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German Pages 224 Year 2002
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 97
H E I K E SAHM
Dürers kleinere Texte Konventionen als Spielraum für Individualität
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2002
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
D21 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sahm, Heike: Dürers kleinere Texte : Konventionen als Spielraum für Individualität / Heike Sahm. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Hermaea; N.F., Bd. 97) ISBN 3-484-15097-1
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen und für den Druck stellenweise überarbeitet. Für die Aufnahme in die Reihe Hermaea danke ich den Herausgebern, für die Übernahme der Druckkosten der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Arbeit geht zurück auf ein im Wintersemester 1990/91 von Georg Satzinger und Hans-Joachim Ziegeler in Tübingen angebotenes DürerSeminar. Seitdem habe ich vielfältige Unterstützung im Freundes- und Kollegenkreis erfahren, für die ich an dieser Stelle danken möchte, insbesondere Henrike Lähnemann und ihrer Familie für vielfach erwiesene Gastfreundschaft, Heike und Thomas Gloning, Juliane Glüer, Anna Mühlherr, Monika Schausten und Hans-Joachim Ziegeler für ihre stete Diskussionsbereitschaft und Ermutigung, Gerald Kapfhammer und meiner Schwester Astrid für das Korrekturlesen und meinem Mann für all dies. Die Dissertation wurde ermöglicht durch ein Stipendium des Göttinger Graduiertenkollegs >Kirche und Gesellschaft im Hl. Römischen Reich des 15./16. JahrhundertsFamilienchronik
Bruchstück aus Dürers Gedenkbuch
Vnderweysung der messung
Tagebuch der Reise in die Niederlande
FamilienchronikBruchstück aus Dürers GedenkbuchTagebuch der Reise in die Niederlande< und zahlreiche Briefe sind Zeugnisse von Dürers Schriftgebrauch im Alltag. Die Spottgedichte und Reimpaardichtungen sowie die Widmungsvorreden zu den theoretischen Schriften ermöglichen den Brückenschlag zum Literaturbetrieb.1 Diese Texte lassen sich gängigen frühneuhochdeutschen Textsorten wie familiäre Aufzeichnung, Brief und Rechnungsbuch zuordnen.2 Im Vergleich mit der jeweiligen Textsorte wird erkennbar, in welcher Weise Dürer an die Traditionen frühneuhochdeutscher Schriftlichkeit anknüpft und welche kommunikativen Aufgaben seine Texte zu erfüllen haben.3 Dabei ergeben sich durchaus unterschiedliche Perspektiven auf gleichartige Gegenstände. Je nach Funktion des Textes äußert sich Dürer anders in religiösen, ethischen, sozialen und wirtschaftlichen Dingen. So stellt er zum Beispiel in einem Brief, zumal in einem Geschäftsbrief, seine wirtschaftlichen Interessen anders dar als in einer Widmungsvorrede. Oder die Frage seiner sozialen Stellung wird in den familiären Aufzeichnungen anders verhandelt als in einem Spottgedicht. Beim Umgang mit diesen scheinbaren Widersprüchen hilft eine genauere Orientierung darüber, in welchen Zusammenhängen der jeweilige Text steht. 1
Diese Texte sind allesamt ediert in: Dürer. Schriftlicher Nachlaß, hg. v. Hans Rupprich, Bd. ι : Autobiographische Schriften, Briefwechsel, Dichtungen, Beischriften, Notizen und Gutachten, Zeugnisse zum persönlichen Leben, Berlin 1956. 2 Vgl. Hannes Kästner, Eva Schütz und Johannes Schwitalla, Die Textsorten des Frühneuhochdeutschen, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, hg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger, 2. Halbbd., Berlin/New York 1985 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2/2), S. 1 3 5 5 - 1 3 6 8 . 3 Zum Begriff Textsorte: H u g o Steger, Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten/ Texttypen und ihrer kommunikativen Bezugsbereiche, in: Sprachgeschichte (s. Anm. 2), S. 186-204; Roswitha Peilicke, Zur Genese von Textsorten im 14./15. Jahrhundert. Textsortengeschichtliche Untersuchungen unter linguistischem Aspekt, Jahrb. f. Internationale Germanistik 24 (1992), S. 36-40. I
Indem man das Nebeneinander von Ausdrucksmöglichkeiten am Beispiel von Dürers kleineren Texte beschreibt, ergibt sich ein Ausschnitt aus dem kommunikativen Haushalt des Frühneuhochdeutschen. Wie die jüngere Forschung des öfteren gefordert hat, kann hier ein historisches Textsortenrepertoire vorgestellt werden. 4 Eine Kernfrage dieser Arbeit lautet demnach: Wie steht Dürer in jenem Prozeß, der von der Forschung als Verschriftlichung des Lebens< vielfach herausgearbeitet worden ist?5 Das von Dürer überlieferte Textcorpus bietet sich für eine solche Untersuchung aus verschiedenen Gründen an. Zunächst wird das Vorhaben im Falle Dürers wesentlich begünstigt, weil man bei der mitunter schwierigen Rekonstruktion historischer Textfunktionen archivalische Quellen sowie sein bildnerisches Werk ergänzend heranziehen kann. Sodann ist es als besonderer Umstand zu werten, daß unter Dürers kleineren Texten sowohl pragmatische wie literarische zu finden sind.6 Dies eröffnet die seltene Möglichkeit, fließende Ubergänge zwischen Verschriftlichung und Literarisierung der Kommunikation aufzuzeigen. 7 Vor allem aber verteilt sich Dürers schriftliche Hinterlassenschaft auf ein differenziertes Spektrum von Textsorten und Gebrauchszusammenhängen. Mal schreibt er als Handwerker, mal als sozialer Aufsteiger, mal als Künstler. Damit ist eine andere zentrale Frage dieser Arbeit aufgeworfen, nämlich die Frage nach der Bedeutung dieser mitunter vorgeprägten Selbstaussagen für das Verständnis des Malers Dürer, der in Praxis und Theorie der Kunst seinen individuellen Ausdruck gefunden hat. Mit diesem Ansatz soll eine neue Perspektive auf die altbekannten Texte erprobt werden. Seitdem die Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert durch die Editionen von Moritz Thausing, 8 Friedrich Leitschuh 9 sowie Konrad 4
Vgl. Steger (s. Anm. 3), S. 1 9 1 ; Peilicke (s. Anm. 2), S. 37; Oliver Pfefferkorn, Möglichkeiten und Grenzen einer Analyse historischer Textsorten, Z f d P h 1 1 7 (1998), S. 399-415, hier S. 399f. * Zur Bedeutung der Verschriftlichung allgemein: Ernst Bremer, Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen, in: Sprachgeschichte (s. Anm. 2), S. 1379-1388. 6 Zum Begriff der pragmatischen Schriftlichkeit: Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter. Der neue S F B 231 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, FMSt 22 (1988), S. 388-409. 7 Zur Bedeutung des Medienwandels in der Kommunikation vgl. Bremer (s. Anm. 5), S. 1 3 8 2 - 1 3 8 7 . 8 Dürers Briefe, Tagebücher und Reime nebst einem Anhange von Zuschriften an und für Dürer. Übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen, Personenverzeichniß und einer Reisekarte versehen von Moritz Thausing, Wien 1872 (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 3). ' Albrecht Dürer's Tagebuch der Reise in die Niederlande. Erste vollständige Ausgabe nach
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Lange und Friedrich Fuhse 10 einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden, gehören sie zu den Leittexten der Dürer-Rezeption. Vielfach wurden sie als Quelle zur Entwicklung Dürers und seiner Kunst ausgewertet. Das gemeinsame Merkmal dieser Lektüren ist, daß man die Texte, angefangen von Moritz Thausing, als autobiographische Schriften< im engeren Sinne, d.h. in erster Linie auf die literarische Darstellung von Dürers Leben zielend, verstand. 11 Heinrich Wölfflin nennt in seiner Monographie vom Anfang des 20. Jahrhunderts einleitend die »Briefe [...], Tagebücher, eine Menge sonstiger Aufzeichnungen« als Texte, »in denen sich ein höchst sympathischer Mensch fast restlos enthüllt.«" Auch Erwin Panofsky hält unter Bezug auf einige der hier in Rede stehenden Texte fest: »Was seinen Charakter betrifft, da konnte es wenig Verschiedenheit der Meinung geben. Er lebte und lebt in jedermanns Gedächtnis als ein Mann, der zugleich groß, gut und menschlich war.« 13 Hans Rupprich schreibt in der Einleitung zu seiner Edition von Dürers schriftlichem Nachlaß: »Die praktischen Notwendigkeiten des Daseins, Gefühle der Pietät, das Erleben einer schaufreudigen Seele, drängten anscheinend mehr als bei anderen Künstlern seiner Zeit zu schriftlichen Mitteilungen,«' 4 und Rupprich stellt weiterhin fest: »aus ihnen fühlen wir noch heute: er hat ein treues und warmes Herz besessen und ist ein guter Mensch gewesen.«' 5 Dieses Textverständnis setzt sich bis in die jüngste Zeit fort. Kurt Löcher erklärt in seiner Studie zu Dürer als Autor, daß der »eigene brennende und unstillbare Wissensdurst, verbunden mit dem Zwang, sich mitzuteilen,« Dürer »in immerwährendem Kontakt mit allem Schriftlichen« gehalten habe.' 6 Ernst Ulimann überschreibt seine Dürer-Studie: »Albrecht Dürer - Selbstbildnisse und autobiographische
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der Handschrift Johie Kunst Albrecht Dürers. Mit einem Nachwort von Peter Strieder, München [1905] '1984, S . u . 13 Erwin Panofsky, Da > Leben und die Kunst Albrecht Dürers. Ins Deutsche übersetzt von Lise Lotte Möller, [Princeton 1943] Hamburg [1977] 1995, S. hier S. 13. 14 Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 7. "'Ebd., S.7f. 16 Kurt Löcher, Dürer als Schriftsteller, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit ( 1 4 5 0 1600). Ihr Leben und Werk, hg. v. Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 270-280, hier S. 272.
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Schriften als Zeugnisse der Entwicklung seiner Persönlichkeit.« 17 Entsprechend behandelt auch Gabriele Rohowski in ihrer Dissertation zur >Künstlerlegende Dürer< die kleineren Texte im Kapitel zu den »autobiographischen Schriften« und wertet sie als Versuch, ein »Profil der eigenen Person zu gewinnen.« 18 Ihnen soll die »Entwicklung in seinem persönlichen und künstlerischen Selbstverständnis« abgelesen werden.' 9 Schließlich möchte ich die kürzlich erschienene Dürer-Biographie von Ernst Rebel nennen, der einleitend die »Superlative und Sensationen« herausstellt, die Dürer kennzeichneten. Neben vielen anderen Leistungen rechnet Rebel dazu, daß Dürer »als erster deutscher Künstler [...] autobiographische Schriften« verfaßt habe. 20 Es steht außer Frage, daß die hier genannten Arbeiten auf Unterschiedliches abzielen und daß einige darunter zu den Meilensteinen der DürerForschung gehören. Bemerkenswert ist jedoch, daß im Hinblick auf den Umgang mit Dürers kleineren Texten eine Gemeinsamkeit besteht: Man hält an einem Literaturkonzept fest, das es ermöglichen soll, die Texte als unmittelbare Quellen für die Persönlichkeit oder das Wesen ihres Autors zu lesen. Dabei bleibt weitgehend unberücksichtigt, daß die Texte unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hatten, die es nicht ohne weiteres angängig erscheinen lassen, ihre Ich-Aussagen zu harmonisieren und auf ein Persönlichkeitsbild hin zu verallgemeinern. 21 Aus diesem Grund möchte ich anders vorgehen. Meine Arbeit baut auf der Annahme auf, daß die kleineren Texte sich den wechselnden Erfordernissen der Lebenspraxis verdanken und nicht einem einheitlichen Werkbegriff unterzuordnen sind. 22 Entsprechend zielt die Untersuchung zunächst darauf, die Gebundenheit der Texte an bestimmte Zwecke und die darauf abgestimmten Textsorten herauszuarbeiten. Damit soll nicht alles
Ernst Ulimann, Albrecht Dürer - Selbstbildnisse und autobiographische Schriften als Zeugnisse der Entwicklung seiner Persönlichkeit, Berlin 1994 (SB der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Leipzig, Phil.-hist. Kl. 133/3). 18 Gabriele Rohowski, Albrecht D ü r e r - »Almanis pictor clarissime terris.« Zur Geschichte einer Künstlerlegende, Diss. Frankfurt a.M. 1994, S. 29. " E b d . , S.6. 20 Ernst Rebel, Albrecht Dürer. Maler und Humanist, München 1996, S.9. 21 Zur Tradition des Dürer-Bildes seit der Romantik vgl. Jan Bialostocki, Dürer and his Critics. 1500-1971. Chapters in the History of Ideas. Including a Collection of Texts, BadenBaden 1986 (Saecvla spiritalia 7), S. 189-402; Dieter Bänsch, Zum Dürerbild der literarischen Romantik, Marburger Jahrb. f. Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 259-274. 22 Zum Werkbegriff Michel Foucault, Was ist ein Autor? In: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 2 1993, S. 7-31 ; Karl Stackmann, N e u e Philologie ? In: Modernes Mittelalter. N e u e Bilder einer populären Epoche, hg. v. Joachim Heinzle, Frankfurt a.M./Leipzig !994, S. 398-427. 17
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umgestoßen werden, aber die Zuordnung zu den verschiedenen Textsorten bringt es mit sich, daß erst einmal die Gemeinsamkeiten mit anderen Texten herausgearbeitet, also die nicht-individuellen Textmerkmale hervorgehoben werden. In einem zweiten Schritt läßt sich dann ermitteln, inwiefern Dürers Texte den etablierten Formeln und Mustern entsprechen oder von ihnen abweichen. Hieran knüpft sich nun die Frage nach dem Stellenwert der Texte, deren Neubewertung schließlich manche Revision in der Einschätzung ihres Schreibers nach sich zieht. Bei der Beschreibung der einzelnen Textsorten wird kontrastiv vorgegangen. Im Vergleich mit anderen Textbeispielen aus dem Zeitraum von ca. 1475—1525 sollen das feststehende Formelgut der Textsorten und ihre jeweilige Funktion ermittelt werden/ 3 Die Vergleichstexte werden nach Möglichkeit in Nürnberg gesucht. Das ist eine akzeptable Einschränkung, weil in Nürnberg ein außerordentlich breites Spektrum an Literatur und Schriftlichkeit verfügbar war.24 Aussichtsreich ist die Beschränkung darüber hinaus, weil sich die Textsorten in diesem begrenzten und relativ gut erforschten Untersuchungsgebiet sozial und bildungsgeschichtlich genauer verorten lassen. Es wird sich zeigen, daß Dürer mit seinem Schriftgebrauch im Schnittpunkt verschiedener Bildungswelten und sozialer Schichten liegt. Die vorliegende Studie läßt sich von daher auch als Beitrag zur Geschichte der Laienbildung am Ubergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit lesen. 2 ' Die Gliederung der Arbeit richtet sich nach den Textsorten, in die Dürers kleinere Schriften eingeteilt werden. Zunächst werden die >Familienchronik< und das >Bruchstück aus Dürers Gedenkbuch< zusammen mit anderen familiären Aufzeichnungen aus Nürnberg betrachtet (II.). Dürers Briefe lassen sich mit anderen Texten aus der Praxis und zeitgenössischen Briefstellern vergleichen (III.). Es folgt eine Beschreibung der Dichtungen (IV.) und der Widmungsvorreden (V.) vor dem Hintergrund der literarischen Praxis. Für Dürers >Tagebuch der Reise in die Niederlande
Laien< im folgenden nach Karl Stackmann in der Einleitung zu: Grenzmann/Stackmann (Hgg.), Laienbildung, S. XI: »als bequeme, wenn auch ungenaue Bezeichnung für denjenigen, der beim Lesen oder Hören geschriebener oder gedruckter Texte ausschließlich auf die Volkssprache angewiesen war.«
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(VI.) sind im wesentlichen zwei Gruppen von Vergleichstexten, Rechnungsbücher und Reiseberichte, heranzuziehen. Auf eine eigene Untersuchung von Dürers Aufzeichnung über ein Traumgesicht< wird verzichtet, weil dieser Text unlängst von Joachim Poeschke in der Tradition von Traumdarstellungen verortet worden ist. Auf seine Ergebnisse kann hier zurückgegriffen werden. 26 Ich zitiere Dürers Texte nach dem ersten Band der Ausgabe von Rupprich. 27 Wo nicht anders vermerkt, beziehen sich Stellenangaben auf diesen Band.
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Joachim Poeschke, Dürers >TraumgesichtPuechel v o n m e i m g e s i e c h t v n d v o n abentewr< ( 1 3 8 0 / 1 4 0 2 ) . 2 N a c h e i n z e l n e n Z e u g n i s s e n aus d e r ersten H ä l f t e d e s
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J a h r h u n d e r t s steigt die Z a h l d e r T e x t z e u g e n in d e r z w e i t e n J a h r h u n d e r t h ä l f t e d e u t l i c h an, ehe sich in d e n 1 5 2 0 e r J a h r e n d e r T y p u s d e s G e s c h l e c h terbuchs herausbildet, dessen Tradition d u r c h das 1 6 . u n d 1 7 . J a h r h u n d e r t f o r t l ä u f t . G e m e i n h i n w e r d e n alle diese T e x t e als O b e r s c h i c h t e n p h ä n o m e n gewertet. A u s g e h e n d v o n den Geschlechterbüchern schreibt m a n auch für die f r ü h e r e n T e x t e als d e r e n V o r l ä u f e r die F u n k t i o n d e r » S i c h e r u n g d e r M e m o r i a an d e n s o z i a l e n S t a t u s des e i g e n e n G e s c h l e c h t e s « fest. 3 V o n d a h e r k a n n es n i c h t e r s t a u n e n , d a ß m a n D ü r e r s f a m i l i ä r e A u f z e i c h n u n g e n , das > B r u c h s t ü c k aus d e m G e d e n k b u c h < u n d die >FamilienchronikWappenbüchlein< ein. Der Text hat große Ähnlichkeit mit der >FamilienchronikFamilienchronik< steht unter dem Primat, das gute gedechtnus zu sichern. Das läßt sich daraus schließen, wie Dürer seinen Vater beschreibt: Jtem dieser obgemelt Albrecht Dürrer der elter hat sein leben mit großer mühe und schwerer harter arbeit zugebracht und von nichten anders nahrung gehabt, dann w a s er v o r sich, sein weib und kind mit seiner handt gewunnen hat. D a r umb hat er gar wenig gehabt. E r hat auch mancherlej betrübung, anfechtung und widerwertigkeit gehabt. E r hat auch von menniglich, die jhn gekannt haben, ein gut lob gehabt. D a n er hielt ein erbar christlich leben, w a r ein gedultig mann und sanfftmütig, gegen jederman friedsam, und er waß fast danckhbar gegen gott. E r hat sich auch nicht viel gesellschafft und weltlicher freudt gebraucht, er w a r auch weniger w o r t und w a r d ein gottsfürchtig mann. ( 1 6 8 - 1 8 1 )
Zumindest im Ansatz findet sich eine derartige Beschreibung mit dem Akzent auf Widrigkeiten, Mühen und Armut auch in anderen Aufzeichnungen. Sebald Schreyer betont für seinen Vater Hans Schreyer, daß er sich mit trewen und eren wiewol mit grosser muhe, sorg und wagknuß ne-
ren mochte Ahnlich beschreibt Christoph II. Scheurl im sog. >Scheurlschen Familienbuch< seinen Vater: E r hat von Jugend auf nach G u t , so nahend auf einen Tag weggangen ist, härtiglich gearbeitet, gross M ü h und Sorg gehabt, so viel Widerwärtigkeit, Trübsal, A n g s t und N o t erstanden, als beiläufig einig Mann weit und breit. 42
Ungeachtet aller Gründe, die man für die Glaubwürdigkeit solcher Behauptungen geltend machen könnte, ist festzuhalten, daß es in den Texten nicht in erster Linie um die Darstellung von Erfahrung geht. Vielmehr gibt die Notwendigkeit einer Rechtfertigung nach dem Maßstab der 4
° S. die Ermahnung zur Geduld bei Johannes Geiler von Kaysersberg, Totenbüchlein, in: Johannes Geiler von Kaysersberg. Sämtliche Werke, hg. v. Gerhard Bauer, i. Teil: Die deutschen Schriften, i. Abt.: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Bd. i, Berlin/New York 1989 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis X V I I I . Jahrhunderts 129), S. 1 - 1 3 , hier S.6f.; bei Geiler auch die Ermahnung, daß man seine weltlichen Angelegenheiten geordnet haben solle, s. ders., Sterbe-ABC, in: ebd., S . 9 7 - 1 1 0 , hier S. 105, Regel Nr. 13. S. ferner Rainer Rudolf, Ars moriendi. Von der Kunst heilsamen Lebens und Sterbens, Graz 1957. 41 Sebald Schreyers Familienaufzeichnungen. StaAN, Rep. 52a, Nr. 301, fol. 1 i v . Dazu Elisabeth Caesar, Sebald Schreyer, ein Lebensbild aus dem vorreformatorischen Nürnberg, M V G N 56(1969), S. 1 - 2 1 3 . 42 Zitiert nach Auszügen in: Adolf Frhr. von Scheurl, Christoph Scheurl, Dr. Christoph Scheurls Vater, M V G N 5 (1884), S. 13-46, hier S. 33. 18
Gottgefälligkeit die P e r s p e k t i v e auf einen v o n W i d r i g k e i t e n g e k e n n z e i c h neten L e b e n s l a u f vor. A l s imitatio
Christi w i r d eine s o l c h e Vita in d e r zeit-
genössischen L a i e n k a t e c h e s e g e f o r d e r t , 4 3 u n d v o n hier aus findet der G e danke E i n g a n g in die bürgerlichen L e b e n s l e h r e n des späten Mittelalters so a u c h bei L a z a r u s Spengler in seiner D ü r e r g e w i d m e t e n >Unterweisung z u e i n e m tugendhaften W a n d e l e 4 4 Allein die widerwertikeit Zeygt vns den weg zur selikeit. Glucksal auff erd ein zeychen ist/ Das got mit straf dest herter misst. Es wurd glaub mir kein armer nye/ Dann der vil glucks hett alzeyt hie. D o c h d e r n o r m a t i v e R a h m e n d e r christlichen E t h i k ist f ü r D ü r e r s T e x t n o c h enger a b z u s t e c k e n . A l s Vergleichsbeispiel für die B e s c h r e i b u n g seines Vaters als sanfftmütig,
gottsfiirchtig,
arm, handarbeitend und vergnü-
gungsscheu läßt sich ein A b s c h n i t t aus der >Tafel d e r christlichen Weisheittüchtigen H a n d w e r k e r s < mit ähnlichen E i g e n s c h a f t e n ausgestattet ist: E r arbait getreulich sein werck samm ez ym selber solt. Er gewert die leyt warhafftiglich on alle valschait. E r verkaufft nit alzu tewer den einfeltigen. E r wirt nit zornig an sach in der warheit, sunder er ist senftig. Er hört frumeß und sucht seiner sele selikait. E r pitet narung von got und nert sich mit trewen. E r fleucht an heiligen tagen all truncken geselschafft. E r helt sein knecht zw gottes dinst und ist got vorchtig. E r ist ainig mit seiner wittibin und arbait von liebe. E r verhengt nit, daz sein gesynde am feyertag umb gelt arbait. Er ist nit neydig, wenn ez andern wol an leib und an sele get. E r hilfft andern zu narung und enpfrempt in nit ir ehalten. Er lernet umb gotes willen sein kunst, die sich nit anders mugen generen. Er rufft in noten got an und gibt ym alle sein arbait. E r arbait armen gern durch gotes willen fur sein almoßen. E r gedenckt an sein tod und an sein sund, wie die werlt valsch ist. E r arbait umb das ewig gut und wider pringt an feyer tagen in gotes dinst, was er dj wochen versaumpt hat und ist gedultig und dancket got. 45 43
Geiler von Kaysersberg, Sterbe-ABC (s. Anm. 40), S. 104, Regel Nr. 10: Kestigung willicklich uffnemmen. Was wyderwertikeit dir zu feilet/ es syg in lyb er oder gut/ wo die har komment/ von bösen mönschen/ oder andren sachen! das lyd begyrlich und mitfrôlichem hertzen. Das macht eynen mönschen diß zergencklich leben erleiden. Die pen des fegfiires nit förchten. Und das ewige leben sicherlich hoffen. Wo nun die drü stiicklin sind/ do ist kein truren in abscheiden. 44 Lazarus Spengler, Unterweisung zu einem tugendhaften Wandel [o.O.u.J.]; wieder in: Hamm/Huber (Hgg.), Spengler, Bd. 1, S. 6-55, hier S. 23. 45 Die >Tafel der christlichen Weisheit< in Auszügen ediert bei P. Egino Weidenhiller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters. Nach 19
Demgegenüber ist die Beschreibung von Dürers Vater zwar auf wenige Zentralbegriffe verkürzt, aber sie zielt genauso auf den >idealen< Handwerker ab. Umso mehr muß auffallen, daß sich Dürers Darstellung nicht restlos vermitteln läßt mit dem, was wir aus Urkunden und Akten über Albrecht Dürer d.Ä. wissen:46 Die Hochzeit mit der Meisterstochter Barbara Holper hatte ermöglicht, daß er selber Meister wurde, 47 und er brachte es als Goldschmied zu Ansehen. Über mehrere Jahre hin war er geschworener Meister der Goldschmiede, er fertigte Trinkgefäße für den Rat an und arbeitete unter dessen Aufsicht für Kaiser Friedrich III. und Bischof Ulrich von Posen.48 Er übernahm nach dem Erwerb seines Hauses unter der Veste das städtische Amt des Gassenhauptmanns, 49 hatte für den Verkauf seiner Produkte einen Laden unter dem Rathaus gemietet und besaß ein Wertpapier über einen Anteil an der Gewerkschaft der Alten Zeche in Goldkronach. 50 Bei aller Wertungsunsicherheit lassen sich der Bergwerksanteil, der Laden unter dem Rathaus und das Haus in der bevorzugten Wohngegend auf der Sebalder Seite als Indizien dafür werten, daß Dürers Vater durchaus nicht mittellos gewesen ist. Vielmehr wird deutlich, daß ein Teil seiner Einkünfte nicht aus eigener Arbeit, sondern aus Kapitalerträgen aufkam. Bezieht man ferner mit ein, daß er in der Stadt durch Amter ausgezeichnet war, kann man ihn der gehobenen Mittelschicht zuordnen.' 1 Ludwig Grote, der ebenfalls einen gewissen Geden Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, München 1965 ( M T U 10), S. 941 0 1 , hier S.95. 46 Z u Albrecht Dürer d.Ä.: Albert Gümbel, Zur Biographie Albrecht Dürers d.Ä., Repertorium für Kunstwissenschaft 37 (1915), S . 2 1 0 - 2 3 1 , 3 1 1 - 3 2 2 ; Grote, Vom Handwerker zum Künstler, bes. S. 27f. 47 S t a A N , Reichsstadt Nürnberg, Amts- und Standbücher, Nr. 305: Bürger- und Meisterbuch v. J . 1462-149 5. Albrecht Dürer d.Ä. wurde 1467 als Bürger aufgenommen und wurde 1468 Meister. 48 Nürnberger Ratsverlässe über Kunst und Künstler im Zeitalter der Spätgotik und Renaissance (1449) 1 4 7 4 - 1 6 1 8 (1633), hg. v. Theodor Hampe, 1. Bd.: (1449) 1474-1570, Wien/ Leipzig 1904, Nr. 230, S. 32; Nr. 260, S. 36f.; Nr. 367, S. 53; Nr. 391, S. 56; Nr. 522, S.77 u.ö. 49 Ebd., Nr. 266, S.37. Z u den Bergwerksanteilen Dürers d.Ä.: Wilhelm G . Neukam, Ein Gewerkenbuch von Goldkronach aus den Jahren 1481/83. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, namentlich über das Eindringen Nürnberger Kapitals in den Bayreuthischen Bergbau, M V G N 44 (i953),S.25-57,hierS.33f. * 1 Erich Maschke, Die Schichtung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung Deutschlands als Problem der Forschung, 1973, wieder in: E.M., Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959-1977, Wiesbaden 1980 (VSWG. Beihefte 68), S. 1 5 7 - 1 6 9 ; zur sozialen Stellung der Goldschmiede: Wolfgang von Stromer, Nürnbergs wirtschaftliche Lage im Zeitalter der Fugger, in: Dürers Umwelt, 8 . 9 - 1 9 , der anmerkt, daß es nichts Ungewöhnliches sei, wenn die Goldschmiede sich über »ihr engeres Berufsbild hinaus [...] in einer Reihe einträglicher, verwandter Berufe« betätigten (S.18).
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gensatz z w i s c h e n u n s e r e r K e n n t n i s der historischen W i r k l i c h k e i t u n d D ü r e r s D a r s t e l l u n g sieht, v e r s u c h t diese D i f f e r e n z in seiner Studie z u D ü rers gesellschaftlichem A n s e h e n d a m i t z u b e g r ü n d e n , daß D ü r e r als i n z w i s c h e n etablierter K ü n s t l e r seinen V a t e r r ü c k b l i c k e n d n i c h t anders h a be w a h r n e h m e n k ö n n e n : Das vorbildliche schlichte Handwerkerdasein seines Vaters hat der Sohn kritisch betrachtet, als er, auf der Höhe seines Ruhmes stehend, 1 5 2 4 die Familienchronik niederschrieb. [...] Wenn wir von der Demutsformel absehen, muß dem Sohn bei der Betrachtung des eingeschränkten, väterlichen Daseins zum Bewußtsein gekommen sein, wie viel leichter und rascher sich der Reichtum seiner patrizischen Mäzene durch kommerzielle und finanzielle Transaktionen vermehrte. 52 I c h halte es d e m g e g e n ü b e r f ü r wahrscheinlicher, daß D ü r e r die V i t a seines V a t e r s n a c h d e m M u s t e r eines harten u n d eo i p s o verdienstlichen L e b e n s w a n d e l s darstellt u n d den gesellschaftlichen u n d w i r t s c h a f t l i c h e n A u f stieg aus diesem G r u n d ausspart. 5 3 A u c h das B i l d des H a n d w e r k e r s , das D ü r e r e n t w i r f t , w ä r e d a n n mit d e m A s p e k t der Verdienstlichkeit z u b e g r ü n d e n , die h a n d w e r k l i c h e r A r b e i t an sich z u k a m . 5 4 D e m
entspricht
auch, w a s D ü r e r ü b e r die E r z i e h u n g äußert, die der V a t e r seinen K i n d e r n habe angedeihen lassen: Dieser mein lieber vatter hat großen fleiß auf seine kinder, die auf die ehr gottes zu ziehen. Dann sein höchst begehren war, daß er seine kinder mit zucht woll aufbrechte, damit sie vor gott und den menschen angenehm würden. Darumb war sein täglich sprach zu uns, daß wir gott lieb solten haben und treulich gegen unsern nechsten handeln. ( 1 8 2 - 1 8 8 ) >2
Grote, Vom Handwerker zum Künstler, S. 28. Erich Maschke argumentiert in seiner Studie: Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, in: Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen, hg. v. Paul Wilpert, Berlin 1964 (Miscellanea mediaevalia 3), S. 306-335, daß bei den Fernkaufleuten »Gefahr und Risiko, Mühe und Arbeit [...] geradezu alle anderen Bewußtseinsinhalte« überlagert hätten (S. 317), berücksichtigt dabei aber nicht hinreichend, daß seine Quellen (Testamente und Familienchroniken) nicht als authentische Zeugnisse der Selbstwahrnehmung gelesen werden können.
55
Eine solche Deutungsmöglichkeit hatte Grote in einem Vortrag 1957 angesprochen und darüber hinaus erwogen, den Widerspruch in Rücksichtnahme auf einen Bedeutungswandel des Wortes >Armut< abzuschwächen. Ludwig Grote, Dürer einmal anders gesehen. Seine Einnahmen und wirtschaftlichen Verhältnisse, 77. Jahresbericht des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg (1954), S . 9 - 1 1 . 54 Der Gedanke der Verdienstlichkeit von Handarbeit bei Hans Rosenplüt, Der Müßiggänger, in: Reichel (Hg.), Rosenplüt, S. 1 2 5 - 1 3 1 . Dazu Jörn Reichel, Handwerk und Arbeit im literarischen Werk des Nürnbergers Hans Rosenplüt, in: Deutsches Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sozialgeschichte, Volkskunde, Literaturgeschichte, hg. v. Rainer S. Elkar, Göttingen 1983 (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 9), S. 245-263. 21
Die Darstellung, daß Gottesfurcht das oberste Ziel der Erziehung gewesen sei, entspricht den allgemeinen N o r m e n für die elterliche Erziehung, wie man wiederum in einer Zusammenschau mit den Vergleichstexten sowie mit lehrhaften Texten darlegen könnte." Ahnliches läßt sich bei Hans Frey, dem Schwiegervater Dürers, zeigen.' 6 Dieser war wie Albrecht Dürer d.Ä. Inhaber einer Kux, und sein Vermögen belief sich nach seinem Tod auf ι .05 5 fl. Er hatte wie jener verschiedene städtische Ehrenämter inne, war darüber hinaus Genannter des Größeren Rates 57 und als Ehemann einer Patrizierin Zeit ihres Lebens zum Tanz auf das Rathaus geladen.' 8 Davon schreibt Dürer nichts, merkt aber nach dem Todesdatum des Schwiegervaters auf die Formel verknappt an, daß dieser bej sechs jähren kranckh gewesen sei, in der weit gleich unmöglich widerwertigkeit
erdultet habe und mit den sacramenten
verschie-
den sei (248-251). Wollte man auch bei Dürer selbst nach einer vergleichbaren Rechtfertigung suchen, so könnte man auf den Passus hinweisen, in dem er auf seine Lehre bei Wolgemut Bezug nimmt: Aber ich viel von seinen
knechten
mich leiden muste (204f.). Nach dem bisher Gesagten läßt sich vorläufig festhalten: Die >Familienchronik< und andere familiäre Aufzeichnungen sind nicht als unverzerrter Spiegel der Wirklichkeit oder als Zeugnis für die unmittelbare Selbstwahrnehmung des Schreibenden aufzufassen, sondern sie stehen unter der Vorgabe, den christlichen Lebenswandel und Tod nachzuweisen. Dieser Pri!S
Hier nur beispielsweise Scheurl (s. A n m . 42), S. 32, über seinen Vater: »Er war wahrhaft, dem L ü g e n sonderlich feind, z o g uns beid mit ernstlichem Fleiss auf die Wahrheit und Vermeidung der Lügen, darum er uns hart schlug, weiset uns auf Gottesfurcht und G o t tesdienst, führet uns gewöhnlich alle Sonntag mit ihm unter die Antlas und folgend z u m Tagamt auf die Pfarrkirchen und nach Essens z u r Predigt zu den Predigern, ging viel z u unser lieben Frauen.« M u f f e l (s. A n m . 24), S. 749, ermahnt seine Nachfahren: Und also lieben kindt und enencklein, die von mir geporen werden, wollet ir lanckleben ere und wirdigkeit erraichen, so seyt gotforchtig und got danckpar in allen dingen, habt geistlich leutte holt, beweist in zucht und ere, und seyt nicht hoffertig, gebt euch nicht die ere, sunder gebt dem herren lob und ere und helft treulich an einander, last euch mein und meiner eitern sei und euer eitern sei bevolhen sein durch gott, wölt ir lanckleben haben, und vorauß so last der messen durch mein anherrn seilligen auf des heiligen creutz altare gestift nicht abgeen. Weidenhiller (s. A n m . 45), S. 13, hält für das katechetische Schrifttum fest, daß die »Verpflichtung der Eltern z u m ersten religiösen Unterricht ihrer Kinder [...] überall mit großem Ernst betont« wird.
56
Z u Hans Frey: Lochner, Personen-Namen, S. 1 2 - 1 9 .
" Johannes Ferdinand Roth, Verzeichnis aller Genannten des größeren Raths v o n den ältesten bis auf die neuesten Zeiten mit historischen Nachrichten, N ü r n b e r g 1802, S. 49. 58 Z u m Tanzstatut v o n 1521: T h e o d o r A i g n , D i e Ketzel. Ein N ü r n b e r g e r Handelsherrenund Jerusalempilgergeschlecht, Neustadt a.d. A i s c h 1961 (Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 12), S. 100-118, hier S. 114.
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mat der Rechtfertigung führt dazu, daß sowohl die allgemeine wie die individuelle Praxis auf akzeptierte Formeln gebracht und dadurch zugunsten der Norm nivelliert oder zumindest zurückgenommen wird. Man kann es als Ausdruck des Familienbewußtseins werten, daß Informationen über Angehörige schriftlich festgehalten und in der Familie überliefert, abgeschrieben und ergänzt werden. 59 Die rechtliche und memoriale Bedeutung dieser Informationen schlägt sich in den Texten nieder. Doch nicht alle Inhalte lassen sich an entsprechende Zwecke rückbinden. In weit zurückgreifenden Angaben zur Herkunft etwa (die nicht in allen behandelten Texten enthalten sind) scheint sich auch ein Anspruch auf Tradition auszudrücken. Diese Dimension familiärer Aufzeichnungen gewinnt insbesondere für die Nürnberger Geschlechter an Bedeutung bei ihren Bemühungen, sich von der übrigen Bürgerschaft abzugrenzen.60 Die in den 152o/3oer Jahren entstehenden Geschlechterbücher indizieren die wachsende Bedeutung, die einer Statusbegründung durch das familiäre Herkommen zukommt. Charakteristisch ist hierbei das Bestreben, sich an eine lange zurückreichende, spezifisch nürnbergische Tradition zu binden. Georg Rixner bietet hierfür in seinem vermutlich schon 1526 in Nürnberg bekannten Turnierbuch den Geschlechtern eine Ursprungslegende an, die in der Folge reich rezipiert wird. 6 ' Zwar versehen die Geschlechterbücher auch die herkömmlichen rechtlichen und memorialen Funktionen, aber ihre gewandelte Ausstattung trägt das Familienbewußtsein nun als Standesbewußtsein vor. Mit ihrer Größe überbieten die von einzelnen Familien angelegten Codices vieles, was es bis dahin gegeben hatte. Der prominenteste Ausdruck dieser Entwicklung ist das familienübergreifende Hallersche Geschlechterbuch von 1533-36, das in der Ratsbibliothek aufbewahrt wurde. 62 Auch die Sorgfalt, mit der die patrizischen Auftraggeber oder Schreiber ihre Bücher herstellen und ausmalen lassen, ist in dieser Weise neu.63 Konrad IV. Haller legt sich 1526 einen 59
Heinrich Schmidt, Bürgerliches Familienbewußtsein in Aufzeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts, in: ders., Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter, Göttingen 1958 (Schriftenreihe der Hist. Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 3), S. 1 2 7 - 1 3 7 .
