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German Pages 479 [480] Year 2002
Alexander Staudacher Phänomenales Bewußtsein als Problem für den Materialismus
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Wolfgang Wieland
Band 56
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2002
Phänomenales Bewußtsein als Problem für den Materialismus
von Alexander Staudacher
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2002
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Staudacher, Alexander Phänomenales Bewußtsein als Problem für den Materialismus / von Alexander Staudacher. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 56) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1999 ISBN 3-11-017177-5
© Copyright 2002 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete und gekürzte Version meiner Dissertation, die 1999 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der freien Universität Berlin angenommen worden ist. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all jenen bedanken, die mich bei diesem Projekt mit Rat und Tat unterstützt haben. An erster Stelle gebührt mein Dank den beiden Gutachtern der Arbeit, Prof. Dr. Peter Bieri und Prof. Dr. Holm Tetens. Die Diskussionen mit Michael Schmitz und Carsten Siebert sowie die zahlreichen Gespräche mit Bernhard Thöle haben nicht nur zur Klärung meiner eigenen Auffassung beigetragen und mich vor vielen Mißverständnissen und Fehleinschätzungen bewahrt, sie haben mir auch Spaß gemacht. Irma Handwerker und Bernd Ladwig haben mir bei der mühseligen Arbeit des Korrekturlesens geholfen. Meine Eltern haben mich sowohl finanziell wie auch moralisch in etwas schwierigeren Phasen der Arbeit unterstützt. Für finanzielle Unterstützung bin ich auch dem Land Berlin wie auch der Studienstiftung des Deutschen Volkes dankbar, die mir Promotionsstipendien gewährt haben, sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, die die Veröffentlichung der Arbeit mit einer Druckkostenbeihilfe gefördert hat. Magdeburg, im Frühjahr 2002 Alexander Staudacher
Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Phänomenales Bewußtsein 1.1 Der qualitative Charakter 1.2 Das Wissen vom qualitativen Charakter 1.3 Die subjektive Perspektive 2. Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein 2.1 Zu den Grundzügen des modernen Materialismus 2.1.1 Logischer Behaviorismus 2.1.2 Funktionalismus 2.1.3 Identität, Realisierung, Supervenienz 2.1.4 Alternativen zum Funktionalismus 2.2 Die Einwände gegen den Materialismus 2.2.1 Der Gegensatz von subjektiver und objektiver Perspektive.. 2.2.2 Jacksons „Argument vom unvollständigen Wissen" 2.2.3 Invertierte Qualia 2.2.4 Zombies 2.2.5 Die explanatorische Lücke 3. Theoretische Konsequenzen aus der Kritik am Materialismus 3.1 Der Expansionismus 3.2 Die These von der kognitiven Beschränktheit 3.3 Der Dualismus 4. Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus 4.1 Ist Bewußtsein überhaupt ein geeignetes Thema für die Philosophie? 4.2 Philosophischer Materialismus 4.2.1 Grundsätzliche Erwägungen zugunsten des Materialismus... 4.2.2 Die möglichen Reaktionen d. Materialismus a. d. Einwände
V VII 1 2 3 6 8 10 11 12 13 14 18 20 20 21 22 25 27 33 33 34 37 38 38 41 41 45
Vin
Inhaltsverzeichnis
5. Ein kurzer Überblick über die folgenden Kapitel 1 Qualia
49 53
1.1 Mentale Zustände
53
1.2 Gehalt
59
1.3 Quaüa
62
1.3.1 Ein Blick in die Literatur 1.3.2 Qualia - Ein Scheinproblem? 1.3.3 Vier Gründe für die Rede von Qualia 1.3.3.1 Empfindungsqualia 1.3.3.2 Der erste Grund für Wahrnehmungsqualia: Wie uns Dinge in der Wahrnehmung erscheinen 1.3.3.3 Der zweite Grund für Wahrnehmungsqualia: Der Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmen. 1.3.3.4 Der dritte Grund für Wahrnehmungsqualia: Die Unterscheidung zwischen primären u. sekundären Qualitäten 1.3.3.4.1 Die Unterscheidung im Kontext des wissenschaftlichen Realismus 1.3.3.4.2 Die begriffliche Unterscheidung und ihre Schwierigkeiten 1.3.4 Qualia als Fundament der Erkenntnis? 1.4 Resümee
62 65 67 67
2 Phänomenales Bewußtsein im Kontext
68 71
74 78 80 87 89 91
2.1 Zur alltäglichen Rede von Bewußtsein
91
2.2 Bewußtsein in der philosophischen Tradition
93
2.3 Introspektion
98
2.3.1 Introspektion in der Kritik 2.3.2 Wittgensteins Analyse der unmittelbaren mentalen Selbstzuschreibung
99 103
2.4 Bewußtseinskonzeptionen in der analytischen Philosophie des Geistes - eine Vorschau 3 David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins 3.1 Zu Voraussetzungen und Motivation der GhO-Konzeption
113 118 119
Inhaltsverzeichnis 3.1.1 Der erste Schritt: Die Möglichkeit unbewußter mentaler Zustände 3.1.2 Rosenthals Ergänzungsschritt: Bewußtsein ist nur erklärbar, wenn mentale Zustände unbewußt sein können 3.1.3 Der zweite Schritt: Bewußtsein als Relation 3.2 Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
IX
119 121 122 124
3.2.1 Fünf Einwände gegen Rosenthals GhO-Modell
124
3.2.2 Rosenthals Reaktion auf die Einwände
125
4 Die Meinungstheorie der Wahrnehmung 4.1 Armstrongs kausale Theorie des Geistes 4.1.1 Meinungen in Armstrongs Theorie 4.2 Wahrnehmungen als Meinungen 4.2.1 Sechs Qualifizierungen der Meinungsthese
134 135 136 138 138
4.3 Kritik an zwei Implikationen 4.3.1 Kritik an (/,) 4.3.1.1 Meinungstheoretische Lösungs versuche für das Illusionsproblem 4.3.1.2 Lassen sich die Schwächen der Meinungstheorie beheben? 4.3.1.2.1 Sind widersprüchliche Meinungen möglich? .... 4.3.1.2.2 Von der Sturheit unserer Wahrnehmungen Ein kurzer Blick auf Fodors Modularitätsthese . 4.3.1.3 Wahrnehmungen ohne Meinungen (Dretskes nichtepistemisches Sehen) 4.3.1.3.1 Einige Beispiele für nichtepistemische Wahrnehmung 4.3.2 Kritik an (/2) 4.3.2.1 Wahrnehmungen als fundierende Meinungen 4.3.2.2 Wahrnehmungen als Meinungen, die über bestimmte Organe vermittelt werden 4.3.2.3 Wahrnehmungen als spezifisch reichhaltige Meinungen 4.3.2.4 Das Problem der Anschauung
170 174
4.4 Resümee
177
5 Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
142 142 145 148 150 152 156 159 165 166 167
179
X
Inhaltsverzeichnis
5.1 Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein 5.1.1 Zugriffsbewußtsein ohne phänomenales Bewußtsein 5.1.2 Phänomenales Bewußtsein ohne Zugriffsbewußtsein 5.2 Dennetts Kritik an der Unterscheidung
179 184 188 193
5.2.1 Die These von der Inkohärenz 193 5.2.2 Eine Skizze von Dennetts positivem Bewußtseinskonzept.... 195 5.2.3 Ist die Unterscheidung zwischen phänomenalem Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein inkohärent? 201 5.2.3.1 Anzeichen für eine Unterscheidbarkeit aus der Perspektive der dritten Person 202 5.2.3.1.1 Sollen wir Tieren und Säuglingen phänomenales Erleben ab spre chen, weil ihnen die Ressourcen für Zugriffsbewußtsein fehlen? 203 5.2.3.1.2 Generelle empirische Indizien für Erleben ohne Zugriff 206 5.2.3.2 Der Unterschied zwischen Erleben und Zugriff aus der Perspektive der ersten Person 207 5.2.3.2.1 Welche Rolle sollen wir der Sprache für das bewußte Erleben einräumen? 209 5.2.3.2.2 Bewußtes Erleben als Auslöser und Begleiterscheinung des Zugriffs 211 5.2.4 Ist unser bewußtes Erleben eine Fiktion? 213 5.2.5 Dennetts Kritik am „Cartesianischen Materialismus" 216 5.2.5.1 Das Modell vom „inneren Beobachter" und seine Folgen für die Suche nach dem NCC 220 5.2.5.2 Der Phi-Farbeffekt oder - Orwell versus Stalin 224 5.2.5.2.1 Woran kann sich die Suche nach dem NCC orientieren? 228 5.3 Resümee 6 Der Repräsentationalismus 6.1 Der Repräsentationalismus als Theorie des phänomenalen Bewußtseins - Ein kurzer Überblick
235 238 238
6.2 Natürliche Repräsentation bei Tye: Kausale Kovarianz unter optimalen Bedingungen
246
6.2.1 Schwierigkeiten mit Tyes Repräsentationskonzept
248
6.3 Dretskes teleologische Konzeption von natürlicher Repräsentation..
249
Inhaltsverzeichnis
XI
6.3.1 Natürliche repräsentationale Systeme 6.3.2 Natürliche Funktionen als Resultat der Evolution
253 254
6.4 Dretskes Unterscheidung zwischen Sinneserfahrung und Meinung in „Naturalizing the Mind"
259
6.4.1 Mentale Repräsentation als Form natürlicher Repräsentation 6.4.1.1 Systemische und erworbene Repräsentation 6.4.2 Sinneserfahrung als Repräsentation ohne Begriffe 6.4.2.1 Systemische Repräsentationen als kognitiv undurchdringliche Repräsentationen 6.4.2.2 Die Reichhaltigkeit unserer Sinneserfahrung als Folge ihres systemischen Charakters 6.4.3 Resümee 6.5 Tyes Unterscheidung zwischen Sinneserfahrung und Meinung 6.5.1 Die repräsentationale Struktur mentaler Zustände 6.5.1.1 Repräsentationale Struktur und repräsentationales Format 6.5.1.2 Die „Sprache des Denkens" 6.5.1.3 Topographische Repräsentation 6.5.1.4 Exkurs: Repräsentationale Areale bei Man 6.5.1.5 Exkurs: Tyes Auffassung von geistigen Vorstellungsbildern 6.5.1.6 Schlußfolgerungen und Probleme 7 Repräsentationaler Gehalt und phänomenaler Gehalt 7.1 Läßt sich der Gehalt unserer Wahrnehmung vollständig repräsentational analysieren?
259 260 264 266 270 272 274 277 277 278 281 284 286 289 293 293
7.1.1 Das Problem der unterschiedlichen Repräsentation derselben Eigenschaft
295
7.2 Der Repräsentationalismus und die subjektive Perspektive
296
7.2.1 Die subjektive Perspektive 7.2.2 Die subjektive Perspektive nach Dretske 7.2.3 Die subjektive Perspektive nach Tye 7.3 Der Repräsentationalismus und die Farben 7.3.1 Tye über Farben 7.3.2 Dretske über Farben
296 297 304 313 314 324
Inhaltsverzeichnis
XII
7.3.2.1 Der neurophysiologische SubjektivismusEine Alternative zum Repräsentationalismus?
329
7.4 Körperempfindungen als repräsentationale Zustände
331
7.4.1 Tyes repräsentationalistische Analyse von Schmerzen 7.4.1.1 Ein Problem mit dem Ort des Schmerzes 7.4.1.2 Was macht Schmerzen schmerzhaft? 7.4.1.3 Körpergefühle, Emotionen und Stimmungen 7.5 Grundlegende Zweifel am Repräsentationalismus von Tye
332 337 341 345 352
7.5.1 Drei Einwände gegen den Repräsentationalismus von Tye.... 7.5.2 Sind Einwände dieser Art überhaupt relevant? 7.6 Resümee
352 357 361
8 Das Argument von der explanatorischen Lücke
363
8.1 Levines Argumentation für die explanatorische Lücke
363
8.2 Zur Diskussion von kritischen Einwänden
369
8.2.1 Sind die Explanandum-Begriffe für eine angemessene Analyse nicht viel zu vage? 8.2.2 Läßt die prinzipielle Revidierbarkeit unserer Vorstellungen vom Explanandum nicht jede Analyse Makulatur werden?... 8.2.3 Zur Kritik v. Block und Stalnaker an Levines Argumentation 8.2.3.1 Die Kritik an der Ableitbarkeit 8.2.3.2 Reduktion ohne lückenschließende Erklärung 8.2.4 Ist die Einsichtigkeit des Materialismus am Ende eine Frage der Gewöhnung? 8.3 Resümee
369 371 374 374 377 385 386
9 Chalmers' Argumentation für den Dualismus
387
9.1 Materialismus und logische Supervenienz
388
9.2 Chalmers' Definition des Materialismus
391
9.3 Chalmers' Argument gegen den Materialismus
397
9.4 Ein Einwand gegen Chalmers' Argumentation
398
9.5 Zur Relevanz der apriori-aposteriori-Unterscheidung 9.5.1 Die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Intension 9.5.2 Hat die Entdeckung aposteriorischer Notwendigkeiten relevante modale Konsequenzen?
400 401 404
Inhaltsverzeichnis
XIII
9.5.3 Chalmers' Kritik an „strenger" metaphysischer Möglichkeit 406 9.5.4 Chalmers' erstes Argument gegen die Relevanz der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Intension 407 9.5.4.1 Whites Argument für den Eigenschaftsdualismus.... 409 9.5.4.1.1 Führt jeder referentielle Pfad über eine entsprechende Eigenschaft? 412 9.5.4.1.2 Können unterschiedliche referentielle Pfade durch andere Eigenschaften vermittelt werden als man glaubt? 416 9.5.4.1.3 Fallen die für die Bezugnahme relevanten Eigenschaften zwangsläufig auf die Seite der Welt? 418 9.5.5 Chalmers' zweites Argument gegen die Relevanz der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Intension 421 9.6 Resümee 422 10 Zum Problem der mentalen Verursachung
425
10.1 Kausalität
427
10.2 Zur kausalen Rolle der Qualia
432
10.3 Der Qualia-Epiphänomenalismus und seine Schwierigkeiten
437
10.3.1 Müssen evolutionär bedingte Eigenschaften einen unmittelbaren Beitrag zum Überleben leisten? 10.3.2 Wissen von epiphänomenalen Qualia
439 439
Schlußbemerkung
448
Literaturverzeichnis
450
Personenregister
461
Sachregister
465
Einleitung Bewußte mentale Zustände wie Schmerzen oder Wahrnehmungen haben in den letzten Jahren unter anderem deshalb besonderes Interesse in der analytischen Philosophie geweckt, weil sie von einer Reihe von Autoren als Phänomene charakterisiert worden sind, die sich jeder befriedigenden Analyse im Rahmen einer natur- oder kognitionswissenschaftlichen Theorie des Geistes zu entziehen scheinen. Dies soll dabei nicht nur für die bislang verfugbaren Ansätze gelten, sondern auch für künftige Fortschritte in diesen Wissenschaften, soweit man diese vom heutigen Standpunkt aus sinnvoll antizipieren kann. Demnach würden uns weder neue neurophysiologische Erkenntnisse noch weitere Verfeinerungen unserer kognitionswissenschaftlichen Modelle wirklich weiterhelfen können. Nach einer weitverbreiteten Auffassung besteht die Wirklichkeit allerdings ausschließlich aus Elementen, die mit naturwissenschaftlichen Methoden erfaßt und beschrieben werden können. Eine vollständige naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit wäre demnach auch eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit schlechthin. Diese Position wird häufig als „Materialismus", „Physikalismus" oder auch „Naturalismus" bezeichnet.1 Es handelt sich dabei um eine ontologische Position, die eine eindeutige Auskunft darüber gibt, was für Arten von Gegenständen und Eigenschaften es letztlich gibt. Im einzelnen handelt es sich um eine monistische Ontologie, der zufolge es nur eine Art von Gegenständen und Eigenschaften gibt. Bewußtsein gehört dann zum selben Gegenstandsbereich wie Steine, Pflanzen, Tankstellen, Atome oder Energie, nämlich zum Bereich der materiellen Gegenstände und Eigenschaften. Wir können uns die These des Materialismus auch so verdeutlichen: Wenn
Anders als hier werden diese drei Bezeichnungen in der Literatur nicht immer einheitlich gebraucht. Insbesondere der Begriff .Naturalismus" wird manchmal in einer wesentlich schwächeren Form als die anderen beiden Begriffe verwendet. So bestimmt Guttenplan in seinem „Companion to the Philosophy of Mind" den Naturalismus als jene Auffassung, wonach alles, was im beanspruchten Geltungsbereich liegt, empirisch zugänglich sein soll (vgl. Guttenplan 1994 S.449). Das ist eine extrem tolerante Bestimmung, die gegebenenfalls sämtliche klassischen empiristischen Konzeptionen einschließt. Oder Chalmers spricht von einem „naturalistischen Dualismus" (vgl. Chalmers 1996 S.128), eine Bezeichnung, die, wie gleich deutlich werden wird, mit der hier befolgten Praxis nicht in Einklang steht.
2
Einleitung
man eine bestimmte Sache erschaffen oder ihr eine bestimmte Eigenschaft verleihen will, dann reicht es, auf den Bereich der materiellen Gegenstände zurückzugreifen. Und wenn man sich etwa vorstellt, daß Gott alle materiellen Tatsachen erschaffen hat, dann hat er damit nicht nur alle Atome, alle Steine, alle Pflanzen usw. erschaffen, sondern auch das Bewußtsein. Er muß dann sozusagen keine zusätzliche Arbeit mehr verrichten, um das Bewußtsein zu erschaffen.2 Aus der These, daß sich eine bestimmte Form von Bewußtsein den naturwissenschaftlichen Theorien entzieht, haben einige die Konsequenz gezogen, daß der Materialismus falsch sein muß. Demnach brauchen wir eine reichhaltigere Ontologie, einen Dualismus. Es gibt dann nicht nur materielle Gegenstände, sondern mit dem Bewußtsein mindestens auch noch einen weiteren, nichtmateriellen Typ von Gegenständen oder Eigenschaften. An was für einer Auffassung von Bewußtsein entzündet sich nun diese Kontroverse? Im Folgenden soll eine grobe Skizze gegeben werden, die in erster Linie an Intuitionen appelliert, ohne sich auf irgendeine ausgefeilte Argumentation zu stützen. Ferner will diese Einleitung einen Überblick über die gängigen Argumente liefern, warum das Bewußtsein als eine unüberwindliche Hürde für den Materialismus gilt, sowie einige mögliche materialistische wie dualistische Strategien mit ihren Konsequenzen andeuten. Zum Abschluß folgt ein kurzer Überblick über die folgenden Kapitel.
1.
Phänomenales Bewußtsein
Drei Faktoren scheinen hier für die Grundidee leitend zu sein, daß unser Bewußtsein von unseren Schmerzen und Wahrnehmungen ein Problem für den Materialismus bedeuten kann. 1. Der qualitative Charakter 2. Das Wissen vom qualitativen Charakter 3. Die subjektive Perspektive
2
Die Idee, die Implikationen des Materialismus über solch einen „Schöpfungsmythos" zu illustrieren, stammt ursprünglich von Kripke (vgl. Kripke 1980 S.153, siehe auch Chalmers 1996 S.87).
Phänomenales Bewußtsein
1.1
3
Der qualitative Charakter
Wenn wir etwas wahrnehmen oder eine somatische Empfindung wie Schmerz haben, dann befinden wir uns in bestimmten mentalen Zuständen von einer bestimmten Dauer, die für uns, die wir diese Zustände haben, einen eigentümlichen Charakter aufweisen. Ein Schmerz hat z.B. einen ganz anderen Charakter als eine Geschmacksempfindung, aber auch innerhalb einer Sinnesmodalität oder eines Empfindungstyps sollen sich entsprechende charakteristische Unterschiede festhalten lassen: Eine Wahrnehmung von etwas Rotem hat einen ganz anderen Charakter als eine Wahrnehmung von etwas Blauem, ein bohrender Schmerz ist anders ein brennender Schmerz oder ein Kitzel usw.3 Nach einer bekannten Formulierung von Thomas Nagel soll es für den betroffenen Organismus „irgendwie sein", sich in solchen Zuständen zu befinden, also etwas wahrzunehmen oder zu empfinden.4 Den entsprechenden Unterschieden (sowohl zwischen den einzelnen Sinneserfahrungen als auch innerhalb eines Typs von Sinneserfahrung) sollen unterschiedliche Qualitäten entsprechen, sogenannte „phänomenale Qualitäten" oder „Qualia." Daß sich ein Schmerz „irgendwie anfühlt", heißt dann nichts anderes, als daß das Wesen, welches den Schmerz hat, dabei einer oder mehrerer Qualitäten gewahr wird, z.B. der typischen Qualität eines „brennenden" im Gegensatz zu der eines „pochenden" Schmerzes. Ferner kann man nach demselben Muster auch verschiedene Typen von somatischen Empfindungen qualitativ unterscheiden, ein Schmerz ist qualitativ anders als ein Kitzel usw. Auch im Blick auf Wahrnehmungen ist von diesen Qualitäten häufig die Rede: So sollen sich einmal visuelle und akustische bewußte Erfahrungen durch unterschiedliche Qualia unterscheiden, wie auch unterschiedliche akustische bzw. visuelle Erfahrungen (also etwa eine visuelle Blauwahrnehmung im Unterschied zu einer visuellen Rotwahrnehmung usw.). Als Beispiele für solche Qualia werden meist Qualitäten angeführt, die zu den sogenannten „sekundären Qualitäten" gehören, also Farben, Töne sowie die taktil wahrnehmbaren Temperatureigenschaften, alles
3
4
Vgl. u.a. Jackson 1982 S.127, Jackson u. Braddon-Mitchell 1996 S.122, Maund 1995 S.42, Shoemaker 1994a) S.22. Vgl. Nagel 1974/79 S.166 (vgl. auch schon Sprigge 1971 und Farrell 1950). Vgl. auch die ähnliche Formulierung bei B. Williams: „[...] the general form of a question about someone's conscious state is how is it for ΑΊ" B. Williams 1978 S.295. Nagel verwendet seine Formulierung allerdings in eigentümlicher Weise: Er spricht davon, daß es für den fraglichen Organismus irgendwie sei, dieser Organismus zu sein, also nicht nur bestimmte Zustände dieses Organismus zu haben. Der Schwerpunkt der Diskussion konzentriert sich bei Nagel wie auch bei den anderen Autoren auf die Frage, wie es ist, bestimmte Zustände zu haben. Das gilt auch für die vorliegende Arbeit.
