der Rubrik ‚Lösungsansätze‘ kategorisiert, die direkt oder indirekt als Antworten auf die Dürresituation im Nordosten angesehen werden können (Berichte über (Wasser)Infrastrukturprojekte; Wassermanagementstrukturen, über Bewässerungs- und Familienlandwirtschaft, Zisternenbau etc.). Zum anderen wurden diejenigen Passagen markiert, in denen explizit Praktiken als Lösungen dargestellt, Vorschläge entworfen oder Handlungsweisen eingefordert werden. In Anlehnung an die von mir beschriebenen aktuellen Tendenzen staatlicher Bearbeitungsweisen (IWRM etc.) (s. Kap. 6 & 7) wurden die kategorisierten Lösungsansätze in die beiden Hauptgruppen ‚dominante Lösungsansätze‘ (69% – 77%) und ‚alternative Lösungsansätze‘ (21% – 23%) unterteilt. Dominante Lösungsansätze Innerhalb von Diskursen wird Wirklichkeit u. a. auch über Wiederholungen hergestellt. Durch die ständige Erwähnung bestimmter Programme oder Maßnahmen werden diese – sogar relativ kontextunabhängig – als ‚normale‘ Bearbeitungsweisen der beschriebenen Dürreproblematik verfestigt. So ergab eine einfache lexikalische Suche, dass das Begriffspaar ‚Garantia Safra‘ bzw. ‚Seguro Safra‘ 223 Mal (in 79 Artikeln) und die Wortkombination ‚carro pipa‘ 171 Mal (in 68 Artikeln) auftauchen. Eine solch auffallend häufige Nennung weist darauf hin, dass staatliche Programme und Maßnahmen der Absicherung von Ernteausfällen und der Wasserverteilung als zentrale Lösungsstrategien angesehen werden können, die zum festen Bestandteil der Realität im Nordosten gehören. Insgesamt stehen staatliche Projekte und Programme im Mittelpunkt der in den Zeitungsartikeln erwähnten Lösungsansätze. Sehr häufig werden dabei konkrete Zahlen über die geleisteten oder geplanten Investitionen, über Ausgaben, das Programmvolumen oder die genehmigten Kredite genannt, meist ohne die Höhe des Betrages in einen vergleichbaren Zusammenhang zu stellen oder kritisch zu würdigen. Über die konkrete Benennung des eingesetzten Geldes, aber auch der Anzahl der einbezogenen Munizipien und profitierenden Menschen wird eine Schließungslogik etabliert, die einen quantitativen und messbaren Zusammenhang zwischen Maßnahmen und Erfolg (‚viel hilft viel‘) etabliert. Gleichzeitig wird der Staat zu einem bedeutenden und handlungsfähigen Akteur erhoben (‚Staat gibt viel Geld aus => kümmert sich um Probleme‘), während den Kleinbäuer_innen – als primäre Zielgruppe der Maßnahmen – eher die Rolle passiver Empfäner_innen zugeschrieben wird. Exemplarisch wird die Herstellung solcher Schließungslogiken in den folgenden beiden Abschnitten deutlich:
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses „Mais de 270 mil trabalhadores rurais do Ceará recebem hoje a primeira parcela dos programas emergenciais de auxílio aos afetados pela seca. O próprio secretário de Desenvolvimento Agrário do Estado, Nelson Martins, iniciará os pagamentos. Os benefícios serão distribuídos em duas categorias. A primeira delas, o Bolsa Estiagem, disponibilizada com recursos do Governo Federal, beneficiará 205.849 mil agricultores. A outra, o Garantia Safra, com subsídios do Governo do Estado, vai atender 71.581 trabalhadores rurais. Até dezembro R$ 278 milhões. A solenidade do início da liberação das parcelas de auxílio aos sertanejos está prevista para as 9 horas no auditório do Comando Geral do Corpo de 5 Bombeiros, no Bairro do Jacarecanga, em Fortaleza “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012c). „‚Estamos fazendo todo esse trabalho para que os agricultores atingidos pela seca deste ano possam se sustentar até o mês de fevereiro, época em que deve começar a chover aqui no 6 estado‘, afirmou Martins “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012f).
Die Zahlen scheinen zunächst beeindruckend: 278 Mio. R$, die der Staat an die betroffenen Kleinbäuer_innen vergibt. Welche Bedingungen jedoch an die Vergabe der Mittel geknüpft sind, ob die Landwirte nicht ohnehin ein Recht auf das Geld haben, da es sich um Versicherungszahlungen handelt oder ob die Gelder zurück gezahlt werden müssen, bleibt unerwähnt. Der Staat bzw. Vertreter_innen des Staates, werden dabei zu aktiv Handelnden erhoben, die ‚all diese Arbeit‘ (todo esse trabalho) auf sich nehmen, um zu helfen. Sogar der Staatssekretär höchst persönlich (o próprio secretário) wird aktiv, indem er den Beginn der Zahlungen vornimmt, was ausreichend gefeiert wird. Die Landwirt_innen werden zu passiv Betroffenen, die Zahlungen erhalten und anscheinend nur so ihr Überleben absichern können. In vielen Beschreibungen der Programme und Maßnahmen, vor allem aber auch bei wörtlichen Zitaten von Politiker_innen und Projektverantwortlichen, scheint eine paternalistische Grundhaltung durch, die den Staat in eine wissende, übergeordnete und wohltätige Position versetzt. Der Staat wird zu einer Instanz, die weiß, was gut für die betroffene Bevölkerung ist, und die die erforderlichen Maßnahmen in einem top-down-Ansatz durchzusetzen versteht. In den Aussagen des Staatssekretärs im Nationalen Integrationsministerium, HYPÉRIDES MACÊDO, wird diese Haltung exemplarisch deutlich. Die Landwirte müssen über Regierungsprogramme handlungsfähig gemacht werden, sie müssen gebildet und 5
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„Über 270.000 Landarbeiter aus Ceará erhalten heute die erste Tranche der Nothilfsprogramme für die von der Dürre Betroffenen. Der Staatssekretär im bundesstaatlichen Agrarentwicklungsministerium, Nelson Martins, selbst wird den Beginn der Zahlungen vornehmen. Die Hilfsleistungen werden in zwei Kategorien aufgeteilt. Von der ersten, dem Dürrefonds (Bolsa Estiagem), der mit Mitteln der Bundesregierung bereit gestellt wird, werden 205.849 [Tausend] Landwirte profitieren. Die zweite, das Erntegarantieprogramm (Garantia Safra), mit Zuschüssen der Landesregierung, wird 71.581 Landarbeiter erreichen. Bis Dezember 278 Mio. R$. Die Feierlichkeiten zum Beginn der Freigabe der Hilfszahlungen an die sertanejos ist für 9 Uhr in der Aula des Generalkommandos der Feuerwehr, im Viertel von Jacarecanga in Fortaleza vorgesehen“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012c; eigene Übersetzung). „‘ Wir tun all diese Arbeit, damit sich die Landwirte, die von der diesjährigen Dürre betroffen sind, bis zum Monat Februar, in dem es hier im Bundesstaat wieder zu regnen anfangen sollte, versorgen können‘ sagte Martins“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012f; eigene Übersetzung).
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schließlich sogar in Naturschützer ‚verwandelt‘ (transformar) werden. Jegliches bereits vorhandenes Wissen und bestehende Praktiken des Boden- und Umweltschutzes werden dabei ausgeblendet: „Atualmente, com recursos do Banco Mundial, o Prodham atende comunidades do interior do Estado, capacitando a população local para atuar na conservação do solo, recuperando as áreas degradadas com barragens de pedra. Além do trabalho rural, a população também é alfabetizada, ‚configurando o programa como uma ação integrada ambiental, social, econômica e do conhecimento’. ‘Você transforma aquele homem agricultor em um conservador da natureza’, argumentou Macêdo, que também atentou para a participação de 7 novas entidades nas ações desenvolvidas no Semiárido com as pequenas comunidades “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010b).
Die Benennung des Wassermangels als ursächliches Problem des Nordostens liefert die Vorlage, die dazu führt, dass der Ausbau der Wasserinfrastruktur als logische und unabdingbare Lösungsstrategie erscheinen kann. Der Bau von Staudämmen, Bewässerungskanälen, Brunnen und insbesondere die Umsetzung des Ableitungsprojektes des São Francisco Flusses wird dabei oftmals mit einer Erhöhung der Wassersicherheit in der Region begründet, was zumeist als Ziel an sich dargestellt und nicht weiter begründet wird. Darüber hinaus wird ein solcher Ausbau mit den zu erwartenden positiven Auswirkungen gerechtfertigt, wie etwa der Entwicklung der Region, der Verbesserung des Zugangs und der Verteilung von Wasser bis hin zur Verhinderung der Landflucht. Die Dürre, so eine der wirkmächtigsten Schließungslogiken, macht eine Infragestellung des Baus von Stauseen als Lösungsstrategie nahezu unmöglich – der Infrastrukturausbau wird zu einer hegemonialen Handlungsstrategie erhoben: „A justificativa maior para a transposição dos excessos d´água do Rio São Francisco para os vales secos do Nordeste começa a se tornar incontestável com a seca quase total deste ano. Particularmente no Ceará, o risco de colapso hídrico preocupa os órgãos públicos incumbidos 8 do suprimento de água potável “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012b).
Neben dem Ausbau der Wasserinfrastruktur als materieller Grundlage für die Verfügbarkeit von Wasser in der Region wird innerhalb des Diskurses eine Erneue7
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„Mit Mitteln der Weltbank versorgt das Prodham [Programm] zurzeit Gemeinden im Inneren des Staates, und versetzt die lokale Bevölkerung somit in die Lage, zum Bodenschutz beizutragen und degradierte Flächen mit Hilfe von Steindämmen wieder herzustellen. Neben der Landarbeit wird die Bevölkerung auch alphabetisiert, ‚da das Programm als integrierte Aktion gestaltet ist, in das ökologische, soziale, ökonomische und Wissenselemente eingebunden sind.‘ ‚Diese Menschen werden von einem Landwirt in einen Naturschützer umgewandelt‘ argumentierte Macêdo, der sich auch für die Partizipation neuer Körperschaften innerhalb der Entwicklungsbemühungen mit den kleinen Gemeinden in der semiariden Region einsetzte“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010b; eigene Übersetzung). „Die größte Rechtfertigung für die Ableitung der Wasserüberschüsse des São Francisco Flusses in die trockenen Täler des Nordostens beginnt mit der fast völligen Trockenheit diesen Jahres unanfechtbar zu werden. Besonders in Ceará beunruhigt das Risiko eines Zusammenbruchs der Wasserversorgung diejenigen Behörden, die mit der Trinkwasserversorgung beauftragt sind“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012b; eigene Übersetzung).
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
rung bzw. Stärkung des institutionellen Arrangements im Wassersektor als Lösungsansatz angeboten. Auch hierbei fungiert das Argument der Erhöhung der Wassersicherheit als selbstreferentielle Begründung. Darüber hinaus kann mit der Logik der Dürrebekämpfung über ein optimiertes Wassermanagement und eine effiziente Wassernutzung an international wirkmächtige Diskursstränge im Wassersektor angeknüpft werden (s. Kap. 4.3.2, Kap. 7.1.2). Auch die im Ansatz des Integrierten Wasserressourcen Managements verankerten Instrumente der Regulierung des Wasserverbauchs über Wasserpreise (cobrança pela água) (8) und die Organisation und Partizipation der Betroffenen (u. a. über die comitês de bacia) (4) kommen in den Artikeln vor, wenn auch nicht allzu häufig. Während die Erhöhung der Wassersicherheit und der Wasserverfügbarkeit oftmals als Ziele an sich dargestellt werden, weisen diejenigen Diskursstränge, in denen eine Ausweitung des Agrobusiness und der Bewässerungslandwirtschaft als Lösung ausgemacht werden (62), darüber hinaus. Die Expansion der Bewässerungslandwirtschaft ist dabei meist nicht das Ziel, sondern die Bedingung für die Entwicklung der Region, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Erhöhung des Einkommens oder die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Ebenso wie die Stränge, die im Ausbau der Wasserinfrastruktur einen Problem-/Lösungszusammenhang herstellen, können auch diejenigen Diskursstränge, die über eine Ausweitung des (insbesondere wissenschaftlich-technischen) Wissens und über technologische Innovationen Lösungsvorschläge anbieten, auf sehr alte, in der Region fest verankerte Diskurstraditionen zurückgreifen. Die Ideen des Positivismus, die Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts eine hegemoniale Position innerhalb der Diskurse der Eliten des Landes einnahmen (s. Kap. 6.2.7), können auch in den aktuellen Diskurssträngen nachgezeichnet werden, wenn auch weniger dominant. Auch in den Zeitungsartikeln des Diários scheint die Logik auf, die technologischen Fortschritt und Entwicklungen, insbesondere in der Landwirtschaft und eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Beratung als probate Mittel für eine positive Entwicklung der Region erscheinen lässt (70). Darüber hinaus wird in einer Erhöhung des Wissens über die Region – insbesondere mittels wissenschaftlicher Studien – ein Ansatz zur Problemlösung gesehen (34). Als neue Diskurselemente können diejenigen Aussagen ausgemacht werden, die eine Bewusstseinsbildung der Bevölkerung (29) ebenfalls als Lösungsansatz darstellen. Alternative Lösungsansätze Bei der Analyse der Zeitungsartikel fiel auf, dass das Wort Nachhaltigkeit (sustentabilidade) bzw. das Begriffspaar der nachhaltigen Entwicklung (desenvovlimento sustentável) relativ häufig verwendet werden. Eine lexikalische Suche nach dem Wortstamm sustenta* (das Verb sustentar (unterhalten) wurde ausgeklammert) ergab eine Trefferzahl von 202 Nennungen in insgesamt 99 verschiedenen Dokumenten. Bei einer genaueren Analyse des Verwendungskontextes wurde jedoch deutlich, dass sich der Begriff nicht eindeutig der Kategorie ‚al-
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ternative Lösungsansätze‘ zuordnen lässt, sondern in ganz unterschiedlichen Kontexten und von ganz unterschiedlichen Sprecher_innenpositionen aus verwendet wird. Dies lässt sich auch aus der Karriere des Nachhaltigkeitsbegriffs in Ceará ableiten: Wurde der Begriff ursprünglich eher von sozialen Bewegungen im Hinblick auf eine integrierte Landwirtschaft und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur benutzt, gelangte er spätestens nach der Rio Konferenz 1992 und mit dem Plan für eine nachhaltige Entwicklung (Plano de Desenvolvimento Sustentável (1995)) während der zweiten Amtszeit von TASSO JEREISSATI in die staatliche Rhetorik. Allerdings lag der Schwerpunkt des Regierungsplans dabei weniger auf sozialen und ökologischen Aspekten als vielmehr auf wirtschaftlichem Wachstum und der Modernisierung der Industrie (CHACON 2007: 36–37; KÜSTER 2003: 142– 143). In den Zeitungsartikeln tritt der Begriff am häufigsten als unspezifische Zielvorgabe von Entwicklung (desenvolvimento sustentável) oder als selbstreferentielles Substantiv (sustentabilidade) auf. Darüber hinaus reichen die Verwendungskontexte von nachhaltiger Wirtschaft (economia sustentável), einer nachhaltigen Nutzung der Naturressourcen (uso sustentável dos recursos naturais) bis hin zu einer integrierten und nachhaltigen ökologischen Agrarproduktion (Produção Agroecológica Integrada e Sustentável). Somit kann der ‚catch-all‘ Terminus Nachhaltigkeit am ehesten im Sinne von ERNESTO LACLAU und CHANTAL MOUFFE als leerer Signifikant verstanden werden. Ein diskursives Element wird dann als leerer Signifikant bezeichnet, wenn darüber logische Verknüpfungen (Äquivalenzbeziehungen) zwischen unterschiedlichen diskursiven Elementen aufgebaut und somit ein diskursiver Zusammenhang hergestellt werden kann. Dies bedeutet gleichzeitig aber auch, dass der leere Signifikant selbst weitgehend unbestimmt und bedeutungsleer sein muss, damit die einenden Beziehungen und nicht die Differenzen zu den unterschiedlichen diskursiven Elementen in den Vordergrund rücken (MOEBIUS 2008: 167; GLASZE & MATTISSEK 2009: 165). In diesem Sinne eignet sich der Nachhaltigkeitsbegriff hervorragend als leerer Signifikant, da ihm durch die ganz unterschiedlichen Verwendungsweisen keine eindeutige Bedeutung mehr zugeordnet werden kann, er aber gleichzeitig als positiv konnotierte, moralische Zielvorstellung für viele Diskurszusammenhänge eine geeignete Klammer darstellt. Auch bei den Aussagen, die in die Kategorie ‚alternative Lösungsansätze‘ eingeordnet wurden, wird über die Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung eine wirkmächtige Schließungslogik etabliert. Bei einer genauen Analyse der als ‚alternative Lösungsansätze‘ markierten Textpassagen zeigt sich, dass über die Kategorisierung ebenfalls keine eindeutigen Rückschlüsse über den Kontext der Aussage oder die Sprecher_innenposition, aus der heraus die Aussage getätigt wurde, gezogen werden können. Ansätze einer convivência com o semi-árdio, der Bau von Zisternen oder eine ökologische Landwirtschaft werden sowohl von Vertreter_innen der Zivilgesellschaft oder der Wissenschaft, aber auch von Regierungsseite oder staatlichen Organisationen (Ministerien, DNOCS, BNB) als adäquate Handlungspraktiken benannt. Dabei werden die Ansätze sowohl als Kritik gegenüber der dominanten Bearbeitungs-
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
weise der Dürre und als Gegenmodell zur staatlichen Politik als auch als Ergänzung und Bestätigung des vorherrschenden Modells eingesetzt. Somit ist eine dichotome Gegenüberstellung zwischen dominanten und alternativen Lösungsansätzen für den aktuellen Diskursverlauf irreführend. Die von mir a priori festgelegte Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien (dominant/alternativ) stammt in erster Linie von der Selbstpositionierung der sozialen Bewegungen, die sich über ihre Projekte der Convivência, über den Bau von Zisternen und über Projekte der ökologischen Landwirtschaft von der dominanten Bearbeitungsweise abgrenzen. Zumindest im Diskurs, der in den analysierten Zeitungsartikeln zum Tragen kommt, scheint eine solch trennscharfe Unterscheidung jedoch nicht (mehr) möglich zu sein. Somit kann in Hinblick auf den historischen Diskursverlauf von einer Diskursverschiebung gesprochen werden. Auch wenn der Ausbau der Wasserinfrastruktur, eine Institutionalisierung des Wassermanagements und die Expansion der Bewässerungslandwirtschaft nach wie vor die überwiegend aufscheinenden Lösungsansätze darstellen, wurden von staatlicher Seite auch alternative Lösungsansätze in den Kanon der Lösungsvorschläge einbezogen, ohne dadurch die etablierten Ansätze in Frage zu stellen. Ökologische Landwirtschaft und Projekte der Convivência werden dabei als sinnvolle Ergänzungen und nicht als Gegenmodelle dargestellt. Über die Integration solcher Ansätze wird die mit ihnen verbundene Kritik am dominanten Modell der Inwertsetzung der Natur deutlich abgeschwächt. Durch die vielseitige Bezugnahme auf die ‚alternativen Lösungsvorschläge‘ erscheint es nicht verwunderlich, dass auch bei diesen Ansätzen ein positivistischer Glaube an Fortschritt und Entwicklung aufscheint. Die Ziele alternativer Produktionsweisen oder Formen der Wasserspeicherung unterscheiden sich dabei größtenteils nicht von denen konventioneller Herangehensweisen, lediglich die Maßnahmen sind unterschiedlich. Somit erfolgt über die vorgestellten Alternativen zumeist keine grundlegende Infragestellung des vorherrschenden Modells: „Uma associação formada por 25 famílias está atuando na transição da agricultura convencional para a agroecologia, fazendo com que a produção no campo aumente e se torne bastante rentável para todos que estão envolvidos no projeto. Este projeto foi implantado na comunidade de Pirangi, [...] e está sendo assistido pela Ematerce. É um sistema de produção que visa o resgate de práticas agrícolas já conhecidas pelos produtores, a partir do uso de ferramentas tecnológicas e sociais cujo objetivo é o melhor incremento da produção e maiores possibilidades de mercado para o produtor. [...] A transição da agricultura convencional para a agroecologia já mostrou suas vantagens e em pouco tempo conseguiu fazer com que os produtores aumentassem de oito toneladas por hectare, para 20 t, por hectare. ‘A modernização da mandicultura foi necessário com a construção de uma fábrica de beneficiamento moderna, visando o aumento da produção de goma, farinha e outros 9 subprodutos’ explica Zilval Fonteles “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010c).
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„Ein Verbund aus 25 Familien ist dabei, den Übergang von der konventionellen zur ökologischen Landwirtschaft zu betreiben, wodurch sich die Produktivität auf dem Feld erhöht, was sich für alle, die an dem Projekt beteiligt sind, als ziemlich rentabel herausstellt. Dieses Projekt wurde in der Gemeinde Pirangi eingeführt […] und wird durch die Ematerce betreut. Es ist ein Produktionssystem, das die Wiedererlangung der von den Produzenten bereits bekann-
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Eine Erhöhung der Produktivität und Rentabilität, verbesserte Marktchancen und eine Modernisierung der Produktionsstrukturen stehen dabei im Einklang mit dem auf Wachstum ausgerichteten Entwicklungsmodell. Demgegenüber werden in einigen Aussagen Schließungslogiken etabliert, die in einem grundsätzlichen Wandel der Mensch-Umweltbeziehungen eine notwendige Antwort auf die Probleme der Region sehen: „Esse quadro precisa ser revertido para que as famílias passem a ter uma nova forma de relacionar-se com a natureza que passa por um novo enfoque: utilizar bem os recursos naturais e assegurar as produções indispensáveis à segurança alimentar e ao desenvolvimento 10 socioeconômico da região “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010d).
Selbst innerhalb der Ansätze, die in dem Bau von Zisternen einen Lösungsansatz sehen, werden die unterschiedlichen Schließungslogiken deutlich: „De acordo com o titular da Secretaria de Desenvolvimento Agrário (SDA), Nelson Martins, a mescla de medidas emergenciais com ações estruturantes tem amenizado o sofrimento no campo, e, por conseguinte, o efeito disso em Fortaleza. ‘O programa Brasil Carinhoso, por exemplo, já reduziu em 48% a extrema pobreza no Ceará, mesmo em tempos de seca. Estão sendo investidos R$ 13 milhões em recuperação de poços, além dos novos feitos pela Sohidra. Estamos construindo 60 mil cisternas no Estado. E o Eixão das Águas e a 11 transposição do Rio São Francisco vão garantir o fornecimento’, assinala “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012d).
Das Zisternenprogramm, das auf eine lange Geschichte des Widerstands und des Kampfes um einen veränderten Umgang mit den Bedingungen der semiariden Region zurückblicken kann, wurde von Regierungsseite schon längst vereinnahmt. ‚Wir bauen 60.000 Zisternen im Bundesstaat‘. Damit wird nicht nur der ten landwirtschaftlichen Praktiken zum Ziel hat, indem technische und soziale Werkzeuge eingesetzt werden, die für ein besseres Wachstum der Produktion und größere Marktchancen sorgen sollen. […] Der Übergang von der konventionellen zur ökologischen Landwirtschaft zeigte bereits seine Vorteile und in kürzester Zeit schafften es die Produzenten, den Hektarertrag von acht auf 20 Tonnen zu erhöhen. ‚Mit dem Bau einer modernen Verarbeitungsanlage war die Modernisierung der Maniokproduktion notwendig, die eine Erhöhung der Produktion von Stärke, Mehl und anderen Subprodukten anstrebt‘ erklärt Zilval Fonteles“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010c; eigene Übersetzung). 10 „Dieses Bild muss revidiert werden, damit sich die Familien auf eine neue Art und Weise mit der Natur in Beziehung setzen, was eine neue Betrachtungsweise voraussetzt: eine gute Nutzung der natürlichen Ressourcen und eine Absicherung der Produktion, die für eine Ernährungssicherheit und für eine sozioökonomische Entwicklung der Region unausweichlich ist“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2010d; eigene Übersetzung). 11 „Laut dem Leiter des Sekretariats für Agrarentwicklung (SDA), Nelson Martins, hat die Mischung aus Notmaßnahmen mit strukturellen Maßnahmen das Leiden auf dem Land und als Konsequenz daraus auch in Fortaleza abgemildert. `Das Programm Brasil Carinhoso (Fürsorgliches Brasilien) hat zum Beispiel die extreme Armut in Ceará selbst in Dürrezeiten um 48% verringert. Es werden 13 Mio. R$ in die Wiederherstellung von Brunnen investiert, neben den Neubauten durch die Sohidra. Wir bauen 60.000 Zisternen im Bundesstaat. Und der Kanal Eixão das Águas und die Ableitung des São Francisco Flusses werden die Versorgung gewährleisten‘ sagt er“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012d; eigene Übersetzung).
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
Staat (wir) als allein handelnder Akteur festgeschrieben, sondern der Bau einer Zisterne zu einer punktuellen Maßnahme der staatlichen Hilfe uminterpretiert. Indem die ‚Programme des Lebens‘ im Einklang mit den Bedingungen der semiariden Region mit dem Ausbau der Wasserinfrastruktur in Beziehung gesetzt werden, gelingt nicht nur eine Integration von ursprünglich ganz gegensätzlichen Bearbeitungsweisen. Vielmehr kann auch eine Schließungslogik etabliert werden, bei der die Großprojekte selbst für die Projekte der convivência eine Voraussetzung und notwendige Bedingung darstellen. Demgegenüber wird in einigen Aussagen die Logik des Zisternenprogramms gesetzt, wie sie vor allem von den Organisationen, die in dem Netzwerk ASA (Articulação no Semi-Árido Brasileiro) organisiert sind, vertreten wird. Dabei stellt eine Zisterne kein Ziel, sondern ein Mittel für strukturelle Veränderungen in der semiariden Region dar. Der Bau einer Zisterne ist dabei in einen langfristigen Prozess der Selbstorganisation und Ausbildung der ländlichen Bevölkerung eingebunden, bei dem Ernährungssouveränität, der ‚nachhaltige‘ Umgang mit und der Zugang zu Wasser und Land und die Schaffung von Arbeitsplätze und Einkommen als wichtige Ziele dargestellt werden. „De acordo com a ASA [Articulação no Semi-Árido Brasileiro], o objetivo do programa é fomentar a construção de processos participativos de desenvolvimento rural no semiárido brasileiro e promover a soberania, a segurança alimentar e nutricional e a geração de emprego e renda às famílias agricultoras, por meio do acesso e manejo sustentáveis da terra e da água 12 para produção de alimentos “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2011). „Atualmente, existem 750 organizações que atuam no semiárido. Cita como um exemplo de ação concreta o Programa 1 Milhão de Cisternas, afirmando ter avançado muito. ‘A cisterna não é o fim, mas o meio’, diz [Carlos Humberto Campos, coordenador executivo da ASA]. 13 Traz embutido todo o processo de formação, organização e convivência na comunidade “ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012a).
Wie bereits erwähnt, stellt die Suche nach Auslassungen und Nicht-Benennungen eine Diskursanalyse mit ihrer positivistischen Verfahrensweise vor erhebliche Probleme. Lediglich im Abgleich mit anderen Formen des Redens über die Dürre und meinem ‚Wissen‘ über die Region können marginalisierte Diskurselemente aufgespürt und benannt werden. Ausgehend von der Annahme, dass der Zugang 12 „Laut ASA [Articulação no Semi-Árido Brasileiro] liegt das Ziel des Programmes in der Förderung des Aufbaus von partizipativen Prozessen ländlicher Entwicklung in der semiariden Region Brasiliens und in der Unterstützung der Ernährungssouveränität und -sicherheit und in der Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen für die Familien der Landwirte, mittels des Zugangs und der nachhaltigen Nutzung von Land und Wasser für die Produktion von Lebensmittel“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2011; eigene Übersetzung). 13 „Aktuell gibt es 750 Organisationen, die in der semiariden Region aktiv sind. Als konkretes Beispiel benennt er [Carlos Humberto Campos; Koordinator der ASA] das Programm 1 Mio. Zisternen, das aus seiner Sicht schon sehr weit fortgeschritten ist. ‚Die Zisterne ist kein Ziel, sondern ein Mittel‘ sagt er. Mit ihr geht in der Gemeinde ein Prozess der Formierung, Organisierung und des Zusammenlebens einher“ (DIÁRIO DO NORDESTE 2012a; eigene Übersetzung).
8.3 Freilegung des Dürrediskurses II: Die Senatsdebatte zum Ableitungsprojekt
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zu Wasser und Land und somit die Eigentumsverhältnisse als konstitutiv für die Dürre im Nordosten angesehen werden können, und dass Forderungen nach der Demokratisierung von Zugangsrechten und nach einer Agrarreform in vielen Texten und bei vielen Gesprächen zentrale Lösungsansätze darstellten, kann die seltene Erwähnung dieser Aspekte in den Zeitungsartikeln als Marginalisierung von Diskurselementen bezeichnet werden. So wurden lediglich sieben Äußerungen kategorisiert, in denen eine Agrarreform explizit als Forderung oder Lösungsansatz benannt werden. Darüber hinaus nehmen Ansätze, wie die (politisch weniger brisante) Forderung nach der Vergabe von Landtiteln (2), nach einer Regelung des Zugangs zu Land (2) und zu Wasser (8) und Forderungen nach Sozialpolitiken (3) und einer Umverteilung von Einkommen (2) im Vergleich zu den übrigen Lösungsansätzen nur marginale Positionen ein. Auch Aussagen, in denen die Selbstorganisation und Eigeninitiative der Menschen der semiariden Region explizit als Lösungen dargestellt und die ‚Betroffenen der Dürre‘ somit zu aktiv Handelnden gemacht werden, in denen traditionelle Anbaumethoden und die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung als zentrale Elemente von Lösungsansätzen dargestellt werden, kommen in den Artikeln nur sehr selten vor (15). 8.3 FREILEGUNG DES DÜRREDISKURSES II: DIE SENATSDEBATTE ZUM ABLEITUNGSPROJEKT DES RIO SÃO FRANCISCO Stellen die analysierten Zeitungsartikel des Diário do Nordeste einen Ausschnitt des gesellschaftlichen Diskurses über die Dürre und Entwicklung im Nordosten Brasiliens dar, der durch den Filter einer bestimmten Tageszeitung über fünf Jahre hinweg aufscheint, so muss die Debatte im brasilianischen Senat vom 14. Februar 2008 als Verdichtung einer Expert_innendiskussion über einen speziellen Lösungsansatz zu einem spezifischen Zeitpunkt verstanden werden. Dennoch wird auch die Debatte über das Ableitungsprojekt auf eine ganz bestimmte Art und Weise gerahmt, wird dem Projekt eine spezifische Problemkonstitution zugrunde gelegt und treten innerhalb der Debatte Schließungslogiken zu Tage, die ihre Legitimation und Wirkmächtigkeit über ihre Verwurzelung im gesellschaftlichen Diskurs erhalten. Somit stellen die beiden Diskursanalysen ganz unterschiedliche Versuche dar, einen Zugang zu dem nicht-materiellen und nicht eingrenzbaren Diskurs zu erlangen. Über die Verschneidung dieser unterschiedlichen Annäherungsweisen soll die Relevanz der bisherigen Aussagen überprüft und Ähnlichkeiten und Unterschiede nachgezeichnet werden. Die Debatte im brasilianischen Senat, die von Senator EDUARDO SUPLICY (PT-SP) initiiert wurde, sollte einen direkten Austausch der Befürworter_innen und Gegner_innen des Ableitungsprojektes des São Francisco Flusses ermöglichen. Vor dem Hintergrund der Zuspitzung und Polemisierung der gesellschaftlichen Debatte, die insbesondere auch durch den zweiten Hungerstreik von Bischof DOM LUÍZ FLÁVIO CAPPIO (vom 27. November bis 20. Dezember 2007) vorangetrieben wurde, stellte die Debatte einen Versuch dar, die Kritik an dem Ableitungsprojekt in institutionalisierte Bahnen zu lenken und innerhalb der bestehen-
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den (Macht)Strukturen zu bearbeiten. Gleichzeitig bot die Senatsdebatte, insbesondere durch die über die Medien vermittelte Öffentlichkeit, den Kritiker_innen des Projektes die Möglichkeit, ihre Positionen innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu platzieren und zu stärken und dadurch auch auf den gesellschaftlichen Diskurs einzuwirken. Aufgebaut war die Debatte als Schlagabtausch zwischen den Gegner_innen und Befürworter_innen des Ableitungsprojektes, wobei beide Positionen abwechselnd zu Wort kamen. Nach den beiden einleitenden Reden von DOM LUÍZ FLÁVIO CAPPIO und dem damaligen Minister der Nationalen Integration GEDDEL VIEIRA LIMA, denen jeweils 15 Minuten zugestanden wurden, folgten abwechselnd zehnminütige Redebeiträge von Gegner_innen (Vertreter_innen der Wissenschaft, Wasserkomitee, Zivilgesellschaft, Staatsanwaltschaft, Umweltbewegung, Künstler, Kirche) und Befürworter (Vertreter der Regierung, Kirche, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft) des Projektes. In der anschließenden Debatte meldeten sich zehn Senator_innen zu Wort, die sich mehrheitlich für den Bau des Ableitungsprojektes aussprachen. Außerdem erhielten der Abgeordnete und ehemalige Integrationsminister CIRO GOMES und DOM CAPPIO weitere Redeanteile. Im Gegensatz zu den Artikeln des Diário do Nordeste, in denen ganz unterschiedliche Wissensformen und Darstellungsweisen miteinander in Beziehung gesetzt werden – was unter dem Begriff Interdiskurs zusammengefasst werden kann – handelt es sich bei der Senatsdebatte in erster Linie um Interventionen in einen Spezialdiskurs, der von verschiedenen Expert_innen geführt wird, jedoch sowohl auf das Alltagswissen Bezug nimmt als auch auf dieses einwirkt (WALDSCHMIDT et al. 2008: 320–322; BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 65 ff.). Somit kann die Debatte als Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses über die Wirkungszusammenhänge und Lösungsansätze im Nordosten verstanden werden, gleichzeitig müssen aber auch ihre spezifischen Bedingungen und Äußerungsmodalitäten mitgedacht werden. Dabei erscheint eine quantitative Analyse der vorgetragenen Aussagen und Schließungslogiken wenig aussagekräftig zu sein, da nur recht wenige Positionen zu Wort kommen. Darüber hinaus bewirkte das Setting der Debatte einen künstlichen Ausgleich zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen, wodurch über eine quantitative Herangehensweise keine Rückschlüsse auf die Wirkmächtigkeit der Aussagen innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gezogen werden können. Da LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA als (ehemaliger) Präsident und populäre Führungspersönlichkeit eine bedeutende Sprecherposition innerhalb des Diskurses einnimmt, wurden drei seiner Reden, die er bei einem Besuch der Bauarbeiten des Ableitungsprojektes in Custódia, Agrovila 06 und Cabrobó (Pernambuco) am 15. und 16. Oktober 2009 vor den Arbeiter_innen der Baustellen hielt, in die Analyse mit einbezogen. Da die Reden nicht auf Portugiesisch vorlagen, stellt eine ins Englische übersetzte Version (VAN ‘T HOFF 2010: 66–81) die Grundlage der Analyse dar, was zu weiteren Verzerrungen geführt haben kann. Wird im Folgenden auf die Reden LULAS Bezug genommen, so wird das jeweils extra ausgewiesen.
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8.3.1 Rahmung der Auseinandersetzung um die Flussableitung Der Dürre-Diskurs, der in der Senatsdebatte nachgezeichnet werden kann, wird von zwei tief verwurzelten Diskurssträngen getragen: ein Strang, der einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Wassermangel und Leiden etabliert und ein Strang, der dem Wasser eine bestimmte Eigenschaft und Wertigkeit zuweist. Dabei wird das Wasser sowohl als Ursprung allen Lebens und Wert an sich benannt, seine zentrale Bedeutung für Mensch und Natur hervorgehoben und als grundlegendes Menschenrecht bezeichnet, als auch der ökonomische Wert und die Knappheit von Wasser betont. Durch die Verweise auf die Sonderstellung und herausragende Bedeutung des Elements Wassers wird sowohl die Debatte aufgewertet und legitimiert, als auch die Entscheidung über den Bau des Ableitungsprojektes aus seiner regionalen Bedeutung heraus gelöst und zu einem relevanten Thema von nationalem Interesse erhoben. Auch über die kausale Verknüpfung zwischen Dürre und Leiden und der zum Teil sehr bildhaften Beschreibungen dieses Leidens der Bevölkerung, wird die Dringlichkeit des Themas unterstrichen und (moralischer) Handlungsdruck aufgebaut. „... eu fui convencida não pelos livros que contavam a história da seca, não por assistir o teatro vida e morte severina, eu fui convencida porque eu estava lá! Vendo o sofrimento que vinha do campo, vendo aqueles que morriam implorando um pouco da água, [...] que morriam porque não tinha água de qualidade, [...]. Para ali faz uma adutora para uma comunidade que morria de sede, que batia minha porta qual atrás da água pedindo para prefeita ‘pelo amor de deus dá uma lata de água, para matar a sede dos meus filhos, para que o meu animal [...] não morra, para que eu possa ter condição de poder irrigar o mínimo de capim, para que eu possa ter o feijão’; cheguei convencida pelo que eu assisti, pelo que eu sei que sofre a nossa região 14 [...] “ (ROSALBA CIARLINI, Senatorin (DEM/RN)).
Mit dem hergestellten Zusammenhang zwischen Dürre, Leiden und Wasserinfrastrukturprojekten wird festgelegt, für wen und für was die Flussableitung eine Lösung darstellen soll. Fast alle Redner_innen gehen darauf ein, wer die Empfänger_innen des Wassers der transposição sein sollen. Dabei wird sowohl von den Befürworter_innen als auch von den Gegner_innen des Projektes immer wieder die Bezeichnung ‚weit verstreut lebende Bevölkerung‘ (população difusa) oder
14 „… ich wurde nicht von den Büchern überzeugt, die die Geschichte der Dürre erzählten, nicht dadurch, dem Theaterstück ‚Leben und Tod im Nordosten‘ [Originaltitel eigentlich: Morte e Vida Severina; von João Cabral de Melo Neto] beizuwohnen, ich wurde überzeugt, weil ich da war! Ich sah das Leiden auf dem Land, sah diejenigen, die starben, während sie ein wenig Wasser erbaten, […] die starben, da es kein Wasser mit ausreichender Qualität gab, […]. Um dort eine Wasserleitung für eine Gemeinde, die verdurstet, zu machen, die auf der Suche nach Wasser an meine Tür klopft, die Bürgermeisterin bittet ‚um Gottes Willen, gebt mir ein Dose mit Wasser, um den Durst meiner Kinder zu stillen, damit meine Tiere […] nicht sterben, damit ich die Möglichkeit habe, meine Weiden wenigstens ein bisschen zu bewässern, damit ich Bohnen haben kann‘; ich wurde überzeugt durch das was ich erlebte, durch das, was ich über das Leiden unserer Region weiß…“ (ROSALBA CIARLINI, Senatorin (DEM/RN); eigene Übersetzung).
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aber die insbesondere von LULA oft bemühte Zahl der 12 Mio. Menschen, die im Nordosten Durst leiden, genannt. „And this work here, you are constructing a work that is going to benefit at least 12 million people in the Brazilian Northeast. We don´t want to see more people with suitcases at the coasts, going there and here when there is drought“ (LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, ehemaliger Präsident).
Die Konstitution der Problemlage (Wassermangel und Leiden von 12 Mio. Menschen) verweist somit unmittelbar auf die Notwendigkeit des Ausbaus der Wasserinfrastruktur zur Erhöhung der Wassersicherheit. Insbesondere von den Befürworter_innen des Projektes wird der positiv konnotierte Begriff der ‚Sicherheit‘ immer wieder benutzt und zum zentralen Thema und zur selbstreferentiellen Zielvorgabe der Debatte erhoben, worüber nicht diskutiert werden kann: „a certeza da água de beber não será objeto de discussão 15“ (JOSÉ AGRIPINO, Senator (DEM/RN)). Dabei wird der eher technische Akt der Konstruktion von Staudämmen, Kanälen und Brunnen in eine aktive, personalisierte Handlung verwandelt, die in der religiös anmutenden Geste des Wassergebens verdichtet wird. Diese Figur des Gebens wird in unterschiedlichen Varianten häufig wiederholt: denen, die Wasser brauchen, die trinken wollen, die Durst haben, die überleben wollen, den trockenen und bedürftigen Regionen, dem Volk (o povo) etc. Wasser geben. Mit dieser normativ aufgeladenen Geste des Gebens und der gleichzeitigen Beschreibung des Wassers als klar, sauber und als Quelle allen Lebens wird an einen vor allem im Nordosten wirkmächtigen religiösen Diskurs angedockt. Auch der heilige Franziskus, als Namensgeber des Flusses und Heiliger der Armen, wird dabei zuweilen als Kronzeuge aufgeführt: „... eu quero uma água viva, que vai dar vida ao meu povo sofrido que esta passando sede [...]. Então, eu estou aqui para dizer o que nós queremo; nos queremos é que o São Francisco – que eu não sei quem teve a iluminação de colocar este nome São Francisco [...], o santo da generosidade, o santo dos pobres – se faça esse projeto que é um projeto de solidariedade, Brasil, o Brasil solidário, é água para quem precisa, para desenvolver também pequenos 16 projetos que gerem renda, emprego, vida, água viva.... “ (ROSALBA CIARLINI, Senatorin (DEM/RN)).
Das Geben wird zur selbstlosen Geste, das Projekt zu einem Projekt der Solidarität erklärt, die Legitimation des Projektes erfolgt über einen moralischen Begrün-
15 „… Die Sicherheit von Trinkwasser wird nicht zur Diskussion stehen“ (JOSÉ AGRIPINO, Senator (DEM/RN); eigene Übersetzung). 16 „…ich möchte ein lebendiges Wasser, das meinem leidenden Volk, das Durst hat, Leben gibt […]. Nun, ich bin hier, um zu sagen, was wir wollen; wir wollen, dass der São Francisco – und ich weiß nicht, wer die Eingebung hatte, diesen Namen São Francisco zu wählen, […] der Heilige der Großzügigkeit, der Heilige der Armen – dass man dieses Projekt macht, das ein Projekt der Solidarität ist, Brasilien, solidarisches Brasilien, das bedeutet Wasser für diejenigen, die es brauchen, um auch kleine Projekte zu entwickeln, die Einkommen bringen, Arbeitsplätze, Leben, lebendiges Wasser…“ (ROSALBA CIARLINI, Senatorin (DEM/RN); eigene Übersetzung).
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dungszusammenhang, der stärker wiegt als wirtschaftliche oder politische Argumente. Der Bau der Ableitung wird zur moralischen Verpflichtung erhoben: „When you are in your house and you have two, three or four children, and if there would be one more weak, one more ill, it would be that one that you would treat. In the world of animals, if there is a weak one the mother kills it. But the human being doesn´t do that. If there would be a human being that is more needy, we would treat it with more care, we would give that one the best beef, the best plate of rice, so that the ‘animal’ is supported. Isn´t it like this? It is like this, and this is what we are doing here“ (LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, ehemaliger Präsident). „So, I think that how I went through this during my childhood and how I know that there are still a lot of people going through this, we have to do something about it. I felt this on my skin, I have the moral and political obligation to believe that the future generations don’t have to go through what I went through, nor where you went through“ (LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, ehemaliger Präsident).
8.3.2 Religiös-moralische Rahmung als hegemoniale Schließung Eine solch religiös-moralische Überhöhung zielt auf eine Schließung der Debatte ab. Kritik an dem Ableitungsprojekt kann dadurch leicht in die Gegenposition zur moralischen Geste des ‚Wassergebens‘ gestellt und somit aus dem (moralischen) Diskurs ausgeschlossen werden. Wer das Projekt kritisiert oder gar ablehnt, kann unter den Verdacht gestellt werden, dem Nordosten und den 12 Mio. dürstenden Menschen das Wasser zu verwehren, gerät unter moralische Erklärungsnot und bekommt somit die Legitimationsgrundlage für die Sprecher_innenposition entzogen. Die Kritik wird zu einer ‚anti-sozialen, anti-föderativen und antichristlichen‘ (LIMA) Position erklärt, der Bischof – als religiöse Autoritätsperson – wird zu einem Verweigerer von Wasser degradiert (s. Abb. 23). „Deve chocar a sensibilidade de vocês, Excelência, nobre deputado Eduardo Suplicy, a hipocrisia de alguns cavalheiros de fina estampa, que se apresentam como politicamente corretos e ficam reclamando por distribuição de renda [...] e no entanto se insurgem de forma tão radical contra este gesto elementar e fraterno de distribuir água, que é o princípio, própio princípio da vida, e a condição básica para o bem estar social. Não, se viram lá com as suas cisternas com seus barreirinhos, ou com uma lama, sorte da que resta dos açudes secos, porque na minha água ‘ninguém tasca, eu vi primeiro’! Surpreende, Senhor Presidente, toda estas ginástica mental, toda esta, esta filigrana verbal, esta contabilidade viciosa, estes forços enfim, de forçar o entendimento tão somente para sustentar uma posição que é anti-social, anti-federativa, e sobretudo anti-cristão; chega se ao ponto, de agredir o senso comum, e 17 negar evidências solares, sobre disponibilidades de água [...] “ (GEDDEL VIEIRA LIMA, Minister der Nationalen Integration).
17 „Die Heuchelei von einigen Herrschaften aus gutem Hause, die sich selbst als politisch korrekt präsentieren und eine Verteilung von Einkommen einfordern, wird Sie, werter Abgeordneter Eduardo Suplicy, und ihre Sensibilität schockieren […] und die sich auf eine so radikale Weise gegen diese elementare und brüderliche Geste der Verteilung von Wasser, die das
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Abb. 23: O Bispo que negou água (Der Bischof der Wasser verweigerte).
Um eine, über die moralischen Argumente herbeigeführte, hegemoniale Schließung der Debatte zu verhindern, müssen sich die Kritiker_innen des Projektes innerhalb des (moralischen) Bedeutungszusammenhangs positionieren und versuchen, die vorgegebenen Schließungslogiken aufzubrechen. Dabei stehen sie sowohl vor der Herausforderung, die etablierte Konstitution der Problemlage in Frage zu stellen, als auch die kausalen Verbindungen zwischen der Dürre, dem Leiden der Bevölkerung und dem Lösungsansatz des Ausbaus großer Infrastrukturprojekte wieder zu öffnen. Ohne eine grundlegende Infragestellung der dominanten Deutungen und Bearbeitungsweisen besteht die Gefahr, dass die vorgetragene Kritik an dem Ableitungsprojekt (juristische, wirtschaftliche, politische, ökologische Aspekte) zu bloßen Verbesserungsvorschlägen für das Projekt degradiert und dadurch letztendlich eine Stabilisierung des Lösungsansatzes bewirkt wird. Prinzip, das eigentliche Prinzip des Lebens und die Grundlage für das soziale Wohlergehen darstellt, auflehnen. Nein, sie kommen dort zurecht mit ihren Zisternen, mit ihren kleinen Staubecken, oder mit einer Art Schlamm, der in den trockenen Stauseen übrig bleibt, denn mein Wasser ‚rührt niemand an, ich habs zuerst gesehen‘! Es überrascht, Herr Präsident, all diese mentale Gymnastik, all diese, diese verbalen Spitzfindigkeiten, diese fehlerhaften Bilanzierungen, all diese Bemühungen, die letztendlich das Verständnis dazu bringt nur eine Position zu stärken, die anti-sozial, anti-föderativ und vor allem anti-christlich ist; so dass man an einen Punkt gelangt, an dem der gesunde Menschenverstand angegriffen wird, bei dem die Tatsachen der Sonneneinstrahlung und der Verfügbarkeit von Wasser negiert werden […]“(GEDDEL VIEIRA LIMA, Minister der Nationalen Integration; eigene Übersetzung).
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8.3.3 Bruchlinien und Möglichkeiten der Verschiebung des Dürrediskurses Während der Senatsdebatte wurde von den Kritiker_innen des Ableitungsprojektes an mehreren Stellen die dominante Deutung und Schließungslogik benannt und in Frage gestellt. Dabei wurde die Rahmung des Problems als ‚natürlich‘ kritisiert und versucht, die politische Dimension (natureza política) der Problemkonstellation im Nordosten in den Vordergrund zu rücken. Gleichzeitig wurde dabei auch der dominanten Logik der Lösungsansätze widersprochen, indem das bestehende Entwicklungsmodell nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil und Ursache des Problems umgedeutet wird: „E eu acho desafio que está aposto aí, que é reincidência da nossa história e que o problema a natureza. O problema que assola essa realidade ele não é de natureza nem ambiental e nem da população que aí vive. Ele é sobretudo de natureza política. Ele é a expressão do atual e do histórico modelo de desenvolvimento que foi implementado em toda região semi-árida. O modelo de desenvolvimento que gerou – e todos vocês sabem – uma concentração brutal do 18 acesso à terra e associado a ele uma concentração brutal do acesso à água “ (LUCIANO MARÇAL DA SILVEIRA, ASA).
Doch letztendlich wird nur an sehr wenigen Stellen die wirkmächtige Verbindung zwischen der Analyse der Wassersituation und des sich daraus ableitenden Lösungsansatzes des Ausbaus der Wasserinfrastruktur aufgebrochen. Ein Versuch stellt dabei die Benennung der Wasserknappheit im Nordosten als Mythos dar. Über die Dekonstruktion des Bildes einer homogenen und gänzlich wasserarmen Region wird versucht, der einfachen Legitimation des Ableitungsprojektes (Wasser dorthin bringen, wo es kein Wasser gibt) ihre Grundlage zu entziehen. Nur über ein solches Aufbrechen der dominanten Schließungslogik erhält die Behauptung, das Flussableitungsprojekt des São Francisco Flusses habe nichts mit der Dürre im Nordosten zu tun, überhaupt erst an Plausibilität. „[...] esse mito da esscassez é um mito? É um mito. Quer dizer existe esscassez no nordeste, uma seca terrivel, porque? Porque o nordeste é uma região muito grande [...] mas existem regiões que têm água, então há pouca região que tem água no nordeste e aqui vai receber as águas da transposição do São Francisco [...] E um outro aspecto – eu acho um aspecto mais relevante – é que este projeto jamais poderia ser considerado prioritário porque a questão da seca, que está sempre atrelado pela
18 „Und ich halte es für eine Herausforderung, die hier zur Debatte steht, die eine Wiederholung unserer Geschichte und der Art [natureza] des Problems ist. Das Problem, das diese Realität heimsucht, ist weder ein Umweltproblem noch ein Problem der Bevölkerung, die dort lebt. Es ist in erster Linie politischer Natur [natureza política]. Es ist Ausdruck des aktuellen und historischen Entwicklungsmodells, das in der gesamten semiariden Region implementiert wurde. Das Entwicklungsmodell, das – und jeder von Ihnen weiß das – eine brutale Konzentration des Zugangs zu Land und – damit verbunden – eine brutale Konzentration des Zugangs zu Wasser verursachte“ (LUCIANO MARÇAL DA SILVEIRA, ASA; eigene Übersetzung).
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses propaganda oficial, como sendo principal mote que justifica esse projeto, não tem nada a ver 19 com a transposição do São Francisco “ (JOÃO ABNER, Professor).
Gleichzeitig wird von den Kritiker_innen des Projektes versucht, das wirkmächtige Bild des ‚Wassergebens‘ zu dekonstruieren: „[...] quando surgiu a imagem de levar uma cuia de água a quem tem sede, a gente associou 20 uma coisa à outra. Mas não estão associadas, não estão associadas [...] “ (JOSÉ HENRIQUE CORTEZ, Umweltaktivist).
Unerwartete Rückendeckung erhalten sie dabei von dem ehemaligen Integrationsminister CIRO GOMES. Obwohl er zu den energischsten Verfechtern der Flussableitung zählt, bricht er – auf die für ihn typische polemische Art und Weise – das Bild der mildtätigen Geste, das ja insbesondere auch von LULA häufig gebraucht wird, auf und hält den Diskurs dadurch offen: „[...] idéia de atenuar – não é resolver não é redimir – todas essas conversas mole de um copo da água para quem tem sede, isto é papo-furado, e muitas vezes esse papo-furado serviu às 21 piores oligarquias do nordeste. Eu conheço bem do que eu tou falando “ (CIRO GOMES, Abgeordneter).
Erst durch ein Aufbrechen der einfachen Legitimation des Ableitungsprojektes über den Knappheitsdiskurs und die wohltätige Geste des ‚Wassergebens‘ eröffnet sich der Raum, um nach der konkreten Ausgestaltung und dem Nutzen des Projektes fragen zu können. Wenn das Umleiten von Wasser in einen dürren Nordosten nicht länger als an sich umstandslos gutes und moralisch notweniges Projekt akzeptiert wird, kann danach gefragt werden, inwiefern die Art und Weise des Lösungsansatzes eher zu einer weiteren Konzentration von Wasser als zu einer Versorgung der verstreut lebenden Bevölkerung beiträgt. „Pensar num processo de desenvolvimento para a população difusa, significa necessariamente pensar em soluções decentralizadas [...]. As ofertas concentradas de água nunca vão atender
19 „... dieser Mythos der Knappheit – ist das ein Mythos? Es ist ein Mythos. Das heißt, es gibt Knappheit im Nordosten, eine schreckliche Dürre, doch warum? Weil der Nordosten eine sehr große Region ist […] doch es gibt Regionen, die Wasser haben, es gibt wenige Regionen im Nordosten, die Wasser haben und diese werden das Wasser der Flussableitung des São Francisco erhalten [...] Und ein weiterer Aspekt – den ich für noch relevanter halte – ist derjenige, dass das Projekt niemals als vorrangig eingestuft werden könnte, da die Frage der Dürre, die von der offiziellen Propaganda immer als Hauptmotiv für die Rechtfertigung dieses Projektes herangezogen wird, nichts mit der Ableitung des São Francisco zu tun hat“ (JOÃO ABNER, Professor; eigene Übersetzung). 20 „[…] als das Bild, demjenigen, der Durst hat, eine Kalabasse mit Wasser zu bringen, aufkam, verbanden die Leute eine Sache mit der anderen. Aber sie sind nicht verbunden, sie sind nicht verbunden“ (JOSÉ HENRIQUE CORTEZ, Umweltaktivist, eigene Übersetzung). 21 „[…] die Idee der Linderung – was keine endgültige Lösung, keine Rettung bedeutet – all dieser Tratsch von einem Glas Wasser für den, der Durst leidet, das ist Geschwätz, und oftmals dient dieses Geschwätz den schlimmsten Oligarchien des Nordostens. Ich weiß, wovon ich rede“ (CIRO GOMES, Abgeordneter; eigene Übersetzung).
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às demandas difusas, ofertas concentradas como o canal linear que é o canal da transposição do São Francisco, só vai atender demandas concentradas, que são as cidades que a gente entende que precisam ser pensadas.[...] As demandas difusas, dispersas só serão solucionadas 22 por soluções dispersas! “ (LUCIANO MARÇAL DA SILVEIRA, ASA).
Wenn die Wasserknappheit im Nordosten nicht länger als alleinige Ursache für die Armut der Region angesehen werden kann, kann ebenfalls danach gefragt werden, inwiefern der Ausbau der Wasserinfrastruktur einen adäquaten Ansatz für die Überwindung der Armut in der Region darstellt. Ein solch indirekt angenommener Automatismus zwischen der Erhöhung des absoluten Wasserangebots und der Verbesserung des Zugangs zu Wasser für alle in der Region lebenden Menschen wird beispielsweise mit dem Vergleich des Baus eines Supermarktes in einem armen Stadtviertel recht bildlich kritisiert: „Você chega no bairro pobre e promete acabar com a fome do povo construindo supermercado. Esse tipo de argumento é da Transposição! Se há construção de supermercado 23 e depois? Como se vai comprar? Você prometeu do açude seria redenção do Nordeste [...] “ (APOLO HERINGER LISBOA, Wasserkommitee).
Die Legitimation über die Armut im Nordosten und über eine religiös-moralische Aufladung des Diskurses, wird an einigen Stellen mit einem moralischen Gegendiskurs beantwortet. Dabei werden ‚die Armen‘ von den Empfänger_innen des Wassers und den Nutznießer_innen des Projektes zu den letztendlich Ausgeschlossenen umgedeutet, die am Ende die Rechnung bezahlen müssen: „Para garantir o uso econômico da água o projeto supõe o mecanismo do subsídio cruzado, pelo qual as populações urbanas vão garantir o pagamento do seu elevado custo. As comunidades já tão carentes e necessitadas deverão assumir os custos do uso econômico das 24 águas. De novo é o pobre colocando a mesa para o rico. É a história que se repete “ (LUIZ FLÁVIO CAPPIO, Bischof).