60
Gerhard Hirschmann, Das Nürnberger Patriziat, in: Deutsches Patriziat 1430-1740. Büdinger Vorträge 1965, hg. v. Hellmuth Rössler, Limburg a.d.L. 1968 (Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit 3), S. 257-276, hier S. 265-267. Rixners Turnierbuch wurde zwar erst 1530 gedruckt, aber Lotte Kurras geht davon aus, daß er bereits 1526 dem Nürnberger Rat eine handschriftliche Fassung überreicht hatte. Katalog Norica (s. Anm.4), S . X I I I - X V . Haller von Hallerstein (s. Anm. 1 ), S. 219. Zu den Vorläufern ebd., S . 2 1 4 - 2 1 8 .
61
62 63
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Familienkodex an/ 4 die Fürleger 1527, 65 die Behaims bereits 1520. 66 Bartholomäus Haller von Hallerstein beginnt 1530 mit einem Entwurf zu einem Geschlechterbuch, das 1533 in einer Fassung vorliegt, die mehrfach abgeschrieben wird. 67 Sebald IV. Pfinzing legt sich um 1530 ein Stammund Wappenbuch mit Wappen, Urkundenabschriften und anderem an.68 Christoph II. Scheurl verfaßt 1526 das Pfinzing-Löffelholz-Buch, 6 ' das Tucherbuch für die Jahre bis 1541, 7 0 ein Buch für die Fürer 1541 7 1 und eines für die Zingel. 72 Weiterhin finden sich von der Familie Behaim Vorstudien für ein Geschlechterbuch, für andere Familien sind Geschlechterbücher erst später bezeugt. 73 Daß die Anlage von familiären Aufzeichnungen unter dem Aspekt des Sozialprestiges auch für soziale Aufsteiger von Interesse war, zeigt die Uberlieferung. Die Aufzeichnungen Lienhard Hirschvogels (1523/24), dessen Familie erst im 15. Jahrhundert nach Nürnberg kam und erst nach der Mitte des Jahrhunderts ratsfähig wurde, könnte man in diesem Zusammenhang verstehen,74 ebenso das 1523 begonnene Familienbuch von Christoph II. Scheurl, dessen Familie in der Generation des Vaters zugewandert war und 1580 ratsfähig wurde, 75 und auch das Wappenbüchlein von Lazarus Spengler, bei dem sich ebenfalls erst der Vater in Nürnberg niedergelassen hatte/ 6 Die zeitliche Nähe der >Familienchronik< zu den entstehenden Geschlechterbüchern, Dürers persönliche Bekanntschaft zum Beispiel mit Spengler oder Scheurl 77 und die Ubereinstimmungen mit den Vergleichs64
Ebd., S. 218f. Geschlechts- und Wappenbuch der Fürleger. S t a A N , Rep. 52a, Nr. 2 7 1 , angelegt von Wolf Fürleger 1527 (vgl. fol. ιο Γ ). 66 Schultheiß (s. Anm.33), S.353. 67 Haller von Hallerstein (s. Anm. 1), S. 22of. 68 StaAN, Rep. 52a, Nr. 295b. Das in: Chroniken, Bd. 1 (s. Anm. 1), S. 377 Anm. 6, erwähnte Sebald-Pfinzing-Geschlechterbuch war nicht aufzufinden. 69 Darin ist auch ein Ratsbuch (bis 1545) und ein Genanntenbuch (bis 1 5 3 1 ) enthalten. Eugen Frhr. Löffelholz von Colberg, Dr. Christoph II. Scheurls Hochzeit mit Katharina Fütterin am 29. August 1 5 1 9 , M V G N 3 (1881), S. 1 5 5 - 1 6 8 , hier S. 155. 7 ° Abschrift nach der Hs. der B L London im S t A N , Tucher-Findbuch (Rep. E 29/II), Nr. 47. Dieses Manuskript diente nach Ausweis des Findbuchs als Vorlage für das 1596 vollendete große Tucherbuch. 71 S t B N , Amb. 53.4 o . 72 G N M N , Hs. 6976a. 73 S t A N , Ε ι, Fa Behaim, Nr. 529. 74 Hirschvogel (s. Anm. 29). 75 Datierung nach Haller von Hallerstein (s. Anm. 1), S. 218; Auszüge bei Scheurl (s. Anm. 42). 76 Spengler (s. Anm. 21). 77 Daß die Geschlechterbücher eine gewissse Sogwirkung entfalteten, ist bezeugt. Sigmund 65
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texten legen die Frage nahe, ob Dürers Aufzeichnung im Zusammenhang mit der Nürnberger Entwicklung entsteht, zumal es den Anschein hat, daß es wenig später, etwa in den 1540/ 50er Jahren, nicht mehr ungewöhnlich ist, daß sich auch Nicht-Patrizier solche Büchlein anlegen.78 Wenngleich die Abschriften der >Familienchronik< keine Schlüsse auf ihre ursprüngliche Ausstattung erlauben, läßt der Text doch die Aussage zu, daß es Dürer - anders als etwa Spengleroder Köler - nicht darum geht, die Familiengeschichte sozial zu profilieren, denn: Die Möglichkeiten, die er dazu hatte, sind ungenutzt. Für seinen Vater und Schwiegervater hätte er immerhin anmerken können, daß sie im Besitz prestigeträchtiger städtischer Ämter waren, 79 wie es mitunter in Aufzeichnungen dieser Art zu beobachten ist.80 Bemerkenswerter ist eine andere Auslassung. In der Regel tragen die Schreiber im Zusammenhang mit ihrer Hochzeit auch die Eltern oder sogar Großeltern der Ehefrau nach.81 Dürer hingegen bemerkt zu seiner Hochzeit nur: U n d alß ich im 1490 jar hinwegg zog, nach Ostern, darnach kam ich wider, alß man zehlt 1494 nach Pfingsten. U n d alß ich wider anheimbe kommen was, handelt Hanns Frej mit meinen vater und gab mir seine tochter mit nahmen jungHeld, Familienbuch. G N M N , Hs. 2108a, S. 6, gibt an, daß er seine Aufzeichnungen nicht zuletzt auf Anregung Kaspar Sturms und Pangratz Bernhaubts, gen. Schwenter begonnen habe; Köler erklärt, er schreibe sein Familienbuch (GNMN, Hs. 291 o), weil er das Hallersche Geschlechterbuch gesehen habe, vgl. Amburger (Hg.), Köler, S. 205. 78 Nach Angaben von Amburger (s. Anm. 1), S. 192-194, schreibt Köler um 1537 ein erstes Familienbuch und legt 1560 ein zweites an. S. auch die Chronik Stefan Bayrs (s. Anm. 32), mit deren Niederschrift er nach eigenen Angaben (fol. i r )am 1. Mai 1555 beginnt, oder die von Christoph Glockengießer und dessen Nachkommen für den Zeitraum von 15261654 geführten Aufzeichnungen. StaAN, Rep. 52a, Nr. 273, ferner die Chronik der Familie Roggenbach. StaAN, Rep. 52a, Nr. 298, die familiengeschichtlichen Aufzeichnungen im Tagebuch Willibald Schlüsselfelders (verf. 1561). StaAN, Rep. 52a, Nr. 209, und die Familienaufzeichnungen der Dürnho'fers. G N M N Hs. 125096. Signatur nach: Karl Schornbaum, Die Chronik der Familie Dürnhofer, M V G N 55 (1967), S. 171-197. Nach Dieter Wuttke, Die Histori Herculis des Nürnberger Humanisten und Freundes der Gebrüder Vischer, Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter, Köln/Graz 1964 (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte 7), S. 341, ist die Schwentersche Handschrift: Das Erste Buchlein der Bernhaubt Schwenterischen Genealogia - Dar bey ein kurtze anzaygung des Behamerlandes ursprung - 15 ji verschollen. 79
Franz Willax, Zum Problem der Nürnberger Mittelschichten im 15. Jahrhundert. Anmerkungen zu einer Neuerscheinung, M V G N 68 (1981), S. 309-321, hier S. 319; Berndt Hamm, Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg, M V G N 76 (1989), S. 65-147, hier S. 78 und S. 83 Anm. 58. 80 Immerhin merkt Schreyer (s. Anm.41), fol. 142', an, daß er Genannter des Größeren Rates gewesen sei, und schreibt den Wortlaut des Eids nieder, den die Genannten zu leisten hatten. 81 Nützel (s. Anm. 6), fol. i r ;Tetzel (s. Anm. 11), fol. ioov; Spengler (s. Anm. 21), fol. 29'. Dürer selbst hat für seine Mutter deren Vater Hieronymus Holper sowie dessen Frau vermerkt. 2
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fraw Agnes, und gab mir zu ihr 200 fl. und hielt die hochzeit, die w a s am montag vor Margarethen im 1 4 9 4 jar. ( 2 0 8 - 2 1 4 )
Zwar liegt mit dem genealogischen Grundgerüst kein verbindliches Schema vor, aber wenn Dürers Hochzeit mit Agnes Frey, der Enkelin eines Patriziers, tatsächlich so aufsehenerregend war, wie das die Forschung sieht,82 ist es angesichts der damaligen Abgrenzungsbestrebungen des Patriziats auffällig, daß er diese Verwandtschaft nicht erwähnt. Mit diesen Überlegungen möchte ich die Untersuchung der >Familienchronik< vorläufig abschließen. Die Frage nach dem Stellenwert des Textes wird nach der Beschreibung des sogenannten >Bruchstücks aus Dürers Gedenkbuch< wieder aufgegriffen.
3. Das >Bruchstück aus Dürers Gedenkbuch< Das sogenannte >Bruchstück aus Dürers GedenkbuchKreuzenAlter deus< oder Neuer Apelles, M V G N 77 (1990), S. 63-90, hier S. 76, spricht sogar von Dürers »>Versippung< mit dem Patriziat«; ähnlich meint auch Rebel, Maler und Humanist, S. 72, daß Dürer über seine Schwiegereltern »mit dem Patriziat verschwägert« gewesen sei. 83 Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. }6f. 84 Rupprich in der Einleitung seiner Edition, S. 35.
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prichs Schluß auf ein »umfangreiches Gedenkbuch«,85 ein »Denkmal [...], wie das 16. Jahrhundert kaum ein zweites kennt«,86 nicht so zwingend erscheinen, wie er glauben machen will. Manche der Vergleichstexte haben zwar ein Register, in dem Personennamen aufgeführt werden,87 ein Sachregister mit Stichwörtern wie >Geschlecht< ist mir dagegen noch nicht aufgefallen.88 Auch wäre die alphabetische Zählung von Blättern innerhalb einer Lage untypisch. Nimmt man dagegen das g als Lagenmarkierung, also als erstes Blatt der siebten Lage, läßt sich diese Annahme nicht ohne weiteres mit dem Umstand vereinbaren, daß in der Ecke rechts oben die (von Dürer geschriebene?) Zahl 19 oder 59 zu lesen 1st.89 Die Befunde zur Chronologie der Einträge sprechen ebenfalls nicht für Rupprichs Einschätzung des >BruchstücksFamilienchronik< auf das >Bruchstück< (wie ich daß in ein andern buch nach der leng beschrieben hab 22 if.) nicht notwendig entgegen. Selbst wenn die Bezeichnung buch als >größeres Schriftwerk< gemeint sein sollte, könnte sie sich auf ein Buch beziehen, in das Dürer diese Aufzeichnungen zwar eingetragen hat, das aber auch oder sogar in erster Linie anderen Zwecken diente. Das zeigt jedenfalls die Uberlieferung der Vergleichstexte, die mehrfach in Sal-, Rechnungs- oder Kopialbücher einge-
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' Hans Rupprich, Das literarische Bild Dürers im Schrifttum des 16. Jahrhunderts, in: FS für Dietrich Kralik, Horn 1954, S. 218-239, hier S. 239. 86 Rupprich in der Einleitung seiner Edition, S. 8. 87 Z.B. im nachträglich angelegten Register zu Hirschvogels Büchlein (s. Anm. 29). 88 In der Buchhaltung der Zeit sind Buchstabenmarkierungen als Kennzeichnung von Büchern bekannt. Ein Beispiel für eine solche Praxis wäre Ludwig Diesbach, der die verschiedenen, von ihm geführten Bücher mit unterschiedlichen Buchstaben in der zeitlichen Folge ihrer Anlage kennzeichnet. Urs Martin Zahnd, Die autobiographischen Mitteilungen Ludwig von Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raum, Bern 1986, S. 286. Wollte man dem g eine solche Bedeutung zumessen, könnte es sich um das erste Blatt eines Rechnungsbuches gehandelt haben; es müßte dann nach den Regeln der Buchhaltung und nach der geläufigen Praxis das siebte seiner Reihe gewesen sein. Aber diese Indizien sind nicht hinreichend, um eine neue Auffassung zu begründen. 89
Als Lage wird man mindestens zwei, höchstens sechs Doppelblätter anzusetzen haben. Damit kommt man ohne Annahme unterschiedlicher Lagenstärken mit sechs Lagen (A bis F) nicht auf 18 bzw. 58 Blätter.
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tragen sind.90 Auch für Dürers >Bruchstück< ist eine solche Plazierung nach meiner Autopsie der Handschrift durchaus nicht unwahrscheinlich.91 Dem herausgerissenen Blatt des >Gedenkbuchs< hängt nämlich, von Rupprich übersehen, ein Zipfel der anderen Doppelblatthälfte an, auf dessen Rückseite am Zeilenende noch einige Schriftzüge zu entziffern sind: Zweimal sind untereinander die Abkürzungen fl. für Gulden und davor jeweils eine Zahl geschrieben, es handelt sich also offenkundig um die Notierung von Geldbeträgen (s. Abb. i). Man könnte von daher immerhin erwägen, das Fragment in >Bruchstück aus Dürers Rechnungsbuch< umzubenennen. Der Text des vollständig überlieferten Blattes setzt ein: ... begert. A l s o hett jm dy alt fraw awff geholfen, vnd dy schloffhavb awff seinem havbt was jehling gantz nas worden for grossen schweis tropfen. A l s o hett er z w trincken begert. D o hetten sy jm geben ein wenig Reinfell, des hett er gar ein wenig ein genumen, vnd hett wider jn das pett begert, vnd hett jn gedanckt; vnd do er jn das pett kam, hett er von stund an jn dy zwg gegriffen. Als paid hett jm die alt fraw daz licht an geczünt vnd jm sant Pernhartz fersch f o r gesprochen, vnd e sy den tritten gesprach, do was er verschiden. Gott sey jm barmherczig. Und dy jung magt, do sy dy verentrung sach, do luff sy schnell zw meiner kamer, mich weckte, vnd e jch herab kam, do was er ferschiden. Den jch thott mit grossem schmerczen an sach, des jch nit wirdig pin gewesen pey seinem end zw sein. V n d jn der negsten nacht for sant Mathevs abent ist mein vater ferschiden jn dem ob gemelten jor. Der barmhertzig gott helff mir awch zw eim selligen end. Vnd hett mein muter ein betrübte wittwen gelossen, dy er mir albeg grosslich lobett, wie sie so ein frum fraw wer. ( 1 - 2 2 )
Was Dürer in diesem Fragment zum Tod seines Vaters schreibt, geht an Ausführlichkeit weit über den Text der >Familienchronik< hinaus. Ich kenne aus dem Zeitraum von 1450 bis 1550 kaum einen Text, der ähnlich ausführlich über den Tod eines Angehörigen berichtet.92 Man hat wenig Mühe, auch hier anhand der ars moriendi das vertraute Sterbebrauchtum zu sehen. Aus der >Familienchronik< wissen wir, daß der Vater die Sterbesakramente bekommen hatte. Hier wird genauer berichtet, daß die alte Frau93 und die junge Magd, die bei dem Sterbenden wachen sollten, ihm die Sterbekerze angezündet, ihm die Bernhards90
Müller (s. Anm. 9), Tetzel (s. Anm. n ) , Hans Imhoff (s. Anm. 12), Endres I. Imhoff (s. Anm. 13-15) und Michael Behaim (s. Anm. 33). 91 S. Abb. S . 2 . ' z Als Ausnahme aus Nürnberg wären die Angaben Scheurls zum Tod der Appolonia im Familienbuch der Fürer (s. Anm. 71), fol. 19r/v, zu nennen. 9} Ich kann die seit Rupprich, S. 37 Anm. 5, festgeschriebene Auffassung nicht teilen, daß mit alt fraw Dürers Mutter gemeint sei. Ich kenne keine Textstelle, auch keine von Dürer, 9
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ÄS Abb. i: Gedenkbuch, recto-Seite, 311x215 mm; Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz (Kupferstichkabinett)
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verse94 vorgebetet und ihm Wein gereicht haben. Man könnte also sagen, daß Dürer ausführlich darstellt, was sonst auf die Formel des christlichen Todes verknappt ist. Freilich entspricht in dieser Ausführlichkeit nicht alles, was Dürer aufschreibt, der geläufigen Norm. So formuliert Geiler von Kaysersberg in seinem Sterbe-ABC: Pestellen einen getrüwen mönschen Ußerwel einen getrüwen gotzfórchtigen mönschen/ der dir in diner sterbenden not behilflich syg. mit ermanungen. mit vorlesen, mit vorbetten, und dich reitze zu den dingen die einem sterbenden mönschen not sind, und dich tryb/ so du dich selbs vor we und angst nit mee tryben kanst oder magst/ und dine lyplichen fründ me des guts weder dyner seien pflegen werden. 95
Diesen Beistand bekam Albrecht Dürer d.A. jedoch nicht von Familienangehörigen, sondern von zwei Frauen, die vielleicht den Auftrag hatten, Dürer zu wecken, wenn sich der Zustand seines Vaters sehr verschlechtern sollte. Den Umstand, daß er selbst zu spät kommt, wertet Dürer moralisch, er sei nit wirdig (16) gewesen, und nimmt man diese Formel ernst, so weicht er damit dem möglichen Vorwurf eines Versäumnisses aus. In dem anschließenden Aufruf zur Fürbitte ist ein Zweck der Aufzeichnungen, nämlich die Nachfahren auf die cura pro mortuis zu verpflichten, ausgesprochen: O jr all mein frewnt, ich pit ewch vm gotz willen, so jr meins frumen faters ferscheiden lest, jr wölt seiner seil gedencken mit einem Vater vnser vnd A f e Maria, awch fon ewer sell wegen, awff daz, so wir gott dienen, daz wir ein selig leben erberben, vnd eins guten encz willen. Wan es ist nit müglich, der woll lebt, daz er vbell abscheid fon dyser welt; wan gott ist vol barmherczikeit. Durch dy geb vns got noch disem elendem leben dy frewd der ewigen selickeit durch den Vadter, den Sun vnd den Heiligen geist, an anfang und an end ein ewigen regirer. Amen. (23-34)
in der jemand einen Elternteil so bezeichnet. Gängig sind: mein mutter oder mein liebe mutter oder - nach dem Tod der Person - mein liebe mutter selige o.ä. 94 Der deutsche Text der >Bernhardsverse< in: Spätlese des Mittelalters II: Religiöses Schrifttum. Aus den Hss. hg. und eri. ν. Wolfgang Stammler, Berlin 1965 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 19), S. 13Í.; zur volkssprachigen Rezeption Bernhards von Clairvaux s. Werner Höver, Bernhard von Clairvaux, in: VL, Bd. 1,1978, Sp. 754-762. 9! Geiler von Kaysersberg, Sterbe-ABC (s. Anm. 40), S. 106, Regel Nr. 15; s. auch die Vorrede zum >TotenbüchIein< (s. Anm. 40), S. 5: In den todes noten mag er im die grosten fruntschafft bewisen und werck der barmhertzikeit an im erfüllen, das kein grossers ist. und so gros verdienes vor gott geschetzt ist. und zum dickern mol grossers. als ein liplicher dienst der Christo Jesu unserm bebakter in siner eigenen person wer er noch uff ertrich erbotten wurd.
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Dergleichen Gebetsaufrufe sind auch in anderen Texten überliefert.96 Was von der >Familienchronik< abzuleiten ist, daß nämlich der Nachweis der Redlichkeit des Vaters die Familienmitglieder auf die cura pro mortuis verpflichten soll, ist hier ausgesprochen, ebenso, daß die cura pro mortuis auch für denjenigen verdienstlich sei, der sie pflegt.97 Auf der verso-Seite schreibt Dürer ein Ereignis auf, das im Jahr nach dem Tod seines Vaters stattfand: Daz grost wunderwerck, daz jch all mein dag gesehen hab, ist geschehen jm 1503 jor, als awff vil lewt krewcz gefallen sind, sunderlich mer awff dy kind den ander lewt. Vnder den allen hab jch eins gesehen jn der gestalt, wy ichs hernoch gemacht hab, vnd es was gefallen awffs Eyrers magt, der jns Pirkamers hynderhaws sasz, jns hemt jnn leinnen duch. Vnd sy was so betrübt trum, daz sy weinet vnd ser klackte; wan sy forcht, sy müst dorum sterben. (3 5-44) Die Zeichnung darunter gibt schemenhaft die Umrisse von Maria und Johannes unter dem Kreuz wieder (s. Abb. 2). Man ist bis heute ratlos, was man sich unter diesen >Kreuzfällen< vorzustellen hat. Anders als etwa bei Korn- oder Blutregen oder anderen außergewöhnlichen Himmelserscheinungen hat man weder eine naheliegende klimatische Begründung zur Hand noch eine genauere Vorstellung davon, wie dieses Phänomen wirklich aussah. Dabei vermerkt auch der Nürnberger Chronist Heinrich Deichsler diesen Kreuzfall, 98 und auch überregional sind Kreuzfälle und zeitgenössische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen bezeugt.99 96
Schmidt (s. Anm. 59), S. i^zf., mit weiteren Beispielen; vgl. auch Muffels Aufruf (s. Anm. 55) oder Tetzeis testamentarische Bestimmung (s. Anm. 11), fol. 96', man solle von einem Teil des Nachlasses meß lesen mein meiner vorfaren und allen seien im fegfewr zur erlosung. 97 Das wird gedeckt durch die zeitgenössische Sterbelehre. Geiler von Kaysersberg, SterbeA B C (s. Anm.40), S. n o , Regel 27: Tumechtigen undßyssigen dienst bewysen den sterbenden und toten mönschen Biß gern bystendig den sterbenden. Tun gern etwas noch den toten und lieben seien, do mit verdienst du umb got das man ouch dir in dynen tods noten bystendig sin würt. Wenn spricht der herr. Mit waß moß ir werden messen mit der selben wiirt üch ouch wider gemessen. Amen. 98 Heinrich Deichslers Chronik, in: Chroniken, Bd. 11 (s. Anm. 24), S. 545-706, hier S. 662, zum ι. und 26. Mai 1503: Item an sant Walpurgen tag da vieln zu Niirmberg die creutz. Item darnach am freitag vor Urbani da viel aber ain creutz als prait als ein rokenhalm und als lank als eins halben vingers auf ein tuch der saitenmacherin laden aufgepraitet und was gleich gestalt als es wer von öl, und es was vein eben nach der linien als es wer mit vleis geschulten. Zitat auch bei Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 3, S.434. 99 Ein spätes Beispiel ist: Ioco-Seriorum Naturae et artis sive magiae naturalis Centuriae tres: Das ist/ Drey-hundert Nuetz- und lustige Sätze allerhand merckwürdiger Stücke/ von Schimpff und Ernst/ Genommen auß der Kunst und Natur/ oder natürlichen Magia. Benebens einem Zusatz oder Anhang von Wunderdeutenden Creutzen/ Auß R.P. Athanasii Kirchen Soc. Jesu, Diatribe, Frankfurt a.M. 1662. Die von Rupprich, S. 38 Anm. 10, il
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De crucibus, quae in lineis vestibus h o m i n u m nostro apparuerunt tempore% die dieser laut R u p p r i c h im A u f t r a g des E r z b i s c h o f s von M a i n z verfaßt haben soll, ließ sich mit H i l f e der einschlägigen N a c h schlagewerke nicht nachweisen. ,0
° K i r c h e r (ebd.), S.288.
101
Zahlreiche Beispiele in: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 1 7 . Jahrhunderts, B d . 1: D i e Sammlung der H e r z o g - A u g u s t - B i b l i o t h e k Wolfenbüttel, Teil 1: Ethica, P h y s i ca, hg. v. Wolfgang H a r m s und Michael Schilling zusammen mit Barbara B a u e r und C o r nelia K e m p , T ü b i n g e n 1985, z . B . S. 3 7 2 - 3 8 9 , N r . 1 8 2 - 1 9 0 .
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ten festhalten.102 Kennzeichnend für die Inventare ist eine bestimmte Reihenfolge:103 Erst werden die Liegenschaften aufgezählt, dann folgt die bewegliche Habe mit Barschaft, Silber-, Zinn-, Messing-, Kupfergeschirr, Frauenkleidern, Bettgewand und federwath, Leinen, Rüstung, Küchengeschirr und Werkzeug. Legt man dieses Muster zugrunde, so lassen sich daraus Anhaltspunkte für die Datierung von Dürers Vermerk gewinnen. Zunächst kann er die Aufzeichnung erst nach der Rückkehr aus Venedig gemacht haben, weil er die Abzahlung dort gemachter Schulden erwähnt. Da sodann keine Liegenschaft erwähnt wird, Dürer aber 1509 das Haus am Tiergärtner Tor erworben hat, könnte man für die Niederschrift den Zeitraum 1507-09 veranschlagen. Allerdings ist es Dürer um Vollständigkeit offensichtlich nicht zu tun, das möchte ich gegenüber der bisherigen Forschung betonen.104 Zwar gibt er an, daß er Geld verlieh, daß einer seiner Knechte in Rom unter Verlust seines Gutes starb 10 ' und daß er im Zusammenhang mit der Venedig-Reise Schulden zurückgezahlt hat.106 Aus Akten und Urkunden sind jedoch weitere finanzielle Transaktionen von erheblicher Bedeutung zu entnehmen: 1507 löste Dürer die auf dem Haus seines Vaters lastende, jährliche Rente mit 1 i6fl. ab. 107 1509 kaufte er für 275 fl. das Haus in der Zisselgasse'°8 und leitete mit der Zahlung von etwas mehr als 78 fl. die Ablösung der darauf lastenden jährlichen Rente ein,109 die Anfang 1510 durch die Zahlung von weiteren 70 fl. abgeschlossen wurde. 1 1 0 1512 kaufte er einen Gar102
Jürgen U . Ohlau, Neue Quellen zur Familiengeschichte der Spengler. Lazarus Spengler und seine Söhne, M V G N 52 (1963/64), S. 232-255, hier S. 233^ 103 S t A N , Inventarbücher, Nr. 1 (1529). 104 Zumeist wird die Besitzaufzählung als authentische Quelle ernstgenommen. Rohowski, Künstlerlegende, S. 1 1 3 : »Sein größtes Gut ist der Besitz von guter Farbe [...], für einen Maler ein wichtiger und wertvoller Besitz.« Rebel, Maler und Humanist, S. 262, versteht diesen Passus als »Selbstcharakterisierung«. 101 Daß das Kommissionsgeschäft erhebliche Risiken barg, bezeugt eine Bürgschaft. Hans Arnolt bürgt Dürer für die mögliche versawmnus oder verwarlosung seines Bruders, der Dürers Kunst vertreiben soll. Der Eintrag aus dem Gerichtsbuch vom 2 1 . 8 . 1500 bei Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 244. 106 107 108 109 IIC
Vgl. zu den Venedig-Schulden auch S.68. Urkunde ebd., S.226f. Urkunde ebd., S . 2 2 7 f . Eintrag im Ewiggeldbuch, abgedruckt ebd., S. 229. Urkunde ebd., S. 230. Die Preise für Dürers Häuser waren nicht übermäßig hoch, Hausbesitz für Handwerker durchaus gewöhnlich, dennoch wertet Hartmut Boockmann, Nürnberger Maler und Bildschnitzer um 1500 in ihrer sozialen Welt, in: Literatur, Musik und Kunst im Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992, hg. v. dems. [u.a.], Göttingen 1995 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.hist. Kl. 3/208), S. 301-320, hier S. 315: »Käme es nur auf die Häuser an, so würde man die-
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ten, 1 1 1 und 1 5 1 5 bekam D ü r e r von Kaiser Maximilian ein Leibgedinge von jährlich ioofl. bewilligt. 1 1 2 1 5 1 8 zahlte er seinen Bruder Endres für das von den Eltern geerbte H a u s unter der B u r g aus, 1 1 3 und 15 24 kaufte er eine Rente, die nach seinem T o d fortgezahlt werden sollte, für i . o o o f l . 1 1 4 1 5 2 6 löste er mit 2 i 6 f l . weitere auf seinem Haus in der Zisselgasse liegende Rechte a b . " 5 N a c h Dürers T o d 1 5 2 8 wurde sein Vermögen auf rund 6.484fl. geschätzt. 1 ' 6 A u c h w e n n aufgrund des N ü r n b e r g e r Steuergeheimnisses direkte Belege fehlen, kann man doch festhalten, daß D ü r e r sicherlich zu den w o h l h a benden Bürgern N ü r n b e r g s gehörte, 1 ' 7 und selbst wenn er sein Vermögen erst in späten Lebensjahren gemacht hat, spricht alles dafür, daß er bei A b fassung der Passage im >Bruchstück< nicht so unvermögend war, wie der Text glauben machen möchte. N u n könnte man auch hier wieder damit argumentieren, daß D ü r e r eine andere Selbstwahrnehmung gehabt habe. A b e r z u m einen spart Dürer ja geradezu programmatisch aus: W o G e l d im Spiel ist, akzentuiert er den Verlust. F ü r das, w a s er an Hausrat anführt, hätte er nicht einmal Steuern zahlen m ü s s e n . " 8 Z u m anderen betont er, daß er seinen Besitz mit großer M ü h e und von eigener H a n d (47) erworben habe. Dürer aber entsprach noch weniger als sein Vater der Vorstellung v o m Handwerker, der seinen Unterhalt allein mit Handarbeit erwirtschaftet." 9 Vielmehr baute er sei-
se namhaften Nürnberger Meister - Dürer, Stoß, Wirsberger und Behaim den Jüngeren im Hinblick auf ihr Vermögen gewiß weit oberhalb dessen anzusiedeln haben, was ein durchschnittlicher Handwerksmeister erreichen konnte.« S. ferner Michael Toch, Die Nürnberger Mittelschichten im 15. Jahrhundert, Nürnberg 1978 (Nürnberger Werkstükke zur Stadt- und Landesgeschichte 26), S. 156, und Hildegard Weiss, Lebenshaltung und Vermögensbildung des >mittleren< Bürgertums. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Nürnberg zwischen 1400-1600, München 1980 (Zs. f. Bayer. Landesgeschichte, Beiheft 14/B), S. 145-147. 111 Urkunde bei Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S.23if. 1.2 Urkunde ebd., S. 7 9 f. 1.3 Urkunde ebd., S. 232^ 4 " Dürers Brief an den Rat der Stadt Nürnberg vom 17.10. 1524 ebd., S. i09f., und der Eintrag in den Ewiggeldregistern ebd., S. 234^ "'Urkunde ebd., S.2 3 5 f. 116 Das geht aus dem Vergleich Agnes Dürers mit ihren Schwägern vom 9.6. 1530 hervor. Text ebd., S. 238. Der genaue Betrag lautet: 6.484fl., 7 Pfund, 24 Pfennige. " 7 Neben den oben, Anm. 110, genannten Arbeiten: von Stromer (s. Anm. 51), S. 19. " 8 Zur Losungsfreiheit Weiss (s. Anm. 110), S. 17. 119 Zu Dürer als Unternehmer Boockmann (s. Anm. 110), Grote, Vom Handwerker zum Künstler, und Satzinger, Ruhmgedanke und Gattungswahl. S. ferner die Anmerkung Spenglers in der Einleitung zu seinem Inventar von 1529, er habe seine »Besoldung warlich mit harter schwerer arbeit, vleis und mühe verdient«, zit. nach Ohlau (s. Anm. 102), S.236. 35
nen Werkstattbetrieb zu einem florierenden Kommissionsgeschäft aus, dessen Mitarbeiter auf Gewinnmaximierung verpflichtet waren. 120 Die Widersprüche zwischen Dürers Handeln und Schreiben liefern den Schlüssel zum Verständnis der Funktion des >BruchstücksFamilienchronik< läßt sich auch hier auf den Deutungsrahmen der christlichen Lebenslehre verweisen. Dürer fährt fort: Van dem an, an dem vor bestymten dag, als sy kranck ist worden, vber ein jor, do man czalt 1 5 1 4 jor, an einem Erchdag, was der 17. dag jm Meyen, z w u stund vor nacht, jst mein frume muter Barbara Dürerin verschiden crystlich mit allen sacramenten, aws pepstlichem gewalt van pein vnd schuld geabsolfyrt. ( 8 5 - 9 1 )
Diese Angaben zu Todestag, -stunde und Absolution gehen über die herkömmliche Formel hinaus. Es ist die einzige Textstelle, die ich kenne, in der das Einlösen eines Beichtbriefs, eines der späten Institute des mittelalterlichen Ablaßwesens, bezeugt ist. Anders wird man die Formulierung aws pepstlichem gewalt nicht erklären können. Der Beichtbrief, den die päpstlichen Kommissare in ihren Ablaßkampagnen seit dem Ablaß von Saintes 1476 feilboten, versprach dem Käufer die vollständige Lossprechung von Schuld und Strafe jeweils nach der Beichte semel in vita et in mortis articulo, die der Beichtvater bei Einlösen des Briefes vornehmen mußte.122 Dem Beichtenden war dann die sofortige Aufnahme in den Himmel garantiert. Dieser päpstliche Beichtbrief war in Nürnberg während der 1489 beginnenden Kampagne zu erwerben gewesen, wie die Angaben bei Deichsler123 und in den >Etlichen Geschichten^24 belegen. Auch 122
S. die Formulierung in Raimund Peraudis Erklärung seiner neuen Ablaßangebote: Secunda gracia concessa indifferenter omnibus et singulis christifidelibus dictam ecclesiam Xanctonensis visitantibus vel ad illorum arbitrium ad dictam ecclesiam de bonis suis per nuncios ecclesie mittentibus est facultas confessionalis que praeter confessionalia solita dari continet vnum singulare scilicet praeter remissionem semel in vita et in mortis articulo continet remissionem plenariam nedum semel in vita sed totiens quotiens homo verisimiliter dubitai de morte sua. etiam si tunc non moriatur [...]. Ita est inaudita clausula praecipue pro transfretantibus. lsta clausula debetpracticari erga illos qui dicunt se habere confessionalia. Raimundus Peraudi, Summaria declaratio bullae indulgentiarum pro ecclesie Xanctonensi et pro tuitione fidei concessarum, Köln: Ulrich Zell, vor Ende April 1487, fol. 3 r , zit. nach dem Ex. SUB Göttingen, Jus. canon. 290b; Abkürzungen aufgelöst.
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Deichslers Chronik (s.Anm. 98), 2 9 . 9 . - 1 1 . 1 1 . 1489, S. 553^, hier S. 554: Item man gab pergamene brief mit anhangendem roten sigel in einer hiiltzen püchsen, einen umb 70 pfenning. 124 Etliche Geschichten (Verf. Georg Spengler? vgl. Honemann [s. Anm. 5], Sp. 77), in: Chroniken, Bd. 1 1 (s. Anm. 24), S. 7 1 5 - 7 3 3 , hier S. 726: Item darneben und darbei warden auch 37
bei den Kampagnen von 1 5 0 1 - 1 5 0 4 , 1 5 0 3 - 1 5 0 6 und 1 5 0 7 - 1 5 1 0 wird Nürnberg bedacht worden sein. 125 Für die persönlichen, in der Regel auf Latein verfaßten Beichtbriefe verwendete ihr >Erfinder< Raimund Peraudi Vordrucke, in die nur noch Name und Datum einzutragen waren. 126 Solch einen Beichtbrief kann Dürers Mutter besessen haben. Daß Dürer dies erwähnt, ist keine Abschweifung, denn es handelt sich um einen weiteren Beleg für ihren christlichen Tod. Auch andere verzeichnen Beichtbriefe, Ablässe und sonstige kirchliche Gnadenmittel, die jemand erworben hat. 127 Allein steht das Fragment damit, daß hier auch die Einlösung des Beichtbriefs bezeugt wird. Obwohl Dürer mit diesen Angaben - unter Maßgabe der herangezogenen Vergleichstexte - das Notwendige gesagt hat, setzt er noch einmal neu ein, und Rupprich will festgestellt haben, daß dieser Text zu einem späteren Zeitpunkt geschrieben worden ist: 128 Sy hat mir och for jren segen geben vnd den gotlichen frid gewünst mit vili schöner 1er, awff das jch mich vor sünden solt hüten. Sy begert awch for zw trynken sant Johans segen, als sy dan tett. Vnd sy forcht den tot hart, aber sy saget, f ü r gott zw kumen fürchtett sy sich nit. Sy ist awch hert gestorben, vnd jch merckt, das sy ettwas grawsams sach; dan sy fortret daz weichwassr, vnd het doch for lang nit gerett. Also prachen jr dy awgen. Ich sach awch, wy jr der tott zwen gros stos ans hercz gab, vnd wy sy mund vnd awgen zw tet, vnd verschid mit schmerczen. Ich pettett jr for. D o fan hab jch solchen schmerczen gehabt, daz jchs nit aws sprechen kan. G o t sey jr genedig. Item jr meinst frewd ist albeg gewest, von gott zw reden, vnd sach gern dy er gottes. Vnd sy was jm 63. jor, do sy starb. (91-107)
beichtbrief ausgeben, die hielten innen, daß der der sich des obgemehen ablaß teilhaftig het gemacht, im einen beichtvater erwelen möcht, der ine einmal im leben und einmal im tod von allen sünden und schulden und pein und sunst, als oft es zu schulden keme in feilen die dem römischen stul nit vorbehalten wern, entpinden möcht. und umb ein beichtbrief wurden alweg geben 70 dn. und derselben brief wurden ausgeben bei 7000, also daß aus denselben brief en wurden gelöst bei 1960Π. Bernd Moeller, Die letzten Ablaßkampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablaß in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: Lebenslehren und Weltentwürfe, hg. v. Hartmut Boockmann, Bernd Moeller und Karl Stackmann, Göttingen 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 3/179), S. 539-567. " 6 Andreas Röpcke, Geld und Gewissen. Raimund Peraudi und die Ablaß verkündung in Norddeutschland am Ausgang des Mittelalters, Bremer Jahrb. 71 (1992), S.43-80, A n hang Nr. 3: Abdruck eines Beichtbriefs. 127 Schreyer (s. A n m . 4 1 ) , fol. 14 7 , hebt für seinen Vater hervor, daß dieser einen Beichtbrief besessen habe. Muffel (s. Anm. 24), S. 744Í., zählt auf, welche Ausgaben er für sein Seelenheil getätigt habe. In die Geschlechterchronik der Holzschuher, StaAN, Rep. 52a, Nr. 281, findet sich ein Beichtbrief eingeklebt. Ii8 Rupprich in der Einleitung seiner Dürer-Edition, S. 35.