4
Einleitung
Qualitäten, von denen seit Demokrit immer wieder behauptet worden ist, daß sie keine realen Eigenschaften der Gegenstände darstellen, sondern nur in Abhängigkeit von den Betrachtern solcher Gegenstände existieren. Welche Rolle solch eine Deutung dieser Eigenschaften für den gegenwärtigen Diskussionskontext spielt, wird noch zu diskutieren sein. Zustände, welche die fraglichen Qualia aufweisen, werden „phänomenal bewußt" genannt, ein Wesen, welches sich in solchen Zuständen befindet, hat „phänomenales Bewußtsein." Die Verbindung zwischen phänomenalen Qualitäten oder Qualia, phänomenalem Bewußtsein und Sinneserfahrungen bringt folgende Passage von Michael Tye bündig zum Ausdruck: I taste a lemon, smell rotten eggs, feel a sharp pain in my elbow, see the color red. In each of these cases, I am the subject of a very different feeling or experience. For feelings and perceptual experiences, there is always something it is like to undergo them, some phenomenology that they have. As the phenomenal or felt qualities of experience change, the experiences themselves change, but if the phenomenal or „what is it like" aspects disappear altogether, then there is no experience left after all. [...] I shall say that a mental state is phenomenally conscious just in case there is some immediate subjective 'feel' to the state, some distinctive experiential quality. (Tye 1995 S.3)
Läßt sich nur im Blick auf Wahrnehmungen oder Empfindungen von phänomenalem Bewußtsein reden? Wie steht es mit den anderen Zuständen, etwa Wünschen und Meinungen, also den sogenannten propositionalen Einstellungen, oder solchen Zuständen, die man, wie vielleicht manche Gefühle, als Kombination von propositionalen Einstellungen und Empfindungen auffassen wollen wird?5 In der einschlägigen Literatur scheint dabei weniger strittig, ob man auch im Blick auf solche Zustände gelegentlich sagen kann, daß es irgendwie ist, in ihnen zu sein. Kontrovers ist allerdings, ob es für die jeweiligen propositionalen Einstellungen eigene typische qualitative Merkmale gibt, also etwa Qualia, die ausschließlich für Meinungen (oder gar ganz bestimmte Meinungen), nicht aber für Wünsche oder bestimmte Wahrnehmungen charakteristisch wären. Ein bewußter Gedanke (sei es ein Wunsch oder eine Meinung) wird oft als etwas Episodisches von uns erlebt; es stellt sich nur die Frage, ob sich der qualitative Aspekt hier nicht auf die Qualia anderer Zustände reduzieren läßt, ob es sich hier nicht z.B. einfach um eine Art „inneres
5
Wenn in dieser Arbeit von „Meinungen" die Rede ist, dann ist damit immer dasjenige gemeint, was in der angelsächsischen Fachliteratur als „belief" bezeichnet wird (Häufig findet man dafür im Deutschen auch „Überzeugung" oder „Glaube", diese beiden Ausdrücke konnotieren allerdings Aspekte, die man im Englischen eher mit „conviction" oder „faith" wiedergeben würde, deshalb hier die Rede von „Meinungen")
Phänomenales Bewußtsein
5
Sprechen" mit entsprechenden akustischen Qualia handelt. Dies würde bedeuten, daß sich ein Gedanke in den Aspekten, die ihn zu einer phänomenal bewußten Episode machen, nicht von akustischen Vorstellungen von Sätzen unterscheiden kann, die man gegebenenfalls gar nicht versteht. Was einen Gedanken zu einer gehaltvollen propositionalen Einstellung macht, könnte demnach nichts mit den Faktoren zu tun haben, die dafür verantwortlich sind, daß er phänomenal bewußt ist. Um zu klären, ob dies so ist oder nicht, müßte man letztlich über eine Theorie darüber verfügen, was einen Gedanken zu einem von uns gedachten Gedanken macht. Die Diskussion solch einer Theorie würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. Deshalb soll die Frage, ob Gedanken spezifische „Gedankenqualia" aufweisen, hier offenbleiben. Ohnehin stehen in der Literatur die Wahrnehmungen und Empfindungen im Vordergrund.6 Der Bereich des phänomenalen Bewußtseins deckt sich im Grunde mit dem, was man etwa seit Locke als „Erfahrung" bezeichnet hat. Der Terminus „Bewußtsein" wird in der Philosophie wie auch im Alltag und in der Psychologie bekanntlich ganz unterschiedlich verwendet. Es wird deshalb noch zu klären sein, in welchem Verhältnis phänomenales Bewußtsein zu diesen Bewußtseinsbegriffen steht. Für den Anfang ist es jedoch zur Vermeidung von Mißverständnissen das beste, all diese Bedeutungen erst einmal auszublenden, und den Begriff „phänomenales Bewußtsein" als Terminus technicus aufzufassen, der gegebenenfalls nichts mit den anderen Verwendungen zu tun hat. Phänomenales Bewußtsein im eben erläuterten Sinn ist vermutlich ein weit verbreitetes Phänomen: Es ist intuitiv ziemlich einleuchtend, daß zumindest Wirbeltiere Wahrnehmungserfahrungen und Empfindungen wie Schmerz haben. Offenbar scheinen hier nicht jene Faktoren im Spiel zu sein, die eine materialistische Erklärung geistiger Phänomene traditionell aussichtslos erscheinen ließen, wie etwa das Problem des freien Willens oder die außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten des Menschen wie Sprache oder abstraktes Denken. Wenn phänomenales Bewußtsein ein Problem für den Materialismus darstellt, dann wird es vermutlich nicht einmal eine vollständige materialistische Theorie über das mentale Leben einer Ratte geben. Inwiefern kann phänomenales Bewußtsein aber überhaupt zum Problem für den Materialismus 6
Für spezifische Qualia bei propositionalen Einstellungen plädieren Goldman 1993a) S.23ff. sowie G. Strawson 1994 S.5ff. Trotz weiterreichender Absicht scheinen Goldmans und Strawsons Überlegungen jedoch nur den im gegenwärtigen Kontext unkontroversen Punkt plausibilisieren zu können, daß es irgendwie ist, propositionale Einstellungen zu haben. Gegen Qualia dieser Art argumentieren u.a. Tye 1995 S.4, Jackson und Braddon-Mitchell 1996 S.122 sowie Jackson 1993.
6
Einleitung
werden? Um sich dies verständlich machen zu können, muß man sich die beiden weiteren genannten Paktoren vor Augen halten.
1.2
Das Wissen vom qualitativen Charakter
Es ist nicht nur irgendwie, in bestimmten mentalen Zuständen zu sein, wir können auch wissen, wie es ist, in diesen Zuständen zu sein. Es ist sinnvoll, diese beiden Gesichtspunkte voneinander zu trennen. In einem phänomenal bewußten Zustand zu sein ist dann lediglich eine notwendige, hingegen keine hinreichende Bedingung dafür, daß man auch weiß, wie es ist, in ihm zu sein. Dies mag ganz einfach deshalb der Fall sein, weil das fragliche Wissen Erfordernisse stellt, die durch das bloße Haben eines phänomenal bewußten Zustande noch nicht erfüllt sind: So impliziert Wissen Meinungen, und in diesem Fall Meinungen besonderer Art, nämlich solche, die bestimmte Begriffe von mentalen Zuständen erfordern. Um zu wissen, wie es ist, rot zu sehen, muß ich über Begriffe wie „sehen" oder „rot" verfügen können. Gegebenenfalls kann ich aber etwas Rotes sehen und mich insofern in einem entsprechenden phänomenalen Bewußtseinszustand befinden, ohne über diese Begriffe zu verfügen. Dennoch wird diese Unterscheidung in der Literatur häufig nicht klar gezogen.7 Die Vorstellung, daß es irgendwie ist, in mentalen Zuständen zu sein, sowie die daran anknüpfende Vorstellung, daß man davon wissen kann, ist in unserem alltäglichen Leben relativ fest verankert. Es gibt eine Reihe von Situationen, in denen diese Zustände selbst bzw. das Wissen von ihnen, für uns eine zentrale Rolle zu spielen scheinen. Folgende Überlegung mag dies verdeutlichen: Viele Erfahrungen haben für uns gerade deshalb eine herausgehobene Bedeutung, weil sie von uns als angenehm oder unangenehm erlebt werden. Erfahrung in diesem Sinn ist offenbar eine zentrale Dimension in unserem Leben, die man gewinnen oder verlieren kann und die darüber hinaus für unsere ästhetische Beurteilung der Welt von großer Bedeutung ist. Wir gehen u.a. um der spezifisch akustischen Erfahrung willen in ein Konzert und nicht bloß, um Information über den dort produzierten Schall zu erwerben; diese könnte uns ein Buch gegebenenfalls mit weniger Aufwand und vielleicht sogar präziser vermitteln. Entsprechend verliert, wer taub wird, nicht nur bestimmte diskriminative Fähigkeiten, sondern auch bestimmte Genußmöglichkeiten
7
Das gilt z.B. für Nagel. Getroffen wird sie explizit bei Tye 1995 S.115 u. S.168f. Siehe auch Lycan 1995, 1996.
Phänomenales Bewußtsein
7
(respektive unangenehme Erfahrungen). Man kann sich nach einem solchen Verlust danach sehnen, bestimmte Musikstücke wieder hören zu können oder nach Erblindung bestimmte Farben noch einmal zu sehen, etwa das Rot des Sonnenuntergangs. Leitend für die entsprechenden Wünsche ist hier für die Betroffenen offenbar das aus früherer Erfahrung gewonnene Wissen, wie es ist, zu hören oder zu sehen. Und was hier gewünscht wird, ist demnach nicht nur das Wiedererlangen einer bestimmten kognitiven Fähigkeit in dem Sinn, daß man das Vorliegen der fraglichen Farben oder Musikstücke erkennen kann, sondern, daß man sie auf ganz spezifische Weise - eben hörend oder sehend - erfährt. Im übrigen läßt sich hier der episodische Charakter unserer Erfahrungen noch einmal gut verdeutlichen: Der angenehme Charakter einer Erfahrung läßt in uns den Wunsch entstehen, sie zu prolongieren, der unangenehme, sie nach Möglichkeit zu verkürzen. Was wir in all diesen Fällen genießen oder ablehnen, ist offenbar etwas, das mit uns passiert, etwas, dem wir gewissermaßen ausgesetzt sind. Wie läßt sich dies anders erklären, als dadurch, daß die fraglichen Erfahrungen für die Betroffenen erlebte Episoden darstellen? Weil wir bestimmte Erfahrungen gemacht haben, raten wir anderen, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen, die zu diesen Erfahrungen führen. Wir raten jemandem davon ab, in ein Stück Seife zu beißen, weil wir auf Grund unserer eigenen Erfahrungen wissen, was für eine Art von Empfindung dies in uns auslöst, nämlich eine äußerst unangenehme, und wir davon ausgehen, daß dies bei anderen ebenso sein wird. Wir ermitteln durch unsere Erfahrung nicht nur eine objektive Eigenschaft von Seife, sondern auch, wie sie auf uns wirkt. Das ist der Grund, warum man z.B. einem kleinen Kind abraten wird, sie zu probieren. Wir warnen vor dem Geschmack der Seife für Lebewesen, von denen wir unterstellen, daß ihnen Seife so schmeckt wie uns. Ganz anders gelagert ist der Fall, wenn man vor dem Konsum eines Produktes warnt, weil es etwa giftig ist. Hier bezieht man sich nur auf eine Eigenschaft des Produktes (die ebenfalls in einer bestimmten Wirkung auf uns besteht) aber nicht darauf, wie es erfahren wird. Wissen, wie es ist, bestimmte Erfahrungen zu haben, spielt insofern eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Einschätzung unserer Mitmenschen. Unser Interesse an diesem Wissen manifestiert sich auch in der Tatsache, daß wir häufig bestimmte Erfahrungssituationen gerade deshalb aufsuchen, um herauszubekommen, wie es ist, diese Erfahrungen zu haben. Dabei schrecken viele Menschen bekanntlich vor nichts zurück: Sie setzen sich gefährlichen Situationen aus, nehmen halluzinogene Drogen ein u.dgl. mehr. In all diesen
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Einleitung
Fällen ist das Interesse weder durch bloße Beschreibungen der Erfahrung noch der Situation zu befriedigen. Vielmehr kommt es darauf an, die Situation selber erlebt zu haben. Dies führt uns zum dritten Gesichtspunkt, dem entscheidenden Glied in der Kette für die Behauptung, Bewußtsein sei ein Problem für den Materialismus.
1.3
Die subjektive Perspektive
Nur wer selber in den fraglichen Zuständen gewesen ist, kann wissen, wie es ist, in ihnen zu sein. So haben blind Geborene kein visuelles phänomenales Bewußtsein und damit fehlt ihnen auch die Grundlage, um von diesem Faktum Kenntnis nehmen zu können. Sie können nicht wissen, wie es ist, Rot zu sehen. Und wenn es Wesen gibt, die mehr Farben sehen können als Menschen, so wissen wir Menschen nicht, wie es ist, solche Farben zu sehen.8 Ein häufig diskutiertes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Fledermaus, die sich mit Hilfe von Echolot orientiert. Insofern soll es für die Fledermaus irgendwie sein, diese Echolotwahrnehmungen zu haben, und wir als Wesen, denen diese Fähigkeit fehlt, können nicht wissen, wie es ist, entsprechende Wahrnehmungen zu haben.9 Es gibt verschiedene Formen, die Welt zu erfahren, und jede dieser Erfahrungen beinhaltet einen eigentümlichen Charakter, den man nur kennen kann, wenn man diese Erfahrungen selbst gemacht hat. Diese Vorstellung scheint ebenfalls in einer Reihe ganz alltäglicher Intuitionen gut verankert zu sein: Vielen erscheint es eine sinnvolle Frage zu sein, ob andere Menschen oder Lebewesen ihre Umwelt in derselben Weise wahrnehmen und ähnlich empfinden wie sie selbst. Jeder Mensch hat sich z.B. vermutlich schon einmal gefragt, wie es wäre, den Körper des anderen Geschlechts mit den entsprechenden Empfindungen zu haben. Oder manchmal hört man die Vermutung,
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Ein entsprechendes Gedankenexperiment gibt Jackson am Beispiel eines Menschen in 1982/90. Vgl. auch Hardin 21993 S.xxxif. u. S.146. Hardin weist auf - allerdings bislang sehr spekulative - Indizien hin, daß manche Frauen gegebenenfalls mehr Farben sehen können als der Rest der Menschheit. Viele Tiere reagieren auf Licht anderer Wellenlängen als der Mensch. Zum Teil reagieren sie feiner auf denselben Abschnitt des Spektrums, auf den wir reagieren, z.T. auf andere Abschnitte des Spektrums wie etwa ultraviolette Strahlung. Zur Frage, ob sie wirklich andere Farben sehen, und nicht nur eine differenziertere Klassifikationsfähigkeit gegenüber Wellenlängen aufweisen als wir, vgl. Hardin 21993 S.148ff., Thompson, Palacios, Varela 1992 §§ 2.2 u.2.3 sowie Thompson 1995 Kapitel 4 und S.265ff. Vgl. Nagel 1974/79 S.168f. Es gibt natürlich noch zahllose andere Beispiele aus dem Tierreich, z.B. Vögel und Fische, die elektromagnetische Felder oder das Magnetfeld der Erde wahrnehmen. Für eine positive Stellungnahme aus biologischer Sicht, daß Tiere überhaupt ein bewußtes Erleben haben und nicht bloß auf ihre Umwelt reagieren vgl. Griffin 1984.
Phänomenales Bewußtsein
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blind Geborene hätten nicht nur eine unterschiedliche Konzeption von der Wirklichkeit als Sehende, sondern ihre verbleibenden Sinneseindrücke seien irgendwie intensiver oder reichhaltiger als die sehender Menschen, die darüber nur spekulieren können, wobei dies nicht nur einfach heißen soll, daß sie über schärfere klassifikatorische Fähigkeiten verfügen. Es scheint eine ganz natürliche Vorstellung zu sein, daß Wesen mit unterschiedlicher sinnlicher Ausstattung die Welt ganz unterschiedlich erfahren können. Häufig ist in diesem Zusammenhang in der Literatur auch von einer subjektiven Perspektive, einem spezifischen Blickpunkt, gesprochen worden, der mit diesen unterschiedlichen Typen von Erfahrungen einhergeht.10 Konstituiert wird diese Perspektive letztlich dadurch, daß man diesen Typ von Erfahrungen haben kann. Wir können die Perspektive der Fledermaus nicht einnehmen, weil wir diesen Typ von Erfahrung nicht haben, und dies ist der Grund, warum wir letztlich nicht wissen können, wie es ist, solche Erfahrungen zu haben. Insofern führt die subjektive Perspektive zu einer eigentümlichen epistemischen Situation: Wissen über einen bestimmten Typ von Erfahrungen hängt davon ab, ob man diese Erfahrungen selber haben kann. Um wissen zu können, wie es ist, Erfahrungen einer bestimmten Art zu haben, muß man in der Lage sein, solch eine Perspektive einnehmen zu können. Es gibt dann gegebenenfalls einen Korpus von Fakten, der einem nur aus einer bestimmten epistemischen Perspektive, nämlich der subjektiven Perspektive, zugänglich ist. Mit der These, daß mit unseren Erfahrungen eine subjektive Perspektive einhergeht, soll kein Skeptizismus in bezug auf das Fremdpsychische (zumindest in bezug auf den qualitativen Aspekt unserer Erfahrungen) zementiert werden. Wer eine bestimmte subjektive Perspektive einnehmen kann, erfährt dabei etwas über einen bestimmten Typ von Erfahrung, eine blind geborene Person, die sehend wird, erfährt etwas darüber, wie es für die Sehenden ist, visuelle Erfahrungen zu haben." Die Vorstellung, daß man die subjektive Perspektive in diesem Sinne teilen kann, daß sie in diesem Sinne nicht „privat" ist, scheint in unserem alltäglichen Denken und Handeln ebenfalls fest verankert: Wir schließen aus der Kenntnis unserer eigenen Erfahrungen (ob berechtigt oder nicht) unmittelbar darauf, wie andere auf Situationen, die zu ähnlichen Erfahrungen führen, reagieren werden, ganz einfach weil wir unterstellen, daß sie diese ähnlich erfahren. Die Tatsache, daß bestimmte Erfahrungen für die Betroffenen einen angenehmen oder unangenehmen Charakter 10
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Dieser Ausdruck geht auch auf Nagel zurück, vgl. Nagel 1974/79 S.167, vgl. auch Williams 1978 S.295. Vgl. Nagel 1974/79 S.169 Fn.5 sowie Jackson 1986 S.292.
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Einleitung
haben, spielt in unseren Verhaltenserklärungen und Erwartungen eine zentrale Rolle. Der Grund dafür ist schlicht, daß man häufig bestimmte Dinge tut oder läßt, weil sie mit bestimmten Erfahrungen verknüpft sind. Zumindest glauben wir häufig genug, daß es sich so verhält. Die Tatsache, daß man selber bestimmte Erfahrungen gemacht hat, wirkt sich dabei im übrigen positiv auf die Fähigkeit aus, das Verhalten anderer zu erklären und zu verstehen: Wer aus eigener Erfahrung die typischen Entzugserscheinungen kennt, die sich einstellen können, wenn man mit dem Rauchen aufhören will, wird die Schwierigkeiten, die das Aufhören anderen bereitet, gegebenenfalls besser verstehen als ein Nichtraucher. Er wird dadurch auch besser ermessen können, was die betroffene Person in bestimmten Situationen tun wird. Fehlen uns entsprechende Erfahrungen und damit auch die Kenntnis, wie sie sind, so sind wir oft bereit einzuräumen, daß unser fehlendes Verständnis für das fragliche Verhalten aus einem Mangel an eigener Erfahrung herrührt. Ob berechtigt oder nicht, wir setzen also unser Wissen, wie es ist, häufig ein, um das Verhalten anderer vorauszusagen oder zu erklären: Wir können ziemlich gut vorhersagen, was jemand tun wird, der versehentlich einen Löffel Salz in den Mund nimmt, und wir wissen dies auf Grund unserer eigenen Erfahrung (wobei hier glücklicherweise weniger als ein ganzer Löffel ausreichen wird). Differenzen zu uns im Verhalten anderer erklären wir uns oft mit entsprechenden Differenzen im Erleben: Wenn jemand bereit ist, Unsummen für eine bestimmte Speise hinzublättern, die uns nur fade erscheint, ist eine (freilich nicht die einzige) mögliche Erklärung, daß sie ihm anders schmecken muß als uns. Inwiefern ergibt sich nun aber ein Problem für den Materialismus? Den zentralen Gesichtspunkt bildet nach verbreiteter Auffassung die Vorstellung von einem Korpus von Fakten, der einem nur aus der subjektiven Perspektive zugänglich sein soll. Die Bedenken im einzelnen können dabei allerdings recht unterschiedliche Formen annehmen. Die wichtigsten Überlegungen sollen im Folgenden mehr oder weniger kommentarlos präsentiert werden.
2.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
Eine materialistische Position kann sich nicht einfach mit der Behauptung bescheiden, daß Bewußtseinszustände oder mentale Zustände im allgemeinen physische Zustände sind.12 Solange der Materialismus nur ein ontologisches 12
Wenn hier von „physischen" Zuständen oder Eigenschaften die Rede ist, dann sind damit, wie
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
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Statement darstellt („Alles was es gibt, ist physischer Natur"), kann man damit eigentlich noch nicht viel anfangen. Eine interessante Position wird daraus erst, wenn präzisiert wird, um was für eine Sorte von physischen Zuständen es sich dabei handeln soll.13 Die Antworten, die in diesem Zusammenhang gegeben werden, fallen z.T. recht unterschiedlich aus. Die These, daß der Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein nicht zu Rande kommt, muß natürlich jeweils mit Blick auf diese konkreten Antworten formuliert sein. Daher setzt ein Verständnis der Schwierigkeiten, die das phänomenale Bewußtsein bereiten soll, zumindest ein minimales Bild der begrifflichen Ressourcen des Materialismus voraus.
2.1
Zu den Grundzügen des modernen Materialismus
Für den modernen Materialismus sind v.a. zwei Faktoren von Belang: Einmal die Tatsache, daß es mit dem Gehirn ein Organ gibt, das die Basis für unsere mentalen Zustände darstellt. Was wir denken, fühlen usw., bzw. daß wir dies überhaupt können, scheint letztlich von bestimmten Prozessen in diesem Organ abzuhängen. Ein vollständiges Verständnis der Funktionsweise des Gehirns bietet daher die Aussicht auf ein vollständiges Verständnis unseres geistigen Lebens aus der Perspektive der Naturwissenschaften. Und gegebenenfalls berechtigt uns dies zu einem weiteren Schritt, den erfolgreiche wissenschaftliche Erklärungen häufig nach sich ziehen, nämlich die Reduktion unseres geistigen Lebens auf Prozesse im Gehirn. Dies kann wiederum so gedeutet werden, daß geistige Vorgänge oder Zustände wie Denken und Fühlen letztlich nichts anderes sind als Vorgänge in unserem Gehirn. Sollte sich dies bestätigen, so hätten wir eine einfache Bestätigung für den Materialismus gefunden. Wenn Geist und Gehirn identisch sind, dann ist klar, daß eine Welt, die eine bestimmte Sorte von materiellen Gegenständen enthält, nämlich funktionsfähige Gehirne, auch geistiges Leben aufweist. Im Jargon des Kripkeschen Schöpfungsmythos: Gott braucht dann zur Schaffung des geistigen Lebens einfach nur funktionsfähige Gehirne zu erschaffen. Der andere zentrale Faktor für den modernen Materialismus besteht in der Betonung der Verbindung unseres geistigen Lebens mit unserem Verhalten.
13
allgemein üblich, nicht nur physikalische Zustände im engeren Sinne gemeint, sondern ganz allgemein naturwissenschafdiche und kognitionswissenschafdiche Größen, also auch biologische oder computationale Zustände usw. Oder auch nur, um was für eine Art von Zuständen es sich handelt, die in weiteren Schritten problemlos als physisch verstanden werden können.
12
Einleitung
2.1.1
Logischer Behaviorismus
Für den Materialismus der analytischen Philosophie hat der zweite Faktor historisch zunächst die größere Rolle gespielt. Ausgangspunkt war dabei die These, daß die Vorstellung von inneren mentalen Zuständen völlig preisgegeben werden kann und sich unser geistiges Leben schlicht darin erschöpft, daß wir bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen bzw. die Disposition haben, diese an den Tag zu legen. Diese Auffassung ist zunächst als These über die Bedeutung mentaler Ausdrücke vertreten und entsprechend als „logischer Behaviorismus" bezeichnet worden.14 Demnach bedeutet eine Feststellung wie „X hat Zahnschmerzen" oder „X glaubt, daß es regnen wird" nichts anderes, als daß sich X in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Weise verhält oder verhalten wird. X wird z.B. schreien, das Gesicht verziehen, den Zahnarzt aufsuchen, ihm von seinen Schmerzen mitteilen oder im anderen Fall seinen Regenschirm mitnehmen u.dgl.m. Sofern man unter den fraglichen Verhaltensweisen nichts anderes versteht als Bewegungen und Geräusche, ist klar, inwieweit uns dies unmittelbar zum Materialismus führt. Zur Schaffung des geistigen Lebens braucht Gott bloß Wesen zu schaffen, die unter den richtigen Bedingungen entsprechende Geräusche und Bewegungen ausführen.15 Für einen konsequenten logischen Behavioristen wird die Art, wie man feststellt, ob jemand in einem bestimmten mentalen Zustand ist oder nicht, für Außenstehende wie Betroffene im Prinzip dieselbe sein, nämlich schlicht eine Beobachtung des fraglichen Verhaltens. Damit ist diese Position ganz klar mit der These unvereinbar, daß unser bewußtes Erleben für die Betroffenen mit einer eigentümlichen subjektiven Perspektive verbunden ist. Schon allein auf Grund dieser radikalen Konsequenz erschien diese Position vielen kaum glaubwürdig. Diese und andere gravierende Schwierigkeiten haben dazu geführt, daß der logische Behaviorismus heute faktisch bedeutungslos ist.