22 „Wenn man an einen Entwicklungsprozess für die verteilt lebende Bevölkerung denkt, bedeutet das notwendigerweise, an dezentralisierte Lösungen zu denken […]. Konzentrierte Wasserangebote werden niemals die räumlich verteilte Nachfrage bedienen können, konzentrierte Angebote wie ein linearer Kanal, und das ist der Ableitungskanal des São Francisco, werden nur die konzentrierte Nachfrage decken können, wie sie etwa die Städte, an die gedacht werden muss, darstellen […] Die verteilte, verstreute Nachfrage wird nur über verteilte Lösungen gelöst werden können“ (LUCIANO MARÇAL DA SILVEIRA, ASA; eigene Übersetzung). 23 „Du kommst in das arme Stadtviertel und versprichst den Hunger zu beenden, indem du einen Supermarkt baust. Dies ist die Art von Argument der Flussableitung! Wenn ein Supermarkt gebaut wird und dann? Wie wird man zahlen? Sie haben versprochen, die Staudämme wären die Erlösung des Nordostens […]“ (APOLO HERINGER LISBOA, Wasserkomitee; eigene Übersetzung). 24 „Um die wirtschaftliche Nutzung des Wassers sicherstellen zu können, geht das Projekt von einer Querfinanzierung aus, bei dem die urbane Bevölkerung die Zahlung der hohen Kosten übernimmt. Die Gemeinden, die ohnehin bereits bedürftig und notleidend sind, müssen für die Kosten der wirtschaftlichen Nutzung des Wassers aufkommen. Wieder einmal bereitet der Arme den Tisch für den Reichen. Die Geschichte wiederholt sich“ (LUIZ FLÁVIO CAPPIO, Bischof; eigene Übersetzung).
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Gerade weil ein moralischer Begründungszusammenhang, der auf ein gesellschaftlich verankertes Normen- und Wertesystem verweist, einen so hohen Stellenwert innerhalb des dominanten Diskurses einnimmt, stellt die Einnahme einer moralisch integeren Position ein höchst umkämpftes Terrain dar. Dabei stellt Bischof DOM CAPPIO aus seiner Position als Vertreter der katholischen Kirche eine Art moralische (Gegen)Instanz dar, durch die die religiös-moralische Legitimierung des Projektes ins Wanken gerät. Somit kann der moralische Begründungszusammenhang als eine der zentralen Bruchlinien innerhalb des Diskurses angesehen werden, was sich in einzelnen Äußerungen immer wieder manifestiert: „[...] esta intolerável suspeição moral, não podemos aceitar, este monopólio da boa fê, não 25 pertença aos críticos do projeto “ (CIRO GOMES, Abgeordneter).
8.3.4 Etablierung einer wahren Wissensordnung Stellte die Frage nach moralischem Handeln und Handlungsnotwendigkeiten die Rahmung des Diskurses dar, so verlief die eigentliche Diskussion über das Für und Wider der Flussableitung innerhalb eines recht eng gesteckten Feldes technischer Auseinandersetzungen um die ‚richtige‘ Interpretation von Studien und um ‚richtige‘ Berechnungsweisen und ‚wahre‘ Beschreibungen natürlicher Prozesse. Dies kann als Auseinandersetzung um die Herausbildung einer dominanten Wissensordnung verstanden werden, mit deren Hilfe das Ableitungsprojekt gelesen und interpretiert werden kann (s. Kap. 9.3.2). Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach der Höhe der ableitbaren Wassermenge, deren Berechnung und Darstellungsweise und die daraus ableitbaren Konsequenzen. Dabei wurde von den Befürworter_innen des Projektes für die ableitbare Wassermenge immer wieder der Betrag 26 m3/s bzw. 1,7% der minimalen Abflussmenge (vazão mínima) genannt. Allein die Größe der Zahlen, insbesondere die relative Darstellungsweise (1,7%), etabliert eine Schließungslogik, bei der eine geringe Wasserentnahme mit geringen ökologischen und sozialen Auswirkungen gleichgesetzt werden kann. Darüber hinaus wurden Vergleiche mit dem Wasserbedarf verschiedener Projekte entlang des São Francisco Flusses (Bewässerungsprojekte, Energiegewinnung), mit Flussableitungsprojekten in Brasilien und weltweit gezogen, um das vergleichbar geringe Ausmaß des Ableitungsprojektes zu verdeutlichen. Auch wenn die Kritiker_innen andere Zahlen präsentierten, die Berechnung der Zahlen in Frage stellten oder die Auswirkungen für das Ökosystem, für die Fischer_innen und Flussanrainer_innen als dramatisch beschrieben, so stellten ihre Ausführungen die Autorität staatlicher Berechnungen nicht grundsätzlich in Frage. In diesem Zusammenhang stellt auch die Erzählung, dass das Wasser, das ins Meer fließt, verloren sei,
25 „diese unerträgliche moralische Verdächtigung können wir nicht akzeptieren, dieses Monopol auf den guten Glauben, der nicht den Kritikern des Projektes gehört“ (CIRO GOMES, Abgeordneter; eigene Übersetzung).
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einen bildlich gut vermittelbaren, wirkmächtigen Diskursstrang dar. Dabei wird eine Ordnung etabliert, in der eine wirtschaftliche und an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Nutzung des Wassers über sämtliche andere, vor allem ökologische Funktionen des Wassers gestellt wird. Polemisch gewendet bedeutet Wasser, das ins Meer fließt, nichts anderes als „entrega ao mar para irrigar o mar ou para dar água para beber aos peixes 26“ (MARCONDES GADELHA, Abgeordneter (PSB-PB)). 8.3.5 Stabilisierung über Integration Bei der Diskussion um die notwendigen und wünschenswerten Maßnahmen zur Lösung der beschriebenen Probleme wird deutlich, wie ähnlich die teilweise ganz unterschiedlichen Lösungsansätze benannt werden. Auf beiden Seiten werden strukturelle Veränderungen als grundlegende Voraussetzungen für einen Transformationsprozess genannt, von beiden Seiten wird die Überwindung der indústria da seca, eine gerechtere Verteilung von Wasser, die Einbeziehung der lokalen Bevölkerung und die Weiterentwicklung alternativer Projekte und Wasserspeicherungsmethoden als wichtige Lösungsstrategien bezeichnet. Erst bei der konkreten Ausbuchstabierung der genannten Lösungsstrategien werden die Unterschiede deutlich. Für die Befürworter_innen gilt das Ableitungsprojekt als Antwort auf die strukturellen Probleme der Region und als Mittel zu einer gerechteren Verteilung von Wasser. Die Gründung von Wasserkomitees und die Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsprozessen werden dabei als Demokratisierungsprozess bezeichnet. Demgegenüber impliziert für die Gegener_innen des Projektes die Forderung nach einer gerechten Verteilung von Wasser und nach der Verbesserung des Zugangs zu Wasser gerade die Ablehnung des Ableitungsprojektes. Die Forderung nach einer Demokratisierung des Wassersektors zielt dabei weniger auf die Beteiligung an vorher festgelegten Entscheidungsprozessen, sondern vielmehr auf die Umsetzung von kleinen, dezentralen Projekten der Wasserversorgung. Insbesondere an dem von der bundesstaatlichen Wasseragentur ANA (Agência Nacional de Águas) veröffentlichten Atlas do Nordeste, der konkrete, lokale und dezentrale Projekte zur Sicherung der Wasserversorgung auf munizipaler Ebene benennt (ANA 2006), treten diese Gegensätze offen zutage (s. Kap. 10.3.3). Dabei schlagen die Kritiker_innen der transposição eine Lesart vor, über die der Atlas zum Kronzeugen ihrer Kritik an der dominanten Bearbeitungsweise der Dürre und der weiteren Zentralisierung von Wasser wird. Der Atlas dient dabei als Beweismittel, dass andere, viel billigere und technisch einfachere Bearbeitungsweisen, die über die Autorität der staatlichen Institution ANA legitimiert werden, denk- und machbar sind. Demgegenüber vertreten die Befürwor26 „wird ins Meer geliefert, um das Meer zu bewässern oder um den Fischen Wasser zu trinken zu geben“ (MARCONDES GADELHA, Abgeordneter (PSB-PB); eigene Übersetzung).
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ter_innen eine Schließungslogik, bei der die Projekte, die innerhalb des Atlas vorgeschlagen werden, nur komplementär zur transposição zu verstehen sind. Die Flussableitung wird somit nicht zum Gegenmodell zu den dezentralen Lösungsvorschlägen, sondern zu deren Ergänzung bzw. notwendigen Voraussetzung, die strukturelle Veränderungen in der Region erst ermöglichen soll. Die Integration verschiedener, ursprünglich auch gegensätzlicher Diskursstränge stellt somit ein wesentliches Merkmal der Funktionsweise des dominanten Diskurses über die Bearbeitungsweise der Dürre dar. 8.4. ZUSAMMENFASSUNG DER DISKURSANALYSEN: FESTIGUNG DER DOMINANTEN BEARBEITUNGSWEISE ÜBER DEN DÜRREDISKURS In der Zusammenschau der beiden Diskursanalysen lässt sich feststellen, dass nach wie vor eine naturalistische Deutungsweise den Diskurs über die Dürre im Nordosten Brasiliens dominiert. Dabei werden größtenteils die niedrigen bzw. ungleich verteilten Niederschläge, aus denen unmittelbar bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, wie etwa Armut, das Leiden der ländlichen Bevölkerung oder die ‚Rückständigkeit‘ der Region abgeleitet werden, als Problem konstituiert. Wichtig ist dabei der hergestellte direkte Kausalzusammenhang zwischen den natürlichen Bedingungen und den negativen gesellschaftlichen Zuständen und Prozessen, die auf ein naturdeterministisches Verständnis der Mensch-UmweltBeziehungen verweisen. Zwar werden auch gesellschaftlich hergestellte Verhältnisse, wie etwa ein schlechtes Wassermanagement, die ungleichen Besitzverhältnisse oder der geringe Bildungsgrad der Bevölkerung als Ursache für die Problemlage benannt. Jedoch wird dadurch nur in wenigen Fällen die dominante naturalistische Erzählung herausgefordert oder gebrochen. Vielmehr werden die gesellschaftlich hergestellten Bedingungen als lediglich zusätzliche Faktoren bestimmt und den naturdeterministischen Überlegungen hinzugefügt. Auf welche Fragen eine gesellschaftliche Debatte zu antworten hat, welche Antworten dabei als wahr, unabdingbar und effektiv und welche als abwegig, nicht relevant und nicht zielführend dargestellt und innerhalb des Diskurses marginalisiert oder gar ausgeschlossen werden, wird im Wesentlichen bereits durch die Konstitution der Problemlage vorgegeben. Aus dem diagnostizierten Problem des Wassermangels leitet sich unmittelbar die Erhöhung der Wassersicherheit als notwendige Lösungsstrategie ab, wodurch der Bau von Staudämmen und Kanälen und die Ableitung von Flüssen zu legitimierten Praktiken der Lösungsfindung erhoben werden. Selbst die – durchaus nicht seltene – Problemdiagnose des fehlenden Zugangs zu Wasser kann die gleiche Logik bedienen und auf dieselben Lösungsansätze verweisen, falls die zugrunde liegenden Machtstrukturen nicht explizit problematisiert werden. Über den Diskurs wird somit die etablierte Deutung der sozial-ökologischen Wirkungszusammenhänge im Nordosten gestärkt und die dominante Bearbeitungsweise stabilisiert. Dies geschieht im Wesentlichen über folgende Mechanismen:
8.4 Zusammenfassung der Diskursanalysen
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Art der Problemkonstitution Durch die häufige und dramatisierende Berichterstattung über das Ausmaß bestimmter Dürreereignisse (Diário do Nordeste) und über die emotionalen, oft sehr persönlichen und moralisierenden Erzählungen über Durst, Hunger und Leid (Senatsdebatte, Reden LULAS) wird das Problem Dürre in einer Dimension und Dringlichkeit beschrieben, die keine kleinen, dezentralen und/oder nur langsam wirkenden Maßnahmen als Lösungen zulassen. Ein großes Problem verlangt nach großen Lösungen. Somit werden nur Großprojekte, die sichtbar viel Wasser speichern oder transportieren können, die hohe Investitionen erfordern und das Versprechen ablegen, vielen Menschen (12 Mio.) Wasser zu bringen, als zentrale Lösungsansätze zugelassen. Alle anderen Ansätze, wie der Bau von Zisternen, unterirdische Staudämme oder kleine, dezentrale Stauwehre und Bewässerungskanäle werden dadurch zu nützlichen, aber komplementären Lösungen degradiert, die ohne die Großprojekte nicht genügend Wirkung erzeugen können. Weitere Ansätze, wie eine ökologische Landwirtschaft oder die Umsetzung einer Agrarreform, die nicht unmittelbar zu einer Erhöhung der speicherbaren Wassermenge beitragen, werden zwar nicht aus dem Diskurs ausgeschlossen, jedoch als weder adäquate noch besonders effektive Antworten marginalisiert. Gleichzeitig wird im Diskurs eine räumliche Verortung der beschriebenen Problemlage vollzogen, indem Dürre, Armut und Nordosten (Sertão, semi-árido etc.) gleichgesetzt werden. Der Nordosten wird zur Problemregion, die als räumliche und gesellschaftliche Einheit wahrgenommen werden kann. Aus einer solchen Vereinheitlichung ergibt sich wiederum, dass sich die benötigten Antworten möglichst auf die gesamte Region beziehen und nicht unterschiedliche Lösungen für nur einzelne Menschen, Gemeinden oder Unterregionen darstellen sollen. Verfestigung über wiederholende Benennung Insbesondere bei der Analyse der Berichterstattung einer Tageszeitung wird deutlich, wie oft einige Themen, wie etwa Berichte über das Garantia-SafraProgramm, die Wasserlieferungen mittels Tanklastwagen oder Berichte über Niederschläge und die Wasserstände der Stauseen, ständig – teilweise fast wörtlich – wiederholt werden. Über eine solch wiederholende Beschreibung bestimmter Praktiken und Zustände wird Wirklichkeit erzeugt. Die dominante Bearbeitungsweise der Dürre erhält ihre Legitimation bereits durch die Tatsache, dass sie als Selbstverständlichkeit in den Berichten auftaucht – gerade über ihre Nichtrechtfertigung erfahren die staatlichen Programme und Maßnahmen ihre Rechtfertigung. Selbst für Bewohner_innen von Fortaleza, die vielleicht noch nie einem carropipa begegnet sind, dürfte die Tatsache, dass viele Gemeinden in den ländlichen Regionen in Dürrezeiten ihre Wasserversorgung über Tanklastwagen erhalten, zur akzeptierten, nicht skandalisierbaren Realität gehören. Die Tatsache, dass die transposição Bestandteil einer Senatsdebatte geworden ist, zeigt bereits ihre Bedeutung innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ‚richtige‘ Hand-
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
lungsstrategien. Die über Wiederholungen hervorgerufene Verfestigung von Lösungsstrategien erschwert deren grundsätzliche Infragestellung. Kritikpunkte werden dadurch lediglich zu Verbesserungsvorschlägen umgewandelt. Reduktion von Komplexität Sowohl bei der Problembeschreibung als auch bei den vorgeschlagenen Lösungsansätzen herrscht innerhalb des Diskurses eine Tendenz der Verringerung von Komplexität vor. Ein einfach zu verstehendes, möglichst bildhaft vermittelbares Problem, das über einfache Lösungsansätze aufgelöst werden kann, führt zu einer Legitimation von Sprecher_innenpositionen und von Handlungsweisen. Eine komplexe Analyse der Verhältnisse und der Zusammenhänge zwischen Besitzund Produktionsstrukturen, Verteilungsungerechtigkeit, den unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs zu Wasser, gesellschaftlicher Teilhabe oder Entscheidungsgewalt, kann die einfach vermittelbare Verknüpfung zwischen den wirkmächtigen Bildern eines leeren Stausees, von ausgetrockneten Böden und Tierkadavern auf der einen und von gefüllten Bewässerungskanälen und den Früchten der Bewässerungslandwirtschaft auf der anderen Seite nur schwer aufbrechen. Selbst wenn solche Analysen in der Zeitung erwähnt, wenn Wissenschaftler_innen interviewt werden oder in der Senatsdebatte die Komplexität der Zusammenhänge angesprochen wird, führt das nicht zu einer grundsätzlichen Verschiebung des Diskurses. Klar benennbare Kausalbeziehungen können nicht durch vielfältige Verweiszusammenhänge ersetzt werden. Allenfalls könnte eine explizite Benennung der dominanten Schließungslogik als ‚zu einfach‘ oder ‚falsch‘ zu deren Infragestellung führen. Paternalismus Über den Diskurs werden bestimmten Akteuren bestimmte Positionen zugeteilt und dadurch Handlungsweisen vorstrukturiert. Über die Darstellung staatlicher Programme und Projekte, die konkrete Erwähnung großer Investitionsvolumen und die Bebilderung der Verteilung von Lebensmitteln und Wasser wird der Staat zu einem bedeutenden und handlungsfähigen Akteur erhoben, der in der Lage ist, Probleme zu bewältigen. Durch die große Präsenz staatlicher Vertreter_innen und deren Aussagen innerhalb der Zeitungsartikel (s. Kap. 9.1) wird der Staat als Informant inszeniert, der über das Wissen über die richtigen Lösungsansätze verfügt. Darüber hinaus werden die meisten Forderungen, insbesondere auch von Kritiker_innen staatlicher Handlungsweisen, an den Staat gerichtet, was dessen Rolle als oberste Instanz bei der Problemlösung weiter verfestigt. Demgegenüber werden die Menschen im ländlichen Raum oftmals als hilflose ‚Opfer‘ der Naturgewalt und passive Empfänger_innen von Hilfsmaßnahmen dargestellt. Auch die Beschreibungen, die in einem fehlenden Bewusstsein im Umgang mit der Natur oder einer geringen Bildung der Bevölkerung die Ursachen für die Degradierung
8.4 Zusammenfassung der Diskursanalysen
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der Natur oder die Armut der Bevölkerung sehen, tragen dazu bei, dass die Menschen vor Ort eher als Teil des Problems und nicht der Lösung eingeordnet werden. Somit werden Lösungsansätze nicht bei der lokalen Bevölkerung gesucht und von dieser auch nicht eingefordert. Eine Ausnahme stellen dabei die Berichte über eine alternative ökologische Landwirtschaft dar, bei denen zumeist die Landwirt_innen selbst zu Wort kommen und deren Innovationen (Anbaumethoden, -produkte, Wasserspeicherungsmöglichkeiten) oftmals im Vordergrund stehen. Doch ähnlich wie die Maßnahmen zur convivência wird auch die ökologische Landwirtschaft innerhalb des Diskurses nicht als ernst zu nehmende Alternative, sondern nur als ergänzende Maßnahme zur Verfügung gestellt. Nicht-Benennung des historischen Kontextes Wenn auf die historische Dimension der Dürre im Nordosten verwiesen wird, dann wird vor allem über bestimmte, überdurchschnittlich ausgeprägte Dürreperioden, Opferzahlen, über einzelne Ereignisse wie Plünderungen oder besonders drastische Maßnahmen (Konzentrationslager (s. Kap. 6.2.6)) berichtet. Die aktuellen Maßnahmen werden am ehesten mit Erzählungen über die langjährigen Erfahrungen des DNOCS beim Ausbau der Wasserinfrastruktur oder über die 150 jährige Ideengeschichte der transposição historisch gerahmt. Demgegenüber wird in den von mir untersuchten Artikeln nicht davon gesprochen, dass in keiner semiariden Region der Welt so viel Wasser gespeichert werden kann wie im Nordosten Brasiliens (RIBEIRO 2006), und dass dies nicht verhindern konnte, dass Dürreereignisse zu dramatischen Auswirkungen für die ländliche Bevölkerung führen. Aus einer historischen Perspektive müsste jedoch die Strategie der reinen Wasserakkumulation und der Ausweitung der Bewässerungslandwirtschaft zur Bekämpfung der Armut im Nordosten als gescheitert erklärt werden. Dieser Widerspruch zwischen der erfolgreichen Praxis der Ausweitung der Wasserspeicherkapazität und der erfolglosen Armutsbekämpfung müsste anhand einer historischen Analyse zu der Schlussfolgerung führen, dass eine bloße Weiterführung der Akkumulationsstrategie keine Aussichten auf eine erfolgreiche Veränderung der Ungleichheitsstrukturen im Nordosten hat. Zumindest müsste ein Festhalten an der historisch gefestigten Bearbeitungsweise erklärt und legitimiert werden. Durch die Nicht-Benennung der Geschichte der Lösungsansätze im Nordosten und das Schweigen zu den in ihnen aufscheinenden Widersprüchen wird jedoch die dominante Handlungsstrategie bestärkt. Entpolitisierung Bei vielen der angeführten Punkte wurde bereits deutlich: ohne eine explizite Benennung von Machtverhältnissen, ohne eine Analyse von Abhängigkeitsstrukturen und Profitinteressen scheint eine Infragestellung der bestehenden Verhältnisse und
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8.Archäologie des Wissens: Die Ordnung des Dürrediskurses
dominanten Bearbeitungsweise nicht möglich. Wenn die Ursachen von Armut und Verteilungsungerechtigkeit in die Verantwortung der Natur geschoben und wenn die Diskussionen um adäquate Lösungsstrategien rein technisch geführt werden (ingenieurtechnische Fragen beim Staudammbau, technische Innovationen bei der Bewässerungslandwirtschaft, Diskussion um die 26 m3/s Abflussmenge der Flussableitung), dann werden Fragen nach Machtverhältnissen und Profiten bewusst ausgeklammert und die Diskussion ihrer politischen Dimension enthoben. Interessant ist hierbei, dass die Mechanismen der Bereicherung und der Verschärfung von Ungleichheiten über die dominante Bearbeitungsweise der Dürre durchaus im Diskurs vorkommen und mit dem Begriff der indústria da seca benannt werden. Doch ähnlich wie bei den Diskursverschiebungen Anfang der 1990er Jahre, bei denen der Begriff des Coronelismo zum Sammelbegriff für korrupte, undemokratische und abzulehnende Gesellschaftsverhältnisse und zum Antagonisten des Projektes der ‚Governo das Mudanças‘ inszeniert wurde, verhält es sich auch mit dem Begriff der Dürreindustrie: Indem von verschiedensten Seiten auf die indústria da seca verwiesen wird und deren Bereicherungspraktiken in Abgrenzung zu den eigenen Handlungsweisen kritisiert werden, verliert der Begriff sein kritisches Potential für die Benennung aktueller Prozesse und konkreter Akteure. Die indústria da seca wird zum (historisch) Anderen, in deren gemeinsamer Ablehnung sich die unterschiedlichsten Interessen wieder vereinen. Besitzverhältnisse, der ungleiche Zugang zu Wasser und die carros-pipa als Symbol für die Dürreindustrie können somit benannt werden, ohne dass dadurch eine umfassende Agrarreform, Umverteilung und Teilhabe zu zwingend notwendigen Lösungsstrategien werden. Über die Integration der Kritik an den Bereicherungspraktiken in den dominanten Diskurs können die bestehenden Lösungsstrategien von der Kritik ausgeklammert werden. Solange auf diesen Zusammenhang nicht explizit verwiesen wird, und solange Forderungen nach einer Demokratisierung des Zugangs zu Wasser und nach einer umfassenden Agrarreform nicht mit den konkreten Verhältnissen und Akteuren verbunden werden, kann die hegemoniale Bearbeitungsweise nicht aufgebrochen werden. Hegemoniale Schließung über Integration Somit ist der zentrale Mechanismus des Dürrediskurses nicht, wie bei anderen Diskursanalysen herausgearbeitet wurde, die dichotome Gegenüberstellung zwischen rückständig und modern, Familienlandwirtschaft und Agrobusiness, dezentralen, angepassten Maßnahmen und Megaprojekten. Vielmehr stellen die Gleichzeitigkeit von sich teilweise widersprechenden Diskursen und die Integration ganz unterschiedlicher Problembeschreibungen, Lösungsansätze und selbst Kritikpunkte in den dominanten Diskurs die Grundlage für dessen hegemoniale Position dar. Durch die Integration unterschiedlicher Diskursstränge wird der Diskurs erweitert, sein ‚Außen‘ verringert und die dominante Bearbeitungsweise der Dürre stabilisiert. Dadurch stehen innerhalb des Diskurses jedoch auch viele unterschiedliche Sprechpositionen und Sprechweisen zur Verfügung, die aufgegriffen und besetzt
8.4 Zusammenfassung der Diskursanalysen
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werden können. Ein solch ‚integrativer‘ Diskurs bietet somit die Möglichkeit, über die Anknüpfung an bestehende Diskursstränge etablierte Schließungslogiken in Frage und neue Verbindungsregeln zur Verfügung zu stellen. Nur wenn beispielsweise der Zugang zu Wasser und nicht die Niederschlagsverhältnisse als zentrales Problem im Nordosten anerkannt werden, können eine Neuordnung der Besitzverhältnisse, dezentrale Versorgungssysteme und Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe ins Blickfeld der Lösungsstrategien gerückt werden.
9. KONSTITUTION VON SUBJEKT- UND SPRECHER_INNENPOSITIONEN „Man braucht sich nicht sonderlich über das Ende des Menschen aufzuregen; das ist nur ein Sonderfall oder, wenn Sie so wollen, eine der sichtbaren Formen eines weitaus allgemeineren Sterbens. Damit meine ich nicht den Tod Gottes, sondern den Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte“ (FOUCAULT 2001: 1002).
FOUCAULT wurde für sein polemisches, an Nietzsches ‚Tod Gottes‘ angelehntes, oft und gerne miss- und falsch verstandenes Diktum des ‚Tod des Subjektes‘ vielfach kritisiert. Damit schien den Geisteswissenschaften der_die Protagonist_in der Geschichte, der_die Produzent_in von Bedeutung, das Objekt der Forschung und der_die Hoffnungsträger_in von Widerstand und Veränderung abhanden zu kommen. Wenn FOUCAULT am Ende seines Buches ‚Die Ordnung der Dinge‘ darauf wettet, „daß der Mensch verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (FOUCAULT 1974: 462), dann wurde dies oft als zutiefst antihumanistische Geste, die den Menschen aus dem Denken verbannt und ihn gleichzeitig aus seiner Verantwortung nimmt, interpretiert. Tatsächlich schrieb FOUCAULT gegen das humanistische Vermächtnis der Neuzeit an: „Das Erbe des 19. Jahrhunderts, das am schwersten auf uns lastet – und von dem es seit langem Zeit ist, sich zu befreien –, ist der Humanismus“ (FOUCAULT 2001: 516).
Jedoch ist das weder als „blinder Antihumanismus“ noch als „genuin antihumanistische Position“ (GEISENHANSLÜKE 2003: 235) zu verstehen, sondern vielmehr als Versuch, sich von der „subjektzentrierten Vernunft der Moderne“ (ebd.: 246) zu lösen und den „anthropozentrischen Narzismuß“ (HEIM 1994: 15) zu entkräften. FOUCAULT tritt dazu an, die Moderne aus dem „anthropologischen Schlaf“ (FOUCAULT 1974: 410 ff.) zu erwecken und wendet sich dabei explizit gegen die Philosophie KANTS und gegen die Konzeption eines autonom denkenden, moralisch handelnden, transzendentalen Subjekts. Er lehnt dabei nicht das Subjekt an sich, sondern das Subjekt als (alleinigen) „Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte“ (FOUCAULT 2001: 1002) ab. Somit erscheint es für ihn kein Widerspruch zu sein, wenn er behauptet, man könne gleichzeitig „unterstellen, dass es Subjekte gibt, und […], dass es das Subjekt nicht gibt“ (FOUCAULT in KELLER 2012: 88; Hervorh. RK).
9.1 Konstitutionsbedingungen von Subjektivität
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9.1 KONSTITUTIONSBEDINGUNGEN VON SUBJEKTIVITÄT Die Ablehnung der Vorstellung eines souveränen und transzendentalen Subjektes geht dabei mit einer Neukonzeptionierung des Subjekts einher, bei der die historischen und gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen im Mittelpunkt stehen. Dabei schließt er explizit an NIETZSCHES Forderungen nach einer historischen Einbettung des Subjekts an: „Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, daß sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben ans Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen ‚der Mensch‘ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sichres Maß der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugnis über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraums. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; (…) Sie wollen nicht lernen, daß der Mensch geworden ist, daß auch das Erkenntnisvermögen geworden ist (…) Alles aber ist geworden; es gibt keine ewigen Tatsachen: so wie es keine absoluten Wahrheiten gibt“ (NIETZSCHE in KELLER 2012: 87).
Ganz im Sinne der erkenntnistheoretischen Ablehnung von Letztgewissheiten tritt uns das Subjekt als ein historisch und gesellschaftlich gewordenes entgegen. Es geht also darum, die Subjekte von den „grotesken Überforderungen, in die sie die transzendentalphilosophische Vernunfttradition bannte“ (GEISENHANSLÜKE 2003: 235) zu befreien, sie aus dem „Mittelpunkt des philosophischen Denkens zu entlassen“ (ebd.: 241) und ihnen ihre „zentrale Stellung in der Ordnung der Dinge“ (HEIM 1994: 15) zu nehmen. An die Stelle des Subjekts und die Frage nach seiner ontologischen Wesensbestimmung rücken Fragen nach den Konstitutionsprinzipien und -bedingungen von Subjekten. FOUCAULT nennt dies sogar die zentralen Fragen seines Schaffens: „Das Ziel meiner Arbeit während der letzten 20 Jahre war, (...) eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (FOUCAULT in BÜHRMANN 2001: 128).
Solche Verfahren, über die Individuen durch Praktiken, Diskurse und Dispositive zu Subjekten werden, nennt er Subjektivierungsweisen. Dabei kommt in dem Subjektbegriff bereits der ambivalente Doppelcharakter solcher Prozesse zum Vorschein: Zum einen kann das lateinische ‚subiectum‘ als etwas Zugrundeliegendes, zum anderen aber auch als etwas Unterworfenes verstanden werden (BÜHRMANN 2012: 146; NONHOFF & GRONAU 2012: 128). Das Subjekt stellt somit die Grundlage und Voraussetzung für identitätsstiftende Prozesse dar und ist ihnen gleichzeitig unterworfen, ist ihnen ‚Untertan‘ (sujet). Auch FOUCAULT verweist auf die doppelte Bedeutung des Subjektbegriffes und bindet ihn dabei in seine Machtanalyse ein: „Das Wort ‘Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft“ (FOUCAULT 2005: 245).
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
Hierbei werden die drei zentralen Fluchtlinien seines Subjektbegriffs deutlich: zum einen geht es um die Unterwerfung unter ‚die Herrschaft eines Anderen‘, insbesondere um die Unterwerfung unter die in den Diskursen aufscheinenden und dem Subjekt vorgängigen Zuweisungen, zum anderen geht es um die SelbstUnterwerfung durch ‚Bewusstsein und Selbsterkenntnis‘, den Techniken der individuellen Selbstregulierung. Und drittens handelt es sich bei beiden Subjektivierungsweisen um spezifische Machtformen, wodurch das Subjekt immer als Effekt von Machttechniken verstanden werden muss. Der von FOUCAULT propagierte Tod des Subjekts führt somit letztendlich nicht zu einem Abschied vom Subjekt. Ganz im Gegenteil rücken die Prozesse der Konstitution von Subjektivität und die Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen Diskursen und Subjekten gedacht und analysiert werden kann, in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. „Kurz gesagt“, resümiert FOUCAULT, „ich habe das Problem des Subjekts nicht ausschließen wollen, sondern die Positionen und Funktionen definieren wollen, die das Subjekt in der Verschiedenheit der Diskurse einnehmen konnte“ (FOUCAULT 1973: 285).
Die Subjektkonstitution findet somit über die Aneignung von den in den Diskursen aufscheinenden Positionen statt. Solche Positionen bieten Identitätsangebote, die von den Individuen eingenommen, angeeignet gleichzeitig aber auch aktualisiert, neu geformt und überschritten werden können. Sie sind „Bestandteile des historisch kontingenten gesellschaftlichen Wissensvorrates“ (KELLER 2008: 217) und als solche Ergebnisse gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Somit sind die Positionen eingebunden in die diskursiv vermittelten Macht-WissensKomplexe, die den Individuen als „sozio-historisches Apriori“ (ebd.: 43) entgegentreten. Das Subjekt kann folglich nicht länger als Ursprung der Macht, sondern muss als Effekt von Machtverhältnissen gedeutet werden, da in der Aneignung einer bestimmten Subjektposition immer auch ein spezifisches Machtverhältnis aktualisiert wird (RÖTTGERS 2008: 274; BÜHRMANN 2001: 129). Somit wird das Subjekt bestimmten Subjektpositionen und Machtverhältnissen unterworfen (s. Kap. 3.2.2.2). Eine solche Unterwerfung wird sowohl von außen an das Individuum herangetragen, indem es über Zuruf (Anrufung bei ALTHUSSER 1) eine bestimmte Subjektposition zugewiesen bekommt – bspw. indem Menschen als Kleinbäuer_innen, als Arbeiter_innen, als Großgrundbesitzer_innen oder Wassernutzer1
Das Konzept der Anrufung (Interpellation) geht im Wesentlichen auf LOUIS ALTHUSSER zurück, der mit dem berühmten Beispiel des Rufes eines Polizisten an einen Passanten die Mechanismen der Subjektwerdung aufzuzeigen versucht. Sowohl über den Ruf des Polizisten (‚He, Sie da!‘) als auch über die Reaktion des Passanten, der sich dem Polizisten zuwendet und sich somit als Adressaten des Rufes anerkennt, wird der Passant zum Subjekt. Im Vordergrund steht für ALTHUSSER dabei die Anrufung durch einen ideologischen Staatsapparat, die insofern ideologisch ist, da sie die ‚wahren‘ sozialen Beziehungen, die im Wesentlichen ökonomisch bestimmt sind, verbergen (BRÖCKLING 2012: 134; KELLER 2012: 77; GLASZE & MATTISSEK 2009b: 28–29).
9.1 Konstitutionsbedingungen von Subjektivität
283
_innen benannt werden. Gleichzeitig erfolgt jedoch auch eine Selbstunterwerfung unter die im Diskurs vorstrukturierten Identitäten, indem sich das Individuum bestimmte Subjektpositionen zu eigen macht. Diese von FOUCAULT als Selbsttechniken (techniques de soi) benannte Unterwerfungsweise ist jedoch nicht nur als repressive Form der Selbstregulierung zu verstehen, sondern kann positiv gewendet auch als „historisch konstituierte ‚Sorge um sich‘ Grundlage des Handelns auch gegen äußere Wissens- und Herrschaftszumutungen“ (KELLER 2008: 210) verstanden werden. 9.1.1 „Ich ist ein Anderer“ 2 Zwar werden über Diskurse mehr oder weniger fest umrissene Subjektpositionen angeboten. Jedoch können sich Subjekte nicht eindeutig auf nur einen einzigen Diskurs beziehen, sondern stehen immer im Schnittfeld ganz unterschiedlicher, miteinander konkurrierender und teilweise auch widersprüchlicher Diskurse und somit auch Subjektpositionen (Sohn, Ehe-Mann, Brasilianer, Nordestino, Landarbeiter, Gewerkschaftsvertreter, Wähler, etc.). Das Subjekt kann nie nur eine, endgültige und in sich geschlossene Identität einnehmen, nie vollständig in genau einer Subjektposition aufgehen. Durch diese Nicht-Identität des Subjekts mit der angewiesenen und angeeigneten Subjektposition, durch dieses Scheitern der Identifikation, ergibt sich auch die erkenntnistheoretische Prämisse, dass Identität niemals essentialistisch gefasst, niemals ganz abgeschlossen und als dem Individuum vollständig eigen gedacht werden kann. Identität ist vielmehr immer widersprüchlich, hybrid und brüchig. Subjekte entstehen in einem fortwährenden Prozess der Identitätsbildung als fragmentierte Subjekte. „Das Subjekt der Subjektivierung ist weder der letzte Zurechnungspunkt des Denkens, Wollens und Fühlens, noch imaginäres Personzentrum, in dem sich aller ‚Entfremdung‘ zum Trotz ein authentisches Ich kristallisiert, noch gar potentieller Souverän, der sich nur erst von allen möglichen ‚Kolonialisierungen‘ befreien muss. Es ist weder tabula rasa, in die sich die gesellschaftlichen Mächte einschreiben, noch autonomer Autor des eigenen Lebens. Es ist der Fluchtpunkt der Definitions- und Steuerungsanstrengungen, die auf es einwirken und mit denen es auf sich selbst einwirkt; kein Produkt, sondern Produktionsverhältnis“ (BRÖCKLING 2012: 133).
Gerade durch diese Überdeterminierung (ALTHUSSER) des Subjekts entsteht jedoch der Spielraum für eigene Entscheidungen; in der Brüchigkeit und Fragmentiertheit der Identitäten liegt die Voraussetzung für Veränderung und Kontingenz und die Bedingung für die Freiheit des Subjekts (vgl. Kap. 3.2.2.2) (GLASZE & MATTISSEK 2009a: 163, 169; GLASZE & MATTISSEK 2009b: 29; KELLER 2012: 69 f.; KELLER 2007: 53 f.; NONHOFF & GRONAU 2012: 124 ff.).
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Arthur Rimbaud
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
9.1.2 Orte des legitimen Sprechens Das Scheitern der Identifikation bedeutet aber auch, dass das Subjekt nie ganz im Diskurs aufgehen kann, sondern immer in einem Verhältnis zum Diskurs steht (GUTHMANN 2003: 97). Dies kann als Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und gegenseitiger Hervorbringung gefasst werden, da zum einen Subjekte über die beschriebenen Subjektivierungsweisen erst konstituiert werden (und sich selbst konstituieren), zum anderen Diskurse wiederum nur über unterschiedliche Akte der Artikulation entstehen, fortgeschrieben und verändert werden (NONHOFF & GRONAU 2012: 124). Das heißt, dass Diskurse nur durch die Interventionen von Subjekten existieren. Um jedoch innerhalb eines Diskurses gehört zu werden und um wirkmächtige Aussagen treffen zu können, muss das Subjekt bestimmte Positionen einnehmen, von denen aus gesprochen werden kann. Neben den Subjektpositionen, die Identitäten zur Verfügung stellen, existieren innerhalb des Diskurses somit verschiedene Sprecher_innenpositionen, die ein ‚wahres‘ Sprechen ermöglichen. Solche „Orte des legitimen Sprechens“ (KELLER 2008: 136) weisen zumeist einen gewissen Grad an Institutionalisierung auf, sind mit bestimmten Zugangskriterien verbunden und reglementieren die Äußerungsmodalitäten des Sprechens. Die Wirkung und Legitimität von Aussagen verändern sich über die Benennung der institutionalisierten Verortung des_der Sprecher_in (Privatperson oder Vertreter_in der Weltbank), über die Benennung des akademischen Grades, der Herkunft oder sonstiger Referenzen, die je nach Diskurskontext stark variieren können. Gleichzeitig sind mit einer Sprecher_innenposition auch bestimmte Möglichkeiten, Erwartungen und Tabus des Sprechens verbunden, deren Einhaltung oder Nichteinhaltung den Stellenwert und Wahrheitsgehalt der Aussagen reglementieren (s. Kap. 3.1.2), (KELLER 2007: 49; WALDSCHMIDT et al. 2008: 338 f.; DZUDZEK et al. 2009: 238; KOCH & ROTH 2013: 68). Daraus ergeben sich wiederum einige Implikationen für die Analyse konkreter Diskurse und Subjektkonstellationen. Der_die Autor_in eines Textes oder einer Aussage kann dabei nicht länger als „schöpferische[s] Subjekt[...] als raison d´être eines Werkes und Prinzip seiner Einheit“ (FOUCAULT 1973: 199) angesehen und dessen Intentionen und Handlungsstrategien herausgearbeitet werden. Vielmehr geht es darum, die in den Diskursen aufscheinenden Sprecher_innenpositionen zu benennen und die Mechanismen und Bedingungen des legitimen Sprechens nachzuzeichnen. Zum anderen können die innerhalb eines Diskurses bereitgestellten Subjektpositionen und Identitätsangebote aufgezeigt und ihre Rolle innerhalb des Dispositivs der Dürre dargestellt werden. So gilt es bspw. danach zu fragen, welche Legitimierungsweisen des Sprechens innerhalb des Dürrediskurses im Nordosten deutlich werden, wer als Expert_in angesehen werden kann und welche Identitäten bevorzugt angeboten oder marginalisiert werden.
9.2 Sprecher_innenpositionen im Dürrediskurs
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9.2 SPRECHER_INNENPOSITIONEN IM DÜRREDISKURS Bei der Analyse der Zeitungsartikel des Diário do Nordeste wurden insgesamt 940 Stellen kategorisiert, bei denen eine Sprecher_innenposition deutlich wurde. Dabei wurden nur diejenigen Abschnitte in die Analyse aufgenommen, die mit einer direkten oder indirekten Rede verknüpft sind. Zwar kann eine Sprecher_innenposition nicht alleine auf die wörtliche Rede beschränkt werden. Dennoch sollten dadurch diejenigen Stellen ausgeschlossen werden, bei denen über bestimmte soziale Akteure gesprochen wird, diese jedoch nicht selbst zu Wort kommen, sich somit kein Gehör verschaffen können. Dies ist insbesondere beim Reden über die nordestinos, sertanejos, retirantes, pobres oder über die zwölf Millionen, die Durst leiden, der Fall. Ihre häufige Erwähnung innerhalb des Diskurses zeigt zwar gewisse Subjektpositionen auf und weist auf deren Bedeutung für die Legitimierung bestimmter Praktiken und Handlungsweisen hin, bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie selbst ihre Stimme erheben können. Menschen, die in den Artikeln zu Wort kommen, werden nicht als sertanejo, sondern als Landwirt_innen, Kleinproduzent_innen oder Bewohner_in einer bestimmten Region bezeichnet. Darüber hinaus wurden in der Analyse nur denjenigen Sprecher_innen eine Kategorie zugewiesen, deren Sprechposition auf irgendeine Art und Weise institutionalisiert und somit legitimiert wurde. Personen, die nur mit ihrem Namen benannt wurden, wurden somit nicht erfasst. Die verschiedenen Kategorien der Sprecher_innenpositionen wurden – analog zur Analyse der Formationsregeln – über ein offenes Kodierungsverfahren gebildet. Dabei wurden die Kategorien aus den Texten heraus entwickelt und im weiteren Verlauf der Analyse immer weiter gruppiert, neu geordnet und in Oberkategorien zusammengefasst. Dies führte letztendlich zur Bildung von vier zentralen Kategorien, denen 95% der Sprecher_innenpositionen zugeordnet werden konnten. Bereits über eine solch grobe Unterscheidung wird die Ungleichverteilung der Sprechanteile, die den unterschiedlichen Positionen in den Zeitungsartikeln zugestanden werden, deutlich: An 38% der Stellen kommen Vertreter_innen des Staates zu Wort, 28% nehmen von mir als Expert_innen kategorisierte Positionen ein und 26% als Wassernutzer_innen. Vertreter_innen der organisierten Zivilgesellschaft haben lediglich einen Anteil von 3%. 9.2.1 Zuweisung von Handlungsmacht und Opferrollen Unter der Rubrik ‚Staat‘ wurden somit Sprechpositionen von Politiker_innen der unterschiedlichsten Maßstabsebenen und Wirkungsmacht – von einem_einer Bügermeister_in einer kleinen Gemeinde bis hin zur Präsidentin Brasiliens – eingeordnet. Dabei nimmt die Gruppe der Minister auf Bundesstaatsebene (secretários_as) die weitaus meisten Sprechanteile ein. Sie sind es, die im Falle einer Dürre der Presse zur Verfügung stehen, die Informationen über Programme und Hilfsmaßnahmen weitergeben und deren Einschätzungen für die Berichterstattung von großer Bedeutung ist. Eine herausragende Stellung nimmt dabei der
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
Leiter des Sekretariats für Agrarentwicklung (Secretaria do Desenvolvimento Agrário do Ceará (SDA)) NELSON MARTINS ein. Ein Drittel aller Sprecher_innenpositionen, bei denen Politiker_innen zu Wort kommen, und ganze 11% aller Positionen, die in den untersuchten Zeitungsartikeln kategorisiert wurden, werden allein von ihm besetzt. Keine andere einzelne Sprechposition verfügt über einen so großen Redeanteil und somit auch Einfluss innerhalb des über die Zeitungsartikel vermittelten Diskurses. Als Sprecher einer staatlichen Behörde gibt er Einschätzungen über das Ausmaß der Dürre und die Ursachen des Problems ab, verteilt Fördermittel, weiht Staudämme ein, kündigt Investitionen an und trifft sich mit anderen Politiker_innen und Expert_innen, um über mögliche Lösungsansätze zu diskutieren. Über seine Beteiligung an der Definition des Problems, der Suche nach Lösungsvorschlägen und der Umsetzung von Hilfsmaßnahmen besetzt er eine zentrale Stellung innerhalb des Diskurses. Wie in Kapitel 8.4. beschrieben, wird dabei allein über die wiederholende Benennung (und Bebilderung) Legitimation geschaffen, ohne dass weitere Begründungen (akademischer Grad, spezialisiertes Wissen etc.) notwendig wären. Die andauernde Präsenz seiner Sprechposition verleiht seinen Aussagen Wirkungsmacht. Dabei wird der Staat über die zahlreichen Äußerungen des Staatssekretärs als handlungsfähig und wissend inszeniert, womit seine zentrale (Macht)Position innerhalb der Akteurskonstellation verfestigt wird. An 50 verschiedenen Stellen kommen Vertreter des Militärs zu Wort, da das Militär die Koordination der Wasserverteilung mittels Tanklastwagen im Hinterland von Ceará übernimmt. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass das Militär in meinen Interviews und Gesprächen, in Reden und wissenschaftlichen Texten so gut wie keine Rolle als Akteur des Dürredispositivs spielt. Somit ist ein Abgleich der Sprecher_innenpositionen, die anhand von Zeitungsartikeln nachgezeichnet werden können, mit anderen Textquellen und Erfahrungen durchaus sinnvoll, um anhand von vornehmlich quantitativen Erhebungen keine voreiligen Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Positionen der sozialen Akteure zu ziehen. Nur schwer von der Kategorie des ‚Staates‘ ist die Kategorie der ‚Expert_innen‘ abzugrenzen, da viele der von mir als ‚Expert_innen‘ kategorisierten Sprecher_innen Vertreter_innen staatlicher Institutionen (EMATERCE, COGERH, DNOCS, ANA etc.) sind. Dennoch wurden sie in die Kategorie ‚Expert_innen‘ eingeteilt, da bei ihren Sprechpositionen ihr Expert_innenwissen (als Meterolog_in, Agronom_in, Ingenieur_in etc.) und nicht die Repräsentation einer staatlichen Institution im Vordergrund steht. Darüber hinaus wurden auch die Sprecher_innenpositionen von Wissenschaftler_innen, Projektkoordinator_innen und Berater_innen der Kategorie der Expert_innen zugeordnet. Trotz der zentralen Rolle, die die Weltbank bei der Finanzierung und Umstrukturierung des Wasserressourcen-Managements in Ceará einnimmt, konnten nur an sechs verschiedenen Stellen Zitate eines_r Vertreter_in der Weltbank ausfindig gemacht werden. Dies könnte als Hinweis dafür dienen, dass die Weltbank innerhalb des Dürredispositivs in Ceará eine eher zurückhaltende, hinter den Kulissen agierende Position einnimmt. Vertreter_innen der Weltbank benötigen weder einen hohen Bekanntheitsgrad, um wieder gewählt zu werden, noch verfügen
9.2 Sprecher_innenpositionen im Dürrediskurs
287
sie – trotz ihres Expert_innenwissens – über eine hohe Legitimation, über die Dürre im Nordosten und die notwendigen Bearbeitungsmaßnahmen zu sprechen. Innerhalb eines post-kolonialen Kontextes und in Anbetracht eines, gegenüber äußeren Einmischungen durchaus kritischen Diskurses der linksliberalen PTRegierung (vgl. Diskussion um Entwicklungsstrategien für den Amazonas; Stärkung der Stellung des BNDES gegenüber dem IWF) werden Einflussnahmen von internationalen Organisationen wie IWF und Weltbank in Brasilien mittlerweile eher skeptisch bewertet. Tatsächlich werden in den Zeitungsartikeln Verhandlungen mit der Weltbank oder der Abschluss eines neuen Kredites zumeist von den lokalen Politiker_innen kommentiert, während die Vertreter_innen der Weltbank selbst eher selten zu Wort kommen. Von den 241 Positionen, die von mir als ‚Nutzer_innen‘ kategorisiert wurden, kommen in erster Linie gewerkschaftlich organisierte und nicht organisierte Landwirt_innen (70%) zu Wort, die überwiegend als Bauer_Bäuerin (agricultor_a), aber auch als Kleinproduzent_in (pequeno_a produtor_a), Landarbeiter_in (trabalhador_a rural) und Bewässerungslandwirt_in (irrigante) bezeichnet werden (s. u.). Weit weniger Sprechanteile haben Vertreter des Agrobusiness (insbesondere der Bewässerungslandwirtschaft) (15%), Viehzüchter (5%) und Vertreter von Unternehmen (2%). 7% der Sprecher_innen erhalten ihre Legitimation nicht über ihren Beruf und ihre besondere Form der Wassernutzung, sondern über ihre regionale Verortung, indem sie als Bewohner_in einer speziellen, meist besonders von der Dürre betroffenen Region, bezeichnet werden. Auf den ersten Blick scheinen die Landwirt_innen innerhalb des Dürrediskurses somit durchaus Gehör zu finden. Dennoch können ihre Sprecher_innenpositionen nicht mit denjenigen der Gruppe des Staates oder der Expert_innen gleichgesetzt werden. Der Logik einer Tageszeitung ist es geschuldet, dass eine ‚gute‘ und ‚authentische‘ Berichterstattung auch Stimmen vor Ort, bspw. von Betroffenen der Dürre, einfangen muss, ohne dass diesen Stimmen gleichzeitig Handlungsmacht verliehen wird. In den meisten Fällen (77%) kommt den Landwirt_innen die Rolle als notleidende Opfer zu, die über das Ausmaß der Dürre, ihre Ernteausfälle und Verluste berichten (43%). Oder es wird ihnen die Rolle passiver Empfänger_innen von Hilfsmaßnahmen (20%) oder passiver Beschwerdeträger_innen, die über die bestehenden Zustände und die Politik klagen und lediglich Forderungen an die Regierung stellen (11%), zugewiesen. Nur an wenigen Stellen (22%) werden über die Sprecher_innenposition der Landwirt_innen aktive, selbstermächtigende Positionen vermittelt, bspw. wenn Produzent_innen zu Wort kommen, die zufrieden und stolz auf ihre Arbeit und Ernte sind (8%), die für Proteste mobilisieren und selbst Veränderungen in Gang setzen (5%), alternative Anbaumethoden ausprobieren (5%) oder alternative Wasserspeicherungsmethoden einsetzen (2%) (s. Kap. 8.4). Einen erstaunlich geringen Redeanteil wird den Vertreter_innen der Zivilgesellschaft zugesprochen (3%). Zwar wird beispielsweise über das Zisternenprogramm der ASA oder über die Landlosenbewegung MST immer wieder gesprochen und dadurch Handlungsweisen legitimiert, jedoch kommen deren Vertreter_innen selbst nur äußerst selten zu Wort.
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
9.2.2 Legitimierung und Inszenierung der (eigenen) Sprechposition Zwar können die Sprecher_innen der Senatsdebatte über die Flussableitung des São Francisco ebenfalls in die Oberkategorien Staat, Expert_innen, Nutzer_innen und Zivilgesellschaft eingeordnet werden. Eine quantitative Analyse der Positionen macht dabei aber sowohl aufgrund der geringen Anzahl der Sprecher_innen, als auch aufgrund des speziellen Settings im Senat – durch das Vertreter_innen des Staates logischerweise die meisten Redeanteile einnehmen – und aufgrund der Vorabauswahl der Redner_innen, durch die eine ausgeglichene Debatte ermöglicht werden sollte, wenig Sinn. Vielmehr erscheint hierbei interessant, wer aus der Debatte ausgeschlossen bleibt. Trotz der häufigen Rechtfertigung des Ableitungsprojektes über die schwierige Lebenssituation der diffus lebenden Bevölkerung des Sertão, wird keinem_er Vertreter_in einer bäuerlichen Vereinigung, einer Landarbeiter_innengewerkschaft, einer indigenen Gemeinschaft oder der Flussanrainer_innen (ribeirinhos) das Wort erteilt. Vielmehr sprechen verschiedene Teilnehmer_innen der Debatte im Namen der marginalisierten Bevölkerung und versuchen so, ihre eigene Sprecher_innenposition zu legitimieren. Somit erscheint eine Analyse der Selbstpositionierung und der Mechanismen der Legitimierung und Aufwertung der eigenen Sprechposition und gleichzeitig der Abwertung anderer Positionen für die Senatsdebatte aufschlussreich zu sein. Dabei spielt die Selbstinszenierung als Sprecher_in für die notleidende Bevölkerung durchaus eine wichtige Rolle. Insbesondere die beiden Bischöfe, DOM LUIZ FLÁVIO CAPPIO und DOM ALDO DI CILLO PAGOTTO, die das Für-Sprechen an einen katholisch-religiösen Kontext anlehnen, stützen die Legitimation ihrer Sprechposition auf die Anwaltschaft für Andere: „Pelos anos de militância de evangelização e promoção humana [...] faço me porta-voz de milhares de irmãos e irmãs nordestinos que reclamam por um copo d´água, para sua digna 3 sobrevivência e para o justo desenvolvimento com inclusão social das gerações vindouras “ (DOM ALDO DI CILLO PAGOTTO, Bischof). „Estou aqui representando um coletivo, o povo do Rio São Francisco, nações indígenas, comunidades quilombolas, brasileiras e brasileiros que se preocupam com a vida. Este é o 4 meu fórum. Em nome deles é que os falo “ (DOM LUIZ FLÁVIO CAPPIO, Bischof).
Darüber hinaus erfolgt die Selbstlegitimierung häufig über eine räumliche, familiäre oder emotionale Verortung der Sprecher_innen. Häufig wird dabei das Bun3
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„Aufgrund der vielen Jahre der Verkündigung des Evangeliums und der Förderung der Menschlichkeit […] mache ich mich zum Fürsprecher von Tausenden von Brüdern und Schwestern im Nordosten, die nach einem Glas Wasser verlangen, für ein würdiges Überleben und eine gerechte Entwicklung mit sozialer Inklusion der kommenden Generationen“ (DOM ALDO DI CILLO PAGOTTO, Bischof, eigene Übersetzung). „Ich vertrete hier ein Kollektiv, das Volk des Rio São Francisco, indigene Völker, Quilombola-Gemeinden, Brasilianerinnen und Brasilianer, die sich um das Leben sorgen. Dies ist mein Forum. In deren Namen spreche ich zu Ihnen“ (DOM LUIZ FLÁVIO CAPPIO, Bischof).
9.2 Sprecher_innenpositionen im Dürrediskurs
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desland genannt, aus dem der_die Sprecher_in stammt oder lange Zeit gelebt hat, es wird ein kollektives ‚Wir‘ beschworen („nós nordestinos“ (CIRO GOMES, Abgeordneter)), die bäuerliche Herkunft hervorgehoben („sou filho de agrônomo“ (APOLO HERINGER LISBOA, Präsident eines Wasserkommitees) oder die emotionale Verbindung betont: „não sou de lá, não nasci lá, mas sou baiano e adoro São Francisco, sempre adorei“ (JOÃO REIS SANTANA FILHO, Integrationsministerium). Besonders wirkmächtig versteht vor allem der ehemalige Präsident LULA seine Herkunft aus dem Nordosten als Legitimierung seiner Sprechposition und Begründung für die Umsetzung des Ableitungsprojektes in Szene zu setzen. Dabei betont er immer wieder, dass auch er Durst und Hunger am eigenen Körper erlebt hat und beherrscht dabei die bildhafte Inszenierung: „Maybe, not because I would be engineer and would know; it is because I, with seven years of age, carried a jar with water on my head and I know the sacrifice“ (LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, ehemaliger Präsident). „…we faced people who didn’t have an idea about what the Northeast is, people who didn’t know what drought is, people who didn’t know, who didn’t have the smallest notion… to see a mother taking her son and a water can and walk six kilometers, seven, eight kilometers, or paying something for the supply of the water truck when they pass, and if there is no money there is no water, and the person sees his calf die, his goat die, and his cow already died, and the children cannot take a bath, cannot wash their clothes. The people don’t have an idea about this, it is necessary to have lived there to have clarity about what drought is in the Northeast“ (LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, ehemaliger Präsident).
Über diese Art der Selbstlegitimierung wird die persönlich erlebte Erfahrung von Durst und Leiden zum Zugangskriterium für den Dürrediskurs erhoben. Wer keine so eindrücklichen persönlichen Erfahrungen vorzuweisen hat, bekommt nicht die gleiche Legitimität des Sprechens zugewiesen, unabhängig von anderen Legitimationszusammenhängen und den vorgetragenen Argumenten. Gleichzeitig erfährt die Subjektposition Nordestino, Sertanejo oder Pernambucano durch die häufige und positive Bezugnahme von Seiten der Position des Präsidenten der Republik eine Bedeutungsverschiebung. Die Subjektposition des Nordestino, die – insbesondere durch die Migrationsbewegungen in die großen Städte in den Süden und Südosten des Landes und dort insbesondere in die sozial niedrigsten Schichten, prekärsten Arbeitsverhältnisse und Wohnsituationen – zum Synonym für Armut, Unwissenheit und Unterentwicklung wurde, erfährt über die positive Bezugnahme eine neue Konnotation: „You don’t know how many jokes I hear about the nordestino […] and how many fights I made because the people called me ‘baiano’ […]. Because in some parts of the country, everything is baiano. There is no pernambucano, no maranhense, everything is baiano. And being pernambucano, and pernambucanos are very proud, I don’t admit to be called paulista […], nor baiano, nor carioca […], I want to be pernambucano and I want to be called pernambucano“ (LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA, ehemaliger Präsident).