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Insgesamt sind die Aufzeichnungen zum Tod der Mutter noch ausführlicher als die Angaben zum Tod des Vaters. Sie sind lesbar als Katalog obligatorischer Handlungen des Sterbebrauchtums: Segen, letzte Ermahnungen, Weihrauch, Gebete und Absolution. Was diese Angaben jedoch von allen mir bekannten Texten unterscheidet, ist, daß sie einen gewissen Widerspruch zu den artes moriendi dulden. Die Sterbekünste fordern dazu auf, den Tod williglich aufzunehmen und mit geruwtem hertzen,'19 und sie raten zu Gebeten gegen Anfechtungen.130 Dürer hingegen schreibt, daß seine Mutter voller Angst und Schmerzen gestorben sei und daß sie Schlimmes gesehen habe. Ferner verzeichnet Dürer, daß er das Seelenbegängnis für seine Mutter veranlaßt habe, und diese Angabe läßt sich durch das Totengeläutbuch von St. Sebald verifizieren.151 Darauf endet der Nachtrag mit einem Gebet, das die ganze Familie in die Sorge um das eigene Seelenheil mit einschließt: Gott der her verleich mir, daz jch awch ein selichs ent nem, vnd das got mit seinem himlischen her, mein vater, muter vnd frewnd z w meinem ent wollen kumen, vnd daz vns der allmechtig got daz ewig leben geb. Amen. ( 1 0 9 - 1 1 3 )
Mit einem weiteren Nachtrag nimmt Dürer den Tod seiner Mutter noch einmal auf: Vnd jm jrem tot sach sy fill üblicher, dan do sy noch daz leben hett (113—115). 132 In dem zweimaligen neuen Ansetzen zeigt sich die Auseinandersetzung Dürers mit dem Tod seiner Mutter. Man kann diesen weiteren Nachtrag so verstehen, daß doch eine gewisse Spannung besteht zwischen dem Zweck der Aufzeichnungen, der Versicherung über das Seelenheil seiner Mutter, und der Genauigkeit der Aufzeichnungen. Unterderhand werden sie zur Quelle, daß die Forderungen der artes nach einem geruwtem Tod kaum zu erfüllen sind, und sie könnten eine Unsicherheit über die mögliche Ausdeutung ihres harten Todes zurücklassen. Mit dem letzten Satz biegt Dürer das Zuviel, das er durch den ausführlichen Bericht im Hinblick auf die Rechtfertigung der Mutter geboten hat, wie" 9 Geiler von Kaysersberg, Totenbüchlein (s. Anm. 40), S. 7: Ist es das du also mit geruwtem hertzen lydest und treist williglich die pen die du von not wegen sust tragen must, so lasset dir got ah pen und schuld, und gewiß wurst du in gon in das paradis. Anders durch ungedult fielest du in ewige verdamniß. S. ferner Geilers Sterbe-ABC (s. Anm. 40), S. 107, Regel 20. 130 Geiler, Sterbe-ABC (ebd.), S. 108, Regel 21. 131 Nürnberger Totengeläutbücher I. St. Sebald 1439-1517, bearb. v. Helene Burger, Neustadt a.d. Aisch 1961 (Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 13), Nr.6157, S. 192. 132 Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. i, S. 37, im Apparat: »Der letzte Satz mit anderer Feder und Tinte; vermutlich später angefügt.«
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der zurück im Sinne eines de mortuis nil nisi bene: So hart ihr Tod gewesen ist, sie ist schließlich eine friedliche Tote.
4. Schluß Dürers >Familienchronik< und >Gedenkbuch< sind gemeinhin als Zeugnisse seiner Identitätssuche verstanden worden. Sowohl die Tatsache, daß er sich Aufzeichnungen über seine Familie angelegt hat, wie auch den Umfang hat man als »literarisch-biographische >SelbsterfassungPersönlichkeitsentwicklung< des europäischen Menschen'35 nachzuzeichnen, und solche Texte wie die hier vorgestellten als >Selbstbiographie< des 15./16. Jahrhunderts an den Anfang einer Tradition gestellt, die in der literarischen Autobiographie des aufgeklärten Bürgertums ihren Zielpunkt finde.'36 Horst Wenzel, der die autobiographischen Schriften< des Spätmittelalters wieder ins Blickfeld der Forschung gerückt hat, kritisiert Misch nur insofern, als dieser die Texte zu bloßen Vorläufern herabgestuft und nicht als »historisch sich verändernde^] Formen biographischer Sinnkonstitution« anerkannt habe.'37 Damit werden die Texte jedoch nur scheinbar ins Recht gesetzt, denn auch für Wenzel sind sie letztlich Zeugen des Burckhardtschen Persönlichkeitskonzepts: Ein »Bedürfnis nach >persön133 134
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Löcher, Dürer als Schriftsteller, S. 275. Ernst Ullraann in der Einleitung seiner Teil-Edition: Albrecht Dürer. Schriften und Briefe, Leipzig '1989, S. 5; Rohowski, Künstlerlegende, S. 1 1 5 , versteht diese Texte als »Erinnerungsbücher an die familiäre Vergangenheit«. Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum, Leipzig/Berlin >1931, S . 1 - 9 . Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 4/2: Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1969. Horst Wenzel, Zu den Anfängen der volkssprachigen Autobiographie im späten Mittelalter, Daphnis 13 (1984), S. 59-75, hier S.65; s. auch ders., Die Autobiographie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2 Bde, München 1980 (Spätmittelalterliche Texte 3 und 4); ders., Autobiographie und Reisebeschreibung, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 2: Von der Handschrift zum Buchdruck: Spätmittelalter, Reformation, Humanismus, hg. v. Ingrid Bennewitz und Ulrich Müller, Hamburg 1991, S. 166-179.
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licher< Identität« bringe die »generelle Disposition zur biographischen Selbstinterpretation« mit sich.' 38 Daneben mehren sich seit einigen Jahren kritische Stimmen, die anraten, die Tragfähigkeit des Individualitätskonzepts für die autobiographischen Mitteilungen neu zu prüfen.' 39 Daß diese Vorschläge bei den Interpreten der familiären Aufzeichnungen Dürers bislang keine Resonanz gefunden haben, mag mit ihrer Perspektive auf Dürers Gesamtwerk zusammenhängen, für das der Interpretationsschlüssel >Individualität< nun einmal festgeschrieben scheint. Dagegen hat die vorliegende Textanalyse gezeigt: Der vorherrschende Zug von Dürers familiären Aufzeichnungen ist nicht ihre Individualität, sondern ihre Konventionalität. Dies läßt sich behaupten, obwohl nicht zu übersehen ist, daß Dürers Texte sich in den konventionellen Mustern nicht erschöpfen. Gerade im >Bruchstück< wird ein Ungenügen an den überkommenen Formeln familiärer Schriftlichkeit deutlich. Die außergewöhnliche Ausführlichkeit seiner Angaben zum Tod von Vater und Mutter korrespondiert mit der Genauigkeit seiner Welt- und Naturbeobachtung, die in seinen Skizzen vielfältig bezeugt ist, und sie mag von daher begründet sein. Gleichwohl stehen auch diese Aufzeichnungen unter der primären Zwecksetzung, das gute gedechtnus zu sichern, die tendenziell einer Artikulation von Individualität entgegensteht. Das zeigt sich gerade darin, daß die Momente subjektiver Brechung wieder zurückgenommen werden, und darin, daß die Texte Widersprüche zwischen realem Handeln und christlicher Ethik zugunsten der Norm vermitteln. Dieses Verständnis ist im Fall Dürers von besonderem Interesse, weil Dürer mit seinen familiären Aufzeichnungen Formen pragmatischer Schriftlichkeit aufgreift, wie sie vor allem aus der Nürnberger Oberschicht seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts überliefert sind. Daß es auch in der Mittelschicht üblich gewesen sei, sich solche Aufzeichnungen anzulegen, ist zwar nicht auszuschließen, für das erste Viertel des 16. Jahrhunderts aber nicht zu belegen. 140 Dürer nähme also in dieser Hinsicht durchaus eine Schwellenposition ein. Umso überraschender ist, daß in seinen Texten kein Aufsteigerbewußtsein artikuliert wird.
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Wenzel, Zu den Anfängen (ebd.), S.62 u. S.75. Zahnd (s. Anm. 88), S. 342-344; Hans Rudolf Velten, Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1995 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29), S. 2Í. 140 Die Chancen für die Uberlieferung der mitunter in Rechnungs-, Kopial- und Salbüchern marginal überlieferten Texte sind bei Abriß der Familientradition als sehr gering zu veranschlagen.
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Die Anbindung von Dürers Texten an die familiäre Schriftlichkeit der Nürnberger Oberschicht läßt eine weitere Frage hervortreten, die nicht einfach zu beantworten ist: die Frage nach dem von Dürer für diese Texte angezielten Adressatenkreis. Denn Dürer hatte zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner >Familienchronik< keine direkten Nachkommen. Ein weiterer familiärer Rahmen war jedoch gegeben. Seine Brüder Hans und Endres lebten noch, und von Endres wissen wir, daß er in Nürnberg verheiratet war und zwei Stieftöchter hatte. Des weiteren war seine Schwägerin Katharina mit Martin Zinner verheiratet. 141 Sollte die >Familienchronik< tatsächlich als Hilfe für die familiäre Memoria gedacht gewesen sein, so ist immerhin auffallend, daß Dürer ihre möglichen Träger, die Verwandtschaft, nicht weiter erwähnt. Wer, wenn nicht die Familie, wäre als Adressat dieser Texte denkbar? Eine mögliche Antwort ergibt sich aus dem Umstand, daß Dürer 1524 beim Nürnberger Rat für i.ooofl. eine Rente gekauft hat. Die jährlichen Zinsen von 50fl. seien, so begründet er in einem Schreiben an den Rat, als Altersvorsorge für seine Frau und ihn gedacht, 142 und tatsächlich ist das Geld nach Dürers Tod 1528 an Agnes Dürer bis zu ihrem Tod ausgezahlt worden. 143 Einem erhaltenen Exzerpt aus Agnes Dürers Testament ist nun zu entnehmen, daß sie verfügt hatte, daß die jährlichen Zinsen nach ihrem Tod zunächst ihrer Schwester Katharina ausgezahlt werden sollten. 144 Nach deren Tod sollte das Ewiggeld in ein jeweils fünfjähriges Stipendium für einen Theologie studierenden Handwerkersohn verwandelt werden. 145 Nun läßt sich freilich nicht beweisen, daß Agnes Dürer das Geld auch im Sinne ihres Mannes angelegt hat - ein Testament Dürers ist nicht erhalten-, aber unwahrscheinlich ist das auch wieder nicht. Jedenfalls ist
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S. den Stammbaum im Albrecht Dürer-Katalog 1971, S. 28f., und Gerhard Hirschmann, Albrecht Dürers Abstammung und Familienkreis, in: Dürers Umwelt, S. 35-55, hier s. 5 4 f. Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 110. Dürer fordert, daß man ihm aufgrund seiner besonderen Verdienste und seiner Bedeutung als Wirtschaftsfaktor für die Stadt einen höheren Zinssatz für das Ewiggeld, nämlich 5% statt der üblichen 2% bewilligen solle, und den hat er auch bekommen (vgl. ebd., S. 234: Eintrag im Ewiggeldbuch). Boockmann (s. Anm. n o ) , S. 317, irrtümlich anders. Wenngleich der Zinssatz 1534 von den Dürer bewilligten 5% auf 4% gesenkt wurde, vgl. Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 234. Das hier interessierende Exzerpt ist als Anlage zu den Ewiggeld-Registern erhalten und ebd., S. 234Í., abgedruckt; ein weiteres Exzerpt aus Agnes Dürers Testament aus dem Auszugsband der Nürnberger Testamente, den Rupprich offenkundig nicht gekannt hat, ist abgedruckt bei Hirschmann (s. Anm. 141), S. 49Í. Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 235 Anm. 9: »Die Spuren der Stiftung lassen sich im Nürnberger Staatsarchiv bis zum Jahre 1634 verfolgen.«
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die Anlage als Ewiggeld eine übliche Form der Stiftungsfinanzierung,146 und gerade kinderlose Paare scheinen auf dem Weg einer Studienstiftung oftmals für ihr gedechtnus gesorgt zu haben.'47 Möglicherweise hatten Dürer und seine Frau beim Kauf der Rente bereits im Blick, daß das Geld in eine Stiftung einmünden werde. Damit ist es immerhin eine Überlegung wert, ob die >Familienchronik< als Material für einen späteren Stiftungsempfänger geschrieben worden sein könnte. Allerdings läßt sich dies nicht durch Parallelfälle untermauern. Besser sieht es mit der Beleglage für einen anderen Erklärungsansatz aus. Er ergibt sich aus dem Umstand, daß Dürer nur zu gut um ein außerfamiliäres Interesse an seiner Herkunft wußte. Das zeigen Äußerungen Christoph II. Scheurls. Nachdem Jakob Wimpfeling in seinen >Epithoma rerum Germanicarum usque ad nostra tempora< von 1505 Dürer erwähnt und zu einem Schüler Schongauers erklärt hat,148 stellt der Nürnberger Ratskonsulent diese Vereinnahmung durch den Elsässer in seiner Schrift >Vita reverendi patris domini Anthonii Kressen> von 1515 richtig und beruft sich auf besseres Wissen: Caeterum Albertus ad me, hoc significantem, scribit, saepe etiam coram testatur, patrem Albertum, is ex vico Cula prope Varadium, civitatem Hungariae, natus erat.149 Will man die Wendung nicht als rhetorisches Mittel abtun, hätte Dürer ihm mehrfach mündlich und schriftlich Angaben zu seiner Herkunft gemacht. Demnach scheint es möglich, daß die >Familienchronik< als Material für einen späteren Biographen gedacht war. Nicht allein Scheurl hat solche Informationen über Dürer publiziert. Auch der von Dürer mit der lateinischen Ubersetzung seiner >Proportionslehre< beauftragte Joachim Camerarius greift auf solche Kenntnisse in seiner kurzen Dürer-Biographie zurück, die er dem 1532 erschienenen Druck der ersten beiden Bücher vor-
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Konrad Kunhofer, der vermeintlich erste bürgerliche Studentenmäzen in Nürnberg, setzte per Testament Ewiggeldzinsen für eine Studienstiftung ein, desgleichen Christoph II. Scheurl im Jahr 1537. Sebald Schreyer hatte verfügt, daß von den Zinsen seines Ewiggeldes eine Kaplanstelle finanziert werden sollte. Alle diese Angaben bei Bernhard Ebneth, Stipendienstiftungen in Nürnberg. Eine historische Studie zum Funktionszusammenhang der Ausbildungsförderung für Studenten am Beispiel einer Großstadt (1 $.-20. Jahrhundert), Nürnberg 1994 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 52), S. 2of. und S. 155.
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Für Nürnberg will Ebneth (ebd.) ausmachen, daß Agnes Dürer die Reihe der bürgerlichen Studienförderungen kinderloser Frauen eröffnet habe (S. 114f.). Der entsprechende Abschnitt bei Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 290. >Oft hat Albrecht mir, dies bedeutend, geschrieben, oft auch hat er mir gesagt, daß sein Vater aus dem Dorf Cula bei Varadium in Ungarn geboren sei.. .< Lat. Zit. nach dem Textausschnitt ebd., S. 294.
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anstellt.1'0 Die >Familienchronik< wäre dann als ein Beitrag Dürers zu den zahlreichen Bemühungen seiner Nürnberger Freunde und Bekannten zu verstehen, ihn als größten Maler der Epoche, als alter Apelles, einer literarischen Öffentlichkeit bekannt zu machen.1'1 Aber vielleicht ist der Rahmen damit schon zu eng gesteckt. Denn es hat den Anschein, als habe es in Nürnberg in einem gewissen Rahmen eine Abschreibepraxis für Texte wie die von Dürer gegeben. Manche der vorgestellten Vergleichstexte sind in Abschriften überliefert, manche konnten offensichtlich eingesehen oder exzerpiert werden. 1 ' 2 Diese handschriftliche Öffentlichkeit scheint - wie ja auch die Verbreitung der Texte nahelegt - bis ins erste Viertel des 16. Jahrhunderts auf die Oberschicht beschränkt. Ich halte es trotzdem nicht für ausgeschlossen, daß Dürers Text seinen Weg in diese exklusive Öffentlichkeit fand. Es gibt zahlreiche Belege für seine exzeptionelle Wertschätzung durch das Patriziat.1'3 Das Dürer-Konvolut (mit Inhaltsangabe der >FamilienchronikMemorial< Endres I. Tuchers bis 1440 ist im Original verloren, aber in einer von Christoph II. Scheurl veranlaßten Abschrift überliefert (Nürnberg, Scheurl-Bibliothek, Collectaneenbd. F, fol. 39 v -4é v , ié. Jh.). Das Familienbuch Konrad Baumgartners 1402-1464 ist ebensfalls nicht im Original, sondern nur in drei Abschriften überliefert (Abschr. aus dem 17. Jh.: G N M N , Hs. 16583). Zur Einsichtnahme vgl. Amburger (Hg.), Köler; vgl. auch den Hinweis auf die Kopie der F a m i lienchronik vom Dürerschen Manuscript in der Handschrift S t B N Will N o r 915b, S. 51. Die Belege im einzelnen erstmals bei Grote, Vom Handwerker zum Künstler.
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G N M N Hs.94045: Konvolut von Christoph Kreß, das neben einer Inhaltsangabe der >FamilienchronikNachrichten über Nürnbergische Künstler und Handwerker von 1547. 1 " Diese Informationssammlung war von vornherein nicht für die Verbreitung durch den Druck bestimmt, sondern in »einer Unzahl Abschriften mit allerlei Einschaltungen und Nachträgen«1'6 in Nürnberg verbreitet. Wenn nicht alles täuscht, hat Neudörfer für den Passus über Dürer sogar die >Familienchronik< oder ein vergleichbarer Text vorgelegen,1'7 und es ist von daher nicht erstaunlich, daß eine von vier Abschriften der >Familienchronik< im Zusammenhang mit Neudörfers >Künstlerleben< überliefert ist.1'8 Unabhängig davon, ob Dürer die Texte für Abschriften außer Haus gegeben hat, wie man für die >Familienchronik< annehmen könnte, oder ob die Informationen erst mit seinem Nachlaß zugänglich werden sollten, wie es für das >Bruchstück< denkbar scheint, hat die Annahme einiges für sich, daß diese Aufzeichnungen von vornherein unter dem Eindruck einer interessierten Öffentlichkeit entstanden. Vor diesem Hintergrund erscheint besonders bemerkenswert, daß Dürer dieses Interesse nicht mit der Stilisierung zum alter Apelles oder zum sozialen Aufsteiger bedient, sondern mit einer sozialen Zuordnung, die in dieser Eindeutigkeit seiner erworbenen Stellung nicht mehr entspricht: mit der Zuordnung zum Handwerk.
' " J o h a n n Neudörfer, Nachrichten von Künstlern und Werkleuten, hg. v. G . W . K . Lochner, Wien 1888; Neudörfers Text liegt in der bereits genannten Hs. S t B N Will N o r III 915b 2° vor. Diese Redaktion ist mindestens zu Dürer um weitere Nachrichten (wie die Abschrift der >FamilienchronikTagebuch der Reise in die Niederlandes z.B.S. 160, 95Í.; S. 164, 2 if. Die Briefe werden unter Angabe von Nr. und Zeile nach Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, zitiert.
2
Aus den Hinweisen auf einen umfangreichen Briefwechsel Dürers läßt sich also nicht ohne weiteres - wie Löcher, Dürer als Schriftsteller, S. 272 - auf ein besonderes »Mitteilungsbedürfnis« Dürers schließen. 3 Beat Rudolf Jenny, Die Amerbachkorrespondenz. Von der humanistischen Epistolographie zur bürgerlichen Briefstellerei, in: Der Brief im Zeitalter der Renaissance, hg. v. Franz Josef Worstbrock, Weinheim 1983 (Mitteilung 9 der Kommission für Humanismusforschung der D F G ) , S. 204-225, hier S. 215. 4 Erhalten sind nur ein Brief von Caritas Pirckheimer an Dürer, Kaspar Nützel und Lazarus Spengler (Nr. 27, S. 8of. [Abschr.]) sowie je ein Schreiben von Cornelius Grapheus (Nr. 52, S. 108) und Nikolaus Kratzer (Nr. $4, S. 1 1 1 ) . * Die Briefe an Pirckheimer (Nr. 1 - 1 0 ) wurden zusammen mit einem Teil des handschriftlichen Nachlasses Pirckheimers in einer Hauswand wiederentdeckt. Der Amerbach-Brief (Nr. 1 1 ) blieb im Rahmen der Amerbach-Korrespondenz erhalten. Von den Heller-Briefen (Nr. 12-20) wurden Abschriften im Zusammenhang mit einer Kopie des Heller-Altars angefertigt (Rupprich [Hg.], Dürer, Bd. 1, S. 39 und S. 6if.).
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Die Verringerung ergibt sich daraus, daß hier die Widmungsvorreden mitsamt den erhaltenen Entwürfen dazu als eigene Textsorte im fünften Kapitel untersucht werden.6 Nicht mitgerechnet sind auch die Quittungen, die Dürer der Stadt Nürnberg über die Auszahlung seines jährlichen Leibgedinges ausgestellt hat und die für die Jahre 1521 und 1523-1527 erhalten sind.7 Zwar wären diese Urkunden unter Maßgabe des historischen Begriffs der Textsorte >Brief< mit einzubeziehen,8 für diese Arbeit fallen sie jedoch nicht ins Gewicht, weil sich Dürer - laut Rupprich - die erste der Quittungen von einem Schreiber anfertigen ließ und auf dieser Grundlage die folgenden Quittungen selbst erstellt hat. Der gleiche Vorbehalt gilt gegenüber den beiden von Dürer abgeschriebenen Entwürfen für die Bestätigung von Leibgedinge und einmaliger Gratifikation, die der Kanzlei Karls V. als Vorlage dienen sollten.' Ferner können hier die von Rupprich unter die Briefe gerechneten Briefanfänge vernachlässigt werden: Liber Farnbuhle, Meinfreuntlichen grus zw vor, liber h[er] Zacharias Gros und Lieber her Wilhelbem Haller. Jch pitt vch, jr wollt pis sunntag zw nocht de ... 10 Diesen Fragmenten lassen sich mögliche Adressaten und zumindest der Vorsatz zum Briefeschreiben entnehmen. Darüber hinaus kann man diese in den Dürer-Autographen der British Library, London, überlieferten Briefanfänge als Indiz dafür deuten, daß Dürer Konzepte oder Abschriften seiner Briefe anfertigte, wie es kaufmännischer Schreibpraxis um 1500 entsprach.11 Weitgehend außen vor bleiben in dieser Untersuchung zum Umgang mit den formalen Eigenheiten der Gattung Brief auch die innerhalb Nürnbergs verschickten, gänzlich verknappten Mitteilungen an Wolf Stromer und Michael Behaim.12 Für das hier herangezogene Textcorpus wurde bereits festgehalten, daß Dürer sich meistens »an die Regeln des konventionellen Briefverkehrs« hält.' 3 Dazu gehört etwa, daß er seinen Brief an den Drucker Johannes
6
Nr.42-49, S.97-106; Nr. 58, S. 1 1 4 L ; Nr.64, S. 1 2 1 ; Nr.69, S. i z j f . Nr. 38, S.93; Nr. 50, S. 106; Nr. 55, S. 1 1 2 ; Nr. 57, S. 1 1 4 ; Nr. 60, S. 1 1 8 ; Nr. 63, S. 1 2 1 . 8 D W b Bd. 2, 1800, Sp. 379Í.: >BriefFormulare und deutsch RhetoricaFormulare und deutsch RhetoricaBegrifflichkeit< erhebt.32 Rohowski sieht in den Heller-Briefen
19
Otto Cornili, Jacob Heller und Albrecht Dürer. Ein Beitrag zur Sitten- und Kunst-Geschichte des alten Frankfurt a.M. um 1500, Frankfurt a.M. 1871 (Neujahrs-Blatt des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde zu Frankfurt a.M. für das Jahr 1871); Annette Pfaff, Studien zu Albrecht Dürers Heller-Altar, Nürnberg 1971 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 7); Wolfgang Schmid, Stifter und Auftraggeber im spätmittelalterlichen Köln, Köln 1994 (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums i l ) , S. 436-479.
30
Schmid (ebd.), S.448; Satzinger, Ruhmgedanke und Gattungswahl, S. io5f.; Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Augsburg 1923, S. 27. Satzinger, Ruhmgedanke und Gattungswahl, S. 1 1 1 . Schmid (s. Anm. 29), S. 4 51 ; vgl. auch S. 493.
31 3J
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Dürers »Anspruch auf Perfektion und ihre Grenzen im Prozeß des Machbaren« formuliert.33 Daß Dürers Argumente Züge einer Grundsatzdiskussion um Kunst zeigen, sei unbestritten. Doch geht die folgende Beschreibung des Briefwechsels von der Annahme aus, daß diese Argumente von Dürer vor allem im Dienst seines Geschäftsinteresses vorgebracht werden. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt neuerdings Rebel. Indem er Dürer abschließend »Unsicherheit im Geschäftsstil« bescheinigt,34 gibt er jedoch zu erkennen, daß er die Raffinesse des Dürerschen Verhandlungsgeschicks nicht vollständig durchschaut hat. Die neun Briefe, die Dürer im Zeitraum vom August 1507 bis zum Oktober 1509 an Heller sandte, sind in Abschriften überliefert.35 Wenn man die Texte unter streng formalem Aspekt betrachtet, sind sie nicht vollständig, denn ihnen fehlt durchgängig die Adresse, die üblicherweise auf die Außenseite des Briefbogens geschrieben wurde. Möglicherweise ließ der Abschreiber die Adressen als unbedeutend weg. Was den übrigen Brieftext betrifft, gehe ich jedoch davon aus, daß der ursprüngliche Textbestand einschließlich der Eingangs- und Beschlußformeln bei den Abschriften erhalten blieb. Mit seinem ersten Schreiben vom 28. August 1507 antwortet Dürer auf einen Brief Hellers, in dem dieser wahrscheinlich nach dem Stand der Arbeit gefragt hatte. Dürer schreibt, ein Fieber habe zunächst den Fortgang seiner Arbeit für Friedrich den Weisen (die >Marter der zehntausend Christen) um Wochen verzögert, und erst nach deren Fertigstellung werde er mit Hellers Tafel beginnen. Dabei bezieht er sich auf eine in Nürnberg getroffene mündliche Vereinbarung (als ich euch hie zusagte 12,12). Es folgt ein Bericht über die bisherigen Arbeitsschritte: Die Tafel habe er gegen das von Heller zu diesem Zweck überantwortete Geld vom Schreiner abgeholt und sie dem Zubereiter gegeben, der sie geweißt und gefärbt habe und in der nachfolgenden Woche vergolden werde. (Nach Rupprich, Anm. 6, bezieht sich das Färben und Vergolden nur auf den Rahmen.) Daß er erst das Bild für Friedrich den Weisen abschließen und also noch nicht mit Hellers Bild anfangen werde, begründet Dürer sodann mit seinem Arbeitsverhalten : Dan ich fang nitgehrn zuuielmit einander an, vf das ich nit 33 34 3!
Rohowski, Künstlerlegende, S. 51. Rebel, Maler und Humanist, S. 260. Nr. 1 1 - 2 0 , S. 64-73. Die Abschriften der Briefe sind zwar heute verschollen, sie lagen aber noch Cornili (s. Anm. 29) vor, und auf seine Ausgabe stützen sich (laut Rupprich) die meisten späteren Editionen. Zur Geschichte der Abschriften Pfaff (s. Anm. 29), S. 1 - 3 , und Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. i , S. 61-64.
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verdrossen werde (12, 22-24). Obendrein bringt er die Autorität des Fürsten mit ins Spiel: So hat der fürst kein bitt, daß ich sein vnd euer taffei mit einander hett machen mögen, alß ich mir fürnamh (12, 24-26). Dieser Hinweis könnte ein Indiz dafür sein, daß auch für Heller zum Zeitpunkt des Vertrags nicht klar war, wann Dürer mit der Tafel beginnen würde. Am Ende bleibt Heller nur Dürers Versicherung: Aber noch zu ainem guten trost wisset, also viel mir gott verleiht nach meinem vermögen, wil ich noch etwaß machen, das nit viel leut khönnen machen (12, 26-29). Den zweiten Brief schreibt Dürer mehr als ein halbes Jahr später, am 19. März 1508. Anlaß des Schreibens ist, daß er Heller die Fertigstellung der Arbeit für Friedrich den Weisen binnen der folgenden zwei Wochen in Aussicht stellen kann. Er werde dann Hellers Arbeit genauso vorrangig behandeln: Nachvolgent wil ich euer arbeit auch anfangen zu machen, vnd auch kein ander gemähl machen, biß daß sie fertig, alß den mein gewohnheit (13, 2-5). Dürer hält noch einmal fest, daß er die mittlere Tafel selber malen werde, und berichtet, daß die Flügel bereits entworfen seien. Heller, so wünscht er, müßte das Gemälde für Friedrich den Weisen sehen können, es würde ihm sicherlich gefallen. Freilich sei das Preis-LeistungsVerhältnis schlecht: Für nahezu ein Jahr Arbeit gebe es nur 280fl. Lohn, einen Betrag, der kaum die laufenden Kosten decke. Daß diese Äußerung durchaus als Hinweis für Heller gedacht ist, macht der Anschluß deutlich, in dem Dürer betont, daß er nur ihm zu sondern gefallen (13,16) die Tafel mache. Und Dürer unternimmt einen weiteren Anlauf, um Heller vor Augen zu führen, daß die Annahme seines Auftrags eine besondere Gunst ist. Niemand sonst werde ihn zu einer weiteren Auftragsarbeit überreden können, zumal er nicht darauf angewiesen sei, im Gegenteil: Den ich versaumh mich an bessern dadurch (13,18). Mit seinem nächsten Brief vom 24. August 1508 antwortet Dürer auf ein Schreiben Hellers. Dieser Brief läßt nicht erkennen, daß Heller auf Dürers Winke, wie sehr er begünstigt sei, eingegangen wäre. Jedoch ist zu ersehen, daß Heller eigene Ansprüche formuliert hatte, die sich auf die Anzahl der Untermalungen und die Qualität des zu verwendenden Ultramarins bezogen. Man kann annehmen, daß Heller nun, wo es an den Beginn der Arbeit ging, auf die Einhaltung von Ubereinkünften pochte oder präzisierte, was offengeblieben war. Dürer will nun den Brief Hellers in ganz bestimmter Weise verstehen: D e n ich hob in willen, so ich euer mainung verstehen wirdt, etlich 4 oder 5 und 6 mahl zu vndermalen, von rainigkeit und bestendigkeit wegen, wie auch deß besten vltermarin daran mahlen, das ich zu wegen kan bringen ( 1 4 , 1 1 - 1 6 )
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Ein solches werckh ( 14,21 ) aber sei für den Preis von 13 o fi. nicht zu haben. Für das ausgemachte Geld könne er Heller eine Tafel machen, die immer noch besser sei als der vereinbarte Lohn, für 200fl. jedoch könne er Hellers Wünschen Folge leisten. Dürer beteuert weiter, daß er selbst für 400 fl. solch eine Arbeit eigentlich nicht übernehmen wolle, weil er nichts daran verdiene. Im übrigen gefalle keines seiner Werke ihm selbst so gut wie die für Heller angefangene Tafel. Die soeben vorgestellte Argumentation zielt vor allem auf eines ab: Hellers Ansprüche sollen als neu gekennzeichnet und im brieflichen Zwiegespräch als Revision der ursprünglichen Vereinbarung etabliert werden, um nun von Seiten Dürers einen neuen Preis zu rechtfertigen. Mit dieser Taktik hatte Dürer allerdings noch keinen Erfolg, wie aus dem nächsten Brief vom 4. November 1508 hervorgeht. Dürers ausführliches Referat der Antwort Hellers zeigt, daß Heller auf die ursprüngliche Abmachung Bezug genommen und die Preissteigerung als Verstoß dagegen verstanden hatte: Lieber herr Jacob Heller! J c h hab euch z u m negsten ein erbare vnuerweißliche mainung geschrieben, dessen ihr euch in zorn beclagt gegen meinen Schwager, 36 euch hören lassen, ich verkhore meine wort. H a b auch deßgleichen seithero vom Hanssen Im H o f f euer schreiben empfangen, darin ich billicher befrembdung nembe wegen meines vorigen brief. D e n ihr zeugt mich, euch werde mein zusagen nit gehalten. Bin solches von meniglichen vertragen, den ich halt mich, das ich auch andern redlichen leiten gemeß bin, schätze ich. ( 1 5 , 1 - 1 1 )
Heller hatte in seinem Brief auf die mündliche Zusage gepocht, daß Dürer etwas Gutes hätte machen und seinen allerhöchsten Fleiß daran wenden wollen. Zwar hält Dürer unter Bezug auf Heller spitzfindig dagegen: Vnd ihr wist, das ich euch in meines schwagern haus nit wolte zusagen, etwas guts zu machen, auß der vrsach, das ich s nit kan (15,12-15). Allerhöchsten oder auch nur großen Fleiß hätte er nicht zugesagt: Das hab ich frey lieh nit gethan, ich sey den vnsinnig gewest (15,45^), weil er unter solchem Maßstab nie fertig würde. Aber diese Belehrungen nehmen sich doch eher aus wie Versuche einer Ehrenrettung, als daß sich in diesen Zeilen Dürers Künstlerethos manifestiert.37 Die Beliebigkeit seiner Argumentation er36
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Es ist umstritten, wer sich dahinter verbirgt. Als Verwandte kämen Dürers Schwiegervater Hans Frey (so Lochner, Personen-Namen, S. 16) oder Dürers Schwager Martin Zinner (so Rupprich [Hg.], Dürer, Bd. 1, S.68 Anm. 16) in Frage. Rupprich hält aber auch für möglich, daß ein unbekannter Verwandter Dürers gemeint ist oder Martin Kaldenbach oder Grünewald. S. Rohowski, Künstlerlegende, S. 5 if., oder Schmid (s. Anm. 29), S. 4Jof., hier S. 451: »Wichtig erscheint dabei vor allem, daß Dürer bezüglich seines Fleißes differenzierte: Er kannte allerhöchsten fleiß, großen fleiß sowie guten oder besonderen fleiß. Dürers Briefe 54
weist sich insbesondere dadurch, daß er noch im vorangegangenen Brief versprochen hatte, etwas >Gutes< zu machen, nun aber kategorisch die Möglichkeit bestreitet, derartiges leisten zu können.'8 Dürer versucht nochmals, sein Ansinnen aus dem Schreiben Hellers herzuleiten: Gedenckht of ft euers schreibens materien halben (15, 36f.), und er begründet: Vnd darumb, lieber herr Jacob Heller, ist mein schreiben nit so garauß der weiß, als ihr meint (15,4of.). Doch diesen nachgeschobenen Erklärungen zum Trotz tritt Dürer den Rückzug an: Aber nichts desto minder, ihr thut jhm, wie ihr wolt, so wil ich euch halten, was ich euch zugesagt hab. Den ich will, sofern ich kann, von iederman ohne nachredt sein (15,59-62). Ob Hellers harte Reaktion mit dem Vorwurf des Vertragsbruchs taktische Überlegung oder aufrichtige Empörung war, ist nicht zu entscheiden. Dürer jedenfalls kann sein Nachgeben mit der Sorge um den eigenen Ruf begründen. Ihm bleibt die Hoffnung, daß sich alles zum besseren wenden werde, wenn das Bild erst einmal fertig sei ( 15,6 5-67), und daß Heller eine seinem Schwager gemachte Zusage einhalten werde (15, 69-71). Letzteres könnte sich darauf beziehen, daß Heller sich die Entscheidung vorbehalten hatte, das Bild bei Gefallen doch noch höher zu bezahlen.39 Mit dem fünften Brief vom 21. März 1509 antwortet Dürer wiederum auf Heller, der nochmals die Qualität der Farben angemahnt und etwas über den Stand der Arbeit hatte erfahren wollen. Dürer lobt sein Werk und fordert Heller zur Geduld auf. Erneut klagt er über das zu seinen Ungunsten ausfallende Preis-Leistungs-Verhältnis. Falls Heller die Tafel mißfalle, wolle er sie behalten, zumal es bereits einen Kaufinteressenten gebe. Diesem Angebot zum Trotz wolle er aber die Heller gemachte Zusage einhalten, und er hoffe, daß Heller seinerseits seine (wiederum nicht genauer bezeichnete) Zusage befolgen werde. Im sechsten Brief vom 10. Juli 1509 kann Dürer wieder eine Gelegenheit nutzen, den Vertrag mit Heller in Frage zu stellen. Er nimmt auf ein schreiben ( 1 7 , 1 ) Hellers an Hans Imhoff Bezug, das er hatte lesen können oder sollen. (Es muß offen bleiben, ob diese Nachricht tatsächlich für ihn bestimmt war.) Heller habe sich bei Imhoff beschwert, daß die Tafel immer noch nicht eingetroffen sei. Dürer begründet zunächst die Zeitverzögerung damit, daß er mit seinem Werk Heller habe gefallen und sich selbst lassen erkennen, daß es auf der Künstlerseite das Bewußtsein einer abgestuften Leistungsfähigkeit gab.« 38 14, 1 - 4 : Jch hab euer schreiben nehren wol empfangen, darin euer meinung vernommen, das ich euer taffei gut soll machen, das ich dan von mir selbst im sinn hab zu thun. "Unverständlich ist, warum Rebel, Maler und Humanist, S.257, annimmt, daß Heller schon zu diesem Zeitpunkt das höhere Honorar von 200 fl. zugesagt habe.