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15
Der logische Behaviorismus kennt zwei Ausprägungen: die des Wiener Kreises (vgl. Camap 1932-3 sowie Hempel 1935/80) sowie die der „Ordinary-Language"-Philosophie (vgl. dazu v.a. Ryle 1949 sowie, mit Abstrichen, den späten Wittgenstein). Er ist zu unterscheiden vom Behaviorismus in der Psychologie, der v.a. eine Forschungsstrategie darstellt, aber weder eine semantische These beinhaltet noch die Existenz innerer Zustände prinzipiell in Abrede stellen mufl. Orientiert man sich hingegen an Handlungen (z.B. sprachlichen Äußerungen), ergibt sich der Zusammenhang zum Materialismus insofern, als sich jede einzelne Handlung aus bestimmten Geräuschen und Bewegungen konstituiert durch deren Schaffung Gott diese Handlung und damit den entsprechenden mentalen Sachverhalt in die Welt setzen kann. Der Unterschied zwischen der Orientierung an physischen Bewegungen und Geräuschen einerseits und Handlungen andererseits ist einer der charakteristischen Unterschiede zwischen dem logischen Behaviorismus des Wiener Kreises und der „Ordinary-Language"-Philosophie.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein 2.1.2
13
Funktionalismus
An die Stelle des logischen Behaviorismus sind Positionen getreten, für die das Verhalten zwar eine zentrale Bezugsgröße bleibt, die jedoch nicht die Vorstellung von mentalen Zuständen als inneren Zuständen preisgeben wollen. Die Verknüpfung dieser beiden Gesichtspunkte sieht dabei ganz grob folgendermaßen aus: Mentale Zustände werden als diejenigen Zustände bestimmt, die sich durch ihre kausale Rolle eineindeutig bestimmen lassen, derart, daß sie jeweils von bestimmten Stimuli hervorgerufen werden, und zusammen mit anderen mentalen Zuständen zu bestimmten Verhaltensreaktionen führen. Diese Konzeption wird allgemein als „Funktionalismus" bezeichnet. Ein Schmerz ist demnach z.B. ein innerer Zustand, der als Folge von Verletzungen, gegebenenfalls zusammen mit anderen Zuständen, etwa dem Wunsch nach Erleichterung, zum Wegziehen des betroffenen Körperteils usw. führt. (Und wenn hier von einem „inneren" Zustand die Rede ist, dann heißt dies schlicht: „innerhalb des betreffenden Körpers".) Die entsprechende Rollenzuschreibung kann dabei als Analyse unseres alltäglichen Begriffs von Schmerzen verstanden werden, die mehr oder weniger triviale wie unstrittige Beziehungen zwischen Schmerzen und Verhalten zum Ausdruck bringt. Diese Position wurde als „analytischer" oder „semantischer Funktionalismus" bezeichnet. 16 Der analytische Funktionalismus teilt mit dem logischen Behaviorismus die Auffassung, daß wir uns in erster Linie an eine semantische Analyse unserer mentalen Begriffe halten sollten, zum anderen weiß er sich mit ihm einig, daß Verhalten in dieser Analyse eine zentrale Rolle spielt. Eine zentrale Divergenz ergibt sich natürlich dadurch, daß er mentale Zustände als Ursachen unseres Verhaltens ansieht und nicht bloß als dessen Manifestationen. Der Funktionalismus kann die Ermittlung der fraglichen Rollen aber z.T. auch als Gegenstand empirischer Forschung ansehen. Diese wird dann mehr erfordern, als einen Rekurs auf unsere alltäglichen Intuitionen, etwa weil man eine ausgefeilte psychologische Theorie der Informationsverarbeitung benötigt, die z.B. auch darauf Rücksicht nimmt, wie unser Gehirn aufgebaut ist (diese Position ist unter den Namen „Psychofunktionalismus" oder „empirischer Funktionalismus" geläufig).17 Der Psychofunktionalismus ist in erster Linie 16
17
Die wichtigsten Vertreter dieser Auffassung sind Armstrong 1981/90, 21993 sowie D. Lewis 1966 u. 1972. Vertreter dieser Position sind u.a. Putnam 1967/90, Harman 1973 insbes. Kap. 3 u.4, und Fodor 1968 S.107ff. Für die Terminologie vgl. Block 1978/80 sowie Bieri 1981. Der Name „Psychofunktionalismus" ist so zu verstehen, daß es Aufgabe der Psychologie ist, die fraglichen Rollen zu ermitteln.
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Einleitung
mit Blick auf die strukturellen Eigenschaften unserer Gedanken entwickelt worden, die diese besitzen müssen, um z.B. in Schlußfolgerungen eingehen zu können.18 Psychofunktionale Konzeptionen des Geistes können in der Regel als kongenial mit kognitionswissenschaftlichen Theorien in der Psychologie angesehen werden. So kann man die sogenannte computationale Theorie der Wahrnehmung von Marr als ein Beispiel einer psychofunktionalen Analyse der visuellen Wahrnehmung begreifen. Diese Theorie versucht zu klären, wie wir in der Lage sind, auf Grund von Informationen über Lichtreize auf der Retina zur dreidimensionalen Wahrnehmung distaler Objekte zu gelangen.19 Es dürfte klar sein, daß sich solch eine Frage nicht durch eine Explikation unserer alltäglichen Intuitionen über die kausale Rolle der visuellen Wahrnehmung beantworten läßt. Die Entgegensetzung von analytischen und empirischem Funktionalismus darf hier allerdings nicht so verstanden werden, daß letzterer die Aussagen des ersten einfach ignoriert und es als vollständig offene Frage ansieht, welche kausale Rolle ein bestimmter Zustand hat. Kein Psychofunktionalist würde z.B. bestreiten, daß Wahrnehmung ein Zustand ist, der zu einem bestimmten klassifikatorischen Verhalten befähigt, oder daß Schmerzen zu Schreien und schmerzvermeidendem Verhalten fuhren. Er würde diese Bestimmungen nur in mehrfacher Hinsicht ergänzen wollen, z.B. durch Feststellungen der Art, wie dies für Zustände eines Systems einer bestimmten Art (z.B. ein System mit einer Retina) de facto möglich ist oder welche gewissermaßen „feinteiligeren" kausalen Rollen ein Zustand einnehmen muß, damit er eine relativ „grob" bestimmte Rolle („Ursache von klassifikatorischem Verhalten der und der Art") einnehmen kann. Der Funktionalismus läßt sich als Sprungbrett für die These benutzen, daß mentale Zustände letztlich nichts anderes als bestimmte Gehirnzustände sind. Schmerz ist dann identisch mit demjenigen Gehirnzustand, der de facto die kausale Rolle von Schmerz einnimmt.20 Damit wäre eine Brücke geschlagen worden zwischen den beiden Faktoren, die für den modernen Materialismus zentral sind. 2.1.3 Identität, Realisierung, Supervenienz Die Rede von Identität ist in diesem Zusammenhang allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens: Da sich schon Gehirne gleichartiger Lebewe18
19 20
Dies ist die sogenannte „Language-of-Thought-Hypothese". Vgl. dazu Harman a.a.O., Fodor 1975. Vgl. Marr 1982. Das ist im wesentlichen das Programm von Smart und Armstrong. Vgl. Smart 1959 sowie Armstrong 21993.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
15
sen (ganz zu schweigen von so unterschiedlichen Lebewesen wie Mensch und Tintenfisch) massiv unterscheiden können, besteht wenig Aussicht, für solch eine kausale Rolle einen einheitlichen Typ von Gehirnzustand zu ermitteln.21 Man wird sich vielmehr damit zufrieden geben müssen, für jeden einzelnen Schmerz einen spezifischen Zustand im Gehirn, ein einzelnes Vorkommnis (ein „token"), angeben zu können, welches die fragliche Rolle spielt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man hier noch von Identität sprechen soll. Wenn man eine Identitätsbehauptung aufstellt, etwa x=y, dann beinhaltet dies nach dem sogenannten Leibnizschen Gesetz, daß χ alle Eigenschaften von y hat und umgekehrt. Wenn aber Zustände mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften mit einem mentalen Zustand identisch sein können sollen, tritt hier offenkundig ein Problem auf: Wenn ein Schmerz sowohl in einem menschlichen Gehirn wie in einer Apparatur aus Halbleitertechnik auftreten kann, dann haben die fraglichen Zustände auf Grund der unterschiedlichen Materialien eben ganz unterschiedliche materielle Eigenschaften und gegebenenfalls sogar andere psychofunktionale Eigenschaften.22 Häufig wird deshalb im Blick auf das Verhältnis zwischen dem Mentalen und dem Physischen nicht von Identität sondern von „Realisierung" gesprochen. Was ist damit gemeint? Betrachten wir dazu zunächst eine ähnliche Beziehung, von der man in Bezug auf konkrete Einzeldinge sprechen kann, die Konstitutionsbeziehung.23 Ein Gegenstand besteht aus der Summe seiner aktuellen Teile oder wird aus ihr konstituiert. Der Mont Blanc besteht z.B. letztlich aus bestimmten Gesteinsmassen. Man ist leicht geneigt, sich diese Beziehung als Identität zu denken. Doch das wäre nicht richtig: Wenn etwa ein Geologe mit seinem Hammer ein paar Gesteinsbrocken vom Mont Blanc losgeklopft und seiner privaten Sammlung einverleibt hätte, dann hätte dadurch der Mont Blanc nicht aufgehört zu existieren, wohl aber wäre die Summe seiner Bestandteile eine andere (nämlich eine kleinere) gewesen als jetzt. Mit anderen Worten ausgedrückt: Der Mont Blanc kann nicht identisch sein mit
21
22
23
Zur Verschiedenheit von menschlichen Gehirnen vgl. Flanagan 1992 S.57f. Eine Zeitlang dominierte in der Gehirnforschung die sogenannte „Antilokalisationsauffassung", wonach man verschiedenen kognitiven Fähigkeiten gar keine festen Orte im Gehirn zuweisen sollte. Kritiker der Typenidentitätstheorie haben sich deshalb immer wieder auf den Hauptvertreter dieser Auffassung, Karl Lashley, berufen (vgl. Block und Fodor 1972 S.160, Fodor 1975 S.17). Inzwischen gelten die Auffassungen von Lashley allerdings als übertrieben (vgl. dazu Kandel u. Schwartz 21985 S.9f„ S.673). So scheint die Art der Informationsverarbeitung, die ein menschliches Gehirn zur Lösung eines Schachproblems nützt, ganz anders zu sein, als diejenige die ein Schachcomputer nutzt, auch wenn das Resultat dasselbe sein mag. Die Darstellung folgt hier Tye 1995 S.40f.
16
Einleitung
der Summe seiner aktuellen Bestandteile, weil es mögliche Welten gibt, in denen dieser Berg existiert, nicht aber die fragliche Summe von Bestandteilen. Wir können eine Beziehung dieser Art nicht nur für Einzeldinge wie Berge, Gletscher, Wolken usw. angeben, sondern auch für Eigenschaften wie das biologische Altern, die Eigenschaft, ein Erdbeben zu sein, ein Neuron zu sein usw. Wenn ein Lebewesen altert, so schließt dies Veränderungen seiner biochemischen Eigenschaften ein. Aber wir können keinen Typus von biochemischen Eigenschaften angeben, die jedem Alterungsprozeß, sei es in einer Pflanze, einem Tier oder einem Menschen zugrunde liegen. So wie der Mont Blanc aus unterschiedlichen Summen von Bestandteilen bestehen kann, so kann die Eigenschaft des biologischen Alterns in ganz unterschiedlichen biochemischen Wandlungsprozessen realisiert sein. Aber die Rede von Identität im Zusammenhang von Geist und Materie sollte noch in einer zweiten Hinsicht problematisch sein. Denken wir wieder an das Leibnizsche Gesetz, wonach χ und y als identische Größen alle Eigenschaften teilen sollen. Identitätsaussagen bringen damit eine gewisse Symmetrie zum Ausdruck. Für unsere konkrete Problematik heißt das aber: Wenn mentale Zustände mit Gehimzuständen identisch sind, dann haben Gehirnzustände gegebenenfalls einen phänomenalen Charakter, besitzen Intentionalität, können wahr oder falsch sein, kurz, sie werden alle Eigenschaften besitzen, die man mentalen Zuständen in der Regel zuschreiben wollen wird. Klingt dies für sich genommen schon merkwürdig genug, so bringt es mit Sicherheit nicht eine der zentralen Intuitionen zum Ausdruck, die hinter dem Materialismus steckt. Nach dieser Intuition handelt es sich bei der Beziehung zwischen dem Mentalen und dem Physischen um eine asymmetrische Beziehung: Das Physische ist in wesentlicher Hinsicht fundamentaler als das Mentale. Das Mentale hängt demnach vom Physischen ab. Die Anordnung der grundlegenden physischen Größen und die Gesetzmäßigkeiten, denen sie gehorchen, legen demnach letztlich fest, wer wann welchen mentalen Zustand hat. Wenn wir nur gut genug Bescheid wüßten, dann sollten wir in der Lage sein, das Mentale mit Hilfe der grundlegenden physischen Größen und Gesetzmäßigkeiten zu erklären, aber nicht zwangsläufig umgekehrt. Auch hier zeigt sich wieder, daß es besser ist, von Realisierung statt von Identität zu sprechen: Wir können zwar für das biologische Altern keinen Typ von biochemischen Prozessen angeben, mit dem es identisch ist, aber der konkrete Alterungsprozeß bestimmter Tiere usw. beruht auf konkreten biochemischen Abläufen. Wären diese Abläufe vollkommen anders, so würde das betroffene Wesen ceteris paribus nicht altern. Und wenn wir uns dafür interessieren, warum ein Lebewesen altert, dann wird die
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
17
Untersuchung dieser Prozesse die Antwort liefern. Von diesen Prozessen hängt ab, ob ein bestimmter Typ von Lebewesen in bestimmter Weise altert oder nicht. Insofern ist die Realisierungsbeziehung in der Lage, die Intuition zum Ausdruck zu bringen, daß einige Prozesse fundamentaler als andere sind. Das Beispiel des Alterns macht uns auch klar, daß es sich hier nicht bloß um eine Beziehung handelt, auf die zurückgegriffen wird, um das Verhältnis von Mentalem und Physischem in den Griff zu bekommen, sondern vielmehr um eine Beziehung, die in der Natur mehr oder weniger allgegenwärtig ist, und die offensichtlich ausreicht, ein materialistisches Verständnis der Größen zu ermöglichen, die in anderen Größen realisiert sind. Um das Mentale als einen integralen Bestandteil der physischen Welt zu verstehen, reicht es dann aus, daß es in entsprechender Weise physisch realisiert ist. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Supervenienz, der genau diese Abhängigkeit zum Ausdruck bringen oder wenigstens ermöglichen soll.24 Supervenienz drückt eine Beziehung zwischen Eigenschaften aus und besagt für unseren Kontext ganz grob folgendes: Zwei Dinge können sich nicht in allen physischen Hinsichten gleichen, ohne sich zugleich auch in allen mentalen Hinsichten zu gleichen, und ein Gegenstand kann sich nicht in mentaler Hinsicht ändern, ohne sich auch gleichzeitig in physischer Hinsicht zu ändern. So formuliert kann diese Beziehung allerdings unterschiedlich streng aufgefaßt werden: Als ein bloßes Abhängigkeitsverhältnis von zwei Größen, die ontologisch verschiedenen Bereichen angehören, oder aber auch als ein derart enges Verhältnis, welches eine Reduktion der supervenierenden Größe auf die Supervenienzbasis erlaubt. Auch wenn eine der zentralen Intuitionen hinter dem Materialismus die Behauptung eines Abhängigkeitsverhältnisses ist, so ist das bloße Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zu schwach, um eine monistische Ontologie zu garantieren. Deshalb muß die Supervenienzbeziehung hinreichend stark formuliert werden, um ein materialistisches Verständnis von der Beziehung zwischen mentaler und physischer Wirklichkeit zum Ausdruck bringen zu können. Ob man seine Hoffnungen auf einen Typus von Gehirnzuständen setzt oder nur von entsprechenden Einzelvorkommnissen ausgeht, in beiden Fällen hängt die Plausibilität der Identifizierung bzw. die Behauptung einer Realisierungsbeziehimg davon ab, daß sich erst eine kausale Rolle angeben läßt, die im 24
Der ursprünglich in einem moralphilosophischen Kontext beheimatete Begriff wurde von Davidson in die gegenwärtige Philosophie des Geistes eingeführt (vgl. Davidson 1970/80). Präzisiert und genauer untersucht wurde er v.a. von Kim (vgl. Kim 1984, 1990). Wie Kim argumentiert hat, impliziert Supervenienz keine Asymmetrie (vgl. Kim 1990 S.14f., 1997 S.273), aber sie schließt sie, anders als Identität, wenigstens nicht aus.
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Einleitung
wesentlichen von einem Stimulus zu einer Verhaltensreaktion führt und mittels derer sich der mentale Zustand adäquat charakterisieren läßt, um dann im zweiten Schritt Gehirnzustände angeben zu können, die diese Rolle ausfüllen. Was aber, wenn man zu dem Ergebnis gelangt, daß sich keine solche kausale Rolle angeben läßt, mit der sich alle Aspekte eines mentalen Zustandes erschöpfend charakterisieren lassen? Wie wir gleich sehen werden, stellt sich diese Frage insbesondere mit Blick auf das subjektive Erleben, auf Zustände, die einen qualitativen Charakter aufweisen. Damit wären die funktionalistischen Strategien als umfassende Theorien des Geistes gescheitert. Dem Materialismus stehen hier allerdings u.a. die folgenden beiden Möglichkeiten offen.
2.1.4
Alternativen zum Funktionalismus
Er kann einmal versuchen geltend zu machen, daß die fraglichen Aspekte, die sich einer funktionalistischen Analyse entziehen, unter Rekurs auf die spezifischen Materialeigenschaften des Gehirns zu erklären sind. Das bewußte Erleben würde dann direkt, ohne Umweg über eine funktionale Analyse, in der erforderlichen Weise auf Zuständen im Gehirn supervenieren.25 Demnach wäre für das bewußte Erleben weniger die funktionale Organisation von Bedeutung, die unser psychologisch interessantes Verhalten regelt, sondern vielmehr das spezifische materielle Substrat, aus dem unser Gehirn besteht. Ein Computer mit derselben funktionalen Organisation oder ein Marsmensch hätten dann vielleicht einige der geistigen Fähigkeiten, die sich funktional adäquat charakterisieren lassen, aber kein phänomenales Bewußtsein - ganz einfach deshalb, weil sie nicht die richtige „Wetware" besitzen. In den letzten Jahren hat aber v.a. eine ganz andere Vorstellung von sich reden gemacht: Es kommt nicht (oder zumindest nicht allein) darauf an, welche funktionale Rolle die Zustände bei der Erzeugung unseres Verhaltens einnehmen. Was zählt, ist vielmehr auch, in welchen kausalen Beziehungen diese Zustände zur Umwelt des betroffenen Lebewesens stehen und unter welchen evolutionären Bedingungen ein Lebewesen solche Zustände ausgebildet hat oder was für eine teleologische Funktion diese Zustände für das Überleben dieser Wesen eingenommen haben. Insofern mögen zwei Lebewesen für einen Beobachter hinsichtlich ihrer Verhaltensweisen und der sie hervorrufenden
25
Für solch eine Auffassung vgl. Block 1978/80 S.291 Fn.22, Block 1980 S.262, Block 1995a) S.242 sowie Paul Churchland 1981/89b S.23-34. Auch Searles Standpunkt in 1992 läßt sich so verstehen.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
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internen Zustände des Organismus ununterscheidbar sein, ohne daß ihre mentalen Zustände damit schon dieselben sein müßten. Erst wenn klar ist, daß die Zustände dieselbe teleologische Funktion besitzen oder in denselben kausalen Beziehungen zur Umwelt stehen, handelt es sich um dieselben mentalen Zustände.26 Nach solchen Theorien, die unter dem Namen „Repräsentationalismus" gehandelt werden, hilft einem ein Blick ins Gehirn allein zum Verständnis mentaler Zustände genauso wenig wie einem die bloße Inspektion eines Photoapparates dienlich sein wird, das Wesen der Photographie zu verstehen. Man kann sich mit den einzelnen Bestandteilen eines Photoapparates so penibel beschäftigen wie man will, daraus allein wird man nie entnehmen können, daß es sich um einen repräsentationalen Mechanismus handelt, mit dessen Hilfe sich Bilder von der Umgebung anfertigen lassen. Mentale Zustände sind demnach im wesentlichen Zustände, die die Umwelt repräsentieren, und um ihre Natur zu verstehen, muß man ihre Beziehungen zur Umwelt untersuchen. Das begriffliche Inventar des Materialismus zur Analyse mentaler Zustände speist sich also offenbar aus drei Quellen: 1.) Mentale Zustände sind über die kausale Rolle zu individuieren, die sie bei der Hervorbringung unseres Verhaltens spielen. 2.) Gegebenenfalls lassen sich einige Aspekte unseres mentalen Lebens nur durch einen „direkten" Blick ins Gehirn klären, d.h. ohne Umweg über die kausalen Rollen der Funktionalisten. 3.) Es kommt auf ein Verständnis der repräsentationalen Funktion mentaler Zustände an, was einen Blick in die Umgebung des fraglichen Organismus erfordert. Solange man über mentale Zustände im allgemeinen redet, bietet es sich natürlich an, die drei Strategien miteinander zu kombinieren. Und für so manche der gegenwärtigen Theorien dürfte gelten, daß sie alle drei Strategien in irgendeiner Form auch berücksichtigt. Was einzelne Aspekte wie etwa das bewußte Erleben betrifft, so dominiert jedoch die Tendenz, einer Strategie den Vorzug zu geben. Wer den Funktionalismus für unfähig hält, das bewußte Erleben angemessen zu berücksichtigen, wird den entscheidenden Faktor im spezifischen Aufbau des Gehirns oder der Umgebung des Organismus suchen wollen (bzw. umgekehrt). Doch auch hier sind Mischungen denkbar: So hat Shoemaker etwa die Auffassung vertreten, daß der Funktionalismus zwar erklären kann, was es heißt, daß jemand überhaupt ein phänomenales Erleben besitzt, nicht hingegen, welcher Art dieses Erleben ist, ob seine Wahrnehmungen z.B. den typischen Charakter haben, den der Anblick von etwas Rotem
26
Für solch eine Auffassung im Blick auf das Bewußtseinsproblem stehen v.a. Tye 1995 sowie Dretske 1995.
20
Einleitung
(im Gegensatz zu etwas Grünem) auslöst.27 Und Repräsentationalisten wie Tye und Dretske haben ihren Blick keineswegs nur auf die Umgebung des Organismus beschränkt, sondern geben auch der Art der internen Informationsverarbeitung ein gewisses Gewicht, womit ihr Konzept eine funktionalistische Komponente erhält. Mit diesem groben Überblick vor Augen können wir uns den üblichen Gedankenexperimenten zuwenden, die gegen den Materialismus vorgebracht worden sind. Wieder soll es nur um eine Präsentation und nicht tun eine kritische Diskussion der einzelnen Punkte gehen.
2.2
Die Einwände gegen den Materialismus
Einmal gibt es einen ganz generellen Einwand, wonach die übliche Art, Wissenschaft zu betreiben, ungeeignet sein soll, das phänomenale Bewußtsein zu erfassen.
2.2.1
Der Gegensatz von subjektiver und objektiver Perspektive
Nach Nagel ergibt sich aus der subjektiven Perspektive ein ganz grundsätzliches Problem: Die Herangehensweise der Natur- und Kognitionswissenschaften ist an der Gewinnung objektiver Erkenntnisse über die Welt orientiert, und dies soll ganz wesentlich beinhalten, daß man von seiner jeweiligen subjektiven Perspektive auf die Welt absieht und zu einem Verständnis der Wirklichkeit gelangt, welches von solch einer Perspektive unabhängig ist. Man kann dies mit Blick auf die Farben folgendermaßen erläutern: Die Naturwissenschaften liefern uns z.B. eine mehr oder weniger vollständige Erklärung vom Verhalten der uns umgebenden Gegenstände, in der die Kategorie der Farbe keine Rolle spielt. Um zu erklären, welchen Einfluß das Verhalten eines Gegenstandes auf einen anderen Gegenstand hat, braucht man nicht darauf zu rekurrieren, welche Farbe er hat bzw. ob er überhaupt eine Farbe hat. Die grundlegenden physikalischen Kategorien, die wir zur Erklärung der uns umgebenden Wirklichkeit benötigen, sind derart, daß wir uns im Prinzip mit intelligenten Wesen, die gar keine Farben wahrnehmen können, darüber einigen könnten. Es ist, wenn man so will, gerade der Witz der Naturwissenschaften, sich von der jeweiligen subjektiven Perspektive auf die Welt loszumachen
27
Vgl. Shoemaker 1975/84, 1982. Rey hat solch eine Position für Gefühle erwogen (vgl. Rey 1988 S.19).