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
9.3 VERORTUNG DER SUBJEKTPOSITIONEN INNERHALB DES DÜRREDISPOSITIVS Bei der Analyse der Diskurse, die in den Zeitungsartikeln und der Senatsdebatte aufscheinen, wurden in erster Linie Sprecher_innenpositionen herausgearbeitet. Diese verweisen jedoch auf Subjektpositionen, die über die verschiedenen, sich verschneidenden Diskurse zur Verfügung gestellt und bearbeitet werden und die in das Dürredispositiv eingebettet sind. Innerhalb des Dispositivs der Dürre spielen Diskurse um Knappheit, Effizienz und Ressourcenmanagement und der institutionalisierte Umgang mit Wasser eine wesentliche Rolle. Durch das in Ceará seit Ende der 1980er Jahre etablierte Wasserressourcen Management (s. Kap. 7) wurden bestimmte Subjektpositionen herausgebildet, gestärkt, verwandelt und neu definiert, wodurch eine spezifische Akteurskonstellation entstand. Dabei werden die sozialen Akteure zu sogenannten Stakeholdern, die ein ‚berechtigtes‘ Interesse an den Managementprozessen vorweisen und an den Partizipationsprozessen teilhaben können. Auch hierbei erfolgt bei der Analyse eine Aufteilung der Akteure in die Gruppen ‚Staat‘, ‚Expert_innen‘, ‚Nutzer_innen‘ und ‚Zivilgesellschaft‘, wie sie etwa innerhalb der Wasserkomitees zum Tragen kommt (vgl. Kap. 7.1.2.2). Die sich aus den diskursiven Verschiebungen ergebende Neuausrichtung des Staates ab den 1990er Jahren wurde bereits in Kapitel 6.4 beschrieben. Innerhalb eines neoliberal ausgerichteten Verständnisses von guter Regierungsführung fällt dem Staat dabei in erster Linie die Rolle zu, geeignete Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Region und die Umsetzung des Wasserressourcen Managements zu schaffen. Mit der Vorstellung, den Staat wie ein modernes Unternehmen zu führen, entwickelte sich die Rolle eines_r Politiker_in mehr und mehr zu der eines_r Manager_in, der_die Prozesse anleiten, begleiten und vor allem gut kommunizieren kann. Gleichzeitig verschob sich die Position des_der Politiker_in von einem gutmütigen Patriarchen (coronel), der Gefälligkeiten entlang von Sympathien und Familienzugehörigkeiten vergibt, hin zu einem_r Expert_in, der_die über genügend Spezialwissen verfügt, um den komplexen Aufgaben moderner Managementstrukturen gewachsen zu sein. Somit bildete sich im Zuge der Implementierung des Integrierten Wasserressourcen Managements (IWRM) vor allem eine Subjektposition als zentrale Figur und legitime Entscheidungsträgerin heraus: die Position des_der Expert_in. Gerade in einem Bereich wie dem des Wassermanagements, welcher von sowohl technisch wie gesellschaftlich höchst komplexen Prozessen durchzogen ist, wurde die Frage nach (technischem) Spezialwissen zum Legitimationskriterium für politische Handlungsmacht: „specialized knowledge is, in areas such as water resources, a fundamental resource for policy making and […] policy innovation“ (GUTIÉRREZ 2006: 54). Die Fähigkeit, spezialisiertes Wissen und eine technische Sprache in politische Vorschläge und Programme zu übersetzen, bildete die Grundlage für die Übernahme von politischer Macht durch die Gruppe der ‚Expert_innen‘. In Ceará war es in erster Linie eine Gruppe von Jungunternehmern, Universitätsprofessoren und Ingenieuren, die die Reformen im Wassersektor ein-
9.3 Verortung der Subjektpositionen innerhalb des Dürredispositivs
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leiteten und später auch durchsetzten (ebd.: 276; 316). Die unter anderem auch über die Einführung des Paradigmas des Ressourcenmanagements vorangetriebene Verschiebung der Subjektpositionen ermöglichte es ihnen, wichtige politische Ämter – insbesondere auch die der zentralen Entscheidungsorgane des Wassermanagements (ANA, DNOCS, COGERH, SRH etc.) – zu besetzen (vgl. Kap. 6.4.4). Gleichzeitig wurde über die Durchführung der Umstrukturierungsprozesse und die fortschreitende Institutionalisierung des Wassermanagements die Subjektposition des_der Expert_in gefestigt und dessen zentrale Stellung innerhalb der Akteurskonstellation gestärkt 5. 9.3.1 Vom Campesinato zum Produzententum Bereits mit der Etablierung der Bewässerungsprojekte im Nordosten Brasiliens in den 1970er Jahren kam es zu Verschiebungen der Subjektpositionen der Bäuer_innen. Diese wurden durch die Aufnahme in staatlich geplante Bewässerungsprojekte zu Bewässerungslandwirt_innen (irrigantes), Siedler_innen (colonos/as) und Kleinproduzent_innen (pequenos produtores) und als solche in die bestehenden Markt- und Machtstrukturen integriert (s. Kap. 6.3.3.2). Mit den sich verändernden Strukturen im ländlichen Raum und der Etablierung des IWRM setzt sich dieser Trend fort. Über die Ausweitung der Obstplantagen, beispielsweise auf der Chapada do Apodi (s. Kap. 10.1), etabliert sich die Subjektposition der Landarbeiter_in, der_die als abhängige_r Beschäftigte_r für das Agrobusiness arbeitet. Gleichzeitig verfestigt sich über Bewässerungsprojekte wie das Projekt Tabuleiro de Russas (s. Kap. 12.2.5) die Position des_der Kleinproduzent_in, der_die in ‚Partnerschaft‘ mit den großen Unternehmen gemeinsam für den Export produziert. Über die Partizipationsprozesse innerhalb des Wassermanagements (s. Kap. 12.1) wird der_die Bäuer_in zum_zur Wassernutzer_in oder Stakeholder und somit über ein rein funktionales Naturverhältnis definiert. Dadurch wird die ursprüngliche Position des_der Kleinbäuer_in immer weiter aus dem Diskurs verdrängt. Mit dem Wandel der Subjektpositionen sind jedoch gleichzeitig auch Veränderungen von Bedeutungszuschreibungen, Praktiken und Lebensstilen verbunden. Die Beziehungen zum (eigenen Stück) Land (roça), zu den Anbauprodukten, der Natur, der Arbeit und letztendlich auch zu sich selbst ändern sich mit der Umstellung von der kleinbäuerlichen Produktion für den Eigenbedarf hin zur spezialisierten, technologieintensiven Produktion von Hochertragssorten für den Export. Der_die Kleinproduzent_in wird zum selbstverantwortlichen Subjekt, das den Marktgesetzen unterworfen ist, der_die Landarbeiter_in zur Arbeits5
Ähnliche Prozesse können auch in anderen Ländern und zu anderen Zeiten beobachtet werden. So beschreibt ERIC SWYNGEDOUW beispielsweise die Rolle von Ingenieur_innen bei den Umstrukturierungsprozessen des Wassersektors in Spanien der 1970er Jahre, die als Träger_innen von akademischem Spezialwissen eine privilegierte Position innerhalb des Staatsapparates einnehmen konnten (SWYNGEDOUW 2010: 18).
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
kraft, die den Unternehmenslogiken unterstellt ist. Damit ändert sich nicht nur der Umgang mit der Natur, sondern auch ein spezifisches Verständnis von Bauerntum (campesinato), das mit einem bestimmten Lebensstil, einer eigenen Kultur und eigenen Werten in Verbindung gebracht wird und in der Geschichte des Nordostens immer auch Subjekte des Widerstands hervorgebracht hat (s. Kap. 6.3.1). Somit geht mit der Verdrängung der Subjektposition des_der Kleinbäuer_in auch ein Widerstandspotential verloren, da dadurch der „Begriff des Kleinbauern als soziales Subjekt revolutionärer Entwicklungen im 20. Jahrhundert aus dem Gedächtnis der Menschen“ (OLIVEIRA 2010: 3) gelöscht wird (FREITAS 2010: 114). Der Zusammenhang zwischen der Verschiebung von Diskursen und Subjektpositionen wird auch am Beispiel der Reisproduktion im Jaguaribetal deutlich: Im Zuge der konservativen Modernisierung der 1970er Jahre wurden in der Region Bewässerungsprojekte für den Reisanbau angelegt, wodurch die Entwicklung der Region vorangetrieben werden sollte (‚bewässern heißt entwickeln‘). Mit der Wasserkrise von 1993, bei der unter anderem die Wasserversorgung von Fortaleza gefährdet war (s. Kap. 7.1.2.2), wurden die Reisbäuer_innen aufgrund des hohen Wasserbedarfs der Reisproduktion schnell als Sündenböcke für die Unterentwicklung der Region ausgemacht und die Art und Weise ihren Lebensunterhalt zu bestreiten als unverantwortlicher Umgang mit der knappen Ressource Wasser kritisiert. Die Reisbäuer_innen waren von den Protagonisten der Entwicklung zu den Verhinderern von Entwicklung umgedeutet worden. Eine solche Neudefinition der Subjektposition war möglich geworden, da sich die zugrunde liegenden Diskurse verschoben hatten. Mit der Einführung des IWRM wurde das Wasser im Sinne der Dublin-Prinzipien zu einem knappen und wirtschaftlichen Gut erklärt, das eine effiziente Nutzung und gewinnmaximierende Inwertsetzung erfordert. Ungeachtet der Bedeutung, die Reis für den Lebensunterhalt tausender subsistenzwirtschaftlich lebender Familien und als Grundnahrungsmittel für die Region inne hat, wurde über den Diskurs einer bestimmten Produktions- und Lebensweise die Legitimation entzogen (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 26 f.). Die Verankerung von Diskursen über Effizienz und Gewinnmaximierung führte gleichzeitig auch zu einer Stärkung der Position des Agrobusiness. Das Versprechen, mit Hilfe von technologischen Innovationen (neue Bewässerungssysteme etc.) und von ertragreichen, auf den Export ausgerichteten Produkten pro eingesetzter Wassereinheit die höchsten Gewinne erzielen zu können, führte zur Legitimation der Ausweitung der exportorientierten Obstproduktion im Kontext einer semiariden Region. Die sich daraus ergebenden Anforderungen – Verfügung über Spezialwissen und Technologien, Zugang zu Krediten und zu den Weltmärkten, qualitativ hochwertige Massenproduktion – die letztendlich nur von großen national oder international agierenden Agrarunternehmen erfüllt werden können, wiesen dem Agrobusiness eine herausragende Stellung für die Lösung des ‚Dürreproblems‘ zu. Solche Zuweisungen von Subjektpositionen sind jedoch immer umstritten und veränderlich, nie eindeutig festlegbar oder fixierbar. Je nach Kontext können ganz unterschiedlich konnotierte Positionen zur Verfügung gestellt werden. Innerhalb eines modernisierungsgläubigen Diskurses von ‚Fortschritt und Entwicklung‘
9.3 Verortung der Subjektpositionen innerhalb des Dürredispositivs
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stehen Unternehmen des Agrobusiness – oder konkret jene Unternehmen des Bewässerungsobstanbaus in Ceará – für Wachstum und die Entwicklung der Region, für Fortschritt und modernste Anbaumethoden, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Generierung von Steuereinnahmen. Demgegenüber werden mit der Position des Agrobusiness jedoch auch Umweltzerstörung und das Ausbringen von Agrarchemikalien, menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse, Landkonzentration, Korruption und Steuerhinterziehung verbunden. Die Einnahme einer solch umstrittenen Subjektposition ist dabei mit teilweise emotional geführten Aushandlungsprozessen verbundenen, die oftmals über Mechanismen der Grenzziehung und der dichotomen Abgrenzung gegenüber einem ‚Anderen‘ funktionieren (GLASZE & MATTISSEK 2009b: 30). In diesem Zusammenhang ist beispielsweise auch die Aussage von JOÃO TEIXEIRA JÚNIOR, Besitzer von Fruta Cor, eines der führenden Agrarunternehmen des Obstanbaus in Ceará, das aufgrund des massiven Einsatzes von Agrarchemikalien bereits vielfach in der Kritik stand, zu verstehen: „O povo não tem educação, não tem saúde, e aí começam a criticar o agronegócio. Mas as grandes empresas andam dentro da lei, são os pequenos que criam os problemas e não sabem 6 lidar com os agrotóxicos, muitas por falta de conhecimento “ (CINTRA 2010).
9.3.2 Neuaushandlung von Geschlechterverhältnissen Geschlechterverhältnisse können über die unterschiedlich geschlechtsspezifischen Zuweisungen von Subjektpositionen verstanden werden, die sich entlang der Verschiebung von Diskursen, Praktiken und Institutionalisierungen permanent verändern. Somit birgt auch die Transformation des Dürredispositivs Veränderungspotenziale für die Geschlechterverhältnisse im Nordosten Brasiliens. Bereits in den Dublin-Prinzipien von 1992, die als Verfestigung eines diskursiven Aushandlungsprozesses um die gesellschaftliche Bedeutung von Wasser angesehen werden können, wurde die besondere Rolle von Frauen innerhalb des Wassermanagements betont. Mit der Etablierung eines globalen Diskurses über die Gleichstellung der Geschlechter und der Einführung eines integrativen und partizipativen Managementansatzes bestehen somit durchaus Möglichkeiten des Aufbrechens traditioneller Subjektpositionen und der Stärkung der Rolle von Frauen insbesondere innerhalb eines ländlichen Kontextes. Die seit den 1990er Jahren vorangetriebenen Umstrukturierungsmaßnahmen in Ceará führten – zumindest in einigen Kernregionen – zu erheblichen Veränderungen der Besitzstrukturen und der Arbeitsverhältnisse im ländlichen Raum. Mit 6
„Die Leute haben keine Bildung, keine Gesundheitsversorgung und somit fangen sie damit an, das Agrobusiness zu kritisieren. Doch die großen Unternehmen agieren im Rahmen des Gesetzes, es sind die kleinen, die die Probleme verursachen und die nicht mit den Agrarchemikalien umzugehen wissen, viele aus Mangel an Wissen“ (CINTRA 2010; eigene Übersetzung).
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
der Privatisierung der Bewässerungsprojekte und den beträchtlichen Investitionen von nationalen und internationalen Unternehmen im Bereich der Bewässerungslandwirtschaft entstanden große Obstplantagen, was einen erhöhten Arbeitskräftebedarf an Landarbeiter_innen mit sich brachte. Darüber hinaus kam es zu einer Ausweitung des Vertragsanbaus, bei dem klein- und mittelgroße Produzent_innen in die Absatz- und Vermarktungsstrukturen der Agrarunternehmen integriert wurden. Ob durch diese Umstrukturierungsprozesse auch die Geschlechterverhältnisse ins Wanken gerieten, lag im Wesentlichen an der Frage des Zugangs zu Land. In den Gebieten und Bewässerungsprojekten, in denen die kleinbäuerliche Produktion in die Strukturen des Agrobusiness integriert wurden und der Zugang zu Land weiterhin als entscheidendes Kriterium für die Teilhabe an den Entwicklungsprozessen angesehen werden kann, blieben die traditionellen Geschlechterverhältnisse weitestgehend erhalten. Die weibliche Arbeitskraft wird dabei weiterhin in erster Linie mit Hausarbeit und nicht spezialisierter Arbeit in der Landwirtschaft und der Viehzucht verbunden (SOARES 2006: 13). Demgegenüber konnten in denjenigen Regionen, in denen sich die großen Agrarunternehmen ansiedelten (v. a. auf der Chapada do Apodi) und in denen somit die Nachfrage nach (zumeist ungelernten) Landarbeiter_innen stieg, immer mehr Frauen ein formales Beschäftigungsverhältnis in der Landwirtschaft eingehen. Nach offiziellen Angaben stieg zwischen 1985 und 2004 die Zahl der formal in der Landwirtschaft beschäftigten Frauen im Nordosten von 7.628 auf 25.586 (BEZERRA 2008: 237). Dies ermöglichte vielen Frauen im ländlichen Raum, sich unabhängiger zu machen und ihre Stellung innerhalb der Familienstrukturen, aber auch in Bezug auf gesellschaftliche Positionierungen zu verändern. Auch in einigen Interviews mit Landarbeiterinnen auf der Chapada do Apodi wurde diese Einschätzung geäußert. Gleichzeitig bedeutet jedoch die Möglichkeit, ein formales Beschäftigungsverhältnis eingehen zu können, keine automatische Veränderung von Geschlechterverhältnissen. Wenn die Reproduktionsarbeit weiterhin als weibliche Arbeit angesehen wird, können formale Beschäftigungsverhältnisse vielmehr zu einer Mehrbelastung von Frauen führen. Anhand der statistischen Erhebung der in der Landwirtschaft formal Beschäftigten wird jedoch deutlich, dass der Anstieg der in der Landwirtschaft beschäftigten Frauen nicht zu einer grundlegenden Veränderung der Geschlechterverhältnisse innerhalb der Arbeitsstrukturen führte. Waren 1985 und 1995 jeweils lediglich 15% der in der Landwirtschaft Beschäftigten Frauen, so verringerte sich ihr Anteil an den Arbeitskräften 2004 sogar noch auf 11% (s. Tab. 9). Darüber hinaus geben diese Zahlen keine Auskunft über die Art der Tätigkeit. Grundsätzlich gilt auch für das Agrobusiness, dass der Anteil der Frauen mit steigender Hierarchie innerhalb der Unternehmen sinkt. Die Führungsetagen der großen Agrarunternehmen sind durchweg männlich dominiert. Auch bei den von mir interviewten Landarbeiter_innengewerkschaften sind die Führungspositionen fast ausschließlich mit Männern besetzt. Die Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum haben zwar zur Stärkung der Subjektposition der weiblichen Landarbeiterin beigetragen. Doch allein aus diesem Grund kann noch nicht von einer grundsätzlichen Veränderung der Geschlechterverhältnisse gesprochen werden.
9.3 Verortung der Subjektpositionen innerhalb des Dürredispositivs
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Tab. 9: Formal Beschäftigte in der Landwirtschaft im Nordosten (1985–2004).
Bereits eine rein quantitative Analyse der in den Zeitungsartikeln des Diário do Nordeste aufscheinenden Sprecher_innenpositionen macht den eklatanten Unterschied zwischen dem Auftreten von männlichen und weiblichen Sprecher_innenpositionen deutlich. 89% aller kategorisierten Positionen wurden über den Namen und die Berufsbezeichnung einer männlichen Position und lediglich 11% einer weiblichen Position zugeordnet. Dabei liegt der Anteil der weiblichen Sprechpositionen in der Kategorie ‚Staat‘ am niedrigsten (6%), wobei hierbei die häufig auftretende einzelne Sprechposition des Staatssekretärs NELSON MARTINS und die rein männlichen Positionen des Militärs einen deutlichen Bias verursachen. Doch auch bei der Gruppe der Expert_innen wird die männliche Dominanz des vor allem von Ingenieuren und Agronomen besetzten Arbeitsumfeldes deutlich. Hierbei sind 87% der Sprecher_innenpositionen männlich markiert. Lediglich in einzelnen Teilbereichen, wie etwa bei der Sprechposition der Wissenschaftler_innen, scheint die männliche Dominanz etwas reduziert (77%). Bei der Gruppe der Nutzer_innen überwiegen die männlichen Positionen mit 86%, wobei die Positionen der Großgrundbesitzer und Viehzüchter ausschließlich mit männlichen Sprechern besetzt werden. Im Bereich der Zivilgesellschaft, die ohnehin nur einen geringen Anteil an den gesamten Sprecher_innenpositionen einnimmt, werden immerhin 31% von als weiblich gelesenen Positionen eingenommen. Da in den Zeitungsartikeln oftmals der Koordinator eines Programms, der Chef einer Behörde oder der Präsident einer Gewerkschaft zu Wort kommen, wird bereits über eine einfache Auszählung der Sprecher_innenpositionen die Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern deutlich. Die Analyse der Situation, die Erarbeitung von Lösungsstrategien und praktischen Handlungsanweisungen und das Auftreten in der Öffentlichkeit sind nach wie vor männlich dominierte Positionen. Ein wesentlicher Pfeiler des Integrierten Wasserressourcen Managements ist die Einführung von partizipativen Entscheidungsstrukturen, die mit der Etablierung von Wasserkomitees in Ceará institutionell verankert wurden. Über eine prozentuale Festlegung der Sitze für die einzelnen Interessensgruppen (staatliche Behörden, Munizipalregierung, Nutzer_innen, Zivilgesellschaft) soll die Beteiligung der unterschiedlichen Akteure garantiert werden. Eine geschlechtsspezifische Quotenregelung ist dabei nicht vorgesehen. Die Befragung von 626 Teilnehmer_innen von 14 verschiedenen Wasserkomitees aus ganz Brasilien durch das
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9. Konstitution von Subjekt- und Sprecher_innenpositionen
Projekt Marca d´Água ergab, dass 78% der Sitze durch männliche Teilnehmer und lediglich 22% durch weibliche Teilnehmerinnen besetzt sind (EMPINOTTI 2010: 173). Das entspricht in etwa den Erfahrungen aus dem Wasserkomitee der SubBacia Baixo Jaguaribe, bei dem 18% der Plätze von Frauen eingenommen werden (s. Kap. 7.1.2.2). Eine tiefergehende Analyse der Beteiligung von Frauen 7 innerhalb der Wasserkomitees ergab, dass diese in erster Linie der Mittel- und Oberschicht angehören, einen höheren Schulabschluss und 62% einen Hochschulabschluss vorzuweisen haben und zumeist als Vertreterinnen des öffentlichen Sektors (funcionária pública) (52%) in den Komitees agieren. Somit erscheinen sowohl die Zugehörigkeit zu einer gehobenen (Einkommens)Klasse als auch der Zugang zu Bildung und dadurch auch zu den Bewerbungsverfahren im öffentlichen Dienst (concurso público) als wesentliche Voraussetzungen für die Beteiligung von Frauen an den Entscheidungsprozessen (ebd.). Neben der Unterrepräsentation von Frauen in den Komitees ist auch ihr Anteil an entscheidungsbestimmenden Positionen gering. Insbesondere die Präsidien der Wasserkomitees, die die Sitzungen leiten und repräsentative Aufgaben nach außen übernehmen, sind in erster Linie mit Männern besetzt (ebd.: 181). Somit erscheint auch eine institutionalisierte Verankerung von partizipativen Entscheidungsstrukturen an sich kein Garant dafür zu sein, dass geschlechtsspezifische Zuschreibungen aufgehoben werden können. 9.4 Wissen als zentrales Anordnungskriterium Mit der Etablierung des Integrierten Wasserressourcen Managements in Ceará hat sich eine spezifische Akteurskonstellation herausgebildet, die mit dem Dispositiv der Dürre im Nordosten verwoben ist. Über die spezifischen Diskurse, Praktiken und Institutionalisierungen werden dabei Subjektpositionen zur Verfügung gestellt und in ständigen Aushandlungsprozessen neu entworfen, verändert, gestärkt und verfestigt. Nach wie vor spielten der Staat und Vertreter_innen staatlicher Organisationen dabei die zentrale Rolle. Die Legitimation einer solch zentralen Position des Staates wird dabei sowohl über die konkreten Praktiken des Helfens und der Umsetzung von Lösungsansätzen als auch über die Verfügung über spezialisiertes Wissen bezogen. Gerade aufgrund der spezifischen Situation des Wassersektors, in dem sich naturwissenschaftlich-technische und sozialwissenschaftli7
Um eine essentialistische Konzeptionierung der Subjektposition ‚Frau‘ zu vermeiden, erscheint es sinnvoll, neben dem Geschlecht noch weitere Kategorien in die Analyse mit einzubeziehen. Dabei wurde deutlich, dass die meisten Mitglieder der Wasserkomitees der Mittelund Oberschicht zuzuordnen sind. Somit scheint die ökonomische Stellung eines der wichtigsten Zugangskriterien zu den Wasserkomitees darzustellen. Wenn nun aber die Mitglieder der Komitees überwiegend der gleichen gesellschaftlichen Klasse zugeordnet werden können, erscheinen die geschlechtsspezifischen Besetzungen von Positionen innerhalb der Komitees durchaus relevant, ohne dabei jedoch von einer homogenen Gruppe der ‚Frauen‘ ausgehen zu wollen (EMPINOTTI 2010: 170).
9.4 Wissen als zentrales Anordnungskriterium
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che Fragestellungen überschneiden, wird Wissen zum zentralen Anordnungskriterium innerhalb der Akteurskonstellation. Somit wird die Subjektposition des_der Expert_in zur wichtigsten Rolle, die von allen Akteursgruppen eingenommen werden muss, um sich innerhalb des Dürrediskurses Gehör verschaffen zu können. Der akademische Grad und die Art der Ausbildung werden dadurch zu den zentralen Zulassungskriterien für die Teilnahme am Dürrediskurs, wodurch traditionelles Wissen und die Subjektpositionen von Kleinbäuer_innen oder Flussanrainer_innen, deren Legitimation in erster Linie auf eigenen Erfahrungen aus den spezifischen Lebenswirklichkeiten beruht, marginalisiert werden. Auf diese Weise wird ihnen die Aneignung und Einnahme einer aktiven, selbstermächtigenden Position erschwert. Demgegenüber erfährt die Position des Agrobusiness und dessen Expert_innen durch die Anlehnung an diskursive Stränge über Knappheit und Effizienz und durch die Verfolgung eines wissens- und technologiebasierten Fortschrittsmodells eine deutliche Stärkung innerhalb des Dispositivs. Auch Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, insbesondere von etablierten NGOs, können über ihren Zugang zu Spezialwissen oftmals Expert_innenrollen einnehmen und dadurch legitime Orte des Sprechens und Fürsprechens besetzten. Aufgrund des inzwischen weitestgehend gleichberechtigten Zugangs zu Bildung für Männer und Frauen in Brasilien – was sich etwa in der Tatsache äußert, dass mittlerweile mehr Frauen als Männer an den Universitäten Brasiliens eingeschrieben sind (EMPINOTTI 2010: 173 f.) – besteht für Frauen die Möglichkeit, die Subjektposition der Expertin einzunehmen. Als solche kann sie sich als Vertreterin einer NGO, einer Behörde oder eines Unternehmens Gehör innerhalb des Diskurses verschaffen. Demgegenüber sind zunächst keine Hinweise erkennbar, dass die traditionellen Geschlechterverhältnisse über den Diskurs des Wassermanagements, über Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum oder institutionalisierte Partizipationsprozesse aufgebrochen werden. Die Legitimation der Sprecher_innenposition und die Anordnung der Subjektpositionen innerhalb der Akteurskonstellation sind somit abhängig vom Grad der Institutionalisierung, der zugeschriebenen Verfügungsgewalt über akzeptiertes Spezialwissen und der Beziehung zu den dominanten Diskurssträngen. Der Leiter des Sekretariats für Agrarentwicklung besitzt eine größere Handlungslegitimation als eine Vertreterin einer NGO, eine Ingenieurin verfügt über eine größere Sprechautorität als ein Kleinbauer und ein Verfechter des Ansatzes der Wassersicherheit muss sich weniger rechtfertigen als eine Kritikerin der Transposição. In all diesen Zuweisungs- und Abgrenzungsprozessen kommen Machtverhältnisse zum Tragen, die ein- und ausschließen, stärken und schwächen, befähigen und verhindern. Somit sind Subjektpositionen immer als Effekte von Machtverhältnissen zu verstehen, die durch diese strömen und gleichzeitig von ihnen (re)produziert werden. Subjektpositionen sind selbst Austragungsorte von Machtkämpfen, die über Zuweisung und Selbstaneignung immer wieder neu ausgetragen werden.
10. MATERIALISIERUNGEN Ähnlich wie Subjektpositionen erst über Diskurse konstituiert werden, sind auch Raumstrukturen weder natürlich noch vorgegeben. Sie werden vielmehr diskursiv hervorgebracht und sind als Teil sozialer Bedeutungssysteme immer auch Resultate gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Während in Kapitel fünf die Zusammenhänge zwischen naturräumlichen und klimatischen Bedingungen und der symbolischen Repräsentation von Räumlichkeit in einer historischen Perspektive im Vordergrund standen, sollen nun die konkreten, stofflich materiellen Objekte und Strukturen und ihr Eingebettetsein in Diskurse und gesellschaftliche Verhältnisse nachgezeichnet werden. Dabei wird der Fokus auf der Region BaixoJaguaribe im Bundesstaat Ceará und auf einigen wenigen, aus dem Dürrediskurs ableitbaren, nicht-urbanen Raumstrukturen und Verdinglichungen liegen. Die Vielschichtigkeit und Komplexität räumlicher Strukturen macht eine solche Reduktion auf einzelne, besonders wirkmächtige Beispiele notwendig. Jedoch lassen sich daraus interessante Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Diskurs und Materialität ziehen, die durchaus über die Fallbeispiele hinaus relevant sein können. Raumstrukturen, die gebaute Umwelt (DAVID HARVEY) und einzelne Artefakte sind weder einfach vorhanden noch neutral. Vielmehr können sie als Bedeutungsträger verstanden werden, die auf spezifische Wertesysteme, gesellschaftliche Organisationsprinzipien und Machtverhältnisse verweisen. Die Anordnung und Ausgestaltung von Verkehrswegen, Infrastruktureinrichtungen, Städten, öffentlichen Plätzen oder einzelnen Gebäuden sind immer mit Bedeutung aufgeladen und geben somit Auskunft über das in ihnen zum Tragen kommende Wissen und über die in ihnen angelegten Handlungsanweisungen. Der physischmateriellen (An)Ordnung der Dinge liegt eine diskursive Ordnung der Dinge zugrunde. Über diskursive Wissensordnungen und Bedeutungssysteme wird Materialität wahrgenommen und interpretiert, hervorgebracht und ‚neu‘ gestaltet. Auch MICHEL FOUCAULT interessierte sich für die Zusammenhänge zwischen architektonischen Anordnungen und Machtverhältnissen. In ‚Überwachen und Strafen‘ geht er in Anlehnung an das Panoptikum von BENTHAM insbesondere auf die Machtwirkung der Gefängnisarchitektur ein, die ein bestimmtes Verhalten der Individuen konditioniert und Überwachungspraktiken in Praktiken der Selbstkontrolle verwandelt. Dabei geht die Machtwirkung nicht von einzelnen Personen, sondern von der mit Bedeutung aufgeladenen Anordnung der Dinge aus: „Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken“ (FOUCAULT 1977: 259).
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10. Materialisierungen
Natur und gebaute Umwelt können somit immer auch als Vergegenständlichung von sozialen Beziehungen gelesen werden, über die Macht ausgeübt wird (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 103; WISSEN 2011: 105 f.). Indem gesellschaftliche Verhältnisse und Wissenssysteme über den Bau von Staudämmen, über die Gestaltung von Gebäuden und die Aufteilung von Territorien in die Umwelt eingeschrieben werden, werden sie ‚manifest‘ und auf Dauer gestellt. Gerade durch ihre Verankerung im physischen Raum und in materiellen Arrangements erhalten sie ihre Stabilität und ihr überindividuelles Beharrungsvermögen. Ihnen kommt somit eine „starke Verbindlichkeit für die Wahrnehmung und das Handeln“ (KLÖPPEL 2010: 256) zu, sie werden verstetigt und lassen sich nur unter erheblichem Aufwand wieder verändern (SCHROER 2008: 145; BAURIEDL 2008: 308). Die Materialität von Raumstrukturen und Artefakten wirkt auf die Handlungsweisen von Akteuren disziplinierend. Indem bestimmte Verhaltensweisen erleichtert, andere erschwert werden, werden Handlungen kanalisiert und geleitet. In den Dingen selbst sind bestimmte Handlungsskripte (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 103) eingeschrieben, die Verhaltens- und Gebrauchsweisen zwar nicht determinieren, aber doch wahrscheinlicher machen. Das Vorhandensein von Zugangswegen oder Zäunen, die Architektur eines Kanals oder die räumliche Verteilung von Staubecken ermöglichen eine ganz bestimmte Art der Wassernutzung für Teile der Gesellschaft, während andere Nutzungsarten und soziale Gruppen tendenziell ausgeschlossen oder verdrängt werden. Eine Verfestigung gesellschaftlicher Beziehungen und Machtverhältnisse erfolgt jedoch nicht nur über die stofflich-materielle Dimension und das physische Beharrungsvermögen von Gegenständen. Vielmehr wirken Vergegenständlichungen auf Handlungsweisen ein, da gesellschaftliche Verhältnisse über ihre Einschreibung in Raum- und Körperstrukturen nicht länger als sozial produzierte und somit immer veränderbare Verhältnisse wahrgenommen werden. Sie werden über die materielle Sphäre zu ‚natürlichen‘ und somit zu unhinterfragbaren Gegebenheiten. Über eine solche Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse werden die Konflikte und Aushandlungsprozesse, die beispielsweise dem Bau eines Staudamms oder der Architektur eines Gebäudes zugrunde liegen, der Kontingenz der Geschichtlichkeit entzogen und zum Verschwinden gebracht. Die materielle Existenz führt tendenziell zu einer Verfestigung von Wahrnehmungen und einer Akzeptanz von (Diskurs)Ordnungen: „Zum anderen ruft ‚die Einschreibung der sozialen Realität in die physische Welt‘ einen ‚Naturalisierungseffekt‘ hervor, der die sozial geschaffenen Unterschiede wie natürlich bestehende Unterschiede erscheinen läßt. Die räumliche Objektivierung sozialer Tatbestände verfestigt also nicht nur bestehende soziale Ungleichheiten, womit sie sich als Hemmschuh für sozialen Wandel erweist, sie trägt zusätzlich noch zur Verschleierung sozial hergestellter Realitäten bei, indem diese der ‚Natur der Dinge‘ zugeschrieben werden“ (SCHROER 2008: 145).
Dominante Diskursstränge schreiben sich über Materialisierungen in die Umwelt ein und werden so verfestigt und unsichtbar gemacht. Sie bilden die Grundlage für eine bestimmte Art der Aneignung und Transformation von Natur, über die gleichzeitig wiederum Natur und somit Wirklichkeit (re)produziert werden. In
10.1 Zäune als Materialisierung von Machtverhältnissen
301
diesem Kontext müssen Raumstrukturen und Materialität als Teil des Prozesses der gesellschaftlichen Produktion von Wirklichkeit verstanden und auf ihren Beitrag zur Hegemonialiserung und Stabilisierung bestehender Gesellschafts- und Machtverhältnisse hin untersucht werden. 10.1 ZÄUNE ALS MATERIALISIERUNG VON MACHTVERHÄLTNISSEN Das hier dargestellte Dispositiv der Dürre entfaltet sich über Subjektpositionen, Praktiken, Institutionalisierungen, Diskurse und deren Materialisierungen. Raumstrukturen und Artefakte stellen dabei sowohl die physisch-materiellen Voraussetzungen für die diskursive und praktische Aneignung von Natur als auch deren Ergebnisse dar. So können etwa Besitzstrukturen als eine Form der Materialisierung von Machtverhältnissen angesehen werden, die diese wiederum stabilisieren. Die Besitzverhältnisse im Nordosten Brasiliens sind sowohl das Resultat einer langen Geschichte kolonialer und postkolonialer Raum- und Naturaneignung im Kontext einer extrem ungleichen Gesellschaftsstruktur als auch die Voraussetzung für die Reproduktion dieser Ungleichheitsverhältnisse. Insbesondere in dem Gegensatz zwischen den großen Fazendas der Familienclans und der besitzlosen abhängigen Bevölkerung manifestieren sich die ungleichen sozialen Verhältnisse. Gleichzeitig stellt der Besitz von Land in einer agrarisch geprägten Gesellschaft eine unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftliche und politische Macht dar (s. Kap. 6.2.1). Dabei wurden über verschiedene gesetzliche Regelungen (lei das terras, Estatuto da Terra (Kap. 6.3.3)) diese Ungleichheitsverhältnisse im Laufe der Geschichte weiter festgeschrieben und institutionalisiert. Durch die Modernisierung der Landwirtschaft seit den 1960er Jahren (s. Kap. 6.3.3.2) wurden auf den großen Fazendas immer mehr abhängig Beschäftigte durch Tagelöhner_innen und temporär Beschäftigte ersetzt, so dass ein Heer von Landarbeiter_innen auf der Suche nach Überlebensstrategien vermehrt kleine Parzellen für die Subsistenzlandwirtschaft kaufte oder pachtete (JACQUET 2000). Dies führte in Ceará zu einem rasanten Anstieg der Klein- und Kleinstbetriebe mit einer Betriebsgröße von weniger als 10 ha von 20.991 Betrieben im Jahr 1950 auf 296.994 im Jahr 2006 (s. Abb. 24) (WAVES-FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT 2000: 37; Franca 2009: S. 60). Dadurch wurde die extreme Aufsplitterung und Ungleichverteilung des Landbesitzes in Ceará noch weiter verschärft. Mit den Zahlen des Agrarzensus von 2006 lässt sich die Landkonzentration in Ceará auch für die aktuelle Situation belegen: Ca. 78% der Agrarbetriebe mit einer Betriebsgröße von unter 10 ha verfügen über weniger als 7% der landwirtschaftlich genutzten Fläche, während weniger als 1% der Betriebe mit einer Größe von über 1.000 ha mehr als 18% der Fläche einnehmen (IPECE 2007). Diese Ungleichverteilung muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass aufgrund der klimatischen Bedingungen ein Betrieb mit einer Betriebsgröße von unter 50 ha in vielen Fällen ein Durchschnittseinkommen generiert, das noch unter dem Grenzwert der extremen Armut liegt (CALCAGNOTTO 2011: 341). Auch wenn solche statistischen Erfassungen und Grenzwerte die realen Bedingungen der Subsistenzwirtschaft nicht
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10. Materialisierungen
erfassen können, zeigen sie dennoch die Bedeutung von Land für die Überlebenssicherung innerhalb eines semiariden Kontextes auf.
Abb. 24: Entwicklung der Besitzstrukturen in Ceará 1950–2006.
Die (relative) Größe eines Besitzes stellt jedoch nicht nur die Grundvoraussetzung für die spezifische Art der Landnutzung und die wirtschaftliche Situation der ländlichen Bevölkerung dar. Auch die einnehmbaren Machtpositionen sind in einer agrarisch geprägten Gesellschaft eng mit der Größe des Landbesitzes verbunden. Darüber hinaus ist in einer semiariden Region die exklusive Verfügungsgewalt über Land direkt mit dem Zugang zu und der Verfügung über Wasserressourcen verbunden. Zäune stellen somit die wirkmächtigsten und symbolträchtigsten Materialisierungen der Ungleichheitsverhältnisse dar, was sich unter anderem in dem populären Sprichwort äußert: „o problema não é a seca, mas a cerca 1“ (LIMA & BOTÃO 2006: 48).
1
„Das Problem ist nicht die Dürre, sondern der Zaun“ (LIMA & BOTÃO 2006: 48; eigene Übersetzung).
10.1 Zäune als Materialisierung von Machtverhältnissen
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Abb. 25: Zäune als unmittelbarer Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse.
In Räumen lesen: Das Beispiel der Chapada do Apodi Institutionalisierte Regelungen von Landbesitz, Arten der Bodennutzung, Bewässerungstechniken und letztendlich auch die Ausrichtung der Agrarpolitik schreiben sich in die Umwelt ein und lassen sich somit auch an den Raumstrukturen ablesen. Beispielsweise geben die auf einem Luftbild von Google Maps ersichtlichen Raumstrukturen auf der Chapada do Apodi, einer Hochebene im Nordosten des Bundesstaates Ceará (s. Abb. 26), Hinweise auf die Art und Weise der Landnahme, der Bodennutzung, des Bewässerungssystems und auf die Besitzstrukturen. Die kreisrund angelegten Felder verweisen auf die Bewässerung mittels großer Beregnungsanlagen (Pivot- oder Mittelgelenk-Bewässerungssystem), die sowohl hohe Investitionskosten als auch eine gesicherte Wasserversorgung erfordern. Die großen, gleichmäßig angelegten Parzellen, die keinerlei Siedlungsstrukturen aufweisen, deuten auf eine zentrale Planungsstruktur, eine monokulturelle Nutzung und auf Großgrundbesitz hin.
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10. Materialisierungen
Abb. 26: Raumstrukturen auf der Chapada do Apodi.
Tatsächlich gehören die Flächen auf der Chapada do Apodi teilweise zu einem Bewässerungsprojekt, das ab Mitte der 1980er Jahre geplant und Anfang der 1990er Jahre umgesetzt wurde. Nach der Enteignung der ansässigen Bevölkerung – die nur zu einem geringen Teil wieder in das Projekt integriert wurde – und der Zurverfügungstellung der Parzellen und der Transport- und Wasserinfrastruktur durch den Staat, begannen Ende der 1990er Jahre nationale und internationale Agrarunternehmen Land auf der Chapada do Apodi aufzukaufen und die Region in einen der wichtigsten Pole der Bewässerungslandwirtschaft in Ceará zu verwandeln. Damit einher ging ein intensiver Konzentrations- und Exklusionsprozess, durch den die kleinbäuerliche Landwirtschaft sukzessive verdrängt wurde (FREITAS 2010: 101). Innerhalb des Bewässerungsprojektes besitzen Kleinbäuer_innen zwar nach wie vor 1.815 ha, was 64% der bewässerten Fläche darstellt (ADECE 2011: 9). Doch außerhalb des Projektes hat sich das Agrobusiness auf den überaus fruchtbaren Böden der Hochebene ausgebreitet. Laut offiziellen Angaben besitzen in der Region sechs nationale und multinationale Unternehmen über 9.000 ha Land, wobei 5.960 ha allein auf das Unternehmen Fresh Del Monte Produce Inc. entfallen (FREITAS 2010: 70). Die Flächen, über die die Unternehmen de facto verfügen können, gehen jedoch noch über diese offiziellen Angaben hinaus. Zum einen sind – laut Angaben von Vertreter_innen von NGOs – viele Flächen nicht offiziell registriert, zum anderen werden weitere Landeigentümer_innen über verbindliche Abnahmeverträge in die Produktionsstrukturen der Unternehmen integriert. So können beispielsweise zu den 1.000 ha, die das Unternehmen Fruta Cor auf der Hochebene besitzt, noch einmal 950 ha hinzugezählt werden, auf denen unter Einhaltung genauer Produktionsvorgaben (Übernahme der Setzlinge, Einsatz bestimmter Chemikalien, Einhaltung der Erntezeiten) Ba-
10.2 (Wasser)Infrastruktursysteme als Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen
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nanen von verschiedenen Produzent_innen für das Unternehmen angepflanzt werden (ebd. und eigene Erhebungen). An der Strukturierung des Raumes auf der Hochebene von Apodi wird deutlich, wie sich bestimmte Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung und eine Agrarpolitik, die sich auf die Förderung des Agrobusiness konzentriert, in den Raum einschreiben. Wesentliche Voraussetzung für die Etablierung großflächiger Bewässerungsprojekte ist dabei die Garantie der Befriedigung der immensen Wassernachfrage. Im Kontext der neoliberalen Umstrukturierungsmaßnahmen der 1990er Jahre verlor der Staat mehr und mehr seine Rolle als Betreiber von Bewässerungsprojekten. Gleichzeitig wurde ihm die Aufgabe zugeschrieben, die benötigten Rahmenbedingungen zu schaffen und die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Dabei kommt der Bereitstellung der Wasserinfrastruktur eine Schlüsselrolle zu. 10.2 (WASSER)INFRASTRUKTURSYSTEME ALS SCHNITTSTELLE DER MENSCH-UMWELT-BEZIEHUNGEN Infrastruktureinrichtungen können als „großräumige technische Systeme“ bezeichnet werden, die „sich aus immobilen physischen Komponenten zusammensetzen und die zentrale, d.h. notwendige und nur schwer substituierbare private und öffentliche Dienstleistungen bereitstellen, indem sie bestimmte Produkte/Informationen speichern, umwandeln und transportieren“ (SCHEELE in NAUMANN & MOSS 2012: 3).
In diesem Sinne wird über die Infrastruktureinrichtungen der Wasserversorgung wie Stauseen, Kanäle, Pumpstationen etc. Wasser gespeichert, transportiert und für die Bewässerungslandwirtschaft, die Industrie und für den privaten Verbrauch zur Verfügung gestellt. Dabei wird Wasser von einem Bestandteil der Natur in ein sozial hergestelltes Produkt verwandelt. Mit Hilfe solch physischer Komponenten der gebauten Umwelt wird folglich Natur in kommodifizierte Natur transformiert, die gemessen, bewertet und verkauft werden kann. Somit stellt die Wasserinfrastruktur eine zentrale Schnittstelle der Mensch-Umweltbeziehungen dar, über die der Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft ermöglicht und organisiert wird. Staudämme und Kanäle erscheinen als zentrale Elemente der Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens (KAIKA 2005: 4; WISSEN & NAUMANN 2008: 25; MOSS & HÜESKER 2010: 11; MONSTADT & NAUMANN 2004: 5). Dabei kann das Vorhandensein der Wasserinfrastruktur nicht nur in einer strukturpolitischen Sichtweise als Standortfaktor und Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Entwicklung einer bestimmten Region angesehen werden. Vielmehr sind Infrastruktureinrichtungen immer auch Ausdruck sozialräumlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse (NAUMANN & MOSS 2012: 5 f.; WISSEN & NAUMANN 2008: 25). Wie anhand der Überlegungen von KARL AUGUST WITTFOGEL zur orientalischen Despotie in Kap.
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10. Materialisierungen
4.4.2 diskutiert wurde, sind Wasserinfrastrukturen mit bestimmten Diskursen, Praktiken, Subjektpositionen, Wissensformen, Institutionalisierungen und Gesellschaftsordnungen verbunden und somit immer auch Teil von Machtverhältnissen. Über die Größe, die technischen Bedingungen und die räumliche Verteilung der Infrastruktureinrichtungen wird Kontrolle über den Zugang zu und die Verteilung von Wasser und somit letztendlich auch Herrschaft ausgeübt. Wasserinfrastruktureinrichtungen können dabei sowohl zu einem gleichberechtigteren Zugang zu Wasser und zu einer Erhöhung der gesellschaftlichen Teilhabe, als auch zu neuen sozial-räumlichen Disparitäten und letztendlich zu einer Verschärfung von Ungleichheitsverhältnissen beitragen. Staudämme als Tempel der Moderne In den Großprojekten der Wasserinfrastruktur manifestieren sich somit auch gesellschaftliche Machtverhältnisse und diskursiv vermittelte Vorstellungen über Staatlichkeit, Modernität, Fortschritt und die Beherrschung von Natur. Wenn JAWAHARLAL NEHRU als Ministerpräsident Indiens Staudämme als die „Tempel der Moderne“ bezeichnet (LINTON 2008: 640), dann drückt sich darin die besondere Symbolkraft gebauter Umwelt und der aufklärerische Glaube an technologischen Fortschritt, Vernunft und Rationalität aus: „A dam is one of the ultimate expressions of technological modernity, and around the world their construction came to exemplify the spirit of modern progress and the achievements of instrumental reason and rationality“ (HEIDEGGER in ALLON 2006).
Ob in Spanien unter FRANCO, in Ägypten unter NASSER oder in Indien unter NEHRU – weltweit wurden Staudämme im Laufe des 20. Jahrhunderts zu symbolträchtigen Prestigeobjekten, in denen sich gleichzeitig die Beherrschung der Natur und die Festigung eines modernen Nationalstaates ausdrücken sollte. Als ingenieurstechnische Meisterleistungen wurden Staudämme zu den wichtigsten Projekten des prometheischen Traumes der Eroberung und Kontrolle von Natur (KAIKA 2005; KAIKA 2006: 276). Gleichzeitig wurden sie zu zentralen Elementen der Formierung von modernen, industrialisierten Nationalstaaten, indem sie den Nationalstolz bedienten und zur Stärkung und Legitimierung von Führungspersonen und Politiken beitrugen (MOLLE 2008: 217 f.; ALIER 2007: 178). 10.2.1 Wasserinfrastruktursysteme in Ceará Die Wasserinfrastruktur für den ländlichen Raum in Ceará besteht hauptsächlich aus Staubecken und Stauseen, Rohrleitungen, Tunneln, Kanälen, Pumpwerken und Brunnen. Dabei schwanken die Angaben über die Anzahl der Stauseen und Kanalkilometer je nach Quelle teilweise erheblich. Das Sekretariat für Wasserressourcen von Ceará geht davon aus, dass im gesamten Bundesstaat rund 30.000 Stauwehre existieren (SRH 2005: 175). Die meisten davon sind jedoch nur kleine-
10.2 (Wasser)Infrastruktursysteme als Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen
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re Becken, die bereits bei einer ‚normalen‘ Dürreperiode innerhalb von nur drei Monaten austrocknen (FISCHKORN et al. 2003: 89). Über 90% der speicherbaren Wassermenge des Bundesstaates (17,8 Mrd. m3 Wasser) befindet sich jedoch in den 126 bundes- und nationalstaatlichen Stauseen, die von der COGERH kontrolliert und gewartet werden (COGERH 2007: 19). Allein 6,7 Mrd. m3 (rund 33%) entfällt dabei auf den größten Stausee des Bundesstaates, den Castanhão, der auch als Lunge des Wasserverteilungssystems bezeichnet wird (ARAÚJO 2006a: 27). Neben 23.000 Brunnen, über die rund 1,1 Mio. Menschen mit Wasser versorgt werden können (SILVA et al. 2007), werden im strategischen Plan der Wasserressourcen des Bundesstaates 17 große Pumpstationen, 210 Kanalkilometer, 300 km Rohrleitungen und 2.500 Flusskilometer, die ganzjährig mit Wasser gespeist werden, aufgezählt (ASSEMBLEIA LEGISLATIVA DO ESTADO DO CEARÁ & CONSELHO DE ALTOS ESTUDOS E ASSUNTOS ESTRATÉGICOS 2009: 232). Mit dem Plan der Integration der Wassersysteme (integração de bacias) wird dieses System noch einmal erheblich erweitert. Wichtigster Bestandteil ist dabei die Ableitung des São Francisco Flusses, dessen Nordkanal Wasser in die Bundesstaaten Ceará und Paraíba befördern wird. Von den rund 410 Kanalkilometern wird jedoch nur ein geringer Teil in Ceará verlaufen. Das Wasser des São Francisco wird bereits im Südosten des Bundesstaates in den Rio Salgado eingeleitet und gelangt somit in das Wassersystem des Rio Jaguaribe und in den Stausee Castanhão. Dieser wird dadurch zur wichtigsten Wasserverteilungsstelle in Ceará (MIN 2013). Davon ausgehend gelangt das Wasser entweder in den Unterlauf des Rio Jaguaribe, von wo es beispielsweise über eine Pumpstation auf die Hochebene von Chapodi befördert wird. Die weitere Abflussmöglichkeit besteht über den 255 km langen Kanal der Integration (Eixão), über den das Wasser des Castanhão in die Metropolitanregion von Fortaleza und den Industriehafen von Pecém geleitet wird (s. Abb. 27) (GOVERNO DO ESTADO DO CEARÁ O. J.). 10.2.2 Die Flussableitung des Rio São Francisco Mit über 2.800 km ist der Rio São Francisco einer der längsten Flüsse Südamerikas und der wichtigste Fluss des Nordostens Brasiliens. In vorkolonialer Zeit war der Opará (Fluss-Meer) die wichtigste Wasserquelle und Kommunikationslinie im Sertão. Auch bei der kolonialen Erschließung und Inbesitznahme des Hinterlandes durch die bandeirantes stellte der Fluss die zentrale Verbindungsachse zwischen dem Nordosten und den Regionen im Westen und Südosten des neu erschlossenen Territoriums dar, so dass er – trotz der damit verbundenen Vertreibung und Vernichtung eines Großteils der indigenen Bevölkerung – bis heute als ‚Fluss der Nationalen Einheit‘ bezeichnet wird. Vor allem in den traditionellen Liedern des Nordostens und den Legenden und Gedichten der Volksliteratur (Cordel) taucht der velho chico, wie der Fluss auch liebevoll genannt wird, in unterschiedlichsten Varianten immer wieder auf (COELHO 2005; SCHMITT 2010b: 15).
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Bereits 1847 kamen die ersten Vorschläge auf, Wasser aus dem São Francisco in weiter nördlich gelegene Flusssysteme umzuleiten (BORGES 1999: 218). Die verheerenden Auswirkungen der sogenannten ‚Großen Dürre‘ von 1877–79 (s. Kap. 6.2) führten dann letztendlich dazu, dass solche Ideen ernsthaft in Erwägung gezogen wurden. Selbst Kaiser Dom Pedro II. schienen die Ereignisse im entfernten Nordosten zum Handeln zu nötigen, so dass ihm der Ausruf zugesprochen wird: „Venda-se o último brilhante da minha coroa, contanto que não morra um cearense de fome 2“ (KLEIN FILHO 2001). 1886 erstellte der cearensische Ingenieur TRISTÃO FRANKLIN ALENCAR LIMA die ersten Ableitungspläne, doch die staatliche Behörde zur Dürrebekämpfung IOCS kam 1912 nach einer topographischen Erhebung der Region zu dem Schluss, dass ein solches Projekt nicht durchführbar wäre (COELHO 1985: 32). Diese Einschätzung revidierte sie etliche Jahrzehnte später jedoch wieder. Mitte der 1980er Jahre präsentierte die mittlerweile in DNOCS umbenannte Behörde Pläne zum Bau eines Ableitungskanals, der Wasser in die Staudämme Armando Ribeiro Gonçalves in Rio Grande do Norte und den – noch zu erbauenden – Staudamm Castanhão leiten sollte (MIN o. J.). Unter PRÄSIDENT FERNANDO HENRIQUE CARDOSO wurde Ende der 1990er Jahre das Umleitungsprojekt erneut forciert, scheiterte aber unter anderem an dem Widerstand der oppositionellen Arbeiterpartei PT unter Leitung von LUIZ INÁCIO LULA DA SILVA (EBERTZ 2009: 53). Dieser nahm jedoch bereits in seiner ersten Amtsperiode als Präsident Brasiliens das Ableitungsprojekt in das Regierungsprogramm auf und stilisierte sich fortan zu dem Präsidenten, der – als Nordestino – dem Nordosten das Wasser bringen wird (vgl. Kap. 8.3.1). Da aufgrund zahlreicher Proteste und verschiedener Gerichtsverfahren der Baubeginn des Projektes immer wieder verschoben werden musste, entschloss sich die Regierung LULA im Mai 2007, das Militär zum Bau der Transposição einzusetzen. Als Projekt zum ‚Wohle der Nation‘ ernannt, konnte es somit trotz anhängiger Klagen und nicht abgeschlossener Genehmigungsverfahren begonnen werden, was unter anderem den enormen politischen Willen der Regierung an der Durchführung des Projekts zum Ausdruck brachte (ZELLHUBER 2008: 29). War zunächst geplant, 300 m3/s in nur einem Kanal nach Ceará und Rio Grande do Norte ausschließlich für Bewässerungszwecke abzuleiten, so haben sich die Pläne im Laufe der Jahre immer wieder verändert, wurden kritisiert und neu bearbeitet. Mittlerweile sieht das Projekt vor, über zwei Kanäle (einen Nordund einen Ostkanal) 127m3/s – bzw. bei geringem Wasserstand die heftig umstrittenen 26,4 m3/s – abzuleiten (s. Kap. 8.3.4). Offizielle Begründung der Flussableitung stellt nun die Versorgung von 12 Mio. Menschen in 391 Munizipien in der semiariden Region des Nordostens dar, was von dem Wasserkomitee des São Francisco als einzig möglicher Grund für die Ableitung akzeptiert wurde (MIN 2013). 2
„Selbst der letzte Edelstein meiner Krone soll noch verkauft werden, damit kein Cearense mehr an Hunger stirbt“ (KLEIN FILHO 2001; eigene Übersetzung).
10.2 (Wasser)Infrastruktursysteme als Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen
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Abb. 27: Die Kanäle des Ableitungsprojektes und schematische Darstellung der Baumaßnahmen.