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zum Ruhm etwas leisten wollen. Im Anschluß daran kommt er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: Vnd alß ihr ferners schreibt, w o ihr mir die taffei nit verdingt hettet, sols nimmer geschechen, das ich auch die taffei behalten möge. Darauff gib ich euch diese antwort: w o ich dieser taffei schaden solt leiden, damit ich euer freundschafft behalte, wolte ich das thun; den dieweilen euch die sach gereuen vnd ihr in mich hetzt, die taffei zu behalten, das nimb ich an, wil auch solches gehrn thun. Den ich darumb ioofl. mehr waiß zugenießen dan ihr mir darumb geben hetts. (17, 12-21)
Dürer will also den Brief Hellers an Imhoff als Aufkündigung des Vertragsverhältnisses verstehen. Er sei zwar bereit gewesen, um der Freundschaft zu Heller willen wirtschaftlichen Schaden hinzunehmen. Da Heller nun aber seinerseits den Vertrag lösen wolle, sei ihm das sehr recht, denn er habe bereits einen Käufer an der Hand, der ihm ioofl. mehr als Heller geben wolle. Heller möge ihm mitteilen, an wen die bereits erhaltene Abschlagszahlung von ioofl. zurückzugeben sei. Davon, daß Heller ihn habe >hetzen< wollen, die Tafel zu behalten, konnte jedoch keine Rede sein, denn Heller hat rasch dementiert. Dürer schreibt ihm zwei Wochen später und begründet noch einmal, warum er Hellers Brief als Kündigung sämtlicher Vereinbarungen verstanden hat: Euer schreiben an mich gethan, hab ich verlesen. Vnd als ihr schreibt, sey euer mainung nit gewest, das ihr mir die taffei habt wollen aufsagen, dazu sag ich, das ich euer mainung nit wissen kan. Aber dieweil ihr schreibt, w o ihr die taffei nit gefriembt hett, wolt ihr die nit mehr andingen, vnd das ich die behalten soll, wie lang ich wolle, etc., kan ich änderst nit gedenckhen, dan das euch die sach gereuet hat, darauf ich euch den in meinem negsten brief antwort geben hab. (18, 1-10)
Aus den beiden letzten Briefen ist ersichtlich, daß Dürer den Brief Hellers an Imhoff verkaufsstrategisch in seinem Sinn zu verstehen und daraus Argumente zu schlagen weiß.4° Er tut jetzt so, auch dem Dementi Hellers zum Trotz, als ob die Dinge ganz neu zur Verhandlung stünden.
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Anders Rohowski, Künstlerlegende, S. 53: »Auf den Vorwurf, daß der Maler gegen die Absprache die Tafel vielleicht für sich behalten wolle, reagiert Dürer mit gekränktem Stolz. N u r falls Heller die Tafel nicht mehr wolle, werde er das Bild behalten. [...] Der Maler geht sogar so weit anzubieten, den bereits ausgezahlten Vorschuß von 100 Gulden zurückzugeben, um seinen Widerwillen gegen die Kostendebatten zu verdeutlichen.« Rebel, Maler und Humanist, S. 259, meint, Dürer habe nun gemerkt, daß er »zu hoch gepokert« habe, ohne daß er die Widersprüchlichkeiten erklärt, die sich aus diesem Textverständnis für die folgenden Briefe ergeben. Bei Schmid (s. Anm. 29), S-44of., bleibt völlig offen, wie es zu dem Preis von 200 fl. kommt.
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Dürer fährt fort: Auf Zureden Imhoffs, weil der Auftrag für die Tafel ursprünglich von Heller gekommen war und weil er als Aufstellungsort lieber Frankfurt sehe, sei er durchaus noch bereit, die Arbeit Heller zu überlassen, sogar für ioofl. weniger, als er dafür haben könnte. Zwar hätte er ursprünglich für 130 fl. malen wollen, aber Heller sei doch bewußt, was man sich nachfolgent geschrieben habe (18, 18). Dürer betont nochmals den Wert seiner Tafel und macht dann sein Angebot: Er werde Heller die Tafel schicken, und Heller solle sehen, ob sie ihm die verlangten 200 fl. wert sei. Sei das nicht der Fall, so solle er ihm die Tafel wieder zurückschicken, denn er könne sie für ioofl. mehr verkaufen. Er ziehe Hellers Freundschaft diesem Geld vor, wolle aber keinen übergroßen Schaden leiden (man kann ergänzen: indem er sich mit dem ursprünglich vereinbarten Preis zufriedengebe). Wenn Heller sich seinen Anspruch auf die Tafel erhalten wollte, hatte er nun keine Wahl mehr. Noch bevor Dürer ihm die Tafel schickte, willigte er ein und ließ Dürer die restlichen ioofl. auszahlen. Freilich hat er das Vorgehen Dürers kritisiert. Dieser weist den Schuldvorwurf in einem weiteren Brief vom 26. August 1509 zurück: V n d ob ihr vermaint, ich thue vnbillich, das ich euch die bezahlung nit frey in euern willen gesetzt habe, ist darumb geschehen, das ihr durch Hanß Im H o f f habt geschrieben, das ich die taffei solang behalten möge alß ich wolle. Sonsten hette ichs gehrn in euch gestellet, ob ich gleich noch größern schaden gelitten hette. (19, 1 5 - 2 1 )
Ferner mahnt Dürer Heller, er solle beniegig (19, 25) sein, daß er nicht noch mehr habe zahlen müssen, denn das Bild zeichne sich durch hervorragende Qualität aus. Der letzte Brief datiert vom 12. Oktober 1509. Darin gibt Dürer seiner Befriedigung darüber Ausdruck, daß Heller das Werk gefalle und er auch den Preis billige. Auf Wunsch Hellers legt Dürer eine Zeichnung mit einem Vorschlag für die Aufstellung der Tafel bei. Die vorgestellte Lektüre des Briefwechsels legt den Schwerpunkt auf die offensichtlich streitbare Auslegung der Briefe Hellers durch Dürer. Dieses Problem, wie die schriftlichen Äußerungen des anderen zu verstehen sind, wird im Briefwechsel durchaus angesprochen: Dürer schreibt, daß er Hellers mainung nit wissen (18, 4f.) könne. Begünstigt werden die Mißverständnisse durch den >brieftypischen Phasenverzugs41 denn die Rich41
Peter Bürgel, Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells, DVjs 50 (1976), S. 281-297, h i e r s · 2 8 8 · 57
tigstellung ist von Frankfurt nach Nürnberg jeweils mehrere Tage unterwegs. Vielleicht darf man so weit gehen und sagen, daß Dürer mit dem zitierten Satz sein taktisches Kalkül offenlegt: die bewußt offensive Nutzung des Interpretationsspielraums, den die brieflichen Mitteilungen eröffnen. Indem Heller ihm abschließend >unbilliges< Verhalten vorwirft, wird deutlich, daß er Dürers Art des Feilschens als Verstoß gegen Kommunikationsprinzipien versteht.42 Doch nicht nur inhaltlich zeigt sich Dürers Geschick. Auch Rebeis auf das Formale zielender Vorwurf eines unsicheren Geschäftsstils< läßt sich nicht aufrechterhalten.43 Unter formalen Gesichtspunkten fällt auf, daß die Schreiben mit Gefälligkeitsbezeugungen nur sparsam ausgestattet sind. Der erste Brief enthält noch das volle Programm eines höflichen Anfangs: Mein willige dienst zuvor, lieber herr Heller! Euer gitlich zuschreiben hab ich mit freuden empfangen. (12, if.)
Das ändert sich schon im zweiten Brief, der auf eine Dienstentbietung verzichtet. Man könnte das so begründen, daß es sich nicht um eine direkte Antwort auf ein Schreiben handelt und somit der formale Anknüpfungspunkt fehlt. Doch der nächste Brief ist in dieser Hinsicht unzweideutig: Lieber herr Jacob! Jch hab euer schreiben nehren wol empfangen, darin euer meinung vernommen, das ich euer taffei gut soll machen, das ich dan von mir selbst im sinn hab zu thun. Solt daneben wissen, wie weit sie bracht ist. ( 1 4 , 1 - 5 )
Das ist selbst für einen Geschäftsbrief sehr knapp formuliert.44 Die Antwort wirkt wie ein Verweis Dürers an Heller, sich nicht in einen fremden Zuständigkeitsbereich einzumischen. In den folgenden Briefen sind die Dienstentbietungen in knapper Form an das Ende gesetzt: Last mich euch befohlen sein (15,75), Hiemit was ich euch waiß zu dienen, darin wil ich gefliessen sein (16, 44f.), Damit alle zeit was euch lieb ist, darinnen euer williger diener (17, 3 if.) und Damit schafft vnd gebiet (18, 52). Erst der vorletzte Brief beginnt wieder damit, daß Dürer sein willig dienst zuvor (19, 1) entbietet, was insofern nicht weiter erstaunt, als sich die Angelegenheit für Dürer nun zum Besseren gewendet hat.
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Zur Ermittlung historischer Kommunikationsprinzipien Thomas Gloning, Sprachreflexive Textstellen als Quelle für die Geschichte von Kommunikationsformen, in: Dialoganalyse 4. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992, hg. v. Heinrich Löffler, Tübingen 1993 (Beiträge zur Dialogforschung 4), S. 2 0 7 - 2 1 7 . 43 Vgl. oben, Anm. 24. 44 Vgl. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes, Bd. 1, S. 39-62.
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Man mag Bedenken haben, ob das Fehlen der anfänglichen Gefälligkeitsformeln ein gezieltes Verweigern von Höflichkeit darstellt, zumal die Uberlieferungslage nicht ganz eindeutig ist45 und weitere Beispiele aus dem Vergleichscorpus fehlen. Doch machen einige Briefe aus der Edition von Steinhausen, in denen Gruß und Dienstentbietung gänzlich fehlen, wahrscheinlich, daß auch die knappe Fassung oder die Nachstellung von Höflichkeitsformeln zur Unterstreichung von Ansprüchen eingesetzt werden konnten.46 Für eine gezielte Distanzierung von Seiten Dürers spricht auch, daß die Richtlinien der Briefsteller vorschlagen, die Briefe je nach Gegenstand und Adressat zu verwandeln und nötigenfalls auf Gruß und Dienstentbietung zu verzichten. Schreibt man Von [...] freündtlicher sachen, soll der Briefschluß nach Anweisung des >Formulares< so lauten, das man das thün verdienen wolle, vnd das mit so freüntlicher erbietung vnnd lieplichen Worten geseczt werden.*7 Auch in Briefen, mit denen man sein Recht einfordert, solle man auf den Gruß von seins gelimpffs wegen möglichst nicht verzichten. Sofern es der Gegenstand jedoch erzwinge, könne der Gruß auch einmal entfallen.48 Zu dieser Differenzierung der Norm paßt die Beobachtung, daß Dürer Heller nicht um ein höheres Honorar bittet, sondern den Aufpreis als billig darstellt.49 Das >Formulare< empfiehlt den Verzicht auf Bitten als Ausdruck eines legitimen Anspruchs: wann es gehört nit v m b alle sach zebitten, sunder wer ein sach geern von einem het d z er j m nit schuldig war zettln der soll in darumb fleissig biten. wer aber v o r d r a n g an einen hatt vmb ein sach die er jm schuldig ist zetünd der mag d z bitten vermeiden vnd an in begeren d z er j m sólichs thú es ware dann d z die person in solicher hochwirdigkeyt oder in merer macht gegen jm war an die er dan zeuorderen het so mag er von künftiger fürdernus wegen d z begeren verwechseln vnd ein wol geformt biten tun.' 0 45
S. Anm. 3 5. Vgl. Steinhausen (Hg.), Deutsche Privatbriefe, Bd. z, Nr. 31 : Aufforderung an den Adressaten zum Widerruf öffentlich gegen den Absender vorgebrachter Schmähungen; Nr. 44: Dringende Aufforderung an den Adressaten, seine Versprechungen zu halten. Daß Heller selbst wohl einen anderen Maßstab anlegte, zeigt sich an seinen Briefen an Pirckheimer. Für den ihm gesellschaftlich gleichgestellten Pirckheimer (beide sind Patrizier) werden in Adresse und Briefanfang die erwartbaren Umschreibungen aufgeboten, z.B.: Demforsichtigein, ersamen ond wissein hern Weliboltt Berkamer zo Nornberk, minem gonstegen liben hern, de[n]tur li[tte]r[ae]. Forsichtiger, ersamer, wisser, gonsteger liber her Berkamer, uch sey zoforan menfruntlig wilig dinst (Pirckheimer-Briefe, Bd. 4, Nr. 531a, S. 517^). 47 Formulare (s. Anm. 16), fol. 8"~
S. etwa die Briefe von David Marchello an Pirckheimer aus dem gleichen Zeitraum, z.B. den Brief vom 19.2.1506, in: Reicke(Hg-), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. i,S. 332f.,hier S. 332: Magnifico viro domino Bilibaldo Pirckhimer, civi Nurimbergensi, domino mihihonorando Nurinbergae. Magnifico mio honorandissimo. 66 Übersetzung der italienischen Passage nach Rupprich, S. 56 Anm. 1: »in des Teufels Namen! soviel für das Geschwätz, als euch beliebt.« 67 Formulare (s. Anm. 16), fol. 3 i v : Hochgelerter fiirnemer vnd weiser lieber herr. 6i Zur Doktorenregel: Christoph Scheurl's Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg 1516, in: Die Chroniken der deutschen Städte, Bd. 1 1 , S. 785-804, hier Kap. 8 und 25, S.79if. und S. 8o2f.; Max Herrmann, Die Reception des Humanismus in Nürnberg, Berlin 1898; Hamm, S. io6f. (s. S.25, Anm. 79). Pläne zu einer Italienreise, u.a. um den Doktorgrad zu erwerben, äußert Pirckheimer in Briefen aus dem Frühjahr und Sommer 1502. Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 51, S. i66{. und Nr. 55, S. 180-183. 64
gefaltet wurde, daß nur diese außen sichtbar blieb/ 9 Dagegen haben die erwähnten drei Briefe keine Adresse auf der Außenseite (aus der Edition Rupprichs ist das nicht ersichtlich). Die abgewandelten Adressen sind auf den Briefkopf geschrieben, wo sie eigentlich nutzlos sind. Womöglich hatte Dürer die Schreiben in einen anderen Umschlag gesteckt, auf den die offizielle Adresse geschrieben war. Prüft man die Abschlüsse der Briefe, so fällt der ungewöhnliche Abschluß des siebten Briefs ins Auge. Dürer schließt ihn mit der (lateinisch nicht ganz korrekten) Variation seiner Signaturformel ab: Albertus Durer Norikorius cibus (7, 78f.).7° Da Dürer diesen Brief übertrieben schwülstig einleitet, könnte auch diese Unterschrift, als Werksignatur für seinen Brief, übertreibend gemeint sein. In den letzten vier Briefen scheinen sich die Spielereien mit der Konvention in der auf die Anrede folgenden Einleitung fortzusetzen. An die Stelle des üblichen Adressatenlobs tritt dessen spöttische Verkehrung. Ich möchte diese Passagen der Vollständigkeit halber zitieren, obwohl ich zu ihrer sprachlichen und inhaltlichen Klärung nicht viel Neues beizutragen habe. Im siebten Brief heißt es im Anschluß an Briefeingang und Gesundheitswunsch: El my maraweio, como ell possibile star vno homo cusy wu contra thanto sapientissimo Tiraybuly milytes; non altro modo nysy vna gracia de dio. Quando my leser woster litera de questi strania f y s a de cacza my habe thanto pawra el para my vno grando kosa. Aber jch halt, daz dy Schottischen ewch awch gefurcht hand, wan jr secht awch wild vnd sunderlich jm heiltum, wen jr den schritt hypferle gand. A b e r es reimt sich gar vbell, daz sych sollich lantzknecht mit tzibeta schmiren. (7, 5 - 1 5 ) 7 1
Wie zu sehen ist, bezieht sich Dürer auf eine briefliche Mitteilung Pirckheimers (woster litera), in der dieser über seine erfolgreiche Vermittlung in der Streitsache zwischen der Stadt Nürnberg und dem Ritter Konrad 69
Zur üblichen Faltung: Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes, S. 31 f. ° Die Signaturen auf dem Selbstporträt von 1500 und auf dem Kupferstich von 1503: Albertus Dureras Noricus/ Albertus Durer Noricus, S. 20 jf.; s. ferner die bemühte Erklärung bei Rohowski, Künstlerlegende, S. 38: »Den Brief vom 18. August unterzeichnet Dürer - in humanistischer Manier - mit der lateinischen Namensform. Selbstbewußt kann er nun betonen, Bürger aus Nürnberg zu sein.« 71 Übersetzung bei Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 53 Anm. 10: »Mich wundert, wie es möglich war, daß ihr ein Mann allein gegen so viele Krieger des überaus geschickten Konrad habt bestehen können; gewiß auf keine andere Weise denn durch die Gnade Gottes. Als ich euren Brief las über diese graulichen [.. .VJisagen, da erfaßte mich große Furcht, und es schien mir eine gewaltige Sache.« Rupprich, ebd., S. 54 Anm. 13, erklärt weiter tzibeta als »Parfüm, das von der Zibetkatze gewonnen wird.« 7
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S c h o t t b e r i c h t e t hatte. 7 2 Z w a r g e h t D ü r e r auf die L e i s t u n g e n seines F r e u n des a n e r k e n n e n d ein, d o c h tut er dies in s o l c h ü b e r z o g e n e r W e i s e , daß sein L o b komisch wirkt. I m a c h t e n B r i e f g r e i f t D ü r e r e r n e u t einen B e r i c h t ü b e r P i r c k h e i m e r s T a ten auf: Io vole denegiare cor woster, daz jr werd gedencken, jch sey awch ein redner von ioo partire. E s mus ein schtuben mer den 4 winkeil haben, dorein man dy gedechtnus götzen setzt. J c h voli mein caw nit domit impazare, jch will ewchs rekomandare, w a n jch glawb, daz nit so multo kemerle jm kopff sind, daz jr jn jettlichs ein pitzelle behalt. D e r margroff w o r d nit so lang audientz geben; 100 artickell vnd jetlicher artigkell 100 wortt prawchen eben 9 dag 7 schtund 52 m y nutn an d y suspiry, der hab jch noch nit gerechnett. D o r u m wert jrs awff ein moll nit reden werden etc., es wollt sy verlengen wis Tettels red. 7 3 (8, 8 - 2 0 ) A l l e m A n s c h e i n n a c h hatte P i r c k h e i m e r D ü r e r v o n einer a n d e r e n S a c h e berichtet, die er v o r d e m M a r k g r a f e n f ü r die N ü r n b e r g e r z u v e r h a n d e l n g e h a b t 7 4 u n d d u r c h eine a u s w e n d i g v o r g e t r a g e n e R e d e z u i h r e n G u n s t e n h a b e e n t s c h e i d e n k ö n n e n . D ü r e r a n t w o r t e t d a r a u f , i n d e m er d i f f u s die z e i t g e n ö s s i s c h e G e d ä c h t n i s l e h r e anzitiert. Z u n ä c h s t tut er s o , als o b er m i t P i r c k h e i m e r g l e i c h z i e h e n w i l l , u m i h n z u ä r g e r n . D a n n v e r w e i s t er die A u f g a b e j e d o c h an P i r c k h e i m e r z u r ü c k , w e i l er i h n letztlich d o c h n i c h t f ü r k o m p e t e n t hält. 7 5 A u ß e r d e m w ü r d e f ü r eine R e d e v o n 1 0 0 A r t i k e l n m i t je
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Zur Beilegung der Streitigkeiten mit Schott vgl. Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. ι , S. 378f. Ubersetzungsversuch nach den Worterklärungen Rupprichs in seiner Edition, S. 56 Anm. 2 - 1 3 : >Ich werde Euer Herz quälen, daß Ihr denken müßt, daß ich auch ein Redner von 100 Abschnitten sei. Eine Stube, in die man die Erinnerungsbilder hineinsetzt, muß mehr als vier Ecken haben. Ich möchte meinen Kopf nicht damit belasten, denn ich glaube, daß nicht so viele Kämmerlein im Kopf sind, daß Ihr in jeder ein wenig behalten könntet. Der Markgraf würde nicht so lange Audienz geben. [Eine Rede von] 100 Artikeln und jeder Artikel 100 Wörter braucht nun einmal 9 Tage, 7 Stunden und 5 2 Minuten ohne die Atemzüge, die hab ich noch nicht mit eingerechnet. Darum werdet Ihr's mit einem Mal nicht ausreden [können] etc. Es würde sie langweilen wie die Rede eines alten Mannes.< Zu dieser Textstelle vgl. auch Jan-Dirk Müller, Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982, S. 50. Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 404-414. Dürer zitiert die zeitgenössische Gedächtnislehre an. S. die >Ars memorativa< (Anton Sorg) 1490 [Nachdr. Augsburg 1925], fol. 3: Jch wil dich aber vor lernen, wie du die stett tayllen sollest das ir gar vil werden Als du nun die stet wol erkennest vnd gelernet hast vnd in die thiir geseczt seind vnd dz hauß wie groß der gemach ist vnd auch du wol way st/ oder als vil du für dich genommen hast die thür dz sind stett so ist das dester leychter zeteyllen Du waist wol das y etliche kammer vier ögge hat die merck auch gar woll/ so hastu ir an einer stat vier Hast du nun hundert so hast du nun in yedem gemach vieregg/ die zelfür stet so hast du die fünfhundert stett. Zum Hintergrund Helga Hajdu, Das Mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, Wien 1936; Frances A . Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, [London 1966] Berlin [1990] '1994 (Acta humaniora).
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ioo Wörtern die Audienz des Markgrafen nicht hinreichen. Die Redezeit liege nämlich knapp unter 10 Tagen, die Atemzüge noch nicht einmal mitgerechnet. Im neunten Brief mißt Dürer seinem Gemälde den gleichen Rang und die gleiche Anerkennung zu wie Pirckheimers Tätigkeit als Diplomat: Gros legresa 76 hab jch empfangen jn ewerem priff, der mir anczewgt daz vber schwencklich lob, so jr von fürsten vnd heren habt. J r müst vch gantz verkertt haben, daz jr so senft seit worden, es würt mir gleich ant than, 77 so jch zw ewch wird kumen. Auch wist, daz mein tafell fertig ist, awch ein ander quar 78 , des gleichen jch noch nie gemacht hab. Vnd wie jr ewch selbs wol gefalt, also gib jch mir hy mit awch zw fersten, daz pessers Maria pild jm land nit sey, wan all künstner loben daz, w y ewch dy herschaft. Sy sagen, daz sy erhabner leblicher gemell nie gesehenn haben. (9, 3 - 1 4 ) Für diesen Abschnitt ist es schwer zu entscheiden, ob die Achtung, die Dürer Pirckheimer zollt, ironisch gebrochen ist und ob man dementsprechend Dürers Eigenlob nicht ganz ernst zu nehmen hat. Die Schwierigkeit wird durch den zehnten Brief noch verstärkt, in dessen Eingangspassage Dürer neben leisem Spott auch zur Vorsicht gegenüber der Freude am eigenen Ruhm mahnt: Vm daz jch weis, daz jr wist mein willig dinst, thut nit not, ewch dorfon zw schreiben, aber jnbelich nötter, ewch zw erczelen dy grosse frewd, so jch hab jn der grossen er vnd rum, dy jr durch ewer manlich Weisheit glerter kunst erlangt, testmer sich zw verwunderen, so seilten jn jungem körpell oder ger nymer des gleichen erfunden würt. Aber es kumt von sundrer gnod gottes eben w y mir. Wy jst vns pedenn so woll, so wir vns gut gduncken, jch mit meyner thafell vnd jr cum woster Weisheit. So man vns glorificzirt, so reck wir dy hels vbersich vnd glawbens. So stett ettwan ein poser lecker dorhinder, der spott vnser. Dorum glawbt nit, wen man ewch lobt, wan jr seit als gantz vnd gar vnertig, daz jrs nit glawbt. (10, 1 - 1 5 ) Sieht man schließlich auch das Innere der Briefe auf Höflichkeitserwartungen hin durch, so stellt sich die Frage, ob die Stellen, an denen Dürer sein Verhältnis zu Pirckheimer thematisiert, neu zu bewerten sind. Z u nächst muß man hier die Textstellen in den Blick nehmen, in der Dürer von seinen Schulden bei Pirckheimer spricht. Im ersten Brief heißt es: Aber bedürst jr sunst ettwas, daz last mich wissen, daz will jch ewch mit gantzen fleis aws richten. Vnd wolt got, daz jch ewch grossen dinst kunt dan, daz wolt jch mit frewden awsrichten. Wan jch erken, daz jr mir vili thüt. Vnd jch pit 76 77
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Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 57 Anm. 1: »Ital. allegrezza; Vergnügen.« Ebd., S. 57 Anm. 3: »Es wird mir gleich and thun, d.h. ich werde Euer früheres Wesen schmerzlich vermissen.« Ebd., S. 57 Anm.4: »Ital. quadro; Gemälde.«
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ewch, habtt mit leiden mit meiner schuld, jch gedenck öfter doran den jr. Als paid mir got heim hilft, so will jch ewch erberlich tzalen mit grossen danck. ( i , 20-28)
Zusammen mit weiteren, in den folgenden Briefen enthaltenen Nachrichten über Dürers Schulden bei Pirckheimer hat dieser Passus die kunstwissenschaftliche Forschung mutmaßen lassen, daß Dürer von Pirckheimer ein »rückzahlbares Stipendium« für seine Italienreise bekommen habe. 79 Vor dem Hintergrund der Brieflehre zögert man, so weit zu gehen. Denn Musterausdrücke im >Formulare< lassen die Betonung eines Abhängigkeitsverhältnisses als höfliche Konvention erscheinen: - Ist nit müglich daz jch ewer oder eines andern meins genanten günners in guotten vergessen müg - Will jch mich hierin fleisslich thun erbietten darmit jr erkennen was willens jch gegen ewch sey - Wann wir nun mit sunderheit geneigt seind zethuon was ewch liebt vnd vngern mit ewch für namen wolten das nit pürlich noch freüntlich waer. 8 °
N u n ist in diesen Beispielen nicht von Schulden, d.h. von einem tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnis die Rede. Aber es erscheint naheliegend, daß die Konventionen der Unterordnung bei bestehenden Verbindlichkeiten erst recht greifen. Daraus wird man keine Aussage über die Höhe von Dürers Schulden herleiten können. 81 In anderen Briefen ist eine Art von Grenzgängerei in Sachen Höflichkeit zu bemerken. Zunächst einmal zeigt der zweite Brief, daß Dürer sehr wohl eine Einschätzung trifft, welches Maß an Höflichkeit von ihm erwartet werden kann. Diesen Brief schreibt er, weil seine Mutter ihn ermahnt hatte. Pirckheimer habe, so referiert Dürer den Brief seiner Mutter, einen Unwillen auf ihn gefaßt, weil er noch nicht geschrieben habe, und sie erwarte, daß er sich für seine Säumigkeit bei Pirckheimer verantworte. Das tut Dürer auch, aber zunächst einmal nicht in der erwarteten Form, sondern indem er freimütig bekennt, er sei zu faul zum Schreiben gewesen, und Pirckheimer (der wie die meisten Nürnberger aus der Ober79
Satzinger, Ruhmgedanke und Gattungswahl, S. 108; s. ferner Hans Rupprich, Dürer und Pirckheimer. Geschichte einer Freundschaft, in: Dürers Umwelt, S. 78-100, hier S. 82; Rebel, Maler und Humanist, S. 215 und S. 220, will sogar wissen, daß die Höhe der Schulden sich auf ioofl. belief. 80 Formulare (s. Anm. 16), fol.43 r , 28', 24'. 81 Erasmus von Rotterdam fordert in seiner Brieflehre unter dem Abschnitt >Dankbarkeitkommerlestube< lesen. So hat es den Anschein, als ob auch hier, im Hinblick auf stube, rock und mantell, ein wechselseitiges Necken über mehrere Briefe hinweg ausgetragen wird. Pirckheimer läßt Dürer von der stube grüßen, und dieser richtet im Gegenzug Grüße von rock und mantell aus. Im nächsten Brief fragt er anerkennend nach den Fähigkeiten der stube und richtet Grüße von nun drei Kleidungsstücken aus. Im letzten Brief dann antwortet er auf Pirckheimer, der ihm seine stube hätte überlassen wollen. Verläßlich deuten läßt sich dieser Dialog wohl nicht. Durchgesetzt hat sich bislang die Auffassung, daß unter den ersten beiden Nennungen der stube die Nürnberger Herrentrinkstube zu verstehen sei. 102 Dort sei, so Rupprich, anscheinend »über Dürer ein unflätiger Witz gefallen«, für den Dürer sich revanchiert. 103 Für diesen Ansatz spricht allein die Identität des Grundworts.
" Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 57 Anm. 12: »Husecke, husecken f., Schaube oder Mantel.« 100 Ebd., S. 57 Anm. 15: »So hoch überhebt.« Dieser Vorschlag kann nicht recht überzeugen. 101 Ebd., S. 60 Anm. 53: »Die Hs. hat in der entscheidenden Vokabel eine Abbreviatur: ko'merle. Zu lesen ist >kormerlekornmerleprawten< anzunehmen nahelegt, zusammen mit Dürers Erwiderungssatz (59-61) auf Pirckheimers Mahnung, der Freund möge bald nach Hause kommen, sonst wolle er ihm die Frau >kristirenFrau< anderweitig belegt sind 104 und daß diese Deutung auch die Zeichnung (s. Abb. 4) erklären kann, die sich an den ersten Satz anschließt, in dem die stube erscheint. Man könnte die Fratze als Karikatur von Pirckheimers stube auffassen:
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A b b . 4: Ausschnitt aus Dürers Brief aus Venedig vom 8. Sept. 1506; Nürnberg, Stadtbibliothek
Ob nun Mantel und Rock Dürers auch metaphorisch zu verstehen sind 10 ' oder ob sie als Zeichen von Dürers wirtschaftlichem Aufstieg 106 eine Art Gegengewicht zu Pirckheimers stube darstellen, vermag ich nicht zu entscheiden. Zusammenfassend läßt sich sagen: Es kennzeichnet den Briefwechsel, daß mit Namen, Decknamen, in Bildern, metaphorisch und provozierend offen auf außereheliche Beziehungen zu Frauen in Pirckheimers und Dürers Bekanntenkreis angespielt wird. Von daher fragt sich, ob Dürer die Anspielungen und Umschreibungen einsetzt, um Verhältnisse zu decken, die nach den Nürnberger SittengesetNachlaß, aufgeworfen und von Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S.42of. Anm. 27, aufgegriffen worden ist. Reicke erwägt darüber hinaus, sie als Studier- oder Schlafstube zu verstehen, favorisiert jedoch eine »andere, freilich wenig anmutende Erklärung« als Auseinandersetzung über Pirckheimers Abort (ebd., S.421). 104 Müller (s. Anm. 84), S. 4 6f. 105 Dagegen spricht, daß Dürer im zehnten Brief als Verlust bei einem Brand auch einen Mantel beklagt: Hettjch mein diich wider! Jch furcht nun, mein munteli sey awch verprunen. Erst wurd jch vnsinig. Jch soll vngeluck haben. Es jst mir jnner halb jn 3 wochen ein Schuldner mit VIII dugaten entloffen (10, 104-107). 106 Vgl. die Auffassung Rohowskis in Anm. 98.
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zen hätten belangt werden können.107 Für tatsächliche Übertretungen könnte sprechen, daß Dürer in seinen Briefen Angst vor der Syphillis bekundet und daß Pirckheimer sich im selben Jahr gegen üble Nachrede zu schützen versucht.108 Für eine Gefängnisstrafe reichte gemäß strafrechtlicher Norm schon die Bezichtigung der Unzucht aus. Allerdings muß man einschränkend ergänzen, daß die Richtlinien für die Ahndung von Unzuchtsdelikten nicht mit aller Strenge angewendet wurden.109 Überdies ist zu erwarten, daß an Pirckheimer als Witwer und Dürer als Ehemann unterschiedliche Maßstäbe angelegt worden wären. 110 Möglicherweise trägt Dürer diesem Umstand dadurch Rechnung, daß die meisten Scherze auf Pirckheimers Ambitionen als Liebhaber zielen und Dürer selbst nur insofern einbeziehen, als er all >vnser< pulen grüßen läßt und wissen will, wie das kommerle zw prawten sey. Der Versuch herauszufinden, wer sich hinter den Bezeichnungen verbirgt, hat nicht in allen Fällen zu einem gesicherten Ergebnis geführt. Doch geht man inzwischen allgemein davon aus, daß es sich vor allem um Frauen aus der ehrbaren Mittel- oder Oberschicht handelt, eine Annahme also, die nicht ohne weiteres auf Normbrüche hindeutet. 1 " Nun ist nicht auszuschließen, daß Dürer daneben auch weniger gut beleumdete Frauen in seinen Briefen nennt oder meint. 112 Aber genauso gut scheint denkbar, 107
Claus Kappl, Im Frauengäßlein. Die Prostitution in der Stadt des Spätmittelalters und der Einfluß der Reformation, aufgezeigt am Beispiel der Fränkischen Reichsstadt Nürnberg, [ungedruckte] Zulassungsarbeit Erlangen 1979/80; s. ferner Peter Schuster, Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland (13 50-1600), Paderborn [usw.] 1992. 108 Sagent mir vnserem prior mein willig dinst, sprecht, daz er gott vur mich pit, daz jch phüt werd vnd sundelich vor den franczosen. Wan jch weis nix, daz jch jtz vbeller furcht, wan schir jder man hat sy, vili lewtt fressen sy gar hin weg, daz sy also sterhn (7, 69-74). Und vgl. den Brief des Hans Wildreich aus Ulm vom 5.2. 1506, in: Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, Nr.97, S.316—318. 109 S. den Nürnberger Ratsbeschluß von 1520, daß schändlich laster des eehruchs mit mehr ernst und vleis, dann hißhero bescheben, nicht ungestrafft hingeen zulassen, noch yemand darinn zu verschonen. StaAN, B-Laden, S I, L 180, Nr. 9 (Proclama, ansagen und ratschleg betreffende die unzucht und schwechung der jungkfrauen, hurerey und ehebruch). 110 Der Wirt des Nürnberger Frauenhauses war verpflichtet, dem Fünfergericht Ehemänner anzuzeigen, die sein Haus betraten. S. die >Ordnung der gemeinen Weiber in den FrauenhäusernSupplik der gemeinen Frauen im Tochter-Haus wegen Gewerbsbeeinträchtigung durch verschiedene Wirtefazeter Gewitztheit< auf der einen, die Vorstellung von exklusiver Lebensart der Oberschicht auf der anderen Seite." 5 Beides aber ist schwer zu beweisen, denn die mündliche Kommunikation in der Nürnberger Herrentrinkstube ist gar nicht, die Gesprächskultur der Sodalitäten nur in ihrem literarischen Modell, der Konvival- und Fazetienliteratur, zu fassen." 6 Auch in anderen Briefen sind Reflexe dieser unterstellten Gesprächskultur kaum zu finden. Die einzige Parallele unter den volkssprachigen Briefen im Vergleichscorpus bieten Textstellen aus drei Briefen von Jakob Heller an Pirckheimer vom Jahr 1518, in denen Heller auf eine Geliebte, uneheliche Kinder und sein ungezügeltes Sexualleben anspielt und letzte-
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Grote, Vom Handwerker zum Künstler, S. 34: »Offenbar gehörten solche Scherze zum antikischen Lebensgefühl, das die Humanisten bewunderten und bei ihren Symposien feierten.« Vgl. die Spekulationen von Rebel, Maler und Humanist, S. 145, über »[h]umanistisches Gelehrtenlatein und männerbündisches >JägerlateinMensa philosophica< und bei Erasmus und Luther, in: ebd., S.256-286.