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
21
und so zu einem objektiveren Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen. Eng verknüpft damit ist auch die Vorstellung, daß uns die Naturwissenschaften nicht nur eine andere Perspektive auf die Welt eröffnen als unsere Alltagsvorstellungen, sondern daß sie uns im Blick auf die uns umgebende Umwelt einen Erkenntnisfortschritt ermöglichen, so daß wir mit ihrer Hilfe in der Lage sind, nach und nach ein immer objektiverei Bild von der Welt zu gewinnen. Nach Nagel führt dies nun dazu, daß sich die Naturwissenschaften per se von der subjektiven Perspektive entfernen und nicht mehr in der Lage sind, ihren eigentümlichen Charakter zu erfassen. Die objektive Perspektive, die für unseren wissenschaftlichen Fortschritt eine Rolle gespielt hat, scheint gemäß dieser Vorstellung mit der subjektiven Perspektive geradezu inkompatibel zu sein. Für ein objektives Verständnis des subjektiven Erlebens müßte man ganz anders an die subjektive Perspektive herangehen, und sie als einen Phänomenbereich betrachten, von dem es eine objektive Konzeption in dem Sinn zu entwickeln gelte, daß man zu einer „objektiven Phänomenologie" gelangt, die es einem ermöglicht, verschiedene subjektive Perspektiven (etwa die eines Menschen, die einer Fledermaus) als Spezialfälle ein und desselben Phänomens, nämlich einer subjektiven Perspektive überhaupt, zu verstehen. Soviel kurz zu Nagels generellen Bedenken im Blick auf eine befriedigende materialistische Konzeption von phänomenalem Bewußtsein.28 Die meisten Einwände versuchen allerdings, aus der spezifischen Art, in der materialistische Konzepte mentale Zustände charakterisieren, ein Problem zu konstruieren. Vier Probleme dominieren dabei in der Literatur. Alle gehen davon aus, daß es Qualia gibt und versuchen, auf dieser Basis eine spezifische Schwierigkeit für den Materialismus zu formulieren.
2.2.2
Jacksons „Argument vom unvollständigen Wissen"
Dieses Problem läßt sich auch mit Nagels Beispiel von der Fledermaus illustrieren, wird aber häufig auch anhand eines anderen Gedankenexperiments von Frank Jackson erläutert:29 Dabei wird die These des Materialismus so reformuliert, daß alle Fakten materialistische Fakten sind, und vollständiges Wissen nach dem üblichen Verständnis von Wissen für den Materialismus erlangt sein muß, wenn man alle materialistischen Fakten kennt. Wenn es gelingt zu zeigen, daß es noch andere Fakten gibt, die darüber hinaus gehen, 28 29
Vgl. Nagel 1979b), 1986 Kap. 2. Vgl. Jackson 1982 S.130.
22
Einleitung
wäre der Materialismus widerlegt. Dazu muß gezeigt werden, daß es ein entsprechendes Wissen zu erwerben gibt, weil es ein entsprechendes Faktum gibt. Die These ist nun, daß die spezifische Eigenart der Qualia solch ein Faktum darstellt. Das Gedankenexperiment lautet dabei folgendermaßen: Man stelle sich eine Person (allgemein bekannt als „Mary") vor, die über vollständiges Wissen im Sinne des Materialismus verfügt, unter Einschluß aller noch zu gewinnenden Erkenntnisse, die aber von bestimmten Typen bewußter Erfahrung abgeschnitten ist, etwa indem sie in einem Labor lebt, in dem alles (inklusive ihres eigenen Körpers) in Schwarz und Weiß bzw. in verschiedenen Grauabstufungen gehalten ist und visuelle Verbindungen zur Außenwelt nur über Schwarzweißmonitoren möglich sind. Nun öffnen sich eines Tages die Türen des Labors, und Mary sieht zum ersten Mal in ihrem Leben eine rote Tomate. Natürlich wußte sie schon vorher, daß man außerhalb des Labors Farbwahrnehmungen hat, die sie noch nie hatte, und sie kennt auch alle relevanten neurophysiologischen Strukturen der Farbwahrnehmung sowie die relevanten physischen Eigenschaften der Tomate, aber, so die These, sie wußte nicht, wie es ist, eine rote Tomate zu sehen; sie hatte noch keine Bekanntschaft mit einem „Rot-Quale" gemacht. Die Kenntnis von diesem neuen, zusätzlichen Faktum hat sie erst mit Öffnung des Labors erlangt. Gemeinhin wird diese Überlegung als das sogenannte „Argument vom unvollständigen Wissen" oder kurz „Wissensargument" bezeichnet. Es knüpft natürlich unmittelbar daran an, daß das Wissen, wie es ist, in einem bestimmten Zustand zu sein, die Einnahme der jeweiligen subjektiven Perspektive erfordert, die Einnahme des materialistischen Standpunktes dies aber nicht gewährleistet. Wer die objektive Perspektive eingenommen hat, hat damit noch nicht die subjektive Perspektive eingenommen. Die nächsten beiden Gedankenexperimente versuchen zu zeigen, daß die begrifflichen Möglichkeiten, die eine materialistische Theorie hat, um ein Wesen mit Erfahrungen zu charakterisieren, zu grob sind, um den subjektiven Charakter des phänomenalen Bewußtseins einfangen zu können. 2.2.3
Invertierte Qualia
Das erste dieser beiden Gedankenexperimente geht davon aus, daß zwei Wesen, die nach materialistischen Kriterien ununterscheidbar sind, dennoch unterschiedliche Qualia haben könnten, so daß der Materialismus (in welcher Spielart auch immer) zumindest die Unterschiedlichkeit der Qualia nicht erfassen kann. Das Beispiel ist hier meistens ein invertiertes Farbspektrum, so daß die eine Person angesichts von reifen Tomaten, Feuerwehrautos, Hydranten
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
23
usw. dasjenige Quale hat, welches die andere Person angesichts von GrannySmith-Äpfeln, Rasenanlagen usw. hat und umgekehrt. Um der Schwierigkeit vorzubeugen, wie man solch eine Spektruminversion überhaupt feststellen können soll, wird sie häufig auch als Veränderungsprozeß innerhalb ein und derselben Person konstruiert. Eine unter dem Namen „invertierte Welt" bekannte Variante dieses Gedankenexperimentes versucht zu zeigen, daß jemand konstant gleichbleibende Qualia haben könnte, auch wenn die Umwelteigenschaften invertiert werden, also was vorher rot war nun grün ist usw.30 Diese Variante richtet sich insbesondere gegen den Repräsentationalismus, der gerade den Umwelteigenschaften eine zentrale Rolle zuschreibt. Da wir normalerweise nicht davon ausgehen, daß unsere Farbspektren invertiert sind, ist es natürlich wichtig zu klären, was es heißen soll, daß solch ein Fall auftreten könnte. Und da wir ferner gerade gesehen haben, daß sich der philosophische Materialismus unterschiedlichster Spielarten bedienen kann, muß natürlich genauer präzisiert werden, was hier mit „materialistischen Kriterien" gemeint sein soll. Wie gleich deutlich wird, besteht zwischen diesen beiden Gesichtspunkten ein Zusammenhang. Hauptadressat dieser Überlegung ist v.a. der analytische Funktionalismus gewesen. Für den analytischen Funktionalismus muß sich eine Farbwahrnehmung erschöpfend als Zustand analysieren lassen, der ausgehend von bestimmten Stimuli zu bestimmten Verhaltensreaktionen führt. Da es sich dabei um eine begriffliche Analyse handeln soll, muß lediglich plausibilisiert werden, daß eine Spektruminversion eine logische Möglichkeit darstellt, die man sich, ohne unseren Begriffen Gewalt anzutun, kohärenterweise denken kann.31 Ob solch eine Möglichkeit auch nur im entferntesten empirisch möglich ist, ob sie etwa in Einklang mit den Naturgesetzen steht, kann man dabei offenlassen. Es handelt sich hier nur um einen Streit um Begriffe, nicht um Tatsachen. Komplizierter wird die Sachlage, wenn die Möglichkeit der Spektruminversion gegen den Psychofunktionalismus oder gegen die These, daß phänomenales Erleben unmittelbar auf bestimmten Gehirnzuständen superveniert, vorgebracht werden soll. Da sich diese Positionen nicht als begriffliche Analysen verstehen, sondern vielmehr empirische Behauptungen implizieren, scheint das bloße Insistieren auf einer logischen Möglichkeit zu schwach, um daraus ein durchschlagendes Argument gegen diese Spielarten von Materialismus zu 30
31
Die Idee der Spektruminversion stammt vermutlich von Locke (vgl. Locke 1690/1975 Book II, ch. xxxii, §15), der sie allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Materialismus diskutiert. Für die neuere Diskussion vgl. v.a. Shoemaker in 1975/84, 1982. Die „invertierte Welt" ist eine Idee von Block in Block 1990. Sollte dies gelingen, wäre natürlich auch der logische Behaviorismus davon betroffen.
24
Einleitung
konstruieren. Ein Gehirnforscher, der glaubt, die relevante Gehirnstruktur für den Charakter unserer Farbwahrnehmungen ausfindig gemacht zu haben, wird seine entsprechenden Thesen nicht als begriffliche Wahrheiten, sondern als empirische Entdeckungen verstehen wollen.32 Wie wir später sehen werden, läßt sich die Relevanz der logischen Möglichkeit allerdings nicht ganz so einfach auf den Fall des analytischen Funktionalismus (oder auch den des logischen Behaviorismus') beschränken. Ein ganz anderes Bild würde sich natürlich ergeben, wenn man die empirische Möglichkeit von Spektruminversionen angesichts psychofunktionaler oder neuronaler UnUnterscheidbarkeit etablieren könnte. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß von einigen Farbwahrnehmungstheoretikern die Hypothese aufgestellt wurde, daß bei einem bestimmten Prozentsatz der Nachkommen von Rot-Grün-Blinden die in den jeweiligen Farbrezeptoren der Retina enthaltenen Photopigmente vertauscht sind.33 Sofern der spezifische Charakter unserer Farbwahrnehmung von diesen Pigmenten abhängt, würde bei den Betroffenen also eine Rot-Grün-Inversion vorliegen, für die es in ihrem klassifikatorischen Verhalten nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt. Dies würde zum einen auf eine empirische Widerlegung des analytischen Funktionalismus hinauslaufen, weil dessen Charakterisierung der fraglichen inneren Zustände sich ja gerade an deren Rolle für das klassifikatorische Verhalten orientiert. Es könnte aber auch eine Widerlegung des Psychofunktionalismus bedeuten, nämlich dann, wenn sich dessen Charakterisierung der funktionalen Rollen der einzelnen Aspekte unserer Farbwahrnehmung als zu grob erweist, um die unterschiedlichen Materialeigenschaften dieser Photopigmente berücksichtigen zu können. Und insofern der Psychofunktionalismus nur in einer empirischen Präzisierung der Frage besteht, welche kausalen Eigenschaften ein interner Zustand genauer aufweisen muß, um als Ursache für unser klassifikatorisches Verhalten in Frage zu kommen, ist sogar damit zu rechnen, daß er diese spezifischen Materialeigenschaften nicht berücksichtigen wird, da diese ja keinen Einfluß auf dieses Verhalten haben. Dennoch ist dieses spezifische Beispiel vermutlich zu schwach, um auch nur für eine empirische Widerlegung des analytischen Funktionalismus auszureichen. Farben stehen für uns in typischen Ähnlichkeitsbeziehungen zueinander, so ähnelt Blau Grün stärker als Rot usw. Sofern also nur eine Rot-Grün-Inversion vorliegt, Blau und Gelb jedoch nicht invertiert sind, wären entsprechend abweichende Urteile über Farbähnlichkeiten zu erwarten. Dennoch läßt sich anhand dieses Beispiels
32 33
Vgl. zu diesem Punkt z.B. Lycan 1987 S.24f. Vgl. dazu M. Nida-Rümelin 1993 S.35 sowie 1995 S.33f.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
25
klarmachen, was es heißen kann, daß eine funktionalistische Position aus empirischen Gründen falsch ist. Ganz unabhängig davon ist natürlich klar, daß dieses Beispiel keinen Beleg dafür darstellen kann, daß Spektruminversion auch bei ununterscheidbarem physiologischen Aufbau auftreten kann, da es ja gerade auf der Feststellung eines solchen Unterschieds (in den Pigmenten) beruht. Doch wie bereits angedeutet, kommt letztlich die Frage nach der logischen Möglichkeit solcher Fälle in der philosophischen Diskussion eine größere Rolle zu, als es zunächst den Anschein haben mag. Wie auch durch den gerade erörterten Punkt deutlich geworden sein dürfte, steht das Operieren mit solch einem Beispiel wie Spektruminversion, sei es als logische oder empirische Möglichkeit, natürlich nicht nur einem Gegner des Materialismus offen; auch ein Anhänger einer bestimmten materialistischen Strategie kann sich seiner bedienen, um die konkurrierenden materialistischen Strategien aus dem Feld zu schlagen: Wenn sich z.B. der Funktionalismus als unfähig erweist, mit der ursprünglichen Formulierung der Spektruminversion zu Rande zu kommen, kann man versuchen, dies für den Repräsentationalismus oder die These der unmittelbaren Supervenienz des bewußten Erlebens auf den Gehirnzuständen auszubeuten.34
2.2.4
Zombies
Dieses Gedankenexperiment geht noch einen Schritt weiter als das letzte, indem jetzt eines der beiden aus materialistischer Sicht ununterscheidbaren Wesen überhaupt keine Qualia hat, und damit weder Farben sieht, noch Schmerzen empfindet usw., aber natürlich Verhalten an den Tag legt, welches sich deuten läßt als Klage über seine Schmerzen, Präferenzen für Picassos „Blaue Periode" oder gar als ein glühendes Bekenntnis zur Existenz von Qualia. Solch ein Wesen ohne Qualia wird dabei als „imitation man" oder „Zombie" bezeichnet, weil es eben eine bloße Imitation eines Wesens mit Bewußtsein darstellt bzw. den seelenlosen Geschöpfen aus Gruselfilmen darin gleicht, daß ihm eine entscheidende Dimension des mentalen Lebens fehlen soll.33 34
35
V.a. Shoemaker hat Spektruminversion in diesem Sinne eingesetzt (vgl. Shoemaker 1975/84, 1982). Chalmers hat sie hingegen gegen alle Varianten von Materialismus eingesetzt (vgl. Chalmers 1996 S.99ff. sowie auch Levine 1993) Für Argumente in dieser Richtung vgl. Block und Fodor 1972, Block 1980, Campbell 21984 S.lOOff. sowie Kirk 1974, Kripke 1980 Kap. 3, Chalmers 1996 S.94ff. Für die Auffassung, daß zwar Spektruminversion ein Problem für bestimmte materialistische Positionen, etwa den Funktionalismus, darstellt, der Zombie jedoch keine mögliche Option darstellt, vgl. Shoemaker 1975/1984, dagegen vgl. Block 1980 sowie Chalmers 1996 S.94ff. t S.123. Als eine Variante
26
Einleitung
Zugestanden wird diesen bedauernswerten Gestalten zumeist, daß sie jenseits des qualitativen Erlebens durchaus ein geistiges Leben besitzen. Sie machen also nicht nur einfach Geräusche, die uns lediglich als sinnvolle Rede erscheinen, wenn sie z.B. über Picassos „Blaue Periode" schwärmen, sondern sie äußern dabei wirkliche Gedanken. Ganz analog zur Spektruminversion kann man den Zombie natürlich wieder so konstruieren, daß er nur gegen eine bestimmte Spielart von Materialismus zum Einsatz kommt oder gegen alle. Geht es gegen den analytischen Funktionalismus, gleicht der Zombie einem Wesen mit Qualia einfach in seinem Verhalten und internen Zuständen, die sich erschöpfend durch ihre kausale Rolle für dieses Verhalten charakterisieren lassen. Im Blick auf den Psychofunktionalismus wird man noch spezifischere kausale Rollen dieser Zustände berücksichtigen wollen und dem Zombie daher eine funktionale Architektur verleihen, die der eines bewußten Wesens gleicht, ohne allerdings aus demselben Material bestehen zu müssen. Wendet man sich gegen die unmittelbare Supervenienz der Qualia auf Zuständen unseres Gehirns, wird man den Zombie auch mit einem entsprechenden Gehirn ausstatten. Und angesichts des Repräsentationalismus wird man für die Ausbildung der entscheidenden repräsentationalen Beziehungen dasselbe Umfeld fordern. Und natürlich können die unterschiedlichen Vertreter des Materialismus wieder versuchen, die konkurrierenden Modelle mit solchen Überlegungen aus dem Feld zu schlagen. So wird der Repräsentationalist z.B. sagen wollen, daß ein Wesen, welches einem phänomenal bewußten Wesen in puncto Verhalten und internem Aufbau bis aufs Haar gleicht, ohne die richtige Beziehung zum richtigen Umfeld kein solches Erleben besitzen wird.36 Ganz ähnlich wie schon bei der Spektruminversion scheinen die Indizien für die empirische Möglichkeit eines Zombies mit baugleichem Gehirn zu einem phänomenal bewußten Wesen eher gering: Die gesetzmäßige Abhängigkeit unseres bewußten Erlebens von physiologischen Prozessen unseres Gehirns scheint kaum bestreitbar zu sein, wenn man etwa an die Wirkung von Schmerzmitteln denkt. Hier können wir sogar im eigenen Fall die Abhängigkeit des eigenen bewußten Erlebens von solchen Prozessen konstatieren. Wir
36
eines Zombies sei noch Blocks 'Chinese-Nation-Roboter' erwähnt, bei dem die Gesamtbevölkerung Chinas die einzelnen funktionalen Rollen übernimmt, die eine funktionale Theorie den einzelnen inneren Zuständen zuschreibt, und in geeigneter Weise über Radiosignale miteinander kommuniziert. Block appelliert hier an die Intuition, daß solch eine Anordnung kein bewußtes Erleben, ja vermutlich nicht einmal irgendein geistiges Leben besitzen würde (vgl. Block 1978/80 S.276-278). Vgl. z.B. Dretske 1995 S.141ff„ Tye 1995 S.151ff.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
27
können aus eigener Erfahrung bezeugen, daß die Einnahme von Aspirin Schmerzen zum Verschwinden bringen kann. Wesentlich vager mögen unsere Intuitionen hingegen werden, wenn wir uns lediglich einen psychofunktionalen oder gar bloß analytisch funktionalen Zombie denken: Würden wir einer Maschine mit solch einem Aufbau schon ohne weiteres phänomenales Erleben einräumen wollen? In diesem Fall fehlen uns jedenfalls Evidenzen der Art, wie sie jedem von uns die Einnahme von Aspirin zu geben vermag, weil bislang keiner von uns, mit einem rein funktionalen Duplikat seines Gehirns ausgestattet, hätte überprüfen können, welche Auswirkungen dies auf sein Erleben hat. Soll der Zombie ausnahmslos gegen alle Formen von Materialismus in Stellung gebracht werden, spielt - wie schon bei der Spektruminversion - seine logische Möglichkeit die entscheidende Rolle. Dies zieht gleichermaßen wieder die Frage nach sich, inwieweit dieser Gesichtspunkt Konzeptionen, die empirische Daten einführen, wie etwa den Psychofunktionalismus oder eine neurobiologische Theorie, wirklich treffen kann. Mehr Aufschluß darüber wird uns die nächste Überlegung geben.
2.2.5
Die explanatorische Lücke
Die vierte Überlegung knüpft daran an, daß mit einem glaubwürdigen Materialismus auch immer ein bestimmter Erklärungsstatus verbunden sein wird. Der Materialismus ist mit Sicherheit keine triviale Position, die sich von selbst versteht. Die These, daß ein Bewußtseinszustand wie eine Schmerzempfindung letztlich ein physischer Zustand, etwa ein Zustand unseres Gehirns, sein soll, ist nicht selbstevident. Jeder wird einräumen, daß eine äußerst enge Beziehung zwischen Zuständen unseres Gehirns und Schmerzempfindungen besteht. So kann man eine solche Empfindung hervorrufen, indem man das Gehirn entsprechend stimuliert. Aber eine weitergehende Behauptung, die in Richtung Identität geht oder auch nur ein stärkeres Abhängigkeitsverhältnis behauptet, ist daraus allein noch nicht zu gewinnen. Und wer kein analytischer Funktionalist ist, wird auch eine ausschließliche Charakterisierung solch eines Zustandes über seine funktionale oder kausale Rolle nicht trivial und unmittelbar einleuchtend finden. Bevor man Behauptungen dieser Art akzeptieren wird, müssen sie einem erst einsichtig gemacht werden. Die Forderung nach einer Erläuterung, die dies leisten kann, gilt natürlich nicht nur für Bewußtseinszustände, sondern ganz allgemein: Wenn gesagt wird, daß Wasser letztlich nichts anderes sei als eine bestimmte chemische Verbindung, nämlich H 2 0, so versteht sich dies ebenfalls nicht von selbst; warum soll jene Flüssigkeit, die einen
28
Einleitung
Großteil unseres Erdballs bedeckt, letztlich eine Verbindung aus zwei relativ flüchtigen Gasen sein? Eine Möglichkeit, solche Behauptungen zu plausibilisieren, besteht in dem Hinweis, daß sie letztlich einsichtig machen, warum die fragliche Substanz, hier Wasser, die Eigenschaften hat, die sie hat.37 Wasser zeichnet sich durch einen bestimmten Gefrier- und Siedepunkt aus, kann Zucker lösen, Öl hingegen nicht usw. Die These, daß Wasser nichts anderes als H 2 0 ist (und mit diesem nicht bloß kausal verknüpft ist oder einhergeht), gewinnt an Plausibilität, wenn sich zeigen läßt, wie sich diese Eigenschaften durch die Eigenschaften der fraglichen Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff reduktiv erklären lassen. Und dies soll nach der Auffassung einer Reihe von Autoren bei Hypothesen der Art, daß Wasser H 2 0 ist, der Fall sein. So läßt sich etwa der Siedepunkt von Wasser unter Rekurs darauf erklären, daß H20-Moleküle unter geeigneten Bedingungen ein charakteristisches Verhalten an den Tag legen. Daß Wasser bei 100°C siedet, hängt letztlich von den Bindungseigenschaften der H20-Moleküle ab. Unter den geeigneten Bedingungen werden H 2 0Moleküle derart interagieren, daß sie eine Substanz bilden, die unter diesen Bedingungen siedet. Sind solche Erklärungen für alle relevanten Eigenschaften von Wasser gegeben worden, scheint es plausibel zu sein zu sagen, daß Wasser nichts anderes als H 2 0 ist. Die Identitätsbehauptung ist hier dadurch gerechtfertigt, daß wir uns mit ihrer Hilfe begreiflich machen können, warum Wasser die Eigenschaften hat, die es de facto besitzt. Wir nehmen an, daß es aus bestimmten Mikrobestandteilen, den H20-Molekülen besteht, deren Eigenschaften lückenlos für die augenfälligen Makroeigenschaften von Wasser aufkommen. Und es ist genau die Tatsache, daß solche Erklärungen möglich sind, die aus einer reduktiven Theorie erst eine attraktive Theorie macht, welche über eine für sich genommen wenig informative Identitätsbehauptung oder ein bloßes ontologisches Statement hinausgeht. Thesen dieser Art liefern uns ein besseres und tieferes Verständnis unserer Umwelt. Wenn man also behauptet, daß Bewußtseinszustände letztlich physische Zustände sind oder zu diesen in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, welches wesentlich über Korrelation und bloße kausale Abhängigkeit hinausgeht, dann wird man entsprechende Erklärungen über sie in materialistischer Terminologie erwarten wollen.