Hauptempfänger des Wassers der Transposição ist der Bundesstaat Ceará, der 41% des Wassers erhalten soll, während nach Paraíba und Pernambuco jeweils 24% und nach Rio Grande do Norte nur 10% der gesamten Wassermenge fließen soll (ANA 2005: 8). Die Umsetzung des Ableitungsprojektes stellt ein gigantisches Bauvorhaben und eine ingenieurstechnische Herausforderung dar. Mit Hilfe von neun Pumpstationen müssen beim Nordkanal 180 Meter Höhenunterschied und beim Ostkanal 300 Höhenmeter überwunden werden. Darüber hinaus sind 30 Staudämme, 27 Aquädukte, acht Tunnel und insgesamt 627 Kanalkilomter (410 km Nordkanal;
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217 km Ostkanal) vorgesehen. Ursprünglich waren 4,5 Mrd. R$ Projektkosten veranschlagt worden, doch das Integrationsministerium geht bereits jetzt davon aus, dass die Kosten auf 8,2 Mrd R$ (rund 3,18 Mrd. €) steigen werden, wobei erst rund 43% der Arbeiten abgeschlossen sind (Stand Januar 2013) (MIN o. J.), (MIN 2013). Somit stellen die Kanäle des Ableitungsprojektes tiefe Einschnitte in die (symbolische) Landschaft des Nordostens dar. Sie stehen für die Umsetzung eines jahrhundertealten Traumes der Beherrschung der Natur und knüpfen dabei direkt an die Politik der solução hidráulica zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Kap. 6.2.6.2) an. Da das Projekt trotz heftiger Kritik von Seiten vieler zivilgesellschatflicher Gruppen, die vor allem die Missachtung der Rechte von indigenen und Quilombola-Gemeinschaften 3, die ökologischen Auswirkungen, die erwartbaren hohen Wasserpreise und die einseitige Ausrichtung auf die Industrie und das Agrobusiness kritisieren, umgesetzt wird, können die Ableitungskanäle als Manifestation und Festschreibung von Machtverhältnissen angesehen werden (s. zur Kritik u. a. KHOURY 2008; SIQUEIRA 2012; SUASSUNA 2007; ZELLHUBER & SIQUEIRA 2007). 10.2.3 ‚O Sertão vai virar mar‘ – Der Castanhão als Ort der Verheißung Parallel zu den Plänen der Flussableitung des São Francisco gab es bereits 1911 erste Überlegungen, den Rio Jaguaribe an der Stelle des heutigen Castanhão aufzustauen. Doch ebenfalls erst Anfang der 1980er Jahren wurden diese Ideen wieder aufgenommen (LIMA & BOTÃO 2006: 59). Zwischen den Jahren 1982 und 1984 fertigte der DNOCS erste Studien zum Bau des Staudamms an, der als Teil der Flussableitung des São Francisco dazu dienen sollte, 200.000 ha Land auf der Chapada do Apodi zu bewässern (MONTE 2005: 229). Diese durchaus ehrgeizigen Pläne wurden jedoch dahingehend verändert, dass durch den Bau des Castanhão erst einmal genügend Wasser zur Verfügung stehen sollte, um 75.000 ha Land auf der Hochebene zu bewässern – die übrigen 125.000 ha sollten dann erst mit der Ankunft des Wassers der Transposição versorgt werden. Schließlich wurde die prognostizierte Größe der durch den Bau des Staudamms bewässerbaren Fläche auf 30.000 ha auf der Chapada und 58.000 ha entlang des Flusslaufes des Rio Jaguaribe korrigiert (ebd.: 230). Doch es brauchte weitere zehn Jahre, bis die Bauarbeiten für die Staumauer 1995 schließlich beginnen konnten. Innerhalb der politischen und diskursiven Neuausrichtung in den 1990er Jahren wurde die Idee, durch den Bau großer Infrastrukturprojekte, mit deren Hilfe nationale und internationale Investitionen angelockt werden sollten, ‚Entwicklung‘ voranzubringen, erneut gestärkt (LIMA & 3
Quilombolas sind Nachfahren entflohener Sklav_innen, die sich selbst als solche definieren und die in eigenen Gemeinschaften (Quilombos) gelebt haben oder heute noch leben (vgl. Dekret 4.887/2003).
10.2 (Wasser)Infrastruktursysteme als Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen
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BOTÃO 2006: 56). Zur Begründung des Bauvorhabens wurde dabei sowohl die Entwicklung der Landwirtschaft, insbesondere mit der Bewässerung von nunmehr 43.000 ha fruchtbarem Land auf der Chapada do Apodi, als auch die Wasserversorgung von Fortaleza, die Kontrolle der Überschwemmungen für den Unterlauf des Jaguaribe, die Einführung der Fischzucht, die Stromproduktion sowie die Entwicklung des Tourismus in der Region angeführt (SOARES 2002: 101). Der Castanhão wurde von der Regierung zum Herzstück der Wasserinfrastruktur in Ceará und zum „mar no sertão“ (Meer im Sertão) erklärt (LIMA & BOTÃO 2006: 59). Dabei wurde ganz bewusst an die in ganz Brasilien bekannte Prophezeiung ‚O Sertão vai virar mar‘ des charismatischen Wanderpredigers und Begründers von Canudos ‚ANTÔNIO CONSELHEIRO‘ angeknüpft, um die Bedeutung dieses Megaprojektes für den Nordosten herauszustellen und ihn symbolisch in einen Ort der Verheißung zu verwandeln. Mit einer Fläche von 325 km2 und einer Wasserspeicherkapazität von 6,7 Mrd 3 m ist der Castanhão nach dem Sobradinho der zweitgrößte Stausee im gesamten Nordosten Brasiliens 4 und wurde gleich zweimal eingeweiht, sowohl von Präsident FERNANDO HENRIQUE CARDOSO (2002), als auch von Präsident LULA (2003). Insgesamt wurden für den Bau über 60.000 ha Land enteignet (BANCO MUNDIAL 2005: 73) und 15.000 – 20.000 Menschen umgesiedelt, von denen jedoch nicht alle eine angemessene Entschädigung erhalten haben 5 (ARAÚJO 2006a: 22; eigene Erhebungen). Die geplanten Ziele dieses Megaprojektes wurden allerdings bisher nicht erfüllt. Weder dient der Stausee zur Stromerzeugung noch hat er sich zu einem bedeutenden Zentrum des Regionaltourismus entwickelt. Zwar hat sich die Fischzucht in der Wiederansiedlung Curupati Peixe durchaus positiv entwickelt, jedoch wurde das vorgegebene Einkommensziel von 800 R$ pro Familie und Monat nicht erreicht. Dabei beschränken sich die Gewinne aus der Fischzucht auf wenige Familien, während der traditionelle Fischfang an den Ufern des Jaguaribe für die umgesiedelten Familien mittlerweile keine Subsistenzstrategie mehr darstellt (ebd.: 27; eigene Erhebungen). Anstelle der ursprünglich vorgegebenen 200.000 ha bewässerbarer Fläche allein auf der Hochebene von Apodi werden heutzutage lediglich 28.598 ha am gesamten Unterlauf des Rio Jaguaribe bewässert. Allerdings wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Region ein Potential von 65.000 ha bewässerbarer Fläche (32,5% der gesamten bewässerbaren Fläche in Ceará) aufweist (ADECE O. J. & GOVERNO DO ESTADO DO CEARÁ 2012: 5). Die durchaus ehrgeizigen und überdimensionierten Prognosen der Bewässerungsflächen waren jedoch für die Legitimierung des Großprojektes von strategischer Bedeutung. Während der Planungsphase gab es durchaus ernstzunehmende Vorschläge, anstelle des Baus eines einzelnen Großstaudamms zehn bis zwölf Staudämme mittlerer Größe zu errichten, die – verteilt in der Region – die Was4 5
Zählt man den Stausee Três Marias in Minas Gerais nicht zur Region des Nordostens. Zum Widerstand gegen den Staudammbau und zu den Partizipationsprozessen s. u. a. ARAÚJO 2006a; KÜSTER 2003: 205; CHACON 2007: 154; aus der Sicht des Wassersekretariats: SRH 2005: 217–219; aus der Sicht der Weltbank: BANCO MUNDIAL 2005: 72 f.
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10. Materialisierungen
serspeicherung und -verteilung viel effizienter, kostengünstiger und mit sehr viel geringeren sozialen Folgen hätten erfüllen können (BORGES 1999: 52 f.). Die Entscheidung für das Großprojekt lässt sich somit nur im Kontext des übergeordneten Projekts der Flussableitung des São Francisco und der Ausrichtung der Wasserpolitik in Ceará verstehen. Nur mit Hilfe des Castanhãos kann das Wasser der Flussableitung in großem Maßstab gestaut, gespeichert und bedarfsabhängig verteilt werden. Nur über die Großstrukturen der Wasserinfrastruktur lässt sich die Wasserversorgung zentral steuern und kann Kontrolle über die Verteilung von Wasser ausgeübt und die Wassersicherheit für die Großprojekte der Bewässerungslandwirtschaft garantiert werden.
Abb. 28: Exklusion durch Gestaltung: Der Kanal der Integration.
Eine solche Wasserpolitik schreibt sich in die Architektur einzelner Kanäle und Staumauern ein und wird auch in der Dimensionierung und räumlichen Verteilung der Wasserinfrastruktur sichtbar. Bereits an der Gestaltung des Kanals der Integration, der mit Überwachungskameras ausgestattet ist und dessen steile Ufer einen seitlichen Zugang verhindern sollen (s. Abb 28), wird deutlich, dass es hierbei nicht um eine größtmögliche Verteilung von und den demokratischen Zugang zu Wasser, sondern vielmehr um die Konzentration und die Abfuhr von Wasser für spezifische Zwecke in bestimmte Regionen geht. In der Staumauer des Castanhão manifestieren sich die wirtschaftlichen Interessen und die politische Durchsetzungskraft, die für die Umsetzung eines solch großdimensionierten Projektes benötigt werden. Die Mauer kann als Ausdruck der Ideen von Entwicklung und Fortschritt eines modernisierten Ceará und der Beherrschung der Natur des feindseligen Sertão gelesen werden. Die Zäune, die immerhin 10 % der staatlichen Stauseen umgeben (SAMPAIO 2002: 35) verweisen auf die Exklusivität von Nutzungsrechten und die dahinter liegenden Machtverhältnisse. Gleichzeitig geben die Großstrukturen der Wasserinfrastruktur bestimmte Praktiken der Wassernut-
10.2 (Wasser)Infrastruktursysteme als Schnittstelle der Mensch-Umwelt-Beziehungen
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zung vor: Sie konzentrieren die Wasserressourcen in einigen wenigen Gebieten und dienen in erster Linie einer großflächigen Bewässerung von Produkten mit hohen Gewinntranchen. Eine kleinparzellierte, dezentrale Familienlandwirtschaft, die die Mehrkosten für das letztendlich teure Wasser aus den Ableitungskanälen nicht tragen kann (vgl. Weltbank in MONTE 2005: 319 ff.), wird über diese Art der Infrastruktureinrichtungen ausgeschlossen. 10.2.4 Exklusion statt Integration Doch neben dem Lesen in den vorhandenen Strukturen der Wasserversorgung können auch in der Abwesenheit von Wasserinfrastrukturen Hinweise auf hegemoniale Diskurse, Entwicklungsstrategien und Machtverhältnisse gefunden werden. In dem von der nationalen Wasserbehörde ANA herausgegebenen Atlas des Nordostens wurden beispielsweise für alle Munizipien der semiariden Region mit einer urbanen Bevölkerung von mehr als 5.000 Menschen Szenarien für die Wasserversorgung im Jahr 2025 erstellt. Dabei zeigt sich, dass lediglich 33% der Munizipien über eine Wasserinfrastruktur verfügen, die auch noch im Jahr 2025 die Bewohner_innen ausreichend mit Wasser versorgen können wird. Das bedeutet, dass – ohne einen verstärkten Ausbau der lokalen Wasserinfrastruktur – selbst bei einem optimistischen Szenario im Jahr 2025 41 Mio. Menschen im Nordosten in Munizipien leben werden, in denen die Versorgung mit Wasser für den menschlichen Bedarf nicht gedeckt sein wird (ANA 2006: 47). Somit schlägt die ANA für Ceará die erweiterte Nutzung des Grundwassers in 14 Munizipien und den Ausund/oder Neubau von insgesamt 56 verschiedenen, mehr oder weniger großen Leitungssystemen vor, was Investitionen in Höhe von 441,8 Mio. R$ 6 erfordern würde (ebd.: 59 ff.). Jedoch sind viele der geforderten Maßnahmen über die Planungsphase nicht hinausgekommen, werden nicht weiter verfolgt oder wurden aus Geldmangel, politischen Streitigkeiten und anderen Gründen wieder eingestellt. Während der Staat also massiv in die Großstrukturen der Wasserinfrastruktur investiert, bleibt die Wasserversorgung der Bevölkerung selbst in den Gemeinden mit mehr als 5.000 Bewohner_innen für die nächsten Jahre ungesichert.
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Für den gesamten Nordosten beläuft sich die Investitionssumme für die vorgeschlagenen Projekte auf 3,6 Mrd. R$, während das Finanzvolumen der Transposição 8,2 Mrd. R$ beträgt (ANA 2006: 78).
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10. Materialisierungen
Abb. 29: Wassersituation bei den Wiederansiedlungen & Exklusion am Kanal der Integration.
Besonders deutlich wird die Prioritätensetzung der Wasserpolitik bei denjenigen Familien, die für den Bau des Castanhão ihr Land verlassen mussten und die in sogenannten ländlichen Wiederansiedlungen (reassentamentos rurais) auf verschiedenen Ländereien rund um den Stausee angesiedelt wurden. Bei Befragungen in 13 der insgesamt 17 Siedlungen 7 im Sommer 2009 habe ich in Einzel- und Gruppeninterviews, neben Fragen nach der Geschichte der Umsiedlungen, nach den Versprechungen der Regierung und der momentanen und zukünftigen Situation der Familien auch die Wasserinfrastruktur in den Siedlungen erhoben. Von den untersuchten 13 reassentamentos, die meist nur wenige Kilometer vom Ufer des größten Stausees des Bundesstaates entfernt liegen, waren lediglich fünf an die Wasserversorgung angeschlossen. Bei einer weiteren Siedlung war die Wasserleitung 2009 gerade im Bau. Die restlichen Siedlungen waren weiterhin auf das Wasser aus kleineren Staubecken, aus Zisternen oder auf die Versorgung mit Tanklastwagen (carro-pipa) angewiesen (s. Abb. 29). Drei der Siedlungen waren ursprünglich explizit als Bewässerungsprojekte angelegt, wobei nur in einem ein-
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Dabei handelt es sich um die Reassentamentos: Assentamento Barra II, Caroba, Borges, Núcleo Alegre, Barragem, Campina Alegre, Lindeza, Desterro, Loteamento Lages, Mandacaru, Alagamar, Curupati Irrigação und Curupati Peixe.
10.3 Territoriale Umstrukturierungen
315
zigen Projekt (Curupati Irrigação) Wasser für die Bewässerung auch tatsächlich zur Verfügung gestellt wurde. Die beiden anderen Bewässerungsprojekte (Mandacaru, Alagamar) warteten noch immer auf das Wasser zur Bewässerung der Felder und Rinderweiden, während die angelegten Bewässerungskanäle wieder verfallen und der Versuch der eigenmächtigen Wasserentnahme zur Tränkung der Rinderherde von der Polizei unter Androhung hoher Gefängnisstrafen unterbunden wurde (s. Kap. 12.2.2), (s. Abb. 29). Auch bei den Familien, die an den Ufern des Kanals der ‚Integration‘ leben und deren Grundstücke von dem Kanal teilweise sogar geteilt werden, werden die Inklusions- und Exklusionsprozesse, die über die Wasserpolitik hervorgebracht werden, räumlich sichtbar. Während das Wasser des Kanals direkt an den Feldern der Uferanrainer vorbeifließt, sind sie nach wie vor auf Regen für die Bewässerung ihrer Felder und für die Eigenversorgung angewiesen (s. Abb. 29). Ein Wachposten, der für die Bewachung des Kanals und die Verhinderung der Wasserentnahme eingestellt wurde, begründete das Verbot der Wasserentnahme mit den Worten: „Não pode tirar a água do Canal – a água é para Pecém 8“ (Interview mit FRANCISCO SALDANHA (TAXIM)). Darüber hinaus kreuzt der Integrationskanal 22 Flussläufe, die in der Trockenzeit zumeist kein Wasser führen. Die Einleitung von Wasser in diese Flussläufe wäre technisch problemlos möglich und würde die Wasserversorgung zahlreicher Gemeinden und die Bewässerung ihrer Felder ermöglichen. Eine solche Nutzung ist jedoch für das Wasser des Castanhão nicht vorgesehen (Interview mit ANDRÉ CUNHA, COGERH). Während die 12 Mio. Menschen, die verstreut in der semiariden Region des Nordostens leben, als Hauptgründe für die Legitimation der Großprojekte dienen, wird das Wasser an ihnen vorbei in den Hafen von Pecém geleitet. 10.3 TERRITORIALE UMSTRUKTURIERUNGEN Sowohl die Karte der durchschnittlichen Jahresniederschläge in Ceará zwischen 1974 und 2003 (s. Abb. 30) als auch die Karte der Wasserbilanz (s. Abb. 31) machen deutlich, dass vor allem für das Zentrum und den Südwesten des Bundesstaates die klimatischen Bedingungen und die geringe Verfügbarkeit von Wasser ein Problem darstellen können. Demgegenüber weist der Mittel- und Unterlauf des Rio Jaguaribe im Osten des Staates mit durchschnittlichen Jahresniederschlägen von über 750mm/Jahr vor allem an der Küste und einer positiven Wasserbilanz von 19,8 m3/s eine vergleichsweise hohe Wassersicherheit auf. Dennoch fließen die Investitionen in die Wasserinfrastruktur vorzugsweise in diese Region, in die auch das Wasser des São Francisco geleitet wird. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich jedoch über die Verteilung der Bewässerungspole in Ceará erklären: 65,4 % (58,113 ha) der bewässerten landwirtschaftlichen Fläche und 67,5% 8
„Man kann das Wasser des Kanals nicht entnehmen – das Wasser ist für Pecém“ (Interview eigene Übersetzung).
MIT FRANCISCO SALDANHA (TAXIM);
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10. Materialisierungen
(135.000 ha) der potentiell bewässerbaren Fläche liegen im Osten des Bundesstaates (s. Abb. 32). Das Wasser wird demnach vorzugsweise dort zur Verfügung gestellt, wo es für eine kommerzielle Nutzung benötigt wird.
Abb. 30: Durchschnittliche Jahresniederschläge in Ceará zwischen 1974 und 2003.
Abb. 31: Wasserbilanz nach Wassereinzugsgebieten, Ceará.
Neben der Bewässerungslandwirtschaft weist auch die Shrimpszucht eine erhebliche Wassernachfrage auf. Als Ende der 1990er Jahre Shrimps als lukratives Exportprodukt entdeckt wurden, verbreitete sich vor allem in den nordöstlichen Bundesländern die Shrimpszucht rasant. Von 3.600 t im Jahr 1997 wurde die brasilianische Produktion auf 90.190 t (2003) gesteigert, wovon 92% aus den Bundesländern im Nordosten stammten (ARAÚJO 2006b: 54 ff.). Auch Ceará konnte an dem Shrimpsboom teilhaben: Wurden im Jahr 1996 noch 1,7 Mio. US$ durch den Export von Shrimps erzielt, waren dies im Jahr 2003 bereits fast 81 Mio. US$ (ebd.: 60). Mit einer Produktion von 25.915 t (2003) war der Bundesstaat nach Rio Grande do Norte zum zweitgrößten Shrimpsproduzenten Brasiliens aufgestiegen (ebd.: 56). 2005 züchteten 245 Produzent_innen mit einem Flächenverbrauch von 6.070 ha Shrimps in Ceará, wobei die meisten Anlagen (64%) am Unterlauf des Jaguaribe angesiedelt waren und somit in der Region mit dem größten Wasserangebot in Ceará (ebd.: 65 f.). Nach dem Einbruch der Shrimpsproduktion und vor allem der Exporte ab 2004 aufgrund eines Krankheitsbefalls der Tiere in den Becken, eines US-amerikanischen Anti-Dumping-Verfahrens, der Aufwertung des brasilianischen Real gegenüber dem Dollar und einer erheblichen Produktionssteigerung vor allem in asiatischen Ländern (ebd.: 58 ff.; XIMENES et al. 2011: 1)
10.3 Territoriale Umstrukturierungen
317
Abb. 32: Pole der Bewässerungslandwirtschaft und der Shrimpszucht in Ceará.
stabilisierte sich die Shrimpsproduktion in Ceará Ende der 2000er Jahre wieder. 2012 wurden in Ceará 35.000 t produziert, was einen Anstieg von 20% gegenüber dem Vorjahr darstellt (RAMOS 2013). Aufgrund des hohen Wasserbedarfs der Zuchtbecken, die immer wieder mit frischem Wasser geflutet werden müssen, stellt die Shrimpszucht einen bedeutenden Faktor der Wassernachfrage dar: Mit einem Wasserkonsum von rund 58.874 m3/ha im Jahr übersteigt die Wassernachfrage diejenige von Bananenplantagen fast um das Vierfache und ist fast doppelt so hoch wie bei der Reisproduktion (ARAÚJO 2006b: 135). Somit stellt auch für
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10. Materialisierungen
die Shrimpszucht die Bereitstellung von Wasser die grundlegende Voraussetzung für den Produktionsprozess dar. Darüber hinaus stellt auch die Sicherung der Wasserversorgung der 2,5 Mio. Einwohner_innen zählenden Stadt Fortaleza und der neu angesiedelten Industrien im Hafen von Pecém erklärte Ziele der Wasserpolitik dar. In dem neu angelegten Exporthafen, über den aufgrund der relativen Nähe zu den Absatzmärkten in Nordamerika und Europa auch die Produkte der Bewässerungslandwirtschaft exportiert werden, haben sich neben verschiedenen Dienstleistungsunternehmen und Unternehmen der Energiebranche unter anderem auch ein Kohlekraftwerk, zwei Zementfabriken und vier Stahlwerke angesiedelt, die allesamt einen hohen Bedarf an Süßwasser und eine hohe Zahlungskapazität aufweisen (ADECE 2013).
Textbox 5: Das Konzept des virtuellen Wassers
Die diskursive und institutionelle Umstrukturierung der Wasserpolitik in Ceará wird über die physischen Komponenten der Wasserinfrastruktur materialisiert. Das zur knappen Ressource erhobene Wasser wird insbesondere in denjenigen Regionen konzentriert, in denen es effektiv eingesetzt werden und hohe Gewinne erwirtschaften kann. Die Flussableitung des Rio São Francisco, der Stausee Castanhão und der Kanal der Integration (Eixão) stellen dabei die wichtigsten Großkomponenten des aktuellen Umbaus der Wasserinfrastruktur in Ceará dar. Über
10.3 Territoriale Umstrukturierungen
319
sie wurde und wird die territoriale Wasserverteilung des Bundesstaates neu organisiert, was zu räumlichen Umstrukturierungen und zu Neubewertungen ganzer Regionen führt(e). Den Zusammenhang zwischen den materiellen Strukturen der Wasserversorgung und dem Entwicklungsmodell benennt ANDRÉ CUNHA, Angestellter der COGERH in Limoeiro do Norte, in einem Interview: „O sistema de grandes obras como o Canal, como o Castanhão, eles atendem o desenvolvimento, não para plena igualdade de condições entre os receptores, entre pequeno, grande, médio produtor [...] o sistema de desenvolvimento, né, ele determina inclusive a 9 quem as estruturas vão atender “ (ANDRÉ CUNHA, COGERH).
Über die Garantie der Wassersicherheit, die eine Grundvoraussetzung für die Ansiedlung der Unternehmen der Bewässerungslandwirtschaft, der Shrimpszucht und der Industrien im Hafen von Pecém darstellt, werden die Regionen im Osten des Bundesstaates und die Metropolitanregion Fortaleza in das vorherrschende Entwicklungsmodell integriert. Gleichzeitig bleiben das ‚Hinterland‘ und der Sertão von diesen Entwicklungen weitestgehend ausgeschlossen. Solche Inklusions- und Exklusionsprozesse finden sich jedoch auch auf lokaler Ebene wieder. So findet der Ausschluss eines Großteils der ländlichen Bevölkerung von den Versprechungen des Entwicklungsmodells am Kanal der ‚Integration‘ seinen vielleicht wirkmächtigsten Ausdruck. An den Grundstücken und Bedürfnissen der Kleinbäuer_innen vorbei wird über den Kanal das Wasser des Castanhão in das urbane und industrielle Zentrum des Bundesstaates geleitet. Das Vorhandensein von Stauseen und Kanälen ermöglicht dabei nicht nur die Bewässerungslandwirtschaft in bestimmten Regionen (und in anderen nicht). Aufgrund der erheblichen Material- und Kapitalintensität der Bauten, und durch die Stärkung bestimmter Wissensformen, Subjektpositionen und Handlungslogiken weisen die großflächigen Infrastruktursysteme eine erhebliche Beharrungstendenz auf und bestärken die Pfadabhängigkeit des eingeschlagenen Entwicklungsmodells. Einmal fertig gestellt werden die Einrichtungen der Wasserinfrastruktur zu unhinterfragbaren Gegebenheiten, die sozial geschaffene Unterschiede und sozial-räumliche Disparitäten weiter verfestigen und in natürliche Unterschiede verwandeln. Dennoch werden über die physischen Strukturen keine Handlungsweisen determiniert. Vielmehr besteht immer die Möglichkeit, über die Aneignung und Umdeutung der Wasserinfrastruktureinrichtungen Widerstand zu leisten und Machtverhältnisse in Frage zu stellen.
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„Das System der großen Bauten, wie etwa der Kanal, der Castanhão, sie bedienen die Entwicklung; nicht um eine völlige Bedingungsgleichheit zwischen den Empfängern herzustellen, zwischen den kleinen, großen, mittleren Produzenten […] das System der Entwicklung, ne, determiniert sogar, wem diese Strukturen dienen“ (ANDRÉ CUNHA, COGERH; eigene Übersetzung).
11. PRAKTIKEN DER NATURANEIGNUNG UND DEREN (NICHT)INTENDIERTE FOLGEN Die physischen Komponenten der Wasserinfrastruktur, die Produktionssysteme und die Besitzverhältnisse können als strukturelle Bedingungen verstanden werden, durch die die Ungleichheitsverhältnisse in Ceará verfestigt und fortgeschrieben werden. Ein solches Verfestigen und Fortschreiben findet jedoch immer nur über Praktiken sozialer Akteure statt. Über Praktiken werden Strukturen, soziale und symbolische Ordnungen anerkannt, aktualisiert, (re)produziert und/oder transformiert (KELLER 2008: 63). Dabei sind sowohl die den Praktiken zugrunde liegenden Wissensordnungen und Bedingungen des Handelns (s. Kap. 12) als auch die Folgen der Handlungsweisen dem Bewusstsein und der Kontrolle einzelner Akteure weitestgehend entzogen. Darauf verweist auch FOUCAULT, wenn er bemerkt: „Die Leute wissen, was sie tun [...]; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut“ (FOUCAULT in KAPPELER 2008: 262). Dies ist insofern bedeutsam, da die beabsichtigten wie auch die unbeabsichtigten Folgen einzelner Handlungen wiederum das Feld für weitere Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten vorstrukturieren (GIDDENS 1997: 79; KELLER 2012: 98). Umstrukturierungsprozesse und gesellschaftlicher Wandel sind somit als Ergebnis sowohl von intentionalen Handlungen als auch von nicht intendierten Folgewirkungen zu verstehen. Die Ansiedlung von nationalen und multinationalen Unternehmen des Agrobusiness in der Region Baixo Jaguaribe und der Ausbau der Wasserinfrastruktur zielen zwar darauf ab, die Region in einen modernen Raum globalisierter Agrarproduktion zu verwandeln. Gleichzeitig weisen die Umstrukturierungsprozesse des ländlichen Raums jedoch auch soziale und ökologische Folgewirkungen auf, die weder intendiert noch von einzelnen Akteuren unmittelbar kontrolliert werden können. Dabei haben sich mit den Umstrukturierungsprozessen nicht nur die Produktions- und Arbeitsverhältnisse im ländlichen Raum gewandelt. Auch die sozialen Verhältnisse, die intergenerativen Beziehungen, Geschlechterverhältnisse, die Migrationsbewegungen, Lebensweisen und Wertesysteme bis hin zu den Mensch-Umwelt-Beziehungen wurden dabei grundlegenden Veränderungen unterzogen. Diese Prozesse verlaufen dabei keineswegs einheitlich, sondern sind als partielle, heterogene und diskontinuierliche Entwicklungen zu verstehen, die sowohl zu räumlich wie sozial ganz unterschiedlichen und widersprüchlichen Ergebnissen führen. So existieren neben modernen Räumen der technologie- und kapitalintensiven Landwirtschaft weiterhin Räume des subsistenzorientierten Regenfeldbaus; neben Prozessen hoher sozialer Mobilität bestehen Prozesse der Exklusion und der zunehmenden Marginalisierung (ELIAS 2006: 44 f.; OLIVEIRA 2004: 36).
11.1 Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum
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11. 1 UMSTRUKTURIERUNGSPROZESSE IM LÄNDLICHEN RAUM Bei einem Workshop, den Wissenschaftler_innen der medizinischen Fakultät der UFC gemeinsam mit Vertreter_innen von fünf Gemeinden der Chapada do Apodi und einer Gemeinde von Tabuleiro de Russas im August 2009 organisiert hatten, waren die Teilnehmer_innen dazu aufgefordert, die Lebensverhältnisse in ihren Gemeinden zu kartieren. Gleichzeitig sollten sie benennen, was ihre Lebensqualität verbessert oder beeinträchtigt. Dabei wurden auf der einen Seite die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Ausweitung des wirtschaftlichen Wachstums, aber auch der Ausbau der Infrastruktur (insbesondere Schulen, Gesundheitsstationen, Wasserversorgung, Transportwesen, Freizeiteinrichtungen etc.) genannt. Auf der anderen Seite klagten die Teilnehmer_innen über die Wasserverschmutzung und den intensiven Einsatz von Agrarchemikalien, insbesondere die Ausbringung der Chemikalien per Flugzeug, die Beeinträchtigung ihrer Gesundheit, benannten negative Entwicklungen in den Gemeinden und regionalen Kleinstädten (Prostitution, erhöhter Drogen- und Alkoholkonsum, Gewalt, Unsicherheit), eine erhöhte Land- und Einkommenskonzentration, Umweltzerstörung und die Ausbeutung der Arbeiter_innen in den Unternehmen des Agrobusiness (s. Abb. 33). Über die Kartierung der Lebensverhältnisse in denjenigen Gemeinden, die an der Peripherie der großen Entwicklungsprojekte liegen, werden die grundlegenden Umstrukturierungsprozesse des ländlichen Raums Cearás deutlich. Dabei können die negativen Auswirkungen als nichtintendierte Folgen eines auf wirtschaftliches Wachstum und kapitalakkumulierende Inwertsetzung von Natur ausgerichteten Entwicklungsmodells angesehen werden.
Abb. 33: Kartierung der Situation in den vom Agrobusiness umgebenen Gemeinden.
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11. Praktiken der Naturaneignung und deren (nicht)intendierte Folgen
Mit der Ankunft der großen Unternehmen des Agrobusiness stieg die Zahl der formellen Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft rapide an. Wurden 1985 in der Region Baixo Jaguaribe offiziell lediglich 52 formelle Angestelltenverhältnisse in der Landwirtschaft registriert, waren es 2002 bereits 2.921, wovon 81,5% auf die Plantagen im Munizip Quixeré auf der Chapada do Apodi entfielen (ELIAS 2006: 42). Mittlerweile beschäftigt allein das Unternehmen Del Monte Fresh Produce Inc. 5.300 Arbeiter_innen auf der Hochebene von Apodi, wobei viele jedoch nur saisonal eingestellt werden (FREITAS 2010: 124). Die Möglichkeit einer formellen Arbeitsstelle erscheint vor allem für die Jugendlichen in den ländlichen Gemeinden attraktiv. Viele ziehen ein Lohnarbeitsverhältnis und die Arbeit in den Plantagen der Arbeit auf den Feldern der Familie vor. Vielerorts sind es nur noch die älteren Menschen, die auf den Feldern verbleiben. So klagt beispielsweise ‘SEU’ SALVIANO: „Antigamente não se via falar de desemprego, essas coisas, né? Porque todo mundo era ocupado, tinha o que fazer. Tava no sertão, tava produzindo, tava trabalhando... e aí agora fica nessa situação...os cabra novo não fazem nada. Uns porque não consegue emprego mesmo, outros porque não querem pegar no pesado, ir pra roça [...]. Eu andando lá pro meu roçado, agora nesse inverno, me encontrei com um velhinho aqui no caminho e perguntei: ‘meu amigo você vai pra onde?’ e ele disse: ‘eu vou pra roça, ora!’ Aí eu disse: ‘e quando nois for, quem é que vai?’ Ele foi e deu risadinha, né? Pois é, porque nós já estamos vencidos, 1 né? E quando nois for, quando nois desaparecer da terra quem vai, quem vai trabalhar? “ (‚SEU‘ SALVIANO in CHACON 2007: 244 f.).
Gleichzeitig sind es die älteren Menschen, die in den ländlichen Gebieten, in denen nur wenige formelle Arbeitsplätze existieren, für ein monetäres Einkommen aufkommen. Für viele Haushalte sind die Renten für Landarbeiter_innen (Previdência Rural) die einzige regelmäßige monetäre Einkommensquelle. Darauf hat sich mittlerweile auch der Handel eingestellt. Bestimmten früher die Zeiten der Baumwollernte und die Auszahlung der Erntearbeiter_innen die Marktzeiten, so sind es mittlerweile die Tage, an denen die Renten ausgezahlt werden. Durch die staatliche Rentenzahlung hat sich die generative Altersversicherung umgedreht. In vielen ländlichen Regionen im Nordosten sorgen nicht die Kinder für die Elterngeneration, sondern „os velhos sustentam os moços 2“ (ARAÚJO 2000: 201).
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„Früher wurde nicht über Arbeitslosigkeit und solche Sachen gesprochen, ne? Denn jeder war beschäftigt, jeder hatte was zu tun. Man war im Sertão, hat produziert, gearbeitet... und jetzt befinden wir uns in dieser Situation... die jungen Kerle machen nichts. Die einen, weil sie wirklich keine Arbeitsstelle finden, die anderen, da sie nicht hart ran wollen, nicht aufs Feld gehen [...]. Als ich diesen Winter auf mein Feld gegangen bin, habe ich auf dem Weg einen von den Alten getroffen und gefragt: ‚Mein Freund, wohin des Wegs?‘ und er hat gesagt: ‚ich geh aufs Feld, klar!‘ Und ich sagte: ‚Und wenn wir einmal weg sind, wer geht dann noch?‘ Er grinste und ging weiter, ne? Tja, wir sind schon besiegt, ne? Und wenn wir weg sind, wenn wir von der Erde verschwinden, wer wird dann noch, wer wird dann noch arbeiten?“ (‚SEU‘ SALVIANO in CHACON 2007: 244 f.; eigene Übersetzung). „Die Alten unterhalten die Jungen“ (ARAÚJO 2000: 201; eigene Übersetzung).
11.1 Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum
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Diejenigen, die in den Plantagen arbeiten, pendeln entweder zwischen den ländlichen Gemeinden und den Plantagen oder ziehen in eine Gemeinde in der Nähe der Arbeitsstellen. Lebten beispielsweise im Munizip Quixeré auf der Chapada do Apodi 1970 11.221 Menschen, wobei 87% als ländliche Bevölkerung klassifiziert wurden, und waren es 1991 13.801 Menschen (52% ländliche Bevölkerung), so stieg die Bevölkerung 2010 auf 19.412 an, wobei lediglich noch 39% außerhalb der als ‚urban‘ bezeichneten Gemeinden lebten. Während die ländliche Bevölkerung zwischen 1991 und 2010 mehr oder weniger stagnierte, verdoppelte sich in dieser Zeit die Anzahl der urbanen Bevölkerung. Dass dies vor allem auf die Anziehungskraft der Arbeitsstellen in den Plantagen zurückzuführen ist, lässt sich u. a. daraus erkennen, dass weiterhin fast die Hälfte der formal Beschäftigten (49%) im Agrarsektor tätig ist (IPECE 2012c; PEQUENO 2006: 361). Durch die Entwicklung der Region Baixo Jaguaribe zu einem der Pole der Bewässerungslandwirtschaft in Ceará wuchsen die Kleinstädte der Region beständig an. Limoeiro do Norte nahm dabei vor allem durch die Ausweitung des Handels- und des Dienstleistungssektors die Funktion eines Regionalzentrums ein. Neben Supermärkten, Kaufhäusern, Krankenhäusern, weiterführenden Schulen und Universitäten (CENTEC, FAFIDAM; s. Kap. 12.3) siedelten sich spezialisierte Unternehmen der Agrarindustrie (Agrartechnologie, Landmaschinen, Saat- und Düngemittelindustrie etc.) und Institutionen des Agrarsektors an (SEAGRI; COGERH; EMBRAPA etc.) (CHAVES 2006: 342 ff.; MÁXIMO 2006: 412). So wurde Limoeiro do Norte zu einer Stadt des Agrobusiness (cidade do agronegócio) (ELIAS & PEQUENO 2006: 263), deren vorrangigste Funktion die Bedienung der Nachfrage eines globalisierten Agrarsektors darstellt (ebd.). Neben der Zuwanderung von Landarbeiter_innen führte die Etablierung der Stadt als Zentrum des Agrobusiness auch zu einem Zuzug von Angestellten, Lehrer_innen, Studierenden, Manager_innen etc., wodurch sich eine Mittelschicht mit gehobenen Ansprüchen an Wohnungs-, Bildungs-, Freizeit- und Kulturangeboten herausbildete (CHAVES 2006: 348). Während dadurch der Immobilienmarkt angeheizt und erste Vertikalisierungstendenzen im Zentrum von Limoeiro do Norte erkennbar wurden, zogen die Landund Saisonarbeiter_innen in die Randbereiche der Stadt, in denen neue Viertel mit teilweise äußerst prekären Wohnverhältnissen entstanden. Durch spontane, teilweise nicht genehmigte Besiedlungen mit Häusern in einfacher Bauweise und ohne Anschluss an die formellen Infrastruktureinrichtungen (Straßen, Energie-, Wasserver- und Entsorgung) entstanden auch an der ‚Peripherie‘ von Limoeiro do Norte sogenannte Favelas. Doch selbst in den ländlichen Regionen entstanden prekäre Wohnviertel, in denen fast ausschließlich Saisonarbeiter_innen der Bewässerungslandwirtschaft leben (ELIAS & PEQUENO 2006: 278 f.; MÁXIMO 2006: 401). Solche dynamischen Veränderungen von ländlich geprägten Gemeinden, die plötzlich einen rasanten Bevölkerungsanstieg mit überwiegend jungen und mehrheitlich männlichen Arbeiter_innen zu verzeichnen haben, verlaufen nicht immer harmonisch und konfliktfrei. So berichtet beispielsweise eine Bewohnerin von Lagoinha (Quixeré):
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11. Praktiken der Naturaneignung und deren (nicht)intendierte Folgen „Com a chegada das empresas melhorou umas coisas e piorou outras. Aqui por exemplo, chegou muita gente de fora. Tem gente boa, mas tem muita gente rui. Aqui nessa rua, por exemplo, é uma baderna só, de droga, de tudo. Aqui é pior que Fortaleza, o povo atira nas ruas. Antes aqui era muito tranqüilo. Mas antes era difícil, agora tem emprego. Nós só vivia da roça, da agricultura. Agora meu pai, ainda trabalha com a agricultura na plantação de milho e feijão. Alguns donos dos bares são daqui, mas tem gente de fora também. Agora as mulheres que trazem é tudo de fora, de Fortaleza, Baraúna. O pior que agora a gente não pode sair na rua que os homem fica tudo olhando pra gente. A gente não pode nem sentar na calçada que eles param pensando que somos prostituta. Aqui mudou tudo. Aqui era calmo. O povo passa nas ruas dizendo palavrão na frente das crianças, é briga no meio da rua, é um 3 querendo matar o outro. Mas o pior de tudo é as droga “ (Bewohnerin von Lagoinha in FREITAS 2010: 140).
Auch die Kriminalitätsstatistik scheint dies zu bestätigen. Ereigneten sich in der Region Baixo Jaguaribe in den Jahren 1990–1999 234 Mordfälle, so verdoppelte sich die Anzahl der Morde in den Jahren 2000–2009 auf 484. Gemessen an der Zahl der Einwohner_innen verdreifachte sich die Mordrate fast von 5,83 auf 15,49 Morde pro 100.000 Einwohner_innen. Im Munizip Quixeré verdoppelte sich die Mordrate von 8,85 auf 15,87 Morde pro 100.000 Einwohner_innen (IPEADATA 2012). Zwar sind solche Entwicklungen nicht als direkte Folge des Zuzugs der Unternehmen des Agrobusiness anzusehen, sie geben aber dennoch Hinweise auf grundlegende gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die in der Region stattfinden. Auch wenn über das von der Regierung LULA eingeführte Umverteilungsprogramm Bolsa Família 4 bis zu 44% der Haushalte im ländlichen Raum des Nordostens staatliche Einkommenszuschüsse erhalten (HALL 2006: 705), deuten die statistischen Erfassungen des Pro-Kopf-Einkommens nach wie vor darauf hin, dass viele Familien im Nordosten aufgrund ihres geringen monetären Einkommens unter Armutsverhältnissen zu leiden haben. Von den 16,3 Mio. Brasilianer_innen, die weniger als 70 R$ (ca. 24 €) pro Monat zur Verfügung haben – was 2011 vom Ministerium für Sozialentwicklung und Hungerbekämpfung (MDS) als 3
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„Mit der Ankunft der Unternehmen haben sich einige Dinge verbessert, andere haben sich verschlechtert. Hierher kamen beispielsweise viele Leute von außerhalb. Gute Leute, aber es gibt auch ´ne Menge schlechter Leute. Hier in dieser Straße beispielsweise, ist es ein einziges Durcheinander, von Drogen, von allem. Hier ist es schlimmer als in Fortaleza, die Leute schießen auf der Straße. Früher war es hier ziemlich ruhig. Doch früher war es schwierig, jetzt gibt es Arbeitsplätze. Wir haben nur von unserem Feld, von der Landwirtschaft gelebt. Jetzt arbeitet nur noch mein Vater in der Landwirtschaft und pflanzt Mais und Bohnen an. Manche Eigentümer der Kneipen sind von hier, andere sind von außerhalb. Die Frauen, die sie bringen, sind jetzt alle von außerhalb, von Fortaleza, von Baraúna. Doch das Schlimmste ist, dass man nicht mehr ausgehen kann, die Männer glotzen einen ständig an. Man kann nicht mal mehr auf der Straße sitzen, ohne dass sie anhalten, da sie denken, dass wir Prostituierte sind. Hier hat sich alles verändert. Hier war es mal sehr ruhig. Die Leute auf der Straße benutzen Schimpfwörter vor den Kindern. Mitten auf der Straße gibt es Streitigkeiten, einer will den anderen töten, doch das schlimmste von allem sind die Drogen“ (Bewohnerin von Lagoinha in FREITAS 2010: 140; eigene Übersetzung). Das Programm wird von der Regierung ROUSSEFF unter dem Namen Brasil sem Miséria (Brasilien ohne Elend) weitergeführt.
11.1 Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum
325
Abb. 34: Verteilung der extremen Armut in Ceará (2010).
extreme Armutsgrenze (linha de miséria) festgelegt wurde – leben 59 % im Nordosten, obwohl die Region nur 27 % der Gesamtbevölkerung stellt (MEDEIROS & PINHO NETO 2011: 2; 10). Nach den Bundesstaaten Bahia und Maranhão ist Ceará das Bundesland mit den drittmeisten Menschen, die in extremer Armut leben (ebd.: 2). 1,5 Mio. Menschen und somit 17,8 % der Bevölkerung Cearás haben weniger als 70 R$ im Monat zur Verfügung, wobei der Anteil im ländlichen Raum mit 36,9 % noch deutlich höher liegt (IPECE 2012b: 12). In zwölf Munizipien, insbesondere in den Regionen Litoral Oeste, Sertão Central und Sertão dos Inhamuns leben sogar über 40% der Bevölkerung in extremer Armut (s. Abb. 34). Demgegenüber liegt der Anteil der extremen Armut in der Metropolitanregion Fortaleza und der Region Baixo Jaguaribe, die über die Wasserinfrastruktur als
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11. Praktiken der Naturaneignung und deren (nicht)intendierte Folgen
Entwicklungspole des Bundesstaates ausgebaut werden, zwischen 5 und 25 % (Limoeiro do Norte 10,9 %) (ebd.; IPECE 2012a: 112). Somit stellt die Verfügbarkeit von monetärem Einkommen nach wie vor eines der grundlegendsten Probleme in Ceará dar. Gleichzeitig haben die tiefgreifenden Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum und die forcierte Inwertsetzung der Natur die Armutsverhältnisse nicht grundlegend verändern können. 11.2 PREKARISIERUNG DER ARBEITSVERHÄLTNISSE Durch die Arbeit in den Obstplantagen verändert sich sowohl der Bezug zur Arbeit als auch zu den Produktionsmitteln. Der_die Kleinbäuer_in wird zum_zur Landarbeiter_in, der_die nicht mehr Nahrungsmittel für die Eigenversorgung und den Verkauf auf dem Markt, sondern Waren für den Export herstellt. Gleichzeitig kommt es zu einer räumlichen Trennung zwischen Wohnort und Arbeitsstelle. Der Anstieg der Lohnarbeitsverhältnisse führt somit zu Prozessen der Trennung und der Entfremdung. Die „terra do trabalho 5“ wird zu einer „terra do negócio6“ (FREITAS 2010: 97). Dabei sind die Arbeitsplätze von einer hohen Saisonalität und somit auch Unsicherheit gekennzeichnet. Waren 2004 in den Monaten Januar bis Mai lediglich zwischen 62 und 145 Arbeiter_innen in den Obstplantagen in Baixo Jaguaribe angestellt, so waren in den Monaten Juni bis September zwischen 350 und 1.010 Arbeitsplätze offiziell registriert (BEZERRA 2008: 223). Die Erntephasen bestimmen den Arbeitskräftebedarf der Unternehmen und somit auch die Einkommensmöglichkeiten der Arbeiter_innen. In vielen Interviews, die ich mit Arbeiter_innen von Obstplantagen auf der Chapada do Apodi geführt habe, und die allesamt aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, anonym bleiben wollten, wurden nicht nur die harten Arbeitsbedingungen in den Plantagen, sondern vor allem auch die Art und Weise des Umgangs und die äußerst repressiven Arbeitsregeln kritisiert. So wird jegliches Zuspätkommen mit Lohnabzug bestraft, in den vier- bis fünfstündigen Arbeitsschichten ist selbst ein Toilettengang verboten und oftmals müssen sie ihre Mittagspause innerhalb der Plantagen abhalten, wo weder Schutz vor der Sonne und den Agrarchemikalien noch adäquate Einrichtungen zum Waschen oder Essen vorhanden sind. Der Tagesablauf eines Arbeiters von Del Monte Fresh Produce Inc., der in Limoeiro wohnt und täglich mit dem Bus auf die Hochebene von Chapodi fährt, lässt zumindest erahnen, wie sehr die Arbeit in den Plantagen das Leben der Menschen bestimmt (s. Tab. 10). Bei einer 45-Stunden-Woche und einem Stundenlohn von 1,88 R$ (0,71 €) würde den Arbeiter_innen theoretisch ein Monatslohn in Höhe von 388 € zustehen. Doch aufgrund der Abzüge für Fehlzeiten, für den 5 6
„Land der Arbeit“ „Land des Geschäfts“
11.2 Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse
327
Transport, für den (automatisch erhobenen) Gewerkschaftsbeitrag, für ärztliche Untersuchungen durch den Unternehmensarzt etc. werden den Arbeiter_innen am Monatsende Löhne in Höhe von 230–280 R$ (86–105 €) ausgezahlt 7. Ein Arbeiter zeigte mir einen Lohnzettel, auf dem sein Lohn für einen Monat Arbeit (bei 237 Stunden, davon 90 Stunden in Nachtschicht) nach allen Abzügen mit 43 R$ (16 €) angegeben wurde. Tab. 10: Tagesablauf eines Arbeiters von Del Monte.
AUCH RAQUEL RIGOTTO, Medizinprofessorin an der UFC, die mit der Arbeitsgruppe TRAMAS (Trabalho, Meio Ambiente e Saúde para a Sustentabilidade Arbeit, Umwelt und Gesundheit für die Nachhaltigkeit) seit mehreren Jahren die Auswirkungen des intensiven Chemikalieneinsatzes insbesondere in den Obstplantagen in Ceará auf die Gesundheit der Arbeiter_innen untersucht, berichtet von den Problemen, die die Umstellung von einer selbstständigen Arbeit zu einem abhängigen Arbeitsverhältnis mit sich bringt. Die fehlende Anerkennung ihrer Arbeitsleistung und die Art und Weise des Umgangs innerhalb eines hierarchisch gestalteten Arbeitsverhältnisses, den sie oftmals als Demütigung empfinden, stellen dabei die eindrücklichsten negativen Erfahrungen innerhalb der veränderten Arbeitsstrukturen dar:
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Im Vergleich dazu liegt der offizielle Mindestlohn in Brasilien seit dem 1. Januar 2013 bei 678 R$. Im August 2009, zum Zeitpunkt der Befragungen, lag er immerhin bei 465 R$.
11.1 Umstrukturierungsprozesse im ländlichen Raum
328
„Quando a gente faz os grupos focais com os trabalhadores não é o agrotóxico o principal problema – o principal problema é a humilhação! O que eles mais falam do trabalho é a humilhação que eles sofrem, nê, desde de ser obrigados de entrar numa plantação que foi recentemente pulverizada sem respeito ao período de reentrada que a legislação prescreve, nê, até ofensas, maneiras de falar, gestos violentos. Para me representa muito este choque da transformação de um produtor autônomo para alguém que está vendendo a sua força de 8 trabalho “ (Interview MIT RAQUEL RIGOTTO).
11.3 ÖKOLOGISCHE AUSWIRKUNGEN UND GESUNDHEITLICHE FOLGEN Als nichtintendierte Folgen der Implementierung des Modells einer gewinn- und wachstumsorientierten Inwertsetzung von Natur können auch die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen des Agrarmodells angesehen werden. Die Verfolgung eines Entwicklungsmodells, das wesentlich auf die Integration in den Weltmarkt über den Ausbau des Exportes von Agrarprodukten setzt, führt zu einer Expansion der kapitalistischen Naturaneignung und zur Produktion einer einheitlichen, an die Produktionsansprüche angepassten Natur. Dabei kommt eine auf ständige Produktionssteigerung ausgerichtete großflächige Produktionsweise in Monokulturen ohne einen intensiven Einsatz von Düngemitteln, Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden nicht aus. Nur mit Hilfe von sehr weitreichenden Eingriffen in das Ökosystem können die natürlichen Bedingungen so gestaltet werden, dass ein industrialisierter Anbau mit genau bestimmbaren Erntezeitpunkten und an die Erwartungen der Konsument_innen angepassten Endprodukten möglich ist. Auch die Statistiken über den Einsatz von Agrarchemikalien in Brasilien zeigen die Dynamik der Ausweitung der industriellen Produktionsweise deutlich an. So verdoppelte sich in nur fünf Jahren der Chemikalieneinsatz von 485.969 t (2005) auf 1.055.575 t (2010), wobei sich die durchschnittlich eingesetzte Menge pro Hektar von 7,56 kg/ha auf 15,84 kg/ha erhöhte (s. Abb. 35). Seit 2008 ist Brasilien noch vor den USA das Land mit dem weltweit höchsten Agrarchemikalieneinsatz. Allein in diesem Jahr wurden in Brasilien 7,125 Mrd. US$ für Pestizide ausgegeben, wobei 90% des brasilianischen Marktes von lediglich zehn Unter-
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„Wenn wir Fokusgruppen mit den Arbeitern machen, dann sind nicht die Agrarchemikalien das Hauptproblem – das zentrale Problem ist die Demütigung! Das, wovon sie am meisten sprechen, ist die Demütigung, die sie bei der Arbeit erleiden, ne, davon angefangen, dass sie gezwungen werden, eine Plantage zu betreten, die erst vor kurzer Zeit besprüht worden ist, ohne Rücksicht auf die vom Gesetz vorgeschriebene Wartezeit, ne, bis hin zu Beleidigungen, die Art und Weise, wie mit ihnen gesprochen wird, gewalttätige Gesten. Für mich steht das für den Schock der Umwandlung von einem eigenständigen Produzenten hin zu jemandem, der seine Arbeitskraft verkauft“ (Interview mit RAQUEL RIGOTTO; eigene Übersetzung).
11.3 Ökologische Auswirkungen und gesundheitliche Folgen
329
nehmen, darunter auch Bayer und BASF, kontrolliert wird 9 (RIGOTTO et al. 2013: 66 f.; RIGOTTO 2011b; MILANEZ 2008). Ceará ist dabei der Bundesstaat mit dem höchsten Agrarchemikalieneinsatz im Nordosten und dem vierthöchsten Agrarchemikalienkonsum in ganz Brasilien (JÚNIOR MELQUÍADES 2011).
Abb. 35: Entwicklung des Agrarchemikalieneinsatzes in Brasilien 2005–2010.
Gleichzeitig zeigt Abbildung 35 auch die Zunahme der Vergiftungen pro 100.000 Einwohner_innen von 5,1 (2005) auf 8 Fällen pro 100.000 Einwohner_innen (2010). Auch in Ceará stieg die Zahl der Unfälle mit Agrarchemikalien deutlich an. Wurden in dem Bundesstaat im Jahr 2004 639 Menschen aufgrund von Vergiftungen in Krankenhäuser eingeliefert, wurden 2005 bereits 1.106 Fälle offiziell registriert, wobei die meisten im Munizip Limoeiro do Norte verzeichnet wurden (JUNIOR 2008). Die Dunkelziffer der Vergiftungen liegt jedoch vermutlich wesentlich höher. Selbst offizielle Schätzungen des Gesundheitsministeriums gehen davon aus, dass in Brasilien pro registriertem Fall einer Vergiftung durch Agrarchemikalien 50 nicht registrierte Fälle auftreten (PERES et al. 2001: 565). Auf diesen Zusammenhang verweisen auch Untersuchungen von Arbeiter_innen der
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Zu den zehn Chemieunternehmen, die den brasilianischen Markt beherrschen, zählen: Bayer (D), Syngenta (CH), BASF (D), Monsanto (USA), Dow Chemical (USA), Milena/Makteshim Agan (Israel), DuPont (USA), FMC (USA), Nortox (BR) und Arysta (Japan) (MILANEZ 2008).
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11. Praktiken der Naturaneignung und deren (nicht)intendierte Folgen
Obstplantagen auf der Chapada do Apodi. Dabei zeigten 31% der Arbeiter_innen Vergiftungserscheinungen, die auf den Umgang mit den Pestiziden zurückzuführen sind, wobei lediglich 44 % der Betroffenen einen Arzt aufgesucht hatten (RIGOTTO et al. 2013: 65). Neben der falschen Einschätzung des Unfalls durch die Arbeiter_innen und der mangelhaften medizinischen Infrastruktur gründet die geringe Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung auch auf einem fehlenden Vertrauen in die Unternehmensärzte. Auch in den von mir geführten Interviews hatten viele Arbeiter_innen erklärt, dass der Unternehmensarzt zumeist nur Schmerztabletten verabreichen und ihre Symptome (Übelkeit, Kopfschmerzen etc.) nicht mit dem Chemikalieneinsatz in Verbindung bringen würde. Gleichzeitig spiegeln die Statistiken über die Unfälle mit Agrarchemikalien nur einen Teil der Auswirkungen wider. Vor allem bei den langfristigen Folgen (Krebs, Allergien, Missbildungen bei Geburt, Hormonstörungen, neurologische Beschwerden, Depression) ist es nur schwer möglich, einen direkten Zusammenhang mit dem Agrarchemikalieneinsatz nachzuweisen oder von anderen Ursachen abzugrenzen (ebd.). Zusätzlich berichten Arbeiter_innen immer wieder auch von Todesfällen, die sie auf den Umgang mit den Chemikalien zurückführen. So starben im Herbst 2008 zwei Arbeiter, die zuvor in den Obstplantagen gearbeitet und mit der Mischung und Ausbringung von Pestiziden beauftragt waren. Einer davon war JOSÉ VALDERI RODRIGUES (s. Abb. 39), der zehn Tage lang ohne Schutzkleidung (Equipamento de Proteção Individual EPI) Pestizide ausbringen musste. Da er dabei in einfachen Sandalen gearbeitet hatte und direkt mit den Giftstoffen in Berührung kam, entzündeten sich seine Zehen, so dass er nach 27 Tagen die Arbeit aufgeben musste. Während der Arzt des Unternehmens VALDERI lediglich eine Salbe verschrieb, wurde im Krankenhaus in Limoeiro do Norte die Schwere der Entzündung festgestellt und zunächst die Zehen, später sogar sein rechtes Bein amputiert. Bei einem Gespräch im August 2008 klagte er über Schmerzen, die sich bereits bis in die Schulter hochziehen würden. Ende September 2008 starb VALDERI mit gerade einmal 41 Jahren. Da jedoch offiziell nie ein Arbeitsunfall festgestellt wurde, weigerte sich das Unternehmen Banesa, für eine Entschädigung aufzukommen oder seiner Frau eine Witwenrente auszuzahlen.
Abb. 36: Ausbringung von Agrarchemikalien.