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res auch Pirckheimer unterstellt.117 Für den Nachweis von patrizischem Männerwitz reicht das wohl nicht aus. In der lateinisch-humanistischen Briefpraxis würde man den Anspruch auf größere Lizenzen erwarten, aber Anzüglichkeiten bleiben auch hier die Ausnahme.1'8 Möglicherweise läßt sich der weitestgehende Verzicht auf Frivolitäten im sog. humanistischen Briefwechsel damit begründen, daß die Briefpartner einander oftmals persönlich gar nicht kennen oder daß ihre Briefe »sich partiell an eine weitere literarische Öffentlichkeit«119 wenden. Möglicherweise auch schließt der Anspruch, der res publica litteraria zuzugehören, dergleichen Frivolitäten aus. Für die letzte Möglichkeit könnte sprechen, daß in den >Epistolae obscurorum virorumFreundschaftsbrief< seine neue und eigene Form.122 Die >Briefe der Dunkelmänner liefern auch hier eine Kontrastfolie: Ein Teil ihrer Anreden wird als übertriebene Titelhudelei gestaltet und so der Lächerlichkeit preisgegeben.123 117
Wuttke (Hg.), Pirckheimer-Briefwechsel, Bd. 3, Nr. 533a, 539 und 5633,8.309, 31711.428. Das legt nicht allein die Durchsicht der Briefe aus dem Vergleichscorpus nahe, sondern auch die weitere Einsichtnahme in die Briefwechsel von Reuchlin, Celtis, Peutinger, Hutten, Spengler, Erasmus, Luther und Scheurl II. Zur Norm des familiariter scribere vgl. Helene Harth, Poggio Bracciolini und die Brieftheorie des 15. Jahrhunderts. Zur Gattungsform des humanistischen Briefs, in: Der Brief im Zeitalter der Renaissance (s. Anm. 3), S. 81-99. Harth (ebd.), S.82. I2 ° Vgl. Walther Brecht, Die Verfasser der >Epistolae obscurorum virorumDe ratione conscribendis epistolisc Primum illud curandum, vt tempestiuus sit iocus, vt liberalis, vt decori meminerit.I28 Ahnlich verlangt Riederer, daß auch in Scherzbriefen purisch vnd torlich wort vermieden werden sollen, und er verbietet jede Form von verletzendem Spott über Dritte.129 Die Sonderstellung der Venedig-Briefe in der Geschichte des Privatbriefs wird durch die vereinzelten Parallelen in Brieftheorie und -praxis bestätigt. Nur sehr lose lassen sie sich einer allgemeineren Scherzkultur unterordnen, wie sie mit den Scherzbriefen in Dürers Corpus dann (vgl. Kap. 4) faßbar wird. Dennoch gibt es ein geeignetes Vergleichsbeispiel, nur daß dies wieder in den engsten Pirckheimer-Umkreis zurückführt. Gemeint sind hier die bekannten lateinischen Briefe von Lorenz Beheim. Beheim, seit 1504 Bamberger Kanoniker, ist bis zu seinem Tod 1521 einer der ausdauerndsten Briefpartner Pirckheimers. Das erste erhaltene Schreiben datiert wie Dürers erster Brief aus Venedig vom Anfang des Jahres 1506. 130 Auch hier sind keine Antwortschreiben Pirckheimers überliefert. Das thematische Spektrum der Beheim-Briefe ist ganz anders gelagert und über den längeren Zeitraum hin ungleich vielfältiger: Es geht immer wieder um Rezepte, um Politik, um Astrologie und weitere Themen. Doch gibt es auch manche inhaltliche Parallele zu den Venedig-Briefen: Man findet eine Verantwortung gegenüber Pirckheimers lamentationes wegen Beheims Schreibfaulheit, Beheims Rechtfertigung gegenüber Pirckheimers Unmut (über eine ausgeschlagene Einladung) und Gratulationen zum Auftreten gegenüber Schott. Grüße an Frauen, vor allem Beheims Schwester, die Pörstin, werden aufgetragen,131 und zwar gerade nicht verklausuliert. Unverblümt berichtet Beheim von einer ihm drohenden Alimentenklage,'32 wie er auch 128
Erasmus von Rotterdam, D e ratione conscribendis epistolis (s. Anm. 81), S. 286-289. Riederer (s. Anm. 17), fol. 1 1 7 ' . 130 Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 88, S. 290-292 ( 3 1 . 1 2 . 1505 bzw. 5 . 1 . 1506 oder etwas später); zur Datierung Reicke, ebd., S. 293 Anm. 2. 131 Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 1 1 4 , S. 3 7 i f . (8.6. 1506), hier S. 372: Salutes tuam et meam Pörstin et Fechterin cum Dorlein·, ebd., Nr. 1 1 5 , S. 380 (29.6. 1506): Salutato Pörstin et Fechterin acEysen-, ebd., Nr. 150, S.493Í. (13.2. 1507), hier S.494: Has introclusas dato a nostra Dorlein et salutes Pörstin. 132 Ebd., Nr. 133, S.447Í. ( 5 . 1 1 . 1 5 0 6 ) , hier S. 448: Pestis iam mitius hic agit. Tota enim hebdómada in unaparrochia vix 18 sunt numerati. Tarnen IUI [4 E . R . ] helleputane sono morti [sic E.R.]/ra ι mese. Utinam et ceterae malae hestiae. Est mihi iam controversia cum quadam, quae nisi semel fuit mecum et ab ilio non comparuit per 6 menses. Et iam nititur mihi dare puerum. Ego me omnino defendam, si possum, ne et reliquae venirent. Et licet Pörstin 119
8l
P i r c k h e i m e r s L e b e n s w a n d e l in N ö r d l i n g e n eher beiläufig k o m m e n t i e r t : Mallem
sicut et tu recentem
quam
veterem
sivepuellam,
sive
novellam.li}
D o c h m i t u n t e r n u t z t a u c h B e h e i m die G e l e g e n h e i t z u m S p o t t . U n t e r d e n f r ü h e n B r i e f e n w ä r e n hier z u m einen die aus d e m F e b r u a r 1 5 0 7 z u nennen, in denen sich B e h e i m ü b e r P i r c k h e i m e r s F a s c h i n g s v e r g n ü g u n g e n u n d das anschließende F a s t e n lustig m a c h t . ' 3 4 E i n e n M o n a t später hat B e h e i m e t w a s anderes z u fassen. M i t P i r c k h e i m e r m a c h t er sich ü b e r D ü r e r s B a r t lustig:' 3 5 E r läßt nostrum
Barbatum
grüßen,'36 fragt im folgenden
B r i e f , o b D ü r e r noch sein part spitz und tre, ' 3 7 u n d v e r k n ü p f t i m d a r a u f f o l g e n d e n mit seinem G r u ß an D ü r e r die F r a g e : Et quid sit de sua barba, me lo sapere.'38
fa
P i r c k h e i m e r w a r auf diese A n f r a g e n seinerseits e i n g e g a n -
gen, d e n n B e h e i m a n t w o r t e t ihm: Salvum iubeas Albertum Türer. [...] N o n enim potui me continere a risu multo, cum legi verba tua. Habet adhuc barbam suam turpem et deformem; et iam rideo.' 3 ? U n d das w i r d i m f o l g e n d e n Brief B e h e i m s ein w e i t e r e s M a l a u f g e g r i f f e n . N a c h einigen S ä t z e n z u einem kleineren A u f t r a g an D ü r e r heißt es: Sed sua barba bechina' 4 0 impeditur [sc. Dürer], quam sine dubito [sic E . R . ] torquendo crispât quottidie, ut dentes aprinos extantes assimilando repraesentet.
aliquid de hac materia sciat, tarnen nihil ei dicas, si autem dicere inciperet, rem ipsam extenuate, oro. Vale. Ebd., Nr. 107, S. 3 50 (29.3. 1506): >Genau wie du ziehe ich bei Mädchen und Geschichten die jungen den alten vor.< 154 Ebd., Nr. 146, S. 484^ (7.2.1507), hier S. 48 5 : Et tu memor etiam tui indulge his bachanalibus, prout spondes, genio tuo. Itidem facere studebo; ebd., Nr. 150, S-493Í. (13.2. 1507), hier S. 493 : Iam vero tempus scribendi ablatum esse puto propter fréquentes comessationes et delitias; ebd., Nr. 152, S. 496 (21.2.1507): Intellexi ex nonnullis, bene fuisse vos debachatos per hoc camisprivium induxisseque istic peregrina spectacula, utpote bailete taliane [italiane? E.R.] et alias mille repraesentaáones usque in hodiernum. Placet; ebd., Nr. 154, S.499Í. (1.3. 1507), hier S.499: Salutem. Quodpost bachanalia oratoriis intendas, laudo. Melius est enim ire ad domum luctus quam ad domum convivii etc. I3! Rupprich hat die im folgenden zitierten, Dürer betreffenden Briefausschnitte in seine Rubrik >Dürer im Briefwechsel der Zeitgenossen zwar aufgenommen, aber er gibt für diese wie für fast sämtliche aus dem Briefwechsel Pirckheimers zitierten Texte keine Nachweise, daher zitiere ich weiter nach Reickes Edition des Pirckheimer-Briefwechsels. Reicke hatte bereits 1928 die Dürer betreffenden Textausschnitte aus dem Pirckheimer-Briefwechsel abgedruckt (mit Angabe von Signaturen): E.R., Albrecht Dürers Gedächtnis im Briefwechsel Willibald Pirckheimers, M V G N 28 (1928), S. 363-406. 136 Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 152, 8.496 (21.2. 1506). 137 Ebd., Nr. 154, S.499Í. (1.3. 1507), hier S. 500. 138 Ebd., Nr. 155, S. 503 (8.[? E . R . ] 3 . i 507). 135 Ebd., Nr. 156, S. 5o 4 f. ( 7 .[? E.RO3.1507), hier S. 505. 140 Nach Reicke (ebd.), S. 518 Anm. 6, soll bechina »offenbar den wie ein Schnabel gespitzten Schnurrbart Dürers bedeuten.« 82
Ma il gerzone14' suo abhorret, scio, la barba sua. Itaque studendum sibi foret, ut glaber appareret. Sed satis de his.'4* Der Umgang der Forschung mit diesen Textstellen ist sehr verschieden. Einerseits will Christa Schaper die Privatsphäre der Briefpartner gänzlich unangetastet lassen,'43 andererseits ruft Niklas Holzberg die »moderne[.] Psychologie« auf den Plan, um mit deren Mitteln das Verhältnis DürerPirckheimer »endlich einmal« zu klären.' 44 Ich halte beide Ansätze für wenig hilfreich. Die Eigendynamik des literarischen Spiels ist in den vorgestellten Texten zu groß, als daß man daraus Rückschlüsse auf die Realität ziehen könnte. Abgesehen von dem spöttischen Umgang miteinander liegt in diesem Punkt, in der Schaffung einer intimen Gesprächskultur, die entscheidende Parallele zwischen den Beheim- und Venedig-Briefen. Für das Lateinische wage ich keine generelle Einschätzung über den Stellenwert dieser Intimität zu treffen. Für den volkssprachigen Privatbrief um 1500 jedenfalls wird in den Venedig-Briefen eine neue Dimension hinzugewonnen, denn der mittelalterliche Privatbrief ist gerade dadurch definiert, daß er »selten wirklich privat im Sinne einer >Vertrautheit< oder I n timität^ ist.' 45 Gegenüber den bisherigen Wertungen ergibt sich damit eine Akzentverschiebung. Bislang wird vor allem betont, daß die Briefe aus Venedig den »Reiz voller Unmittelbarkeit«' 46 hätten, daß sie ihren »Reiz durch den persönlichen Ton, in dem die Gespräche geführt werden«,' 47 gewännen, daß Dürer sich zum »vertrauten, intimen Gesprächspartner«' 48 entwickle und daß er sich in »hinreißenden Innensichten, ja gelegentlich auch im Licht schockierender Privatheit«' 49 zeige. Sicherlich kann man diesen Einschätzungen insoweit zustimmen, als ein Vertrauensverhältnis zwischen Dürer und Pirckheimer als Voraussetzung für den scherzhaften Umgangston unerläßlich war. Doch folgt daraus nicht, daß die Privatheit der Texte zwangsläufig einen >unmittelbaren< oder >persönlichen< Auf141
142 143
144
145 146 147 148 149
Reicke (ebd.), S. 518 Anm.7: »>garzone< Lehrling. Denkt der laszive Behaim hier an ein unlauteres Verhältnis?« Ebd., Nr. 1 6 1 , S. 5 1 6 - 5 1 8 (19.3. 1507), hier S. 516. Christa Schaper, Lorenz und Georg Behaim, Freunde Willibald Pirckheimers, M V G N 50 (1960), S. 1 2 0 - 2 2 1 , hierS. 160: »[...] diese Briefe sind nicht für eine zudringlich forschende Nachwelt geschrieben«. Niklas Holzberg, Griechischer Humanismus in Deutschland, München 1981 (Humanistische Bibliothek I/141), S. 6yf. Teuscher (s. Anm. 24), S. 367. Rupprich (s. Anm. 79), hier S. 82. Löcher, Dürer als Schriftsteller, S. 273. Rohowski, Künstlerlegende, S.48. Rebel, Maler und Humanist, S. 217.
83
schluß über ihren Verfasser zuließe. Mal ernsthaft und mal spöttisch werden öffentliche und private Rollen Dürers und Pirckheimers gegeneinander ausgespielt. Die Korrespondenten sind weit davon entfernt, kohärente Persönlichkeitsbilder zu entwerfen, wenn sie einander spielerisch Eigenschaften zu- oder absprechen: weise und ungelehrt, schön und häßlich, zornig und sanft, tugendhaft und unsittlich, potent und impotent - erst recht, wenn der Scherz gerade daraus resultiert, daß man den Spieß einmal umdreht. 1 ' 0
4. Schluß Die beiden vorgestellten Briefwechsel sind nur ein Ausschnitt aus dem erhaltenen Briefoeuvre Dürers. Sie ragen beide aus dem Gros des gleichzeitig Uberlieferten heraus, wenn auch in sehr verschiedener Hinsicht. Die Heller-Briefe sind Geschäftsbriefe, in denen Dürer geschickt zum eigenen Vorteil verhandelt und die Spielräume des Mißverstehens, die die schriftliche Kommunikation offen läßt, zum eigenen Vorteil zu nutzen weiß. Die Zweckgebundenheit der Briefe läßt es nicht angängig erscheinen, Dürer aufgrund seiner - gezielt eingesetzten - Spitzfindigkeiten zum Pedanten zu stempeln. 15 ' Gegenüber den familiären Aufzeichnungen wird hier eine neue Perspektive auf Dürers Handwerkertum eröffnet: Geschäftsinteresse und Handwerker- bzw. Künstlerethos müssen nicht im Widerstreit stehen. Dürer vermag in diesen Briefen beides gleichermaßen zu behaupten, sowohl durch taktisch kluge Reaktionen auf Heller wie durch gezieltes Unterlaufen der Höflichkeitserwartungen. Die Venedig-Briefe bezeichnen eine signifikante Stufe in der Geschichte des volkssprachigen Privatbriefs, weil Dürer und Pirckheimer hier eine intime Scherzkultur schaffen, die sich erfolgreich der Deutung und Einsichtnahme von außen verweigert. Gefördert wird dieses Spiel durch die Literarizität der Briefform. Zum einen scheint das halböffentliche Medium das Spiel mit jeder erdenklichen Form von Andeutungen begünstigt zu haben. Zum anderen hat Dürer im ständisch differenzierten Privatbrief die reale gesellschaftliche Diskrepanz zwischen Pirckheimer als Patrizier und sich als Handwerker mit den entsprechenden Formeln zu beachten.
150
1,1
Von daher ist es nicht überzeugend, wenn Rohowski, Künstlerlegende, S.48, nach einer Analyse des Venedig-Briefwechsels die »sehr gebrochene Selbstsicht« Dürers feststellt. Für Rebel, Maler und Humanist, S. 253, rundet sich mit den Briefen an Heller »das Bild seines Charakters. Kein Zweifel, Dürer war unter anderem ein Pedant.« 84
Doch gerade hier liegt für ihn in den letzten Briefen der Ansatzpunkt zur Parodie. Vielleicht nicht so raffiniert gemacht, aber in der spöttischen Intention vergleichbar sind einige Passagen der Beheim-Briefe, in denen wiederum Pirckheimers Lebensart und diesmal Dürers Bart, also ein fester Bestandteil von Dürers Image, die Zielscheibe des Spottes sind. Von daher läßt sich fragen, ob die >Nürnberger unter sich< die Gelegenheit wahrnahmen, sich über ihre Rollen als Gelehrter oder Künstler zu mokieren, Rollen also, um deren Festschreibung in der literarischen Öffentlichkeit sie ansonsten ängstlich bemüht waren. 1 ' 2 Diese Frage wird im Zusammenhang mit den Scherzgedichten von 1509 erneut zu stellen sein.
1,2
Vgl. die in Kap. 2 Anm. 1 5 1 genannte Literatur.
85
IV. Die Reimpaardichtungen
ι.
Einleitung
Die wichtigste Quelle für die Reimpaartexte Dürers ist die sogenannte Frommannsche Handschrift, die heute im Germanischen Nationalmuseum liegt. Dabei handelt es sich um eine elf Blätter umfassende Abschrift des 17. Jahrhunderts, die dem Germanisten Karl Frommann gehörte. Das erste Blatt ist mit der Uberschrift versehen: »Albrechten Dürers deß Weitberümbten Kunstreichen Malers zu Nürmberg gemachte Reimen von seinem aignen Concept abgeschriben.«1 Die Texte sind den Jahreszahlen 1509 und 1510 zugeordnet. Ungewöhnlich an der Frommannschen Abschrift ist, daß sie nicht nur die Reimpaardichtungen Dürers überliefert, sondern auch Zwischentexte, die auf die jeweils folgende Dichtung hinleiten - eine Eigenart, auf die abschließend noch einmal zurückzukommen sein wird. Für die Dichtungen des Jahres 1509 einerseits und für den ersten Text des Jahres 151 o andererseits wird mit den Zwischentexten die Situation erklärt, in der die Reime entstanden sind: Erstere sind demnach Teil einer Auseinandersetzung Dürers mit Pirckheimer und Spengler, die in Form von Spottgedichten geführt wurde. Der erste Text des Jahres 1510 gehört zu einer scherzhaften Korrespondenz mit dem Ulmer Maler Konrad Merklin. Die übrigen nicht ganz zwei Dutzend Texte der Frommannschen Handschrift folgen auf das Gedicht an Merklin und sind demnach im Jahr 1510 entstanden. Sie sind jeweils mit einer Formel überschrieben, die knapp auf den Inhalt verweist (Das hab ich von Sanct Barbara gemacht 8, 1) oder nur lapidar festhält: Darnach macht jch (21, 1). Diese Reimpaardichtungen sind religiösen oder moralisch-didaktischen Inhalts. Drei davon sind auch auf Einblattdrucken Dürers erhalten, und einer der publizierten Texte ist ein weiteres Mal in einer Wolfenbütteler Handschrift zusammen mit deutschen Texten Pirckheimers und Spenglers überliefert.2 1
2
G N M N , Hs. 8 1 1 3 4 . Die Texte werden (mit Ausnahme der drei Einblattdrucke) nach der Numerierung und Verszählung bei Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 1 2 8 - 1 4 1 , zitiert; zur Uberlieferungsgeschichte ebd., S. 128. Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Nachdr. der Ausg. 1 8 8 4 - 1 9 1 3 ,
87
Schließlich ist hier der Vollständigkeit halber zu erwähnen, daß außerdem ein Dürer zugeschriebener Zweizeiler in den Dürer-Autographen der British Library, London, enthalten ist,3 und daß Dürers Beischriften auf Bildnissen des öfteren gereimte Zweizeiler sind, vorwiegend mit dem Reim gestalt/alt wie bei: Das maltjch nach meiner gestalt/ Ich was sex vnd zwenczig jor alt.4 Bei Darstellungen des Nürnberger Literaturbetriebs bleiben Dürers Reime in der Regel unbeachtet,5 denn sein vergleichsweise kleines und thematisch eng begrenztes Œuvre läßt erkennen, daß Dürer nicht mehr als ein Gelegenheitsdichter war. Aus dieser Einschätzung heraus sollen seine Dichtungen im folgenden beschrieben werden. Damit besteht ein Gegensatz zur Dürer-Forschung, die das romantische Autorkonzept zugrundelegt und die Texte als Erlebnisdichtung versteht. Entsprechend stellt Rohowski fest: »Die Gedichte sind für Dürer ein literarisches Medium, seine Sorgen und Ängste nicht nur im Bild, sondern auch in Sprache, in seine Sprache, umzusetzen.«6 Von einem derartigen Anspruch her hat man auf der einen Seite das literarästhetische Ungenügen der Texte festgeschrieben und auf der anderen Seite ihre Inhalte mit dem etablierten Bild von Dürers >Persönlichkeit< in Einklang zu bringen versucht.7 Bd. 8: Die Augusteischen Handschriften, Bd. 5, beschrieben von Otto von Heinemann, Frankfurt a.M. 1966, Nr.3941, S.2i6f.: Hs.98.12 Theol. 4 0 , fol. 137-144. Dort werden noch zwei weitere Texte Dürer zugeschrieben, für die man inzwischen Dürers Autorschaft ausgeschlossen hat. Hansjürgen Kiepe, Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Schreib- und Druckwesen im 15. Jahrhundert, München/Zürich 1984 (MTU 74), S.271-273. 3 BL, London, Add. 5229, fol. 55a; Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, Nr. 27, S. 141: Welcher mensch ein neydig hertz hat,/ Daz pringt im awffgehawften vnrat. 4 Siehe Rupprichs Verzeichnis der deutschen Beischriften Dürers auf Bildnissen und Zeichnungen, ebd., Nr.6, 7, 21, 24, 53, S.205—211, hier Nr.8. 5 Straßner (s. S. 7, Anm. 1); Lesting-Buerman (s. S. 5, Anm. 24); Jörn Reichel, Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg, Stuttgart 1985. Rohowski, Künstlerlegende, S. 79. 7 Die Dichtungen bezeugen für Rupprich, Literarisches Bild, S. 226, Dürers »Bemühungen um die Ausdrucksmöglichkeiten im Wortkunstwerk«; in der Einleitung zu seiner Edition stellt Rupprich, S. 7, dann fest: »Er war kein großer Dichter.« Peter-Klaus Schuster, Individuelle Ewigkeit: Hoffnungen und Ansprüche im Bildnis der Lutherzeit, in: Biographie und Autobiographie in der Renaissance, hg. v. August Buck, Wiesbaden 1983 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissance-Forschung 4), S. 1 2 1 - 1 7 3 , hier S. 123, unterstellt Dürer wegen des von ihm gedichteten Memento mori Todessehnsucht: »Und die Angst vor Sünden äußert sich bei Dürer schließlich geradezu in einer Sehnsucht nach dem Tod, als Wunsch nach einem kurzen Leben: >Wollt got, daz ich kurcz wol lebm kündtk«; Rohowski, Künstlerlegende, S. 58: »Das Streben nach einem tugendhaften Leben, im Vertrauen auf die göttliche Gnade, aber auch im ständigen Bemühen um den richtigen Weg, sind für Dürer als Mensch und als Künstler die wichtigsten Anliegen. [...] Dürers Gedich-
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2. Die scherzhaften Dichtungen a) Die Spottgedichte des Jahres 1509 Unter der Jahreszahl 1509 überliefert die Frommannsche Handschrift insgesamt fünf Reimpaartexte von Lazarus Spengler und Dürer (2-6),8 die von den Zwischentexten als eine Auseinandersetzung um Dürers dichterische Aktivität ausgewiesen werden. Das Corpus beginnt mit einer Invokation, der Jahreszahl 1509 und einer Autorzuweisung, von der man nicht sagen kann, ob sie von Dürer stammt: Also spricht Albrecht Dürer, maier, der in seinen kupfersticken das zaichenfürt:"Bi. Im Anschluß an einen Satz religiösen Inhalts9 ist notiert: D i e ersten reimen, die jch macht inn obbemeltem jar, der w a r e n z w e n , hett einer souil silben alß der annder, v n d jch mainet, jch hetts w o l troffen, alß hernach steet: D u aller enngel Spiegel v n n d erlöser der welldt, D e i n große marter sey f ü r mein sünt ein widergelt. D e n laß Wilibaldt Pirckamer v n d spotet mein v n d sagt, kein reim sollt mehr dann 8 silben haben. D o hub jch an v n d machet die nachfolgenden 1 8 reimen, w e l c h e mit 8 silben. M i t grosser begier, ehr vnnd lob Bitte jch gott v m b die acht gab. O d e r also: M i t allem vleiße darnach streb, D a z dir gott die acht weißheit geb. Billich w i r d der ein weiß mann gnendt, D e n reichtumb v n d armut nit plendt. D e r mann pflegt auch grosser weißheit, D e r w o l l u s t v n d trauren gleich treidt. (2, 1 0 - 1 9 ; 3, 2 0 - 2 8 )
Das Gedicht listet dann die weiteren sechs Weisheiten nach dem wer-derMuster auf. Ob Dürer, wie er behauptet, die geforderten acht Silben eingehalten hat, ist nicht sicher, die Abschrift zumindest weicht davon laut Rupprichs Lesartenapparat in einigen Fällen ab.10 (In der Edition ist die te sind Ausdruck der individuellen Anstrengung, den rechten Weg zu Gott nicht nur rezeptiv nachzuvollziehen, sondern auch selbst zu finden.« 8 Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 1 2 8 - 1 3 1 . 9 Ein ydliche seel, die do ewiglich soll leben, die wirdt erquickt jnn Jhesu Christo, der da ist auß zweyen substantzen inn einer person gott vnd mensch, daz allein durch die gnad geglaubt, vnd durch natürlich vemunfft nimmermehr verstanden wiirdt (1, 4-9). 10 3, 21; 3, 23; 3, 34.
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Achtsilbigkeit durch Rupprich hergestellt.) Der nächste Zwischentext berichtet von einer erneuten Vorlage bei Pirckheimer: Das obgemellt gefiel herrn Wilibald Pirckamer aber nit. Da bat jch Lasarus Spengler, das er mir den sinn inn reimen machet. D o thet er alß hernach geschrieben steet: Wer vmb gott dise gnad erwürbd, Fehrt wol ohn zweifei, so er stirbt. Der wirdt ein weiser mann gespürt, Den gold vnd armuet nicht verfürth. (3, 41-44; 4, 45-48) Es schließen sich sieben Reimpaarverse an, in denen nach demselben M u ster verschiedene Beispiele für weises Verhalten gegeben werden. Der Text der Frommannschen Abschrift legt den Schluß nahe, daß die neue Version die Vorlage metrisch verbessern sollte, denn die Anzahl der Tonbeugungen ist gegenüber Dürers Vorlage erheblich verringert. Dem weiteren Bericht zufolge erhielt Dürer nach der redigierten Fassung von Spengler bey herrn Wilibaldt Pirckamer (4,64) ein Spottgedicht: Wiewol vil sachen sich begeben, Die vnnser gwonheit widerstreben Vnnd deßhalb zuuerwundern stehn, So mag ich doch nit wol vmbgehn, Euch einen hanndel zuentdecken, Der eüch zu lachen wirdt bewecken. Vnnd ist darumb also gethan: Ihr kenndt ohn zweifei einen mann, Hat kraußes harr vnnd einen bart, Der ist auß angeborner art Ein maier ye vnnd allweg gwesen. Vnd darumb daz er schreibn vnnd lesen Zwo elen vnnd ein virtel kan, Vermeint er sich zu vntersthan, Die kunnst der schreiberey zu treiben, Hat angefanngen reimen schreiben. Daz wil im doch nit gleich an sthan, Vnd möcht im wol also erghan, Wie auf ein zeit aim schuester bschach, D o er eins maiers bild ansach, Das er hett an die sonnen gstellt. (5, 66-86) Spengler fährt fort mit dem Plinius d.A. entlehnten Beispiel vom Schuster, dessen Urteil über die schlecht gemalten Schuhe der Maler Apelles akzeptiert, den er jedoch zurückweist, als er sich auch Urteilsvermögen über die gemalten Kleider anmaßt. 11 Spengler leitet daraus für Dürer die Lehre ab: 11
Plinius, Nat. hist. 35, 84.
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Also sag jch auch disem mann, So er das maler handtwerck kan, Das er dann bey demselben bleib, Damit mans gspött nit auß im treib. Dann so ein Schneider pelcz wollt machen, Jch glaub, deß wiird ein yeder lachen. (5, 1 0 6 - 1 1 1 ) Dürer antwortet darauf seinerseits mit einem Spottgedicht: D o jch das empfieng von Lazarus Spengler, macht jch im das nochfolgendt gedieht darauf: Es ist zu wissen inn der frist, Das ein Schreiber zu Nürmberg ist, Meiner herren gar ein werth mann, Darumb daz er missif 1 2 schreibn kan. Der vermeinet die leüth zu schmiczen Vnd zuvertrucken mit sein wiezen, Alß er mir zu gespött hat than, Da ich hab reim gefanngen an Für mich zu schreiben von acht weissen, Die mein sprach fast thett preißen. Nach dem im das nit [wol] gefiel, Macht er von mir ein faßnacht spil, Darinn er mich gleich achten thut Dem altreüßen im praiten huet, Der deß Appelli gmehl vrtheilt, D a z er im ein saw ansailt. D i e hat der Schreiber heimbgetriben,
Maint, jch wer wol ein maler bliben. D o hab ich mir fürgenummen Vnd wil noch nit gar erstummen, Noch was z'lernen, daz ich nit kan, Darumb strafft mich kein weißer mann, Dann wer allweg auf eim ding blib, Vnd nimmermehr kein annders trib, Dem bschehe alß jem notari, Der wohnt auch inn vnnser statt hie. (5, m í . ; 6, 1 1 4 - 1 3 9 ) E s folgt das Beispiel eines Notars, der zwei Kunden kein Schreiben ausstellen kann, weil ihre Namen anders lauten als in dem von ihm gelernten Beispielformular, ein Exempel, das Dürer möglicherweise Poggio entlehnt hat. 13 A u s dieser Replik an Spengler, der seit 1 5 0 7 Ratsschreiber war, folgert Dürer, daß man auf allen Gebieten hinzulernen muß, und leitet daraus seine Rechtfertigung ab: 12
Missive: Sendbrief, Beglaubigungsschreiben. ' ' Rohowski, Künstlerlegende, S.62: Poggio, Facetiae, Nr. 104.
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Darumb daz mir deßgleichen nit widerfahr, Thuet noth, daz ich lernung nit spar, Vnd daz ich fleiß darzu thue, Dann die zeit ist noch friie. (6, 156-159) Gemäß dieser Auffassung wolle er nit allein schreiben,/ Sonnderauch artzenney treiben (6, i6i{.). In den folgenden Zeilen gibt er eine Kostprobe von Daz maiers artzenney (6, 165): Drumb hört, was eüch solcher artzt lehrt Vil gueter stuck, daz gsundtheit merth: Ein kleines tröpfflein rainer laugen, Ist gesundt zuthun inn die äugen. Vnnd wer fasst scharff gehören wöll, Der thue inn die ohren mandi öel. Auch wer da hat ein stinckents maul, Dem ist die leber inn bauch faul. Doch wer guet weiß zehn will haben, Der laß ims offt mit pimbß schaben. Vnd welchem sein arschloch offt bluet, Darfür ist Spiegier Damis guet.'4 Wer deß zipperleins loß will sein, Der trinck wasser für starcken wein. Vnd wer gesundt pain will bhallten, Der soll kein plock stanndtling spallten. Aber so du lang willst leben, Mustu offt für milch treck geben. Darumb, wer hundert jar allt wirdt, An dem ist mein rath wol gespürt. (6, 166-185) Dürer schließt mit der Absichtserklärung, weiterhin zu reimen, dem Lachen des Schreibers zum Trotz. Die übliche Deutung dieser Texte baut darauf auf, daß man den Versuch Dürers sehr ernst nimmt und den Verbesserungsvorschlägen Pirckheimers und Spenglers beipflichtet. Dürer hätte, meint Rebel, mit seinem ersten Reim »höhere literarische Ansprüche« nicht befriedigen können, obwohl er »tiefernst und mit Leidenschaft bei der Sache« gewesen sei. Pirckheimer hätte wahrscheinlich schon mißbilligt, »daß der Freund in fremdem Revier wilderte«. 1 ' Rohowski leitet ihre Analyse mit der Feststellung ein, daß Dürer »alle Voraussetzungen für einen in der Einschätzung seiner humanistischen Freunde legitimen Umgang mit der Dichtkunst« fehl14
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Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 1 3 1 Anm. 28, vermutet dahinter zwei Arzneimittel, ein Wurm- und ein Abführmittel. Rebel, Maler und Humanist, S. }2yf.
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ten.' 6 Dürer hätte, so urteilt Hans von Schubert, beim »ersten Schritt ins poetische Land [...] schüchtern Spengler zu Hilfe gerufen«,' 7 nachdem, so könnte man mit der neuen Spengler-Edition ergänzen, Pirckheimer seine Verse »mit gönnerhafter Belehrung für den Dilettanten in der Poetik« kommentiert hatte.' 8 Diese Wertungen setzen voraus, daß es deutliche Grenzziehungen gegeben hätte zwischen normgerechter >Dichtkunst< und solchen Reimpaartexten, wie Dürer sie schrieb. In der zeitgenössischen Verspraxis ist eine solche Einteilung jedoch nicht zu beobachten, vielmehr stehen alle Stufen, die hier von Dürer, Pirckheimer und Spengler verhandelt werden, nebeneinander. Verse mit mehr als zehn Silben finden sich etwa in Texten Rosenplüts,' 9 in Handschriften aus dem >Werkkomplex RosenpIütLob der fruchtbaren FrauRosenplüt< mit zahlreichen Beispielen. 21 StBN, Cent. VII, 24 (Gebetshandschrift aus dem Katharinenkloster, 1. H. 15. Jh.), zit. nach: Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 1: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, bearb. v. Karin Schneider, Wiesbaden 1965, S. 296-305, hier S. 297, Nr. 6 (Ave-Maria-Paraphrase in Versen). 17
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Reimpaarsprüche,22 zwischen acht Silben für männliche und neun Silben für weibliche Reimkadenzen unterscheiden.23 Die Rücksicht auf die natürliche Wortbetonung erscheint auf dieser Stufe der Verspraxis allgemein eher zweitrangig. Für Dürer ist die Frage der Tonbeugungen offensichtlich gar kein Gesichtspunkt. Den gehobenen Anspruch auf natürliche Wortbetonung führt Spengler ein, indem er Dürers Verse so glättet, daß sie sich ohne Tonbeugung alternierend lesen lassen.24 So völlig aus der Welt, wie die Dürer-Forschung das gerne unterstellt, sind Dürers Ansätze zum Reimen also nicht. Spengler und Pirckheimer lassen jedoch ihm gegenüber die untere und mittlere Stufe der Verspraxis nicht gelten und formulieren Verbesserungsvorschläge, an die sich zumindest Pirckheimer in seinen volkssprachigen Reimpaardichtungen auch nicht gehalten hat.25 Schon das ist ein Indiz für den Unernst der mit Dürer geführten Reimdebatte. Spengler geht in seinem Spottgedicht noch einen Schritt weiter. Eben nicht beschreibend, wie die bisherige Forschung meint, sondern übertreibend bezeichnet er Dürers >ersten Reim< als Versuch, die kunnst der schreiberey zu treiben (5, 80), und mit dem gleichen Ernst verweist er Dürer in sein maier handtwerck (5,107) zurück. Das Plinius-Beispiel zielt dementsprechend auf einen besonders erniedrigenden Rollentausch. Ubernimmt Dürer für seine Kunstwerke in Anlehnung an Plinius die Signaturformel des Apelles, 26 so soll er hier sogar von dem durch Apelles zurechtgewiesenen Schuster lernen. 22
Hans Folz. Die Reimpaarsprüche, hg. v. Hanns Fischer, München 1961 (MTU 1); Ausnahmen: ebd., Nr. 25, S. 188-210 (Der Beichtspiegel); ebd., Nr. 38, S. 319-330 (König Maximilian in Nürnberg). 23 Otto Paul/Ingeborg Glier, Deutsche Metrik, München '1989, S. 100-104. 24 Daß dies in der zeitgenössischen Verspraxis keineswegs üblich war, zeigt das Humanistenlob für Sebastian Brants Verskunst im >NarrenschiffNarrenschiffs< Friedrich Zarncke, in: Sebastian Brants Narrenschiff, hg. v. dems., Leipzig 1854, S.288-291. Zur Rezeption die Skizze bei Joachim Knape, Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457-1521, Baden-Baden 1992 (Saecvla spiritalia 23), S. 249-254. 25 Reicke (Hg.), Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 392-402, z.B. v. 339-342, S.402: Meyn leyb, sei und leben,/ Das ist dir gantz zu eygen geben,/ Dann du pist die holtselig, die traut,/ Meyn auserweltepaurenpraut. Demgegenüber ist Spengler in den Reimpaarversen seiner >UnterweisungSpottbild für Lazarus Spengler< bezeichnet wird (s. Abb. 5).30 Diese Zeichnung ist überschrieben: Eyttel missyff: d y werden do gschmit, truckt vnd pachen. Im 1 5 1 1 jor. A . D .
Unterhalb der Zeichnung, die drei Männer zeigt, deren linker die Sendschreiben 3 ' schmiedet, deren mittlerer sie druckt und deren rechter sie backt, folgt die Inschrift: Liber Lasarus Spengler! Ich schick vch do den fladen. Grosser vnmus halben hab jch jn nit er pachen mügen. Lat jn ewch also woll gefallen.