37
Zum Folgenden vgl. Levine 1983, 1993 insbes. S.127ff. sowie die Erörterungen in Bieri 1995 und Chalmers 1996 S.42ff.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
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Das sogenannte Argument von der explanatorischen Lücke knüpft genau hier an.38 Es räumt den reduktiven Erklärungen allerdings nicht nur eine Rolle bei der Plausibilisierung von Identitätsbehauptungen ein, sondern sieht in diesen Erklärungen sogar das entscheidende Kriterium für deren Überzeugungskraft. Demnach wird der Beleg dafür, ob sich ein Phänomen auf die von den Naturwissenschaften bereitgestellten Kategorien reduzieren läßt, erbracht, indem man zeigt, wie sich die Eigenschaften des zu reduzierenden Phänomens durch die Eigenschaften der zugrundeliegenden naturwissenschaftlichen Eigenschaften erklären lassen: Wir akzeptieren, daß H 2 0 mit Wasser identisch ist, weil wir u.a. unter Rekurs auf die Eigenschaften von H20-Molekülen schlüssig erklären können, warum Wasser bei einer bestimmten Temperatur gefriert, kocht usw. Erfolgreich ist eine solche Erklärung dann, wenn sie für bestimmte Fragen keinen Raum mehr läßt. Denn wenn eine erfolgreiche reduktive Erklärung für Wasser gegeben worden ist, scheint folgende Replik nicht mehr sinnvoll: „Es wurde zwar erläutert, inwiefern H 2 0 diejenige Substanz ist, die bei 0°C gefriert, bei 100 °C verdampft usw., aber daß Wasser H 2 0 sein soll, muß erst noch gezeigt werden." Deplaziert soll die Frage einfach deshalb sein, weil Wasser letztlich nichts anderes ist, als diejenige Flüssigkeit, die bei 0°C gefriert, bei 100°C verdampft usw. Die der Frage zugrundeliegende Annahme scheint dann schlicht inkohärent zu sein.39 Aus der Tatsache, daß wir es mit H 2 0 ZU tun haben, können wir dann, so die These, schlicht ableiten, daß es sich dabei um Wasser handelt. Erfolgreiche Reduzierbarkeit soll demnach mit erfolgreicher reduktiver Erklärung des fraglichen Phänomens Hand in Hand gehen, und zwar nicht nur in dem Sinn, daß eine erfolgreiche Erklärung für eine gelungene Reduktion hinreichend ist, sondern auch in dem Sinne, daß sie dafür notwendig ist. Und der Erfolg der reduktiven Erklärung soll sich daran messen lassen, daß sie insofern lückenlos ist, als für Fragen der genannten Art kein Raum mehr bleibt. Wenn der Maßstab für eine erfolgreiche Reduktion demnach darin besteht, ob die relevanten Eigenschaften der in Frage stehenden Größe reduktiv erklärt werden können, müssen wir uns erst ein vollständiges Bild von diesen Eigenschaften machen. Doch wie sollen wir dabei vorgehen? Für reduktive Erklärungen kommt es in erster Linie auf jene Eigenschaften an, die die kausale Rolle einer Sache ausmachen. Dazu gehört im wesentlichen, wie sich Wasser 38
39
Der Terminus „explanatorische Lücke" wurde von Levine geprägt, vgl. Levine 1983 sowie 1993. Vorläufer dieser Argumentation finden sich bereits bei Leibniz (Leibniz 1714/1956) und du Bois-Reymond (du Bois-Reymond 1872 /1974). Vgl. dazu die Darstellung in Bieri 1995. Gegeben, der Rest der relevanten physischen und chemischen Randbedingungen bleibt konstant (vgl. Levine 1993 S.129)
30
Einleitung
unter bestimmten Umständen verhält, wie es mit anderen Dingen zusammenwirkt (Löslichkeit usw.). Dies ist keine besonders präzise Angabe, aber das braucht uns im Moment nicht zu irritieren, weil die materialistischen Versuche, einer reduktiven Erklärung bewußter Zustände diesem Kriterium in der Regel von sich aus Genüge leisten. Wie wir gesehen haben, handelt es sich dabei in der einen oder anderen Form immer um eine Charakterisierung einer kausalen Rolle oder um etwas, dem solch eine Rolle problemlos zugeteilt werden kann. Unterschiede ergeben sich in erster Linie daraus, wo genau nach dieser Rolle zu suchen ist. Für die Diskussion um das bewußte Erleben spielen diese Überlegungen nun folgende Rolle: Wenn sich zeigen läßt, daß bestimmte oder gar alle reduktiven Erklärungsstrategien in der Philosophie des Geistes oder den relevanten Wissenschaften Erklärungslücken offenlassen, so heißt dies entweder, daß für uns keine befriedigende wissenschaftliche Erklärung bewußten Erlebens möglich ist, oder es kann sogar ein Indiz dafür sein, daß mit den Reduktionsbasen nicht alle relevanten Faktoren für phänomenales Bewußtsein genannt worden sind und dieses dann kein materielles Phänomen sein kann. Woran läßt sich nun ablesen, ob im Blick auf phänomenales Erleben solch eine Lücke besteht? Nach der Auffassung einer Reihe von Autoren ist folgende Beobachtung dabei von entscheidender Bedeutung: Egal, welche funktionalistische oder neurophysiologische oder sonstige materialistische Theorie man über den qualitativen Gehalt mentaler Zustände ins Feld führt, es bleibt immer noch die Frage bestehen, warum sich ein diesen Theorien entsprechendes System gerade durch den Besitz solcher bzw. überhaupt irgendwelcher qualitativer Zustände auszeichnen soll. So wurde z.B. kürzlich der Vorschlag gemacht, Bewußtsein würde auf der neurophysiologischen Ebene durch ein synchrones Einschwingen der an einer Wahrnehmung beteiligten Neuronen in einem Bereich von 40 Hz sowie der Aktivierung bestimmter Regionen im Thalamus konstituiert.40 Wie können Erklärungen dieser Art (die man sich noch mit beliebigen Details angereichert denken können soll) erklären, daß es gerade so ist, einen bestimmten Schmerz zu fühlen oder eine Tomate zu sehen, bzw. daß diese Erfahrungen überhaupt einen typischen qualitativen Charakter haben? Solange aber solche Fragen möglich erscheinen, solange scheinen Thesen der angesprochenen Art nicht beanspruchen zu können, mehr als eine bloße Korrelation oder kausale Abhängigkeit bewußter Erfahrung von bestimmten neurophysiologischen oder sonstigen Prozessen zum Ausdruck zu bringen. Es ent-
40
Diese Hypothese stammt von Crick und Koch. Vgl. dazu die kurze Bemerkung unten S.39.
Die Schwierigkeiten des Materialismus mit dem phänomenalen Bewußtsein
31
steht dann der Verdacht, daß nicht bewußtes Erleben selbst erklärt worden ist, sondern nur Auskünfte über die physiologischen Bedingungen erteilt worden sind, die für sein Auftreten relevant sind. Anders als im Fall von Wasser und H 2 0 scheint hier sehr wohl noch Raum für eine sinnvolle Frage zu bestehen, warum sich Zustände dieser Art gerade so oder auch nur überhaupt irgendwie anfühlen. Als Prüfstein für das Bestehen solcher Lücken soll letztlich dienen, daß man sich, ohne inkohärent zu werden, ein Wesen vorstellen kann, welches alle Eigenschaften besitzt, die ein Wesen besitzen muß, um nach den fraglichen Theorien bewußt zu sein, dem es aber dennoch an Bewußtsein mangelt oder dessen Bewußtsein qualitativ ganz anders geartet ist, als diese Theorien es vorsehen. Kurz, allein die logische Möglichkeit von Zombies und invertierten Qualia, allein das Eingeständnis, daß man sich einen phänomenalen Zombie widerspruchsfrei vorstellen kann, soll letztlich ausreichen, um hier eine explanatorische Lücke konstatieren zu können.41 Wir hatten bei der Erörterung des invertierten Spektrums und des Zombies gesehen, daß ein Psychofunktionalist oder eine neurophysiologisch orientierte Theorie sich von der logischen Möglichkeit dieser Fälle prima facie erst einmal wenig beeindruckt zeigen dürfte, weil beide ganz maßgeblich auf empirische Daten setzen. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur explanatorischen Lücke wäre diese Gelassenheit allerdings voreilig. Allein die logische Möglichkeit dieser Fälle macht dann deutlich, daß nicht wirklich erklärt worden ist, was es heißt, ein bewußtes Erleben zu besitzen. Die Tatsache, daß die entscheidenden Daten erst empirisch beigebracht werden sollen, tut dem genauso wenig Abbruch wie die Tatsache, daß es natürlich ein Ergebnis empirischer Forschung gewesen ist, daß sich die Eigenschaften von Wasser ausgerechnet unter Rekurs auf die Eigenschaften von H20-Molekülen in einer Weise reduktiv erklären lassen, die keine explanatorische Lücke mehr offen läßt. Das Argument von der explanatorischen Lücke beinhaltet insofern, daß der bloße Verweis auf empirische Daten nicht ausreichend sein kann, um zu einer wirklich befriedigenden reduktiven Erklärung eines Phänomens zu gelangen. Diejenigen materialistischen Positionen, die von sich aus eine begriffliche Analyse des Mentalen anvisieren wie der logische Behaviorismus oder der analytische Funktionalismus, sind vom Prinzip her so angelegt, daß sie diese Schwierigkeit vermeiden können. Wenn ein Schmerz aus begrifflichen Gründen nichts anderes ist, als ein Zustand, der in Folge bestimmter Stimuli zu bestimmten Reaktionen führt, und
41
Vgl. Levine 1993 S. 129.
32
Einleitung
einen Schmerz zu fühlen, folglich nichts anderes heißt, als sich in einem solchen Zustand zu befinden, dann kann man angesichts eines Zustandes, der diese Rolle ausfüllt, nicht mehr sinnvoll fragen, warum gerade dieser Zustand ein Schmerz sein soll. Das Problem dieser Positionen ist eben nur, daß sie unmittelbar durch die logische Möglichkeit von Zombies und invertierten Spektra in Frage gestellt werden. Wenn man sich widerspruchsfrei einen Zombie denken kann, dann kann eine Analyse bewußten Erlebens, die nur Eigenschaften erwähnt, die auch der Zombie besitzt, keine korrekte begriffliche Analyse des Erlebens sein. Verknüpft wird das Argument von der explanatorischen Lücke häufig mit der weiteren These, daß das phänomenale Bewußtsein in dieser Hinsicht einen absoluten Sonderfall darstellt. Für alle anderen Phänomene soll es im Prinzip möglich sein, eine reduktive Erklärung anbieten zu können; das gilt vielen Autoren zufolge auch ganz explizit für Fragestellungen, die die Natur des Geistes oder der Kognition angehen, etwa eine reduktive Erklärung der Fähigkeit zu lernen, eine Sprache zu beherrschen, Wünsche und Meinungen haben zu können usw.42 Wenn aber beim phänomenalen Bewußtsein, anders als in anderen Fällen, immer eine explanatorische Lücke bestehen bleibt, dann scheint es um die Berechtigung der materialistischen Explikationsversuche zum bewußten Erleben nicht besonders gut bestellt zu sein. Wie noch eingehend zu diskutieren sein wird, ist umstritten, ob daraus schon folgt, daß Bewußtseinszustände nach einer dualistischen Ontologie verlangen. Argumente in diese Richtung wurden in letzter Zeit v.a. von Jackson und Chalmers vorgebracht.43 Im Zentrum stehen dabei Überlegungen, die im wesentlichen auf Kripke zurückgehen und die modalen Implikationen bestimmter Identitäts- oder Realisierungsbehauptungen betreffen.44 Behauptungen dieser Art kommt demnach eine Notwendigkeit zu, deren Bestehen sich anhand der Überprüfung unserer Intuitionen, was man sich in diesem Zusammenhang kohärent denken kann und was nicht, ermitteln lassen soll. Doch selbst wenn man dem nicht folgen will, entsteht der Verdacht, daß der Materialismus über ein wenig informatives ontologisches Statement kaum hinauskommt, solange die Lücke offen bleibt. Angenommen, Überlegungen dieser Art können den Materialismus in ernsthafte Schwierigkeiten bringen, was könnte dies für Konsequenzen haben?
42
43 44
Vgl. z.B. Block 1994a) S.211, Chalmers 1996 S.24f. Skeptischer zeigt sich dagegen Levine 1993 S.135, der zwar auch glaubt, daß nur bei Qualia eine explanatorische Lücke auftritt, es aber für möglich hält, daß dies auch weitreichende Konsequenzen für Theorien der Intentionalität haben könnte. Vgl. Jackson 1994a), 1994b), 1995, Chalmers 1996. Vgl. dazu Kripke 1980 insbes.Kap.3.
Theoretische Konsequenzen aus der Kritik am Materialismus 3.
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Theoretische Konsequenzen aus der Kritik am Materialismus
Drei Möglichkeiten haben in der Diskussion der letzten Jahre eine herausragende Rolle gespielt. Erstens der Expansionismus, zweitens die These von der Unlösbarkeit des Bewußtseinsproblems sowie drittens der Dualismus. Nur der dritte Vorschlag schließt dabei wirklich aus, daß es sich beim Bewußtsein um ein physisches Phänomen handelt.
3.1
Der Expansionismus
Nach dieser Konzeption stellt Bewußtsein ein physisches Phänomen dar, aber damit Natur- und Kognitionswissenschaften es in den Griff bekommen können, müßten sich diese Wissenschaften in einem Maße ändern, daß wir sie kaum mehr wiedererkennen würden. Auch wenn es in der Geschichte der Naturwissenschaften immer wieder Reduktionen von einem Phänomenbereich auf einen anderen gegeben hat (z.B. die prinzipielle Reduzierbarkeit der Chemie auf die Physik), kam es, insbesondere im Bereich der Physik, immer wieder zur Anerkennung neuer Größen, die sich nicht auf das Instrumentarium der bislang anerkannten Größen reduzieren lassen. So hat das Inventar der physikalischen Grundgrößen mit dem elektromagnetischen Feld seiner Zeit eine Erweiterung erfahren. Vielleicht handelt es sich beim Bewußtsein ja auch um solch eine Größe, und die Naturwissenschaft der Zukunft wird sich von unseren heutigen Wissenschaften dann mindestens so unterscheiden wie die moderne Physik von der klassischen Mechanik. Die erfolgreichste materialistische Strategie im Blick auf das Bewußtsein wäre dann nicht reduktionistisch, sondern eher „expansionistisch": Das Repertoire unserer naturwissenschaftlichen Begriffe müßte entsprechend erweitert werden.45 Da es relativ merkwürdig wäre, wenn solch eine neue Grundgröße nur in einem lokal extrem beschränkten Bereich auftritt, nämlich im wesentlichen in Gehirnen, wird dieser Vorschlag häufig derart modifiziert, daß es sich bei der neuen Grundgröße nicht um Bewußtsein handelt, sondern um eine Art „Protobewußtsein", welches dann ein allgegenwärtiges Phänomen sein soll. Bewußtsein verdankt sich dann dem Zusammenwirken von Protobewußtsein und anderen physischen Faktoren. Darin kann man eine moderne Version des Panpsychismus sehen, denn der klassische Panpsychismus bestand in der Auffassung, 45
Diese Terminologie benutzt T. Nagel in Nagel 1998. Nagel kann überhaupt als der Hauptvertreter dieser Auffassung angesehen werden (vgl. auch Nagel 1974/79 sowie 1986).
34
Einleitung
daß das Geistige ein allgegenwärtiges Phänomen in der Welt darstellt.46 Der Panpsychismus ist natürlich eine sehr gewagte These. Es ist auch kaum zu sehen, wie man jemals herausfinden könnte, was Protobewußtsein genau sein könnte und wie man sich vorzustellen hat, daß es auch in unbelebter Materie vorkommt. Anders als beim phänomenalen Bewußtsein kann man für das Protobewußtsein nicht geltend machen, daß seine Existenz aus der Perspektive der ersten Person evident sei. Der Verzicht auf den Panpsychismus scheint den Expansionismus allerdings darauf festzulegen, daß es entgegen aller Erwartung grundlegende physikalische Größen gibt, die nur an sehr wenigen Stellen, nämlich in Gehirnen, auftreten. Vielleicht stellt dies in diesem Zusammenhang aber immer noch das kleinere Übel dar. Der Expansionismus erkennt die Probleme, die sich aus den genannten Gedankenexperimenten für den Materialismus ergeben sollen, ohne Umschweife an. Er bietet sich für all jene an, die der Auffassung sind, daß alle bisherigen materialistischen Theorien des Bewußtseins selbst bei Berücksichtigung der abschätzbaren künftigen Fortschritte in den Neurowissenschaften auf dem Holzweg sind. Er unterscheidet sich aber vom Dualismus darin, daß er einer völlig neuen naturwissenschaftlichen Konzeption, die es gewissermaßen erst noch zu erfinden gilt, eine Chance gibt. Bislang ist diese Position freilich nur Ausdruck einer vagen Hoffnung gewesen. Niemand konnte auch nur die grobe Richtung des Wegs andeuten, den die Wissenschaften zu einem solch erweiterten Verständnis zu gehen hätten. Dies dürfte neben der Liaison mit dem Panpsychismus einen Schwachpunkt dieser Position markieren. Dennoch stellt dieser Vorschlag offenbar eine kohärente Option dar. Wir sind nur im Moment nicht imstande einzuschätzen, ob sie auch die richtige Option ist. In jedem Fall mag sie für einen Materialisten, der von der Leistungsfähigkeit der aktuellen Konzeptionen überzeugt ist, die Herausforderung bieten, sie schon jetzt als überflüssig zu erweisen.
3.2
Die These von der kognitiven Beschränktheit
Nach dieser These ist Bewußtsein zwar ein physisches Phänomen, jede Form von Dualismus also zurückzuweisen, aber wir werden aus prinzipiellen Gründen nie in der Lage sein, eine Theorie zu entwickeln, die es uns als phy-
46
In solch eine Richtung tendieren Nagel 1979 sowie Chalmers 1996 S.293ff. Die klassische Formulierung des Panpsychismus findet sich bei Spinoza (vgl. Spinoza 1677/1977 Pars Π, Ρ 13 S (S.143)
Theoretische Konsequenzen aus der Kritik am Materialismus
35
sisches Phänomen begreiflich macht. Wir dürfen von unseren geistigen Fähigkeiten nicht unbedingt erwarten, daß sie jedes Problem lösen können. Dieser Vorschlag wie auch der zugehörige Begriff „kognitive Beschränktheit" („cognitive closure") ist vor allem mit dem Namen von Colin McGinn verbunden.47 Unsere geistigen Fähigkeiten sind wie unsere Körper und Organe ein Produkt der Evolution, entstanden zur Bewältigung bestimmter überlebensrelevanter Aufgaben, aber nicht unbedingt zur Lösung des Leib-Seele-Problems. Genauso wie ein Affe zu beschränkt ist zu begreifen, was ein Elektron ist, sind wir möglicherweise zu beschränkt zu begreifen, was Bewußtsein als physisches Phänomen ist. Diese Position beinhaltet nicht nur, daß wir eine neue Begrifflichkeit bräuchten, um Bewußtsein als physisches Phänomen begreifen zu können, sondern auch, daß wir gar nicht in der Lage sind, solch eine Begrifflichkeit zu entwickeln. Auch dies ist natürlich eine kohärente Option. Und wieder mag man sich als Materialist gefordert fühlen, diese Option auszuschließen. Eine andere Frage ist es, ob die Gründe, die uns McGinn in diesem Zusammenhang gegeben hat, schon in die Lage versetzen, sie als die einzig richtige Option zu erkennen. Neben dem Hinweis auf die evolutionäre Entwicklung unseres Gehirns haben folgende Gründe McGinn zu diesem Ergebnis geführt:48 Durch bloße Wahrnehmung eines Gehirns können wir nicht herausfinden, ob es Bewußtsein hat oder nicht. Unsere Wahrnehmung präsentiert uns nur Gegenstände im Raum mit räumlich bestimmten Eigenschaften. Die gesuchte Verbindung zwischen Bewußtsein und Gehirn kann aber laut McGinn keine räumliche Beziehung sein. Wir können das Gehirn nicht räumlich zum Bewußtsein in Beziehung setzen. Insofern gibt es eine wahrnehmungsbedingte Beschränkung. Wir können aber auch nicht darauf schließen, daß ein Gehirn Bewußtsein besitzen muß. Solch ein Schluß würde in der Einführung bestimmter theoretischer Begriffe bestehen. Zu diesen Begriffen können wir nach McGinn aber nur durch eine bestimmte Form von Analogiebildung gelangen, indem wir nämlich von Größen ausgehen, die wir beobachten können, und ähnliche theoretische Größen postulieren (etwa wenn wir uns Moleküle als Objekte von prinzipiell derselben Art denken, wie wir sie auch wahrnehmen können, nur eben viel kleiner). Solche Analogien bringen uns aber nicht viel weiter als beobachtbare Eigenschaften. Und selbst theoretische Erklärungen, die nicht nach diesem Analogie-Modell gebildet sind, sind für McGinn nicht zur Lösimg des Problems geeignet. Denn Ausgangspunkt für diese Erklärungen sind physische 47 48
Vgl. McGinn 1989/1991. Vgl. McGinn a.a.O. SI Iff.
36
Einleitung
Daten über das Gehirn (seine Beschaffenheit und sein Verhalten), und um diese zu erklären, brauchen wir nicht auf das Bewußtsein rekurrieren. Was Erklärungen der Funktionsweise des Gehirns betrifft, so scheint das Bewußtsein schlicht ein Epiphänomen zu sein. McGinns Vorschlag scheint mit einer Reihe von Schwierigkeiten behaftet zu sein. So erscheint seine Auffassung von der analogen Natur theoretischer Entitäten ziemlich eng gefaßt. Was ist etwa das wahrnehmungsmäßige Analog für elektrische Ladung oder Energie? Und daß das Bewußtsein bei der Erklärung der Funktionen des Gehirns explanatorisch irrelevant ist, zeigt mit Sicherheit nicht, daß es keine materialistische theoretische Erklärung des Bewußtseins geben kann. Schließlich können wir auch die Funktionen des Körpers eines lebendigen Wesens erschöpfend ohne Rekurs auf den Begriff „Leben" erklären, ohne daß dadurch die Beziehung zwischen der Tatsache, daß ein Körper bestimmte physische Eigenschaften besitzt und der, daß er lebt, zu einem unerklärlichen Mysterium werden müßte. Ferner kann man sich fragen, ob der Verweis auf die evolutionäre Entwicklung unseres Gehirns hier wirklich so bedeutsam sein kann. Natürlich ist es möglich, daß wir aus evolutionären Gründen letztlich zu beschränkt sind, diese intellektuelle Leistung zu erbringen. Die Behauptung jedoch, daß es mit Blick auf die evolutionären Bedingungen, unter denen sich unsere geistigen Fähigkeiten entwickelt haben, unwahrscheinlich ist (für unser nacktes Überleben war nicht die Entscheidung dieser Fragen relevant, sondern das Meistern von ganz anderen Problemen wie Deckung des Kalorienbedarfs und Sicherung der Nachkommenschaft), ist allein schon deshalb nicht besonders überzeugend, weil so ziemlich jede der intellektuellen Leistungen, die je in den Bereichen Wissenschaft und Kunst vollbracht worden sind, angesichts der unmittelbaren evolutionären Erfordernisse an unseren Geist gleichermaßen überraschend ist. Denn wenn es die Menschheit bis zum Komponieren von Fugen und zum Entwurf der Relativitätstheorie gebracht hat, warum soll sie dann nicht auch eines Tages die explanatorische Lücke schließen können? Wenn es grundsätzliche Hindernisse gibt, die Erklärungslücke zu schließen, dann sollten wir sie daher nicht in unserer evolutionären Beschränkung suchen. Mit diesen Zweifeln an der Stichhaltigkeit von McGinns Argumenten für die kognitive Beschränktheit bleibt uns also genauso wie beim Expansionismus erst einmal nur übrig, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß wir es hier mit einer kohärenten Position zu tun haben, für die sich möglicherweise im Lauf der Zeit mehr und mehr Indizien einstellen werden. Doch betrachten wir als nächstes kurz den radikalsten Vorschlag, den Dualismus.