11.3 Ökologische Auswirkungen und gesundheitliche Folgen
331
Doch nicht nur die Arbeiter_innen in den Plantagen sind direkt von den Folgen des hohen Pestizideinsatzes betroffen. Gerade bei der Ausbringung der Chemikalien per Flugzeug, wodurch eine großflächige Pestizidanwendung möglich wird, sind auch die Bewohner_innen in der Nähe der Plantagen den Chemikalien ausgesetzt. Selbst bei optimalen Temperatur- und Windverhältnissen gelangen durchschnittlich lediglich 32 % der ausgebrachten Chemikalien direkt an die Pflanzen, während 19 % über die Luft weiter verbreitet werden und 49 % den Boden erreichen, von wo sie ins Grundwasser gelangen können (RIGOTTO et al. 2013: 65). Neben direkten gesundheitlichen Auswirkungen wie Ausschlägen, Kopfschmerzen und Atembeschwerden wird befürchtet, dass der intensive Chemikalieneinsatz ebenfalls eine erhöhte Krebsrate zur Folge hat. So ergab eine vergleichende Studie zwischen den Munizipien Limoeiro do Norte, Quixeré, Russas und zwölf weiteren Munizipien, in denen vor allem Regenfeldbau betrieben wird, dass in den Munizipien mit hohem Agrarchemikalieneinsatz die Krebsrate um 38 % und die Rate von ungewollten Schwangerschaftsabbrüchen um 40 % höher lag (RIGOTTO 2011a: 127). Die größte Gefährdung erfahren die Bewohner_innen der Gemeinden auf der Hochebene von Apodi jedoch durch den Chemikalieneintrag in ihr Trinkwasser. Da die Wasserversorgung von fünf Gemeinden über offene Kanäle erfolgt, gelangen durch die Austragung per Flugzeug hoch giftige Substanzen direkt in das Kanalwasser. So kam eine Untersuchung der bundesstaatlichen Umweltbehörde SEMACE im Oktober 2009 zu dem Schluss, dass das Wasser der Kanäle nicht für den menschlichen Konsum geeignet ist. Zwölf von 13 Wasserproben enthielten demnach giftige und hochgiftige Substanzen, die langfristige gesundheitliche Schäden bewirken können (FREITAS 2010: 146; CINTRA 2010). Gleichzeitig wiesen auch die Wasserproben des Grundwassers der Chapada do Apodi Rückstände von Agrarchemikalien wie etwa das hochgiftige Diazinon auf (GOVERNO DO ESTADO DO CEARÁ et al. 2009). Somit ist auch die Versorgung der Gemeinden über das Grundwasser nicht möglich und das große unterirdische Wasserreservoir, der Aqüífero Jandaíra, durch den intensiven Einsatz von Agrarchemikalien gefährdet. Die Auswirkungen des Modells einer industrialisierten Landwirtschaft gehen jedoch über die lokale Ebene hinaus. Auch wenn die positiven und negativen Auswirkungen des global organisierten Agrarsystems klar aufgeteilt sind, so sind auch die Konsument_innen der Agrarprodukte von den eingesetzten Chemikalien betroffen. Eine Studie der nationalen Behörde für Gesundheitsüberwachung ANVISA (Agência Nacional de Vigilância Sanitária) ergab beispielsweise, dass in 63 % der untersuchten Früchte und des untersuchten Gemüses Agrarchemikalien nachgewiesen werden konnten (RIGOTTO et al. 2013: 68). Die nichtintendierten Folgen des Agrarmodells betreffen somit sowohl Arbeiter_innen, Bewohner_innen als auch Konsument_innen. Jedoch sind dabei nicht alle sozialen Schichten gleichermaßen den negativen Auswirkungen ausgesetzt. Sie betreffen in erster Linie die einfachen Arbeiter_innen in den Plantagen, die Menschen in den Gemeinden am Rande der Monokulturen und am Rande der urbanen Zentren und diejenigen, die aufgrund von Infrastrukturmaßnahmen und der
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11. Praktiken der Naturaneignung und deren (nicht)intendierte Folgen
Expansion des Agrobusiness umgesiedelt werden (s. Kap. 10 & 12). Wer dabei von dem erhöhten Arbeitsplatzangebot und der Ausweitung der Infrastruktur profitieren kann und wer von den negativen Auswirkungen der Umstrukturierungsprozesse, insbesondere auch von den Umweltveränderungen, am stärksten betroffen ist, wird wesentlich über die gesellschaftliche und räumliche Verortung festgelegt. Dabei stehen die sozialen und räumlichen Auswirkungen der als exkludierende Modernisierung (modernização excludente) (ELIAS & SAMPAIO 2002) beschriebenen Prozesse in einer engen Wechselbeziehung. Eine geringe formale Ausbildung und prekäre wirtschaftliche Verhältnisse bewirken, dass viele Arbeiter_innen und ehemaligen Kleinbäuer_innen sowohl an ihrem Arbeitsplatz als auch an ihrem Wohnort prekären Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Gleichzeitig ermöglicht die geringe wirtschaftliche und politische Macht vieler ländlicher Gemeinden die Expansion der Flächen der Bewässerungslandwirtschaft und die Ausweitung der Umweltzerstörung. In den Praktiken der Naturaneignung und der Inwertsetzung von Natur sind somit die gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschrieben, die über die nichtintendierten Folgen (Arbeitsverhältnisse, gesellschaftliche Umstrukturierungen, Umweltveränderungen und gesundheitliche Folgen) räumlich und sozial reproduziert werden.
12. KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE: PRAKTIKEN DER REPRODUKTION UND DES WIDERSTANDES Wie in Kapitel 11 angedeutet sind Interaktionszusammenhänge und Praktiken die entscheidenden ‚Orte‘ für gesellschaftliche Veränderungen. Über die alltäglichen Praktiken sozialer Akteure werden Strukturen verfestigt und fortgeschrieben oder können verschoben und aufgebrochen werden. Dabei stellen Praktiken keine singulären Handlungen intentional agierender Einzelakteure dar, sondern können als überindividuelle Handlungs- und Interaktionsmuster verstanden werden, die in einem strukturierten Praxisfeld in Rückbezug auf bestehende Regeln und Ressourcen vollzogen werden können. Für die Ausführung von Handlungen wird somit auf einen kollektiven Wissensvorrat zurückgegriffen, durch den Praktiken strukturiert, aber nicht determiniert werden. Gerade weil die bestehende Wissensordnung die Grundlage für mögliche Handlungsweisen darstellt, können Handlungen nicht losgelöst aus dem historischen und gesellschaftlichen Kontext begriffen werden. Die Wissensordnung, als „soziales ‚Produkt‘, das aus unzähligen historischen Deutungs- und Handlungsereignissen entstanden ist“ (KELLER 2012: 98), ist dem unmittelbaren Einflussbereich einzelner Akteure entzogen. Somit können Praktiken als geregelte Handlungsweisen verstanden werden, ohne dadurch vorgegeben zu sein. Sie sind strukturiert und kontingent zugleich und verweisen – gewollt oder ungewollt – immer auf gesellschaftliche Verhältnisse, Subjektpositionen und Diskurse (BÜHRMANN & SCHNEIDER 2008: 55; KELLER 2008: 224; GIDDENS 1997: 52 ff.; ZIERHOFER 2003: 87; MOEBIUS 2008: 71; KREISKY 2002: 4). Somit müssen soziale Akteure nicht als „passive Marionetten einer undurchsichtigen Strukturobjektivität, die deren Gesetzmäßigkeiten automatisch exekutieren“ (KRAEMER 2008: 96), konzipiert werden. Vielmehr können Akteure durchaus bewusst agieren und strategische Entscheidungen treffen. Im Rahmen spezifischer Bedingungskonstellationen und in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Positionierung verfügen soziale Akteure demnach über eine gewisse Interpretationskompetenz und somit über Handlungsbefähigung bzw. Handlungsmacht (BRINK 2008: 141). In Anlehnung an das in Kap. 3.3 beschriebene Machtverständnis besitzen Akteure dabei nicht einen bestimmten Machtanteil, sondern sind in das strategische Spiel der Kräfteverhältnisse eingebunden, in dem sie positioniert werden und sich positionieren. Die Frage nach den Möglichkeiten von Widerstand ist somit eine Frage nach der Hervorbringung unterschiedlicher Subjektpositionen (S. Kap. 9) und eine Frage nach den zahlreichen Formen widerständigen Verhaltens. Letztendlich entscheidet sich in jeder einzelnen Handlung, ob bestehende Strukturen reproduziert und gefestigt oder verschoben, in Frage gestellt oder verflüssigt werden. Die Suche nach Widerstandspotenzialen und Veränderungsmöglichkeiten ist somit keine Suche nach dem einen Ort der großen Weigerung und Befreiung, sondern eine
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
Suche nach den vielfältigen Formen der Unfügsamkeit und der Abweichung und nach den Formen des „unspektakulären Kampf[es] um die Gestaltung des eigenen Lebens“ (HOLLOWAY 2006: 173), (vgl. Kap. 3.4). Mit einer solchen Fokussierung auf die Vielfältigkeit subversiver Praktiken wendet sich der Blick ab von den „‘großen Erzählungen‘ des Klassenkonfliktes“ (MOLDASCHL 2003: 154) und richtet sich auf die vielfältigen „lokalen Formen des Widerstands und der Subjektivität“ (ebd.). Ausgehend von der These, dass die gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse im Nordosten Brasiliens über die Aneignung von Wasser und Natur reproduziert und stabilisiert wurden und werden (vgl. Kap. 6), sollen hier nun einige zentrale Praktiken des Wassermanagements und der Naturaneignung untersucht werden. Neben den Partizipationsprozessen des Wassermanagements, die als Gegenstück zu den klientelistischen Strukturen des Coronelismo in die Wasserpolitik eingeführt wurden (s. Kap. 7.1.2.2), sollen dabei auch die Ansätze einer Agrarreform, alternative Wirtschafts- und Bewirtschaftungsweisen und unterschiedliche Formen der Produktion von Wissen auf ihre Bedeutung für die Reproduktion der Ungleichheitsverhältnisse und auf ihre Potenziale für das Aufbrechen der Strukturen hin untersucht werden. Darüber hinaus soll anhand einiger Fallbeispiele aus der Region Baixo Jaguaribe ein Einblick in die Vielfalt der Widerstände gegen das hegemoniale Entwicklungsmodell gegeben und nach den Möglichkeiten der Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse gefragt werden. 12.1 PARTIZIPATIONSPROZESSE ALS MÖGLICHKEITSRAUM FÜR REPRODUKTION UND WIDERSTAND Unter Anleitung der Weltbank wurde das dezentrale und partizipative Wassermanagement in Ceará mit dem Versprechen eingeführt, die klientelistischen Strukturen der Vorteilsnahme überwinden zu helfen und die Verteilung des Wassers demokratischer zu gestalten (vgl. Kap. 7.1.2.2). Weltweit hat die Weltbank insbesondere im Bereich der Ressourcenpolitik die Einführung von Partizipationsmechanismen unterstützt, um somit das Ressourcenmanagement effizienter und kostengünstiger zu gestalten, die Handlungskompetenz der beteiligten Akteure zu steigern, kooperative Verhaltensweisen zu fördern und die Akzeptanz der staatlichen Politik zu erhöhen (BRANNSTROM 2004: 205). Gerade für die Durchsetzung von großen Staudamm- und Flussableitungsprojekten gelten Partizipationsprozesse für die Weltbank als Schlüssel für die Akzeptanz der Projekte in der Bevölkerung: „A participação é sem dúvida aspecto chave para a aceitação social de projetos de transferência de água 1“ (BANCO MUNDIAL 2005: 71). Es stellt sich also die Frage, ob das partizipative Wassermanagement in Ceará wirklich in der Lage ist, an den gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen grundlegend etwas zu 1
„Die Partizipation ist zweifellos ein Schlüsselaspekt für die soziale Akzeptanz von Wasserableitungsprojekten“ (Banco Mundial 2005: 71; eigene Übersetzung).
12.1 Partizipationsprozesse als Möglichkeitsraum für Reproduktion und Widerstand
335
verändern und den Zugang zu Wasser gerechter zu gestalten, oder ob es lediglich dazu dient, die Wasserpolitik des Staates zu legitimieren und die bestehenden Verhältnisse zu bewahren. Im Gegensatz zu den klassischen Entscheidungsstrukturen einer repräsentativen Demokratie werden partizipative Stakeholder-Prozesse nicht durch allgemeine Wahlen legitimiert. Somit stellt die Legitimation von Entscheidungen die größte Herausforderung für die Akzeptanz von Partizipationsprozessen dar. Dabei spielen sowohl die Möglichkeiten der Beteiligung unterschiedlicher Interessengruppen (Repräsentations-Legitimität) als auch die eingesetzten Methoden und Entscheidungsprozesse (Verfahrens-Legitimität) eine entscheidende Rolle für die Bewertung der Beteiligungsprozesse (NEWIG 2011: 490 f.). 12.1.1 Repräsentation Die Zusammensetzung der Wasserkomitees (comitê de bacias) in Ceará ist gesetzlich festgeschrieben (30% Nutzer_innen, 30% Zivilgesellschaft, 40% Staat) (s. Kap. 7.1.2.2). Dabei wird über die Festlegung der Kategorie ‚Nutzer_innen‘ (usuário) als legitime Stakeholder bereits im Vorhinein 80% der ländlichen Bevölkerung von den Beteiligungsprozessen ausgeschlossen (BALLESTERO 2006: 319). Zukünftige Nutzer_innen und diejenigen, die über keinen direkten Zugang zur Wasserinfrastruktur verfügen, sind dabei als Interessensgruppe nicht vorgesehen. Deren Anliegen werden lediglich von Vertreter_innen der Zivilgesellschaft (NGOs, Universität) vorgebracht, die beispielsweise im Wasserkomitee der SubBacia Baixo Jaguaribe über fünf Sitze (11% der Stimmen) verfügen. Jedoch bestehen keine direkten Austausch- und Delegationsstrukturen zwischen den unorganisierten Kleinbäuer_innen des ländlichen Raumes und den NGOs, die wiederum eine eigene Agenda verfolgen (bspw. Fragen des Umweltschutzes). Während also 800.000 – 1 Mio. Kleinbäuer_innen trotz berechtigter Interessen an der Organisation des Wassermanagements in Ceará nicht an den Partizipationsprozessen teilnehmen können (TADDEI 2005: 126), sitzen Abgeordnete von einzelnen Unternehmen des Agrobusiness (bspw. Del Monte Produce Inc.) oder der Industrie (Ypióca) in den Wasserkomitees und vertreten die Partikularinteressen ihrer jeweiligen Unternehmen. Darüber hinaus deutet die sozioökonomische Zusammensetzung der Wasserkomitees auf eine sehr unzureichende Repräsentation der ländlichen Bevölkerung hin. Von den 626 Mitgliedern der Wasserkomitees, die innerhalb des Projektes Marca d´Água interviewt wurden (vgl. Kap. 9.3.2), verdienen 67% zehn Mindesteinkommen oder mehr, 80% haben ein Hochschulstudium angefangen oder abgeschlossen, 75% sind älter als 40 Jahre und 79% männlich (GUTIÉRREZ 2010: 121; FRANK 2010: 48). Somit überwiegt eine männliche, formal gebildete und ökonomisch besser gestellte Position innerhalb der Komitees. Des Weiteren wurde anstelle einer paritätischen Zusammensetzung dem Staat eine Vormachtstellung innerhalb der Komitees eingeräumt. Mit 40% der Stimmen ist es für die staatlichen Vertreter_innen leichter – bspw. im Verbund mit den Vertreter_innen der Bewäs-
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
serungslandwirtschaft – Mehrheiten hinter sich zu vereinen. Die Kritik an der Zusammensetzung der Komitees wurde auch in einigen Interviews mit Vertreter_innen des Komitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe mehrfach geäußert: „essa composição já não é muito justa e não muito legítima. Já é feita com as desigualdades sociais, econômicas e de conhecimentos, [...]. O simples morador não tem voz [...] no comitê! Então é democrática a participação? Na minha concepção do que é democracia não, ela não é democrática! Teoricamente poderia até ser, mas na prática não é [...]. Eu não vejo como democracia de fato a forma como é construído o comitê […]. Quem é, que vai tomar decisão? [...] É a maioria! É por voto, certo? A questão é o seguinte: é que a maioria é do governo, ou é empresário, que também é governo 2“ (Interview mit JOSÉ MARIA DE ANDRADE, ehemaliger Präsident des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe).
Neben den formalen Barrieren der Beteiligung an den Entscheidungen der Wasserkomitees spielen oftmals auch praktische Hindernisse eine wichtige Rolle. Gerade für Kleinbäuer_innen stellt ein Treffen der Komitees einen verlorenen Arbeitstag dar, der in bestimmten Zeiten (Aussaat, Ernte) nicht ohne Weiteres ‚geopfert‘ werden kann, während große Unternehmen relativ einfach eine_n Mitarbeiter_in für die Vertretung in den Komitees beauftragen können. Darüber hinaus stellen der Aufwand und die Kosten für den Transport für die einzelnen Teilnehmer_innen unterschiedlich hohe Hürden dar. Gerade für die verstreut lebende Bevölkerung, die auf öffentliche Transportmittel angewiesen ist, können die Transportkosten gegebenenfalls die Teilnahme an einem Treffen des Komitees verhindern. Zwar können Transportkosten von der COGERH zurückerstattet werden. Da diese jedoch im Vorhinein beantragt und genau belegt werden müssen, scheitert eine solche Rückzahlung oftmals an bürokratischen Hindernissen. 12.1.2 Autonomie und Entscheidungsmacht Neben der eingeschränkten Repräsentation wurde in den Interviews mit verschiedenen Mitgliedern der Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe und des São Francisco die fehlende Autonomie der Komitees als wichtigster Kritikpunkt an den Partizipationsprozessen genannt:
2
„Diese Zusammensetzung ist wirklich nicht sehr gerecht und nicht sehr legitim. Sie wird entlang der sozialen und ökonomischen Unterschiede und entlang der unterschiedlichen Kenntnisse vorgenommen [...]. Der einfache Bewohner hat keine Stimme [...] im Komitee! Ist die Partizipation also demokratisch? Nach meiner Konzeption von Demokratie nicht, sie ist nicht demokratisch! Theoretische könnte sie es sogar sein, aber in der Praxis ist sie es nicht [...]. Ich sehe die Art und Weise, wie das Komitee gebildet wird, nicht als demokratisch an [...]. Wer ist es, der entscheiden wird? Es ist die Mehrheit! Es wird per Abstimmung entschieden, richtig? Die Frage ist folglich: Die Mehrheit stellt die Regierung, oder die Unternehmen, die ebenfalls auf Seiten der Regierung stehen“ (Interview mit José Maria de Andrade, ehemaliger Präsident des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baico Jaguaribe; eigene Übersetzung).
12.1 Partizipationsprozesse als Möglichkeitsraum für Reproduktion und Widerstand
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„Existe uma falsa participação, uma dominação pela COGERH, um controle dessa instituição. Ela domina o conhecimento e a técnica [...]. Quando ganhamos a diretoria do Comitê de Bacia a intenção era essa: ser autônoma 3“ (Interview mit FRANCISCO ROSÂNGELO MARCELINO DA SILVA, ehemaliger Vizepräsident des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe).
Letztendlich verfügen die Wasserkomitees über eine sehr geringe Entscheidungsmacht. Innerhalb eines von der COGERH gesetzten Rahmens dürfen sie vor allem über die Abflussmengen der Staudämme entscheiden. Um jedoch das Wirtschaftswachstum der Metropolitanregion Fortaleza, die von dem Wasser aus anderen Flusssystemen abhängig ist, nicht durch eigenmächtige Entscheidungen einzelner Wasserkomitees zu gefährden, wird die für Fortaleza bestimmte Wassermenge ohne Absprache mit den Komitees staatlicherseits festgelegt (FORMIGAJOHNSSON & KEMPER 2008: 17). Die Wasserkomitees sind der Ort, an dem die Konflikte zwischen den verschiedenen Wassernutzer_innen ausgetragen und zu einem Kompromiss geführt werden sollen. Sie sind jedoch nicht der Ort, an dem eine eigenständige Wasserpolitik gemacht werden soll. Sie hatten keinen Einfluss auf die Festlegung der Wassertarife (s. Kap. 7.1.2.3) und haben – anders als bspw. im Bundesstaat Minas Gerais – kein Mitspracherecht bei der Vergabe von Wasserentnahmelizenzen. Die Komitees verfügen weder über ein eigenes Exekutivorgan noch über eigene finanzielle Mittel. Sie sind somit finanziell und operationell völlig von der staatlichen Wassermanagementagentur COGERH abhängig. Durch die Übernahme jeglicher Organisationsaufgaben, die für das Funktionieren der Komitees notwendig sind, bestehen für die COGERH unzählige Möglichkeiten, die eigene Agenda durchzusetzen, Bedeutungen zu verschieben und somit letztendlich (Kontroll-)Macht auszuüben: Mitarbeiter_innen der COGERH setzen den Ort und den Zeitpunkt der Treffen der Wasserkomitees fest, bestimmen die Tagesordnungspunkte, moderieren die Diskussionen und fertigen das Protokoll der Sitzungen an. Für die Bestimmung der freizugebenden Wassermenge verfügen letztendlich nur sie über die nötigen Kenntnisse, um die Berechnungen der Abflussmenge durchzuführen und die unterschiedlichen Szenarien zu erstellen. Auf den Treffen werden dann lediglich die einzelnen Szenarien präsentiert und zur Abstimmung gestellt. Als 2003 mit JOSÉ MARIA DE ANDRADE (ZÉ MARIA) und FRANCISCO ROSÂNGELO MARCELINO DA SILVA (ROSÂNGELO) zwei Personen in den Vorstand des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe gewählt wurden, die der offiziellen Wasserpolitik des Staates kritisch gegenüber standen, zeigte sich die Abhängigkeit der Komitees und die Macht der COGERH, im Konfliktfall ihre Inte-
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„Es besteht eine falsche Partizipation, eine Herrschaft durch die COGERH, eine Kontrolle durch diese Institution. Sie beherrscht das Wissen und die Techniken [...]. Als wir die Wahlen zum Vorstand gewonnen haben, war unsere Absicht, autonom zu sein“ (Interview mit Francisco Rosângelo Marcelino da Silva, ehemaliger Vizepräsident des Wasserkomitees der SubBacia Baixo Jaguaribe; eigene Übersetzung).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
ressen durchzusetzen, besonders deutlich. Insbesondere über die Verweigerung von Finanzmitteln wurden jegliche Versuche, Kommunikationsprozesse mit der Bevölkerung anzustoßen und Veränderungen durchzusetzen, systematisch untergraben. So wurden die Kosten für eine Podiumsdiskussion mit der Soziologieprofessorin NORMA FELICIDADE LOPES DA SILVA VALENCIO, die sich kritisch mit der Einführung von Wassertarifen auseinandersetzt, ebenso wenig bezahlt wie die Organisation einer ‚Woche des Wassers‘ (semana de água), die in den einzelnen Munizipien gemeinsam mit dem Forum Regional pela Vida no Semiárido veranstaltet werden sollte. Eine Reise von ROSÂNGELO zu einem Treffen von Vertreter_innen der Wasserkomitees im Süden Brasiliens, bei dem die Erfahrungen der einzelnen Komitees ausgetauscht werden sollten, wurde durch die Verweigerung der Finanzmittel ebenso verhindert wie die Erstellung einer Broschüre, mit deren Hilfe eine Studie der EMBRAPA über den Zustand der Wasserressourcen am Unterlauf des Jaguaribe vorgestellt und insbesondere in den Schulen ein Bewusstsein über den Umgang mit Wasser geschaffen werden sollte: „a outra coisa muito chata que aconteceu com a gente, que nós percebemos a falta de autonomia, a falácia, o discurso da boca pra fora, mentiroso, de dizer que o comitê tem a autonomia, que o comitê é um órgão independente, foi quando a gente destinou esse recurso de 15.000 R$ para a produção dessas cartilhas. Considerávamos que o [...] trabalho da EMBRAPA [...] é um trabalho muito interessante, que nós poderíamos avançar na formação da consciência da população do Vale do Jaguaribe [...]. A cartilha, ela [...] se arrastou com meses, meses, meses, porque o Estado começou a perceber o grau de criticidade, da cartilha, nê [...]. Então eles começaram a implicar com o texto, nê, com os conceitos que nós colocávamos lá [...]. Era uma coisa de censura mesmo, sabe, censurando o conteúdo da cartilha [...]. Puxa, somos nós que estamos construindo, nós estamos aqui com um corpo de técnicos responsáveis [...]. Então a gente percebeu que tinha essa tutela, esse controle sobre o comitê [...] 4“ (Interview mit ROSÂNGELO, Cáritas).
Insbesondere im Konfliktfall zeigen sich die Möglichkeiten von Partizipationsprozessen – und deren Begrenztheit. Die Erfahrungen aus dem Wasserkomitee der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe verdeutlichen, dass ohne eigene finanzielle Mittel und ohne eine unabhängige Geschäftsstelle, die der Verwaltung der Komitees unterstellt ist, keine eigenständige Politikgestaltung durch die Komitees möglich ist. 4
„eine weitere ärgerliche Sache, die uns passiert ist, durch die wir die fehlende Autonomie wahrgenommen haben, den Trugschluss, das Lippenbekenntnis, die Lüge von der Autonomie der Komitees, davon, dass das Komitee ein unabhängiges Organ sei, war, als wir diese 15.000 R$ für die Produktion der Broschüren verwenden wollten. Wir dachten, dass die Studie der EMBRAPA eine ziemlich interessante Arbeit sei, dass wir damit mit der Bewusstseinsbildung der Bevölkerung des Jaguaribe-Tals vorankommen könnten [...]. Die Broschüre zog sich über Monate hin, Monat für Monat, da der Staat angefangen hatte, das Kritikpotenzial der Broschüre zu bemerken, ne [...]. Dann begannen sie damit, den Text zu beanstanden, die Inhalte, die wir dort platziert hatten [...]. Es war wirklich eine Art Zensur, weißt du, sie zensierten die Inhalte der Broschüre [...]. So was, es sind doch wir, die wir das hier aufbauen, wir sind hier, mit einem verantwortlichen Expertenteam [...]. So bemerkten wir, dass es diese Bevormundung gab, diese Kontrolle des Komitees [...]“ (Interview mit Rosângelo, Cáritas, eigene Übersetzung).
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Selbst Mitglieder des Komitees, die als Vertreter_innen der Bewässerungslandwirtschaft vom aktuellen Wassermanagement profitieren, kritisieren die Abhängigkeit von der COGERH und die enge Verknüpfung mit der staatlichen Politik: „o Comitê é totalmente dependente da COGERH, então fica uma coisa muito tendenciosa. Como uma instituição se relaciona com uma outra, com essa dependência? Ela está na política do estado, tem que separar 5“ (Interview mit KARLOS WELBY NERI PAIVA, Vertreter der Verbände des Bewässerungsprojektes Jaguaribe-Apodi (FAPIJA)).
12.1.3 Wissensasymmetrien oder: Can the subaltern speak? Gerade aufgrund der Tatsache, dass Diskussionen über Gesetzesänderungen und Entscheidungen über Abflussmengen den Hauptbestandteil der Treffen der Wasserkomitees ausmachen, wird auf den Treffen meist eine sehr technische Sprache mit vielen Spezialausdrücken verwendet. Wissenschaftlich-technisches Wissen wird somit zur Voraussetzung für die Teilnahme an den Partizipationsprozessen und erfährt dadurch im Gegensatz zu anderen Wissensformen (lokales Wissen, soziale Kompetenzen etc.) eine Höherbewertung. Dies wird auch in den Studien des Projektes Marca d´Água deutlich, bei denen Teilnehmer_innen von 14 Wasserkomitees und vier intermunizipalen Wasserkonsortien aus ganz Brasilien befragt wurden. So gaben 31% der Befragten an, dass technisches Wissen die wichtigste Fähigkeit ist, die ein Mitglied eines Komitees besitzen sollte, gefolgt von lokalem Wissen (26%), Erfahrungen im Wassermanagement (24%) und politischer Artikulationsfähigkeit (18%) (FLORIT & NOARA 2010: 82). Immerhin 67% der Befragten sind der Meinung, dass die ungleiche Verteilung von technischen Kenntnissen den Partizipationsprozess erschwert, während 50% politische Machtungleichgewichte und lediglich 31,5% wirtschaftliche Ungleichheiten als erschwerend ansehen (ebd.: 94). Im Gegensatz zu den Hochzeiten des Coronelismo wird heutzutage somit Expert_innenwissen als wichtigster Machtfaktor für Entscheidungsprozesse angesehen. Dabei werden sogar technisch richtige Entscheidungen höher bewertet als Entscheidungen, die durch einen demokratischen Prozess zustande gekommen sind. 59% der Befragten gaben an, die technische Korrektheit einer Entscheidung wichtiger zu beurteilen als einen demokratischen Entscheidungsprozess (ebd.: 98). Um die Wissensunterschiede zwischen den Mitgliedern der Komitees auszugleichen, werden von der COGERH spezielle Schulungen angeboten (curso de capacitação), in denen die historischen, institutionellen und juristischen Grundlagen des Wassermanagements in Ceará vorgestellt und besprochen werden. Solche 5
„das Komitee ist völlig von der COGERH abhängig, so ist es etwas sehr tendenziöses. Wie kann sich eine Institution mit einer anderen in Verbindung setzen, wenn so eine Abhängigkeit besteht? Sie befindet sich innerhalb der staatlichen Politik, das muss getrennt werden“ (Interview mit Karlos Welby Neri Paiva, Vertreter der Verbände des Bewässerungsprojektes Jaguaribe-Apodi (FAPIJA); eigene Übersetzung).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
Seminare finden als Wochenendveranstaltungen über einen längeren Zeitraum statt, wobei Expert_innen aus unterschiedlichen Institutionen (Universität, COGERH, DNOCS; SRH) einzelne Einheiten übernehmen. Über diese Kurse soll ein Wissenstransfer und somit ein Empowerment der Mitglieder der Wasserkomitees erfolgen. Da dieses Wissen jedoch mehrheitlich von Vertreter_innen der staatlichen Institutionen des Wassermanagements aufbereitet und weitergegeben wird, findet nur bedingt eine kritische Diskussion der vorhandenen Strukturen und gängigen Praktiken des Wassermanagements statt. Vielmehr wird über die Kurse das bestehende Wissen reproduziert und der hohe Stellenwert von technischem Wissen innerhalb von Partizipationsprozessen bestätigt. Somit tragen die Seminare zu einer Erhöhung der Akzeptanz des bestehenden Wassermanagements und zu einer Festigung der Strukturen bei 6. Ein Versuch, solche Reproduktionsmechanismen aufzubrechen und die Schulungen zu nutzen, um das Wassermanagement in Ceará kritisch zu diskutieren, stellte das Ansinnen des Vorstandes des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe unter ZÉ MARIA und ROSÂNGELO dar, eigene Expert_innen für die Schulungen zu benennen. Dadurch hätten die Kurse von einem Ort der Reproduktion vorgegebener Verhaltensweisen und der Formung angepasster Subjektpositionen zu einem Ort der Infragestellung, der Konstruktion von neuen, eigenen Entscheidungsstrukturen und somit auch des Widerstandes werden können. Doch auch das wusste der Staat über die COGERH zu verhindern: „A gente ganhou a eleição, e começamos a pensar a capacitação. Quando nós começamos a já definir a capacitação dos membros, pensar o conteúdo, o que seria a capacitação dos novos membros, o Estado ele começou a reagir. E eu fui percebendo: puxa, mas nós não temos a autonomia? Nós não podemos definir que são os assessores que vêm capacitar as pessoas? Porque quem eram os técnicos que iam capacitar os membros do comitê? Membros da SRH do estado, e da COGERH, que é do estado. Então a gente achava que aqueles técnicos eles viam com o discurso do estado, nê, vinham fazer uma capacitação, mas com a criticidade que nós queríamos ela não ia aparecer, porque o estado ele tem, a meu ver, uma visão economicista, e exploracionista dos recursos hídricos, sabe? [...] Então a gente percebia que existia um discurso, da gestão participativa, da gestão integrada dos recursos hídricos, mas que na prática a gente viu uma coisa completamente diferente. E ai, isso se revelasse quando? Quando o estado queria tutelar, quer dizer, comandar, coordenar as diretorias do comitê, quando a gente não tinha liberdade de pensar 7“ (Interview mit ROSÂNGELO, Cáritas).
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Die Beobachtungen beruhen zum größten Teil auf der Teilnahme eines solchen Kurses (Curso de Extensão em Gestão de Recursos Hídricos) im Juli 2009. „Wir haben die Wahlen gewonnen und fingen damit an, uns über die Schulungen Gedanken zu machen. Als wir damit begannen, die Fortbildungen der Mitglieder festzulegen, als wir über die Inhalte nachdachten, wie soll die Schulung der neuen Mitglieder aussehen, begann der Staat zu reagieren. Und ich bemerkte: Mensch, haben wir denn keine Autonomie? Können wir nicht die Berater definieren, die die Leute ausbilden sollen? Denn wer waren denn die Experten, die die Mitglieder des Komitees schulen werden? Mitglieder des SRH des Staates und der COGERH, die auch staatlich ist. Also dachten wir, dass diese Experten mit dem Diskurs des Staates ankommen werden, ne, sie werden die Ausbildung machen, aber das kritische Potenzial, das wir wollten, würde nicht aufscheinen, da der Staat aus meiner Sicht eine
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Neben der Zuordnung zu einer der drei legitimen Hauptkategorien, die innerhalb der Komitees zugelassen sind (Nutzer_innen, Zivilgesellschaft, Staat), findet die Konstitution der Sprecher_innenposition auch über die Benennung und NichtBenennung der eigenen Position statt. Bei ihrer ersten Intervention während eines Treffens des Wasserkomitees sind alle Redner_innen dazu aufgefordert, sich kurz vorzustellen. Doch während Landwirt_innen sich normalerweise als Produzent_in eines bestimmten Bewässerungsprojektes oder eines bestimmten Munizips vorstellen, benennen Vertreter_innen von staatlichen Behörden oder Unternehmen zusätzlich meist noch ihre Ausbildung (bspw. als Ingenieur_in oder Agrarwissenschaftler_in) oder ihre Funktion innerhalb ihrer Organisation (Direktor_in, Manager_in, Sprecher_in etc.) (TADDEI 2005: 304). Auch hierbei wird das Expert_innenwissen, auf das über die Erwähnung der Ausbildung oder der formalen Position Bezug genommen wird, zur Legitimationsquelle von Sprechpositionen. Dadurch werden andere Sprecher_innenpositionen abgewertet. Immerhin 6% der Befragten der Studie Marca d´ Água gaben an, dass sie nicht das Gefühl haben, sich bei den Treffen der Wasserkomitees frei äußern zu können. 12% der Befragten fühlen sich in manchen Situationen nicht frei, mitzudiskutieren (FLORIT & NOARA 2010: 97). Jedoch warnt THOMAS MACHADO, ehemaliger Präsident des Wasserkomitees des Rio São Francisco davor, die Sprecher_innenpositionen und ihre Möglichkeiten zu sprechen zu einfach entlang eines klassischen Verständnisses von Machtpositionen zu bewerten. Aus seiner Sicht kennen die einzelnen Teilnehmer_innen ihre Interessen sehr genau und wissen sie sehr wohl auch zu vertreten: „não tem uma luta de classe. [...] É um jogo de interesse ali [...] Todo mundo tem interesse: o pescador sabe direitinho o interesse dele, entendeu? A sociedade civil sabe direitinho o interesse dela, os usuários sabem direitinho os interesses deles. A questão não e técnica, eu acho neste sentido, é de interesse [...]. Todo mundo sabe o seu interesse, [...] sabe defender sim, não tem ninguém bobo não, ninguém chega no comitê do São Francisco que é bobo não. Você tem pescador aí, que têm 30 anos de luta, entende? [...] O cara vai fazer um escândalo lá dentro, entende, e tem argumentos 8“ (Interview mit THOMAS MACHADO; eigene Überstezung).
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ökonomistische und ausbeuterische Sicht auf die Wasserressourcen hat, verstehst Du? [...] Somit bemerkten wir, dass es einen Diskurs des partizipativen Managements, des Integrativen Wasserressourcen Managements gibt, doch dass wir in der Praxis etwas ganz anderes zu sehen bekamen. Und wann hat sich das gezeigt? Als der Staat uns bevormunden wollte, das heißt, als er den Vorstand des Komitees kommandieren und koordinieren wollte, als wir nicht die Freiheit hatten zu denken“ (Interview mit Rosângelo; eigene Übersetzung). „es gibt keinen Klassenkampf. [...] Es ist ein Spiel von Interessen [...]. Jeder hat seine Interessen: Der Fischer kennt seine Interessen ganz genau, verstehst du? Die Zivilgesellschaft kennt ihre Interessen ganz genau, die Nutzer kennen ihre Interessen ganz genau. Die Frage ist keine technische Frage, so sehe ich das, es ist eine Frage von Interessen [...]. Jeder kennt seine Interessen [...] und weiß sie auch zu verteidigen, dort gibt es niemanden, der dumm ist, niemand kommt ins Komitee des São Francisco, der dumm ist. Dort gibt es Fischer, die 30 Jahre des
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Neben dem Zugang zu Informationen und technischem Wissen und den unterschiedlichen Sprecher_innenpositionen bestehen auch informelle Strukturen, die die Entscheidungsfindungsprozesse in den Wasserkomitees wesentlich beeinflussen. So gab immerhin fast ein Drittel (32%) der befragten Teilnehmer_innen der Wasserkomitees in Brasilien an, dass die Mehrheit (sic!) der Entscheidungen vor den eigentlichen Treffen der Komitees gefällt werden (FLORIT & NOARA 2010: 97). Dies deutet darauf hin, dass polit-ökonomische Zugehörigkeiten nach wie vor einen bedeutenden Einfluss bei der Frage spielen, wer Zugang zu den ‚inner circles‘ der Macht hat und wer nicht. Gleichzeitig besteht auch die Möglichkeit, dass sich die politisch und wirtschaftlich weniger einflussreichen Gruppierungen außerhalb der Komitees zusammenschließen und über informelle Absprachen Machtpositionen aufbauen. 12.1.4 Verwaltung statt Gestaltung: Die Bestimmung der Wasserabflussmenge Hauptaufgabe der Komitees ist die Festlegung der zulässigen Abflussmenge der innerhalb eines Flusssystems gelegenen Stauseen. Da sich innerhalb der SubBacia Baixo Jaguaribe lediglich der Stausee Santo Antônio de Russas mit einer maximalen Speicherkapazität von 24 Mio. m3 befindet (S. Abb. 38), nehmen die Diskussionen um die Abflussmenge keinen allzu großen Raum bei den Treffen ein. Dennoch bergen sie ein beträchtliches Konfliktpotential. In der Regel stellt ein_e Mitarbeiter_in der COGERH die aktuelle Wassersituation des Stausees und die Entwicklungen der Wasserstände und Abflussmengen seit der letzten Entscheidung des Komitees vor und präsentiert verschiedene Abflussszenarien, zwischen denen die Mitglieder des Komitees entscheiden können. Allerdings definieren sie keine feste Abflussmenge, sondern bestimmen lediglich den minimalen und maximalen durchschnittlichen Abfluss. Ein solcher Korridor dient dann wiederum dem untergeordneten Entscheidungsorgan – der Management-Kommission des Stausees (comissão gestora) – als Grundlage für die genaue Festlegung der durchschnittlichen Abflussmenge. Dabei werden nur solche Szenarien präsentiert, die gewährleisten sollen, dass der Stausee in den nächsten zwei Jahren nicht trockenfällt. Unter Einberechnung der Evaporation kann somit nur für eine Abflussmenge votiert werden, die am Ende der Trockenzeit ein Speichervolumen von 40% garantiert. Während der Präsentation der COGERH werden sehr viele technische Ausdrücke und abstrakte Größen verwendet (Wasserpegel in m, Speicherkapazität in m3, Abflussmenge in m3/s oder teilweise in l/s), die – zumindest für mich – nur schwer vorstellbar sind. Lediglich die Angabe des Speichervolumens in Prozent stellte für mich eine einschätzbare Angabe dar.
Kampfes hinter sich haben, verstehst du? Der Typ macht einen Aufstand dort drinnen, verstehst du? Und er hat Argumente“ (Interview mit Thomas Machado; eigene Übersetzung).
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So wurde bei dem Treffen des Wasserkomitees der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe am 23. Juli 2009 beispielsweise festgelegt, dass die durchschnittliche Abflussmenge für die Monate August bis Dezember 2009 zwischen 0,092 m3/s und 0,104 m3/s liegen soll. Folglich konnte die Management-Kommission des Stausees Santo Antônio de Russas darüber entscheiden, ob der Stausee zum 01. Januar 2010 ein Speichervolumen von 60,5% oder von 59,6% aufweisen soll. Somit besteht die Entscheidungsmacht auf der untersten Ebene des Partizipationsprozesses darin, über weniger als einen Prozentpunkt des Speichervolumens eines Stausees abzustimmen. Ob dies einen nachhaltigen Partizipationsprozess in Gang setzt und zu einem Empowerment der beteiligten Akteure beiträgt, bleibt zumindest fraglich. Das Konfliktpotential bei der Entscheidung über die Abflussmenge des Stausees Santo Antônio de Russas liegt jedoch vor allem darin, dass der von dem Stausee abgehende Rio Palhano kein ganzjährig wasserführender Fluss ist. Je nach festgelegter Abflussmenge erreicht das Wasser bestimmte Gemeinden am Flusslauf des Rio Palhano – oder eben nicht. Eine Entscheidung für eine durchschnittliche Abflussmenge von 0,08 m3/s bedeutet beispielsweise, dass das Wasser, das in das Flussbett geleitet wird, in der Trockenzeit nicht einmal die Gemeinde Pedras erreicht. Aber auch eine Abflussmenge von 0,104 m3/s reicht nicht aus, um die Kleinstadt Palhano mit Wasser zu versorgen. Der Munizip Palhano: Verlierer des Wassermanagements Palhano ist ein stark landwirtschaftlich geprägtes Munizip, in dem knapp 9.000 Menschen leben (IBGE 2012). Neben extensiver Rinderweidewirtschaft sind die Hauptanbauprodukte Maniok, Bohnen und Cashew. Zwar sind die Haushalte in der Stadt Palhano an das Wassersystem angeschlossen, jedoch sind die rund 27 Gemeinden und die vereinzelt stehenden Höfe nach wie vor auf Regenwasser und die Versorgung mit Tanklastwagen angewiesen. Da der Rio Palhano nur in der Regenzeit durchgehend Wasser führt, ist Bewässerungslandwirtschaft in der Region nicht möglich. Vereinzelte kleine Stauseen in der Region, die in der Trockenzeit jedoch meistens trockenfallen, dienen als Wasserspeicher für die Versorgung der Tiere. Das Grundwasser wiederum ist zu salzig, um als Trinkwasser verwendet zu werden. Seit über 20 Jahren kämpfen die Gemeinden für einen Anschluss an das Wassersystem, doch trotz zahlreicher Versprechen und Besuchen von Politiker_innen und Ingenieur_innen hat sich die Situation bis heute nicht verändert. In der Gemeinde Cachoeirinha steht beispielsweise seit dem Jahr 2000 ein Wasserturm, der jedoch nie an die Haushalte angeschlossen wurde. Aufgrund dieser Vorgeschichte begegneten mir bei meinem Besuch in der Region sowohl viele Erwartungen als auch viele Zweifel und Ablehnung, zumal mich ein Gemeindevertreter begleitete.
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
Abb. 37: Palhano: Leben mit dem Kampf um Wasser.
Mit der Einführung des Wasserressourcen Managements verschlechterte sich laut Aussagen der Flussanrainer die Wassersituation entlang des Flusses Palhano. Erreichte bis in die 1990er Jahre das Wasser des Rio Palhano auch über weite Strecken der Trockenzeit die Stadt Palhano, so trocknet der Fluss aufgrund des rigiden Wassermanagements der COGERH nun jedes Jahr aus (Interview mit EDSON COSTA). Seitdem versuchen Vertreter_innen der Munizipalverwaltung vergeblich, innerhalb des Wasserkomitees für eine Lösung der Situation zu kämpfen. Die Vorgaben der COGERH, die eine Verhinderung des Austrocknens des Stausees priorisieren, und die unterschiedlichen Interessen innerhalb des Komitees lassen jedoch keine höheren Abflussmengen zu. Die Behauptung, dass für die Versorgung aller sich am Rio Palhano befindlichen Gemeinden nicht genügend Wasser zur Verfügung stehe, wurde 2008 jedoch grundlegend in Frage gestellt. Grund dafür waren schwere Regenfälle, die die Verbindung zwischen dem Rio Jaguaribe und dem Canal do Trabalhador zerstörten (vgl. Kap. 7.1.2.2). Dadurch konnte kein Wasser mehr in den Kanal, der sowohl einige Bewässerungsprojekte als auch die Metropolitanregion Fortaleza mit Wasser versorgt, geleitet werden. Gleichzeitig war der Kanal der Integration (Eixão), der in Zukunft Wasser bis nach Fortaleza und den Hafen von Pecém transportieren soll, nur bis zu einem Teil fertig gestellt. Da jedoch eine Verbindung zwischen dem Eixão, dem Rio Palhano und dem Canal do Trabalhador besteht, wurde kurzerhand Wasser aus dem Stausee Castanhão über den Eixão in
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Abb. 38: Palhano: Im toten Winkel der Wasserinfrastruktur.
den Rio Palhano geleitet, um die Wasserversorgung Fortalezas sicherzustellen (s. Abb. 38). Im August 2010 wurde dieser Vorgang ein weiteres Mal wiederholt und der Rio Palhano führte während der Trockenzeit vier Monate lang durchgehend Wasser. Durch diese kurzfristige Maßnahme wurde den Flussanrainern des Rio Palhano bewusst, dass eine ständige Wasserführung des Flusses zumindest technisch möglich wäre. Genau darin sehen die Mitarbeiter_innen der COGERH jedoch eine Gefahr für das Wassermanagement. Die Möglichkeit der ganzjährigen Wasserführung könne falsche Erwartungen wecken, die jedoch von den Wasserkomitees nicht erfüllt werden können. Die Nutzung des Wassers und der Infrastruktur für die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung sei so nicht in der Wasserpolitik vorgesehen: „O Canal [da Integração] foi construído para atender a demanda de abastecimento da Região Metropolitana e complexo do Porto do Pecém. E a vazão já é regularizada para ele, para este canal, e os usos de certa forma já foram destinados [...]. Não foram inclusos atendimentos de trechos da irrigação, ou outros tipos de usos para o canal, não foi previsto isso [...]. Tem uma demanda muito grande [...], muitas comunidades gostariam de, por exemplo, fosse liberado a água do Canal da Integração para esses riachos, seja para atender uma comunidade de abastecimento ou mesmo para irrigação. Então se você for liberar água para esses riachos, [...] você vai gerar muitas expectativas de demanda e as pessoas vão começar a ter, digamos assim, aquela intenção de usar água para irrigação por exemplo. E aí, vai gerar uma
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes expectativa, [...]. Vão querer mais tender ter aquele direito 9“ (Interview mit ANDRÉ CUNHA, COGERH).
Obwohl gesetzlich festgelegt ist, dass die Wasserversorgung der Bevölkerung absolute Priorität innerhalb der Wasserpolitik genießen soll, wird die Forderung nach einer ganzjährigen Flutung des Rio Palhano innerhalb des Komitees abgewiesen. Insbesondere die COGERH argumentiert damit, dass die zusätzlichen Energiekosten, die für den Transport des Wassers über den Kanal der Integration aufgewendet werden müssten, zu teuer seien und von den Gemeinden entlang des Rio Palhano nicht aufgewendet werden könnten. Darüber hinaus sei die COGERH lediglich für die Verwaltung der Wasserressourcen zuständig. Die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser sei die Sache des Wasserversorgungsunternehmens CAGECE (Companhia de Água e Esgoto do Ceará) (COMITÊ DA SUB BACIA HIDROGRÁFICA BAIXO JAGUARIBE 2009). Somit wird über technischadministrative Argumente eine grundlegende Auseinandersetzung mit Fragen der Verteilung und Demokratisierung von Wasser innerhalb der Partizipationsstrukturen verhindert. Auf die Frage, warum die COGERH nicht versucht, die Wasserversorgung der Gemeinden im Munizip Palhano über den Rio Palhano zu ermöglichen, antwortete TEREZA MOREIRA, Koordinatorin des Wassermanagements der COGERH in Limoeiro do Norte: „a gente segue à lei estadual [...]. As coisas infelizmente são assim. Não pode ser irresponsável, se o açude não tem a capacidade... A gente tem que trabalhar em cima dos dados 10“ (Interview mit TEREZA MARIA XIMENES MOREIRA, COGERH).
Wenn Partizipationsprozesse, die mit großen Versprechen gestartet wurden und die viel Zeit und Einsatz abverlangen, jedoch keine erkennbaren Ergebnisse zeitigen, kann dies zu einer hohen Frustration bei den beteiligten Akteuren führen. Auch EDSON COSTA, langjähriger Vertreter der Munizipalverwaltung von Palhano im Wasserkomitee der Sub-Bacia Baixo Jaguaribe, hat die Hoffnung in die Veränderungskraft der Wasserkomitees bereits aufgegeben. In einer E-Mail schreibt er: 9
„Der Kanal [der Integration] wurde gebaut, um die Nachfrage der Metropolitanregion und des Hafens von Pecém zu decken. Die Abflussmenge wurde bereits dafür reguliert, für diesen Kanal, und die Nutzung ist auf eine gewisse Weise schon vorherbestimmt [...]. Die Bewässerung von einigen Abschnitten oder andere Nutzungen wurden dabei nicht vorgesehen [...]. Es gibt eine sehr große Nachfrage [...], viele Gemeinden würden sich wünschen, wenn zum Beispiel Wasser des Kanals der Integration für diese Flussbetten freigegeben würde, sei es für die Wasserversorgung der Gemeinden oder selbst für die Bewässerung. Wenn nun aber Wasser für diese Bäche freigegeben werden würde [...] werden viele Erwartungen geweckt, und die Leute hätten, sagen wir mal so, diese Absicht, zum Beispiel Wasser für Bewässerungszwecke zu nutzen. Und so wird eine Erwartung erzeugt [...].Sie werden immer mehr dazu tendieren, dieses Recht haben zu wollen“ (Interview mit André Cunha, COGERH; eigene Übersetzung). 10 „wir befolgen die staatlichen Gesetze [...]. Leider sind die Dinge nun mal so. Man kann nicht unverantwortlich sein, wenn der Stausee keine Kapazität hat... Wir müssen auf Grundlage der Daten arbeiten“ (Interview mit Tereza Maria Ximenes Moreira, COGERH; eigene Übersetzung).
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„O Comitê de Bacias é, no meu entendimento, um mero executor das políticas dos donos da ordem. Não tem se deixado sensibilizar pelo clamor da população, nada mudou. O abastecimento continua sendo feito por carros pipa de modo precário. Não bastasse a precariedade desse tipo de atendimento, a situação agravou-se com o advento da seca. [...] Palhano continua sem ser abastecido pelo Açude Santo Antônio. A liberação de água do Castanhão para o município tornou-se impraticável, é muito cara. Só nos resta esperar, agora, pela providência divina 11“ (E-Mail von EDSON COSTA, 05.04.2013).
12.1.2 Partizipation als Herstellung von Hegemonie Auch an dem Beispiel der Wasserversorgung des Munizips Palhano wird die Ausrichtung der Wasserpolitik in Ceará deutlich. Das in den Großstrukturen der Wasserinfrastruktur gespeicherte und transportierte Wasser ist – trotz technischer Möglichkeiten – nicht dafür vorgesehen, die ländliche Bevölkerung mit Wasser zu versorgen. Vielmehr wird das Wasser in die wirtschaftlichen und urbanen Zentren geleitet, um dort die Umsetzung des agro-industriellen Entwicklungsmodells zu ermöglichen. Die Ausrichtung einer solchen Wasserpolitik steht bei den Entscheidungen der Wasserkomitees allerdings nicht zur Disposition. Das Komitee hat die Möglichkeit, unter bestimmten Vorgaben bei der Abflussmenge der Stauseen mitzuentscheiden. Die Wasserkomitees sind jedoch nicht dafür eingerichtet worden, die Wasserpolitik an der Basis zu diskutieren und eigenständige Lösungen und Alternativvorschläge zu erarbeiten. Der Partizipationsprozess beruht somit auf der stillschweigenden Übereinkunft, die grundlegenden Pfeiler des Wassermanagements in Ceará und letztendlich auch die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu akzeptieren. Fragen nach strukturellen Veränderungen, wie etwa eine Demokratisierung des Zugangs zu Wasser, nach dem Bau dezentraler Wasserinfrastruktur, Fragen nach der Versorgung von marginalisierten Gemeinden oder gar nach einer Reform der Besitzverhältnisse werden dabei ausgeklammert. Somit besteht die Aufgabe des Partizipationsprozesses in der Verwaltung der bestehenden Ungleichheitsverhältnisse, was letztendlich zu einer Festschreibung dieser Verhältnisse beiträgt. Über die Beteiligung verschiedener sozialer Akteure an den Entscheidungsstrukturen erfährt die herrschende Wasserpolitik darüber hinaus noch weitere Legitimation. Gleichzeitig sind die Partizipationsstrukturen Ausdruck eines auf Konsens beruhenden Politikverständnisses, bei dem Konflikte nicht als Ausdruck gesell11 „Das Wasserkomitee ist meinem Verständnis nach ein reines Vollstreckungsorgan der Politiken der Machthaber. Sie haben sich von dem Aufschrei der Bevölkerung nicht sensibilisieren lassen. Nichts hat sich verändert. Die Versorgung wird weiterhin in prekärer Weise mit Tanklastwagen durchgeführt. Doch als wäre die Prekarität einer solchen Versorgung nicht schon genug, so hat sich mit dem Aufkommen der Dürre die Situation noch verschlimmert. [...] Palhano wird weiterhin nicht über den Stausee Santo Antônio [mit Wasser] versorgt. Die Versorgung mit Wasser aus dem Castanhão hat sich als unpraktikabel herausgestellt, sie ist zu teuer. So bleibt uns nur zu warten, jetzt, auf die göttliche Vorsehung“ (E-Mail von Edson Costa, 05.04.2013).
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schaftlicher Widersprüche und als Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Transformationsprozesse, sondern als technische Probleme, die verwaltet werden müssen, verstanden werden. Interessenkonflikte und soziale Auseinandersetzungen um Teilhabe und die Aneignung von Natur werden dadurch entpolitisiert und in Fragen des richtigen Managements übersetzt. Die Vertreter_innen von Palhano haben einen Sitz innerhalb des Wasserkomitees, wo sie ihre Anliegen vorbringen können und gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern des Komitees um mehrheitsfähige Vorschläge und Kompromisse ringen können. Schaffen sie es nicht, eine Mehrheit hinter sich zu versammeln, so müssen sie sich den Mehrheitsverhältnissen unterordnen. Über einen auf Konsens beruhenden Partizipationsprozess, bei dem die wichtigsten sozialen Akteure integriert werden und gleichzeitig eine grundlegende Infragestellung der herrschenden Verhältnisse ausgeschlossen bleibt, wird somit Hegemonie hergestellt. Eine solche Bewertung der Partizipationsprozesse des Wassermanagements in Ceará führte auch dazu, dass sich die sozialen Bewegungen aus diesen Prozessen mehr und mehr zurückgezogen haben. Die Erfahrungen des Scheiterns bei dem Versuch, die politische Ausrichtung der Wasserkomitees zu verändern und die Gefahr, zur Legitimation einer als ungerecht empfundenen Wasserpolitik beizutragen, überwogen letztendlich vor den Möglichkeiten, die solche Beteiligungsprozesse für die Gestaltung politischer Räume bieten können. So zieht YURI, ein Vertreter der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (Movimento dos Atingidos de Barragens, MAB), die ernüchternde Bilanz: „são duas questões, nê? uma de você ocupar e participar neste espaço [...] e qual forma de ocupação desse espaço e com que força você vai para discutir dentro deste espaço [...]. E a outra coisa é essa análise, se vale a pena, se esse espaço vale a pena, ele é decidido, tem salvação? Os movimentos têm procurado um pouco sair desses fóruns, porque do ponto de vista de coalizão de força não temos conseguido mudar a perspectiva desses fóruns [...]. O problema é legitimar ainda com os movimentos dentro desses espaços. Esse tem sido o motivo da saída dos movimentos desses espaços [...]. São questões preocupantes, porque nós fizemos uma avaliação de não-participar, tem que ver o que é que isso resulta [...] e ver também qual efeito terá com isso. É uma situação dos movimentos que dificulta as decisões 12“ (Interview mit YURI, MAB).
12 „Da stellen sich zwei Fragen, ne, die eine ist, diesen Raum zu besetzen und teilzunehmen [...] und in welcher Form dieser Raum besetzt wird und mit welcher Kraft innerhalb dieses Raumes diskutiert werden kann [...]. Die andere Sache ist die Analyse, ob es sich lohnt, lohnt sich dieser Raum, ist er entscheidungsfähig, löst er irgendwas? Die [sozialen] Bewegungen haben etwas versucht, diese Foren zu verlassen, da wir es aus Sicht der Koalition der Kräfteverhältnisse nicht geschafft haben, die Perspektive dieser Foren zu verändern [...]. Das Problem ist, dass mit der Beteiligung der Bewegungen diese Räume noch legitimiert werden. Das war das Motiv, warum die Bewegungen diese Räume verlassen haben [...]. Es sind beunruhigende Fragen, somit sind wir zu der Bewertung gekommen, nicht daran teilzunehmen, man muss sehen wohin das führt und auch, welche Effekte das haben wird. Es ist eine Situation der Bewegungen, die die Entscheidungen erschwert“ (Interview mit Yuri, MAB; eigene Übersetzung).