Rupprich bemerkt zu diesem Blatt, daß es »bisher nicht gelungen [sei], den Sinn der Zeichnung endgültig zu deuten,«32 und auch Rebel hält für Bild wie Inschrift fest, daß sie »letztlich nicht ganz auflösbar« seien.33 Wenn man die Zeichnung vor dem Hintergrund der Spottgedichte ansieht, bietet sich immerhin ein Anhaltspunkt zur Deutung an. Dürer zahlt hier Spengler seinen Spott mit gleicher Münze heim: Die missif als Betätigungsfeld des Ratsschreibers werden in der Zeichnung handwerklich hergestellt, ebenso wie Dürer seine Zeichnung als >gebackenen fladen< bezeichnet. Man kann also annehmen, daß die Scherze von 1509 über einen gewissen Zeitraum hin fortgesetzt worden sind.34
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schichte, hg. v. U d o Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann, Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 10), S. 1 5 5 - 1 8 6 . Die Zeichnungen Albrecht Dürers, hg. v. Friedrich Winkler, B d . 3 , 1 5 1 0 - 1 5 2 0 , Berlin 1938, W. 623. Das folgende Zitat nach Rupprich, Brief Nr. 22, S. 76. An den daran hängenden Siegeln ist deutlich zu erkennen, daß es sich um offizielles Schriftgut handelt und nicht - wie Rebel, Maler und Humanist, S. 326, annimmt - um eßbare Fladen, die hier gebacken werden. Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 76. Rebel, Maler und Humanist, S. 326. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang außerdem die bei Rupprich (Hg.), Dürer, 96
Gewinnt Dürer in den Venedig-Briefen seine Scherze aus dem souveränen Umgang mit der Textsorte des volkssprachigen Privatbriefs, indem er nämlich die Regeln der brieflichen Kommunikation verletzt, so wird die spöttische Auseinandersetzung hier, bedingt durch den Anlaß, in der Reimpaarrede ausgetragen. Vermutlich sind diese Texte im Freundeskreis auch vorgelesen worden. Dürers Anleihen bei der Schwankdichtung zeigen, daß er auch in der Reimpaardichtung über mehrere Stilebenen verfügt. Vielleicht darf man so weit gehen und in den Spottgedichten von 1509 eine Parodie auf die literarische Kommunikation der Humanisten sehen. Statt einander wie dort vor der literarischen Öffentlichkeit wechselseitig zu erwähnen, einander zu widmen oder (im Fall Dürers) zu porträtieren, schafft man sich privat Entlastung von den öffentlich vorgetragenen Ansprüchen. In dieser Hinsicht stehen die Scherzdichtungen des Jahres 1509 in der Nähe der Venedig- und Beheim-Briefe. Der Witz der Scherzgedichte beruht auf der Konfrontation von literat und illiterat, zweier Bildungswelten, die hier gegen die gesellschaftliche Erfahrung um 1500 scharf voneinander abgesetzt werden. 35 Die Last des Spottes trägt vor allem Dürer. Denn er ist unter den Nürnberger Freunden der einzig Unstudierte, und er hat, wie die letzten beiden Kapitel gezeigt haben, tatsächlich mit der Diskrepanz von Anspruch und sozialer Wirklichkeit zwischen Künstler und Handwerker zu tun. Umso bemerkenswerter erscheint die Selbstironie, mit der Dürer seinen Anspruch auf Allgemeinbildung verficht und auch noch Spenglers leisen Spott über seinen Bart in seine Replik aufnimmt. b) Die Korrespondenz mit Merklin Mit den ersten Texten, die die Frommannsche Handschrift unter der Jahreszahl 1 5 1 0 überliefert, hat Dürer sich den Inhalt eines Briefwechsels mit dem Ulmer Maler Konrad Merklin notiert,36 der nur selten Beachtung fin-
Bd. ι, S. 207, abgedruckte Inschrift auf der Rückseite eines verschollenen Gemäldes, die Joseph Heller überliefert haben soll. Hier wird ein Zusammenhang zu den Spottgedichten von 1509 hergestellt: Ich will den noch verse machen,/ Salt du Schreiber noch mehr lachenn/ Und der haarig bartig mahler/ Wird durch dies gemähl dein Zahler. 33 Vgl. Grenzmann/Stackmann (Hgg.), Laienbildung, und Volker Honemann, Laien als Literaturförderer im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, hg. v. Thomas Kock und Rita Schlusemann, Frankfurt a.M. [usw.] 1997, S. 147-160. 36 Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 132. 98
det. 37 Merklin, ein gueter freiindt (Z. zi.), hat Dürer demnach ein gar frölichen brief (Ζ. 3) folgenden Inhalts geschrieben: Damit er mich zu gelechter bewegt, zog er an, er hett gar ein jrrig gemüet, dann die gelerten zu Vim kiindten nit auflösen. Nun vernem er, ich wer gar ein weißer mann, jch sollt ihn von solcher fantasey erledigen. Vnd wer daz der handel: er hett kürtzlich ein tafel auf ein altar geseczt, nun kam yedermann darfür vnnd Sprech: »Ey wie stehet auf dem altar so ein schöne tafel!« Darumb so ich die tafel gesetzt hab, wie kan sie dann stehn. (3-12) Nachdem ausgerechnet die gelerten sein Problem nicht lösen können, wendet sich Merklin an Dürer. Die gestellte Frage, ob nämlich die kürzlich von ihm fertiggestellte Tafel nun auf dem Altar sitze oder stehe, beantwortet Dürer, indem er Merklin zu annderer geschrifft ( 1 3 ) einige Reimpaarverse schreibt, in denen er den Fall zunächst noch einmal referiert und dann wie folgt löst: So allein auf ers gsessen wirdt Vnd steen auf füssen sich gebürth, So werden all die vnrecht haben, Die tafel »seczen« »stannden« sagen, Darumb der keines mag nicht sein. Derhalb trinckt gueten külen wein, Der im selcklein sey gewachssen, So habt jhrs besser dann die Sachsen. Die müssen saures pier trincken, Daz macht eim maul vnd arsch stincken. Also will ich mit beschließen, Das last euch nit fast verdriessen. (7, 23-34) Im Anschluß an seinen grobianischen Exkurs setzt Dürer die Replik fort, indem er nun seinerseits Merklin eine Aufgabe stellt: ob jemand, der in eine lambshaut (7, 40) gekleidet sei, ein Fell oder Leder trage, die Lösung wolle er fürwahr gern lesen (7, 50). Für eine Antwort auf die Frage nach dem Anlaß dieser scherzhaften Kommunikation kann man dem Abschluß des Gedichts einen Hinweis entnehmen:38 Damit wünsch ich eüch ein Neü Jahr, Mit glück vnd hail, daz werd eüch wahr.
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Bei Rohowski, Künstlerlegende, S. $ 8, wird der Text im Nebensatz abgehandelt; Löcher, Dürer als Schriftsteller, und Rebel, Maler und Humanist, erwähnen ihn nicht. Dies setzt voraus, daß man die in der Handschrift folgenden Reimpaarverse, die Rupprich in seiner Edition nur leicht abgesetzt anschließt, nicht mehr der Merklin-Korrespondenz zurechnet.
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Möglicherweise handelt es sich bei diesen Scherzbriefen, die den Adressaten jeweils mit einer Scherzfrage nach dem ob-oder-Muster zu einer scharfsinnigen Antwort herausfordern, um literarische Neujahrsgrüße. Damit ließe sich sogar die Reimform begründen. Der Brief Merklins liegt zwar im Original nicht vor, aber Dürers Antwort in Reimpaarversen könnte in der Tradition der gereimten Neujahrsgrüße stehen, die jedenfalls in Nürnberg verbreitet waren.39 Die beiden Scherzbriefe, der nur dem Inhalt nach überlieferte Brief von Merklin und Dürers Gedicht, behandeln harmlos-gesellige Scherzfragen.40 Von daher lassen sie sich enger als die Venedig-Briefe an die Erwartungen anbinden, die im Briefsteller von Friedrich Riederer im Kapitel zu den Scherzbriefen formuliert werden. Dort ist eine Theorie von drei Briefgenera entwickelt, deren eines die scherzhaften Briefe sind, dadurch in vffweckung des gelächters/ lustbarkeit [...] gesucht wir dt y Das können sie in verschiedenerlei Weise, unter anderem durch suß vnd héfflich wort, die dem Adressaten schmeicheln, durch scherzhafte Unterweisungen an den Briefpartner oder indem man Wörter verdreht.42 Musterbriefe stellen Beispiele für die Umsetzung dieser Ratschläge vor Augen. Ein Beispiel zeigt, wie jemand seinen Freund um briefliche Auskunft darüber bittet, wie er mit seinen wenigen Haushaltsgegenständen auskommen könne. Uber zwei weitere Briefe hin zieht sich nun eine Diskussion über die Funktionsvielfalt des wenigen Geräts. Zuletzt findet sich der Brief an Cochlöffel, dessen Anrede im Zusammenhang mit den Venedig-Briefen bereits zitiert worden ist.43 Wie bereits gesagt, ist die Wirkung gerade dieses Kapitels von Riederer umstritten. Dennoch halte ich es nicht wie Steinhausen für belanglos.44 Daß der Beitrag nicht völlig an den zeitgenössischen Bedürfnissen vorbei konzipiert ist, wird dadurch nahegelegt, daß neben den besprochenen
" Arne Holtorf, >Klopf anReform< ihres Ordenslebens vorgeschlagen. Sie antwortet, indem sie den Adressaten gemäß ihren zeitweiligen Aufgaben in der Nürnberger Verwaltung als Pfleger des Klosters, als Stadtschreiber und als Gutachter in Architekturfragen spöttisch ihre Aufgaben bei der >Reform< zuweist. Das Angebot, ihrem Konvent vierstimmige Chorsätze mitzubringen, lehnt sie ab, weil ihre Stimmen wegen des allzu sauren Biers so klingen könnten, daß selbst die Hunde aus der Kirche laufen würden (27, 41-45). Sie sorgt sich sodann um die >Treue< ihrer Korrespondenten, die ihre Augen in die schwarzen vnnd weyßen agerlastern (die Augsburger Dominikanerinnen) verrencken und darüber die grauen wòflein zu Nurenberg (die Klarissinnen) vergessen könnten (27, 45-48). Den scherzhaften Brief schließt sie mit einem Wortspiel um ihren Namen: Verzeycht mir, mein lieb gunstig herren, mein schrifftlichs schreiben. Es geschickt alles jn caritate (27, ¿6f.). Caritas fügt einen Segenswunsch hinzu und unterschreibt mit ihrer geläufigen Formel: S. Caritas, vnnütze abtissin zu sannt Ciaren jnn N[urenberg
4!
Guhl, Künstlerbriefe, Nr. 1 5 1 , S. 3 J3f.; an dieser Stelle soll auch ein von Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes, Bd. 1, S. 97, als Zeugnis adliger Lachkultur verstandenes Schreiben erwähnt werden, in: Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung der Urkunden, Chroniken und sonstigen Geschichtsquellen für die Geschichte der Mark Brandenburg und ihrer Regenten, hg. v. A . F. Riedel [u. a.], Bd. III, 1, Berlin 18 5 9, Nr. 242, S.358f.
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Nr. 27, S. 8of. [Original verschollen]; s. ferner: Pfanner (Hg.), Briefe von, an und über Caritas Pirckheimer, Nr.92, S. ιγιί.
ΙΟΙ
H.R.] (27, 68f.). Auch in einem weiteren Brief wird, allerdings nur am Rande, dieser Scherz nochmals aufgegriffen.47 Die Venedig-Briefe insbesondere, aber auch die Spottdichtungen von 1509 scheinen im Hinblick auf Teilnehmer und Gegenstände exklusiv. Nur sehr pauschal und unter Absehung von ihren Besonderheiten lassen sie sich jener allgemeinen Scherzkultur zuordnen, die mit den zuletzt besprochenen Briefen aufscheint. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Schriftlichkeit durch Laien im Spätmittelalter geht, so hat es den Anschein, auch die Erprobung ihrer kommunikativen Möglichkeiten einher. Dürer, Merklin, Manuel usw. haben hier den Scherzbrief als gesellige Kommunikationsform im Freundes- und Bekanntenkreis für sich entdeckt. Die vorgestellten schimpflichen briefe lassen sich somit als eine durch die zeitgenössische Brieflehre gedeckte Modeerscheinung verstehen - als Modeerscheinung, die aus der >Freude am kommunikativen Luxus< einer - hinsichtlich Alltäglichkeit, Umfang und Standardisierung neuen Schriftlichkeit erwächst.48
3. Die weiteren Dichtungen Uber die Scherzgedichte hinaus enthält die Frommannsche Handschrift legt man die Zählung Rupprichs zugrunde - weitere 18 Reimpaartexte von unterschiedlichem Stellenwert, bei denen es sich entweder um Gebete oder um moraldidaktische Texte handelt. Die mit 99 Versen längste Dichtung, die in der Handschrift kurz nach der Merklin-Korrespondenz folgt, ist offenkundig ein unausgereifter Versuchstext. Dürer listet darin in mehrfachen Anläufen nach dem wer-der-Muster die Eigenschaften eines bösen Menschen auf. Verse, die man als Schluß erwarten könnte, stehen mitten im Text: V n d der bößheit sint noch gar vil Die jch nit all sagen will. Vnmüglich wers mir auch zuthan Darumb will jchs hierinnen lan. (9, 8 2 - 8 5 )
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Ebd., Nr.93. Der Begriff der >Freude am kommunikativen Luxus< nach Gerd Fritz, Geschichte der Dialogformen, in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. v. Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1993, S. 544-561, hier S. 549.
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Auch daß sich unter den noch folgenden 15 Versen ein Dreireim findet, gibt der Vermutung Raum, daß es sich um ein (frühes?) Experiment handelt.49 Die beiden Zweizeiler der Frommannschen Handschrift enthalten allgemeine Erfahrungssätze zum Thema Freundschaft: Den freündt magst wol mit ehm meiden/ Von dem du allweg must leiden (14, 4f.) und Gen kein freündt sollt dich mercken lanj Daß du sein gunst nitt mehr wolst han (19, 2f.). Dieses Thema hat Dürer ein weiteres Mal in einem Text von 26 Zeilen entfaltet (11). Da er zum ersten der Zweizeiler angemerkt hat, daß er ihn aus einem bestimmten Anlaß notiert habe (auß vrsach, ainer betrübet mich vil, dem jch trew was, vnnd mich vil güets zu ihm versähe 14, 1-3), glaubte man Grund genug zu haben, alle drei Texte zur Freundschaft auf Pirckheimer zu beziehen.50 Nachweisen läßt sich ein solcher Zusammenhang nicht. Vielmehr mahnt die Beobachtung, daß es sich bei der Freundschaft um ein gängiges Thema der Versdidaxe handelt, zu Vorsicht gegenüber solchen Identifikationen.5' Die größte Gruppe in der Frommannschen Handschrift bilden sechszeilige Reimpaartexte. Vier davon lassen sich unter dem Oberbegriff des Moralisch-Didaktischen zusammenfassen: Uber einen Narren freut man sich, aber keiner trauert ihm nach (15); einen Abhängigen soll man freigeben, sobald er sich hat taufen lassen (25); wer Gott fürchtet und genügsam und gesund lebt, dem wird es Wohlergehen (10); manch einer überschätzt sich selbst (18). Die beiden letzteren Texte sind wiederum im wer-derMuster geschrieben. Die übrigen sieben Texte sind Gebete an die Heiligen Barbara (8), Katharina (16) und Martin (23), an das Kreuz (20), an Christus (24) und Maria ( 17,21 ). Sie sind im wesentlichen gleich strukturiert. Auf die Anrufung folgt die Bitte um Beistand oder Fürbitte in der letzten Not. Damit nimmt Dürer einen Texttypus auf, der als steter Begleiter der Andachtsgraphik erscheint. Dieser Gebrauchszusammenhang für die kürzeren Gebetstexte wird auch insofern nahegelegt, als zwei der Texte (16 und 17) tatsächlich auf Einblattdrucken mit einem Holzschnitt und einem nebenstehenden lateinischen Text publiziert wurden. Die Holzschnitte stammen womöglich von Hans Baidung,52 für den lateinischen Text vermutet Rupprich die 4
' Als Versuchstexte zu nennen wären hier auch der Vierzeiler mit Kreuzreim, der sich an die Merklin-Korrespondenz anschließt (7,53—56), und der nachfolgende Text von sechs Reimpaaren (7, 5 7-68). s ° Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 13 5 Anm. 1 zu Text Nr. 11 ; S. 13 8 Anm. 1 zu Text Nr. 14. 51 S. z.B. Brant, Liber Moreti, in: Zarncke (Hg.), Brant (s. Anm. 24), S. 142-147, hier S. 144^ ' 2 Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, S. 139.
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Autorschaft von Benedictus Chelidonius, jenem Benediktiner, der auch die lateinischen Gedichte zu Dürers drei Holzschnittserien von 1 5 1 1 geschrieben hat.53 Womöglich entstanden auch die anderen Reimpaartexte Dürers im Zusammenhang mit einer Publikationsabsicht. 54 Dürer hätte sich in diesem Fall einen kleinen Vorrat an Texten angelegt, auf die er bei Gelegenheit zurückgreifen konnte, wenn ein geeigneter Holzschnitt vorlag und ihm eine Presse zur Verfügung stand. Ebenso ist denkbar, daß er einige Texte, wie den Zweizeiler zur Freundschaft, gewissermaßen für den Hausgebrauch aufgeschrieben hat.55 Genauer läßt sich der Gebrauchszusammenhang bei den restlichen drei Texten der Frommannschen Handschrift, einem Tagzeitengedicht, einem Memento mori und einer moralisch-didaktischen Unterweisung, bestimmen. Sie sind von Dürer in querformatigen Einblattdrucken mit Holzschnitten publiziert worden. Die drei Drucke sind jeweils in gleicher Weise gestaltet. Sie teilen sich in eine rechte und eine linke Hälfte. Die linke trägt den Holzschnitt mit Uberschrift und darunter zwei Spalten Text. Die rechte bietet jeweils nur Text, der wiederum in zwei Spalten angeordnet ist. Rechts unten wird der Text mit Dürers Monogramm abgeschlossen, und die Holzschnitte sind mit der Jahreszahl 1 5 1 0 versehen.56 Die Einblattdrucke sind zu groß, als daß man sie mit sich hätte herumtragen können. 57 Vermutlich war daran gedacht, sie an die Wand
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Für weitere drei sechszeilige Versgebete an Heilige hat Rupprich aufgrund der gleichen A n o r d n u n g v o n Text und Bild im Einblattdruck Dürers A u t o r s c h a f t e r w o g e n (ebd.,
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S.I44Í·)· M a n w i r d bei D ü r e r nicht so weit gehen können w i e Heinrich Roettinger, Die Bilderbogen des Hans Sachs, Straßburg 1927 (Studien z u r deutschen Kunstgeschichte 247), S. 4, der meint, daß alle v o n Sachs überlieferten »Dichtungen v o n vier oder z w ö l f Versen zu Bildern gehörten.«
" Einen solchen Stellenwert k ö n n t e man auch dem oben (s. A n m . 3 ) erwähnten Zweizeiler zusprechen. D e r Holzschnitt >Tod und L a n d s k n e c h t trägt obendrein noch das M o n o g r a m m . Ich zitiere die Texte (bei Rupprich Nr. I 2 , i 3 u n d 2 2 ) i m folgenden nach den D r u c k e n der Veste C o b u r g (Inventar-Nr.: 1,20,172; 1,25,296; 1,25,297) und entsprechend mit v o n Rupprich abweichenden Verszahlen. Die D r u c k e lassen sich identifizieren mit: Joseph Meder, D ü rer-Katalog. Ein Handbuch über A l b r e c h t D ü r e r s Stiche, Radierungen, Holzschnitte, deren Zustände, Ausgaben und Wasserzeichen, W i e n 1932, Nr. 181, 1 (Christus am K r e u z mit Maria und Johannes); Nr. 239, i b (Tod und Landsknecht); Nr. 267, i b (Der Schulmeister). i7
Format nach M a x Geisberg, The G e r m a n single-leaf w o o d c u t : 1500-1550, rev. and ed. b y Walter L. Strauss, [München 1 9 2 3 - 3 0 ] N e w Y o r k 1974, Bd. 2: G . 7 3 4 - 4 (Christus am K r e u z mit Maria) 2 3 7 x 3 2 3 m m ; G . 7 3 4 - 4 (Schulmeister) 2 3 0 x 3 4 2 mm; G . 7 1 0 (Tod und Landsknecht) 2 1 2 x 3 1 5 mm.
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zu heften.58 Das ungewöhnliche Querformat könnte auch erlaubt haben, sie in Bücher einzulegen. Der erste hier zu besprechende Text ist in der Uberschrift als Tagzeitengedicht ausgewiesen (s. Abb. 6): Das sind die syben tagezeyt Darin christus auff erden leyt. (if.)
Tagzeitengedichte erzählen die Passion Christi nach, indem sie die einzelnen Stationen den sieben Tagzeiten zuordnen. Vermutlich aus liturgischer Tradition hervorgehend, sind sie in Vers und Prosa seit dem 13. Jahrhundert auch in der Volkssprache überliefert. Wie die Mehrzahl der spätmittelalterlichen Tagzeitengedichte schließt Dürers Text mit seinem Anfang (Des vaters ewige weißheyt/ Die gótlich menscheit christi leyt) an den lateinischen Hymnus >Patris sapientia< an. Welcher Vorlage Dürer damit folgt, ist gegenwärtig nicht zu entscheiden, denn die zahlreich in Handschriften und Drucken aus dem Spätmittelalter überlieferten Tagzeitengedichte sind bislang kaum gesichtet.59 Unterhalb des Holzschnitts stehen die beiden ersten Strophen zu Mette und Prim, auf der rechten Hälfte des Blattes folgen in zwei Spalten die übrigen fünf Strophen mit abschließendem, ebenfalls in Reimpaarversen abgefaßtem Gebet. Die Binnengliederung des Textes wird durch Zwischenüberschriften unterstützt, die die insgesamt acht zehnzeiligen Abschnitte der jeweiligen Tagzeit zuweisen und sie auch optisch voneinander abheben. Gemäß der Tradition verteilt sich das Passionsgeschehen wie folgt auf die Strophen: Gefangennahme, Jesus vor Pilatus, Verspottung/Kreuztragung, Kreuzigung, Tod, Kreuzabnahme, Grablegung.60 Die Nacherzählung wird - auch das entspricht dem literarischen Typus - durch Sprechereinschübe von Pilatus, den Schächern und Jesus unterbrochen, ebenso durch zwei Anrufungen, die sich in der Strophe zur Vesper finden: O mensch merck mit fleiß disen todt Ein ertzney fur die grösten not ,s
Diese Verwendungsart wird bezeugt von Folz, Hausratbüchlein, in: Fischer (Hg.), Folz (s. Anm. 22), Nr.40, S. 358-368, hier S. 358, v. 18: Prif an die want und ein loszedel. " Nigel F. Palmer, Tagzeitengedichte, in: VL, Bd.9, 1995, Sp. 577-588. 60 Ebd., Sp. 577-579; Vergleichstexte bei Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius, Bd. 2, Leipzig 1867, Nr. 929-93 3, S. 722-726 (Texte zu Patris sapientia).
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O Maria reyne iunckfraw H e r r Symeonß schwert do anschaw H i e leyt die grosse krön der ern D i e all vnser sund thút vertzern. ( 6 3 - 6 8 )
Das abschließende Gebet greift auf die heilsgeschichtliche Bedeutung der Passion für vns aus (die auch im davorstehenden Text anklingt), am Ende bittet das Ich: O herr gib mir w a r rew vnd leyt V b e r mein sund vnd pesser mich Deß pit ich gantz mit hertzen dich H e r r du hast Überwindung thon D r u m mach mich teilhaft des sigs krön. (86-90)
Der Holzschnitt zeigt mit dem Typus der >Kleinen KreuzigungBetrachtenCatoFacetus< und >Liber moreti< ergibt so viele inhaltliche und formale Entsprechungen, daß man Dürers Schulmeistergedicht als Ausschnitt aus der thematisch sehr viel weiter gefaßten Schuldidaxe gelten lassen kann. 72 Die sorgfältige Text-Bild-Konzeption der beiden anderen Einblattdrucke Dürers erlaubt auch hier, Text und Bild aufeinander zu beziehen und den Schulmeister demnach als Sprecher der Rede zu verstehen. Dann erscheint es jedoch für das Verständnis des Einblattdrucks nicht unerheblich, daß Dürer seinen Schulmeister-Holzschnitt gegenüber der Tradition abwandelt: Die große Nase, der hohe Hut, die drohend gestreckte Rute und die geduckten Schüler rücken den Schulmeister in die Nähe der Karikatur. Seine Autorität wird durch diese Darstellung relativiert, ebenso wie der Lehrinhalt. O h n e daß man hier letztlich eine Entscheidung treffen kann, steht damit die Möglichkeit im Raum, daß Dürers Reimpaarrede nicht den lehrhaften, sondern den scherzhaften Reden zuzuordnen ist.73
Ingeborg Glier, Hans Rosenplüt, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit, S. 71-82, hier S.76. 69 S. z.B. G. 1162 (s. Anm. 57); s. auch: Einblattdrucke des XV. Jahrhunderts. Ein bibliographisches Verzeichnis, hg. v. der Kommission für den Gesamtkatalog der deutschen Wiegendrucke, Halle a. d. S. 1914 [Nachdr. Wiesbaden 1968], Nr. 386,473,639,679,842,1047. 70 Allgemein: Nikolaus Henkel, Studien zu den deutschen Übersetzungen lateinischer Schultexte, München 1988 ( M T U 90). 71 Wilhelm Ludwig Schreiber, Die deutschen >Accipies< und Magister cum discipulis Holzschnitte als Hilfsmittel der Inkunabelforschung, Straßburg 1908 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 100). 72 Zarncke (Hg.), Brant (s. Anm. 24), darin >Cato< S. 131-137; >Facetus< S. 137-142; >Liber moreti< S. 142-147. So z.B. findet sich im >Cato< auch die Unterscheidung von schlechtem und gerechtem Zorn (Massig din ζorn zu aller ziti on ursach wellest zümen nit.) 73 Vergleichbar etwa den scherzhaften Reden von Folz, in: Fischer (Hg.), Folz (s. Anm. 22), Nr. 33 (Spottrezepte eines griechischen Arztes) und 34 (Praktiken), S.280-292; Zum Œuvre Folz' s. Johannes Janota, Hans Folz in Nürnberg. Ein Autor etabliert sich in einer stadtbürgerlichen Gesellschaft, in: Philologie und Geschichtswissenschaft. Demonstrationen literarischer Texte des Mittelalters, hg. v. Heinz Rupp, Heidelberg 1977 (Medium Literatur 5), S. 74-91. 6>
III
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ε - ε o =o 1-1 « XON f"» *-> Unterweisung der Messung< von 1525, die Befestigungslehre von 1527 und die >Vier bûcher von menschlicher Proportion« von 1528, mit Widmungsvorreden ausgestattet. Die beiden kunsttheoretischen Schriften widmete er Willibald Pirckheimer, die fortifikatorische Schrift König Ferdinand von Böhmen und Ungarn.1 Widmungsvorreden gehören wie Titelblatt, Kolophon oder Druckprivileg seit der Jahrhundertwende zunehmend zur Grundausstattung von Druckwerken. Die volkssprachige Widmungsvorrede lehnt sich formal an den Briefstil der zeitgenössischen Kanzleien an. Der Autor widmet sein Werk einer Person, der er nach eigenen Angaben zu Dank verpflichtet ist. Mitunter wird das Drängen des Widmungsadressaten als Grund genannt, weshalb die Publikation überhaupt nur zustande gekommen sei. Die Widmungsvorrede kann darüber hinaus die Aufgaben eines Prologs übernehmen, sie bietet dann auch Angaben zu Inhalt und Zweck des Werkes.2 In weiten Zügen handelt es sich um recht schematische Texte, die in manchen ihrer Gemeinplätze die durch den Buchdruck veränderten Rahmenbedingungen literarischer Produktion spiegeln (Anspruch auf gemein nutz, Warnung an Nachdrucker, Zurückweisen des Vorwurfs der Geldgier).3 Daneben bieten die Vorreden den Autoren aber auch Raum, das 1
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Ich zitiere im folgenden der Einfachheit halber nach Rupprich (Hg.), Dürer, Bd. 1, w o die gedruckten Widmungsvorreden unter die Briefe eingeordnet sind. Widmungsvorrede zur >Unterweisung< Nr.58, S. 114Í.; zur Befestigungslehre Nr.64, S. m f . ; zur Proportionslehre Nr.69, S. I2jf. und ebd., B d . 3 , Nr.68a, S.438 und Nr.69, S.4.40. Hennig Brinkmann, Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung. Bau und Aussage, W W 14 (1964), S. ι - 2 1 ; Helga Unger, Vorreden deutscher Sacnliteratur des Mittelalters als Ausdruck literarischen Bewußtseins, in: Werk - Typ - Situai ion. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur des Mittelalters, FS H u g o Kuhn, hg. v. Ingeborg Glier [u.a.], Stuttgart 1969, S. 2 1 7 - 2 5 1 ; für eine erste Orientierung über die lateinische Tradition Karl Schottenloher, Die Widmungsvorreden im Buch des 16. Jahrhunderts, Münster 1953 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 76/77). Zur Funktion dieser >Beigaben< im gedruckten Buch: Jan-Dirk Mü 11er, Jch Vngenant und die leüt. Literarische Kommunikation zwischen mündlicher Verständigung und anony" 7
Spezifische ihrer Werke in einer druckschriftlichen Öffentlichkeit zu kennzeichnen. Anders als in den übrigen Kapiteln dieser Arbeit besteht zu den Widmungsvorreden kein grundsätzlicher Diskussionsbedarf über die Textsorte und ihren literarischen Ort. Die Grundzüge der Texte gleichen einander vor und nach der Jahrhundertwende und sind bereits mehrfach beschrieben worden, 4 so daß hier darauf verzichtet werden kann, ein eigenes Vergleichscorpus zusammenzustellen. Da es auch keines eigenen Nachweises bedarf, daß Dürer diese Textsorte aufnimmt, werden die Standardinhalte seiner Vorreden erst abschließend zusammengefaßt und gedeutet. Eine Modifikation gängiger Forschungspositionen vor allem aus der Kunstgeschichte ergibt sich dabei insofern, als bislang weitestgehend unberücksichtigt blieb, daß die Widmungsvorreden bei dem gattungsgemäßen Versuch, ein unbekanntes Publikum zu Kauf oder Lektüre anzuregen, manche Sachverhalte eher behaupten als beschreiben.5 Der Fokus der folgenden Darstellung liegt auf der Frage, wie Dürer neben allem Pflichtprogramm der Vorrede die Gelegenheit wahrnimmt, den Ort seiner Publikationen und ihren Stellenwert zu bestimmen. Hierbei läßt sich auf wichtige Forschungsergebnisse zurückgreifen, vor allem auf die Arbeiten von Panofsky, 6 aber auch auf einen Beitrag von Rupprich. 7 Dadurch kann dieses Kapitel kurz gefaßt werden. Seinen Stellenwert im Rahmen dieser Arbeit hat es vor allem als Kontrastfolie. Anders als in den übrigen Kapiteln liegen mit den Widmungsvorreden Texte vor, in denen er sich vor einer literarischen Öffentlichkeit im Druck über sein >Werk< äußert. Weitgehend unberücksichtigt bleiben hier die Arbeiten von Michael Giesecke zur Rolle des frühen Buchdrucks. 8 Zwar baut Giesecke seine Argumentation auch auf mer Öffentlichkeit in Frühdrucken, in: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, hg. v. Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg und Dagmar Tillmann-Bartylla, München 1988 (Materialität der Zeichen), S. 1 4 9 - 1 7 4 . 4 Müller (ebd.); Barbara Weinmayer, Studien zur Gebrauchssituation früher deutscher Druckprosa. Literarische Öffentlichkeit in Vorreden zu Augsburger Frühdrucken, München/Zürich 1982 ( M T U 77). 5 Weinmayer (ebd.), S. 1 3 - 1 6 . 6 Panofsky, Leben und Kunst, S. 323-378. 7 Hans Rupprich, Dürers Stellung zu den agnoëtischen und kunstfeindlichen Strömungen seiner Zeit. Mit einem neuen Dürer-Brief, München 1959 (SB der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. I). 8 Michael Giesecke, >Volkssprache< und Verschriftlichung des Lebens< im Spätmittelalter am Beispiel der Genese der gedruckten Fachprosa in Deutschland, in: Literatur in der Ge118
gedruckten Vorreden auf, aber gegen seine Interpretation gerade dieser Texte Dürers läßt sich ein grundlegender Einwand vorbringen,9 nämlich daß Giesecke die Vorreden in der Regel wörtlich versteht.10 Obwohl er beiläufig ihren topischen Charakter einräumt,11 wirkt sich dies auf seine Analyse nicht aus. Daraus resultieren im Detail immer wieder andere Deutungen Gieseckes, auf die hier in den Fußnoten hingewiesen wird. Insgesamt zeichnet Giesecke ein sehr optimistisches Bild von der Bedeutung Dürers theoretischer Schriften für den gemein nutz, das durch seine Nachfolger in der Kunsttheorie nicht bestätigt und in der Dürer-Forschung so nicht geteilt wird. 12 Letztlich geht es Giesecke mit seiner These zur Perspektive und Dürers Beweisrolle dabei aber auch um ganz andere Fragen als in dieser Arbeit, so daß sich die beiden Ansätze gegenseitig nicht erhellen.
2. Die Widmungsvorrede zur Befestigungslehre Von Pirckheimers' 3 und anderer Hand' 4 stammende Entwürfe zur Widmungsvorrede von >Etliche vnderricht/ zu Befestigung der Stett/ Schlosz/ vnd flecken< von 1527 sprechen dafür, daß der schließlich gedruckte Text nicht auf Dürer allein zurückgeht. Möglicherweise ist der Text von ihm nur autorisiert worden. Die bei Rupprich keine halbe Druckseite lange Widmungsvorrede beginnt mit der üblichen Titelauflistung für den Adressaten, König Ferdinand. Im Anschluß daran erklärt Dürer, daß er Ferdinand wegen Kaiser Maximilians genad vnnd guetthat (64, 10) zu Dank verpflichtet sei. Der aktuelle Bedarf Ferdinands an Befestigungen habe zur Entstehung der sellschaft des Mittelalters, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg 1980 ( G R L M A 1), S. 39-70; ders., Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M. 1991; ders., Der >abgang der erkantnusz< und die Renaissance >wahren WissensTagebuch< vielfach, daß er seine Kunst veräußert. Handelsgeschäfte, bei denen man eine Preisabsprache trifft, machen 59
von Stromer (s. Anm. 28), S. 797: »Diese Haushaltbücher, deren Inhalt aufschlußreich für den Stil der Lebenshaltung dieser Schicht ist und von denen wir so gerne Parallelen etwa aus Handwerkerkreisen besäßen, entsprangen wohl eher einer lange geübten Gewohnheit der Nürnberger Kaufleute zur Aufzeichnung großer und kleiner Vorfälle des Wirtschaftslebens, und sei es des eigenen privaten. Ein Fazit wird aber als Ergebnis dieser Aufzeichnungen nirgends gezogen, ihre - zudem meist höchst unübersichtliche - Anlage entsprach weniger einer wirtschaftlichen Zweckhaftigkeit, als vielmehr einem gewissen pedantischen Zug, der auch bei den Nürnbergern jener Tage nicht ungewöhnlich war.« Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Buchführung hinsichtlich ihrer Genauigkeit auch bei Pohl (s. Anm. 14), S.79 und S. 82.
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Vgl. die Angaben im >Rieterbuch< (s. Anm. 21 ), S. 1 o: Peter Rieter reiste 14J 6 nach Jerusalem und verzert dabey dreyhundert ducaten und dass in einer gueten mainung, seinen nachkomen andechtig stett zusuchen, ob sy gott ermähnet·, vgl. auch ebd., S. 13, zum Abschluß der Reise Sebald d. A. Rieters nach Santiago: Sebaldt Rieter verzert bey lille gulden, dass dette ich in einer gueten meinung, meinen nachkomen andacht zu haben heilig stett zu und die gehrn zusuchen, des helff uns Maria und der lieb herr Sant Jacob! Zu diesem Zitat s. auch unten, S. 154.
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darunter den mit Abstand kleineren Teil aus.62 In der Regel >verschenkt< Dürer seine Kunst. Eine Entlohnung kann er zwar erwarten, aber es bleibt ins Ermessen der Empfänger gestellt, ob, wieviel und was sie ihm dafür >geben< bzw. >schenkenHonorar< wird erst verbucht, nachdem Dürer Mitte Dezember aus Seeland zurückgekehrt ist: Jtem der herr Lazarus von Rafenspurg hat mir für die 3 bûcher, die ich im geschenckt hab, wieder geschenckt ein groß fisch schupen, 5 schneckenheußer, 4 silbern medoien, 5 kupfern, 2 dürre fischlein, ein weiß corelln, 4 roren pfeil und ein weis corelin. (163^, j-10) Daß Dürer bei diesem Austausch mitunter den Uberblick verliert, zeigt sich darin, daß er hin und wieder Posten doppelt vermerkt 6 ' oder wohl vergißt.66 Für eine bessere Ubersicht über den Stand der Dinge taxiert er erhaltene oder gemachte Geschenke oftmals auf ihren Wert hin: Mehr hat mir des Tomasins bruder geschenckt für 3 gulden gestochener kunst ein paar handschuh. (152, 112Í.) 61
Hierzu wären auch drei Tauschgeschäfte zu rechnen, bei denen Leistung und Gegenleistung abgesprochen waren: 162, 33-35; 172,39-47; 174, 34-38; 175, io8f. 63 Bei den Ausdrücken >schenken< und >geben< ist in Dürers Aufzeichnungen keine genaue Scheidung von Begrifflichkeiten auszumachen. S. etwa die folgenden Stellen: Jch hab ein fraw conterfet von Priick, die hat mir ein Philips gulden geben ( 1 5 8 , 1 6 3 - 1 6 5 ) - J c h hab jn Johann Gabriels hauß ein welschen herrn conterfet, der hat mir geschenckt 2 goldgulden (158, i69f.). Im folgenden werden >schenken< und >geben< synonym verwendet. 64 Nach Rupprich, S. 179 Anm.4, entspricht 1 Anglot 2Í1. 2 st. Daß er den Rogendorfs ein Wappen gezeichnet hat, vermerkt er im Zusammenhang mit einer Einladung zum Essen (156,10-12) und dann noch einmal ohne Bezugnahme auf den vorangegangenen Eintrag, als die Entlohnung kommt (157, 75-77)· Die Weingeschenke von Jan Chrosenpeck (150, 76) und von herr Johann Großerpecker (150, 81) stammen wohl von derselben Person. Vgl. zu den doppelten Eintragungen auch Veth/Muller (s. Anm. 4), S. 2-4. 66
Erasmus von Rotterdam hatte Dürer in Antwerpen einen Mantel und drei Zeichnungen geschenkt (152, 110-112). Für das Wiedersehen der beiden in Mecheln vermerkt Dürer dann, daß er Erasmus eine Kupferstichpassion geschenkt (156, 92-94) und ihn noch einmahl gezeichnet hat (156, ioof.). Eine frühere Porträtsitzung ist im >Tagebuch< nicht erwähnt. I
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Schwierigkeiten stellen sich auch dadurch, daß Dürer die Mehrzahl der erwähnten Personen neu kennenlernt. In der Regel vermerkt er sie mit Namen und - beim ersten Mal - mit Angabe von Stand und Beruf. Aber nicht immer ist ihm der Name seines Gegenübers bekannt. Das ist in den Fällen sicherlich kein Problem, wo er die Leute nur einmal porträtiert, sein Honorar entgegennimmt und weiter nichts mit ihnen zu tun hat. Hier behilft er sich in der Regel mit Bezeichnungen wie mit dem reichen canonico (172, ßf.), einfraw [...] von Prück (158, 164), ein Spanier (157, 89), mit einem englischen mann (173, 55). Wenn Dürer dagegen weiter mit ihnen zu tun hat, trägt er den Namen nach: Der man zu Antorff, der mir das kindsköpfflein geschenckt hat, der haißt Lorencz Stärck (156, 96-98), oder: Jtem Erasmus heist das männlein, das mir beim herrn Jacob Bonisius mein supplication gestellet hat (155, 24-26).67 Die bei der Schenkungspraxis freie Lohnspanne macht eine Kalkulation im voraus unmöglich. Es läßt sich kein fester Betrag ansetzen und bei Begleichung der Schuld vermerken: Jst zahlt.69 Für ein Kohleporträt zum Beispiel hat sich die Bezahlung mit einem Gulden eingebürgert, manchmal bekommt Dürer jedoch auch mehr/9 oder er erhält Naturalien, oder er bekommt gar nichts: Item 6persohn haben mir nichts geben, die jch zu Prüssel hab conterfet (156,104-106). Ähnlich weit ist die Lohnspanne für die gemalten Porträts: Bernart von Resten gibt ihm acht fl., Agnes eine Krone und Susanna 1 fl. (167, 273-275), Anton von Metz zwölf hornisch fl. (177, i8f.), König Christian II. von Dänemark gar 30fl. (177, 27-29). Hingegen entlohnt Lorenz Sterk sein von Dürer auf 24 fl. geschätztes Porträt nur mit 20 fl. und einem Gulden Trinkgeld an die Magd Susanna (170, 89-93). Mitunter scheint Dürer auch die begründete Erwartung zu haben, daß der Austausch durch weitere Vorleistungen fortzusetzen sei. Anton Haunolt porträtiert er auff ein regalpogenfleißig mit der schwarczen kreuden (174,53-5 5); der gibt ihm dafür, wie einige Zeilen später vermerkt ist, mit 3 Philippsgulden eine hohe Entlohnung (175, 68f.).7° Dürer schenkt ihm auf ein Neues zwei Holzschnittserien, aber dafür ist keine Gegengabe mehr vermerkt. Ähnlich könnte es sich bei Francesco Pesäo verhalten, der Joäo Brandäo als Faktor Portugals ablöst. Dürer porträtiert auch ihn, dann schenkt er ihm ein tüchlein mit dem kindlein [...], 10 gulden werth 67
Die Namen und Identifikationen werden aus Rupprichs Edition übernommen. S. oben, S. 1 4 1 . 69 Z.B. 3 Phfl.: 175, 68f.; 2Í1.: 158, i 6 9 f . 63
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Nach Rupprich, S. 179 A n m . 4 , entspricht 1 Phfl. 25 st.