Theoretische Konsequenzen aus der Kritik am Materialismus 3.3
37
Der Dualismus
Bewußtsein einerseits und die Phänomene, die sich von den Natur- und Kognitionswissenschaften erfolgreich beschreiben und erklären lassen, andererseits bilden dem Dualismus zufolge zwei völlig verschiedene Phänomenbereiche. Daß dies so ist, hat nichts mit der Art zu tun, wie wir diese Phänomene beschreiben oder kategorisieren. Es handelt sich einfach um grundlegend Verschiedenes. Bewußtsein und der Rest der Welt fallen in zwei völlig verschiedene ontologische Kategorien. Geht man davon aus, daß dies die einzigen beiden unterschiedlichen ontologischen Kategorien sind, kann man von Dualismus sprechen. Der Dualismus kann zwei Formen annehmen: Substanzdualismus und Eigenschaftsdualismus. Der Substanzdualismus läuft im wesentlichen auf die Behauptung hinaus, daß es sich beim Bewußtsein um eine Art von Gegenstand handelt, der zu einer selbständigen, von anderen Gegenständen unabhängigen Existenz fähig ist. Solch eine Position erlaubt es z.B., daß unser Bewußtsein unseren Körper überdauert oder daß es im Rahmen von Seelenwanderung unterschiedliche Körper annehmen kann. In der Philosophiegeschichte haben substanzdualistische Argumente häufig eine wichtige Rolle für die Begründung der These gespielt, daß die Seele unsterblich ist. Man denke etwa an Piatons Diskussion im Phaidon. Aber dies waren nicht die einzigen Motive für solch eine Position: Descartes vertrat einen Substanzdualismus im Bezug auf Körper und Geist nicht nur, weil er die Seele für unsterblich hielt, sondern vor allem, weil er glaubte, daß wir zwar vom Geist, nicht jedoch von der körperlichen Welt unbezweifelbares Wissen erlangen können und weil er der Auffassung war, daß der Geist im Gegensatz zum Körper keine räumliche Ausdehnung besitzen kann.49 Es ist wichtig zu sehen, daß diese substanzdualistischen Positionen nichts oder wenig mit denjenigen Fragen zu tun haben, die die neuere Debatte um den Status des Bewußtsein motivieren. Einmal ging es für Piaton und Descartes nicht um das phänomenale Bewußtsein in dem Sinn, wie es hier vorgestellt wurde, sondern um viel umfassendere Phänomene wie die „Seele" oder den Geist als „denkendes Ding." Es ist nicht einmal ganz klar, inwieweit Descartes phänomenales Bewußtsein als ein genuin geistiges Phänomen betrachtet hätte. Wird in der gegenwärtigen Diskussion Tieren phänomenales Bewußtsein in der Regel zugestanden, so hat Descartes die Tiere nur als bloße Automaten gesehen, weil sie nicht sprechen können.50 Zweitens spielt natürlich 49 50
Vgl. Descartes (1644/1964) Pars Prima §8. Vgl. Descartes 1637/1965, V. Partie §11.
38
Einleitung
die Frage der Unsterblichkeit in der Debatte um das phänomenale Bewußtsein keine Rolle. Wer heute angesichts des phänomenalen Bewußtseins zu einer dualistischen Position neigt, ist meistens Eigenschaftsdualist. Bewußtsein ist demnach keine ontologisch eigenständige Substanz, sondern lediglich eine Eigenschaft, die nicht in die Klasse der physischen Eigenschaften fallt. Der Eigenschaftsdualismus kann problemlos der Tatsache Rechnung tragen, daß bestimmte Zustände unseres Gehirns mindestens eine notwendige Bedingung dafür darstellen, daß Bewußtsein, oder geistige Phänomene im allgemeinen, überhaupt auftreten können. Schließlich ist der Einfluß, den Läsionen oder Pharmaka hier ausüben können, kaum zu bestreiten. Der Eigenschaftsdualismus fordert lediglich, daß Gehirnzustände (oder gegebenenfalls Zustände einer abstrakteren, funktionalen Ebene) als physische Zustände eine nichtphysische Eigenschaft, nämlich Bewußtsein, besitzen können. Der Dualismus ist nun allerdings einigen ziemlich grundlegenden Schwierigkeiten ausgesetzt. Diese Schwierigkeiten haben mitunter dazu geführt, daß die meisten analytischen Philosophen des Geistes gegenwärtig Materialisten sind. Wir wollen auf diese Gründe gleich im Zusammenhang mit dem Materialismus zu sprechen kommen.
4.
4.1
Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus
Ist Bewußtsein überhaupt ein geeignetes Thema für die Philosophie?
Zunächst möchte man vielleicht fragen, inwieweit es sich bei dem ganzen Problem überhaupt um ein philosophisches Problem handelt. Haben sich Philosophie und Theologie über die Jahrhunderte nicht genug blamiert mit waghalsigen Spekulationen, die sich dann auf Grund handfester wissenschaftlicher Ergebnisse in Luft aufgelöst haben? Das klingt zunächst recht einleuchtend, übersieht aber folgendes: Wenn man in den Wissenschaften nach einer Antwort auf die Frage sucht, was Bewußtsein ist, dann gibt es hier nicht eine Antwort, an der man sich orientieren könnte, vielmehr haben wir es inzwischen mit einer ganzen Reihe unterschiedlichster Vorschläge zu tun.51
51
Das ist insofern eine bemerkenswerte Tatsache, als Bewußtsein infolge der Dominanz behavioristischer Strömungen lange Zeit gar nicht als ein seriöses Thema angesehen wurde.
Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus
39
Diese Vorschläge gehen z.T. von den unterschiedlichsten begrifflichen Voraussetzungen aus, und es ist oft nicht einmal unmittelbar zu sehen, ob sie konkurrierende Erklärungen darstellen, oder ob sie letztlich miteinander kompatibel sind. So wird es wenig überraschen, daß Neurowissenschaftler den Schlüssel zur Lösung des Bewußtseinsproblems in einer genaueren Kenntnis der Arbeitsweise des Gehirns sehen, wohingegen Kognitionswissenschaftler, die mehr mit abstrakten Modellen arbeiten, eine Charakterisierung und Erörterung in einer allgemeineren Begrifflichkeit für den entscheidenden Schritt halten werden. Aber auch schon innerhalb der unterschiedlichen wissenschaftlichen Branchen, die sich mit der Erforschung des Geistes beschäftigen, kommt es in diesem Zusammenhang zu gravierenden Unterschieden im Ansatz. Eine kleine Kostprobe mag dies illustrieren: So orientieren sich z.B. die beiden Neurowissenschaftler Crick und Koch zunächst an einer Vorstellung von Bewußtsein, die weitgehend dem gleicht, was hier als bewußtes Erleben gekennzeichnet wurde, um dann mit Blick auf den Spezialfall des visuellen Bewußtseins als entscheidendes Problem die Beobachtung hervorzuheben, daß unser Bewußtsein als eine Integrationsleistung zahlloser dezentral und parallel ablaufender Prozesse im Gehirn anzusehen ist. Die naheliegende Aufgabe sehen sie dann darin, einen Mechanismus ausfindig zu machen, der diese Integrationsleistung bewältigen kann. Stark vereinfacht besteht ihre Hypothese darin, daß diese Leistung durch die synchrone Aktivität derjenigen Neuronen erbracht wird, die an einer bewußten Wahrnehmung beteiligt sind.52 Einen anderen Ansatz scheint der Bremer Hirnforscher Hans Flohr zu verfolgen, wenn er betont, daß Bewußtsein eine Art von metarepräsentationaler Leistung darstellt (d.h. die Fähigkeit zu repräsentieren, daß man bestimmte Dinge repräsentiert), um dann im nächsten Schritt nach Strukturen im Gehirn zu suchen, die sich für diese Leistung qualifizieren.53 52
53
Vgl. Crick und Koch 1990/97, 1998 sowie Crick 1994. In der Regel ist dort allerdings nicht davon die Rede, daß das Bewußtsein nichts anderes sei als diese Schwingungen oder dgl., vielmehr wird das ganze Unternehmen als die Suche nach dem neuronalen Korrelat des Bewußtseins (dem sogenannten „NCC")formuliert (vgl. dazu insbes. Crick u. Koch 1998). Crick beschränkt sich auch nicht nur auf die These vom synchronen Feuern, sondern verknüpft diese noch mit einer Reihe weiterer Spekulationen. So führt er Gründe dafür an, daß vermutlich der Thalamus eine wichtige Rolle für das Bewußtsein spielt (vgl. Crick 1994 Kap. 17). Inzwischen wird diese These von Crick und Koch allerdings nur mehr recht zurückhaltend vorgetragen (vgl. dazu Crick u. Koch 1998. Dieser Aufsatz enthält im übrigen eine Schilderung weiterer interessanter Hypothesen und Experimente aus dem Bereich der Neuro Wissenschaften). Die These, daß die zeitliche Synchronisation neuronaler Aktivität eine wichtige Rolle für die Entstehung von Bewußtsein spielt, ist von einer ganzen Reihe von Neurowissenschaftlern ins Spiel gebracht worden, u.a. von C. von der Mahlsburg, R. Llinas, u. W. Singer. Für ausführliche bibliographische Angaben vgl. A. Damasio 21997 S.359f. Vgl. Hohr 1991, 1994, 1996.
40
Einleitung
Auch in der Psychologie finden sich ganz unterschiedliche Ansatzpunkte: Der Psychologe Nicholas Humphrey entwickelt (wiederum grob vereinfacht) eine Konzeption, die sich zunächst an einer Unterscheidung von Empfindung und Wahrnehmung als unterschiedlichen Typen von Repräsentation orientiert, wobei Empfindung eine primitivere Form darstellt, zu registrieren, was mit dem eigenen Körper geschieht und unmittelbar mit Bewertungen dieser Geschehnisse verknüpft ist, um dann phänomenales Bewußtsein letztlich als „Haben von Empfindungen" auszuzeichnen.54 Für den Psychologen Bernard Baars stellt Bewußtsein dagegen einen „globalen Arbeitsraum" unserer kognitiven Architektur dar, dessen Aufgabe darin besteht, unterschiedlichste, in der Regel völlig unabhängige Informationen zu integrieren und zu koordinieren.55 Und der Psychologe Anthony Marcel vertritt die Auffassung, daß phänomenales Bewußtsein letztlich das Resultat bestimmter Fähigkeiten darstellt, sich reflexiv auf die eigenen mentalen Zustände zu beziehen.56 Was immer man von diesen Antworten im einzelnen halten mag, es ist offenkundig, daß sie von ganz unterschiedlichen Fragestellungen ihren Ausgang nehmen und auf verschiedenen Ebenen der Betrachtung ansetzen: Überlegungen zur kognitiven Architektur, die sich aus bestimmten Experimenten ergeben, neuroanatomische Beobachtungen, Betonimg so unterschiedlicher Dinge wie einer Integrationsleistung oder einer metarepräsentationalen Leistung. Sie arbeiten daher mit ganz unterschiedlichen Begriffen von Bewußtsein.57 Oft finden diese Begriffe mehr oder weniger eindeutige Parallelen in bestimmten philosophischen Konzeptionen vom Bewußtsein. So läßt sich von Flohrs metarepräsentationalem Ansatz leicht eine Brücke zur philosophischen Bewußtseinskonzeption von David Rosenthal bauen.58 Häufig genug treten empirische Wissenschaftler sogar mit dem Anspruch auf, eine plausible Antwort auf diejenigen Fragen zu besitzen, die Philosophen wie Nagel und Jackson aufgeworfen haben.59 Wissenschaftliche und philosophische Versuche, Bewußtsein besser zu verstehen, sind daher eher als komplementäre und nicht als konkurrie-
54 55 56 57
58 59
Vgl. Humphrey 1992, insbesondere Kap. 24 u. 25. Vgl. Baars 1988 sowie Baars und Fehling 1992. Vgl. Marcel 1988 S.147ff. Für eine übersichtliche Darstellung einiger der hier erwähnten sowie noch weiterer Positionen (Schacter, Jackendoff), und den Versuch, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, vgl. Revonsuo 1993 S.58-120. Für eine umsichtige Unterscheidung verschiedener Aspekte von Bewußtsein aus psychologischer Sicht vgl. auch Farthing 1992 Kap. 1 u. 2. Farthings Buch ist darüber hinaus ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie stark sich die Kognitionspsychologie inzwischen von behavioristischen Dogmen frei gemacht hat. Vgl. Rosenthal 1986/91, 1990, 1991, 1993. Vgl. z.B. Crick und Koch 1998 sowie auch die o.a. Arbeiten von Flohr.
Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus
41
rende Unternehmen anzusehen. Insofern kann es sicherlich nicht schaden, die philosophische Kontroverse noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, daß der Materialismus selbst eine philosophische Position darstellt. Ob wir die wissenschaftliche Erklärung eines Phänomens wie des Bewußtseins als vollständig oder befriedigend ansehen sollen oder nicht, kann uns letztlich keine Wissenschaft sagen. Dazu müssen Entscheidungen der Art getroffen werden, welche Fragen überhaupt eine Antwort verdienen, wann man von einer erfolgreichen Reduktion von einem Phänomen sprechen kann usw. Die Wissenschaften können uns Antworten auf bestimmte Fragestellungen anbieten, aber sie können uns nicht im gleichen Atemzug sagen, ob diese Antworten auch erschöpfend oder befriedigend sind. Denn das hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil davon ab, was wir eigentlich wissen wollten. Manchmal hat der wissenschaftliche Fortschritt dazu geführt, daß man das Interesse an bestimmten philosophischen Fragestellungen verloren hat. So hat das Problem der Theodizee sicherlich auch deshalb an Relevanz verloren, weil der wissenschaftliche Fortschritt für eine göttliche Hand, die alles lenkt, immer weniger Spielraum gelassen hat. Das lag aber auch daran, daß wir diese wissenschaftlichen Erklärungen für ausreichend gehalten haben, uns etwa eine reiche Ernte oder ein Erdbeben zu erklären. Mit anderen Worten, es gab klare Antworten auf klare Fragen. Und genau dies ist bei der Unübersichtlichkeit und Vielfalt von Konzeptionen zum Thema Bewußtsein im Moment gar nicht gewährleistet. Hier kann die Philosophie durchaus einen positiven Beitrag mit dem Versuch leisten, die relevanten Begriffe zu klären. Der Materialismus als philosophische Theorie wird dabei Gründe bieten wollen, warum wir, unabhängig von den einzelnen verfügbaren empirischen Vorschlägen, Anlaß haben, Bewußtsein als ein physisches Phänomen anzusehen.
4.2
4.2.1
Philosophischer Materialismus
Grundsätzliche Erwägungen zugunsten des Materialismus
Neben der optimistischen Erwartung, daß die Erfolgsgeschichte der modernen empirischen Wissenschaften auch vor dem Bewußtsein keinen Halt machen wird, dominiert bei den Anhängern des Materialismus vor allem die Auffassung, daß wir im Grunde gar keine andere Wahl haben, als uns für den Materialismus zu entscheiden. Von grundlegender Bedeutung sind dabei zwei
42
Einleitung
Thesen: Erstens die Geschlossenheitsthese, wonach die physische Welt kausal geschlossen ist, d.h. jedes physische Ereignis eine physische Ursache hat. Zweitens die Interaktionsthese, wonach die mentale Welt auf die physische Welt kausalen Einfluß nimmt und umgekehrt; wir tun oder lassen bestimmte Dinge, weil wir sie tun wollen, weil uns starke Schmerzen dazu nötigen usw. Es ist klar, daß beide Thesen zusammen nur wahr sein können, wenn mentale Zustände letztlich physische Zustände sind.60 Das gilt zumindest dann, wenn man die folgenden beiden Annahmen über Kausalität zugrundelegt: Erstens: Kausale Überdetermination, also die Möglichkeit, daß ein Ereignis zwei parallele Ursachen haben kann, ist auszuschließen. Zweitens: Kausalität ist mehr als bloße Regularität. Sollte Kausalität nur aus Regularität bestehen, könnten wir zwischen folgenden beiden philosophischen Positionen nicht mehr klar unterscheiden: Dem psychophysischen Interaktionismus, der davon ausgeht, das Physisches und Mentales miteinander in kausalen Wechselbeziehungen stehen, und dem psychophysischen Parallelismus, für den das Physische und das Mentale zwei voneinander völlig unabhängige Geschehnisabläufe darstellen, deren zeitliche Koordination nur die Illusion einer Wechselwirkung begünstigt.61 Weder die Geschlossenheits-, noch die Interaktionsthese sind allerdings offenkundige Trivialitäten, für die kein weiterer Argumentationsbedarf besteht. Vielleicht ist die physische Welt ja gar nicht vollständig kausal geschlossen. Vielleicht werden einige physische Ereignisse von etwas Nichtphysischem hervorgerufen. Solch eine Annahme scheint zumindest nicht offenkundig inkohärent zu sein. In Anbetracht der Tatsache, daß es sich bei denjenigen Ereignissen, die durch mentale Zustände hervorgerufen werden können (typischerweise Körperbewegungen und Geräusche), nicht um eine ganz spezifische Klasse von physischen Ereignissen handelt, die sich eindeutig von allen anderen physischen Ereignissen unterscheiden ließe, wäre dies jedoch ein merkwürdiger Sachverhalt. Immerhin lassen sich die fraglichen Körperbewegungen und Geräusche auch auf herkömmliche physikalische Weise erzeugen. Wenn wir die kausale Vorgeschichte unserer einzelnen Muskelbewegungen oder der Schwingungen unserer Stimmbänder untersuchen, so finden wir nicht den geringsten Anlaß, Ursachen zu postulieren, die nicht physisch sind. Um die Bewegung eines Armes als physikalisches Ereignis erklären zu können, sind wir nicht darauf angewiesen, auf mentale Zustände zurückzugreifen. 60
61
Diese These mag zu Spannungen mit den Interessen jener Materialisten fuhren, die lediglich an Supervenienz und nicht an Identität interessiert sind (vgl. dazu auch Kim 1996 S.148ff. sowie Kap.9). Diese Schwierigkeiten sollen hier nicht weiterverfolgt werden. Selbstredend könnten wir dann auch keine Überdetermination mehr ausschließen. Zu Schwierigkeiten der Regularitätsthese vgl. in diesem Zusammenhang auch Lewis 1979.
Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus
43
Darüber hinaus sollte man folgendes bedenken: Selbst wenn man sich die Möglichkeit offenhalten will, daß die Geschlossenheitsthese falsch ist, so scheint dies nicht mit philosophischen Mitteln allein entscheidbar zu sein. Man kann nicht durch bloßes Nachdenken herausfinden, ob die Welt physikalisch geschlossen ist oder nicht. Insofern wäre es äußerst ungeschickt, eine philosophische Argumentation auf die Annahme aufzubauen, daß diese These falsch ist. Vielmehr empfiehlt sich die Beschränkung auf Positionen, die mit der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt verträglich sind. So haben wir immerhin gute Gründe, die erste These unangetastet zu lassen. Wie sieht es aber mit der Interaktionsthese aus, die u.a. die kausale Wirksamkeit mentaler Zustände in der physischen Welt behauptet? Für die Wahrheit dieser These ist natürlich von zentraler Bedeutung, daß das „weil", welches sie enthält, wirklich kausal zu verstehen ist. Manche haben behauptet, daß es normativ-rechtfertigend zu verstehend ist, und daß dies mit einer kausalen Deutung unverträglich ist.62 Aber selbst wenn man einmal akzeptiert, daß das „weil" kausal zu verstehen ist, könnte die These ja immer noch falsch sein. Vielleicht glauben wir ja nur fälschlicherweise, daß mentale Zustände unser Verhalten verursachen. Könnte es nicht sein, daß mentale Zustände oder zumindest diejenigen Aspekte an ihnen, die dem Materialismus Schwierigkeiten bereiten, in bezug auf die physische Wirklichkeit ein Epiphänomen darstellen? Wir könnten dann immer noch daran festhalten, daß bestimmte physische Einwirkungen mentale Folgen haben, die kausale Wirkung von Psychopharmaka und Drogen müßte nicht geleugnet werden, aber das Mentale (bzw.
62
Das gilt v.a. fur Wittgenstein und seine Anhänger sowie auch für Ryle (vgl. Wittgenstein 1984 Band 5 Das blaue Buch S.34f., Ryle 1949 Kap.l §2). Gegen die Auffassung, Mentales könne als Ursache für unser Verhalten fungieren, wurde dabei u.a. der Einwand erhoben, dies könne nicht sein, weil es eine logische Beziehung zwischen Handlung und mentalem Zustand gebe, und Ursache und Wirkung voneinander logisch unabhängig seien. Es ist sicherlich richtig, daß ein logischer Zusammenhang zwischen Handlungen und mentalen Zuständen derart besteht, daß man Handlungen nur unter Rekurs auf die fraglichen Zustände als Handlungen charakterisieren kann. Aber daraus folgt natürlich nicht, daß mentale Zustände keine Ursachen für Handlungen sein können. Denn wir können jedes beliebige Kausalverhältnis so beschreiben, daß eine logische Beziehung Zwischen den Namen für Ursache und Wirkung besteht, z.B., wenn wir sagen, daß Peter durch ein tödliches Gift starb (vgl. Davidson 1963/1980). Darauf wird manchmal mit dem Hinweis reagiert, daß, anders als bei Gift und Tod, bei Handlung und mentalem Zustand die Beschreibung, die beide logisch miteinander verknüpft, die einzig mögliche ist. Doch das scheint nicht richtig zu sein: Ich kann jedes einzelne Handlungsvorkommnis als einen körperlichen Bewegungsablauf beschreiben, in dem auf keine mentalen Zustände rekurriert werden muß. Femer stellt die Tatsache, daß mentale Zustände für Handlungen nicht nur einen Grund darstellen können, aus dem sie vollzogen wurden, sondern den Grund, ein starkes Indiz dafür dar, daß die fraglichen Zustände Ursachen der Handlungen sind, ganz einfach weil dies die beste Erklärung für diesen wichtigen Unterschied zu sein scheint (vgl. Davidson a.a.O.).
44
Einleitung
bestimmte Aspekte) wären dann kausale Sackgassen.63 Doch diese Auffassung ist nicht ohne Schwierigkeiten: Wenn der Epiphänomenalismus richtig ist, dann schreiben und reden diejenigen, die an die Existenz von Qualia glauben, nicht deswegen von ihnen, weil diese sie dazu kausal veranlaßt haben. Wenn also ein Philosoph ein Buch zur Verteidigung der Existenz von Qualia schreibt, dann ist die Tatsache, daß er Qualia hat, kausal irrelevant dafür, daß er dieses Buch schreiben kann. Selbst wenn man annimmt, daß Qualia unmittelbar nur Einfluß auf andere mentale Zustände haben, also etwa die Tatsache, daß ein bestimmter mentaler Zustand bestimmte phänomenale Qualitäten aufweist, lediglich die Meinung verursacht, daß man eben gerade solch einen Zustand hat, so wird die Meinung doch letztlich wieder für bestimmte Verhaltensweisen kausal verantwortlich zeichnen, etwa eine entsprechende Äußerung in einer Diskussion. Wenn man die Geschlossenheitsthese nicht preisgeben will, kann man dann in einem gewissen Sinn nicht mehr sagen, daß man Qualia verteidigt, weil man sie erlebt.64 Selbstredend muß man auch die oben ins Feld geführten Intuitionen als falsch verwerfen, wonach Leute bestimmte Dinge tun, weil sie Erfahrungen von einem bestimmten phänomenalem Charakter haben.65 So fällt es gleichermaßen schwer, die Interaktionsthese aufzugeben. Selbst wenn wir hier keine letztlich konklusive Begründung für die beiden Thesen, die nach landläufiger Meinung für den Materialismus sprechen, gegeben haben, so dürfte doch wohl einsichtig geworden sein, was ihre Annahme plausibel macht.66
63 64 65 66
Solch ein Vorschlag ist für Qualia gemacht worden von Jackson 1982 sowie von Campbell 2 1984 Kapitel 7. Vgl. auch Gadenne 1997. Dieser Punkt wurde v.a. betont von Armstrong 1983 S.70f. sowie Dennett 1991 S.402f. Vorausgesetzt, das „weil" wird kausal verstanden. Manchmal findet sich in der Literatur auch die Behauptung, daß ein Dualismus, der kausale psychophysische Interaktion zuläßt, schon deshalb inakzeptabel sei, weil er den Energieerhaltungssatz verletzen würde (vgl. Dennett 1991 S.35). Einwirkungen des Geistes auf die physische Welt müßten dieser entweder neue Energie zuführen, bzw. letztere müßte Energie an den Geist abgeben. Dieses Argument macht natürlich die nicht triviale Voraussetzung, daß kausale Interaktion zwangsläufig mit der Übertragung von Energie einhergeht (vgl. Broad 1925 S.1039). Es ist aber keineswegs klar, ob diejenigen Faktoren und Intuitionen, die uns von mentaler Verursachung ausgehen lassen, solch eine Deutung von Kausalität erzwingen. Wie Broad gezeigt hat, gibt es sogar innerhalb der physischen Welt Fälle von kausaler Interaktion, bei denen es zu keiner Übertragung von Energie kommt: Wir können das Gewicht an einem schwingenden Pendel als ein abgeschlossenes System betrachten, in dem im Verlauf seiner Bewegung die Summe der potentiellen und kinetischen Energie konstant ist. Was sich jedoch beständig ändert, ist seine Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit sowie das jeweilige Verhältnis von potentieller und kinetischer Energie. Diese Faktoren sind kausal abhängig von der Kraft des Pendelfadens, die auf das Gewicht einwirkt; schneidet man den Faden ab, ändern sich diese Faktoren offensichtlich. Es kommt hier also zu einer kausalen Einflußnahme ohne Übertragung von Energie (vgl. Broad a.a.O.).
Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus
45
Ein weiterer Gesichtspunkt, der für den Materialismus spricht, besteht darin, daß mögliche Alternativen so schwer faßbar sind, wenn man versucht, sie etwas näher zu konkretisieren. Die plausibelste Alternative scheint ein Eigenschaftsdualismus zu sein. Doch was hat man sich darunter eigentlich näher vorzustellen? Mentale Zustände könnten dann als etwas Physisches verstanden werden, das auch noch nichtphysische Eigenschaften besitzt. Was heißt das aber genauer? Etwa, daß ein Gehirnzustand oder ein funktionaler Zustand zusätzlich noch ein Quale „besitzt" oder „hat"? Physische Zustände besitzen eine eindeutige Lokalisierung im Raum, wie sollen wir ihnen aber nichtphysische Eigenschaften zuordnen, von denen alles andere als klar ist, ob ihnen ein Ort im physischen Raum zuzuordnen ist? Zu sagen, sie seien dort, wo sich die betroffene Person bzw. ihr Körper befindet, ist sicherlich eine zu grobe Angabe, weil man zwischen verschiedenen Zuständen einer Person mit verschiedenen Qualia zur selben Zeit unterscheiden wollen wird. Jemand kann gleichzeitig etwas hören, sehen usw. Es ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, daß sich auf diese Fragen vernünftige Antworten finden lassen, aber zunächst einmal dürfte es ein zusätzliches Motiv für den Materialismus bilden, daß man sich jeden Versuch einer solchen Antwort sparen kann. Wenn nun der Materialismus einigermaßen wohlmotiviert ist, wie kann er auf die oben erwähnten Gedankenexperimente reagieren, die alle darauf hinauslaufen, daß das Netz seiner Begriffe zu grob ist, das phänomenale Bewußtsein einzufangen?
4.2.2
Die möglichen Reaktionen des Materialismus auf die Einwände
Wie diese Reaktionen im einzelnen ausfallen, wird uns im Verlauf der Arbeit noch näher beschäftigen. Wieder soll es nur um ein paar ganz grobe Hinweise gehen. Grundsätzlich scheinen sich hier zwei Möglichkeiten zu ergeben, die eliminative und die rekonstruktive Strategie: Gemäß der elimirmtiven Strategie kann man versuchen zu leugnen, daß es irgendwie ist, in bestimmten mentalen Zuständen zu sein, und daß dies mit einer subjektiven Perspektive einhergeht. Oder zumindest kann man versuchen, zentrale Annahmen in diesem Zusammenhang zu leugnen, etwa daß mentale Zustände Episoden sind, von denen derjenige, der sie hat, wissen kann oder man kann leugnen, daß es so etwas wie Qualia gibt. Die genannten Gedankenexperimente wie auch der Verweis auf die explanatorische Lücke würden dann letztlich nur Pseudoprobleme darstellen. Wenn man nach einem griffigen Etikett für Positionen sucht, die dieser Strategie in der einen oder anderen Weise folgen, kann man hier von eliminativen Strategien des Materialismus sprechen. Darunter fallen zum
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Einleitung
einen Positionen, die unter dem Namen „eliminativer Materialismus" bekannt geworden sind, aber auch solche, deren begriffliches Inventar es gar nicht erlaubt, von einer subjektiven Perspektive usw. zu sprechen, wie der logische Behaviorismus. Der eliminative Materialismus kann dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen: Er kann einmal die Gestalt einer Prognose annehmen, wonach er prophezeit, daß das fragliche mentale Vokabular, welches zur Formulierung der Problemfalle für den Materialismus nötig ist, mit zunehmendem wissenschaftlichen Fortschritt an Bedeutung verlieren wird. Geradeso, wie wir heute keinen Bedarf mehr für die Terme „Nymphe" oder „Phlogiston" haben, weil wir keinen Bedarf mehr haben für animistische Erklärungen von Naturphänomenen (wonach sich das biologische Verhalten eines Baumes dadurch erklärt, daß eine Nymphe in ihm haust), oder für die Phlogistontheorie (wonach etwas genau dann korrodiert oder verbrennt, wenn „Phlogiston" aus ihm entweicht), geradeso wird unser Bedarf für die entsprechende mentale Begrifflichkeit mit dem zunehmenden Erfolg naturwissenschaftlicher Erklärungen des Geistes schwinden. Heute glaubt kein Mensch mehr daran, daß Nymphen oder Phlogiston überhaupt existieren, genauso werden wir eines Tages nicht mehr glauben, daß es mentale Zustände, Qualia, Bewußtsein und dergleichen gibt.67 Diese Auffassung setzt natürlich voraus, daß man unser mentales Vokabular in Analogie zu Begriffen wie „Phlogiston" als ein theoretisches Vokabular verstehen kann, dessen Rolle sich in einer bestimmten theoretischen Erklärungsleistung erschöpft. Das scheint zu beinhalten, daß wir uns eben nicht, wie oben suggeriert, auf unser bewußtes Erleben als einen episodischen Prozeß mit diversen qualitativen Eigenschaften beziehen können, die uns im eigenen Fall unmittelbar empirisch zugänglich sind. Der eliminative Materialismus muß sich aber nicht unbedingt auf mehr oder weniger riskante Prognosen über den wissenschaftlichen Fortschritt einlassen, er kann auch versuchen, durch bloßes Nachdenken zu zeigen, daß die problematischen Begriffe besser aufgegeben werden sollten, weil sie uns letztlich zu unsinnigen Fragestellungen oder bloßen Scheinalternativen führen.68 Solche Strategien sind natürlich generell mit
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68
Solch eine Auffassung ist v.a. von Patricia und Paul Churchland, allerdings in erster Linie im Blick auf die sogenannten propositionalen Einstellungen, vertreten worden (vgl. Patricia Churchland 1986, Paul Churchland 1981/89a), 3 1984 S.43-49). Für eine eliminative Position speziell im Blick auf Bewußtsein vgl. Patricia Churchland 1988 sowie Paul Churchland 3 1984 S.144f. Für eine zurückhaltendere Einschätzung vgl. Patricia Churchland 1995. Ein anderer wichtiger Vertreter des Eliminativismus ist Rorty in seinen früheren Arbeiten (vgl. Rorty 1965, 1970 sowie 1979). Vgl. auch Feyerabend 1963. So kann man die Strategie von Dennett umreißen. Für Qualia führt er sie durch in 1988/90, für ein bestimmtes Verständnis von Bewußtsein in 1991 Kap. 5.
Mögliche Gegenreaktionen des Materialismus
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der Auffassung kompatibel, daß phänomenales Bewußtsein mit einer subjektiven Perspektive bzw. Qualia ein Problem für den Materialismus darstellen würden, wenn es sie denn gäbe oder sich mit ihnen Sinn machen ließe. Insofern können sich die Vertreter dieser Strategien mit den Kritikern des Materialismus über den Status der entsprechenden Begriffe durchaus einig wissen. Der Materialismus kann das phänomenale Bewußtsein und die subjektive Perspektive allerdings auch als Phänomene betrachten, die einer positiven Erklärung bedürfen. Man wird dann versuchen wollen, sie in einem materialistischen Rahmen zu rekonstruieren. Statt von einer eliminativen kann man hier also von einer rekonstruktiven Strategie sprechen. Die Verfechter dieser Strategie werden den Fehler der Kritiker des Materialismus nicht darin sehen, daß sie überhaupt von der Existenz von phänomenalem Bewußtsein und Qualia ausgehen, sondern sie werden vielmehr bestreiten wollen, daß die Existenz dieser Phänomene dem Materialismus gefahrlich werden kann. Im Prinzip scheinen hier zwei weitere grundlegende Herangehensweisen denkbar: Man akzeptiert die Art und Weise, wie die Kritiker des Materialismus dessen Ressourcen charakterisieren, und bestreitet lediglich, daß sich die genannten Phänomene nicht innerhalb dieses Rahmens rekonstruieren lassen oder man bestreitet schon, daß die Ressourcen des Materialismus überhaupt angemessen dargestellt worden sind. Natürlich sind auch Kombinationen dieser beiden Strategien denkbar. Generell muß man sich bei solchen Unterscheidungen immer vor Augen halten, daß man mit ihrer Hilfe zwar eine logische Geographie des Problemfeldes erstellen kann, aber natürlich keine Gewähr besteht, daß sich irgendeine der tatsächlich vertretenen Auffassungen exakt in solch ein Schema pressen läßt. Sogar die eliminative und die rekonstruktive Strategie lassen sich miteinander verknüpfen: Man rekonstruiert einfach einen Teilbereich der fraglichen Phänomene, bietet dafür eine materialistische Erklärung an und wendet auf den verbliebenen Rest eine eliminative Strategie an. Ergeben sich also schon ganz grundsätzlich unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten für den Materialismus, so wird er natürlich auch konkret auf die einzelnen Einwände wie die Möglichkeit der Spektruminversion, die Zombies und das Wissensargument reagieren wollen. Auch hier ergeben sich vielfältige Möglichkeiten. Ein Materialist kann z.B. mit Blick auf das Wissensargument versuchen zu bestreiten, daß Mary überhaupt ein neues Faktenwissen gewonnen hat, oder er kann versuchen geltend zu machen, daß sie lediglich ein Faktum, welches sie aus materialistischer Perspektive bereits kennt, in einer neuen Weise kennenlernt. Was die Spektruminversion und den Zombie betrifft, so
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Einleitung
kann er versuchen, diese auch entgegen anders lautender Intuitionen für logisch unmöglich zu erklären. Dieses Vorgehen bietet sich insbesondere an, wenn man einer eher eliminativen Strategie folgt. Aber auch eher rekonstruktiv eingestellte Autoren haben insbesondere hinsichtlich der logischen Möglichkeit eines Zombies gravierende Probleme gesehen: Wenn Zombies logisch möglich sind, steuern wir dann nicht geradewegs auf einen Skeptizismus im Blick auf das bewußte Leben anderer zu, da wir diese von einem Zombie gar nicht unterscheiden können? Doch bringt dies nicht unmittelbar ein Spannungsverhältnis zu der oben aufgestellten Behauptung mit sich, daß wir die subjektive Perspektive häufig gerade deshalb zum Einsatz bringen, um andere besser zu verstehen, d.h. eine wichtige Rolle der subjektiven Perspektive sich nur dann zeigen kann, wenn wir keine Skeptiker sind? Und wenn wir einem Zombie dieselben Überzeugungen zubilligen wollen wie uns selbst, wie sind dann seine Überzeugungen zu bewerten, die von seinem bewußten Leben handeln? Wenn solch eine Überzeugung von einem Zustand ohne Qualia hervorgerufen werden kann, der funktional identisch ist mit einem Zustand, der Qualia besitzt, könnten dann nicht auch unsere entsprechenden Überzeugungen von einem solchen Zustand ohne Qualia hervorgerufen werden? Wirft dies nicht unweigerlich die Frage auf, welche Gewähr wir eigentlich noch im eigenen Fall dafür besitzen, daß wir keine Zombies sind?69 Aber selbst wenn man die logische Möglichkeit des Zombies akzeptiert, muß man als Materialist noch nicht klein beigeben. Man wird dann v.a. versuchen wollen, diesen Gesichtspunkt zu marginalisieren, indem man etwa eine andere Modalität zur Stützung der fraglichen Realisierungsbehauptungen in den Vordergrund rückt. In diesem Zusammenhang ist häufig, ebenfalls unter Berufung auf Vorstellungen von Kripke, von „metaphysischer Notwendigkeit" gesprochen worden. Damit allein läßt sich freilich noch nicht die explanatorische Lücke schließen. Dazu muß der Materialist eine geeignete rekonstruktive Strategie entwickeln. Er kann aber auch versuchen, mittels einer eliminativen Strategie plausibel zu machen, daß man die Lücke getrost offenlassen kann, weil sie kaum mehr Interesse verdient als die Lücke, die sich zwischen einer biologischen Erklärung der Prozesse in unserer Flora und einer mythologischen Erzählung über Nymphen auftut. Eine dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, das Gewicht, welches der explanatorischen Lücke beigemessen wird, herunterzuspielen. Mag die Schließung solch einer Lücke ein Verfahren sein, um Identitäts- oder Realisierungsbehauptungen zu decken, so ist
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Vgl. Shoemaker 1975/84 S.190.
Ein kurzer Überblick über die folgenden Kapitel
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es vielleicht nicht das einzige, geschweige denn das einzig gebotene Verfahren. Dem Materialismus bieten sich hier also eine ganze Reihe unterschiedlicher Reaktionsmöglichkeiten, die allerdings, wie man sich denken kann, von den Kritikern des Materialismus kaum hingenommen werden dürften. Stellt man zusätzlich noch die Uneinigkeit im materialistischen Lager wie dem seiner Kritiker in Rechnung, welche Position denn nun die richtige sei (eine Spielart des Funktionalismus, eine neurophysiologische Erklärung, der Dualismus, der Expansionismus usw.), wird deutlich, daß wir es hier mit einer ziemlich komplexen Debatte zu tun haben, bei der man leicht den Überblick verlieren kann. Entsprechend hat sich zu diesen Fragen eine schon lange nicht mehr überschaubare Literatur angesammelt, die sich mitunter durch eine Liebe zum Detail auszeichnet, hinter der die ursprünglich interessierende Ausgangsproblematik zu verschwinden droht. Man muß hier also zwangsläufig eine Auswahl treffen, die ebenso zwangsläufig zu gewissen Einseitigkeiten führen wird. Welche Gestalt der hier vorliegende Versuch solch einer Auswahl annehmen soll, wird im nächsten und zugleich letzten Abschnitt dieser Einleitung zur Sprache kommen.
5.
Ein kurzer Überblick über die folgenden Kapitel
Auch wenn die Diskussion um Zombies, invertierte Spektra und Mary die Debatten in weiten Teilen bestimmt hat, gibt es gute Gründe, auf eine Erörterung dieser Beispiele zu verzichten. Erstens dürfte in den letzten Jahren zu diesen Beispielen schon so gut wie alles gesagt worden sein, ohne daß dies zu einer Aufweichung der verhärteten Fronten geführt hätte. Zweitens hat es in den letzten Jahren einige konkretere Versuche von materialistischer Seite gegeben, eine positive Konzeption von Bewußtsein zu entwickeln. Daher sollen v.a. einige dieser Vorschläge inklusive ihrer Voraussetzungen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Zunächst müssen jedoch ein paar grundlegende Fragen geklärt werden, die hinter einigen der Formulierungen und Begriffe lauern, welche hier zur Charakterisierung des phänomenalen Bewußtseins verwendet wurden. Nach ein paar groben Erläuterungen zu den zentralen Begriffen des mentalen Zustande und des Gehalts dieser Zustände, wird es in den ersten beiden Kapiteln darum gehen, den Begriff der Qualia sowie den spezifischen Sinn von Bewußtsein, der mit der Rede von einem „phänomenalen Bewußtsein" angesprochen wird, etwas genauer zu erläutern. Beide Kapitel werfen auch einen flüchtigen Blick
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Einleitung
in die Philosophiegeschichte; im Zusammenhang mit dem Qualiabegriff lohnt es sich, kurz auf die traditionelle Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten einzugehen, und mit Blick auf den Begriff des phänomenalen Bewußtseins mag es hilfreich sein, wenigstens eine Abgrenzung zu einigen anderen, aus der Tradition geläufigen Bewußtseinsbegriffen vorzunehmen. Angesprochen werden soll auch die stillschweigend gemachte Voraussetzung, wir hätten über die subjektive Perspektive einen spezifischen empirischen Zugang zum qualitativen Charakter unserer Erlebnisse. Ziel dieser beiden Kapitel ist nicht, Argumente für die Existenz von Qualia und phänomenalem Bewußtsein zu liefern, sondern nur, etwas genauer anzugeben, was hier darunter verstanden werden soll, einige grundsätzliche Bedenken aus dem Weg zu räumen sowie Fragestellungen für spätere Kapitel zu formulieren. Die folgenden fünf Kapitel beschäftigen sich mit unterschiedlichen materialistischen Positionen zum Bewußtsein. Was die konkreten Vorschläge des Materialismus betrifft, so lassen sich im wesentlichen vier Varianten unterscheiden, von denen allerdings nur die ersten drei eingehender diskutiert werden sollen.70 Die erste Variante versteht Bewußtsein generell als eine spezifische Art und Weise, in der ein kognitives System seine eigenen mentalen Zustände kennen kann. Die zweite Variante versucht Bewußtseinszustände als Zustände zu charakterisieren, die einen zu einer bestimmten Sorte von klassifikatorischem Verhalten befähigen. Konzeptionen dieser Art gehören alle mehr oder weniger dem funktionalistischen Lager an. Die dritte Variante besteht im sogenannten Repräsentationalismus, wonach phänomenal bewußte Zustände als eine spezifische Art von Repräsentationen unserer Umwelt zu verstehen sind, deren Charakter und Inhalt auch nur unter Berücksichtigimg dieser Beziehung zur Umwelt verständlich wird. Die vierte Variante legt das Schwergewicht auf Vorgänge im Gehirn. Aus zwei Gründen wird diese Position in dieser Arbeit nur am Rande eine Rolle spielen. Erstens mußte eine gewisse Auswahl getroffen werden, um die Arbeit einigermaßen überschaubar zu halten. Zweitens haben solche Positionen häufig eher programmatischen Charakter und sind selten so detailliert ausgeführt worden, wie dies bei den anderen drei Varianten der Fall ist. Dies liegt natürlich z.T. daran, daß die relevanten neurowissenschaftlichen Entdeckungen noch relativ neu und z.T. auch umstritten sind. Am wichtigsten sind hier vermutlich die neueren Arbeiten der Churchlands.71
70 71
Bis auf die erste Variante sind sie alle schon kurz im Abschnitt 2.1 angesprochen worden. Für eine der letzten Stellungnahmen vgl. Paul Churchland 1995. Diese Arbeit ist weit weniger eliminativistisch als die früheren Arbeiten der Churchlands und kann im Blick auf das phänomenale Bewußtsein als eine rekonstruktive Strategie angesehen werden.
Ein kurzer Überblick über die folgenden Kapitel
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Im dritten Kapitel soll die erste Variante kritisch untersucht werden. Auch wenn diese Position an einige traditionelle Intuitionen über Bewußtsein anknüpft und vielleicht einen bestimmten Sinn von Bewußtsein explizit erfassen kann, scheint sie zur Erläuterung des phänomenalen Bewußtseins nicht geeignet zu sein. Im vierten Kapitel sollen die Voraussetzungen der zweiten Variante eine zentrale Rolle spielen. Dabei wird die Frage im Mittelpunkt stehen, ob sich Wahrnehmungen befriedigend als Zustände analysieren lassen, die einem zu einem bestimmten klassifikatorischen Verhalten befähigen. Die Ergebnisse dieser Diskussion werden z.T. auch die Grundlage für spätere Erörterungen bilden. Im Anschluß daran soll im fünften Kapitel die von Block geprägte Unterscheidung zwischen phänomenalem und Zugriffsbewußtsein verteidigt werden. Der Versuch, phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein zu verstehen, kann als eine besonders raffinierte Variante der These begriffen werden, daß Wahrnehmungen und Empfindungen nur insofern phänomenal bewußt sind, als sie einen spezifischen Beitrag zu unserem klassifikatorischen Verhalten leisten. Die Kritik an dieser Gleichsetzung führt auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Position von Dennett, wonach eine bestimmte Form von Zugriffsbewußtsein die einzig sinnvolle Konzeption von Bewußtsein erlauben soll. Im sechsten und siebten Kapitel werden die repräsentationalistischen Theorien von Tye und Dretske, die dritte Variante von Materialismus, diskutiert. Zunächst wird es ganz allgemein um ihren Repräsentationsbegriff gehen, dann um ihren Versuch, bewußtes Erleben als einen bestimmten Typ von Repräsentation zu erläutern. In diesem Zusammenhang soll auch ein Blick auf die Empfindungen geworfen werden. Obwohl der Repräsentationalismus einige Schwierigkeiten vermeiden kann, denen sich die stärker verhaltensorientierten Theorien gegenüber sehen, ergeben sich für ihn zahlreiche gravierende Probleme, von denen die explanatorische Lücke nur eines ist. Die folgenden beiden Kapitel haben keine materialistischen Theorien zum Gegenstand, sondern setzen sich vielmehr mit einigen der grundsätzlichen Kritiken auseinander, die neuerdings gegen den Materialismus vorgebracht worden sind. Im achten Kapitel wird Levines Argumentation für die explanatorische Lücke näher erörtert und gegen Einwände verteidigt. Im neunten Kapitel wird der Versuch von Chalmers, aus dem Bestehen dieser Lücke für den Eigenschaftsdualismus Kapital zu schlagen, kritisch untersucht. Dabei wird sich zeigen, daß es ihm nicht gelingt, ein wirklich zwingendes Argument
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Einleitung
für den Dualismus zu präsentieren. Im Ergebnis bedeutet dies, daß eine materialistische Position möglich scheint, diese aber wegen der explanatorischen Lücke äußerst unbefriedigend bleibt. Es bleibt dann nur noch zu fragen, ob der Materialismus nicht wenigstens auf Grund der Konjunktion von Geschlossenheits- und Interaktionsthese wahr sein muß. Dies ist Gegenstand des zehnten und letzten Kapitels. Hier wird der Frage nachgegangen, ob phänomenales Bewußtsein epiphänomenal sein kann oder nicht. Dabei wird geltend gemacht, daß die üblichen Argumente gegen den Epiphänomenalismus zumindest im Hinblick auf das phänomenale Erleben nicht wirklich zwingend sind.
1
Qualia
Was bisher zu Qualia gesagt wurde, beruhte weitgehend auf dem Appell an Intuitionen. Zentral war dabei die Vorstellung, daß bestimmte mentale Zustände sich durch phänomenale Qualitäten oder Qualia unterscheiden. In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, den Begriff der Qualia etwas schärfer zu konturieren. Am Ende dieses Kapitels wird keineswegs klar sein, ob es Qualia wirklich gibt. Es wird nur etwas mehr Klarheit über die Motive herrschen, die für ihre Annahme sprechen. Daraus werden sich im Anschluß weitere Fragestellungen für spätere Kapitel ergeben, von deren Beantwortung es letztlich abhängt, inwiefern man sinnvoll von Qualia sprechen kann oder nicht. Zuvor ist es allerdings nützlich, kurz einen anderen Begriff ins Visier zu nehmen, der in unserer intuitiven Skizze von zentraler Bedeutung gewesen ist, nämlich den Begriff des mentalen Zustande. Bei der Diskussion solch grundlegender Begriffe stößt man in der Philosophie schnell auf weitere Fragen. Solche Fragen sollen hier aber weitgehend ignoriert werden. Es geht erst einmal nur darum, von einigen zentralen Begriffen, die für die folgende Diskussion eine Rolle spielen, ein holzschnittartiges Bild zu vermitteln.