12.2 Vielfältigkeit des Widerstandes
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Auch ROSÂNGELO und die Cáritas von Limoeiro do Norte haben sich aus dem Partizipationsprozess der Wasserkomitees verabschiedet. Nach dem Ablauf seines konfliktreichen Mandats als Vorstandsmitglied des Wasserkomitees organisierten die staatlichen Institutionen eine aufwendige Wahlkampagne für einen Vertreter der CAGECE, der 2005 die Vorstandswahlen schließlich auch gewann. Auch für ROSÂNGELO stellt die Beteiligung an den Wasserkomitees nur dann eine Handlungsoption dar, wenn dadurch ein Empowerment der Bevölkerung ermöglicht wird. Andernfalls sieht er die Handlungsoptionen der sozialen Bewegungen eher darin, außerhalb der Komitees politischen Druck aufzubauen und neue Wege für eine Stärkung der Bevölkerung zu beschreiten: „Ou a gente organiza aplicando metodologias participativas, com a linguagem popular para que o povo saiba do que está fazendo e participando, ou a gente sai do processo. Não vamos legitimar o processo deles lá. E vamos fazer organização na base [...]. Se a comunidade não tem força dentro do Comitê parar destinar projetos que venha distribuir água [...] a gente sai e nós vamos organizar o povo. Vamos elaborar projetos, vamos pressionar a prefeitura, vamos bater todo mês [...] na prefeitura [...]. Tem que criar outros caminhos para [...] fortalecer o povo, para que eles criam a autonomia 13“ (Interview mit ROSÂNGELO, Cáritas).
Mit dem Ausscheiden einer Reihe von Vertreter_innen von sozialen Bewegungen und der Besetzung der freiwerdenden Plätze durch professionelle ‚Expert_innen‘ verringerte sich die soziale und politische Vielfalt der Komitees. Seitdem sind die Treffen der Wasserkomitees weniger konfliktreich und werden von den Teilnehmer_innen als effektiver angesehen (TADDEI & GAMBOGGI 2011: 25). Somit scheint es, dass die Partizipationsstrukturen des Wassermanagements in Ceará zu einem Ort des effizienten Wassermanagements und der Legitimierung der staatlichen Wasserpolitik geworden sind und – zumindest momentan – keinen Ort des Widerstandes und des Aufbrechens ungerechter Strukturen darstellen. 12.2 Vielfältigkeit des Widerstandes In seinen berühmten Berichten über die Dürre im Nordosten Brasiliens beschreibt der Arzt, Ernährungs- und Sozialwissenschaftler JOSUÉ DE CASTRO die Komplexität der Probleme, mit denen die Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts in der semiariden Region konfrontiert waren. Dabei benennt er die Gefühle der Hoffnungslosigkeit, der Ohnmacht und Resignation als Formen der stillen Reaktion, 13 „Entweder organisieren wir die Anwendung von partizipativen Methoden mit einer einfach zu verstehenden Sprache, damit die Leute wissen, was sie tun und bei was sie teilnehmen, oder wir verlassen den Prozess. Wir werden deren Prozess nicht legitimieren. Und wir werden die Basis organisieren [...]. Wenn die Gemeinden keine Macht innerhalb des Komitees besitzen, um Projekte der Wasserverteilung zu entwickeln [...], werden wir [den Prozess] verlassen und die Bevölkerung organisieren. Wir werden Projekte entwickeln, die Lokalverwaltung unter Druck setzten, wir werden jeden Monat [...] beim Rathaus anklopfen [...]. Wir müssen andere Wege schaffen [...], um die Bevölkerung zu ermächtigen, damit sie Selbstverwaltung entwickelt“ (Interview mit Rosângelo, Cáritas; eigene Übersetzung).
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die die Menschen „diante dessa conspiração invencível das forças naturais e das forças sociais 14“ (CASTRO in SILVA 2006: 112) empfinden. Erst der Hunger treibe die Menschen zu Plünderungen und Revolten an (ebd.). Auch wenn der Sertão vielfach als ‚Territorium der Revolte‘ (ebd.: 100) beschrieben und der Widerstand eines LAMPIÃO, eines PADRE CICERO oder der Widerstandsbewegung um ANTÔNIO CONSELHEIRO wichtige Bestandteile der Erzählung der Geschichte des Nordostens darstellen und in Liedern, Gedichten und Filmen unzählige Male besungen, beschrieben und dargestellt wurden und werden (s. Kap. 6.2.6.1), so ist der alltägliche Umgang mit den natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen weit weniger heroisch und spektakulär. Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, die vielen Menschen im Nordosten Brasiliens einen täglichen Kampf um die Versorgung mit Wasser aufzwingen, werden in unzähligen Praktiken aktualisiert und reproduziert. Und dennoch findet Widerstand statt. Er manifestiert sich als Schrei, als lautstarke Demonstration oder kollektive Form des passiven Widerstandes genauso wie als stumme Form der Nichtakzeptanz der bestehenden Verhältnisse. Er findet in den Häusern ebenso statt wie in Schulen, in Radiostationen und bei öffentlichen Anhörungen. Doch er ist weder einfach noch selbstverständlich, weder allgegenwärtig noch immer explizit. Tab. 11: Vielfalt von Widerständen gegen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse
14 „in Anbetracht dieser unbesiegbaren Verschwörung der natürlichen und sozialen Kräfte“ (Castro in Silva 2006: 112; eigene Übersetzung).
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Abb. 39: Vielfalt des Widerstandes 15.
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
Der hier vorgenommene Versuch, einzelne Stränge des Widerstandes gegen die bestehenden gesellschaftlichen Naturverhältnisse, und speziell gegen die Dürreverhältnisse in der Region Baixo Jaguaribe, aufzunehmen und nachzuzeichnen, erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Mit der Darstellung widerständigen Verhaltens soll weder ein verklärtes Bild einer Region im Aufruhr gezeichnet noch die Möglichkeiten der Veränderungen negiert werden. Vielmehr soll der Blick auf die Vielfalt der Widerstände gelenkt und Überlegungen nach den Potenzialen für Veränderungen angestellt werden. 12.2.1 Mobilisierungen Ablehnung und Widerstand finden in alltäglichen Handlungen statt und sind oft nicht sichtbar. Eine Art, Widerstand sichtbar und erfahrbar zu machen sind gemeinschaftliche Ereignisse wie Demonstrationen, Mobilisierungsveranstaltungen, Märsche, Karawanen und – insbesondere auch im Nordosten – Pilgerfahrten. Dabei geht es nicht nur um das Ereignis an sich. Vielmehr stellen bereits die Vorbereitungen, die gemeinsame Suche nach einem übergeordneten Motto, die Erstellung eines Aufrufes, die Fertigung von Plakaten und Transparenten etc. Momente der Verbundenheit und der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erfahrungen und Meinungen dar. Dabei geben die offiziellen Feier- und Gedenktage zumeist die Termine für die regelmäßig stattfindenden Mobilisierungen vor: Der 8. März als internationaler Frauentag, der 22. März als Weltwassertag, der 17. April als internationaler Aktionstag der Landlosen, der 21. April als Erinnerung an die Ermordung von ZÉ MARIA (s. Kap. 12.4.2), der 7. September als Unabhängigkeitstag Brasiliens, der 4. Oktober als Tag des Heiligen Franziskus, um nur einige zu nennen. Das vielleicht wichtigste Ereignis stellt dabei die Feier des Unabhängigkeitstages (Dia da Pátria) am 7. September dar, der – wie in vielen anderen Ländern auch – eine wichtige Rolle für die Konstruktion der Nation und einer nationalen Identität einnimmt. Neben den offiziellen Veranstaltungen, deren Höhepunkt die Aufmärsche in allen größeren Städten des Landes darstellen, an denen jegliche Gruppen des öffentlichen Lebens (von einzelnen Schulklassen bis hin zum Militär) teilnehmen, wird seit 1995 von kirchlichen Gruppen und sozialen Bewegungen der Grito dos Excluídos (Schrei der Ausgeschlossenen) organisiert. 15 Bilder von links oben: (1, 2) Besetzung einer Baustelle des Kanals der Integration durch die MAB, (3) Grito dos Exluídos 2008, (4) Andrea Zellhuber (CPT) bei einem Treffen der Zivilgesellschaft gegen das Ableitungsprojekt in Carnaiba, (5) Grito dos Exluídos 2009, (6, 7, 8) Streik der Arbeiter_innen von Del Monte, 2009, (9) Ruben Siqueira (CPT) bei einem Fernsehinterview, (10) Educomunicadores, (11) Acampamento des MST in Salitre (Bahia), (12) Bischof Dom Luíz Cappio, (13) Formierung von Basisgruppen der MAB, (14) Educação contextualizada (IRPA), (15) Theater als Werkzeug, (16) Denunzierung des Chemikalieneinsatzes durch JOSÉ VALDERI RODRIGUES, (17) bundesstaatliches Treffen der MAB, (18) RAIMUNDA (Tapeba), (19) GARETE, CONCEIÇÃO (Anacé), (20) Zé Maria.
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Dabei wird bereits über die Namensgebung die Intention der Mobilisierung deutlich: Im Mittelpunkt sollen diejenigen Gruppierungen stehen, die durch die bestehenden Gesellschaftsstrukturen und das verfolgte Entwicklungsmodell gesellschaftlich ausgeschlossen werden. Durch den Schrei soll ihnen Sichtbarkeit und Öffentlichkeit gegeben werden, sollen die Mechanismen des Ausschlusses angeprangert und alternative Wege zu einer gerechteren Gesellschaft aufgezeigt werden. Auch wenn das Motto des Grito jedes Jahr für ganz Brasilien einheitlich festgelegt wird, so besteht die Aufgabe für die lokalen Organisationsgruppen darin, die regionalen Besonderheiten, Kämpfe und Ausschlussmechanismen, aber auch die Siege und Errungenschaften des letzten Jahres in die Durchführung des Grito einfließen zu lassen. In den meist zweitägigen Vorbereitungsseminaren in der Region Baixo Jaguaribe, an denen vor allem Vertreter_innen von kirchlichen Gruppen, aber auch von NGOs, der Landlosenbewegung MST, der Landarbeiter_innengewerkschaft und von Gemeindeorganisationen teilnehmen, wird eine Analyse der Prozesse, Kämpfe, Niederlagen und Errungenschaften erstellt und werden Strategien erarbeitet, um die sozialen Kämpfe über den Grito dos Excluídos sichtbar zu machen und in die Gesellschaft hineinzutragen. In den letzten Jahren wurden dabei zumeist die negativen Auswirkungen des neoliberalen Entwicklungsmodells und insbesondere die Expansion des Agrobusiness in der Region problematisiert. Neben den prekären Arbeitsverhältnissen in den Plantagen und den ökologischen und gesundheitlichen Folgen des massiven Einsatzes von Agrochemikalien wurden dabei auch die Umsiedlungsmaßnahmen aufgrund des Baus von Stauseen und der Ausweitung von Bewässerungsprojekten, die Korruption, die Land- und Wasserkonzentration, (Kinder)Prostitution und Kinderarbeit und das Fehlen von Programmen und Politiken für die Ausgeschlossenen als Problemfelder benannt (ENCONTRO DE FORMAÇÃO E PLANEJAMENTO DO GRITO DOS EXCLUÍDOS 2009). Der Grito selbst wird am 7. September zumeist in Form eines Marsches durchgeführt. Im Gegensatz zu den offiziellen Aufmärschen findet er nicht auf den Hauptstraßen der städtischen Zentren statt. Die Route des Grito führt zumeist durch ländliche Gemeinden und städtische Randgebiete, endet aber meistens auf einem der zentralen Plätze einer Stadt. So sollen auch symbolisch die Thematiken des ländlichen und städtischen Raums und die Peripherie mit dem Zentrum miteinander verbunden werden. Unterbrochen wird der Marsch, der 2009 beispielsweise eine Strecke von elf Kilometern umfasste, durch einzelne Kundgebungen mit Redebeiträgen aus den unterschiedlichen Regionen und von unterschiedlichen Gruppierungen, mit Musik- und Theatereinlagen, symbolischen Akten und Essens- und Getränkeausgaben. Somit stellt der Schrei der Ausgeschlossenen eine Möglichkeit dar, die ganz unterschiedlichen Formen des Widerstandes innerhalb einer Region zu vereinen, ihnen Sichtbarkeit zu verleihen und sie in einen gemeinsamen Kontext zu stellen. Er dient dabei immer auch als Ausdruck der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen und als Messgrad für die Stärke der Bewegung. Als 2009 über 2.000 Menschen von den Plantagen des Agrobusiness
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auf der Chapada do Apodi nach Quixeré zogen, waren nicht nur die Veranstalter_innen, sondern auch die Lokalpresse beeindruckt.
Abb. 40: Der Schrei der Ausgeschlossenen (2009).
Der Grito dos Excluídos, der auch als Gegenstück zur Erinnerung an den Grito do Ipiranga (Schrei von Ipiranga 16) inszeniert wird, ist gleichzeitig auch ein Versuch, die offizielle Geschichtsschreibung, die immer eine Erzählung der Sieger und der herrschenden Klasse darstellt, zu erweitern bzw. umzudeuten und den vielfältigen Widerständen und Menschen, die im Laufe der Geschichte Brasiliens für eine andere Gesellschaft gekämpft haben, einen Platz einzuräumen. Indem an die vielfältigen Formen des Widerstandes erinnert und ein Bezug zu den aktuellen Widerständen und den eigenen Kämpfen hergestellt wird, bekommen die vielen isoliert erscheinenden Kämpfe der Region eine Bedeutung verliehen, die über den räumlich und zeitlich begrenzten Kontext, in dem sie zunächst wahrgenommen werden, hinausreicht.
16 Als Grito de Ipiranga gilt der angebliche Ausruf Dom Pedros ‚independência ou morte‘ (‚Unabhängigkeit oder Tod‘) am Ufer des Ipiranga-Flusses in der Nähe von São Paulo, der als Unabhängigkeitserklärung Brasiliens von der Kolonialherrschaft Portugals gefeiert wird.
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Analise da Conjuntura (2009) Quero enfatizar os 15 anos de história do Grito dos/as Excluídos/as. O tema deste ano expressa muito bem o acúmulo desta caminhada. O princípio da vida está em primeiro lugar. Esta afirmação se contrapõe ao modelo de desenvolvimento que coloca o lucro acima de tudo. E traz a organização popular como a força motriz da transformação. O Grito nasceu das pastorais e dos movimentos sociais e populares para celebrar as lutas históricas dos segmentos marginalizados econômica, social, política e culturalmente, e também como uma forma de fazer o contraponto à memorial nacional, e à história caráter oficial, que historicamente colocou no centro dos acontecimentos os chamados heróis nacionais, deixando de fora de suas páginas e dos eventos comemorativos os atores sociais populares. Nasceu para denunciar as injustiças geradas pelo sistema político excludente como o principal vetor da pobreza, e ao mesmo tempo para anunciar as experiências deste povo [...], que resiste e cria forma de sobrevivência e de organização que valorizam a vida. Nos livros encontramos a história de um país contada pelas elites e salienta os ‚grandes heróis‘ (D. Pedro I, D. Pedro II, Princesa Isabel, Deodoro da Fonseca, Duque de Caxias, Getúlio Vargas, dentre tantos celebrados e festejados em datas específicas do calendário cívico/nacional). Nesses livros, nessas celebrações [...] não há lugar para a resistência e a luta do povo, não há lugar para entender que a construção de uma nação passa pelo suor e pelo sacrifício de seu povo, sacrifício este imposto pelas elites políticas e econômicas. [...] Na história do Brasil os movimentos populares, sindicais, são responsáveis por muitos direitos adquiridos, como por exemplo, os direitos trabalhistas que, comumente, são atribuídos a ‚benevolência‘ de Getúlio Vargas. Essas interpretações reforçam a atitude paternalista e retira do povo seu papel de sujeito da história, roubando-lhe a autonomia e a liberdade e colocando-os em situação de sujeição aos grupos que se encontram em posição de mando. Devemos destacar que, ao longo da história política do Brasil, encontramos movimentos populares que foram vitoriosos, mesmo que pontualmente enquanto outros não se possa dizer o mesmo. Não nos importa necessariamente os resultados, pois é preciso entendê-los como sendo importantes para se construir uma nova cultura política pautada na participação, na decisão coletiva, o que nos faz pensar num projeto popular para o Brasil em que as decisões, em última instância, obedeçam à vontade popular. Esses gritos de resistência ecoados desdes os primeiros dias do Brasil português, nascidos primeiramente da resistência indígena passando por caboclos, sertanejos, negros e mulatos, ressonam ainda hoje nas vozes de operários, camponeses, indigentes, todos vítimas das injustiças sociais, desse mal estrutural que persiste. [...] Acreditamos que neste ano somos convidados a fazer um resgate das várias lutas populares que aconteceram ontem, e das que acontecem hoje em nossa região, e a partir dessas memórias refletir sobre qual tipo de organização e de
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experiência populares são capazes de operar uma grande transformação na estrutura da sociedade. [...] Muitas vezes não temos a conquista que desejamos em determinado movimento e organização, mas estar na luta é necessário e educativo para nós e para os outros. O Grito é este momento celebrativo que compartilha vitórias, esperanças, desejos, mas também é um momento de denúncia escancarada da realidade excludente em que vivemos. O Grito também nos convida ao diálogo com o diferente [...]. Para que o Grito seja a expressão da realidade, precisamos conhecer o mundo em que estamos inseridos e partilharmos nossos saberes. Para isso, vamos fazer do Grito um momento para aprofundar nosso conhecimento da realidade e para vislumbrar caminhos de superação daquilo que nos oprime [...]. Vamos trabalhar por zonas e refletir sobre o que acontece hoje na comunidade, na região, no Brasil e no mundo. (JOÃO RAMERES RÉGIS Abertura do Encontro de Formação e Planejamento do Grito dos Excluídos, 2009) Analyse der Zustaende (2009) Ich möchte auf die 15-jährige Geschichte des Schreis der Ausgeschlossenen verweisen. In dem Thema dieses Jahres kommt sehr gut zum Ausdruck, was sich im Laufe dieses Weges alles angesammelt hat. Das Prinzip des Lebens kommt an erster Stelle. Diese Aussage steht im Gegensatz zum Entwicklungsmodell, das den Gewinn über alles stellt. Und sie stellt die Basisbewegungen als treibende Kraft der Transformation dar. Der Schrei wurde von den Pfarreien, von den sozialen Bewegungen und den Basisbewegungen ins Leben gerufen, um die historischen Kämpfe der wirtschaftlich, sozial, politisch und kulturell Marginalisierten zu feiern. Er ist gleichzeitig eine Form, dem nationalen Gedächtnis und der offiziellen Geschichtsschreibung einen Kontrapunkt zu setzen. Diese platzierte traditionell die so genannten nationalen Helden ins Zentrum der Geschehnisse und ließ dabei die sozialen Akteure des Volkes aus ihren Büchern und Feierlichkeiten außen vor. [Der Schrei] wurde ins Leben gerufen, um die Ungerechtigkeiten, die von dem politischen System, das Ausschlüsse produziert und die Hauptursache für die Armut darstellt, zu denunzieren und gleichzeitig die Erfahrungen der Menschen, die widerstehen und Überlebens- und Organisationsformen erschaffen, die das Leben wertschätzen, zu verbreiten. In den Büchern finden wir die Geschichte eines Landes, die von den Eliten erzählt wird und die die ‚großen Helden‘ herausstellt (D. Pedro I., D. Pedro II., Prinzessin Isabel, Deodoro da Fonesca, Duque de Caxias, Getúlio Vargas unter vielen anderen, die an bestimmten Feiertagen geehrt und gefeiert werden). In diesen Büchern, bei diesen Feierlichkeiten [...] gibt es keinen Platz für den Widerstand und den Kampf des Volkes, gibt es keinen Platz, um zu verstehen, dass die Konstruktion einer Nation über den Schweiß und das Opfer seines Volkes erfolgt, ein Leiden, das von den politischen und wirtschaftlichen Eliten des Lan-
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des verursacht wurde. [...]. In der Geschichte Brasiliens sind die Basisbewegungen und die Gewerkschaften für viele erworbene Rechte verantwortlich, wie zum Beispiel die Arbeiterrechte, die normalerweise den ‚Wohltaten‘ von Getúlio Vargas zugesprochen werden. Solche Interpretationen verstärken die paternalistische Haltung und nehmen dem Volk seine Rolle als historisches Subjekt, rauben ihm seine Autonomie und Freiheit und platzieren es in eine Situation der Unterwerfung unter die Gruppen, die sich in der Machtposition befinden. Wir müssen darauf hinweisen, dass es im Laufe der politischen Geschichte Brasiliens Bewegungen gab, die siegreich waren, wenn auch nur punktuell, während man das von anderen nicht sagen kann. Doch uns interessieren nicht notwendigerweise die Ergebnisse, da wir verstehen müssen, wie wichtig sie [die Kämpfe] für die Konstruktion einer neuen politischen Kultur sind, die auf Partizipation, auf kollektiver Entscheidungsfindung aufbaut, was uns an ein Projekt des ‚Volkes‘ (projeto popular) für Brasilien denken lässt, in dem die Entscheidungen in letzter Instanz von dem Willen des ‚Volkes‘ bestimmt werden. Diese Schreie des Widerstandes hallen seit den ersten Tagen des portugiesischen Brasiliens wider. Sie stammen in erster Linie vom indigenen Widerstand, wurden von den caboclos, den sertanejos, negros und mulatos weiter getragen und schwingen noch heute in den Stimmen der Arbeiter, Bauern, der Bedürftigen und aller Opfer der sozialen Ungerechtigkeiten, dieses strukturellen Übels, das bis heute fortbesteht, mit. [...] Wir glauben, dass wir dieses Jahr eingeladen sind, die verschiedenen Kämpfe des Volkes, die gestern stattfanden und die heute in unserer Region stattfinden, ins Bewusstsein zu holen. Und anhand dieser Erinnerungen können wir darüber nachdenken, welche Organisationsformen und welche Erfahrungen in der Lage sind, eine große Transformation der gesellschaftlichen Struktur zu bewerkstelligen. [...] Oft wurde der erwünschte Sieg einer bestimmten Bewegung oder Organisation nicht erreicht. Doch die Erfahrung zu kämpfen ist für uns und für andere notwendig und lehrreich. Der Schrei ist ein feierlicher Moment, bei dem Siege, Hoffnungen und Wünsche geteilt werden, doch er ist auch ein Moment, an dem die exkludierende Realität, in der wir leben, offen denunziert wird. Der Schrei lädt uns auch zum Dialog mit dem Anderen ein [...]. Damit der Schrei ein Ausdruck der Realität werde, müssen wir die Welt kennen, in der wir leben, und müssen unser Wissen teilen. Dafür werden wir den Schrei zu einem Moment der Vertiefung unserer Kenntnis der Realität und der Erkenntnis der Wege der Überwindung von dem, was uns unterdrückt [...] machen. Lasst uns entlang der unterschiedlichen Ebenen arbeiten und darüber nachdenken, was heutzutage in der Gemeinde, der Region, in Brasilien und der Welt geschieht. (JOÃO RAMERES RÉGIS Eröffnungsrede beim Treffen zur Formierung und Planung des Grito dos Excluídos, 2009) Textbox 6: Zustandsanalyse (2009).
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12.2.2 Direkte Aktionen Während beim Grito dos Excluídos die Mobilisierung, Vernetzung und die Aneignung und Umdeutung von Diskursen und symbolischen Ordnungen im Vordergrund stehen, zeichnen sich direkte Aktionen dadurch aus, dass sie unmittelbar in soziale Zusammenhänge eingreifen und zumeist das Ziel verfolgen, bestehende Zustände konkret zu verändern. Dabei können sowohl Handlungen von Einzelpersonen als auch von Kollektiven als direkte Aktionen bezeichnet werden. Aneignung von Wasser Das Öffnen eines Zaunes, die Aneignung von Land, die heimliche oder offene Entnahme von Wasser aus Wasserreservoirs oder Kanälen stellen insofern direkte Aktionen dar, als dass dadurch bestehende Normen und Strukturen wie Besitzund Aneignungsverhältnisse und die Legitimität bestimmter Zugangsformen Infrage gestellt, bewusst gebrochen oder ignoriert und somit zumindest zeitweise verändert werden. Auch die Entnahme von Wasser vom Kanal der Integration durch die Menschen, an denen das Wasser vorbei geleitet wird, stellt ein Eingreifen in bestehende Verhältnisse dar. Es ist ein Widerstand gegen bestehendes Recht und gegen bestehende Ungerechtigkeiten. Die Kleinbäuer_innen, die entlang des Kanals leben und ohne Anschluss an ein Wassersystem auf Regenwasser für ihr Überleben angewiesen sind, sind meist weder politisch organisiert noch haben sie die Mittel, juristisch gegen ihren materiellen und gesellschaftlichen Ausschluss vorzugehen. Die Entnahme von Wasser stellt somit nicht nur eine materielle Aneignung dar, sondern kann auch als Form der Selbstermächtigung innerhalb eines Systems, das Ausschlüsse und Ungerechtigkeiten produziert, gelesen werden. Gleichzeitig werden dadurch auch der Staat und das aktuelle Wassermanagement herausgefordert. Nicht zuletzt aufgrund der wirkmächtigen Bilder, die sowohl der unmittelbare Ausschluss der Flussanrainer als auch die Wasserentnahme mit einem Eimer oder Kanister erzeugen, haben bereits mehrere Zeitungen und die beliebte Fernsehsendung ‚Mais Você‘ von ANA MARIA BRAGA (Rede Globo) über die Widersprüche am Kanal berichtet. Doch der Staat versucht weiterhin, sein Anrecht auf das Wassers des Kanals umzusetzen. Tag und Nacht wird der Kanal von Kameras und bewaffnetem Wachpersonal kontrolliert und immer wieder werden die Menschen am Kanal eingeschüchtert. Nachdem der Versuch einer Polizeistreife, FRANCISCO SALDANHA (TAXIM) von der Wasserentnahme abzuhalten, am Widerstand einer aufgebrachten Menschenmenge scheiterte, erschien einen Tag später eine Delegation aus 20 Polizeieinheiten, um TAXIM eine Gefängnisstrafe anzudrohen. Interessanterweise wurde ihm dabei nicht die Wasserentnahme selbst, sondern lediglich die Verschmutzung des Kanalwassers vorgeworfen (Interview mit TAXIM). Doch selbst wenn TAXIM die Wasserentnahmen seither eingestellt hat, so wird dennoch an anderer Stelle und von anderen Menschen Wasser aus den offenen Kanälen weiter angeeignet. Es ist eine stille Art des Widerstandes und der Selbst-
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ermächtigung, die zunächst lediglich zur Verbesserung der (Wasser)Situation einzelner Familien führt. Dennoch bleibt nicht ausgeschlossen, dass die Form der direkten Wasseraneignung nicht auch als kollektive Form des Widerstands eingesetzt werden kann. Aufgrund der im Mai 2012 anhaltenden Dürre und der Gefahr, dass der Stausee Cipoada im Munizip Morada Nova trockenfällt, hat die COGERH die Abflussmenge des Stausees so stark verringert, dass sieben flussabwärts liegende Gemeinden nicht mehr mit Wasser versorgt wurden. Die Folge war ein Fischsterben in dem austrocknenden Flussbett, aber auch der Einbruch der Wasserversorgung für die Rinderweiden und für die Bewässerung der Mais- und Hirsefelder, was für die Kleinbäuer_innen eine existentielle Bedrohung darstellte. Da die Gemeinden jedoch – ähnlich wie beim Fallbeispiel des Rio Palhano – mit Wasser aus dem Kanal der Integration versorgt werden könnten, drohten die Bewohner_innen damit, die vorhandenen Tore am Kanal gewaltsam zu öffnen (JÚNIOR 2012a). Auch wenn es in diesem Fall nicht zu einer Öffnung der Verbindungsschleusen durch die Gemeinden kam, so bietet die Wasserinfrastruktur dennoch viele Möglichkeiten der Aneignung und nicht intendierten Nutzung und stellt gerade keine endgültige Festschreibung von Praktiken dar (vgl. Kap 10).
Abb. 41: Selbstermächtigte Aneignung von Wasser als Widerstandsform
Besetzungen Daneben stellen Besetzungen ein relativ häufig eingesetztes Mittel der direkten Aktion dar. Insbesondere von der Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) und der Bewegung der von Staudämmen Betroffenen MAB (Movimento dos Atingidos por Barragens) werden Besetzungen immer wieder durchgeführt, um auf Missstände aufmerksam zu machen und konkrete Forderungen durchzusetzen. Durch den Eingriff in die alltägliche Normalität – etwa in Arbeitsabläufe oder Verkehrsströme – wird der Adressat (meist der Staat) dazu genötigt, auf die Aktionen in irgendeiner Art und Weise zu reagieren. Während bei einer Landbesetzung unproduktive Ländereien besetzt werden, um sie für die Agrarproduktion anzueignen, zielen Besetzungen von Bundesstraßen, Behör-
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den oder Baustellen darauf ab, konkreten Forderungen – wie etwa die Verteilung von Lebensmittelpaketen (cesta básica) an bedürftige Familien, Wasseranschlüsse für bestimmte Gemeinden und insbesondere versprochene Entschädigungszahlungen für umgesiedelte Familien – Nachdruck zu verleihen. Aktionen, wie die Besetzung der Baustelle des Kanals der Integration im März 2008 durch Aktivist_innen des MAB, bei der rund 600 Menschen die Bauarbeiten am Kanal für zwei Tage zum Erliegen brachten, sind spektakuläre Ereignisse, die ein großes Medienecho erzeugen. Über die mediale Aufmerksamkeit erhalten diejenigen eine Stimme, die jenseits der großen Städte wohnen, weder über eine große wirtschaftliche noch politische Macht verfügen und somit normalerweise kein Gehör finden. Allerdings stellen solche Aktionen, bei denen der Transport und die Verpflegung von mehreren Hundert Menschen organisiert werden muss, die im Geheimen geplant und bei denen konfrontative Situationen mit der Polizei einkalkuliert werden müssen, einen enormen organisatorischen Aufwand dar. Die Durchführung solcher Aktionen ist demnach nur für Organisationen wie den MST oder den MAB möglich, da sie sowohl über Erfahrungen in der Organisation von direkten Aktionen und über gute interne Organisationsstrukturen verfügen als auch in vielen ländlichen Gemeinden verankert sind und dort ein großes Vertrauen genießen. Besetzungen sind eine Form des aktiven Handelns und Einforderns von Rechten, die dem passiven Warten auf Verbesserungen von Seiten der Politik oder auf ‚Geschenke‘ von einzelnen Machthabern (coronelismo) gegenübersteht. Da sie eine unmittelbare Reaktion herausfordern, sind sie ein wichtiges Mittel für die Durchsetzung von Forderungen. Gleichzeitig stellen sie ein bedeutendes Lernfeld im Umgang mit solidarischem und verantwortungsvollem Handeln und für das Erleben der eigenen Stärke dar. Jedoch können sie aufgrund des großen Organisationsaufwandes und des hohen Einsatzes der Teilnehmenden nicht beliebig oft eingesetzt werden. 12.2.3 Kampf um eine grundlegende Agrarreform Widerstand gegen die private Aneignung von Land und die ungleichen Besitzverhältnisse ziehen sich seit der Landaneignung durch die Europäer wie ein roter Faden durch die Geschichte des Nordostens. Auch die Landlosenbewegung MST bezieht ihren Widerstand explizit auf die historischen Kämpfe um Land in Brasilien und sieht sich als Produkt des indigenen, schwarzen und populären Widerstandes der letzten 500 Jahre. So sind auch ihre wichtigsten Widerstandsformen, wie die Besetzung von Land und das Errichten von Camps (acampamentos) keine von der Bewegung eingeführten, neuen Aktionen, sondern knüpfen direkt an die Kämpfe um Land – insbesondere in der Zeit vor dem Militärputsch von 1964 – an (MELO 2006: 114). Mit der Redemokratisierung Brasiliens Mitte der 1980er Jahre und den wieder erstarkenden Kämpfen um Land vor allem im Süden Brasiliens, gründete sich die Landlosenbewegung auf dem Ersten Nationalen Treffen der Landarbeiter ohne
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Land, das zwischen dem 20. und dem 22. Januar 1984 in Cascavel (Paraná) stattfand. Als erste Aktion des MST in Ceará gilt die Besetzung der Fazenda Reunidas São Joaquim am 25. Mai 1989. Seitdem wurden hunderte von Ländereien besetzt, und seitdem hat sich der MST auch in Ceará als eine der wichtigsten sozialen Bewegungen etabliert. 2009 lebten in Ceará rund 12.000 Familien in einer der 184 Agrarsiedlungen (assentamento) des MST und rund 2.500 Familien in den 26 acampamentos 17. Während sich die Besetzungen und Ansiedlungen in der Region Sertão de Canindé und Sertão Central, in denen während des Baumwollbooms im 19. Jahrhundert große Fazendas entstanden, konzentrieren, befinden sich in der Region Baixo Jaguaribe lediglich zehn Siedlungen des MST (ALENCAR & DINIZ 2010: 141–144; MAZILHÃO FILHO 2011: 65). Die Besetzungen von Ländereien, insbesondere von unproduktiven Großgrundbesitzungen, beziehen sich dabei auf die Verfassung von 1988, in der festgeschrieben wurde, dass nicht genutztes Land, das seine soziale Funktion nicht erfüllt, vom Staat enteignet werden kann (Art. 184) (UMBELINO OLIVEIRA 2010). Trotz der verfassungsrechtlichen Verankerung wurde eine grundlegende Agrarreform in Brasilien nie wirklich durchgeführt. Nachdem bis zum Amtsantritt von FERNANDO HENRIQUE CARDOSO lediglich etwas mehr als 58.000 Familien angesiedelt worden waren (ebd.), beziffern offizielle Statistiken die Zahl der angesiedelten Familien unter CARDOSO (1995–2002) auf 423.813 Familien (SOUZA ESQUERDO 2011: 4). Auch unter der Regierung LULA, auf die insbesondere die Landlosenbewegung große Hoffnungen gesetzt hatte, kam die Agrarreform nicht voran. Zwar wurden offiziell während der zwei Amtszeiten zwischen 2003 und 2010 614.093 Familien angesiedelt (ebd.: 10). Doch lediglich rund 30% davon haben tatsächlich ein neues Stück Land – meist im Amazonasgebiet – erhalten. Die übrigen Ansiedlungen kamen durch die Vergabe von Landtitel an Familien, die bisher über keinen legalen Titel ihres Landes verfügten, und über die Anerkennung bereits existierender Agrarreformsiedlungen zustande. Ironischerweise werden selbst Familien, die aufgrund von Staudammbauten umgesiedelt wurden, in die Statistik einberechnet. Da unter anderem durch die Expansion des Agrobusiness jedes Jahr mehrere Tausend Menschen von ihrem Land vertrieben werden, kommt die Landpastorale CPT (Comissão Pastoral da Terra) zu dem Schluss, dass während der Regierungszeit LULAS letztendlich mehr Familien Land verloren haben, als Familien neu angesiedelt wurden. Auch für die Nachfolgerin LULAS, DILMA ROUSSEFF scheint eine Agrarreform keine besondere Priorität zu genießen (ebd.; BREDENBECK 2009: 9 f.; SCHULZ 2011: 15). Eine besondere Art der Agrarreform stellt die bereits 1996 mit Unterstützung der Weltbank eingeführte marktgestützte Agrarreform (Reforma Agrária Assistida pelo Mercado, RAAM) dar. Dabei konnte auf die Erfahrungen der ‚friedlichen Agrarreform‘ des PROTERRA-Programms zurückgegriffen werden (s. Kap. 17 Im Vergleich dazu registrierte der INCRA (Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária) 2012 in Ceará 22.225 Familien, die in den 436 Agrarreformsiedlungen des INCRA leben (MDA & INCRA 2012: 28).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
6.3.3.2). Wieder einmal nahm dabei der Bundesstaat Ceará eine Vorreiterrolle ein. Die starke Nachfrage nach Land bei einem gleichzeitigen Verfall der Bodenpreise in einigen Regionen, vor allem aber die neoliberale Ausrichtung der Regierung des Bundesstaates stellten für die Weltbank ideale Bedingungen für das Pilotprojekt in Ceará dar, das als solidarische Agrarreform (reforma agrária solidária) bezeichnet wurde (PEREIRA & SAUER 2011: 591). Aufgrund positiver Einschätzungen wurde das Programm 1997 als Pilotprojekt Cédula da Terra auf weitere Staaten im Nordosten und 1999 als Programa Banco da Terra auf ganz Brasilien ausgeweitet. Auch unter der Regierung LULA wurde der marktbasierte Ansatz einer Agrarreform unter dem Label Programa Nacional de Crédito Fundiário (Nationales Programm für Grundbesitzkredite) weiter geführt. Die Bedeutung, die diese Pilotprojekte auch international einnahmen, zeigt die Tatsache, dass die Weltbank eine marktgestützte Agrarreform in keinem anderen Land mit so hohen finanziellen und personellen Ressourcen unterstützte wie in Brasilien (OLIVEIRA 2006: 152; PEREIRA & SAUER 2011: 591, 605; HARTMANN 2010: 247). Jedoch kann eine auf Marktmechanismen basierende Agrarreform nicht als Form des Widerstands und des Aufbrechens von bestehenden Verhältnissen bezeichnet werden. Über den Ankauf von Ländereien zu Marktpreisen zielt sie ja gerade darauf ab, die Logik des Marktes und des Privateigentums zu festigen, Enteignungen zu verhindern und die Verbindungen zwischen Staat und Agrarelite zu stärken. Das Ziel einer marktgestützten Agrarreform besteht gerade darin, die sozialen Konflikte im ländlichen Raum über die Zuteilung von Land zu entschärfen und den Widerstand auf dem Land zu brechen, die Kleinbäuer_innen in die (monokulturelle) Marktproduktion zu integrieren und die Besitzverhältnisse unangetastet zu lassen. Somit wurde diese Art der Agrarreform als contra-reforma agrária bezeichnet (OLIVEIRA 2006: 172). Im Gegensatz dazu stellt der Kampf des MST um eine Agrarreform nicht nur einen Kampf um die Zuteilung von Agrarland für landlose Familien dar. Vielmehr geht es dabei um tiefgreifende strukturelle Veränderungen, die sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Verhältnisse in Frage stellen und somit auch auf die Veränderung der Machtverhältnisse abzielen. Agrarreform im Sinne des MST bedeutet eine Demokratisierung des Zugangs zu den Produktionsmitteln und somit nicht nur zu Land, sondern auch zu Wasser, zu Krediten, zu bestimmten Formen der Agrarberatung und zu Wissen. Dabei geht es nicht nur um eine materielle, sondern auch um gesellschaftliche Teilhabe, um soziale Rechte, um Fragen der Geschlechterverhältnisse und des Umgangs mit Natur. Dabei steht das gesamte vorherrschende Agrar- und Entwicklungsmodell zur Disposition, wobei für den MST die Beseitigung des Großgrundbesitzes nach wie vor als zentrales Ziel einer Agrarreform gilt (ebd.; 170; MELO 2006: 119). Gleichzeitig dienen die Praktiken der Landbesetzung nicht nur dem Ziel der Aneignung von Land. Die acampamentos stellen auch einen „espaço de luta e de resistência“ (Raum des Kampfes und des Widerstandes) (ALENCAR & DINIZ 2010: 137) dar, in dem bestimmte soziale Organisationsformen ausprobiert werden können und politisches Bewusstsein entsteht. Die Teilnehmer_innen einer Besetzung und die Bewohner_innen eines acampamento sind demnach nicht bloß passive
12.2 Vielfältigkeit des Widerstandes
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Objekte einer staatlich durchgeführten Landverteilung, sondern werden über die Praktiken des Widerstands zu Subjekten der Veränderung. Der gemeinschaftliche Besitz und die kollektive Nutzung von Land und Produktionsmitteln und die basisdemokratischen Organisationsstrukturen in den acampamentos und assentamentos stellen Möglichkeiten dar, innerhalb der gegebenen Strukturen ein alternatives Gesellschaftsmodell zu leben – auch wenn dies nie konfliktfrei möglich ist und nicht immer gelingt. Je nach verfolgtem Modell kann die Durchführung einer Agrarreform sowohl dazu führen, dass die bestehenden Verhältnisse gefestigt und weiter reproduziert als auch grundsätzlich in Frage gestellt und aufgebrochen werden. Mit dem Aufkauf und der Zuteilung von Ländereien, flankiert mit dem Einsatz von staatlichen Sozialprogrammen (Fome Zero, Bolsa Família etc.), gelang es insbesondere der Regierung LULA, die Konflikte auf dem Land zu entschärfen und das Widerstandspotential der sozialen Bewegungen wie dem MST zu schwächen. Die Enttäuschung über die Ergebnisse der Politik der Regierung LULA und die weiterhin prekäre Situation vieler Familien im ländlichen Raum, die sich mit der Dürre in Ceará von 2012 und 2013 noch weiter verschlechterte, führten jedoch wieder zu einer zunehmenden Mobilisierung der Bevölkerung. Bei der Besetzung der Fazenda Jardim im Munizip Quitéria (CE) am 24. März 2013 kündigte der MST bereits an, wieder verstärkt auf die Aktionsform der Besetzung zu setzen, um den Forderungen nach der Durchführung einer umfassenden Agrarreform Nachdruck zu verleihen (OLIVEIRA 2013). 12.2.4 Streiks Während die Kleinbäuer_innen im ländlichen Raum als Verlierer_innen der exkludierenden Modernisierung (ELIAS & SAMPAIO 2002) gesehen werden, gelten die Arbeiter_innen in den Plantagen zumeist als Profiteure des Entwicklungsmodells. Mit der Ankunft der Unternehmen des Agrobusiness Ende der 1990er Jahre in der Region Baixo Jaguaribe war in erster Linie das Versprechen verbunden, tausende formeller Arbeitsplätze zu schaffen. Eine formal registrierte Arbeitsstelle (carteira assinada) steht dabei in erster Linie für Sicherheit und Fortschritt und für die moderne Verheißung der gesellschaftlichen Integration. Im Laufe der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass die Arbeitsbedingungen, insbesondere aufgrund des intensiven Chemikalieneinsatzes in den Obstplantagen, überaus prekär und gesundheitsgefährdend sind (vgl. Kap. 11.3). Nachdem zahlreiche Verbesserungsvorschläge und Klagen an die Unternehmensleitung ohne nennenswerte Resultate verhallten, entschlossen sich die Arbeiter_innen der Plantage Ouro Verde des multinationalen Unternehmens Del Monte Produce Inc. auf der Hochebene von Apodi im August 2008, in einen unbefristeten Streik zu treten. Da die zuständige Gewerkschaft nicht in der Lage war oder kein Interesse daran hatte, den Streik zu organisieren, traten die Arbeiter_innen einen wilden Streik an und organsierten sich, mit Hilfe mehrerer NGOs, selbst. Die Forderungen der Arbeiter_innen umfassten dabei: die Bereitstellung eines Nahrungsmittelpaketes (cesta
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
básica), die Bezahlung der Fahrzeiten, die Verbesserung der medizinischen Versorgung, ein besserer Schutz vor den verwendeten Pestiziden, eine Verringerung der zusätzlichen Arbeitszeiten und ein weniger rigides Vorgehen beim Einsatz von Gehaltskürzungen bei Fehlzeiten (STREIKKOMISSION 2008; ALMEIDA et al. 2008). Zwar nahmen die Arbeiter_innen nach elf Streiktagen und nach einigen Zugeständnissen des Unternehmens die Arbeit wieder auf. Doch da sich die Arbeitsbedingungen nicht grundsätzlich verbesserten, traten sie im Juni 2012 erneut in Streik. Auch wenn die Forderungen der Arbeiter_innen in erster Linie auf konkrete Verbesserungen der Arbeitsbedingungen abzielten, so stellten insbesondere die unterstützenden Gruppen wie der MST oder die Caritas von Limoeiro do Norte den Streik in einen größeren Kontext. Aus ihrer Sicht war der Streik nicht nur als Widerstand gegen die Arbeitsbedingungen in den Plantagen zu sehen, sondern stellte auch ein deutliches Zeichen des Widerstandes gegen das vorherrschende Entwicklungsmodell und gegen die Aneignung der Natur durch das Agrobusiness dar. Unter anderem auch beim Grito dos Excluídos 2008 und 2009 wurde der Zusammenhang zwischen der Ableitung des São Francisco, dem fehlenden Zugang zu Wasser für viele Kleinbäuer_innen und der Expansion der Obstplantagen samt ihren negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen hergestellt und problematisiert. Somit sind Streiks eine Form des Widerstandes, der sich im Verbund mit anderen Aktionsformen der reibungslosen Aneignung von Natur, von menschlicher Arbeitskraft und Gewinnen entgegenstellt und sich somit dem vorherrschenden Entwicklungs- und Fortschrittsmodell zumindest zum Teil verweigert. 12.2.5 Widerstand gegen Vertreibungen Widerstand gegen die Auswirkungen des Entwicklungsmodells leisten auch diejenigen Familien, die sich gegen ihre Umsiedlung aufgrund des Baus eines Staudamms oder der Ausweitung von Bewässerungsprojekten wehren. Zwar ist auch ihr Widerstand zunächst in erster Linie ein Kampf gegen den Verlust des eigenen Hauses, Stück Landes und der eigenen Verortung. Doch nicht zuletzt durch die Unterstützung dieser Kämpfe durch die sozialen Bewegungen entwickelt sich ihr Widerstand oftmals auch zu einer scharfen Kritik an der Ausrichtung der staatlichen Politik auf die Interessen des Agrobusiness, als Hauptprofiteure der Großprojekte. Eines der Beispiele von organisiertem Widerstand gegen Vertreibungen stellen die neun Gemeinden im Munizip Russas dar 18, die der Ausweitung des Bewässerungsprojektes Tabuleiro de Russas weichen sollen (s. Abb. 42).
18 Dabei handelt es sich um die Gemeinden Bananeiras, Barbatão, Cipó, Córrego Salgado, Junco, Lagoa dos Cavalos, Peixe, Santa Terezinha und Sussuarana.
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Das Bewässerungsprojekt Tabuleiro de Russas Das Projekt, das bereits in den 1980er Jahren geplant wurde, sollte in zwei Etappen umgesetzt werden: Ab 1995 wurden in der ersten Etappe 10.600 ha Land enteignet, während für die zweite Etappe (ab 2007) zusätzlich 8.315 ha enteignet und hauptsächlich für die Bewässerungslandwirtschaft bereit gestellt werden sollen (DNOCS o. J.: 12; ADECE 2011: 8). Ziel ist es, 76% der Projektfläche zu bewässern (14.508 ha), wodurch Tabuleiro de Russas zum größten Bewässerungsprojekt Cearás aufsteigen würde. Momentan wird jedoch lediglich auf einer Fläche von 2.429 ha produziert (ebd.). Den innovativen Charakter des Projektes stellt dabei insbesondere die Integration verschiedener Akteure und Produktionstypen dar. Neben großen Unternehmen des Agrobusiness und Agronomen sollen auch Kleinproduzent_innen an dem Projekt beteiligt werden. Dabei ist vorgesehen, dass die Agrartechniker_innen mit verschiedenen Anbautechniken experimentieren und ihr Wissen an die Unternehmen und Kleinproduzent_innen weitergeben. Die Unternehmen sollen in erster Linie ihre Organisations- und Vermarktungsstrukturen in das Projekt einfließen lassen, profitieren gleichzeitig aber auch von dem Wissen der Agrartechniker_innen und können über die Einbindung der Kleinproduzent_innen ihre Produktion ausweiten und relativ flexibel den Marktanforderungen anpassen. Die Kleinproduzent_innen ihrerseits sollen von den innovativen Agrartechniken profitieren und Zugang zu den Absatzmärkten der Unternehmen erhalten. Bisher wurden 56% der Projektfläche für Kleinproduzent_innen mit Parzellen von jeweils acht Hektar vergeben, 19% der Parzellen an Agrartechniker_innen und Agronomen mit Parzellen zwischen 16 und 24 ha und 25% an Unternehmen mit Parzellengrößen bis zu 100 ha (ebd.: 43). Die Wasserversorgung des Projektes erfolgt über den Rio Banabuiú und über den Stausee Curral Velho, der vom Kanal der Integration mit Wasser versorgt wird. Dadurch steht dem Projekt eine Abflussmenge von bis zu 14 m3/s zur Verfügung (ebd.: 13), (DISTAR o. J.). Während also die Gemeinden im Munizip Palhano um eine Abflussmenge von 0,1 m3/s kämpfen und eine Wasserversorgung über den Eixão für sie nicht vorgesehen ist, scheint die Wasserversorgung für das Bewässerungsprojekt gesichert zu sein. In erster Linie dient das Projekt als Pilotprojekt für die Verbreitung eines technologiebasierten Agrarmodells, wie es auch in der Umweltverträglichkeitsprüfung des DNOCS, dem Hauptträger des Projektes, benannt wird:
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes „Em suma, o projeto servirá como pólo de difusão de técnicas agrícolas modernas para a região, incluindo aspectos agrotécnicos, organizacionais, gerenciais, de engenharia, de comercialização e de capacitação de recursos humanos, contribuindo assim para o seu desenvolvimento. Conferirá, ainda, competitividade às atividades econômicas desenvolvidas na região, interiorizando o desenvolvimento com estímulo a atração de agroindústrias e, em conseqüência, promovendo o bem-estar econômico e social das populações envolvidas 19“ (DNOCS o. J.: 12).
Abb. 42: Tabuleiro de Russas: Produktionsweise der Gemeinden vs. monokultureller Anbau im Bewässerungsprojekt; eigene Kartierung der Gemeinden.
Jedoch sind nicht alle von dem Projekt betroffenen Personen von der Steigerung des wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehens durch das Projekt überzeugt. So leben viele der Menschen, die durch die erste Projektetappe ihr Land verlassen 19 „Zusammengefasst wird das Projekt als Zentrum für die Verbreitung moderner Agrartechniken in der Region dienen, was agrartechnische und organisatorische Aspekte und Aspekte des Managements, der Ingenieurstechnik, der Vermarktung und der Ausbildung von Humanressourcen einschließt und dadurch zur Entwicklung des Projektes beiträgt. Darüber hinaus wird die Wettbewerbsfähigkeit der wirtschaftlichen Aktivitäten der Region hergestellt, indem die Entwicklung als Anreiz für die Anlockung des Agrobusiness fungiert und somit das soziale und ökonomische Wohlergehen der betroffenen Bevölkerung gefördert wird“ (DNOCS o. J.: 12; eigene Übersetzung)
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mussten, heute am Rand der Stadt Russas oder in der Agrovilla Lagoa da Várzea, ohne jedoch Zugang zu den Parzellen des Projektes zu haben. Von diesen Familien hatten im Sommer 2009 immer noch nicht alle ihre zugesicherte Entschädigung erhalten (eigene Erhebungen). Mit der Ankündigung der Erweiterung des Bewässerungsprojektes um die zweite Etappe begannen die 766 betroffenen Familien, sich gegen ihre Umsiedlung zur Wehr zu setzen. Dabei stellten von Anfang an der gute Zusammenhalt der Familien und ihre gemeinsame Organisationsstrukturen die Grundlage für ihren Widerstand dar. Bereits seit 1986 hatten viele Familien aus den betroffenen Gemeinden mit Unterstützung von NGOs, aber auch mit Hilfe staatlicher Programme damit begonnen, Gemeinschaftsprojekte aufzubauen und eine ökologische Landwirtschaft in der Region einzuführen (VIANA BRAGA 2010: 86). Eine gemeinsam aufgebaute und genutzte Samenbank, ein gemeinschaftlich genutztes Haus zur Herstellung von Maniokmehl (casa de farinha), eine Bienenzucht und Imkerei sind genauso Ergebnisse dieses Prozesses wie die Nutzung eines nachhaltigen Agroforstsystems, Wiederaufforstungsprojekte und der Bau von Zisternen und einem unterirdischen Wasserauffangbecken. Die langjährigen Erfahrungen der gemeinsamen Nutzung von Land und des gemeinschaftlichen Umsetzens von Projekten führten dazu, dass die Familien mehrheitlich Einzelverhandlungen mit dem DNOCS über Entschädigungszahlungen ablehnten und auf eine Kollektivlösung drängten. Dafür riefen sie eine Widerstandskommission (comissão de resistência) ins Leben, die aus Vertreter_innen der einzelnen Gemeinden bestand und die befugt war, die Verhandlungen zu führen. Gleichzeitig stellte ihre gute Vernetzung mit den sozialen Bewegungen der Region die Grundlage für die tatkräftige Unterstützung und Verbreitung ihres Widerstandes dar. Gemeinsam mit der Caritas von Limoeiro do Norte, dem MST, Vertreter_innen von Universitäten und anderen Organisationen wurden mehrere öffentliche Anhörungen (audiências públicas) veranstaltet, bei denen die Verter_innen des Staates und des DNOCS den Familien Rede und Antwort stehen und öffentliche Aussagen zu den vorgebrachten Vorwürfen und Forderungen machen mussten. Eine wichtige Widerstandsstrategie war dabei die Verweigerung der Registrierung der Familien und ihres Besitzes. Da viele in der Registrierung durch die Mitarbeiter_innen des DNOCS einen ersten Schritt auf dem Weg zur Vertreibung sahen und gleichzeitig befürchteten, dass die Projekte der ökologischen Landwirtschaft nicht angemessen bewertet werden würden, organisierten sie die Bestandsaufnahmen schließlich selbst: „Eles vieram prontos para realizar cadastro. Mas as comunidades se organizaram. Primeiro não queríamos de jeito nenhum. Eles não levam em conta que aqui nossa produção é sustentável. Criação de ovelhas, gado e abelha. Mostramos que era uma área bastante produtiva, mas eles não levam isso em consideração [...]. Mas com toda a resistência, o DNOCS foi vendo que não iam conseguir e foram abrindo espaço para negociar. Daí foi que cedemos para fazer o cadastro. Se não fosse isso estava quase todo mundo sendo desapropriado. Recebemos muito apoio de muitas entidades nas audiências públicas em Peixe, Russas e Fortaleza. Teve algumas reuniões. Foi formando uma comissão em dezembro
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes de 2007 envolvendo pessoas de todas as comunidades e começamos a discutir o quê nós podíamos fazer. Daí desta luta saiu o cadastro. Nós colocamos porque deveríamos ficar e eles mostrando o outro lado, mostrando o que o projeto já tinha [...]. A intenção deles era que em abril de 2008 que tudo isso já fosse indenizado. Mas com a mobilização e a organização isso não foi possível. [...] Nem as cisternas eles queriam indenizar. Daí foi feito um documento que o DNOCS assinou dizendo que tudo seria indenizado. Daí concordamos em fazer o cadastro 20“ (eine Bewohnerin der Gemeinden in VIANA BRAGA 2010: 144).
Neben der Registrierung ihres Bestandes führten die Gemeinden mit Hilfe von Wissenschaftler_innen des CENTEC eine eigene Kartierung ihres Territoriums durch (s. Abb. 42). Darüber hinaus begannen einige damit, die Geschichte der Gemeinden nachzuverfolgen und zu verschriftlichen 21. Der Widerstand gegen die Vertreibung wurde somit zu einer Suche nach den eigenen Wurzeln und Werten. Die Frage nach dem Wert der Dinge, die sie täglich umgeben, und die Suche nach Gründen, die für das Verbleiben der Familien auf ihren Grundstücken sprechen, führte zu einem Prozess der Bewusstseinswerdung und der Selbstermächtigung. Gleichzeitig liefen diese Prozesse nicht homogen und konfliktfrei ab. Nachdem der DNOCS einzelnen Familien hohe Entschädigungszahlungen und Parzellen in dem Bewässerungsprojekt angeboten hatte und diese auch akzeptiert wurden, kam es zu Spaltungen zwischen einzelnen Familien und zwischen den Gemeinden. Viele Familien lehnten jedoch sowohl die Umsiedlung als auch eine Parzelle in dem Bewässerungsprojekt ab. Ihr Widerstand ist letztendlich auch ein Widerstand gegen das durch das Projekt vorangetriebene Modell einer auf Gewinnmaximierung und Export ausgerichteten Landwirtschaft. Die gemeinschaftliche Nutzung von Land und die Fortführung einer ökologischen Landwirtschaft 20 „Als sie kamen waren sie bereit, sofort die Bestandsaufnahme des Eigentums durchzuführen. Doch die Gemeinden haben sich organisiert. Zunächst wollten wir es auf gar keinen Fall. Sie haben nicht bedacht, dass unsere Produktion hier nachhaltig ist. Die Aufzucht von Schafen, Rindern und Bienen. Wir haben ihnen gezeigt, dass dies ein sehr produktives Gebiet ist, doch sie haben das nicht berücksichtigt [...] Doch mit all dem Widerstand hat der DNOCS gemerkt, dass er es nicht schaffen wird und hat einen Raum für Verhandlungen eröffnet. So haben wir eingewilligt, die Registrierung zu machen. Wenn nicht, wäre fast jeder enteignet worden. Wir haben viel Unterstützung von vielen Organisationen bei den öffentlichen Anhörungen in Peixe, Russas und Fortaleza erhalten. Es gab einige Treffen. So wurde im Dezember 2007 eine Kommission gegründet, bei der Leute aus allen Gemeinden beteiligt waren und wir begannen zu diskutieren, was wir machen könnten. Aus diesem Kampf entstand die Registrierung. Dort listeten wir auf, warum wir bleiben müssen und zeigten ihnen die andere Seite, zeigten, was das Projekt schon aufzuweisen hat [...] Ihre Intention war gewesen, dass im April 2008 alles schon entschädigt worden wäre. Doch mit der Mobilisierung und der Organisierung war dies nicht möglich [...] Nicht einmal die Zisternen wollten sie entschädigen. Somit wurde ein Dokument erstellt, das der DNOCS unterzeichnete und bestätigte, dass alles entschädigt wird. Insofern willigten wir ein, die Registrierung zu machen“ (eine Bewohnerin der Gemeinden in Viana Braga 2010: 144; eigene Übersetzung). 21 Dies thematisiert beispielsweise auch der Film Narradores de Javé von Eliane Caffé, in dem ein Dorf, das durch einen Staudammbau bedroht wird, damit beginnt, seine eigene Geschichte aufzuschreiben und seine Identität zu konstruieren und dadurch hofft, nicht vertrieben zu werden.