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(164, 47 f ·; 89-91). Als Gegengabe ist nur ein Trinkgeld von einem Philippsgulden für die Magd auszumachen (165,1 iyf.). N u n schenkt Dürer dem neuen Faktor ein Veronica-Bild im Wert von zwölf fl. (165,111114). Auch hier kann Dürer lediglich den Gulden Trinkgeld für Susanna verbuchen und späterhin, daß er zweimal mit dem neuen Faktor gegessen hat (165, ι i8f.; 167, 2Ö4f.). Dürers Hartnäckigkeit erklärt sich möglicherweise daraus, daß Pesaos Vorgänger Dürers Geschenke in der Regel großzügig honorierte. Doch nicht jeder Austausch beruht auf einem materiellen Kalkül Dürers. Wie das folgende Beispiel zeigt, gehen manche Geschenke von anderen aus: Jtem der Rudiger von Gelern, der hat mir geschenckt ein schneckenhauß und von silber und golt müncz, ist ein orth wert. D e m hab ich wieder geschenckt die drey grossen bûcher und ein gestochnen Reuter. (166, 1 6 3 - 1 6 7 )
Ohne daß man im einzelnen Trennlinien ziehen könnte zwischen >Geschäftsbeziehungen< einerseits und persönlichen Beziehungen andererseits, ist das Schenken als eine Umgangsform erkennbar, die es ermöglicht, gesellschaftlich miteinander in Verbindung zu treten. Insgesamt gilt das Kriterium der Wechselseitigkeit und daß die Gegengabe dem erhaltenen Geschenk im Wert in etwa entsprechen, wenn es nicht sogar überbieten soll.71 Letzteres legt etwa die folgende Notiz über das Zusammentreffen mit dem Raffael-Schüler Thomas Polonius nahe: So ist er [Thomas] zu mir kommen und hat mir ein gulden ring geschenckt, antiga, gar mit ein guten geschniten stain, ist 5 gulden werth; aber mir hat man zwifach geldt dafür wollen geben. Dargegen hab ich jhn geschenckt meines besten gedruckten dings, das ist werth 6 gulden. (158, 1 1 5 - 1 2 0 )
Ein Grund, diese Beziehungen schriftlich zu verwalten, liegt für Dürer schon allein in dem Umstand, daß er mit manchem neuen Bekannten über die Länge seines Aufenthalts wiederholt zu tun hat. Zu den Personen, die er gleich bei seinem ersten Aufenthalt in Antwerpen kennenlernt, gehört Tommaso Bombelli: J c h conterfeyt mit dem kohln diese Jenoueser, mit namen den Tomasin Florianus Romanus, von Luca bürtig, und des Tomasins zween brüder, mit nahmen Viencens und Gerhartus, alle drey Pumpely. So oft hab ich mit dem Tomasin gessen: jjjjjjjjjjjj. ( 1 5 2 , 9 8 - 1 0 3 )
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Eine Spekulation auf die Überbietung durch das Gegengeschenk explizit bei Tetzel (s. Anm. 20), S. 15 2: Mein herr schänkt dem herrn Zarlos gar ein hübsch pferd, in meinung das man jm besser darumb solt schenken.
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Einige Zeilen später ist davon die Rede, daß Tommaso Bombelli ihm ein geflochten hut von holder kernen geschenkt hat (i 52, ioéf.) und daß Dürers Frau und Magd an einem Tag je zweimal bei Tomasin gegessen haben: Das sind 4 mal (152, 120). Damit wird die Buchführung über die von Bombelli erhaltenen Mahlzeiten fortgesetzt. Wenig später ist vermerkt, daß Dürer die Tochter Bombeliis gezeichnet (152, i i j i . ) und wiederum mit ihm gegessen hat (153, i4of.). Ein weiterer Eintrag gilt einem Geschenk Bombeiiis an Dürers Frau: Jtem der Tomasin hat meinem weih geschenckt 14 ein guten dicken haraß zu einer hocken und tritthalb elen halben attlas, zu unterfüttern (154,209-212). Nach der Rückkehr aus Aachen lädt er einige von seinen Bekannten zum Essen ein: Jch hab den Tomasin, Gerharden, Tomasins tochter, jhren mann, den Hönig, glaßer, den Jobsten und sein weib und den Felix zu gast gehabt, das kostet 2 gulden. Jtem der Tomasin hat mir 4 ein graw damast geschenckt zu einem wammes. (162, 57-62)
Später bekommt der Knecht Tommaso Bombeliis einen Stüber, die drei Mägde Messer, die 5 Stüber gekostet haben (164, 69Ï.). Sodann porträtiert Dürer Bombeliis Sohn und Tochter (165, 95f.) und zeichnet ihm einen Entwurf vol gar schön mümerey für die Fastnacht (165, iiof.). Im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten merkt er an, daß Bombelli besonders schön verkleidet gewesen sei ( 16 5,13 6-13 8). Als nächstes fertigt Dürer für Bombelli eine visierung, nach der dieser sein Haus malen lassen will (166, 230-232). Nach seiner Rückkehr aus Mecheln legt Dürer zwei neue Strichlisten an. Parallel zueinander verzeichnet er die Mahlzeiten bei Planckfelt und mit Bombelli (169, γγί.; iji, i8f.). Dann zeichnet er ihm drei Schwertgriffe und bekommt eine Alabasterschale (172, i9f.). Weitere kurze Essenslisten für Einladungen bei Bombelli folgen.72 Dürers Abreise kündigt sich dadurch an, daß er an Bombeiiis Tochter und an dessen Küche Trinkgeld gibt (176, 160-163). Bombelli schenkt ihm zum Abschied des besten Tiriax ein püchsen vol (176, 166-168). Ähnlich vielgestaltig sind die Notizen zu weiteren Personen im >TagebuchMarter der Zehntausend< gemalt, das im Heller-Briefwechsel (vgl. Kap. 3) wiederholt genannt wird; neben dem Kupferstichporträt Friedrichs des Weisen wäre hier noch der Spalatin-Briefzu nennen (Nr. 32, S. 86f.). 84 S. z.B. Loose (Hg.), Anton Tuchers Haushaltbuch, S. 54: Item adi maczo schenckt ich dem Fricz Müllner 4 ein schwarcz czenndeltort, darumb das er mir mein schimel hat helffen kauffen und czu czeitten daczu siht, dafür } f l 4 fi. 8s Explizit bei Sebald Rieter d.J. (s. Anm. 21), S. 137: was wir auch unkosts und frasckeray geltts, das ich wolprantschatzung nenne, auf dem weg an sondern enden aussgeben haben müssen. 82
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Doch nicht nur der Textvergleich läßt davon ausgehen, daß Dürer auch sehr viel mehr verschenkt als die meisten seiner kaufmännischen Zeitgenossen. Denn Geschenke dienen ihm nicht nur als ein Mittel, freundschaftliche Beziehungen zu pflegen oder Fürsprache zu erreichen, sondern Dürer kann darauf hoffen, mit den Gegenleistungen für die Geschenke aus der eigenen Produktion seine Reisekosten zumindest anteilig zu bestreiten. Man wird von daher die Situation der Reise nicht ohne weiteres auf den Nürnberger Alltag übertragen können. Gleichwohl spricht nichts gegen die Annahme, daß die Schenkungspraxis für Dürer ganz generell einen sehr viel höheren Stellenwert hat als für andere. Der prominenteste Beleg dafür sind die >Vier Apostel·, die er im Jahr 1526 dem Rat der Stadt Nürnberg >verehrt< und für die er ioofl. erhält.86 Für den Künstler sind Schenkungen neben dem Verkauf und der Auftrags arbeit eine wichtige - für die Niederlande kann man sagen: die wichtigste - Einnahmequelle. Diesen Umstand hat man bislang nicht hinreichend herausgestellt, weil das neuzeitliche Verständnis des Schenkens als Freiwilliger GabeGroßzügigkeit des Schenkens< einerseits und Pedanterie der Buchführung< andererseits hat die Forschung ohne Rücksicht auf die Verhältnisse konstruiert.88
4. E h r u n g e n Einen Sonderstatus kann man den Geschenken einräumen, mit denen Dürer geehrt wird. Solche Geschenke, im wesentlichen in Form von Wein oder Einladungen zum Essen, erhält er bereits auf der Hinreise. In Schweinfurt (148, 38-40), Frankfurt (149, 106-108) und Mainz (149, 1 5 17, 24-29) bekommt er Weingeschenke (in Frankfurt u.a. von Jakob Hel-
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Vgl. Rupprich (Hg.), Dürer, Ratsverlaß Nr. 23, S. 243; Brief Nr. 59, S. 1 1 7 . Mit dieser Deutung sollen die programmatischen Hintergründe nicht völlig nivelliert werden, aber die Schenkungspraxis, die man in diesem Zusammenhang bislang zu wenig berücksichtigt hat, scheint mir auch eine Rolle zu spielen. 87 D W b IV, ι, 2, Sp. 3853^: »sache, die geschenkt wird, freiwillige gäbe«. 88 Rebel, Maler und Humanist, S. 378: »Man gibt sich auf allen Seiten großzügig, aber man führt genau Buch darüber«; ebd., S. 393: »Von der Freigiebigkeit soll die Welt erfahren, von der knausrig-pedantischen Normalbürgerlichkeit erfahren nur Agnes und das Tagebuch.« 1
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1er),8' in Mainz streitet man sich, wer sein Gastgeber sein darf (149,17-20). Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen. Daß es Dürer hier nicht in erster Linie um das Festhalten von Verbindlichkeiten geht, ist daraus ersichtlich, daß er die Bedeutung der Geschenke als Ehrerweisungen mitunter notiert: Und sie beweißeten mir viel ehr ( 149,20) -Und kämmen goldschmied zu mir und die theten mir viel ehr (161, 188f.).9° Entsprechend vermerkt Dürer auch solche Ehrungen, die nicht in einer gegenständlichen Gabe bestehen. So schreibt er zum Beispiel auf, daß er bei der Kaiserkrönung Karls in Aachen, 9 ' bei Fürstentanz und Bankett in Köln 92 sowie beim Brüsseler Bankett für König Christian II. von Dänemark (177, 1417) zusehen darf. An dem Bankett, das der dänische König danach für seine Gastgeber ausrichtet, kann Dürer sogar teilnehmen: Jtem am sontag vor Margaretha hilt der könig von Dennemarck ein groß pancketh dem kaiser, frau Margretten und künigin von Spannien und lud mich, und ich aß auch darauf. ( 1 7 7 , 23-26)
Solche Nachrichten über Ehrungen finden sich sporadisch auch in den Nürnberger Pilgerberichten. Von Sebald Rieter d.Ä. ist zu seiner Reise nach Santiago de Compostela überliefert, daß die Reisenden den Herzog von Mailand treffen, der ihnen fiiderbrieff gibt und ihnen vii ere erweist. Später begegnet die Reisegruppe den Herren von Savoyen, die sich gnedigclich gegen sie erweisen und ihnen Geld oder Pferde anbieten. Auch Ehrungen durch den König von Spanien und den König von Frankreich werden vermerkt, so daß sich bei der Rückkehr nach Genf das Fazit ergibt: und unterwegen waren wir bey vil herrn, die uns zucht und ehr erbutten, und bey des königs schwester, der von Safohj, die uns auch vil ehre erput und uns wein schanckth.n Allerdings zeichnet es Dürers Text vor den Vergleichstexten aus, daß manche dieser Ehrungen in aller Breite vor Augen geführt werden. Kurz nach seiner Ankunft in Antwerpen wird Dürer von den dortigen Malern eingeladen: 89
Das Geschenk von Wein konnte bedeuten, daß der Geber die Kosten für die Herberge des Beschenkten übernahm. Allerdings läßt sich diese Bedeutung der Weingeschenke im »Tagebuch nicht nachweisen. 90 S. auch 165, 123-129. 91 Item am 2}. tag octobris hat man könig Carl zu Ach gecrönt; da hab ich gesehen alle herrlich köstlichkeit, deßgleichen keiner, der bey uns lebt, köstlicher ding gesehen hat, wie dann das alles beschrieben ist worden (159, 50-54). 91 Jch hab zu Cohln auff dem tanczhauß des kaiser Carls fiirsten tancz undpanquet gesehen am sontag zu nacht nach Aller heiligen tag jm ¿720 jähr, das war köstlich zugericht (160, 106-109). 93 Das Reisebuch der Familie Rieter (s. Anm. 21), S. 11 und S. 13. 156
Und am sontag, was auf Sanct Oswaldt tag, da luden mich die mahler auff ihr Stuben mit meinem weib vnd magd, und hetten alle ding mit silber geschierr und andern köstlichen geziehr und über köstlich essen. Es waren auch ihre weiber alle da. Und do ich zu tisch geführet ward, do stund das volck auf beeden seuten, als führet man einen grosen herren. Es waren auch unter ihnen gar trefflich personen von namen, die sich all mit tieffen naigen auf das allerdemütigste gegen mir erzeugten. Und sie sagten, sie wolten alles das thun, als viel möglich, was sie westen, das mir lieb were. Und als ich also bey verehret sas, da kam der herrn von Antorff raths poth mit zweyen knechten und schencket mir von der herren von Antorff wegen 4 kannen wein; und Hessen mir sagen, jch soll hiemit von ihnen verehret sein und ihren guten willen haben. Des sagte ich jhnen unterthänigen danck und erboth meine unterthänige dienst. Darnach kam meister Peter, der statt zimmerman, und schencket mir zwey kannen wein mit erbietung seiner willigen dienst. Also do wir lang frölich bey einander waren; und spatt in die nacht, do beleuthen sie uns mitt wintlichtern gar ehrlich heim und baten mich, jch soll jhren guten willen haben und annehmen und solt machen, was jch wolt, darzu wollen sie mir al behülfflich sein. Also danckete ich jhnen und legt mich schlaffen. ( i $ i , 21-47) A h n l i c h e E h r e r w e i s u n g e n w i e d e r h o l e n sich in B r ü g g e , w o D ü r e r v o n seinem G a s t g e b e r J a n P r o v o s t u n d tags darauf v o n d e m G o l d s c h m i e d M a r c de G l a s e r e z u m E s s e n geladen w i r d . M a n f ü h r t ihn in der Stadt h e r u m , ehe abends w i e d e r u m ein B a n k e t t zu seinen E h r e n gegeben w i r d : Darnach richten sie mir ein pancket zu. Und von dannen ging ich mit jhnen auf die Stuben. D o hetten sich viel ehrlicher leuth zusammen than, von goldschmieden, mahlern und kauffleuthen; must mit ihnen zu nacht essen, schenckten mir und machten kuntschafft und thetten mir groß ehr. Und die zwey brüder Jacob und Peter Mostaert, die rathsherren, schenckten mir 12 kannen wein, und beleiten mich die gancz gesellschafft, mehr dan 60 personen, mit viel windlichtern heim. (168, 4 1 - 5 1 ) U n d ähnlich begegnet m a n D ü r e r auch in G e n t : Und do ich gen Gent kam, do kam zu mir der dechant von den mahlern und bracht mit ihm die fordersten mit in die mahlerey; erboten mir groß ehr, empfingen mich gar herlich, boden mir an jhren guten willen und dienst und assen mit mir zu nacht. A m mittwoch frühe führten sie mich auf S. Johannes thurn; do über sähe ich die groß wunderbarlich statt, darin ich gleich vor groß ansehen ward. (168, 62-70) N u n m a g es den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, daß D ü r e r eben auch m e h r u n d spektakulärere E h r u n g e n zuteil w e r d e n als den meisten seiner N ü r n b e r g e r Mitbürger, selbst w e n n es Vertreter des Patriziats sind. D o c h sollte man berücksichtigen, daß die bürgerlichen Pilger in ihren B e richten E h r u n g e n allenfalls k n a p p erwähnen, w e i l sie mit der eigentlichen Intention der N i e d e r s c h r i f t , der D o k u m e n t a t i o n des H e i l s e r w e r b s , nichts I
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zu tun haben. Diese Pilgerberichte bewahren eine geradezu »betonte Bescheidenheit« und unterlassen »fast alles [...], was auf eine repräsentative Absicht schließen ließe«.94 Einen höheren Stellenwert haben Ehrungen bis zur Wende zum 16. Jahrhundert nur in den Berichten über Reisen von Fürsten, die jeweils von einem im Gefolge mitreisendenden Verfasser stammen.95 Mit den aufgeführten Ehrungen soll, so hat man festgehalten, die Anerkennung des beanspruchten sozialen Status in der Fremde dokumentiert werden.96 Bei Dürer freilich kann nicht davon die Rede sein, daß ihm die verzeichneten Ehrungen traditionell zukämen, im Gegenteil: Sein gesellschaftlicher Rang ist in Folge seines gesellschaftlichen Aufstiegs Undefiniert. Es gibt kein Protokoll für den >Künstlereinen großen Herrn< empfängt: Und do ich zu tisch geführet ward, do stund das volck auf beeden seuten, als führet man einen grosen herren (151, 25-28). Und auch für seinen Empfang in Gent notiert Dürer, daß er dort gleich vor groß ansehen ward ( 168, 69). Auf diesen ihm einmal beigemessenen Rang kann Dürer sich zwar in Zukunft nicht berufen, aber er hat mit seinen Notizen zumindest für sich selbst einen Maßstab fixiert.
5. Besichtigungen und Zeelandreise Sobald Dürer einige Zeit unterwegs ist, führt er ein Itinerar. Seine Notizen beschränken sich dabei weitgehend auf die Nennung der durchreisten Ortschaften und der jeweils für Zölle oder Verpflegung gezahlten Beträge. Fast ausschließlich für die längeren Aufenthalte in Antwerpen, Brüssel, Aachen, Seeland, Brügge und Gent finden sich auch Notizen über Gebäu54
Gerhard Wolf, Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, in: Der Reisebericht, hg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt a.M. 1989, S. 8 1 - 1 1 6 , hier S. 100.
95
Z . B . Tetzel (s. Anm. 20), S. 147: Ehrungen seines Herrn in Köln; S. 148: Ehrungen in A a chen; S. I49Í.: Empfang in Brüssel; S. 15 5 - 1 5 8 : Empfang in London usw. Cordula Nolte, Erlebnis und Erinnerung. Fürstliche Pilgerfahrten nach Jerusalem im 15. Jahrhundert, in: Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hg. v. Irene Erfen und Karl-Heinz Spieß, Stuttgart 1997» S. 6 5 - 9 2 , hier S. 79, nennt Beispiele, wie fürstliche Reisebegleiter »vor dem Hintergrund eines Intinerars gewissenhaft Buch über die Ehrungen« führen, »die den Fürsten unterwegs zuteil wurden.«
96
Nolte (s. A n m . 9 5), S. 74 u. 7 8 - 8 1 . Dies zeigt sich etwa bei einer Durchsicht der Schenkungsbücher des Nürnberger Rates (StaAN).
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de und sonstige Sehenswürdigkeiten. Für die Zeit seines Aufenthalts in Antwerpen liegen solche Aufzeichnungen vor allem für die ersten drei Wochen vor. Einen Tag nach seiner Ankunft führt ihn der Wirt Planckfeit in das architektonisch bemerkenswerte Haus des Bürgermeisters (151, 8-15). Später folgt die Angabe, daß Dürer im Haus Meister Quentins (151, 48) und auf den drei Schützenplätzen gewesen ist (151, 49Í·)· Auf einige Notizen zu Einnahmen und Ausgaben folgt die Beschreibung der Vorbereitungen für den Empfang Karls V. in Antwerpen (15 if., 57-67). Wiederum nach einer Reihe von Geschäftsvermerken gelten die nächsten Reisenotizen der Antwerpener Frauenkirche und dem Michaeliskloster (152, 1 2 1 - 1 3 2). Zwei Wochen nach Dürers Ankunft findet eine Prozession statt (153, 147-205). Für die Woche bis zu seiner Abreise nach Mecheln sind dann noch inmitten von Geschäftsnotizen der Besuch des Fuggerhauses vermerkt (153Í-, 206-209) und ein Satz zum Michaeliskloster nachgetragen (154, 224-227). Nach dieser Anfangszeit schreibt Dürer kaum noch etwas über Antwerpen, für die verschiedenen Abstecher dagegen liegt eine Reihe von Eintragungen vor. Für den längsten ununterbrochenen Aufenthalt in der Stadt von Mitte Dezember 1520 bis Anfang April 1521 sind nur die Fastnacht und eine Turmbesteigung mit insgesamt drei Sätzen vermerkt(i65,136-138; 166,181-185). Dieser auffällige Befund steht dervon Leitschuh aufgebrachten These entgegen, daß sich Dürers Text mit der Ankunft in Antwerpen vom Rechnungsbuch zum Tagebuch gewandelt habe.'8 Die Verteilung der Notizen erweckt vielmehr den Anschein, daß es sich um Gelegenheitseintragungen handelt. Anlaß dazu können Ausgabenvermerke sein. Dem Eintrag, daß er den Schreinern in der mahler zeughauß (151,56) zwei Stüber gegeben hat, folgt die Beschreibung des Triumpfbogens für Karl V., der im Zeughaus gebaut wurde: Jtem mein wirth hat mich geführt in der mahler werckstätt zu Antorff, jm zeughauß, do sie den triumph zu richten, dardurch man den könig Carl solt ein führen. Daselb werck ist lang 4 hundert pögen, und ein jeglicher 40 schuh lang, und wird auf beden seyten der gassen aufgemacht, hübsch geordnet, zweyer gaden hoch, darauf wird man die kammerspiehl machen. Und diß kost, zu machen von schreynern und mahlern, 4000 gulden. Auch wird man das als vol dazu bremen, und diß ding ist alles über cöstlich gemacht. ( 1 5 1 , 57-152, 67)
Daß das Einreiten stattgefunden hat, wird dann anläßlich der Ausgabe für einen Druck notiert: ' 8 Leitschuh (Hg.), Tagebuch, S. VI; vgl. auch Rebel, Maler und Humanist, S. 3 70: »Nun [mit der Ankunft in Antwerpen] nimmt er sich Zeit für ausführlichere Schilderungen, die Sätze werden farbig.«
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Jtem hab ein stiiber geben für das gedruckt Einreiten zu Antorff, wie der könig mit ein köstlichen triumpff empfangen ist worden. Da waren die pforten köstlich geziert mit kammerspieln, groß freudigkeit und schöne jungfrauen bilder, dergleichen jch wenig gesehen hab. (157, 97-158, 102) Eine Reisenotiz kann auch die andere nach sich ziehen. Der Vermerk über den Besuch im Haus der Fugger schließt sich an den Bericht von der Prozession nach Mariä Himmelfahrt an ( i $ } f · , 206-209). Der Erwähnung der Antwerpener Frauenkirche folgt die Anmerkung: Auch bin ich gewesen in der reichen abtei zu St. Michael. Deren Ausstattung sei bewundernswert, denn in Antwerpen werde an solchen Dingen nicht gespart (152, 1 2 7 131)· Des öfteren finden sich ausführliche Nachträge zu bereits knapp erwähnten Gegenständen. Für den Aufenthalt in Brüssel benennt Dürer zunächst zwei Ziele. Die erste Notiz könnte kaum kürzer ausfallen - es sind nur der Ort, das Gemälde und der Maler genannt: Jch hab gesehen zu Prüssel jm rathhauß jn der gulden kammer die 4 gemalten materien, die der groß meister Rudier gemacht hat. (155, 18-20) Bei der zweiten Station, dem Brüsseler Schloß, ist mit der Aufzählung der Gegenstände eine pauschale Wertung verknüpft: Jch hab gesehen jns königs hauß zu Prüssel hinden hinaus die brunnen, labyrynth, thiergarten, das jch lustiger ding, mir gefälliger, gleich einen paradyß, nie gesehen hab. (155, 20-22) Zwei Sätze später folgt eine genauere Beschreibung zur ersten Station, dem Rathaus: Jtem zu Prüssel ist ein fast köstlich rathauß, groß und von schöner maßwerck gehauen, mit einem herrlichen durchsichtigen thurn. (155, 26-28) Zum Schloß findet sich dann, nachdem Dürer zwei Kohleporträts verbucht hat, ebenfalls ein - ungewöhnlich ausführlicher - Nachtrag, der berühmte Passus zum Aztekenschatz: Auch hab jch gesehen die dieng, die man dem könig auß dem neuen gulden land hat gebracht: ein gancz güldene sonnen, einer ganczen klaffter braith, deßgleichen ein gancz silbern mond, auch also groß, deßgleichen zwo kammern voll derselbigen rüstung, desgleichen von allerley jhrer waffen, hämisch, geschucz, wunderbahrlich wahr, selczsamer klaidung, pettgewandt und allerley wunderbahrlicher ding zu maniglichem brauch, das do viel schöner an zu sehen ist dan Wunderding. Diese ding sind alle köstlich gewesen, das man sie beschäczt vmb hundert tausent gulden werth. Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein hercz also erfreuet hat als diese ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen jngenia der 161
menschen jn frembden landen. U n d der ding weiß ich nit außzusprechen, die ich do gehabt hab. ( 1 5 5 , 3 3 - 5 0 )
Daß Dürer erst knapp das Besuchsziel festhält und gegebenenfalls ergänzend nachträgt, ist noch öfter zu beobachten." Die Überlieferung in Abschriften läßt keinen Rückschluß darauf zu, ob diese Ergänzungen in einem Zug mit dem Erstvermerk niedergeschrieben oder später, etwa in ausgesparten Raum oder an den Rand nachgetragen wurden.100 Festzuhalten bleibt einstweilen, daß es ein Zweck des Buches ist, die Reiseziele zu dokumentieren, wenn auch nicht mit dem Anspruch auf letzte Vollständigkeit. Dies legen jedenfalls Bemerkungen wie die folgenden nahe: Jch hab sonst viel schöner ding zu Prüssel gesehen ( 15 5,5 of.); Vnd sonst hab jch viel selczam ding gesehen zu Gent (168, 8of.). In ihrer knappsten Form beschränken sich Dürers Reisenotizen auf die Angabe, daß er etwas gesehen habe: Jch hab kaiser Heinrichs arm, unser Frauen hembd, giirtel und ander ding von heilthum gesehen (159, 28-30), heißt es während des Aufenthalts in Aachen.101 Bemerkenswert oft verknüpfen sich die Nennungen der Gegenstände mit knappen Wertungen. Für den Brügger Stadtrundgang notiert Dürer: Darnach fürten sie mich ins kaisers hauß, das ist groß und köstlich. D o sähe ich Rüdigers gemahlt Cappeln und gemähl von ein grossen alten meister; do gab ich dem knecht ein stüber, der auff spert. Darnach kaufft ich 3 helffenbaine kam umb 30 stüber. Darnach fürten sie mich gen S. Jacob und liessen mich sehen die köstlichen gemähle von Rudiger und H u g o , die sind beede groß maister gewest. Darnach sähe ich das alawaser Marienbildt zu Unser Frauen, das Michael A n g e lo von R o h m gemacht hat. Darnach führeten sie mich in viel kirchen und liessen mich alle gute gemähl sehen, dessen ein überschwahl do ist. U n d do ich Johannes und der andern ding alles gesehen hab, do kämmen wir zu letz in die mahler capein, do ist gut ding jnnen. ( 1 6 8 , 2 6 - 4 1 )
Viele dieser Kommentare fallen recht pauschal aus: Dies sei ein schönes Dorf, jener ein großer Maler usw. Rohowski folgert daraus, daß Dürer nur über eine »auf ein Minimum an Wertungen und Kategorien reduzierte Sprache« verfüge.102 Dieser Schluß geht jedoch zu weit, denn Dürer ver99
Z.B. bei der Reise nach Seeland (s.u.) oder beim Nassauer Haus (155, 57-59 und 75-81). Jedenfalls hat es nicht den Anschein, daß ihm bei seinen Besichtigungen, wie Rebel, Maler und Humanist, S. 368, unterstellt, »Herz und Auge direkt zur Sprache drängen«. 101 Zur Bedeutung der Augenzeugenschaft: Volker Honemann, Der Bericht des Hans Rot über seine Pilgerfahrt ins Heilige Land im Jahre 1440, in: Reisen und Welterfahrung in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vorträge des X I . Anglo-deutschen Colloquiums 1989, hg. v. Dietrich Huschenbett und John Margetts, Würzburg 1991 (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie 7), S. 306-326, hier S. 316. 102 Rohowski, Künstlerlegende, S. 91. 100
162
wendet gegebenenfalls durchaus Fachausdrücke (Kapitell, Maßwerk, Proportion etc.) und fügt einem Teil seiner Wertungen auch Begründungen hinzu. A n dem in Brüssel gesehenen Aztekenschatz zeige sich die E r findungskraft der Menschen aus den frembden
Ländern ( 1 5 5 , 48), die
wohlproportionierten Säulen des Aachener Münsters seien
wercklich
nach Vitruvius' schreiben gearbeitet ( 1 5 9 , iof.), die Ausstattung der Antwerpener Kirchen sei so prachtvoll, weil man dort genug Geld habe ( 1 5 2 , 13 if.), und das Gemälde von Jan Gossart sei im hauptstreichen nicht so gut wie im gemähl (162, 31 f.). 103 Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, daß Dürers Ausdrucksvermögen qualitativ über das hinausgeht, was Rohowski ihm zugesteht. Freilich sind nur wenige Beschreibungen ausführlicher, etwa die bereits zitierten Passagen zum Brüsseler Schloß und Rathaus. Die mögliche Spannbreite der Eintragungen zeigt sich an den Nachrichten über drei Prozessionen, die Dürer in Antwerpen sieht. Die erste ist außerordentlich detailliert beschrieben; abgesehen von der Lutherklage, ist dies das längste zusammenhängende Textstück. Jtem ich hab gesehen am sondag nach unser liben Frauen tag himmelfarth den grosen umbgang von unser lieben Frauen kirchen zu Antorff, do die gancze statt versamlet was von allen handwercken und ständen, ein jeglicher nach sein standt auf das köstlichs beklaidet. Es hett auch ein jeglicher stand und zunft ihr zaichen, darbey man sie können möcht. Da waren auch in den unterschieden getragen groß köstlich stangkirczen und ihr alt fränckisch lang silbern posaunen. D o wahren auch auff Teutsch viel pfeiffer und trummelschlager. Dis ward als hart geplasen und rumorisch gebraucht. Also sähe jch jn der gassen zeilweiß weit von einander gehn, also das ein grosse praiten darzwischen war, aber nahend auffeinander: die goldschmied, mahler, steinmeczen, seydensticker, bildhauer, schreiner, zimmerleuth, Schiffer, fischer, meczger, leedrer, tuchmacher, becken, Schneider, schuster und allerley handwercker und mancher handarbeiter und handler, zu der nahrung dienstlich. Deßgleichen waren do die krämer, kauffleuth und aller sort jhr helffer. Darnach kämmen die schüczen der püchsen, pogen und armbrüster, desgleichen die reisigen und fußgenger. Darnach kam ein große schorr der heren ambtleuth. Darnach ging ein gancze roth sehr tapfferer leuthe, herrlich und köstlich beklaidet. Aber vor ihnen giengen all orden und eidlich stifft jn jhren unterschieden, gar andächtig. Es war auch in dieser proceß gar ein grosse Schaar der wittwen, die sich mit jhrer hand nehren und ein besonder regel halten, all mitt weisen leinen tüchern, darzu gemacht, von dem haupt biß auff die erdt bedeckt, gar sehnlich zu sehen. Darunter sähe jch gar dapffere personen. Und die thumherren von unser Frauen kirchen mit aller priesterschafft, schulern und köstlichkeit gingen zu hinderst. D o trugen 2oper103
Vgl. zur Beschreibung im Reisebericht: A r n o l d Esch, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, H Z 253 ( 1 9 9 1 ) , S . 2 8 1 - 3 1 2 .
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sonen die Jungfrau Maria mit dem herren Jesu, auff das köstlichst geziert, zu ehren gott dem herren. Vnd jn diesen umbgang wahr gar viel freuden reichs dings gemacht und gar köstlich zugericht. Dann do führet man viel wagen, spiel auff schiffen und andern pollwerck. Darunter was der propheten Schaar und Ordnung, darnach das N e w Testament, als: der englisch grüß, die heiligen 3 könig auff grosen camelthiren und auff andern selczamen wundern reidend, gar artig zugericht, auch wie vnser Fraw jn Egypten fleucht, fast andächtig, und viel ander dieng, hie umb kurcz willen unterlassen. Auff die leczt kam ein groser trach, den führet St. Margareth mit ihren jungfrauen an einer gürtel, die was forder hübpsch. Der folget nach St. Georg mit seinen knechten, gar ein hüpscher kürisser. Auch ritten in dieser schaar, gar zierlich und auff das köstlichs beklaidet, knaben und mägdlein auff mancherley land sitten zugericht, anstat mancherley heiligen. Dieser umbgang von anfang bis ans end, ehe er für vnser hauß gieng, wehret mehr dann zwo stunde. Also war deß dings so viel, das ichs in ein buch nit kunte schreiben, vnd laß es also hierbey verbleiben. (153, 147-205) Die beiden anderen Prozessionen werden nur ganz knapp vermerkt: Jch hab den grosen Umgang zu Antorff gesehen an der heyligen
treyfaltigkeit
tag (172, 2.9Í·)· - Jch hab zu Andtorff gesehen den grosen Umgang, der da fast köstlich war, an unsers Herrn leichnambstag ( 1 7 3 , 6 4 - 6 6 ) . Womöglich waren diese Prozessionen weniger prachtvoll, doch grundsätzlich wird man nicht aus der Proportion der Einträge auf den Grad von Dürers A n teilnahme schließen können, 104 zumal er in seiner langen Beschreibung darauf hinweist, daß >hier Ein Übergewicht gegenüber den geschäftlichen Aufzeichnungen erlangen die Reisenotizen allein für die dreitägige Reise Dürers nach Zeeland. Der Anlaß zu dieser Reise erhellt aus einer Notiz nach der Rückkehr aus Köln: Jtem es ist ein wahlfisch zu Zürche in Seland mit einer großen Fortuna und Sturmwind an land kummen (162, 3 7 - 3 9 ) . Diese Nachricht interessiert ihn so, daß er Anfang Dezember, also spätestens eine Woche, nachdem die Nachricht in Antwerpen eingetroffen ist, mit einigen Nürnbergern nach Zeeland reist: 104
I0!
Honemann (s. Anm. 101), S. 319, zum Problem, daß die Knappheit der Eintragungen keinen Rückschluß auf ihre Bedeutung zuläßt. Solche Verweise begegnen regelmäßig auch in anderen Vergleichstexten; vgl. Christiane Hippler, Die Reise nach Jerusalem. Untersuchungen zu den Quellen, zum Inhalt und zur literarischen Struktur der Pilgerberichte des Spätmittelalters, Frankfurt a.M./Bern/New York 1987 (Europäische Hochschulschriften I/968), S. 100 mit Anm.
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An unser Frauen abendt bin ich gezogen mit den gesellen jn Seeland, und Bastian Jm Hoff lieh mir j gulden. Und lag die erste nacht am ancker in der see, es war fast kalt, und hetten weder speiß noch tranck. Den samstag kamen wir zu der Güs, da conterfet ich ein dim [in] jhrer manir. Von dannen fuhren wir geng Erma, und ich leget zu zehrung 15 stüber. Wir fuhren für die untergangene flekken, da wir die spitz von dächern bey dem waßer sahen außragen. Und fuhren für das insulein Wohlfärtig und für das stättlein Gunge in einer andern noch beyliegenden jnsuln. Selant hat 7 jnsuln, und zu Ernig, da jch über nacht lag, ist die grost. Von dannen fuhr ich gen Mitelburg; do hat in der abtey Johann de Abüs eine grosse taffei gemacht, nit so gut im hauptstreichen als in gemähl. Darnach für jch zu der Fahr, da aus allen landen die schiff anlenden, ist ein fast feines stätlein. (162, 16-163, 34) Nachdem Dürer in dieser Weise die Reisestationen allesamt benannt hat, setzt er noch einmal neu an und trägt Notizen gemäß der zeitlichen Reihenfolge nach, zunächst also über die Ankunft in Arnemuiden: Aber zu Armuyd, do ich anfuhr, do geschah mir ein grosser unrath. D o wir am lande stissen und unser saihl anwurffen, da trüng ein grosser schiff neben uns so kräfftig, und was eben in aussteigen, das ich ihm gedräng jederman für mir ließ außsteigen, alßo das niemand dan jch, Görg Köczler, zwey alte weiber und der schiffmann mit einen klainen buben jn schiff blieben. Als sich nun das ander schiff mit uns trung und ich noch also mit den genanden vf dem schiff waren und nit auß konten weichen, do zerriß das starcke saihl, und so kam in selben ein starcker Sturmwind, der trieb unser schiff mit gewählt hinter sich. Do schrien wir alle umb hülff, aber niemand wolt sich wagen. Da schlug uns der wind wieder in die see. Da raufft sich der schiffmann und schriehe, dan seine knecht weren al auß getretten, und war das schiff ungeladen. D o war angst und noth, dan der wind war groß und nit mehr dan 6 personen jnn schiff. Do sprach ich zum schiffmann, er solt ein hercz fahen und hoffnung zu gott haben und nachdächt, was zu than were. Sagte er, wan er den klein segel kunt auffziehen, so wohlt wir ... vnd versuchen, ob er wieder möcht anfahrn. Also halffen wir schwerlich aneinander und brachten lechst halb auff und fuhren wieder an. Und do die am landt sahen, die sich unser verwegen hetten, wie wir uns behulffen, do kamen sie uns zu hülff und kämmen zu land. (163, 35-63) Auf diesen Bericht folgen Anmerkungen zu Middelburg und weitere zwei Sätze zu Zeeland im allgemeinen. Nach einigen Geschäftsnotizen setzt Dürer fort mit der enttäuschenden Nachricht, daß die Fortuna vor seinem Eintreffen den Fisch wieder ins Meer gespült habe. Ausgabennotizen beschließen die Notizen zum Ausflug: Und hab 2 gulden verfahren und verzehrt, und hab 2 gulden für ein koczen [Decke] geben (163, 8 1 - 8 3 ) . Doch auch für die Zeelandreise wäre es verfehlt, von einem allumfassenden Erlebnisbericht auszugehen. Wie er erst sehr viel später (im April) aufschreibt, zieht sich Dürer während dieser Reise eine langwierige wunder165
ι66
liehe kranckbeit (169, iof.) zu, an der er für den Rest seines Aufenthalts in Antwerpen leidet. Wie soll man diese Reisenotizen nun bewerten? Ob es ungewöhnlich war, kaufmännische Notizen auf der Reise mit Nachrichten über Gesehenes und Erlebtes zu vermengen, ist - wie bereits gesagt - mangels Überlieferung schwer zu beurteilen. Offen zutage liegt dagegen bei den Pilgern, daß sie ihr unterwegs geführtes Ausgabenbuch, die »Grundform des Tagebuchs«,106 erweitern, um darin ihre Reisen nicht nur in finanzieller Hinsicht zu dokumentieren. Diese in der Forschung seit Martin Sommerfeld allgemein akzeptierte Auffassung läßt sich mit dem bereits erwähnten, unterwegs geführten Ausgabenbuch Sebald Orteis belegen. Darin sind auch Angaben zu Orteis Reisezielen enthalten.107 Ansonsten sind solche Bücher nicht bekannt. Jedoch sind in die volkssprachigen Pilgerberichte, die gattungstypisch auf schriftlichen Quellen aufbauen, Itinerare und Bemerkungen zu Besichtigungen und Erlebnissen eingearbeitet, die zum überwiegenden Teil auf Notizen von unterwegs zurückgehen müssen.108 Von daher lassen sich die Reisenotizen in Dürers >Tagebuch< durchaus im Rahmen der Erweiterung kaufmännischer Schreibpraxis verstehen, wie sie von den Pilgern vorgenommen worden ist. Denn auch wenn der direkte Vergleich (Örtel ausgenommen) nicht möglich ist, so wird man doch behaupten können, daß die Reisenotizen Dürers in seinem Rechnungsbuch quantitativ keinen nennenswert größeren Anteil haben als die persönlichen Bemerkungen mancher Pilger in den Vergleichstexten, und, so problematisch eine solche Behauptung ist,109 die Mehrzahl der hier berücksichtigten Pilgerberichte im Detail eine Vielzahl von Beobachtungen
106
Martin Sommerfeld, Die Reisebeschreibungen der deutschen Jerusalempilger im ausgehenden Mittelalter, DVjs 2 (1924), S. 816-851, hier S.822. 107 Örtel (s. Anm.13). 108 Sommerfeld (s. Anm. 106), S. 83 if.; ähnlich auch Honemann (s. Anm. 101); vgl. Lochners Angabe, daß sein Bericht auf dem aufbaue, was er unterwegen mit fleiss eigentlich beschrieben und zu Hause überarbeitet habe; vgl. auch die Aufforderung an Reisende von Tucher (s. Anm. 17), sich Schreibzeug, Papier und Tinte mitzunehmen, damit einer unterwegen für die lange weile schreibe, was er sieht. Beide Zitate nach Kamann (s. Anm. 16), S. 115 und S.96. '°9 Die Wertungen der Forschungen zum Reisebericht des Spätmittelalters fallen hier je nach den Erwartungen an die >Individualität< der Berichte sehr unterschiedlich aus. Während etwa Hippler (s. Anm. 105) die Stereotypie der Texte akzentuiert, gelangen Arnold Esch, Gemeinsamens Erlebnis - Individueller Bericht. Vier Parallelberichte einer Reisegruppe von Jerusalempilgern 1480, Zs. f. hist. Forschung 11 (1984), S. 385-416, und Sommerfeld (s. Anm. 106), S. 839-851, zu der Auffassung, daß den Texten durchaus ein eigenes Profil abzugewinnen ist. Ié7
oder Erlebnissen des Pilgers bietet, die an Genauigkeit oder Intensität nicht unbedingt hinter Dürers Reisenotizen zurückstehen. 110 Aber auch wenn sich Dürers >Tagebuch< und die >Grundform< der Pilgerberichte in der Anlage gleichen mögen, so liegt doch ein entscheidender Unterschied in ihrem Gegenstand. Schon unterwegs, so zeigen die Aufzeichnungen Orteis, liegt der Schwerpunkt der Reisenotizen von Pilgern auf der religiösen Buchführung«. Viel mehr noch orientieren sie sich in der redaktionellen Bearbeitung für den Pilgerbericht an »Heilsgeschichte und Heilsordnung als den entscheidend wichtigen Perspektiven der "Wahrnehmung der Welt und des Selbstverständnisses«, und sie streben in Auswahl und Wertung ihrer Gegenstände nach »Übereinstimmungen mit den in der jeweiligen Tradition vermittelten Sinngehalten«. 111 Gerade dieser verbindliche literarische Rahmen fehlt bei Dürer. Damit erfüllt der Text die entscheidende Vorgabe, die von der Forschung als Kriterium für den Neu-Ansatz der Gattung Reisebericht im 16. Jahrhundert angesetzt wird. 1 1 2 Das schließt inhaltliche Parallelen zu den Pilgerberichten nicht aus. Wie zitiert, verzeichnet auch Dürer, daß er Reliquien gesehen hat, und eine der längsten Passagen gilt der Antwerpener Prozession. Auch daß Dürer, der andere Unbilden der Reise nur knapp vermerkt," 3 ausgerechnet die Rettung aus Seenot ausführlich darstellt, läßt sich damit begründen, daß Traditionswissen in die Reisenotizen mit einfließt. 114 Schließlich gehört die Darstellung der Seenot mit dem rettenden Gottvertrauen zu den obligatorischen Bestandteilen der spätmittelalterlichen Pilgerberichte. 115 (Allerdings sei angemerkt, daß Dürer den Topos dahingehend abwandelt, daß er sich nicht allein dem Vertrauen auf Gott überläßt, sondern auch selbst Hand anlegt.) 110
Vgl. z.B. die Beschreibung der Reisebeschwernisse bei Tetzel (s. Anm. 20), S. ιγοί., i/8f.; oder die Beschreibung des Überfalls auf Hans Tucher und Otto Spigel bei Sebald d.J. Rieter (s. Anm. 2i), S. li^f. 111 Wolf (s. Anm. 94), S. 108; vgl. auch Stefan Deeg, Das Eigene und das Andere. Strategien der Fremddarstellung in Reiseberichten, in: Symbolik von Weg und Reise, hg. v. Paul Michel, Bern [usw.] 1992 (Schriften zur Symbolforschung 8), S. 163-191. ' " W o l f (ebd.). 1 3 ' Auf dem Weg von Köln nach Antwerpen muß man die Fahrt wegen Sturms unterbrechen (161, i7of.) und anderntags vom Schiff aufs Pferd wechseln (i6i, 182-184). Bei der Rückreise von Brüssel nach Köln verirrt sich der Fuhrmann, und erst mit Verspätung wird das Tagesziel erreicht (177t., 74-76). 114 Zur Unterscheidung von Topos- und Erfahrungswissen: Friederike Hassauer, Volkssprachliche Reiseliteratur. Faszination des Reisens und räumlicher ordo, in: G R L M A XI/i, S. 259-283. 115 Wolf (s. Anm. 94), S. 8 5; Seenot z.B. Tetzel (s. Anm. 20), S. 153,159^; Sebald Rieter d. A. (s. Anm. 21), S. 16; Sebald Rieter d.J. (s. Anm. 2 t), S. 136; Amburger (Hg.), Köler, S. 239 u.ö. 168
Selbst für den Passus zum Aztekenschatz hat man eine Orientierung an Vorgeprägtem nachgewiesen: Die positive Sicht auf die Bewohner der neu entdeckten Inseln ist in den frühen volkssprachigen Druckschriften nicht ungewöhnlich," 6 und die Nürnberger Humanisten reagieren geradezu mit Euphorie auf die Nachrichten über die Entdeckungen. 1 ' 7 So hat es den Anschein, daß Dürer mit seiner Wertschätzung einer zeitweise im Druck populären Auffassung oder der Meinung der Bildungselite folgt. Dennoch sollte man den Passus nicht als Modeurteil nivellieren," 8 denn Dürer findet für sein Lob einen eigenen, auf seinem Kunstverstand beruhenden Ansatzpunkt. Auch wenn also das Schlagwort >Empirie statt ToposTagebuch< mit Rohowski eine »Zwischenposition«" 9 in der Gattungsgeschichte zuerkennen können. Hauptgesichtspunkt hierfür ist, daß Dürer eigene Beobachtungen zu selbstgewählten Besichtigungstouren durch Flandern festhält. Diese Einschätzung bestätigt sich auch insofern, als sich von den für die Vergleichstexte herausgearbeiteten Zwecken: Information für Nachreisende, Dokumentation von Heilserwerb und persönliche Gedächtnisstütze nur der letztgenannte auf Dürers Notizen anwenden läßt. Es gibt schließlich keinen Hinweis darauf, daß Dürer seine Aufzeichnungen später noch einmal hätte überarbeiten oder verwenden wollen. Vor dem Hintergrund, daß ein normativer Wertungsrahmen fehlt und die Notizen scheinbar für die eigene Erinnerung gedacht sind, gewinnt die 116
Mit zeitlich späteren Beispielen: Christian F. Feest, >Seltzam ding von gold da von vili ze schreiben werec Bewertungen amerikanischer Handwerkskunst im Europa des 16. Jahrhunderts, in: Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa, hg. v. Stephan Füssel, Nürnberg 1992 (Pirckheimer-Jahrb. 7), S. 1 0 5 - 1 2 6 . Aufstellung der ersten über außereuropäische Gebiete gedruckten Texte bei: Wolfgang Neuber, Fremde Welt im europäischen H o rizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 12), S. 2 54-27 5. Vgl. ferner Michael Harbsmeier, Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M./New York 1994 (Historische Studien 12), hier bes. S. 7 1 - 7 7 ; Ulrich Knefelkamp, Der Reiz des Fremden in Mittelalter und früher Neuzeit. Uber Neugier und Wissen europäischer Reisender, in: Kommunikation und Alltag, hg. v. Helmut Hundsbichler, Wien 1992; Frauke Gewecke, Wie die alte Welt in die neue kam, Stuttgart 1986, bes. S. 88133; Michael Herkenhoff, Die Darstellung außereuropäischer Welten in Drucken deutscher Offizinen des 15. Jahrhunderts, Diss. Bamberg 1994, Berlin 1996.
117
Dieter Wuttke, Humanismus in den deutschsprachigen Ländern und Entdeckungsgeschichte 1 4 9 3 - 1 5 3 4 , in: Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa (s. Anm. 116), S.9-52. Wie Feest (s. Anm. 116). Rohowski, Künstlerlegende, S. 83
1,8 119
169
herausgestellte Kommentarfreudigkeit Dürers einen besonderen Stellenwert. Dazu gehören die Notizen, in denen er seine eigenen Reaktionen wie Freude oder Verwunderung festhält oder in denen er lapidar anmerkt, daß dies ein >schönes< Dorf oder jener ein >großer< Maler gewesen sei. Auch wenn diese Bemerkungen und Wertungen oft knapp ausfallen, wird doch deutlich, daß ein kompetenter Reisender seine Sicht auf die Dinge festhält. Gerade wenn die Attribute nicht viel über die Eigenart der Sachen ausagen, ist zu erwägen, ob der Vollzug der eigenen Kompetenz als Sachverständiger in Fragen von Kunst und Ästhetik in der Niederschrift dieser Reisenotizen sich selbst genügt.
6. Die Lutherklage Die zwischen Mitte April und Anfang Juni zu Dürers Aufenthalt in Antwerpen eingetragenen Geschäftsnotizen werden von der sogenannten Lutherklage unterbrochen, der längsten zusammenhängenden Passage des >TagebuchsTagebuchs< anders als die bisherigen Herausgeber des Textes datiert. Die erste Edition des Textes stammt von Friedrich Leitschuh. 123 Sie erschien im Jahr 1884. Leitschuh folgt den Angaben auf dem Deckblatt der Handschrift A (Staad. Bibl. Bamberg, 246.1.H.Msc.art I), die von einem früheren Besitzer stammen. Demnach wurde diese Handschrift von dem Nürnberger Maler Johannes Hauer, einem Sammler von Nachrichten über Dürer, im Jahr 1620 nach dem Original angefertigt. 124 Lange und Fuhse halten bei ihrer Edition vom Jahr 1893 diese Angaben für reine Mutmaßungen und kommen nach einem Schriftvergleich zu dem Schluß, daß A
111
122
123 124
Gottfried Seebaß, Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung, in: Albrecht Dürers Umwelt, S. 1 0 1 - 1 3 1 , hier S. i o i f . u. το${. Heinrich Lutz, Albrecht Dürer in der Geschichte der Reformation, H Z 206 (1968), S. 22-44. Thausing, Dürer, hatte eine neuhochdeutsche Übertragung des Textes herausgegeben. Leitschuh (Hg.), Tagebuch, S. 16-44, zur Geschichte der Handschrift.
17 2
nicht von Hauer geschrieben sei. 1 2 ' Ferner gelangen sie aufgrund von Lesefehlern in A zu der Auffassung, daß A nicht vom Original abgeschrieben sei. Die von ihnen neu aufgefundene Abschrift Β (StaAN, S.I.L. 79, Nr. 15, Fasz. 18) datieren sie auf Ende 1 /./Anfang 18. Jahrhundert. Sie könne nicht von A abgeschrieben sein, dazu seien beide Versionen zu eigenständig. Auf der anderen Seite hätten beide die gleichen Fehler, daher schließen Lange und Fuhse auf eine textlich schon verderbte Zwischenstufe. Außerdem ziehen sie eine weitere Zwischenstufe in Betracht: Original I X (Hauer?)
/ \
(Hauer?) ( Χ ι ) (X2) 17. Jh.
I Α
I Β
E. 17./A. 18. Jh.
Veth und Muller übernehmen 1918 die Argumentation von Lange und Fuhse im wesentlichen, allerdings datieren sie Β in die Mitte des 16. Jahrhunderts. 126 Hauers Teilhabe wollen sie gänzlich ausschließen, weil Β älter sei als Hauer und beide Abschriften nach ihrer Meinung auf dieselbe Handschrift zurückgehen, die wegen der Verschreibungen nicht das Original gewesen sein könne: Original I χ
/ \ 17. Jh.
Α
Β
M. 16. Jh.
Rupprich übernimmt 1956 die Argumentation von Lange und Fuhse. Auch er weicht aber wie Veth und Muller in dem entscheidenden Punkt ab, wenn er Β ebenfalls in die Mitte des 16. Jahrhunderts datiert. 127 Lutz folgt 1968 bei der Datierung von Β Lange und Fuhse und datiert die Handschrift entsprechend auf Ende 17. Jh./Anfang 18. Jh. A datiert er ohne nähere Begründung ins 18. Jh. 1 2 8 Als weitere Datierungen seien hier noch die Angaben aus dem Dürer-Katalog von 1971 wiedergegeben, nach denen beide Handschriften aus dem 17. Jahrhundert stammen, 129 sowie Rebel, der 1996 offenkundig an Rupprich anschließt und »zwei Abschriften aus dem 16. beziehungsweise 17. Jahrhundert« nennt. 130
I2! 126 127
Lange/Fuhse (Hgg.), Dürers Schriftlicher Nachlaß, S.99-103. Veth/Muller (s. Anm.4), S . 7 - 1 2 . Dabei wird nicht ganz deutlich, ob Rupprich meint, daß A und Β von derselben Vorlage stammen. Rupprich, S. 147: »Die Hss. A und Β sind nicht voneinander abhängig, doch wurden beide schon nach einer Abschrift von Dürers Autograph angefertigt.«
128
Lutz (s. Anm. 122), S. 32 mit Anm. 18. " 9 Albrecht Dürer-Katalog 1 9 7 1 , S. 39, zu Hs. B: »Eingehende Uberprüfung ergab, daß die vorliegende Abschrift aus der Mitte des i/.Jahrhs. stammt«; ebd., S. 201, zu Hs. A: »aus der ι. Hälfte des 17. Jahrhs. nach einer Abschrift von Dürers verlorenem Autograph«. 150 Rebel, Maler und Humanist, S. 5 1 1 Anm. 5.
!73
Die Unterschiede in der Datierung von Β (Mitte 16. Jh. oder Ende ι /./Anfang 18.Jh.) und A (17. oder 18.Jh.) korrelieren mit Einschätzungen der Fälschungsfrage. Für Veth und Muller sind »Vermutungen der Interpolation irrelevant«. 131 Rupprich hält daran fest, daß es sich um einen »echten Gefühlserguß« handelt. 132 Lutz dagegen äußert die Vermutung einer »späteren Interpolation«.' 33 Hinter diesen Einschätzungen scheint die Überlegung zu stehen, daß eine frühe Datierung einer der Abschriften den Fälschungsvorwurf entkräften, die späte Datierung ihn stützen kann. Wieweit ein solches Kalkül begründet ist, soll hier nicht weiter erörtert werden. Ich schließe mich nach Einsicht in die Handschriften der Einschätzung des Katalogs von 1971 an, wonach beide Handschriften ins 17. Jahrhundert zu datieren sind. Nach meinem Ermessen ergibt sich bei dieser Voraussetzung aus der Überlieferung kein Indiz für oder gegen die Echtheit der Lutherklage. Lutz behauptet nun weiter, eine Fülle von »sachlichen und sprachlichen Argumente[n]« zur Hand zu haben, »die diesen Abschnitt verdächtig machen.«' 34 Leider führt er nur eines davon aus, »weil es das einer andeutungsweisen Mitteilung zugänglichste ist.« 135 Dieses Argument bezieht er aus der isolierten Stellung des Textes im >TagebuchTagebuch< kein kohärenter Text ist, in dem ein Zwang zum Rekurs zu erwarten wäre. An welche weiteren sachlichen Einwände mag Lutz gedacht haben? Zunächst ist festzuhalten, daß die Datierung der Lutherklage nach dem Eingangssatz die einzige Datierung mit Jahreszahl ist, die sich im >Tage1)1
Veth/Muller (s. Anm.4), S.9. Rupprich, S. 197-199, hier S. 198 Anm.642. Lutz (s. Anm. 122), S.32. 134 Ebd., S.33. 135 Ebd., S.33. 136 Ebd., S.3 3 f. 1)2 135
174
buch< f i n d e t . S o d a n n e r s c h e i n t a u f f ä l l i g , daß D ü r e r i m H i n b l i c k auf v e r schiedene Glaubensgemeinschaften z w i s c h e n Reussen und M o s c o w i t e r n u n t e r s c h e i d e t . D o c h diese A s p e k t e e r s c h e i n e n m a r g i n a l g e m e s s e n a n d e n A r g u m e n t e n , die m a n f ü r die E c h t h e i t d e r L u t h e r k l a g e a n f ü h r e n k a n n . D a ß D ü r e r u n d sein N ü r n b e r g e r U m f e l d a n f ä n g l i c h v o n L u t h e r b e g e i stert w a r e n , ist d u r c h B r i e f e , W i d m u n g e n u n d S c h r i f t e n h i n l ä n g l i c h b e l e g t . 1 3 7 M a ß g e b l i c h e Q u e l l e n f ü r D ü r e r s H a l t u n g , einen B r i e f an S p a l a t i n v o m A n f a n g des J a h r e s 1 5 2 0 ( D ü r e r erklärt, d a ß L u t h e r i h m aws engsten gehollfen
grossen
h a b e , u n d bittet, i h m N e u e s v o n L u t h e r , das tewczsch
ist,
z u z u s e n d e n ) u n d einen u n d a t i e r t e n Z e t t e l r e l i g i ö s e n I n h a l t s h a t L u t z selber zusammengestellt u n d interpretiert.138 Z u den frühen Zeugnissen geh ö r e n f e r n e r ein B r i e f L u t h e r s an C h r i s t o p h I I . S c h e u r l aus d e m M ä r z 1 5 1 8 , in d e m er f ü r ein G e s c h e n k D ü r e r s d a n k e n läßt, ein V e r z e i c h n i s D ü rers m i t ( s e i n e n ? ) L u t h e r d r u c k e n s o w i e die N o t i z e n ü b e r d e n K a u f v o n L u t h e r d r u c k e n i m >TagebuchTagebuchBabylonische Gefangenschaft* Luthers geschenkt: 175, i o i f . 140 Zur Kontroverse um die Bedeutung der Flugschriften für die Verbreitung reformatorischer Uberzeugungen: Heike Talkenberger, Kommunikation und Öffentlichkeit in der Reformationszeit. Ein Forschungsbericht 1980-91, I A S L . 6. Sonderheft, Forschungsreferate, 3. Folge, Tübingen 1994, S. 1-26. Vgl. auch den Sammelband: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980, hg. v. HansJoachim Köhler, Stuttgart 1981 (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 13); zum Begriff der >reformatorischen Offentlichkeitc Rainer
175
So gehören die mehrfach angesprochene Gewissensfreiheit des M e n schen v o r G o t t und der Primat der Schrift vor ihren Auslegern z u m Kern v o n Luthers Uberzeugungen, die er bis 1 5 2 1 wiederholt auch in seinen deutschen Flugschriften publiziert hatte. 1 4 1 Damit einher geht der V o r wurf Luthers an die römische Kirche, sie setze v o n Menschen geschaffene Gesetze an die Stelle des offenbarten Worts, um die Freiheit der Christen zu unterdrücken. 1 4 2 A u c h die Begründung der Kirchenspaltung mit dem A r g e r der griechischen Kirche über das Papsttum, 1 4 3 die Kritik an der Bedeutung der Kirchenväter in Theologie und religiöser Praxis' 4 4 sowie der B e z u g auf die als Ketzer verurteilten J o h n Wiclif und Jan H u s finden sich in den frühen volkssprachigen Schriften. 1 4 5 W i e D ü r e r in seiner Klage, so hatte Luther die Verbrennung der papsttreuen Schriften damit gerechtfertigt, daß sie unchristlich seien, während seine Texte die evangelische Wahrheit enthielten.' 46 Wenn man also auch nicht nachweisen kann, welche Schriften Luthers D ü r e r genau gelesen hatte, so kann man doch festhalten, daß Grundgedanken und M o t i v e der Lutherklage sich vielfach in Luthers volkssprachigen >Bestsellern< bis 1 5 2 1 finden.' 4 7
Wohlfeil, Reformatorische Öffentlichkeit, in: Grenzmann/Stackmann (Hgg.), Laienbildung, S.41-52. 141 Vgl. z.B. Luthers Schriften >An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung< 1520, in: D. Martin Luther, Werke, Bd.6, Weimar 1888 (Weimarer Ausgabe), S. 404-469, oder >Von der Freiheit eines Christenmenschen< 1520, in: D. Martin Luthers Werke, Bd. 7, Weimar 1897 (Weimarer Ausgabe), S. 12-3 8. Zu den Anfangsjahren von Luthers Publizistik: Bernd Moeller, Das Berühmtwerden Luthers, Zs. f. historische Forschung 15 (1988), 8.65-92. 142 Z.B. Adelsschrift (s. Anm. 141), S. 408,22-25: Aberriti haben sie erticbtet Caracteres indelebiles, und scbwetzen, das ein abgesetzter priester dennocht etwas anders sey, dan ein schlechter leye, Ja sie trewmet, Es mug ein priester nymmer mehr anders den priester odder ein ley werden: das sein alles menschen ertichte rede und gesetz. Vgl. auch ebd., S.409, 2530; 410, i8f. usw. ' 4 J Z.B. Adelsschrift (s. Anm. 141), S.441, 7-10. 144 Z.B. ebd., S.461, ι—10. 145 Z.B. ebd., S.454Í.; vgl. auch: Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium 1520, in: Luthers Werke, Bd. 6 (s. Anm. 141), S. 484-573, hier S. 508. Eine deutsche Ubersetzung der >Babylonischen Gefangenschaft lag spätestens 1521 vor (ebd., S.487). S. auch Siegfried Hoyer, Jan Hus und der Hussitismus in den Flugschriften des ersten Jahrzehnts der Reformation, in: Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. Beiträge zum Tübinger Symposion 1980, hg. v. Hans-Joachim Köhler, Stuttgart 1981 (Spätmittelalter und frühe Neuzeit 13), S. 291-307, bes. S. 292L 146 Z.B. Luther, Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. Martin Luther verbrannt sind, 1520, in: Luthers Werke, Bd. 7 (s. Anm. 141), S. 161-182, bes. S. 180. 147 Als >BestsellerSchutzrede für Luthers Lehre< von Lazarus Spengler aus dem Jahr 1 5 1 9 genannt, in der Spengler viele der genannten Argumente vorbringt: Orientierung am Evangelium (S. 84, 90), vorsichtige Kritik an der Autorität der Kirchenväter (S. 85-88), Verständlichkeit Luthers (S. 89), Befreiung aus Gewissensangst (S.95), Eigennutz und Geldgier vieler Geistlicher (S.91), Erfindungen der fabel- oder merleinprediger (S.90), mit denen sie die gebot Christi gantz vertunckelt, verblendt und zurückgeworfen hätten (S. 92). 148 Parallelen zwischen der Lutherklage und den frühreformatorischen Flugschriften' 49 bestehen auch bei der Bestimmung von Luthers Rolle: Luther gilt, so Andrea Körsgen-Wiedeburg, den Verfassern der frühen Flugschriften als fromm, christlich und unerschrocken, als Bote Gottes, der Gottes Wort aus Irrlehre und Aberglaube führt und somit kein Ketzer sein kann. Spätestens mit seiner Verurteilung drängt sich den Freunden und Anhängern die Sorge um sein Leben auf. 150 Luther wird als verständlicher Lehrer gelobt, und sein Auftreten wird heilsgeschichtlich, im Zusammenhang mit der erwarteten Endzeit gesehen.1'1 Entsprechend sieht ein Teil der Flugschriften Luthers Weg als Passionsnachfolge.1'2 Auch die Erwartung, daß Erasmus von Rotterdam sich unter Entscheidungszwang 148
Lazarus Spengler, Schutzrede für Luthers Lehre, in: Hamm/Huber (Hgg.), Spengler, Bd. ι, S. 82-102; weitere Vergleichstexte für die frühe Luther-Rezeption werden diskutiert bei Hohenberger (s. Anm. 142), s. insbes. Nr. 1 1 , 16, 31, 33-36, 44, 45, 48, 56, 59, S. 191-197, die nach Ausweis Hohenbergers 1521 erschienen sind. In einer anderen prolutherischen Flugschrift wird sogar der Gedanke vorgetragen, daß sich heidnische Völker von selbst zum Christentum bekehren würden, wenn man nur christlich lebte. Vgl. Hans Schwalb, Beklagung eines Laien, [April?] 1521: man soll ain Ketzer, Juden, Tiircken mitt gûtten wercken, geleerten wortten vnder weysen vnnd zum Christen glauben zyehen, Vnnd nit mit Feiir verbrenen, Weichs nit götlich oder recht ist. auch soll nyemant zu vnserm glauben gezwungen werden. Zit. nach: Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, hg. v. Otto Clemen, Leipzig/New York 1907-1911 [Nachdr. Nieuwkoop 1967], 4 Bde, hier Bd. 1, S.345-357, hier S.351.
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Zur Problematik der Bezeichnung >reformatorische Flugschriften vgl. Hohenberger (s. Anm. 147), S. 163-168. IS ° Zur Bedeutung des Ketzerurteils vgl. Moeller (s. Anm. 141), S. 88. Zur Sorge um Luthers Leben gerade vor der Reise nach Worms vgl. auch die Briefe, in: D. Martin Luthers Briefwechsel, Bd. 2: 1520-1522, Weimar 1931 (Weimarer Ausgabe), z.B. Nr. 389, S. 288f.; Nr. 391, S. 292Í.; Nr. 398, S. 3oif.; Nr. 399, S. 303^ 11 ' Andrea Körsgen-Wiedeburg, Das Bild Martin Luthers in den Flugschriften der frühen Reformationszeit, in: F G Walter Zeeden zum 60. Geburtstag, hg. v. Horst Rabe, Hansgeorg Molitor und Hans-Christoph Rublack, Münster 1976 (RGST.S 2), S. 153-177. 112 Auf die Spitze getrieben findet sich dieses Luther-Verständnis in der auf die Zeit zwischen Anfang August und Ende September 15 21 datierten Schrift >Passio Doctoris Martini LutheriApokalypse< und entsprechend die Fähigkeit zu deren Paraphrase vor dem Erscheinen des lutherischen Septembertestaments ist nicht erstaunlich, nachdem Dürer 1496 die Apokalypse als erste Holzschnittserie illustriert und in zwei verschiedenen Ausgaben, einmal mit lateinischem, einmal mit deutschem Text versehen, herausgegeben hat. Insgesamt gesehen ergeben sich allenfalls schwache und keinerlei zwingende Indizien für eine Fälschung und deutlich stärkere für die Echtheit der Lutherklage. Somit wird man sich trotz Lutz den Forschungsmeinungen anschließen können, die in der Lutherklage ein singuläres Zeugnis aus den Anfangsjahren der reformatorischen Bewegung sehen. Hinsichtlich Inhalt und Form steht die Lutherklage isoliert in der Überlieferung. Hier liegt eine Quelle aus den Tagen der Verunsicherung über Luthers Schicksal vor, die obendrein noch eine Innensicht auf die Ereignisse bietet. Entsprechend zitiert die Reformationsforschung die Lutherklage vor allem als Zeugnis religiöser Erfahrung. Zum einen belegt sie die als Kennzeichen spätmittelalterlicher Frömmigkeit oft herausgestellte Endzeiterwartung, 160 zum anderen bezeugt der Text, daß Luther »also wirklich als Heilsbringer erfahren worden« ist, als »geistlicher Führer aus 1.7
So die freundliche Mitteilung von Juliane Glüer, Gießen. Vgl. folgende Textstellen: nachfolget Christj (11), Christus frey lassung (16), o herr Jesu Rex Christe (29^), herr Jesu Christe (37), durch deinen söhn Jesum Christum (5 ïf.), dein söhn Jesus Christus (68), deinem [nach Hs. B] nachfolger Martino Luther (γι), O Erasme Roderadame (96), du ritter Christj (99), dem evangelio (104), deinem maister Christo (io8f.), durch Christum clarificirt (112). Vgl. z.B. die Notiz über den Segenswunsch von Dürers Mutter im sog. >Bruchstück aus Dürers Gedenkbuch< (vgl. Kap. 2): Ge in dem nomen Cristo! (74). ,é ° Schilling (s. Anm. 152), S. 8if. 1.8
l
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ägyptischer Finsternis menschlicher Lehre in das gnadenreiche Licht des heiligen Evangeliums göttlicher Lehre und Wahrheit.« 1 6 ' In der Dürer-Forschung wird die überraschende Eindeutigkeit seiner privaten Stellungnahme hervorgehoben. Damit sticht die Lutherklage ab von anderen zeitgleichen Äußerungen früher Luther-Anhänger (etwa Spenglers und Pirckheimers), die sich unter dem zunehmenden Druck der Geistlichkeit öffentlich oder halböffentlich von der causa Lutheri distanzieren. 102 Vor allem aber macht Dürer schon jetzt, Mitte 1 5 2 1 , ernst mit dem Anspruch des Laien auf Kompetenz in religiösen Fragen, indem er stante pede die neue Situation und ihre möglichen Folgen bewertet und in Erasmus von Rotterdam seinen fingierten Gesprächspartner sucht. 163 Z w e i der genannten Gesichtspunkte, Innensicht und Laienanspruch, erfordern, die Lutherklage als frühen Beleg des durch die Reformation ausgelösten religiösen Wandels zu verstehen. U n d doch verstellt eine Betonung ihrer Modernität allzu rasch den Blick dafür, daß auch dieser Text in einer literarischen Tradition steht. Gerade hinsichtlich ihrer vermeintlich >hohen StilisierungBaumgarten geistlicher HerzenReden der UnterweisungTagebuch< um eine von Dürer erfundene Textsorte, verfehlt. 172 Zwar hat sich nur ein weiterer solcher Text, der von Sebald Ortel, erhalten, doch die Nürnberger Pilgerberichte lassen den Schluß zu, daß es zumindest unter den Pilgern der Nürnberger Oberschicht üblich war, unterwegs Buch zu führen. Ob Dürer für seine Geschäftsreise diese Praxis der patrizischen Pilger übernimmt oder ob er sich an Gepflogenheiten kaufmännischer Schreibpraxis orientiert, ist mangels weiterer Uberlieferung kaum zu beurteilen. Im Vergleich zu den Pilgerberichten erscheinen Dürers >Tagebuch< und Orteis Reisemitschrift ungeordnet: Hier sind die einzelnen Inhalte, also Mitteilungen zur Route, zu Ausgaben, Geschenken, Ehrungen und Erlebnissen, noch durcheinander geschrieben, die in der Redaktion für einen Pilgerbericht dann zusammengefaßt, geordnet und mit Hilfe literarischer Vorlagen ergänzt werden. Die inhaltlichen Parallelen zu den Vergleichstexten lassen entscheidende Besonderheiten des Dürerschen >Tagebuchs< hervortreten. Dazu gehören zum einen der unvergleichlich hohe Stellenwert, den Notizen zu Geschenken und Ehrungen einnehmen, und zum anderen ein gegenüber den Vergleichstexten größeres Interesse an der Verschriftlichung von eigenen Einschätzungen, das in der Niederschrift der Lutherklage seinen singulären Ausdruck findet.
171 172
Poeschke (ebd.), S. 197. Vgl. die Forschungsmeinungen Anm. 10.
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Die größere Anzahl der Schenkungsnotizen läßt sich zunächst einmal mit den individuellen Erfordernissen von Dürers Geschäftspraxis begründen, die nicht allein auf den Verkauf ausgerichtet war, sondern sich maßgeblich auf die Logik des Schenkens und Wieder-Schenkens gründete. Nun zeigt sich aber rasch, daß eine scharfe Trennlinie zwischen Notizen zu Geschenken einerseits und solchen zu Ehrungen andererseits nicht immer zu ziehen ist. Daß Dürer bei seinen Notizen nicht allein Verbindlichkeiten im Blick hat, sondern auch deren repräsentativen Wert, erhellt insbesondere aus dem Umstand, daß er mitunter die Bedeutung eines Geschenks als Ehrung festhält. Generell ist das im >Tagebuch< gezeigte Interesse Dürers an der Dokumentation der eigenen gesellschaftlichen Anerkennung in der Fremde größer als bei den Vergleichstexten. Wo die Pilgerberichte gattungsgemäß weitgehend schweigen, enthält Dürers Text detaillierte Beschreibungen erhaltener Ehrungen. Dies wird man nicht allein mit gegenüber dem Pilgerbericht größeren Lizenzen der Textsorte Rechnungsbuch begründen können. Denn: Anders als die patrizischen Pilger erfährt Dürer unterwegs eine gesellschaftliche Anerkennung, die er zu Hause nicht beanspruchen kann. Die Aufzeichnungen zu Gesehenem und Erlebtem lassen sich im großen und ganzen an künstlerische Interessen binden, finden sich doch vor allem Notizen über Gebäude, Gemälde und andere Kunstgegenstände. Wenn auch im einzelnen schwer zu fassen, ist hier ebenfalls ein gegenüber den Vergleichstexten höheres Bedürfnis des Künstlers an der Aufzeichnung eigener Wertungen und Reaktionen wahrscheinlich zu machen. Mit der Lutherklage wird der Umschlag von der Niederschrift als Reisedokumentation zur Niederschrift als Selbstreflexion manifest. Von daher erscheinen die Skrupel der frühen Herausgeber, den Text als Rechnungsbuch zu bezeichnen, verständlich. Nur sollte das Bezeichnungsdilemma nicht dazu verleiten, den Anspruch auf mitgeteilte Innerlichkeit auf alle der ausgesprochen disparaten Textbestandteile auszuweiten. Das Rechnungsbuch liefert nun einmal den Rahmen. Dessen Bedeutung ist schwer abzuschätzen. Denn wie sich zeigt, sind die Eintragungen zur laufenden Buchführung eher unübersichtlich und für eine abschließende Rechnungslegung wohl nur bedingt tauglich. Mit dieser Feststellung soll nicht ausgeschlossen werden, daß sie Dürer die Haushaltung unterwegs erleichtert haben. Doch erschöpfte sich der Zweck der Rechnungsnotizen in der Buchführung unterwegs? Wie sich zeigte, ist die Absicht einer späteren Verwendung als Statusdokument (wie bei den Pilgerberichten) aus dem Text nicht zu stützen. Dagegen wird 183
man nicht fehlgehen, wenn man den Zweck der Rechnungsnotizen über den praktischen Nutzen hinaus sehr allgemein, nämlich als Teil der Reisedokumentation festsetzt. Damit ist schließlich die Frage nach der Funktion des Gesamttextes aufgeworfen, denn mit der Zweckbestimmung der >Reisedokumentation< ist der kleinste gemeinsame Nenner für alle anfallenden Notizen erreicht. Ob diese Dokumentation wie ein Teil der Skizzen in erster Linie für den Eigengebrauch gedacht ist,' 73 läßt sich schwer abschätzen. Anhaltspunkte für die Absicht einer literarischen Bearbeitung des >Tagebuchs< durch Dürer ergeben sich nicht. Als Muster für die Aufbereitung hätten ihm sowohl die Pilgerberichte wie die familiären Aufzeichnungen dienen können.' 74 Eine solche Bearbeitung der Reisenotizen hätte sich aber sehr wahrscheinlich in Neudörfers >KünstlerlebenTeutschen Academie< von Joachim von Sandrart niedergeschlagen. Letzterer beweist sogaf seine Unkenntnis des >TagebuchsTagebuch< zum Eigengebrauch geschrieben hat. Doch was heißt bei Dürer >Eigengebrauch