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haben innerhalb des Bewässerungsprojektes jedoch keinen Platz. So kann die Verhinderung der Umsiedlung von drei Gemeinden (Lagoa dos Cavalhos, Sussuarana und Peixe) zunächst als Erfolg für ihren Kampf gegen ihre Verdrängung und gegen die flächendeckende Verbreitung des agroindustriellen Agrarmodells gewertet werden. Ob dies jedoch auch die Fortführungen einer ökologischen Landwirtschaft bedeutet, kann zumindest bezweifelt werden. So ist beispielsweise die Produktion von Honig aus ökologischer Landwirtschaft bald nicht mehr möglich. Der intensive Chemikalieneinsatz auf den Feldern des Bewässerungsprojektes in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Gemeinden bedroht nicht nur den Bienenbestand, sondern verunmöglicht auch die Produktion eines pestizidfreien Produktes. 12.2.6 Indigener Widerstand Dass mit einer Bedrohung von außen und einem sich dagegen gründenden Widerstand immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verortung, der eigenen Geschichte und Identität verbunden ist, wird am Beispiel des Widerstands der indigenen Gemeinschaft der Anacé, die aufgrund der Errichtung des 335 km2 großen Industriegebietes des Hafens von Pecém umgesiedelt werden sollten, ganz besonders deutlich. Der Complexo Industrial e Portuário do Pecém (CIPP) ist ein wichtiger Bestandteil der Entwicklungsplanung des Bundesstaates (Wirtschaftswachstum, Exportsteigerung, Schaffung von Arbeitsplätzen etc.) und ein zentrales Puzzlestück für das Verständnis der strategischen Ausrichtung der Wasserpolitik in Ceará (vgl. Kap. 10.2). Mit der Bedrohung ihrer territorialen Lebensgrundlage begannen die betroffenen Familien im Munizip Caucaia, sich mit der Geschichte ihrer über Generationen währenden Besiedlung der Region auseinanderzusetzen und die gemeinsamen Erzählungen und Mythen zusammenzutragen. Der drohenden Vertreibung wurde dabei die kulturelle und symbolische Bedeutung des Territoriums gegenübergestellt. Somit kam ein Prozess der Bewusstwerdung und der Artikulation der eigenen Geschichte, Traditionen und Identität in Gang, der dazu führte, dass die Familien (wieder) dazu übergingen, sich öffentlich als indigene Familien des Volkes der Anacé zu bezeichnen (Interviews mit Vertreterinnen der Anacé; NÓBREGA & MARTINS 2010: 8). Das vermeintlich ‚plötzliche‘ Auftauchen traditioneller Gemeinschaften in der Region verärgerte sowohl Politiker_innen wie Investor_innen. Für viele stellte dies nur eine Strategie der Verhinderung von Umsiedlungen und der Erhöhung von Entschädigungszahlungen dar. So reagierte der Staat zunächst damit, den Familien ihre indigene Identität abzusprechen. In einer Diskussion mit einer Gruppe von Anacé brachte CID GOMES, Gouverneur des Bundesstaates Ceará, seine Vorstellung von Indigenität deutlich zum Ausdruck: „No momento que o índio estabelece os hábitos ocidentais, como Igreja Católica, usos e costumes, esses
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deixam de ser índios 22“ (CID GOMES in ALMEIDA 2009). In einer solchen Sichtweise wird die Legitimation von indigener Identität mit einer ganz bestimmten, eurozentrischen Vorstellung von der Art zu leben, sich zu verhalten und zu kleiden verbunden. Auch im Konfliktfall zwischen einer indigenen Gemeinschaft und dem Bau eines Touristenresorts an der Küste Cearás wurde die Vorstellung, dass Indigenität eindeutig sichtbar und somit benennbar sei, deutlich. Nachdem eine Untersuchungskommission das Gebiet überflogen und später sogar besucht hatte, stellte ein Teilnehmer überzeugt fest: „Fomos até lá, conversamos com a população local e não vimos nenhum índio 23“ (GORETE PEREIRA in BARREIRA 2008). Dabei wird über die Vorstellungen von Indigenität auch der legitime Ort für indigene Gemeinschaften und Lebensweisen vorgegeben. So soll CID GOMES bei der Einweihung des Hafens von Pecém gegenüber den Anacé geäußert haben: „índio para me é lá, na Amazônia 24“ (CID GOMES, laut Aussage einer Vertreterin der Anacé). Die Negierung von indigener Präsenz in Ceará geht dabei auf eine langjährige Tradition zurück. So erklärte der Gouverneur der Provinz Ceará im Jahr 1863 per Dekret, dass es in Ceará keine indigene Gruppen mehr gebe und legitimierte dadurch die Aneignung indigener Ländereien (DE SANTANA et al. 2010: 5). Dadurch wurde die Leugnung und Verheimlichung indigener Bräuche und Rituale zum Bestandteil der Überlebensstrategien vieler indigener Gruppen. Erst 1983 begannen Familien der Gruppe der Tapeba erneut damit, sich öffentlich als Indigene zu bezeichnen, womit in Ceará der Kampf vieler Gemeinschaften für ihre Anerkennung als indigene Gruppe und für die Demarkierung ihrer Ländereien eingeleitet wurde (ebd.). Während in Ceará mittlerweile 14 indigene Gruppen anerkannt sind, wurden bisher lediglich die Ländereien der Tremembé demarkiert und homologiert. 2006 wurde das Volk der Anacé als indigene Ethnie durch die nationale Indigenenbehörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio) anerkannt. Heutzutage leben laut FUNAI rund 1.200 Anacé in Ceará, wobei die tatsächliche Zahl wahrscheinlich um einiges höher liegt (ebd.: 3–7). Vor dem Hintergrund der Errungenschaften der brasilianischen Verfassung von 1988, in der die besonderen Rechte indigener Gruppen, insbesondere das originäre Recht auf ihr Territorium und auf den Schutz der kulturellen Vielfalt, festgeschrieben wurden, und der existentiellen Bedrohung der Familien durch den Industriekomplex CIPP wurde die Affirmation indigener Identität zu einer möglichen Überlebensstrategie für die Familien der Anacé (MEIRELES et al. 2012: 138
22 „In dem Moment, in dem der Índio die westlichen Gewohnheiten annimmt, wie die Katholische Kirche, Gebräuche und Angewohnheiten, hören sie auf Índios zu sein“ (Cid Gomes in Almeida 2009; eigene Übersetzung). 23 „Wir waren dort, haben mit der lokalen Bevölkerung gesprochen und haben keinen einzigen Índio gesehen“ (Gorete Pereira in Barreira 2008; eigene Übersetzung). 24 „índios sind für mich dort, in Amazonien“ (Cid Gomes, laut Aussage einer Vertreterin der Anacé; eigene Übersetzung).
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f.). Dabei wurden die Verschriftlichung der eigenen Geschichte, die Wiederaufnahme von Praktiken und Gebräuchen, aber auch der Zusammenschluss mit der bundesstaatlichen und nationalen Indigenenbewegung und der Austausch mit sozialen Bewegungen und Wissenschaftler_innen zu wichtigen Strategien des Widerstandes. Darüber hinaus stellen die Formulierung von alternativen Vorstellungen von Entwicklung und Natur und die Praxis eines anderen Umgangs mit Natur das vorherrschende Gesellschafts- und Entwicklungsmodell in Frage (NÓBREGA & MARTINS 2010: 12 f.). Der Widerstand gegen ihre Vertreibung ist somit nicht nur ein Kampf um Land und Entschädigungszahlungen. Vielmehr ist es ein Kampf um die Anerkennung ihrer (indigenen) Identität, ihrer Geschichte und ihrer materiellen und symbolischen Grundlagen. Es ist ein Kampf um die materielle und symbolische Inwertsetzung und Aneignung von Natur und um das Recht auf Selbstbestimmung. Es ist somit nicht nur „uma luta pela fixidez dos lugares, mas sim pelo poder de definir a direção da sua mudança 25“ (ZHOURI & OLIVEIRA 2010: 445). Während für viele der indigene Widerstand und die Sonderrechte indigener Gemeinschaften die Entwicklung nur unnötig verzögern und die Durchsetzung von Großprojekten nur unnötig verteuern, stellen für die indigenen Gemeinschaften das Entwicklungsmodell und die kapitalistische Inwertsetzung von Natur eine weitere Vertreibung und Marginalisierung dar. Jedoch wurde ihr Widerstand auf der Grundlage von national und international verankerten Rechten, im Zusammenschluss mit verschiedenen sozialen Bewegungen und aufgrund einer veränderten Stellung innerhalb der brasilianischen Gesellschaft in den letzten Jahren selbstbewusster, lautstärker und erfolgreicher. Nach einem langjährigen Streit um den Bau einer Erdölraffinerie der Petrobras innerhalb des CIPP, das von den Anacés als traditionelles Territorium angesehen wird, stimmten die indigenen Familien schließlich einem Kompromiss zu. Darin wird ihnen die Demarkation eines Gebietes von 700 Hektar und die Errichtung von grundlegenden Infrastruktureinrichtungen (Elektrizität, Wasserversorgung, Bau einer Schule etc.) durch den Staat zugesagt (SOUSA 2013). Auch wenn dies im Gegensatz zu den zwei Millionen Hektar, die der Petrobras bereit gestellt werden, wenig erscheinen mag, so haben die Anacés dennoch einen wichtigen Sieg im Laufe des Prozesses errungen: sowohl die (Wieder)Aneignung ihrer Geschichte und die Selbstaffirmation ihrer indigenen Identität als auch die Anerkennung als indigene Gemeinschaft durch die Gesellschaft.
25 „ein Kampf um Verortung, sondern auch um Definitionsmacht über die Bestimmung der Richtung der Veränderung“ (Zhouri & Oliveira 2010: 445; eigene Übersetzung).
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12.3 WISSEN ALS GRUNDLAGE DER (RE)PRODUKTION VON MACHTVERHÄLTNISSEN Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, stellt die Wissensordnung die Grundlage für die Möglichkeiten des Handelns dar. Sie ist zwar der direkten Einflussnahme durch den einzelnen sozialen Akteur entzogen, kann aber trotzdem nicht als Zufallsprodukt gesellschaftlicher Prozesse begriffen werden. Wissen und die Produktion von Wissen ist ein zentraler Bereich der Produktion und Reproduktion von Machtverhältnissen und wird somit immer auch strategisch eingesetzt und ist gesellschaftlich umkämpft. Der Kampf gegen die Dürre im Nordosten Brasiliens beruhte seit den Anfangstagen der Republik und ihrem positivistischen Streben nach der Beherrschung der Natur auf den Verheißungen von naturwissenschaftlichem Faktenwissen und ingenieurstechnischen Meisterleistungen. Mit der solução hidráulica sollte die Dürre durch eine enorme Ausweitung der Wasserspeicherkapazität überwunden werden, ohne dabei jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse anzutasten (s. Kap. 6.2.6.2). Ab den 1950er Jahren faszinierte mehrere wissenschaftliche Institutionen die Idee, über die Manipulation des Klimas die Dürre in den Griff zu bekommen 26. Mit der Ausbringung von Natriumchloridlösungen, von Silberjodid oder Trockeneis sollte der Prozess der Wolkenbildung über Ceará künstlich erzeugt werden, um so Niederschläge zu provozieren. Selbst mit der Verbrennung von Petroleum wurde experimentiert, um über die in die Atmosphäre gelangenden Kohlepartikel als Kondensationskerne die Wolkenbildung zu beschleunigen. Dass dies keine kleinen Versuchsanordnungen einzelner Wissenschaftler_innen waren, zeigt sich beispielsweise anhand der Geschichte der staatlichen meteorologischen Forschungsstiftung FUNCEME (Fundação Cearense de Meteorologia e Recursos Hídricos), die 1972 noch als Stiftung für Meteorologie und künstlichen Regen (Fundação Cearense de Meteorologia e Chuvas Artificiais) gegründet wurde. Zusammen mit dem Zentrum für Luft- und Weltraumtechnik CTA (Centro Técnico Aeroespacial) führte die FUNCEME zur Zeit der Militärdiktatur das Projekt MODART (Modificação Artificial do Tempo (Künstliche Wetterveränderungen)) durch, das jedoch nicht die erwünschten Ergebnisse lieferte und schließlich wieder eingestellt wurde (CARVALHO 1988: 309 f.; HALL 1978: 22; MEDEIROS FILHO & SOUZA 1987: 55, COELHO 1985: 21). Doch auch für die aktuelle Umsetzung und Weiterentwicklung des vorherrschenden Entwicklungsmodells stellt die Produktion von (Expert_innen)Wissen eine der wichtigsten Grundlagen dar. So empfiehlt beispielsweise die Weltbank zur Stabilisierung der exportorientierten Bewässerungslandwirtschaft als hegemoniales Modell in der Region:
26 Eine Denkweise, die bis heute den Umgang mit der ökologischen Krise, beispielsweise dem Klimawandel, maßgeblich beeinflusst (s. CCS-Methoden (Carbon Capture and Storage), Düngung der Meere, Anbringung von Sonnenspiegeln im Weltraum etc.).
12.3 Wissen als Grundlage der (Re)Produktion von Machtverhältnissen
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„maiores investimentos em pesquisa estratégica e adaptativa no âmbito da agricultura irrigada, buscando alternativas econômicas com novos cultivos para facilitar a exportação de produtos com potencial de mercado [...] e criando culturas mais resistentes e competitivas, através de melhorias no manejo do solo, da água e dos cultivos 27“ (BANCO MUNDIAL 2004: 51).
Die Hauptaufgabe der Wissenschaft stellt dabei sowohl die angewandte Forschung im Sinne einer Weiterentwicklung von Saatgut, Produktionsmethoden, Bewässerungstechniken, Schädlingsbekämpfungsmaßnahmen etc. dar als auch die Ausbildung und Bereitstellung von qualifizierten Arbeitskräften, die einen unverzichtbaren Standortfaktor für die Unternehmen des modernen Agrobusiness darstellen. Neben den Universitäten (insbesondere die UFC und UECE) kommt dabei den technischen Hochschulen CENTEC (Instituto Centro de Ensino Tecnológico do Ceará) eine zentrale Bedeutung zu. Von ihnen werden weiterführende Kurse in den Bereichen Agrobusiness, Elektromechanik, Be- und Entwässerung, Abwasserreinigung und Nahrungsmitteltechnik angeboten. Auch in Limoeiro do Norte, als strategisch wichtiges Regionalzentrum der Bewässerungslandwirtschaft, befindet sich ein Campus des CENTEC (Núcleo de Informação Tecnológica NIT). Dabei stellt eine enge Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen des Agrobusiness und der Forschungs- und Lehrinstitution die Grundlage des ‚Erfolgs‘ des CENTEC dar. Neben der Ausbildung von qualifizierten Arbeitskräften und der Fortentwicklung von Produktionstechniken geben die Unternehmen Studien in Auftrag oder lassen Boden- oder Wasserproben in den Labors des CENTEC untersuchen. Ursprünglich gehörte das Unternehmen Fruta Cor, einem der wichtigsten Produzenten von Bananen in der Region, sogar dem Verwaltungsrat der Hochschule an (FREITAS 2010: 73; CENTEC 2013; ARAÚJO 2006: 89–93). Die Verbesserung des Produktionsprozesses und die Zertifizierung der Anbauprodukte wird in erster Linie von dem Agrarforschungsinstitut EMBRAPA (Empresa Brasileira de Pesquisa Agropecuária) durchgeführt. Dabei stellt die Forschung und Weiterentwicklung des Saatgutes und die Anpassung der Anbaukulturen an die Produktionsbedingungen und die Bedürfnisse und Vorlieben der Konsument_innen einen wichtigen Aufgabenbereich der Agrarforschung dar. Laut HIDELBRANDO DOS SANTOS SOARES, Geographieprofessor an der FAFIDAM in Limoeiro do Norte, werden 95% der Investitionen der EMBRAPA für den Bereich des Agrobusiness ausgegeben (SOARES 2009). So wurde beispielsweise eine Ananas entwickelt, deren Blätter keine Stacheln mehr aufweisen und deren Größe, Konsistenz und Fruchtzuckergehalt die Nachfrage der Konsument_innen insbesondere in Europa und den USA bedient. Bei der Produktion von Trauben stellen
27 „verstärkte Investitionen in angepasste und strategische Forschung im Bereich der Bewässerungslandwirtschaft, um wirtschaftliche Alternativen mit neuen Anbaukulturen zur Vereinfachung des Exportes von Produkten mit einem hohen Marktpotential zu suchen [...] und resistentere und wettbewerbsfähigere Anbaukulturen über die Verbesserung des Umgangs mit dem Boden, dem Wasser und den Anbaukulturen zu erzeugen“ (Banco Mundial 2004: 51; eigene Übersetzung).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
die Entwicklung von kernfreien Sorten und die Möglichkeit einer zweiten Ernte im Jahr die wichtigsten Anforderungen dar, während Größe, Zuckergehalt und Schädlingsresitenz die größten Herausforderungen bei Melonen darstellen (BEZERRA 2008: 151). Die Anbauprodukte sind somit das Ergebnis einer spezifischen wissenstechnischen Produktion von Natur und können als Hybride der Mensch-Umwelt-Beziehungen angesehen werden. Die spezifische Wissensform und die Verwendung von Wissen sind dabei für die Art und Weise der Inwertsetzung von Natur entscheidend. 12.3.1 Convivência com o semiárido Als Gegenentwurf zum hegemonialen Projekt der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur steht das Konzept der convivência com o semiárido (Leben im Einklang mit der semiariden Region), das zivilgesellschaftliche Organisationen wie die NGO IRPAA (Instituto Regional da Pequena Agropecuária Apropriada) oder das Netzwerk ASA (Articulação no Semi-Árido Brasileiro) seit Beginn der 1990er Jahre entworfen und in die Praxis umgesetzt haben. An die Stelle der Beherrschung der Natur und der Bekämpfung der Dürre (combate à seca) setzten sie dabei das Prinzip der convivência (Zusammenleben) und zielen dabei sowohl auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als auch auf die gesellschaftliche Organisation des Zusammenlebens ab. Als umfassendes ökonomisches, ökologisches und soziales Projekt basiert das Konzept der convivência dabei unter anderem auf folgenden Grundlagen (SILVA 2006: 180 ff.; FERNANDES 2002; PINTO & LIMA 2005; MORRISON 2010: 170 ff.): – – – – – – – – –
Wertschätzung von lokalem Wissen und traditionellen Praktiken verändertes Verhältnis im Umgang mit der Natur und neue Perspektiven auf die Natur Nutzung angepasster Agrarmethoden und nachhaltige Methoden der Wasserspeicherung gleiche Rechte und Verteilungsgerechtigkeit demokratischer Zugang zu allen elementaren Gütern und Dienstleistungen (Land, Wasser, Nahrung, Bildung, Gesundheit, Kultur) kontextualisierte Bildung Organisation der Basis und Stärkung der Zivilgesellschaft Beachtung von Geschlechterverhältnissen und Geschlechtergerechtigkeit Aufbau eines Netzwerkes solidarischer Ökonomie.
Auch innerhalb des Konzeptes der convivência spielt die Produktion von Wissen eine zentrale Rolle. Jedoch rückt an die Stelle der Entwicklung moderner Praktiken und des Einsatzes neuester Technologien die (Wieder)Aneignung und erneute Wertschätzung von lokalem Wissen und traditionellen Praktiken. Somit unterscheidet sich sowohl die Ebene und der Ort der Wissensproduktion, als auch die Methodik der Wissensaneignung, -vermittlung und -entwicklung. Mit der Wert-
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schätzung des Lokalen als zentrale Ebene der Wissensproduktion wird der Vielfalt von natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen Rechnung getragen. Wissen soll nicht von außen in einen Ort hineingetragen und implementiert, sondern vor Ort gewonnen und von den lokalen Besonderheiten her mit anderen Wissensformen in Verbindung gebracht werden. Dabei entsteht das Wissen nicht in erster Linie in Labors, Hörsälen oder Gewächshäusern, sondern ist bereits in den Praktiken der lokalen Bevölkerung gespeichert und muss im Umgang mit der Natur abgerufen und entwickelt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass lokale Praktiken per se als angepasst und nachhaltig gelten können. Vielmehr bedarf es einer ständigen Hinterfragung und Auseinandersetzung mit den Praktiken und ihren Auswirkungen auf das lokale Ökosystem. Während viele Praktiken angeeignet und verbessert werden können, müssen andere, traditionelle Praktiken, wie etwa ein großflächiges Abbrennen der Vegetation, in Frage gestellt und ersetzt werden (SILVA 2006: 124). Gleichzeitig bedeutet die Wertschätzung der Kenntnisse der traditionellen Bevölkerung auch nicht, dass andere Wissensformen, wie etwa akademisches Wissen, abqualifiziert oder abgelehnt werden. Vielmehr können über die Verschneidung verschiedener Wissensformen die traditionellen Praktiken verbessert und an die ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen angepasst werden (ebd.: 189). 12.3.2 Educação contextualizada „A educação não faz revolução, mas não se faz revolução sem ela 28“ (PAULO FREIRE in MALVEZZI 2007: 133).
Aufgrund der hohen Analphabetenrate in der semiariden Region, des schlechten Zustands der Schulinfrastruktur, der einheitlichen Lehrpläne und der minderwertigen didaktischen Materialien, die zumeist im Süden und Südosten Brasiliens hergestellt werden und eher die Realität in São Paulo als im Sertão darstellen und behandeln (SANTOS et al. 2007: 29), wurde die Frage der Aneignung und Vermittlung von Wissen zu einem der Grundpfeiler des Konzepts der convivência erhoben. Im Sinne einer kontextualisierten Bildung (educação contextualizada) soll dabei der lokale Kontext im Mittelpunkt sowohl der formalen Schulbildung als auch einer Ausbildung von Multiplikator_innen und Führungspersonen stehen. Mit der Thematisierung und Behandlung des Klimas der semiariden Region, der regionalen Vegetation und Anbaukulturen, aber auch der Geschichte, der Traditionen und der Kultur des Sertão soll nicht nur Wissen, sondern auch eine gewisse Wertschätzung des eigenen Kontextes vermittelt werden. Der Sertão verliert dadurch seine Zuordnung als Ort des ‚Anderen‘, den er aus dem Blickwinkel der Schulbücher aus dem urbanen Süden zugeordnet bekommt, und wird zum Ort des
28 „Bildung macht keine Revolution, doch man macht keine Revolution ohne sie“ (Paulo Freire in Malvezzi 2007: 133).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
‚Eigenen‘, mit all seinen Vorzügen und Unannehmlichkeiten. Über die pedagogia da alternância (Pädagogik des Wechselns), bei dem die Schüler_innen abwechselnd ein paar Wochen im Internat und ein paar Wochen zu Hause verbringen, wird die roça (das eigene Stück Land) zur Schule und die Schule zum Ort der Reflektion der eigenen Realität. Für die Phasen, in denen die Schüler_innen ‚zu Hause‘ lernen, müssen sie kleinere Projekte entwickeln und Aufgaben erledigen, über die in der Phase des Schulunterrichts später gemeinsam reflektiert wird. Über die Beobachtung der Natur, das Aufzeichnen des Wetters, das Anlegen von Gemüsegärten oder neuen Bewässerungsformen oder der Erforschung der eigenen Geschichte oder der Verteilung von Landbesitz wird die eigene Realität zum Forschungsobjekt und Experimentierfeld (SILVA 2006: 254–257; MALVEZZI 2007: 132). Auch in den Universitäten findet sich ein solches Konzept wieder. Innerhalb des Programms PROCAMPO (Programa de Apoio à Formação Superior em Educação do Campo) werden beispielsweise an der Fakultät FAFIDAM in Limoeiro do Norte Lehrer_innen und Vertreter_innen von sozialen Bewegungen für den Unterricht in ländlichen Regionen ausgebildet. Neben dem Besuch von Seminaren und Vorlesungen besteht ein Teil des Studiums darin, Forschungsprojekte zu entwickeln und in den eigenen Gemeinden durchzuführen (UECE 2010). Die Wertschätzung der unterschiedlichen Wissensformen und die Art und Weise der Wissensproduktion stellen somit die Grundlage für einen veränderten Umgang mit der Natur und für eine neue Sichtweise auf die eigene Realität, die semiaride Region und die Möglichkeiten einer ‚nachhaltigen‘ Entwicklung dar. Die Produktion von Wissen erscheint somit als Schlüssel für die Etablierung eines Entwicklungsmodells, innerhalb dessen nicht die Beherrschung von Natur, sondern das Leben in Einklang mit der Natur im Mittelpunkt steht (vergleichbar mit den Konzepten des Buen Vivir etwa in Equador oder Bolivien), durch das eine Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung und die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich wird. 12.3.3 Praktiken nachhaltiger Naturaneignung Die innerhalb des Konzeptes der convivência etablierten Praktiken der Naturaneignung, insbesondere der besonderen Speicherung und Verwendung von Wasser, und das Ziel einer ökologischen Landwirtschaft, stellen jedoch kein Nischenmodell dar, das das Überleben im ländlichen Raum für bedürftige Familien ermöglichen und den Exodus in die Städte so gut wie möglich verhindern soll. Vielmehr wird darin ein breit angelegter gesellschaftlicher Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen gesehen, der nicht nur darauf abzielt, die natürlichen Ressourcen zu schonen und die sozialen Ungleichheitsverhältnisse abzubauen, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Dem Modell einer agroindustriellen Landwirtschaft, bei dem einige wenige Großgrundbesitzer_innen und Unternehmen große Gewinne erzielen, indem sie insbesondere für den Export produzieren, wird dabei das Modell einer kleinbäuerlich und dezentral strukturierten, ressour-
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censchonenden Landwirtschaft entgegen gesetzt, die in erster Linie für die regionale Nachfrage produziert. Dabei wird durchaus auch eine Produktivitäts- und Effektivitätssteigerung der landwirtschaftlichen Produktion angestrebt, die jedoch nicht über eine Ausbeutung der natürlichen und menschlichen Ressourcen erreicht werden soll. Dass dies keine utopische Wunschvorstellung einer ‚anderen Welt‘, sondern eine realistische Einschätzung des Potentials eines ‚anderen‘ Entwicklungsmodells darstellt, zeigen bereits die aktuellen Produktionszahlen der Familienlandwirtschaft in Brasilien. Selbst bei einer eher konservativen Definition von Familienlandwirtschaft, die das MDA (Ministério do Desenvolvimento Agrário) gemeinsam mit dem IBGE erstellt hat, zeigt der Agrarzensus für das Jahr 2006 die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Familienlandwirtschaft auf: Obwohl die 4,4 Mio. Betriebe der Familienlandwirtschaft (84%) lediglich auf 24% der verfügbaren landwirtschaftlichen Fläche produzieren, erwirtschaften sie 38% des landwirtschaftlichen Bruttosozialproduktes. Somit erreichen sie einen Produktionswert von 677 R$ pro Hektar und Jahr, während die Unternehmen des Agrobusiness lediglich 358 R$/ha/Jahr erwirtschaften. Darüber hinaus arbeiten auf den kleinbäuerlichen Betrieben 74% der in der Landwirtschaft tätigen Personen (12,3 Mio.) und somit umgerechnet 15,3 Personen pro 100 ha, während innerhalb des Agrobusiness lediglich 1,7 Personen auf 100 ha arbeiten. Insbesondere bei der Produktion von Grundnahrungsmitteln wird die Bedeutung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft deutlich: 87% des Manioks, 70% der Bohnen, 46% der Maisproduktion, 58% der Milchproduktion, 50% der Geflügel- und 59% der Schweinefleischproduktion wird von der Familienlandwirtschaft hergestellt, während auf der anderen Seite die exportorientierte Getreide- (79%), Soja- (84%) und Rindfleischproduktion (70%) in den Händen des Agrobusiness liegt (MDA 2009). Neben der wirtschaftlichen wird auch die ökologische Nachhaltigkeit von dem verfolgten Agrarmodell bestimmt. Insbesondere vor dem Hintergrund eines prognostizierten Klimawandels steht der ländliche Raum Cearás vor erheblichen ökologischen Herausforderungen. So errechnete eine Studie, die gemeinsam von der Universität von Minas Gerais und der Stiftung Oswaldo Cruz erstellt wurde, einen klimabedingten Rückgang des BIP von Ceará bis zum Jahr 2050 um 16,4% (CEDEPLAR & FIOCRUZ 2008: 26). Betroffen seien davon insbesondere die ländlichen Regionen, da die verfügbare landwirtschaftliche Fläche aufgrund von Desertifikationsprozessen um bis zu 80% (sic!) zurückgehen werde, was zu einen enormen Anstieg der Landflucht führen wird (ebd.). So werden die natürlichen Bedingungen einmal mehr zu einer Bedrohung – insbesondere für die ländliche Bevölkerung. Doch der Zusammenhang zwischen natürlichen Bedingungen, Desertifikationsprozessen und Landflucht kann auch anders hergestellt werden. Wenn die Praktiken der Naturaneignung nicht als gegeben und die natürlichen Bedingungen als dementsprechend vorteilhaft oder nachteilig bewertet werden, sondern wenn umgekehrt die Praktiken an die lokalen natürlichen Bedingungen angepasst werden, dann verschiebt sich der Fokus von den natürlichen Bedingungen auf die Bewertung der Praktiken der alltäglichen Naturaneignung. In einer solchen Sichtweise führen nicht primär die klimatischen Verhältnisse zu einer
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Ausweitung der Desertifikationsprozesse, sondern vielmehr eine nicht angepasste landwirtschaftliche Nutzung, wie etwa eine flächendeckende Rodung, eine monokulturelle Anbauweise, fehlende Bäume und Hecken, die als Schutz vor Evaporation und fluvialer und äolischer Erosion dienen könnten, großflächige Speicherseen, die einen erheblichen Anteil durch die Verdunstung verlieren, große Rinderweiden etc. Die Praktiken einer nachhaltigen Naturaneignung sind in der Region seit Generationen bekannt und wurden immer wieder verändert, angepasst und weiter gegeben. In den letzten Jahrzehnten haben insbesondere kirchliche Organisationen wie die Caritas und die CPT, Nichtregierungsorganisationen wie die IRPAA und die ASA, die Landlosenbewegung MST, aber auch verschiedene akademische Gruppen dazu beigetragen, das Wissen über nachhaltige Praktiken im Sertão zu verschriftlichen, zu systematisieren und weiter zu entwickeln. Tabelle 12 zeigt einen Ausschnitt der wichtigsten Methoden und Anbauweisen einer nachhaltigen Naturaneignung, ohne dabei jedoch die enorme Vielfalt einer ökologischen Landwirtschaft ganz abdecken zu können. Tab. 12: Praktiken nachhaltiger Naturaneignung im Sertão.
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Eine der Erfolgsgeschichten der convivência im Nordosten Brasiliens ist das vom Netzwerk ASA initiierte und verbreitete Programm des Zisternenbaus (P1MC). Mit dem Ziel, eine Millionen Zisternen im Nordosten zu errichten, mit deren Hilfe jeweils ein fünfköpfiger Haushalt acht Monate lang mit Trinkwasser versorgt werden kann, besteht das Programm mittlerweile in allen Bundesstaaten des Nordostens und wurde lange Zeit auch von Seiten des Staates unterstützt.
Abb. 43: Convivência com o semi-árido (Ziegenzucht, Samenbank, Mandala, Biogasanlage, Plastikgraben, Zisterne).
So konnten bisher fast 420.000 Zisternen durch das Programm errichtet werden (DIÁRIO DO NORDESTE 2013), wobei es mittlerweile als P1+2 (Uma Terra e duas Águas – Ein Land und zwei Wasser) auch um Fragen nach ausreichendem Landbesitz und nach der Wasserversorgung für landwirtschaftliche Tätigkeiten erweitert wurde. Der Bau einer Zisterne dient jedoch nicht alleine der Wasserversorgung einer einzelnen Familie, sondern soll über den gemeinschaftlichen Bau (mutirão) zur Weitergabe von Wissen und handwerklichen Fähigkeiten und zur Etablierung von nachbarschaftlich solidarischem Handeln führen (DIAS 2004: 37 f.). Über die Speicherung von Regenwasser und dem dezentralen und partizipativen Ansatz der Hilfe zur Selbsthilfe stellt der Zisternenbau einen effektiven Ansatz dar, die Abhängigkeiten der kleinbäuerlichen Familien von den Wasserlieferungen durch die lokalen Behörden und Politiker_innen zu verringern und die Mechanismen der indústria da seca aufzubrechen. Doch trotz des Erfolges des Projektes kündigte DILMA ROUSSEFF im Dezember 2011 an, die Herstellung und Verbreitung von Plastikzisternen staatlich unterstützen zu wollen. Mit der Begründung einer schnelleren Verbreitung der Zisternen sollen bis zum Ende des ersten Mandats von ROUSSEFF im Jahr 2014 300.000 neue Plastikzisternen im Nordosten installiert werden, auch wenn diese doppelt so hohe Investitionskosten erfordern wie die gemauerten Zisternen (MADEIRO & CARLOS 2012). Doch die ersten Ergebnisse dieser Politik wurden schnell sichtbar.
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
Bereits nach drei Monaten mussten die ersten Plastikzisternen wieder ausgetauscht werden, da sie sich aufgrund der hohen Temperaturen verformt hatten. So wird befürchtet, dass an die Stelle eines solidarischen Konzeptes der eigenmächtigen Wasserversorgung nun ein Konzept der kurzfristigen und paternalistischen Hilfeleistung tritt, von dem lediglich einige Unternehmen profitieren 29 und das am Ende lediglich einen großen Berg Plastikmüll zurücklassen wird (MADEIRO & CARLOS 2012). Die Aneignung der Praktiken der Wasserversorgung durch die wirtschaftlichen und politischen Eliten und der Versuch, das Widerstandspotential des Zisternenprogramms zu brechen, stellt dabei für viele Kritiker_innen des Plastikzisternenprogramms die wesentlichen Intentionen für die Neuausrichtung der staatlichen Politik dar. So kommt beispielsweise ROBERTO MALVEZZI (GOGO) von der Landpastorale CPT zu dem Schluss: „Aliás, as oligarquias nordestinas não se conformavam em ver o povo mais autônomo e buscavam um meio de retomar o controle da água sobre essas populações. Talvez conseguirão ao serem os doadores das cisternas de plástico. Voltaremos ao clientelismo pela água, arma histórica da coronelada sobre as populações 30“ (MALVEZZI in IHU 2012).
12.3.4 Solidarische Ökonomie Zwar finden Widerstand und die Reproduktion oder das Aufbrechen gesellschaftlicher Verhältnisse in den täglichen Praktiken (der Naturaneignung) statt. Trotzdem sind individuelle Lösungen und einzelne Versuche einer ökologischen und angepassten Landwirtschaft immer eingebettet in übergeordnete Strukturen und können nicht als ‚Insellösungen‘ gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Ein alternatives Agrar- und Entwicklungsmodell geht über die Anwendung von angepassten Agrartechniken hinaus und bezieht auch die Bereiche des Wissenstransfers, der Finanzierung, der Weiterverarbeitung und Vermarktung der Produkte mit ein. Dabei schränken individuelle technische, finanzielle oder soziale Bedingungen die Handlungsmacht einzelner sozialer Akteure mitunter stark ein. Somit ist das Projekt der convivência immer auch ein kollektives Projekt, das auf der gemeinsamen Wissensproduktion und -vermittlung, auf gemeinschaftlichen Praktiken der Naturaneignung und auf kollektiven Strategien der wirtschaftlichen Inwertsetzung beruht.
29 Insbesondere kann davon die Firma des aktuellen Integrationsministers Fernando Coelho profitieren, die für 1,5 Mrd. R$ 300.000 Plastikzisternen herstellen soll (Siqueira 2013). 30 „Im Übrigen haben die Oligarchien des Nordostens sich nicht damit abfinden können zuzusehen, wie die Leute immer autonomer wurden und suchten einen Weg, die Kontrolle über das Wasser für diese Bevölkerung wieder zurückzugewinnen. Möglicherweise wird ihnen das gelingen, indem sie diejenigen sind, die die Plastikzisternen spenden. Wir werden zum Klientelismus des Wassers zurückkehren, eine historische Waffe des Coronelismo-Systems (coronelada) gegenüber der Bevölkerung“ (Malvezzi in IHU 2012; eigene Übersetzung).
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So sind gemeinschaftlich genutzte Ackerflächen (fundos de pasto), gemeinsam genutzte Gerätschaften, das Anlegen von Samenbanken und die Organisation von Wochenmärkten Ansätze kollektiver Organisationsformen, die unter dem Begriff der solidarischen Ökonomie zusammengefasst werden können. Allgemein sind unter einer solidarischen Ökonomie jegliche Formen des gemeinschaftlichen Produzierens, Verteilens, Konsumierens, Tauschens, Leihens, Schenkens usw. zu verstehen, die auf der Grundlage der gegenseitigen Solidarität selbstverwaltet funktionieren. In den wirtschaftlichen Austauschbeziehungen stehen somit nicht – wie in der klassischen Ökonomie – die Nutzenmaximierung des Einzelnen, sondern kooperative Verhaltensweisen und die solidarische Übernahme von Verantwortung im Vordergrund. Unternehmen der solidarischen Ökonomie (empreendimento econômico solidário, EES) sind beispielsweise einzelne Kooperativen, Genossenschaften, Tauschringe, selbstverwaltete Unternehmen etc., die Produkte herstellen oder Dienstleistungen anbieten, Kredite vergeben oder Austauschbeziehungen ermöglichen (MTE o. J.). So ist in Brasilien, insbesondere jedoch im Nordosten, seit den 1990er Jahren ein breites Netzwerk von Initiativen der solidarischen Ökonomie entstanden, die einen wichtigen Bereich der Verbreitung und Etablierung eines alternativen Agrarmodells darstellen. Eine Erhebung des Nationalen Sekretariats für Solidarische Ökonomie ergab, dass in Brasilien 21.859 Empreendimentos Econômicos Solidários (EES) existieren (2007), wovon sich allein 9.498 (43,5%) im Nordosten und 1.854 (8,5%) in Ceará befinden (ANTEAG 2009a: 27). Im Gegensatz zu den Unternehmen in Südbrasilien sind die EES im Nordosten und besonders in Ceará hauptsächlich auf den ländlichen Raum und den Agrarsektor ausgerichtet. Die meisten EES in Ceará agieren ausschließlich in ländlichen Regionen (72%) oder sowohl in ländlichen als auch in urbanen Regionen (12%), während 83% der wirtschaftlichen Aktivitäten Produkte und Dienstleistungen des Agrarsektors betreffen (ANTEAG 2009b). Die meisten Produkte (58%) werden verkauft, andere dienen dem Eigenkonsum oder werden getauscht, wobei der Absatz vor allem auf den lokalen und regionalen Markt ausgerichtet ist (86%) und weniger auf nationale (3%) oder internationale (2%) Absatzmärkte. Dabei nimmt der Austausch mit anderen Organisationen der solidarischen Ökonomie eine wichtige Rolle ein: 55% der EES gaben an, in einem Netzwerk der solidarischen Ökonomie organisiert zu sein und 62% stehen in Verbindung mit sozialen Bewegungen (ebd.). Somit stellen die Initiativen der solidarischen Ökonomie einen wichtigen Bestandteil des Konzepts der convivência dar. Sie sind jedoch mehr als alternative ökonomische Strukturen der Kreditvergabe, der Verarbeitung und Vermarktung. Durch die Prinzipien der Kooperation und der Solidarität und die täglichen Erfahrungen der Selbstverwaltung, der Selbstbestimmung und des gemeinschaftlichen Handelns entsteht eine neue Wissensordnung, die dem hegemonialen Projekt gegenübergestellt werden kann. Die Etablierung eines contra-hegemonialen Projektes, das auf ganz konkreten Erfahrungen und Praktiken beruht, ist dabei wichtig, um gesellschaftliche Dialogprozesse in Gang zu setzen und politische Paradigmen in Frage zu stellen:
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„O diálogo sobre a convivência cria, no âmbito da sociedade, novas dinâmicas sociais e novas dinâmicas de poder, promove a emergência de novos paradigmas políticos a partir da ampliação da participação cultural que se faz no cotidiano popular 31“ (PIMENTEL in SILVA 2006: 258).
Organizar o povo: Die sozialen Bewegungen auf der Suche nach einem gemeinsamen Projekt Daraus ergibt sich für die sozialen Bewegungen, dass ihre Zielsetzungen über die Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Land und den Zugang zu Wasser hinaus gehen müssen. Laut SORAYA VANINI TUPINAMBÁ, Leiterin der NGO ADELCO (Associação para Desenvolvimento Local Co-Produzido) bedarf es wieder eines gemeinsamen politischen Projektes, um die einzelnen, teilweise recht isoliert verlaufenden Kämpfe der verschiedenen Bewegungen – insbesondere auch die Kämpfe auf dem Land und in den Städten – wieder zusammenführen zu können. Wurde durch das ‚Projekt LULA‘ über Jahrzehnte hinweg der Glauben an ein ‚anderes Brasilien‘ geschürt, und konnten dadurch viele verschiedene Kämpfe vereint werden, so kam es nach den Enttäuschungen über die Ergebnisse der Regierungszeit LULAS zu einer Demobilisierung der Bewegungen und einer Entpolitisierung der Gesellschaft. Da jedoch nur ein gemeinsamer Kampf in der Lage wäre, den aktuellen Entwicklungsprozessen etwas entgegenzusetzen, braucht es eine neue gemeinsame Vision einer ‚anderen Gesellschaft‘, um die Isolation der einzelnen Kämpfe aufzuheben (Interview mit SORAYA VANINI TUPINAMBÁ). Auch für YURI von der Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen MAB, stellen der Zusammenschluss der einzelnen Kämpfe und der Aufbau eines kollektiven Projektes die größten Herausforderungen für die sozialen Bewegungen in Brasilien dar: „O desafio? Um deles: organizar o povo, [...]. O segundo desafio: unificar o povo que está em luta, desde campo à cidade [...]. Terceiro desafio: chegar à massa de trabalhadores que são nas grandes cidades – esse ainda é a maior parte do público capaz de fazer a nossa formação [...]. Em junção desse povo com os campesinos que vai fazer o processo de transformação, nê? Eu acho que a formação militante é permanente, constante, e além de conseguir as condições mínimas para que o povo se manter vivo [...] Acho que o desafio unificar talvez seja o maior desafio que nos temos [...]. Deixar de lado [...] o burocratismo que se tem nas organizações, construir um projeto coletivo, projeto que seja guarda-chuva para estes movimentos 32“ (YURI, MAB).
31 „Der gesellschaftliche Dialog über die convivência schafft dabei neue soziale Dynamiken und neue Dynamiken der Machtverhältnisse und fördert durch die Ausweitung der kulturellen Teilhabe, die im Alltag der Bevölkerung entsteht, die Entwicklung neuer politischer Paradigmen“ (Pimentel in Silva 2006: 258; eigene Übersetzung). 32 „Die Herausforderung? Eine davon ist, die Menschen zu organisieren [...]. Eine zweite Herausforderung: die Menschen, die kämpfen, zusammenzubringen, sowohl die vom Land als auch die aus der Stadt [...]. Dritte Herausforderung: die Masse der Arbeiter erreichen, die in
12.4 Reaktionärer Widerstand: Kriminalisierung & Gewalt
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12.4 REAKTIONÄRER WIDERSTAND: KRIMINALISIERUNG & GEWALT Doch ob sich ein Gegenmodell zu dem vorherrschenden Entwicklungsmodell als ernstzunehmende Alternative etablieren kann, ob die Projekte einer ökologischen Landwirtschaft, Forderungen nach der Demokratisierung des Zugangs zu Wasser, und die Kämpfe für eine grundlegende Agrarreform erfolgreich sein werden, hängt auch ganz entscheidend davon ab, wie diese Kämpfe diskursiv gerahmt und welche Subjektpositionen innerhalb des Diskurses zur Verfügung gestellt werden. Dabei sind die Mechanismen, die innerhalb des Entwicklungsdiskurses wirken und zur Festigung des hegemonialen Projektes beitragen sollen, seit jeher die gleichen: Die dichotome Gegenüberstellung zwischen rückständig und modern und die Diffamierung von Kritik an dem verfolgten Entwicklungsmodell als rückwärtsgewandt und fortschrittfeindlich (s. Kap. 5.4.1; Kap. 6.2.7; Kap. 6.4.2). So heißt es beispielsweise in der populären Tageszeitung O Povo: „os que são contra é porque são sempre do contra. Não entendem. São forças do atraso. Não querem o progresso. [...] Quem não está a favor, ficou na contra-mão da História 33“ (in BORGES 1999: 53).
Eine neue Tendenz ist die in den letzten Jahren aufkommende zunehmende Kriminalisierung der sozialen Bewegungen. Insbesondere Aktivist_innen des MST werden dabei von den konservativen Massenmedien als ‚Unruhestifter‘ und ‚Banditen‘ dargestellt, wodurch sich vor allem innerhalb einer urbanen, bürgerlichen Mittelschicht das Bild des MST von einer ernst zu nehmenden Bewegung, die gemeinsam mit anderen etablierten Organisationen für einen (positiv konnotierten) gesellschaftlichen Wandel kämpft, hin zu einer selbstbezogenen, auf den eigenen Vorteil bedachten Vereinigung gewandelt hat (SOUZA 2011: 248). So schrieb die konservative Wochenzeitschrift Veja beispielsweise zum 25jährigen Bestehen der Landlosenbewegung im Januar 2009: „25 anos de crimes e impunidade. Eles se abrigam sob a bandeira de organização política com o nome de movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST). Não tem sede fixa nem estatuto. Seus chefes nacionais nunca são processados ou condenados. Apesar disso, suas ações são criminosas e suas vítimas em potencial, qualquer propriedade, empresa ou centro de pesquisa agropecuária que produza riqueza e tecnologia para angariarem simpatia e milhões den großen Städten sind, das ist immer noch der größte Teil der Leute, die wir mit unserer Ausbildung erreichen können [...]. Zusammen mit ihnen und den campesinos wird der Prozess der Transformation gemacht, ne? Ich glaube, dass die Bildung eines Aktivisten ein permanenter, ein konstanter Prozess ist, und darüber hinaus geht, würdige Minimalbedingungen zu erreichen, damit die Leute am Leben bleiben [...] Ich denke, dass der Zusammenschluss vielleicht die größte Herausforderung ist, die wir haben [...]. [So ist es wichtig], den Bürokratismus, den es in den Organisationen gibt, beiseite zu lassen, ein kollektives Projekt aufzubauen, ein Projekt, dass ein Dach für diese Bewegungen sein könnte“ (Yuri, MAB; eigene Übersetzung). 33 „Diejenigen, die dagegen sind, sind es, da sie immer dagegen sind. Sie verstehen es nicht. Sie sind Kräfte der Rückständigkeit. Sie wollen den Fortschritt nicht. [...] Wer nicht dafür ist, stellt sich gegen den Strom der Geschichte“ (in Borges 1999: 53; eigene Übersetzung).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes de reais de repasses do governo Federal, eles se disfarçam de defensores da reforma agrária lutando em nome de agricultores familiares deslocados de suas pequenas propriedades por implacáveis magnatas do agronegócio. São, na verdade, um grupo de espertalhões de esquerda que recrutam e manipulam pelo poder econômico e também pela violência, andarilhos, mendigos, desempregados urbanos, ex-presidiários, foragidos da justiça e até pessoas empregadas na cidade aceitam ingressar nas suas fileiras de pagamentos. Essa espantosa organização completou na semana passada um quarto de século zombando da lei 34“ (VEJA 2009: 12).
12.4.1 Konflikte um Naturaneignung Neben diskursiven Auseinandersetzungen um Vorstellungen von Entwicklung und die Legitimität von Widerstand werden Konflikte um Land, Wasser und Arbeitsverhältnisse im ländlichen Raum Brasiliens nach wie vor auch konfrontativ ausgetragen. Für das Jahr 2012 verzeichnet die Landpastorale CPT 1.364 Konflikte im ländlichen Raum, wobei 78% davon als Konflikte um Land kategorisiert werden (s. Abb. 44) (CPT 2013a: 15). Darunter fallen jedoch jegliche konfrontative Auseinandersetzungen, seien es Vertreibungen und Bedrohungen etc., die von Privatpersonen verübt werden (48%), Vertreibungen, Räumungen etc., die vom Staat durchgeführt werden (24%) oder auch Besetzungen, Demonstrationen etc., die von sozialen Bewegungen ausgehen (23%) (ACSELRAD & BARROS 2013: 21). Nachdem im Jahr 2003 mit 1.690 Konflikten, an denen 1,19 Mio. Menschen beteiligt waren, eine Hochphase der Auseinandersetzungen im ländlichen Raum erreicht wurde, verringerte sich die Zahl der Konflikte in der ersten Amtszeit LULAS merklich. 2008 wurden noch 1.170 Konflikte (-31%) gezählt, an denen nunmehr 502.390 Personen (-58%) beteiligt waren (CPT 2013a: 15). Dies kann u. a. auch als Hinweis auf das niedrigere Mobilisierungspotential der sozialen Bewegungen gelesen werden. Die Hoffnungen, die mit der Regierung LULA verbunden waren, und die Auswirkungen der sozialen Umverteilungsprogramme, die von der neuen Regierung eingesetzt wurden, führten zu einer vorübergehenden
34 „25 Jahre Verbrechen und Straflosigkeit. Sie suchen unter dem Banner der politischen Organisation mit dem Namen der Bewegung der Landarbeiter ohne Land (MST) Zuflucht. Sie haben weder einen festen Sitz noch eine Satzung. Ihre nationalen Anführer werden nie angeklagt oder verurteilt. Dennoch sind ihre Handlungen kriminell und ihre potentielle Opfer sind irgendwelche Eigentümer, ein Unternehmen oder ein Agrarforschungszentrum, die Reichtum und Technologie produzieren, um Sympathien anzulocken und Millionen von Reais der Bundesregierung zu verteilen, sie tarnen sich als Verfechter der Landreform und kämpfen im Namen von Familien, die angeblich durch rücksichtslose Magnaten des Agrobusiness von ihren kleinen Grundstücken vertrieben worden seien. In Wahrheit sind sie ein Haufen linker Gauner, die sowohl durch ökonomische Macht als auch Gewalt rekrutieren und manipulieren, Landstreicher, Bettler, Arbeitslose, Ex-Sträflinge, vor der Justiz Geflohene und sogar Leuten, die einer Beschäftigung in der Stadt nachgehen und sich ihnen gegen Bezahlung anschließen. Diese Furcht erregende Organisation besteht seit letzter Woche seit einem Vierteljahrhundert, in dem sie das Gesetz verspottet“ (VEJA 2009: 12; eigene Übersetzung).
12.4 Reaktionärer Widerstand: Kriminalisierung & Gewalt
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Befriedung des ländlichen Raumes und zur Schwächung der Bewegungen. Seit 2008 stieg die Zahl der Konflikte jedoch wieder um 17% und die Zahl der beteiligten Personen um 29% an, wobei 2012 46% der Konflikte im Nordosten stattfanden (ebd.). Die meisten Auseinandersetzungen um Land (60%) betrafen traditionelle Gemeinschaften (Indigene, Quilombolas etc.) und Kleinbäuer_innen ohne Landtitel, also diejenigen Gruppen, die oftmals nicht dem Modell einer kapitalistischen Inwertsetzung von Natur entsprechen (CPT 2013c). Als Konflikte um Wasser werden diejenigen Auseinandersetzungen bezeichnet, in denen die Verschmutzung von Gewässern, der Zugang zu und die private Aneignung von Wasser den Hauptgrund des Konflikts ausmachen. Im Jahr 2012 wurden 79 Fälle in dieser Kategorie gezählt, 35% davon im Nordosten (CPT 2013d). Darüber hinaus wurden 2012 36 Dürrekonflikte im Nordosten in die Statistik aufgenommen. Darunter fallen Demonstrationen und Besetzungen von Behörden, Banken und Straßen, durch die der Einsatz von staatlichen Hilfsprogrammen und die Freigabe von Hilfsmitteln eingefordert wurden (MALVEZZI 2013: 101).
Abb. 44: Konflikte im ländlichen Raum Brasiliens (2003–2012).
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes
12.4.2 Praktiken der Gewalt Die extremste Form der Bekämpfung von Widerstand stellt die Ermordung von Aktivist_innen dar. Zwischen 1994 und 2012 zählte die CPT insgesamt 709 Morde, die auf einen Land- Wasser- oder Arbeitskonflikt im ländlichen Raum Brasiliens zurückzuführen sind, wobei andere Veröffentlichungen von wesentlich höheren Zahlen ausgehen (ANDRADE 2004: 273; CPT 2013a: 15; BONIS & PICHONELLI 2011). Zwischen 1985 und 2010 kam es bei lediglich 5% der Mordfälle zu rechtskräftigen Verurteilungen (BONIS & PICHONELLI 2011). Eine solch geringe Aufklärungsquote bietet den Nährboden dafür, dass Praktiken der Selbstjustiz nach wie vor zu den gängigen Strategien der Machtsicherung gehören. 2012 wurden im Nordosten 76 Morddrohungen und 11 Morde registriert (CPT 2013b). Somit ist Gewalt nach wie vor ein fester Bestandteil der Praktiken zur Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen (s. Kap. 6.5.2). Auch in den Auseinandersetzungen um die Flussableitung des São Francisco und um die Aneignung von Land und Wasser in der Region Baixo Jaguaribe hat es bereits Todesopfer gegeben. So wurde beispielsweise am 23. August 2008 der 36jährige Anführer der Truká, MOZENI ARAÚJO DE SÁ, vor den Augen seines Sohnes ermordet. MOZENI war einer der vehementesten Kritiker des Baus der Transposição, da das Territorium der Truká direkt durch den Bau des Nordkanals in Cabrobó betroffen wird. Gleichzeitig sagte er als Zeuge gegen vier Militärpolizisten aus, die er des Mordes an zwei Trukás beschuldigte. Da er gute Chancen hatte, 2008 in den Gemeinderat von Cabrobó gewählt zu werden, konnte seine Ermordung auch als Warnung gedeutet werden, die gegebenen Machtverhältnisse nicht in Frage zu stellen oder sich anzueignen (CÁRITAS BRASILEIRA 2008). Auch die Art und Weise der Ermordung des Aktivisten JOSÉ MARIA FILHO (ZÉ MARIA), der mit 19 Schüssen in Kopf und Brustkorb regelrecht hingerichtet wurde, deutet darauf hin, dass damit nicht nur er zum Schweigen, sondern auch der Widerstand gegen die Ausbreitung des Agrobusiness auf der Chapada do Apodi zum Erliegen gebracht werden sollte. Seit Jahren kämpfte ZÉ MARIA für das Recht der Gemeinden, das von den Unternehmen des Agrobusiness angeeignete Land wieder zurückzubekommen, setzte sich gegen die Ausbringung von Agrarchemikalien per Flugzeug und für eine Versorgung der Gemeinden mit sauberem Trinkwasser ein und schreckte auch nicht davor zurück, gegen die Unternehmen des Agrobusiness vor Gericht zu ziehen. Als Anführer einer lokalen Widerstandsbewegung war er auf allen Veranstaltungen, Demonstrationen, Anhörungen etc. präsent und stellte auch für mich einen der wichtigsten Ansprechpartner und verlässlichen Informanten über die Entwicklungen in der Region und die Geschichte des Widerstandes auf der Chapada dar. ZÉ MARIA wurde am 21. April 2010, am Tag des Tiradentes, einem in ganz Brasilien verehrten Widerstandskämpfer, ermordet. Doch seine Ermordung führte nicht zu einer Einstellung des Widerstandes auf der Hochebene. Vielmehr vereinigten sich verschiedene Gemeindemitglieder, Vertreter_innen von Gewerkschaften, NGOs, Kirchen, Studierende und Wissenschaftler_innen zu der Bewegung 21 (Movimento 21), um für die Rechte der Bevölkerung auf der Hochebene und für die Aufklärung des Mor-
12.5 Preguntando Caminamos
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des zu kämpfen. Jedoch wurde bis heute (Mai 2013) noch niemand für die Tat vor Gericht gestellt (SCHMITT 2010; JÚNIOR 2012b). 12.5 PREGUNTANDO CAMINAMOS Die Widerstände gegen das dominierende Projekt der Naturaneignung sind zahlreich und vielfältig. Sowohl in institutionalisierten Räumen, wie den Partizipationsprozessen des Wassermanagements, als auch in selbstgeschaffenen Räumen, wie in den zahlreichen Projekten der convivência com o semiárido, existieren Möglichkeiten, die bestehenden Verhältnisse in Frage zu stellen und aufzubrechen. Dennoch bleibt fraglich, inwieweit dabei die Machtverhältnisse tatsächlich herausgefordert und verschoben werden. Die Erfahrungen, die vor allem Vertreter_innen der Zivilgesellschaft innerhalb der Wasserkomitees gemacht haben, deuten darauf hin, dass die Partizipationsprozesse eher einer Legitimierung der Wasserpolitik und einer Verfestigung als einer Umstrukturierung und Neuverhandlung der bestehenden Verhältnisse dienen. Die Expansion der Flächen des Agrobusiness, die teilweise heftigen Reaktionen von Seiten des Staates und der Privatwirtschaft gegenüber Besetzungen und Streiks, die Aneignung der Agrarreform und dem Zisternenprogramm und deren Umwandlung in marktbasierte Mechanismen der Machterhaltung und die Ermordung von Aktivisten zeigen, wie umkämpft der ländliche Raum im Nordosten nach wie vor ist. Somit sind grundlegende Veränderungen des dominanten Entwicklungsmodells kurzfristig nicht zu erwarten. Doch trotz der eher ernüchternden Bilanz der Widerständigkeiten im Nordosten und der zahlreichen Niederlagen, die die Kleinbäuer_innen, sozialen Bewegungen und Arbeiter_innen in ihrem Kampf für ein anderes Entwicklungsmodell erleben mussten, erscheint ihr Widerstand und die Aufrechterhaltung der Visionen einer anderen Gesellschaftsordnung nicht vergeblich zu sein. Letztendlich sind nicht allein die Ergebnisse von sozialen Kämpfen bedeutend. Vielmehr stellen auch die Prozesse der Bewusstwerdung und kritischen Hinterfragung, der Mobilisierung und Politisierung eine wichtige Grundlage für weitere Transformationsprozesse dar. Genau darauf hatte JOÃO RAMERES RÉGIS bei der Vorbereitung zum Grio dos Excluídos 2009 hingewiesen (s. o.) und genau darauf verweist auch RAQUEL RIGOTTO, wenn sie die Bedeutung der Kämpfe in erster Linie nicht in der Verhinderung der Großprojekte, sondern in der Erweiterung des Verständnisses der Prozesse und in dem gemeinsamen Aufbau von Alternativen sieht: „Até mesmo para dar conta de estar presente nestas lutas eu tenho que trabalhar com a perspectiva de que o resultado desejado não é exatamente que não acontece a transposição, ou que não acontece o projeto de Tabuleiro de Russas ou que o agronegócio seja expulsado do Ceará. Mas que as pessoas que estão inseridas nestes processos possam ir ampliando a sua compreensão deste modelo de desenvolvimento, dessas relações sociais, dessas assimetrias, desigualdades e injustiças e também tomando consciência das suas possibilidades enquanto sujeitos coletivos que vão tentar construir uma outra alternativa, tentar a dar visibilidade a ela, tentar ganhar aliados para esta proposta. Eu não estou me alimentando com a esperança de
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12. Kontinuitäten und Brüche: Praktiken der Reproduktion und des Widerstandes resolver o problema em si, mas eu estou acreditando num processo histórico, mais longo, na perspectiva temporal de mudança nestas relações de forças 35“ (Interview mit RAQUEL RIGOTTO).
35 „Selbst um in den Kämpfen präsent zu sein, muss ich mit einer Perspektive arbeiten, die davon ausgeht, dass das gewünschte Ergebnis nicht unbedingt darin liegt, dass die Transposição nicht verwirklicht oder dass das Bewässerungsprojekt Tabuleiro de Russas nicht erweitert oder dass das Agrobusiness aus Ceará ausgewiesen wird. Vielmehr, dass die Menschen, die in den Prozessen involviert sind, ihr Verständnis von dem Entwicklungsmodell, von den sozialen Beziehungen, den Asymmetrien, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten erweitern und sich auch ihrer Möglichkeiten bewusst werden, und zwar als kollektive Subjekte, die versuchen, eine andere Alternative aufzubauen, versuchen, ihr Sichtbarkeit zu geben, versuchen, für diesen Vorschlag Verbündete zu finden. Ich halte mich nicht an die Hoffnung, eine Lösung des Problems an sich zu finden, aber ich glaube an einen historischen Prozess, der länger ist, in einer zeitlichen Perspektive der Veränderung dieser Kräfteverhältnisse“ (Interview mit Raquel Rigotto; eigene Übersetzung).
FAZIT 13 DÜRRE MACHT GESELLSCHAFT „Given that change is always a part of what things are, [our] research problem [can] only be how, when, an into what [things or systems] change and why they sometimes appear not to change“ (OLLMAN in HARVEY 2007: 54 f.).
Nach wie vor stellt das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Wasser ein zentrales Element der gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens dar. Insbesondere im ländlichen Raum werden über den Zugang zu und die Verfügbarkeit von Wasser bestimmte Praktiken der Naturaneignung ermöglicht oder verhindert, werden spezifische Subjektpositionen zur Verfügung gestellt und bestimmte Räume in wirtschaftliche Entwicklungsprozesse integriert oder ausgeschlossen. Eingebettet in einen globalen Diskurs, bei dem Wasser in erster Linie als knappe und wirtschaftlich wertvolle Ressource verhandelt wird, stellt eine effiziente und gewinnmaximierende Nutzung von Wasser die dominante Lösungsstrategie für die semiaride Region dar. Ein solcher Diskurs manifestiert sich in einem massiven Ausbau der Wasserinfrastruktur und der Ausweitung der Bewässerungsflächen für den exportorientierten Obstanbau. Gleichzeitig wird das Inwertsetzungsmodell über Gesetze, Organisationen und Entscheidungsstrukturen institutionell verankert. Insbesondere mit den Partizipationsstrukturen des Integrierten Wasserressourcen-Managements soll Wasser so gerecht und effizient wie möglich verteilt werden. Mit der Festlegung der Wassereinzugsgebiete als räumlich-administrativen Planungseinheiten und der Etablierung von Wasserkomitees als Entscheidungsgremien des Wassermanagements ist das Versprechen verbunden, die herkömmlichen Machtstrukturen des Coronelismo aufbrechen und neu verhandeln zu können. Die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten befinden sich folglich in einem Wandel. Dennoch hat sich an den sozialen Ungleichheitsstrukturen nur wenig verändert. Nach wie vor sind viele Familien im ländlichen Raum von der Wasserversorgung ausgeschlossen und nach wie vor leben über 30% der ländlichen Bevölkerung in extremer Armut. Somit erscheint im Sinne BERTELL OLLMANS weniger der Wandel, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung der Ungleichheitsverhältnisse und die Reproduktion bestehender Machtverhältnissen erklärungsbedürftig. Im Zentrum stehen dabei die Fragen, welche Wissensordnung sich in Bezug auf die gesellschaftlichen Naturverhältnisse herausgebildet hat, wie darüber diskursive und nicht-diskursive Praktiken vorstrukturiert werden und zu welchen Folgen dies für den ländlichen Raum, insbesondere die Region Baixo Jaguaribe im Bundesstaat Ceará führt.
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13. Dürre Macht Gesellschaft
13.1 DAS DISPOSITIV DER DÜRRE IM NORDOSTEN BRASILIENS Zur Beantwortung dieser Fragen wurden in der vorliegenden Arbeit die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Nordosten Brasiliens – insbesondere im Hinblick auf Wasser – als Dispositiv begriffen, das sich aus Diskursen, Subjektivationen, Institutionalisierungen, Materialisierungen und Praktiken zusammensetzt. Die Auffächerung eines solchen Dispositivs ermöglicht, die einzelnen Elemente sowohl in ihrer Besonderheit, als auch in ihrem Zusammenwirken zu untersuchen und die Prozesse der gegenseitigen Hervorbringung und der Verfestigung herauszuarbeiten. Zum Verständnis der Wirkungsweise dieser Wechselbeziehungen wurde dabei insbesondere auf die dabei zum Tragen kommenden Machtverhältnisse verwiesen. Dabei wird Macht nicht als etwas begriffen, das besessen werden kann und das von mächtigen Akteuren auf weniger mächtige ausgeübt wird. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Machtverhältnisse in jeglichen Beziehungen und Prozessen wirken. „Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher Beziehungen vollzieht“ (FOUCAULT 1983: 115). In dem Wissen über die Dürre und der Anordnung von ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Aussagen sind Machtverhältnisse eingeschrieben. Dabei geht von den als ‚wahr‘ geltenden Aussagen eine größere Machtwirkung aus als von Aussagen, die sich außerhalb der akzeptierten Diskursordnung befinden. Über den Diskurs werden Subjektpositionen zur Verfügung gestellt, deren Reden und Handeln durch ihre Stellung innerhalb der dominanten Wissensordnung erleichtert oder erschwert wird. Die Machtverhältnisse wirken jedoch nicht auf die Subjekte ein, sondern gehen durch diese hindurch (FOUCAULT 2005: 114) und werden über ihre diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken vollzogen. Ergebnisse dieser machtdurchzogenen Praktiken sind institutionelle Arrangements und materielle Verdinglichungen, in denen sich die Machtverhältnisse kristallisieren und auf Dauer gestellt werden. Als vermeintlich strukturelle Vorbedingungen wirken diese wiederum auf weitere Diskurse und Handlungen ein. Die einzelnen Elemente des Dürredispositivs sind somit immer zugleich Effekte von Machtverhältnissen als auch die Voraussetzung ihrer Wirkungsweise. Macht ist somit nichts anderes als der „Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (FOUCAULT 1983: 114). Doch die Ordnung der Dinge ist nie eindeutig festgelegt. Weder besteht nur ein dominanter Diskursstrang, noch entsteht aus der Vielzahl der Subjektpositionen nur eine mögliche Handlungsweise. Die Institutionalisierungen und Materialisierungen wirken immer auch in verschiedene Richtungen. Die Wissensordnung ist somit stets umkämpft und „in einem unendlichen Werden“ (DELEUZE 1992: 119) begriffen. Dennoch bestehen Tendenzen der Hegemonialisierung und der Verfestigung der Verhältnisse. Für die Analyse einer komplexen gesellschaftlichen Situation ist es somit entscheidend, die Hegemonialisierungen herauszuarbeiten und das strategische Spiel der Kräfteverhältnisse (FOUCAULT 1983: 113– 114) auf ihren stabilisierenden und reproduzierenden Charakter hin zu untersuchen. Im Folgenden sollen die wesentlichen Ergebnisse, die sich aus den Untersu-
13.1 Das Dispositiv der Dürre im Nordosten Brasiliens
Abb. 45: Hegemonialisierung der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur.
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13. Dürre Macht Gesellschaft
chungen der einzelnen Elemente des Dürredispositivs ergeben haben, zusammengefasst und auf ihre gemeinsame Wirkungsweise hin untersucht werden. 13.1.1 Hegemonialisierung der kapitalistischen Inwertsetzung von Natur Diskursformationen Zentrale Erzählungen über die Dürre im Nordosten bilden insbesondere die Beschreibung der Dürre als Ursache für gesellschaftliche Verhältnisse und die Benennung von Wasser als knappe und gleichzeitig wirtschaftliche Ressource, die effizient eingesetzt werden müsse. Dabei wird unter Dürre ein Mangel an Wasser verstanden, der über die natürlichen Bedingungen zustande kommt. Wichtig ist dabei, dass ein direkter Kausalzusammenhang zwischen den Niederschlagsverhältnissen, dem durch sie verursachten Wassermangel und dem Leiden einer verteilt lebenden Bevölkerung im Sertão oder der ‚Rückständigkeit‘ der Region hergestellt wird. Über ein solch naturdeterministisches Verständnis wird Wassermangel zu einer gegebenen und natürlichen Größe, die außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse existiert und unabhängig von diesen auftritt. Dabei wird weder auf den relationalen Charakter von Mangel verwiesen, der immer nur in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedürfnissen, Werten, Produktionssystemen, technischen Innovationen etc. festgestellt werden kann. Noch spielen Prozesse der Produktion von Knappheit über Besitzverhältnisse, Produktionsstrukturen, Infrastruktureinrichtungen, die Regelung von Zugangsrechten etc. eine Rolle. Über die Bestimmung der Dürre als natürlichem Problem werden die Prozesse der gesellschaftlichen Produktion von Knappheit ausgeblendet. Somit ist es nicht möglich, die ungleiche Verteilung von Wasser als gesellschaftliches Problem zu skandalisieren. Folglich spielen bei der Suche nach geeigneten Lösungsstrategien die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Niederschlagsverhältnisse der Region in Dürreverhältnisse an bestimmten Orten und für bestimmte gesellschaftliche Gruppen transformieren, nur eine marginale Rolle. Dabei wird die Legitimität der Lösungsvorschläge über die Art der Darstellung des Dürreproblems hergestellt. Aufgrund der einfach dargestellten direkten Zusammenhänge zwischen Niederschlagsverhältnissen, Dürre und Armut erscheint es plausibel, dass die Erhöhung der gespeicherten Wassermenge ein probates Mittel zur Verringerung der Armut darstellt. Aufgrund der dargestellten Dringlichkeit und des Ausmaßes des Problems (12 Mio. Menschen im gesamten Nordosten) erscheinen große Projekte, in denen besonders viel Wasser gespeichert und transportiert werden kann, und Lösungen, die den gesamten Nordosten betreffen, besonders wirkungsvoll. Dezentrale, kleinstrukturierte und regional angepasste Projekte der Wasserversorgung und Veränderungen von Anbaustrukturen gelten in Anbetracht der Dimension des Problems als unangemessen und ineffektiv. Über die Konstitution des Problems als natürlich bedingt wird die Lösung des Problems zu einer Frage der Beherrschung von Natur. Somit wird naturwissenschaftliches und ingenieurstechnisches Wissen zu adäquaten Wissensformen er-
13.1 Das Dispositiv der Dürre im Nordosten Brasiliens
393
hoben. Gleichzeitig bietet die Konstitution eines Knappheitsproblems Anschluss an weitere, global wirkende Diskursstränge. In Anlehnung an den Diskurs einer globalen Wasserkrise und eines marktgesteuerten Ressourcenmanagements werden eine effektive Wassernutzung und eine gewinnmaximierende Inwertsetzung der knappen Ressource zu unabdingbaren Lösungsstrategien. Dadurch erhält die Nutzung des Wassers für die exportorientierte Obstproduktion, die Shrimpszucht oder den Stahlsektor ihre Legitimation. Trotz der herausgearbeiteten, dominanten Schließungslogiken und der hegemonialen Deutungsweise ist der Diskurs über die Dürre im Nordosten keineswegs einseitig und homogen. Vielmehr ist er von vielen unterschiedlichen Diskurssträngen durchzogen, die miteinander konkurrieren und sich teilweise sogar widersprechen. Dabei sind sowohl die Problemkonstellation als auch die sich daraus ableitenden Lösungsansätze umkämpft. Ein wichtiger Bezugspunkt bei der Benennung der Prozesse der gesellschaftlichen Herstellung von Wasserknappheit und Armut stellt das als Dürreindustrie (indústria da seca) bezeichnete System der Bereicherungspraktiken dar. Mit der indústria da seca wird insbesondere das Gefüge aus Institutionen, Maßnahmen und Finanzierungmechanismen, die vom Staat zur Bekämpfung der Dürre eingesetzt werden, aber letztendlich zur Bereicherung einer wirtschaftlichen und politischen (Agrar)Elite beitragen, bezeichnet. Jedoch geraten über die Benennung der Mechanismen der Dürreindustrie die hegemonialen Strategien der Dürrebekämpfung nicht ins Wanken. Vielmehr werden mit dem Verweis auf die indústria da seca die Bereicherungsstrategien entweder in der Vergangenheit platziert oder als Praktiken der ‚Anderen‘ bezeichnet, von denen die eigenen Praktiken oder aktuellen Lösungsstrategien abgegrenzt werden können. So stellt der Verweis auf die Dürreindustrie zwar einen Bruch mit der hegemonialen naturalistischen Deutungsweise der Dürre dar. Doch solange dies nicht mit den aktuellen Verhältnissen und konkreten Akteuren verknüpft wird, kann der hegemoniale Diskurs damit nicht herausgefordert werden. Neben der Erhöhung der Wassersicherheit durch den Ausbau der Großstrukturen der Wasserinfrastruktur existieren zahlreiche alternative Lösungsvorschläge, die innerhalb des Diskurses Erwähnung finden. Hierbei handelt es sich beispielsweise um alternative Formen der Wasserspeicherung (u. a. Zisternen), um dezentrale Systeme der Wasserverteilung, um die Demokratisierung des Zugangs zu Land und Wasser und um nachhaltige Formen des Lebens im Einklang mit den natürlichen Bedingungen (convivência com o semiárido). Natur bzw. Dürre wird dabei nicht als etwas die Gesellschaft Bedrohendes angesehen, das beherrscht oder bekämpft werden muss. Vielmehr werden die natürlichen Bedingungen als spezifische Voraussetzungen begriffen, auf die es lokal angepasste Antworten zu suchen gilt. Indem die Projekte der dezentralen Wasserspeicherung und der kleinstrukturierten ökologischen Landwirtschaft als mögliche und zugleich erfolgreiche Alternativen in den Diskurs Einzug finden, kann die Hegemonie der Lösungsansätze aufgebrochen und sogar in Frage gestellt werden. Großangelegte Projekte und eine technologie- und kapitalintensive Inwertsetzung von Natur können nur solange als alternativlos angesehen werden, solange traditionelles Wissen als rückwärtsgewandt kategorisiert wird und die Bewertung der Familienlandwirt-
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13. Dürre Macht Gesellschaft
schaft als unmodern und wirtschaftlich unbedeutend als ‚wahre‘ Aussage Bestand hat. Anhand der Diskursanalyse konnte herausgearbeitet werden, dass die Stabilisierung des hegemonialen Diskurses insbesondere auf der Integration alternativer Lösungsansätze beruht. Wenn die Projekte der convivência und kleinstrukturierte Wassersysteme nicht als Gegenmodelle sondern als komplementäre Ansätze, die zusätzlich zu den Projekten des Agrobusiness umgesetzt werden können, verhandelt werden, verlieren sie ihr Potential der grundlegenden Infragestellung der Verhältnisse. Bei einer Gegenüberstellung des Projektes der Flussableitung des São Francisco und der dezentralen Projekte der Wasserversorgung, die beispielsweise im Atlas do Nordeste vorgeschlagen werden, wird die einseitige Ausrichtung des dominanten Entwicklungsmodells auf die Interessen des Agrobusiness deutlich. Eine grundsätzliche Kritik an der Wasserpolitik läuft aber dann ins Leere, wenn eine Lesart der dezentralen Projekte als sinnvolle Ergänzung zu den Großprojekten im Diskurs verankert und auf diese verwiesen werden kann. Die Gemeinden, die in der Nähe des Stausees Castanhão leben und seit Jahren nicht an das Wasserversorgungssystem angeschlossen sind, und die Familien, an denen das Wasser in großen Kanälen vorbeigeleitet wird, kommen dann nicht länger als grundsätzlicher Widerspruch des Modells, sondern höchstens als temporäre Versäumnisse vor. Insofern stellt die Integration von Kritik und von alternativen Lösungsansätzen einen grundlegend stabilisierenden Mechanismus des Dürrediskurses dar. Subjektivierungen Über die den Diskursen zugrunde liegende, machtdurchzogene Wissensordnung wird geregelt, welche Positionen innerhalb eines Diskurses als glaubhaft und legitim und somit als ‚wahr‘ erscheinen können. Wer sich innerhalb eines Diskurses mehr Gehör verschaffen kann und wessen Handlungen mit einer höheren Legitimation ausgestattet sind, ist abhängig von der hegemonial gewordenen Wissensordnung und den in ihr angebotenen Positionen. Insofern strukturieren Diskurse Sprechpositionen, verleihen ihnen Macht oder entziehen ihnen die Sprecherlaubnis. Die Analyse der in dem Dürrediskurs aufscheinenden Sprecher_innenpositionen zeigt, dass der institutionalisierte Zugang zu spezialisiertem Wissen das entscheidende Zugangskriterium für den Diskurs darstellt. Die Ausbildung oder der akademische Grad (Ingenieur_in, Agrarwissenschaftler_in, Meteorolog_in etc.), der Zugang zu Insiderwissen (Staat, Militär) oder das Spezialwissen eines_einer Vertreter_in eines Unternehmens oder der Zivilgesellschaft legitimiert in besonderem Maße das Reden über die Dürre. Aufgrund der Konstitution der Dürre als überwiegend technisch zu lösendes Problem wird dabei naturwissenschaftlich-technisches Wissen bevorzugt, während andere Wissensformen marginalisiert werden. Sogenanntes lokales Wissen über den Umgang mit und die Anpassung an die natürlichen Bedingungen, das überwiegend Erfahrungswissen darstellt, wird institutionalisiertem Wissen untergeordnet. Dadurch werden Kleinbäuer_innen und die Bewohner_innen des Sertão eher zu Opfern
13.1 Das Dispositiv der Dürre im Nordosten Brasiliens
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und passiven Empfänger_innen von Hilfeleistungen, anstatt als Expert_innen sprechen zu können. Die in den Diskursen aufscheinenden Sprecher_innenpositionen stellen wiederum Vorbedingungen für die Subjektkonstitution dar. Sie bieten Identitätsangebote, die sowohl den Subjekten zugewiesen als auch von ihnen angeeignet, geformt und überschritten werden können. Über die Aneignung von Subjektpositionen werden Machtverhältnisse aktiviert, die den Möglichkeitsspielraum der Subjekte strukturieren und die über das Handeln der Subjekte fortgeschrieben werden. Innerhalb des dominanten Diskurses wird die Subjektposition des_der Bäuer_in als zentrale_r Protagonist_in des ländlichen Raums mehr und mehr verdrängt und durch die Position des_der Produzent_in und Landarbeiter_in ersetzt. Auch in vielen Interviews wurden diese Kategorien als Selbstbezeichnungen verwendet. Mit der Verschiebung der Subjektpositionen verändern sich gleichzeitig auch die Beziehung zur Natur, zu kulturellen Traditionen und Werten und das Selbstverständnis der Individuen. Die Arbeit auf der roça, dem eigenen Stück Land, wird gegen die Lohnarbeit in den Monokulturen der Unternehmen eingetauscht, die vaquejada 1 wandelt sich in ein kommerzielles Sportereignis. Der_die Bäuer_in als widerständiges oder gar revolutionäres Subjekt, das in der Geschichte des Nordostens oftmals eine wichtige Rolle gespielt hat, wird zum_zur Kleinunternehmer_in, Manager_in oder Stakeholder, der_die an Partizipationsprozessen teilnehmen darf. Gleichzeitig verändert sich auch die Position, die Politiker_innen einnehmen können. Ihnen steht immer weniger die Position des Patriarchen zur Verfügung, der Hilfsleistungen entlang von Familien- und Freundschaftsbeziehungen verteilt. Vielmehr wird innerhalb des Dürrediskurses und des WasserressourcenManagements die Position des_der Manager_in angeboten, der_die kompetent ist, effektiv handelt und sich in Aushandlungsprozessen behaupten kann. Im Gegensatz zu den traditionellen Machtstrukturen des Coronelismo wird die Legitimation über Wissen zu einem der wichtigsten Kriterien der Hervorbringung machtvoller Subjektpositionen. Über die Etablierung von akademisch-technischem Wissen als legitime Wissensform der Problembehandlung und über das Paradigma des Managements von Ressourcenknappheit werden somit diejenigen Subjektpositionen gestärkt (Expert_in, Manager_in, Unternehmer_in), die selbstverantwortlich versuchen, Dürreprobleme und gesellschaftliche Probleme zu beherrschen, zu verwalten und auszuhandeln. Insbesondere die Position des Agrobusiness als Protagonist der wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung erfährt dadurch eine Aufwertung und Legitimierung. Die Position des_der Kleinbäuer_in, des Widerstandskämpfers und der -kämpferin oder ein Verständnis als Kollektiv, bei dem die gleichberechtigte Teilhabe und ein solidarisches Miteinander im Vordergrund
1
Mit vaquejada wird eine für den Nordosten Brasiliens charakteristische Form des Rodeos bezeichnet, wobei zwei Reiter_innen ein fliehendes Rind am Schwanz packen und es innerhalb einer vorgesehenen Zone umwerfen müssen.
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13. Dürre Macht Gesellschaft
stehen, werden insbesondere im Hinblick auf die anzustrebenden Lösungsansätze marginalisiert. Institutionalisierungen Die diskursiv verankerte Wissensordnung wird über Gesetze, Organisationen, staatliche Programme und Managementstrukturen auf Dauer gestellt. Dabei sind einzelne Institutionen unterschiedlich mit Autorität, Durchsetzungsmacht und finanziellen Ressourcen ausgestattet, sodass über das Institutionengefüge ein Machtfeld entsteht, durch das Entscheidungen und Praktiken hervorgebracht und ermöglicht, während andere verhindert oder erschwert werden. Ein solches Machtfeld wird über die Festschreibung der Grundlagen und Mechanismen der Wasserpolitik in bundes- (1992) und nationalstaatlichen (1997) Gesetzen, dem Aufbau einer hierarchischen Struktur unterschiedlicher Organisationen des Wassermanagements und über Finanzierungsmechanismen stabilisiert. Somit stellen die Institutionalisierungen der Wasserpolitik ein wichtiges Element für die Stabilisierung und Reproduktion der hegemonialen Wissensordnung dar. Das wohl umstrittenste Instrument des Integrativen WasserressourcenManagements stellt die Erhebung von Wassergebühren für nichtbehandeltes Oberflächenwasser (cobrança pelo uso da água bruta) für den Agrarsektor dar. Zusammen mit der Vergabe von Nutzungslizenzen soll über die Einführung der Wassertarife das Wassermanagementsystem finanziert, der Wasserverbrauch verringert und die Effizienz der Wassernutzung gesteigert werden. Über den Preismechanismus sollen diejenigen Anbauprodukte, die einen hohen Wasserkonsum, aber nur geringe Gewinnmargen aufweisen, durch sogenannte hochwertige Anbauprodukte (high-value crops) ersetzt werden. So wurde die Reisproduktion in der Region Baixo Jaguaribe, die in den 1970er Jahren über staatliche Programme stark gefördert wurde, aufgrund ihres hohen Wasserbedarfs als Entwicklungsoption für die Region delegitimiert, während die exportorientierte Bewässerungslandwirtschaft und Shrimpszucht zu adäquaten Nutzungsformen erhoben wurden. Die diskursive Festlegung einer effizienten Nutzung der als knapp bezeichneten Ressource Wasser und eine gewinnmaximierende Inwertsetzung der Natur werden somit über institutionalisierte Mechanismen wie die Einführung von Wassertarifen umgesetzt und kontrolliert. Institutionen wirken somit rahmend und disziplinierend auf die Praktiken der Naturaneignung. Mit der Festlegung des Wassereinzugsgebietes eines Flusses als territoriale Einheit des Wassermanagements wurde die Grundlage für die räumliche Neustrukturierung der Macht- und Entscheidungsstrukturen in Ceará geschaffen. Mit dem Verweis auf die geophysischen Kausalzusammenhänge eines Wassersystems wurden traditionelle polit-administrative Einheiten aufgebrochen, wodurch Raum für neue Institutionen, Akteure und Entscheidungsstrukturen entstand. Zwar gehören auch Vertreter_innen der Munizipalverwaltung den Wasserkomitees an, jedoch konnten durch die skalare Umstrukturierung die vorhandenen Kanäle der Informations- und Entscheidungsstrukturen nicht einfach übernommen werden.
13.1 Das Dispositiv der Dürre im Nordosten Brasiliens
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Auch mit der Einführung von Wasserkomitees sollten die klientelistischen Strukturen der Vorteilsnahme überwunden werden. Aufbauend auf einen Diskurs des effektiven Managements stellen sie das zentrale Instrument eines partizipativen Ressourcen-Managements dar. Über sie werden bestimmte Akteure zu legitimen Stakeholdern, die die Wasserpolitik aktiv mitgestalten können. Gleichzeitig sind damit jedoch immer auch Ausschlussprozesse verbunden. Über die Aufteilung der Sitze zwischen Nutzer_innen (30%), Zivilgesellschaft (30%), Munizipalverwaltung (20%) und staatlichen Behörden (20%) bleiben von vornherein diejenigen unberücksichtigt, die über keinen direkten Zugang zur Wasserinfrastruktur verfügen. Die Bereitstellung der Subjektposition des Stakeholders schließt bereits rund 80% der ländlichen Bevölkerung als Nicht-Nutzer_innen von den Beteiligungsprozessen aus, obwohl gerade sie ein berechtigtes Interesse daran haben könnten, die Wasserpolitik des Bundesstaates zu verändern und den Zugang zu Wasser neu zu gestalten. Über die institutionellen Vorgaben und die Konsensorientierung der Wasserkomitees sind die möglichen Praktiken innerhalb der Partizipationsprozesse bereits stark vorgeprägt. Da die Komitees weder über ein eigenes Exekutivorgan noch über ein eigenständiges Finanzbudget verfügen, ist die Durchsetzungsmöglichkeit ihrer Entscheidungen von der staatlichen Wasseragentur COGERH abhängig. Insbesondere in Konfliktfällen hat sich gezeigt, dass eine eigenständige Wasserpolitik, die sich kritisch gegenüber den staatlichen Vorgaben positioniert, nahezu unmöglich ist. Zwar steht es den Stakeholdern zu, über die Abflussmenge der in der Region befindlichen Staudämme zu bestimmen. Die Formulierung von alternativen Lösungsvorschlägen der Wasserverteilung, eine grundsätzliche Infragestellung oder gar eine Ablehnung der staatlichen Wasserpolitik sind dabei jedoch nicht vorgesehen. Die für die Teilnehmer_innen der Komitees angebotenen Schulungen, in denen die Grundlagen und die Funktionsweise des Wassermanagements erklärt und gelehrt werden, können dabei als Instrumente der Durchsetzung der Managementlogik und der Disziplinierung von Verhaltensweisen verstanden werden. Dabei sind die Partizipationsprozesse der Wasserkomitees sind von Machtverhältnissen durchzogen, die die Entscheidungsprozesse vorstrukturieren. Dabei sind diejenigen Subjektpositionen, die von einer etablierten Position heraus sprechen und die sich auf technisches Spezialwissen beziehen können, durchsetzungsfähiger als Positionen, die sich außerhalb der diskursiven Ordnung befinden. Insbesondere die Mitarbeiter_innen der COGERH, die die Berechnungen der Abflussregime vornehmen und die technische Sprache des Wassermanagements beherrschen, dominieren dabei die Entscheidungsfindungen. Diejenigen, die sich für geringere Abflussmengen zur Erhaltung der Wassersicherheit einsetzen, finden mehr Gehör als diejenigen, die auf die Versorgung von bisher nicht an das Wassersystem angeschlossenen Gemeinden drängen. Vertreter_innen des Agrobusiness, die auf hohe Investitionsvolumen, Arbeitsplätze und große Produktionszahlen verweisen können, verfügen über mehr Durchsetzungsmacht als Vertreter_innen von Kleinbäuer_innenorganisationen.
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Durch den hohen Stellenwert partizipativer Politikformen wird die Wasserpolitik in Ceará über die Wasserkomitees neu legitimiert. Indem dadurch jedoch gesellschaftliche Konflikte um Zugang zu Wasser in Fragen des ‚richtigen‘ Managements übersetzt und Forderungen nach strukturellen Veränderungen – wie etwa nach der Versorgung bisher ausgeschlossener Gemeinden oder nach einer grundlegenden Reform der Besitzverhältnisse – aus dem Möglichkeitsraum ausgeschlossen werden, werden über die Partizipationsmechanismen letztendlich bestehende Machtverhältnisse reproduziert und Ungleichheitsverhältnisse festgeschrieben. Materielle und symbolische Objektivationen Insbesondere in der Expansion der Flächen der Bewässerungslandwirtschaft des Agrobusiness und in dem Bau großer Staudämme und Ableitungskanäle findet die diskursive Verhandlung der Dürre als Problem von Wassermangel und die sich daraus ableitenden Strategien technischer Naturbeherrschung und einer erweiterten Naturaneignung ihren materiellen und räumlichen Ausdruck. Über die Einrichtungen der Wasserinfrastruktur wird Wasser in ausgewählten Regionen zur Verfügung gestellt, während es in anderen Regionen zu Dürreverhältnissen kommt. Somit sind Dürreverhältnisse immer auch ein Resultat von diskursiven Setzungen, Praktiken der Naturaneignung und materiellen Verdinglichungen. Durch die Beständigkeit der materiellen Ordnung werden Naturverhältnisse auf Dauer gestellt und Nutzungsweisen vorstrukturiert. Der bevorzugte Ausbau großer Wasserinfrastrukturprojekte, wie die Flussableitung des Rio São Francisco, der Bau des Stausees Castanhão oder der Ausbau des Kanals der Integration führt zu einer zentralen Speicherung und Kontrolle großer Wassermassen an wenigen Orten. Dadurch wird eine großflächige, modernisierte Bewässerungslandwirtschaft ermöglicht, während eine dezentrale Nutzung durch eine kleinparzellierte Familienlandwirtschaft tendenziell ausgeschlossen bleibt. Die Architektur und Dimensionierung der Wasserinfrastruktur sowie die in ihr zum Tragen kommende Technik und ihre räumliche Verteilung können somit als Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und als Ausdruck von Machtverhältnissen gelesen werden. Dabei schreiben sich über materielle Verdinglichungen Machtverhältnisse in den Raum ein und werden dadurch verfestigt. Wird jedoch das Vorhandensein von Wasser als rein natürliche Bedingung angesehen und werden direkte kausale Zusammenhänge zwischen Niederschlagsverhältnissen und der Armut im ländlichen Raum gezogen, werden gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert. Sozial geschaffene Ungleichheiten und Machtverhältnisse werden somit über materielle Objektivationen in natürliche Ungleichheiten verwandelt und dadurch unsichtbar gemacht (SCHROER 2008: 145).
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Praktiken Institutionelle Arrangements und Materialisierungen sind weder einfach vorhanden noch von sich aus in der Lage, Macht auszuüben. Vielmehr werden sie über Praktiken hergestellt und üben ihre strukturierende Wirkung auf Praktiken aus. Somit kommt den vielfältigen und zahlreichen alltäglichen Praktiken eine zentrale Funktion bei der Produktion und Reproduktion natürlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse zu. Über die Einbettung in eine bestehende Wissensordnung werden Praktiken legitimiert, selektiert und kanalisiert. Gleichzeitig werden sie von Subjekten durchgeführt, deren Positionierung bestimmte Handlungsweisen erleichtert oder erschwert. Das Abstimmungsverhalten bestimmter sozialer Akteure in einem Wasserkomitee kann als geregelte Handlungsweise angesehen werden, in der sich Machtverhältnisse äußern und über die Folgepraktiken vorstrukturiert werden. Die Aneignung von Land und Wasser durch Privatpersonen oder Unternehmen und die Abgrenzung als Privateigentum beruht auf institutionalisierten Regelungen der Naturaneignung, über die Machtverhältnisse reproduziert werden. Die Nutzung von Wasser innerhalb einer semiariden Region für die Produktion von Obst und Shrimps für den Export wird über eine Wissensordnung legitimiert, in der die effiziente Verwendung von Wasser oberste Priorität genießt. Gleichzeitig werden darüber gesellschaftliche Naturverhältnisse geschaffen, die Ausschluss erzeugen und Niederschlagsverhältnisse in Dürreverhältnisse transformieren. Indem Ländereien besetzt und Wasser aus Kanälen ohne Genehmigung entnommen wird, werden jedoch bestehende Verhältnisse gebrochen und die prinzipielle Möglichkeit anderer Naturverhältnisse aufgezeigt. Widerständige Praktiken stellen somit nicht nur eine materielle Aneignungsweise dar, sondern sind auch symbolische Akte, die den Möglichkeitsraum erweitern. Wenn unproduktive Ländereien angeeignet und genutzt werden, und wenn die Felder entlang der Kanäle mit Hilfe des Kanalwassers gute Ernteergebnisse liefern, dann wird Normalität verschoben und dann müssen die bestehenden Verhältnisse neu legitimiert werden. Wenn über den gemeinschaftlichen Bau von Zisternen und die gemeinsame Nutzung von Land und Produktionsmitteln positive Erfahrungen gemacht werden, dann kann sich darüber eine Wissensordnung etablieren, die ein Gegenmodell zum hegemonialen Projekt der Naturaneignung liefert. Praktiken stellen somit eine Scharnierfunktion dar, über die Machtverhältnisse umgesetzt und in materielle Verhältnisse übersetzt werden. Indem die dominante Wissensordnung verschoben und Schließungslogiken neu ausgehandelt werden, können Praktiken der Selbstermächtigung, einer ‚anderen‘ Naturaneignung und eines solidarischen Wirtschaftens neu gerahmt und dadurch normalisiert und stärker legitimiert werden.
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13.1.2 (Nicht)intendierte Folgen der hegemonialen Inwertsetzungsstrategie Das hegemoniale Entwicklungsmodell in Ceará beruht auf der diskursiven Verhandlung von Natur als in Wert zu setzende Ressource und auf einer Ausweitung der Praktiken der Naturaneignung. Dabei wird die Natur und werden neue Räume und gesellschaftliche Verhältnisse verstärkt in die kapitalistische Verwertungsstrategie eingebunden, was mit DAVID HARVEY als „accumulation by dispossession“ (Akkumulation durch Enteignung) (HARVEY 2003) bezeichnet werden kann. Der als unproduktiv und feindlich deklarierte, periphere Sertão erfährt dabei eine Aufwertung und wird zur „terra do sol“ (Land der Sonne) und zur „terra de oportunidades“ (Land der Möglichkeiten) umgedeutet. Das Wasser wird zum Schlüssel der Inwertsetzungsstrategie. Über eine gezielte Bewässerung können die bisher nur extensiv genutzten fruchtbaren Böden auf der Chapada do Apodi in Plantagen umgewandelt werden, auf denen Bananen, Ananas und Melonen für den Export angebaut werden. Dadurch steigt die Konkurrenz um das zur knappen und wirtschaftlichen Ressource deklarierte Wasser, das über die Einführung von Wassertarifen entlang von ökonomischen Aspekten verteilt werden soll. Das Ziel einer möglichst flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit dem lebenswichtigen Element gerät gegenüber dem Ziel einer effektiven Verwendungsweise in den Hintergrund. Die Inwertsetzung des Wassers führt somit zu Prozessen der Inklusion und der Exklusion bestimmter Regionen, Nutzungsweisen und Menschen. Gleichzeitig führt die Ausweitung der Inwertsetzung von Natur zu einer veränderten Produktionsweise von Natur. Über die Züchtung von an die Nachfrage angepassten Anbauprodukten (kernlose Trauben, süße Ananas etc.) und den intensiven Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden wird Natur an die Anforderungen einer industrialisierten Produktionsweise angepasst. Durch die Intensivierung der Naturaneignung und den massiven Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden ist Brasilien mittlerweile zum weltweit größten Konsumenten von Agrarchemikalien geworden. Die nicht-intendierten Folgen sind eine stetig steigende Zunahme von Vergiftungen bis hin zu Todesfällen bei den Arbeiter_innen in den Plantagen, eine zunehmende Belastung der Luft, der Böden und des Wassers mit hochgiftigen Substanzen, gesundheitliche Schäden bei den Anwohner_innen der Plantagen insbesondere durch den Chemikalienaustrag per Flugzeug und Agrarprodukte, deren Verzehr gesundheitlich bedenklich sein kann. Darüber hinaus verändern sich mit der zunehmenden Inwertsetzung der Natur die gesellschaftlichen Bedingungen. Die Expansion des Agrobusiness führt zu einer Zunahme der Lohnarbeit und zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse im ländlichen Raum. Aufgrund der körperlich anstrengenden Arbeit in den Plantagen, bei langen Arbeitszeiten, hoher Gesundheitsgefährdung und geringer Bezahlung und dem oftmals entwürdigenden Umgang kann von einer zunehmenden Ausbeutung der Arbeitskraft gesprochen werden. Gleichzeitig kommt es zu verstärkten Migrationsbewegungen von den ländlichen Räumen in die Randbereiche der Städte und ländlichen Agglomerationen, wo prekäre Lohn- und Lebensweisen (Kriminalität, Prostitution etc.) und die Anzahl der Konflikte zunehmen. Durch
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den Wegzug der jüngeren Generationen nimmt die Verarmung der ländlichen Bevölkerung zu, deren Haupteinnahmequelle oftmals die staatlichen Zahlungen aus den Pensionskassen darstellen. Zwar geschieht die Inwertsetzung im Sinne einer „Akkumulation durch erweiterte Reproduktion“ überwiegend innerhalb legaler Rechts- und Eigentumsverhältnisse und „unter den Bedingungen von ‚Friede, Eigentum und Gleichheit‘“ (KÖHLER 2005: 26). Dennoch ist auch der gewaltförmige Charakter der Entwicklungen nicht zu übersehen: Durch die Ausweitung der Plantagen und den Ausbau der Infrastruktureinrichtungen – insbesondere die Anlage von großen Stauseen und Ableitungskanälen – wurden Tausende von Familien oftmals gegen ihren Willen und ohne angemessene Entschädigungen enteignet und umgesiedelt. Gleichzeitig ist die Zahl der gewaltförmigen Auseinandersetzungen um die Aneignung von Land und Wasser im ländlichen Raum nach wie vor hoch. Selbst die Ermordung unliebsamer Widersachern stellt im Nordosten auch heute noch eine Handlungsstrategie dar. Jedoch kann dies nicht als Besonderheit des gegenwärtigen Inwertsetzungsmodells angesehen werden, sondern stellt eine Fortführung gewaltförmiger Machtbeziehungen dar, die seit der Kolonialisierung Bestandteil der Gesellschaftsstrukturen des Nordostens sind. Auf der anderen Seite profitiert vor allem eine gut ausgebildete wachsende Mittelschicht in den Städten von den Umstrukturierungsprozessen. Durch die Einbindung der Region Baixo Jaguaribe in den globalisierten Agrarmarkt entstehen insbesondere in Limoeiro do Norte Arbeitsplätze im mittleren und gehobenen Managementbereich, bei Behörden und im angegliederten Dienstleistungssektor. Auch durch den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten etc.) und die Erhöhung der Kaufkraft erfährt die Regionalwirtschaft eine Dynamisierung. Somit wirken die Umstrukturierungsprozesse räumlich wie sozial durchaus sehr heterogen, selektiv und widersprüchlich. Neben modernen Räumen einer technologie- und kapitalintensiven Landwirtschaft bestehen und entstehen marginalisierte Räume, die von den Inwertsetzungsdynamiken ausgeschlossen werden. Dabei finden Inklusions- und Exklusionsprozesse sowohl entlang der Konstitution neuer Räume als auch innerhalb dieser statt. Die Kleinbäuer_innen, die im ‚Hinterland‘ leben, werden dabei genauso von den positiven Auswirkungen des Modernisierungsprozesses ausgeschlossen wie die Familien, die entlang der Ableitungskanäle oder am Rande der Stauseen leben und keinen Zugang zum Kanalwasser haben. Sowohl in den Städten als auch in den Plantagen der Bewässerungslandwirtschaft können einige von den Umstrukturierungsprozessen profitieren, während ein Großteil den negativen Auswirkungen ausgesetzt ist. Somit spricht DENISE ELIAS von einer exkludierenden Modernisierung (modernização excludente) (ELIAS & SAMPAIO 2002), über die bestehende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse reproduziert werden.
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13.1.3 Widersprüche als Erweiterung des Möglichkeitsraums Über die Analyse des Dispositivs der Dürre im Nordosten wird deutlich, dass über die Einführung des Integrierten Wasserressourcen-Managements die kapitalistische Inwertsetzung von Natur als hegemoniales Projekt verfestigt wurde. Zwar kam es dabei zu Veränderungen von institutionellen Arrangements, räumlichen Maßstabsebenen, politischen Entscheidungsstrukturen sowie Subjektpositionen und somit auch zu Verschiebungen von Machtverhältnissen. Letztendlich konnte jedoch gezeigt werden, dass solche Veränderungen zu einer Stabilisierung der etablierten Strukturen und zu einer Verhinderung eines radikalen Umbruchs führten. Ein solches „mudar um pouco para não modificar o todo 2“ (BURSZTYN 1984: 134) ist bezeichnend für die Geschichte der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse im Nordosten und wurde von Autoren wie MANUEL DE ANDRADE (2004: 249) und MARCEL BURSZTYN (1984: 134) immer wieder benannt. Auch wenn die Autoren dabei beispielsweise die Mechanismen der Durchführung einer staatlich gelenkten Agrarreform zur Verhinderung einer grundsätzlichen Umstrukturierung der Besitzverhältnisse beschreiben, stehen die Mensch-NaturBeziehungen nicht im Zentrum ihrer Analysen. Erst über die Konzeptualisierung der Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis können die gegenseitigen Konstitutionsprozesse von gesellschaftlichen und natürlichen Verhältnissen sowie die Prozesse ihrer Stabilisierung, Legitimierung und Hegemonialisierung herausgearbeitet werden. Gleichzeitig lassen sich dadurch auch die langen Kontinuitäten der ungleichen Verteilung von Reichtum und des ungleichen Zugangs zu natürlichen Ressourcen sowie der Auswirkungen des vorherrschenden Entwicklungsmodells erklären. Die Annahme, dass allen Beziehungen und Prozessen Machtverhältnisse immanent sind, die kontrollieren, selektieren, organisieren und kanalisieren (FOUCAULT 1982: 11), bedeutet allerdings nicht, dass Wirkungsweisen bereits vorgegeben und Bedeutungen und gesellschaftliche Verhältnisse fixiert sind. Vielmehr besteht immer eine Vielzahl von Diskurssträngen, Handlungsoptionen und Subjektpositionen, die gestärkt, verfolgt und eingenommen werden können. Aus ihnen ergeben sich Überdeterminierungen und Widersprüche, die den bestehenden Verhältnissen und der hegemonialen Wissensordnung ihre Selbstverständlichkeit entreißen und über die alternative Möglichkeiten eröffnet werden können. So weisen die negativen Auswirkungen und Ausschlüsse des vorherrschenden Entwicklungsmodells auf die Widersprüche der Wissensordnung hin, durch die die dominante Schließungslogik an Wirkmacht verliert. Das Bild des Kanals der Integration, über den Wasser an den Grundstücken der Kleinbäuer_innen vorbei in die Zentren der Bewässerungslandwirtschaft geleitet wird, stellt einen wirkmächtigen Ausdruck dieser Widersprüche dar, über den das hegemoniale Projekt in Frage gestellt werden kann und alternative Diskursstränge, Handlungsweisen 2
„Kleinigkeiten zu verändern, um das große Ganze nicht ändern zu müssen“ (BURSZTYN 1984: 134, eigene Übersetzung).
13.1 Das Dispositiv der Dürre im Nordosten Brasiliens
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und Subjektpositionen an Bedeutung gewinnen können. Über das Bild des mit Wasser gefüllten Kanals wird die Produziertheit der Dürreverhältnisse sichtbar. Damit kann eine Deutungsweise der Dürre als Ausdruck und nicht als Ursache der gesellschaftlichen Verhältnisse gestärkt und die dominante Strategie der Wasserakkumulation in Frage gestellt werden. Durch das Bild des gefüllten Kanals rückt weniger die Wassersicherheit als vielmehr die Frage nach dem Zugang zu Wasser in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Dadurch kann den Kritiker_innen des Entwicklungsmodells weniger leicht die Position der Verweigerer_innen von Wasser und der Verhinderung von Fortschritt und Entwicklung zugewiesen werden. Somit findet ihre Sprechposition Eingang in den dominanten Diskurs, wodurch ihre Verhandlungsmacht gestärkt wird. Über die Sichtbarmachung der Widersprüche und Ungleichheitsverhältnisse gewinnen auch die Praktiken des Widerstandes, wie die Entnahme von Wasser aus den Kanälen und die Besetzung von Land, an Legitimation.
Abb. 46: Der Kanal der Integration als Spiegel gesellschaftlicher Widersprüche
Gleichzeitig gerät über die Benennung und Skandalisierung der prekären Arbeitsbedingungen in den Plantagen und die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen des intensiven Chemikalieneinsatzes das hegemoniale Inwertsetzungsmodell ins Wanken. Dadurch werden alternative Projekte der Naturaneignung, wie die Projekte der dezentralen Wasserspeicherung und Projekte
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des Lebens im Einklang mit den Bedingungen einer semiariden Region (convivência), als ernstzunehmende Alternativen in der Wissensordnung verankert. Auch wenn solche alternativen Aneignungsweisen im Vergleich zu den Großprojekten der Wasserinfrastruktur und des Agrobusiness momentan noch marginal erscheinen, so besteht ihre Bedeutung in erster Linie in ihrer offenhaltenden Funktion von alternativen Denkweisen, Handlungsoptionen und Subjektpositionen und in der Sichtbarmachung der prinzipiellen Umkehrbarkeit der Verhältnisse. 13.2 DÜRRE ALS GESELLSCHAFTLICHES NATURVERHÄLTNIS Die Fokussierung auf die Verwobenheiten der gesellschaftlichen Naturverhältnisse bei gleichzeitiger Betonung der Kontingenz der Ereignisse bedeutet, weder Natur noch Gesellschaft als abgeschlossene Entitäten zu begreifen, sondern die Prozesse der wechselseitigen Hervorbringung zu beleuchten. In diesem Verständnis besteht Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis sowohl aus der physischen Anwesenheit und der unbedingten Notwendigkeit der materiellen Verfügbarkeit von Wasser für natürliche und soziale Produktionsprozesse und das Überleben von Menschen, Pflanzen und Tieren als auch aus der sozialen Herstellung von Wasserknappheit über Produktions- und Eigentumsverhältnisse, gesellschaftliche Bedürfnisse, Wertvorstellungen, Wissen, technische Errungenschaften und Diskurse. Diese beiden Pole des Dürreverhältnisses sind dabei aufeinander bezogen und gegenseitig miteinander verwoben, ohne jedoch ganz ineinander aufzugehen. Weder kann die Verfügbarkeit des Wassers als Existenzbedingung für (menschliches) Leben als rein sozialer Konstruktionsprozess verstanden, noch kann Wasserknappheit außerhalb von gesellschaftlichen Bedingungen, Bedürfnissen und Bewertungen benannt werden. Andererseits werden gesellschaftliche Verhältnisse über die Organisation des Austausches mit Natur hergestellt. Durch die Verfügung über Land und Wasser, durch die Art und Weise der Aneignung, Inwertsetzung oder Zerstörung von Natur wird Reichtum geschaffen und Ausschluss erzeugt. Darüber hinaus dienen natürliche Verhältnisse der Rechtfertigung von Ungleichheitsverhältnissen und der Legitimierung bestimmter Praktiken, wodurch Akzeptanz geschaffen und gesellschaftlicher Konsens aufrecht erhalten werden kann. Nach wie vor gilt die Dürre im Nordosten als Grund für die sozialen Ungleichheiten und nach wie vor werden über Hilfsmaßnahmen, Sozialprogramme und Partizipationsprozesse die bestehenden Strukturen und Machtverhältnisse gestärkt. Dabei deutet die Vielschichtigkeit des Vermittlungsverhältnisses zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen darauf hin, dass nicht von einem einzigen, sondern von einer Vielzahl von Dürreverhältnissen gesprochen werden muss. Ob die natürlichen Bedingungen im Nordosten als nachteilig, feindselig und ungeeignet oder als vorteilhaft und günstig bezeichnet werden, ist nicht zuletzt von den jeweiligen Inwertsetzungsweisen von Natur und den ihnen zugrunde liegenden Wissensordnungen abhängig. Über die hegemoniale Wissensordnung schreiben sich Machtverhältnisse in die gesellschaftlichen Naturverhältnisse ein
13.2 Dürre als gesellschaftliches Naturverhältnis
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und werden somit fortgeschrieben und reproduziert. Seit der kolonialen Inbesitznahme des Nordostens Brasiliens stellt die Kontrolle über die Verfügbarkeit von Land und Wasser eines der wichtigsten Instrumente zur Aufrechterhaltung und Reproduktion gesellschaftlicher Machtbeziehungen dar, innerhalb derer sich spezifische Subjektpositionen herauskristallisierten. Insofern sind Machtbeziehungen immer in dem Dreiklang von gesellschaftlichen Strukturen, Naturverhältnissen und den sich herausbildenden Subjektpositionen zu begreifen. Mit Hilfe der Dispositivanalyse können zentrale Elemente der Produktion der gesellschaftlichen Naturverhältnisse erfasst und auf Prozesse der Herstellung von Hegemonie untersucht werden. Dabei werden sowohl diskursanalytische als auch empirisch-ethnographische Methoden in die Untersuchungen integriert werden. Daraus ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, einen Umgang mit der Vielzahl an sehr unterschiedlichen Materialien zu finden. Gleichzeitig besteht die Herausforderung darin, der Komplexität der einzelnen Fallbeispiele aus der Region Baixo Jaguaribe, anhand derer die Mechanismen und Prozesse der einzelnen Elemente des Dürredispositivs herausgearbeitet wurden, gerecht zu werden, ohne dabei über eine zu detaillierte Beschreibung den Blick auf die übergeordneten Zusammenhänge zu verlieren. Die Darstellung der Ergebnisse im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit macht es jedoch notwendig, eine möglichst kohärente und in sich schlüssige Erzählung zu erstellen. Somit besteht die Gefahr, Prozesse, die nicht in das Interpretationsschema passen, nicht zu erkennen und bestehende Widersprüche einzuebnen. Der Anspruch der Arbeit liegt jedoch nicht darin, widerspruchsfreies Wissen zu produzieren, sondern die „Phänomene in der Schwebe zu halten“ (BERESWILL & RIEKER in PLODER 2009: 18) und auf die Heterogenität der Ereignisse und die Vielfalt möglicher Anknüpfungspunkte und Anschlussmöglichkeiten (SCHROER 2008: 153) zu verweisen. So ist diese Arbeit als meine Produktion von Wissen über eine Region und über bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, die zur Dekonstruktion von scheinbaren Evidenzen und zur Erweiterung der Sichtweisen über den Nordosten beitragen will. Die Arbeit ist somit nicht als ‚wahre‘ Erzählung über den Nordosten und dessen gesellschaftliche Naturverhältnisse zu lesen, sondern als Teil der Erzählungen, die die Vielfältigkeit des Nordostens in den Vordergrund stellen und betonen, dass nicht nur eine Sichtweise über den Nordosten existiert: „não existe apenas um Nordeste, mas vários 3“ (ELIAS 2006: 32). Im Sinne einer kritischen Wissenschaft bietet die Arbeit keine Lösungsvorschläge und Handlungsanweisungen an, die ausgehend von einer gegebenen gesellschaftlichen Situation Verbesserungen bewirken sollen. Vielmehr sollen gerade die als gegeben akzeptierten Verhältnisse und Problemlagen dekonstruiert, hinterfragt und als ‚natürlich‘ abgelehnt und dadurch die möglichen Denk-, Sprech- und Handlungsoptionen erweitert werden. Die Mechanismen der Produktion gesellschaftlicher Naturverhältnisse nachzuzeichnen, bestehende Widersprü3
„es existiert nicht nur ein Nordosten, sondern zahlreiche“ (ELIAS 2006: 32; eigene Übersetzung).
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che aufzuzeigen und marginalisierte Positionen einzubeziehen, bricht die Unvermeidbarkeit und Alternativlosigkeit der bestehenden Verhältnisse auf und eröffnet Möglichkeitsräume, die über die scheinbaren Gegebenheiten und angebotenen Alternativen hinausweisen. Somit stellt die Arbeit eine Sichtweise zur Verfügung, die als Beitrag für weitere Auseinandersetzungen um die Gestaltung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse gelesen werden kann. Dabei geht es jedoch nicht allein um die Verhältnisse im Nordosten Brasiliens und auch nicht um ein selbstgerechtes Urteil von gesellschaftlichen Verhältnissen, die von außen betrachtet und bewertet werden können. Im Sinne JOHN HOLLOWAYS bedeutet Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen immer auch eine Kritik an uns und mir selbst, an meinen Verwobenheiten und an meiner Teilhabe an der alltäglichen Produktion der Verhältnisse, sei es als Produzent von Wissen, als Konsument von exportierten Früchten, als Profiteur von ungleichen Machtverhältnissen und globalen Wirtschaftsstrukturen: „Die Gesellschaft zu kritisieren heißt, unsere eigene Mittäterschaft an der Reproduktion dieser Gesellschaft zu kritisieren“ (HOLLOWAY 2006: 137). Einen ersten Schritt, um dieser Mittäterschaft etwas entgegen zu setzen und um Möglichkeitsräume offen zu halten, stellt die Ablehnung scheinbar gegebener Wissensordnungen und dominanter Identitätszuweisung dar. Damit dies gelingt, müssen wir jedoch wieder „neu lernen, nein zu sagen, und lernen, neu nein zu sagen“ (BRIELER 2008: 34).
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