1.1
Mentale Zustände
Wenn man von einer Sache sagt, sie sei in einem bestimmten Zustand, so meint damit u.a., daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt eine oder mehrere Eigenschaften besitzt. Wenn meine Hand jetzt eine bestimmte Temperatur besitzt, dann ist dies ein Zustand, in dem sich meine Hand befindet. Wenn wir von einer Volkswirtschaft sagen, sie sei in einem miserablen Zustand, dann meinen wir damit in der Regel eine ganze Reihe von Eigenschaften: hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Produktivität, Überschuldung usw. Zustände sind etwas Episodisches, sie haben eine bestimmte Dauer. Man kann Angaben darüber machen, seit wann oder wie lange meine Hand eine bestimmte Temperatur hatte, oder wie lange eine Volkswirtschaft in einem miserablen Zustand war. Zumindest was die Temperatur der Hand betrifft, würden wir ferner
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Qualia
sagen, daß sie zu jedem Zeitpunkt während der fraglichen Episode die fragliche Eigenschaft besitzt. Für den Zustand der Volkswirtschaft mag dies weniger klar sein: Hier kann man durchaus sagen, daß sie seit zehn Jahren in einem schlechten Zustand ist, ohne daß zu jedem Zeitpunkt hohe Arbeitslosigkeit usw. geherrscht haben müßte. Aber immerhin wird man verlangen wollen, daß diese Phänomene während des fraglichen Zeitraums dominieren. Manchmal werden Zustände in diesem Sinne mit Prozessen kontrastiert.72 Prozesse sind ebenfalls datierbare Episoden. Für sie gilt allerdings nicht, daß jeder (oder auch nur ein Großteil) ihrer Bestandteile dieselbe Eigenschaft wie der Prozeß selbst besitzt. Ein typisches Beispiel für Prozesse sind Handlungen: Wenn jemand ein Bild aufhängt, dann besteht diese Handlung aus Teilen, die alle als Schritte zum Vollzug dieser Handlung verstanden werden können, aber selbst natürlich nicht als Handlung des Bildaufhängens bezeichnet werden können. Wenn in der einschlägigen Literatur von mentalen Zuständen die Rede ist, spielt diese Unterscheidung freilich meist keine große Rolle, und auch in der vorliegenden Arbeit kommt es auf diesen Unterschied nicht weiter an. Als mentale Zustände werden in der Regel Wahrnehmungen, Empfindungen, Wünsche, Meinungen, Stimmungen und Gedanken bezeichnet. Zumindest bei einigen dieser Beispiele scheint relativ klar, daß wir hier jeweils von Datierungen reden können, etwa wann oder wie lange jemand an etwas gedacht hat, etwas gesehen hat usw. Bei Empfindungen und Wahrnehmungen können wir auch sagen, sie seien Zustände in dem Sinn, den manche von Prozessen unterscheiden wollen würden: wenn ich den ganzen Vormittag Kopfschmerzen habe, dann habe ich auch zwischen zehn und halb elf Kopfschmerzen, und wenn ich von acht bis elf fernsehe, dann sehe ich auch von acht bis neun fern. Zumindest bei einigen Gedanken möchte man dagegen vielleicht eher von Prozessen sprechen: Wenn jemand im Kopf rechnet, dann handelt es sich dabei um einen Prozeß dessen einzelne Bestandteile (z.B. der Gedanke an eine bestimmte Zahl) selber kein Rechnen darstellen. Aber diese feinen Unterschiede sind hier, wie gesagt, nicht weiter von Bedeutung, da es in dieser Arbeit nicht um Gedanken, sondern um Wahrnehmungs- und Empfindungsbewußtsein gehen soll.73 In beiden Fällen kann man jedoch offenkundig davon sprechen,
72 73
Vgl. Armstrong 21993 S.130f. Für viele mentale Zustände gilt, daß man zu einem bestimmten Zeitpunkt nur in einem einzigen Zustand dieser Art sein kann: Wenn man gerade angestrengt über das Qualiaproblem nachdenkt, dann kann man nicht gleichzeitig darüber nachdenken, ob Wagner bessere Opern komponiert hat als Verdi. Ich kann zwar zur gleichen Zeit Unterschiedliches sehen und hören, kann aber nicht beliebig viele Dinge aufmerksam beobachten, jemandem aufmerksam zuhören, wenn ich gleichzeitig an etwas anderes denke usw. Es handelt sich dabei offenkundig nicht um
Mentale Zustände
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daß jemand, der diese Zustände hat, in eine geistige Aktivität verwickelt ist, die sich mehr oder weniger klar datieren läßt. Die Rede von mentalen Zuständen scheint insofern relativ harmlos, als sie mit den unterschiedlichsten Positionen in der Philosophie des Geistes verträglich ist: Als Dualist wird man sagen wollen, es handle sich um Zustände, die nicht physischer Natur sind, als Funktionalist wird man sagen wollen, die Identität der Zustände hänge an ihrer funktionalen Rolle, als Identitätstheoretiker wird man von Zuständen des Gehirns reden wollen, oder man wird schließlich wie einige logische Behavioristen behaupten wollen, unser mentales Vokabular lasse sich in ein Vokabular über die aktuellen Verhaltensweisen eines Lebewesens übersetzen, z.B. in Aussagen über Körperbewegungen oder Geräusche.74 Bewegungen oder Geräusche eines Körpers sind natürlich klar datierbar und können insofern als Zustände des fraglichen Körpers angesehen werden. Kann man also die These, unser mentales Vokabular beziehe sich auf entsprechende Zustände, zur allgemeinen, von allen Parteien geteilten Diskussionsgrundlage machen? Wie in der Philosophie so gut wie nie ein Vorschlag unbestritten geblieben ist, so auch hier. Vor allem Ryle hat den Versuch unternommen, solch eine Deutung zu umgehen. Nach Ryle schreiben wir mit unserem mentalen Vokabular nicht einfach bestimmte beobachtbare Zustände zu, sondern vielmehr bestimmte Dispositionen. Mentale Prädikate sind nach Ryle Dispositionsprädikate. Was versteht Ryle unter Dispositionen?75 Typische Beispiele für Dispositionen sind Eigenschaften wie Wasserlöslichkeit oder Zerbrechlichkeit. Wenn man sagt, Zucker sei wasserlöslich, so meint man damit, daß er sich unter bestimmten Bedingungen auflöst, nämlich wenn man ihn in Wasser gibt, und wenn man sagt, Glas sei zerbrechlich, so sagt man damit, daß Glas unter bestimmten Bedingungen, etwa unter einem bestimmten Aufwand an Kraft, zerbricht. Generell läßt sich der Gehalt einer Aussage der Form, „x hat die Disposition D" in Form eines kontrafaktischen Konditionalsatzes folgender Form wiedergeben: „Immer wenn B, dann ist χ Μ", wobei Β bestimmte Bedingungen wie etwa den Kraftaufwand kennzeichnet, χ den fraglichen Gegenstand, und Μ die Manifestierung der Disposition, etwa das Ereignis des Zerbrechens. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Zuschreibung einer dispositionellen Eigenschaft die Zuschreibung einer Tendenz beinhaltet, nämlich der Tendenz, die
74 75
einen begrifflichen Gesichtspunkt, sondern lediglich um empirische Grenzen unserer Leistungsfähigkeit. Dies entspricht dem Programm von Carnap in 1931 u. 1932-33 und Hempel in 1935/80. Die folgenden Absätze fassen Ryles einschlägige Hauptthesen aus Kapitel 2, §§4 u. 7 sowie Kapitel S, §2 aus Ryle 1949 zusammen.
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Qualia
fraglichen Manifestationen unter geeigneten Bedingungen an den Tag zu legen. Damit schreibt man dem Gegenstand etwas zu, was sich nicht unmittelbar zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachten läßt. Unmittelbar beobachten läßt sich, daß sich ein Zuckerwürfel in Wasser auflöst, aber der generelle Aspekt dieser Aussage, daß er dies unter bestimmten Bedingungen immer tut, natürlich nicht. Und daß er sich so verhalten wird, gilt von ihm natürlich auch dann, wenn er in der trockenen Zuckerdose liegt. Vielmehr sagt man von ihm aus, was sich unter bestimmten Bedingungen von ihm beobachten läßt, man macht bestimmte Voraussagen, ganz so, wie wenn man eine Gesetzmäßigkeit konstatiert. Im Blick auf mentale Zustände führt dies zu folgendem Ergebnis: Wenn sich zeigen läßt, daß mentale Prädikate in Wahrheit Dispositionsprädikate sind, dann beziehen sich diese Prädikate gar nicht unmittelbar auf einzelne beobachtbare Episoden, sondern die fraglichen Aussagen, die diese Prädikate enthalten, haben vielmehr einen hypothetischen Charakter: To possess a dispositional property is not to be in a particular state, or to undergo a particular change; it is to be bound or liable to be in a particular state, or to undergo a particular change, when a particular condition is realised. (Ryle 1949, S.43)
Nun verweist aber jedes Dispositionsprädikat mittelbar auf bestimmte episodische Ereignisse. Von einem Stück Zucker zu sagen, es sei wasserlöslich, verweist darauf, daß es sich unter bestimmten Bedingungen tatsächlich auflöst. Letzteres ist natürlich ein bestimmtes episodisches Ereignis. Sollte dasselbe für mentale Prädikate gelten, wäre der einzige Vorteil von Ryles Analyse, daß man gegebenenfalls von jemandem sagen kann, er sei von etwas Bestimmtem überzeugt (etwa, daß 2+2=4), obwohl es gerade kein Anzeichen dafür gibt, etwa weil er schläft, aber es wäre immer noch denkbar, daß das Dispositionsprädikat „überzeugt sein" nur dann Anwendung finden kann, wenn es einzelne episodische Ereignisse des Habens von Überzeugungen gibt, die sich von Zeit zu Zeit unter bestimmten Bedingungen einstellen, gerade so, wie sich der Zuckerwürfel unter bestimmten Bedingungen tatsächlich auflösen muß, wenn er wasserlöslich sein soll. In diesem Zusammenhang führt Ryle eine Unterscheidung von zentraler Bedeutung ein: Zwar ist eine Dispositionsaussage nur dann wahr, wenn sich unter bestimmten Bedingungen bestimmte Vorgänge abspielen, z.B. daß sich ein Stück Zucker tatsächlich in einem Glas Wasser auflöst. Dabei handelt es sich um einen ganz spezifischen Typ von episodischem Ereignis. Was für ein Typ dies ist, können wir dem Dispositionsprädikat direkt ablesen (andere Bei-
Mentale Zustände
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spiele wären „Rauchen" und „Raucher sein", „Wiederkäuen" und „Wiederkäuer sein"). Nun gibt es aber noch einen anderen Typ von Dispositionsaussagen, bei dem sich dies nicht so verhält: Sagt man von einem Gegenstand etwa, er sei elastisch, so meinen wir damit, daß ganz unterschiedliche episodische Ereignisse diese Aussage wahr machen können, z.B. daß der Gegenstand auf Druck nachgibt, oder daß er sich wieder ausdehnt, wenn man den Druck aufhebt, daß er sich nach einer Dehnung wieder zusammenzieht usw. Anders als beim Rauchen oder der Wasserlöslichkeit gibt es hier keinen einzelnen episodischen Ablauf der „Elastizität", der die Dispositionsaussage wahr macht, sondern eine ganze Reihe völlig unterschiedlicher Abläufe. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „mehrspurigen" Dispositionen. Nach Ryle sollen Ausdrücke für mentale Zustände wie „Wissen" und „Glauben" eindeutig in die zweite Gruppe fallen. Daraus ergibt sich, daß es keinen einzelnen Vorgang gibt, den man als „Glauben" oder als „Wissen" bezeichnen könnte. Vielmehr gibt es eine Reihe von ganz unterschiedlichen Vorgängen, deren Gegebensein unter bestimmten Bedingungen gewährleistet, daß das entsprechende Prädikat zutrifft. Zu wissen oder zu glauben, daß 2 + 2 = 4 , kann sich in unserem Verhalten in den unterschiedlichsten Handlungen, sprachlichen Äußerungen usw. manifestieren: Man vermag bestimmte Antworten zu geben, man kann Häufchen von je zwei oder vier Dingen in entsprechender Form sortieren usw. Ryle spricht hier sogar von einer unbegrenzten Vielfalt von Verwirklichungen für Dispositionen dieser Art.76 Die philosophische Tradition hat nach Ryles Diagnose zwar richtig gesehen, daß es hier keine einheitliche Verhaltensweise gibt, sie hat daraus aber letztlich die falsche Konsequenz gezogen, daß es einen einheitlichen Vorgang geben muß, der die Überzeugung oder das Wissen darstellt, der sich im Geist einer Person, oder mit Ryles Worten „inside the agent's secret grotto" abspielen soll.77 Neben der Tendenz, Dispositionen als episodische Ereignisse mißzuverstehen, sieht er in der Zuordnung eines spezifischen episodischen Ereignistyps zu einer Disposition einen der Hauptfehler, die dazu verleiten können, bestimmte mentale Ausdrücke als Ausdrücke für innere Zustände (im Sinn von: im Geist befindlich) zu verstehen.
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Vgl. Ryle 1949, S.44. Damit stellt sich für ihn, anders als für Hempel u. Carnap, nicht die Aufgabe, einen bestimmten Verhaltens^/; für mentale Zustände ausfindig machen zu müssen, schneidet damit aber natürlich auch den Weg über Verhaltenstypen zu Typen von physikalischen Vorgängen im Körper ab, der für Carnaps und Hempels Physikalismus von zentraler Bedeutung ist. Ryle 1949 S.119 sowie S.318.
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Qualia Aber handelt es sich hier überhaupt um einen Fehler? Zumindest was
Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken betrifft, scheint diese These nicht leicht zu schlucken. Vielleicht kann man sagen, daß diese Zustände bestimmte Effekte mit sich bringen, so daß die Behauptung, daß jemand etwas Bestimmtes wahrgenommen hat, u.a. auch implizieren mag, daß er unter bestimmten Bedingungen bestimmte Dinge tun kann. Daß wir es hier aber auch mit bestimmten Zuständen oder Ereignissen zu tun haben, läßt sich kaum bestreiten: Man beobachtet etwas eine Zeitlang, es fallt einem plötzlich etwas ein, ein Schmerz läßt langsam nach usw. 78 Selbst wenn man die dispositionale Analyse für einige mentale Prädikate akzeptiert, so folgt daraus allein natürlich noch nicht, daß diese, wie Ryle es will, ausschließlich und allein VerAa/tenidispositionen bezeichnen. Der Begriff der mehrspurigen Disposition ist im Prinzip dafür offen, daß einige der Episoden, die als Verwirklichung der fraglichen Disposition gelten, innere mentale Zustände sind. Es wäre z.B. denkbar, daß „Meinen" eine Disposition bezeichnet, die sich nicht nur dadurch auszeichnet, daß man gelegentlich bestimmte Dinge tut, sondern auch dadurch, daß man gelegentlich bestimmte episodische Gedanken hat. 79 78
79
Obwohl Ryle dem Thema Wahrnehmung und Empfindung ein recht umfangreiches Kapitel gewidmet hat, versucht er sich dort bemerkenswerterweise gar nicht an der Durchführung einer dispositionalen Analyse, sondern konzentriert sich vor allem darauf, bestimmte traditionelle Auffassungen wie etwa die Sinnesdatentheorie zu kritisieren. Einmal spricht er sogar selbst ganz explizit von „perceptual episodes" (vgl. Ryle 1949 S.213). Seine Ausführungen scheinen hier durch eine gewisse Unentschiedenheit gekennzeichnet, und er hat aus seiner Unzufriedenheit mit seinen eigenen Erörterungen keinen Hehl gemacht (vgl. Ryle 1949 S.200, 240ff.). Darüber hinaus kann man sich sogar fragen, ob der Gegensatz zwischen Dispositionen und Zuständen überhaupt so scharf zu ziehen ist, wie es die Analyse von Ryle nahelegt. Gegebenenfalls lassen sich nämlich Dispositionen mit bestimmten Zuständen identifizieren. Man hat in diesem Zusammenhang von einer „realistischen" Auffassung von Dispositionen gesprochen, die mit der „phänomenalistischen" Auffassung von Ryle zu kontrastieren ist (für solch eine Auffassung vgl. v.a. Armstrong 21993 S.85-88, 1981 S.56f. sowie v.a. 1973 S. 11-16). Armstrong versucht zunächst zu zeigen, daß jede Disposition eine Dispositionsbasis haben muß, und plädiert dann dafür, diese miteinander zu identifizieren. Nach Armstrong impliziert die Vorstellung von bestimmten Dispositionen das Vorhandensein bestimmter Zustände des fraglichen Objekts, die dafür verantwortlich sind, daß der Träger der Disposition sich unter bestimmten Umständen entsprechend verhält. Der Unterschied zwischen Zucker und Sand im Blick auf Wasserlöslichkeit besteht dann nicht nur darin, daß Zucker sich auflöst, wenn man ihn in Wasser gibt, Sand hingegen nicht, sondern darin, daß sie sich in ihrer chemischen Struktur unterscheiden. Auch wenn wir diese chemische Struktur gar nicht kennen, nehmen wir demnach doch auf solch eine Eigenschaft implizit Bezug, wenn wir die Disposition feststellen. Wie ist nun aber eine Identifikation von Disposition und Dispositionsbasis zu rechtfertigen? Armstrong stützt sich hier auf den vornehmlich bei Wissenschaftlern üblichen Sprachgebrauch: So heißt es etwa häufig, man habe herausgefunden, Wasserlöslichkeit sei eine bestimmte molekulare Eigenschaft. Wie Armstrong einräumt, machen solche Gesichtspunkte die Identifikation keineswegs zwingend, er begnügt sich schlicht damit, daß sie solch eine Identifikation erlauben.
Gehalt
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Angenommen, wir akzeptieren, daß (wenigstens einige) mentale Prädikate von Episoden oder geistigen Aktivitäten handeln, so kann dies bestenfalls einen ersten Schritt zum genaueren Verständnis der Frage bedeuten, was es eigentlich heißt, daß sich mentale Zustände für jemanden durch Qualia voneinander unterscheiden können. Bevor uns dieser Frage zuwenden, sollten wir in den nächsten Zeilen kurz ansprechen, was es u.a. heißen kann, daß sich mentale Zustände überhaupt voneinander unterscheiden. Ein zentraler Begriff ist dabei der Begriff des Gehalts.
1.2
Gehalt
Was soll man unter dem Gehalt eines mentalen Zustands genauer verstehen? Wieder soll uns ein ganz grobes Bild genügen. Wenn Hans glaubt, daß es heute Quiche Lorraine zum Mittagessen gibt, und sich Peter wünscht, daß es heute Quiche Lorraine zum Mittagessen gibt, dann befmden sich die beiden zwar in unterschiedlichen Typen von mentalen Zuständen (Hans glaubt etwas, Peter wünscht etwas), aber ihre Zustände haben denselben Gehalt, nämlich daß es Quiche Lorraine zum Mittagessen gibt. Und wenn Hans sich wünscht, daß es Schweinebraten gibt, so haben beide Zustände von derselben Art, aber mit verschiedenem Gehalt. Gehalt ist also etwas, was unterschiedliche Typen von mentalen Zuständen gemeinsam haben können und etwas, worin sich Zustände der gleichen Art unterscheiden können. Bei den genannten Beispielen handelt es sich um eine ganz spezifische Art von Gehalt, nämlich intentionalen oder auch repräsentationalen Gehalt. Hans' Meinung und Peters Wunsch handeln von etwas, nämlich von Quiche Lorraine und daß es diese zum Mittagessen geben wird. Man kann insofern sagen, daß sie die Quiche sowie diesen Umstand repräsentieren. Sofern wir akzeptieren, daß es sich bei Wünschen und Meinungen um Zustände handelt, können wir auch sagen, daß der Wunsch oder die Meinung intentionale Zustände oder Repräsentationen von etwas sind.
Es ist klar, daß Armstrongs Verständnis von Dispositionen uns weiterhin erlaubt, von inneren mentalen Zuständen als Dispositionen zu sprechen. Das realistische Verständnis von Dispositionen scheint im übrigen besonders plausibel bei den sogenannten „mehrspurigen" Dispositionen, die zentral für Ryles Analyse des Mentalen sind. Sofern eine Disposition sich in unterschiedlichster Weise manifestieren kann, was gibt einem dann überhaupt noch das Recht von einer einzigen Disposition zu sprechen, wenn nicht ein interner Faktor, der für alle diese Manifestationen verantwortlich ist (vgl. Armstrong 1973 S.17f.)? Zu Problemen der realistischen Dispositionsauffassung vgl. Tooley 1972, Jackson, Pargetter u. Prior 1982 sowie Armstrongs Reaktion in Armstrong 21993 S. xvii.
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Qualia
Zwei Faktoren werden im Zusammenhang mit intentionalen Zuständen u.a. immer wieder hervorgehoben. Erstens: Ein intentionaler Zustand kann auch etwas repräsentieren, was nicht der Fall ist. Hans kann auch dann glauben, daß es zum Mittagessen Quiche Lorraine gibt, wenn es de facto Schweinebraten gibt. Worauf sich ein mentaler Zustand bezieht, braucht überhaupt nicht zu existieren, wenn man etwa an Hexen oder den Teufel denkt. Dies eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, daß wir uns ein falsches Bild von der Welt machen können und es somit so etwas wie Fehlrepräsentation geben kann. Zweitens: Wenn wir den Gehalt eines mentalen Zustands charakterisieren wollen, reicht es nicht aus zu wissen, wovon er handelt, sondern wir müssen auch wissen, in welcher Weise er davon handelt. Man hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, daß jeder intentionale Zustand die Welt unter einem bestimmten Aspekt repräsentiert.80 Angenommen, Quiche Lorraine ist Peters Lieblingsspeise, so kann man den Gehalt von Hans' Meinung nicht mit der Phrase wiedergeben, daß es zum Mittagessen Peters Lieblingsspeise gibt, denn es ist nicht klar, ob Hans überhaupt eine Meinung darüber hat, was Peter gerne ißt. Sätze, die den Gehalt von mentalen Zuständen angeben, bilden also intensionale Kontexte, d.h. koreferentielle Termini („Peters Lieblingsspeise", „Quiche Lorraine") können in ihnen nicht salva veritate ausgetauscht werden. Aber mit der Rede von Aspekten ist hier noch mehr gemeint. Es soll damit nicht nur gesagt sein, daß die entsprechenden Kontexte intensional sind, sondern es wird im Grunde eine Erklärung angedeutet, warum wir es hier mit solchen Kontexten zu tun haben, nämlich weil die fraglichen Zustände die Welt in einer bestimmten Weise, unter einem bestimmten Aspekt repräsentieren. Es gibt die unterschiedlichsten intensionalen Kontexte, z.B. modale Kontexte, und daß Sätze über den Gehalt mentaler Zustände intensional sind, liegt, anders als bei diesen anderen Kontexten, daran, daß die Zustände eben unter einem bestimmten Aspekt repräsentieren. Die Rolle dieser Aspekte läßt sich nicht nur mit Bezug auf Meinungen und Wünsche erläutern, sondern auch auf Wahrnehmungen: Wenn jemand den Eiffelturm sieht, dann repräsentiert er nicht einfach den Eiffelturm, sondern er sieht ihn aus einer spezifischen Perspektive, z.B. einer Dreiviertelansicht. Soweit haben wir den Begriff „Gehalt" wenigstens annäherungsweise durch eine kurze Angabe dessen erläutert, was unter intentionalem Gehalt verstanden wird. Eine wichtige Frage für unseren Diskussionskontext ist allerdings, ob aller Gehalt intentionaler Gehalt ist. Wenn wir unter Gehalt dasjeni-
80
Vgl. Searle 1992 S.155 sowie Dretske 1995 S.30f.
Gehalt
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ge verstehen, was verschiedene mentale Zustände miteinander teilen oder gemeinsam haben können bzw. was sie voneinander unterscheidet, dann können wir auch sagen, daß eine depressive Stimmung einen anderen Gehalt hat als ein euphorisches Hochgefühl. Bei Stimmungen ist aber alles andere als klar, ob sie intentionale Zustände sind, ob sie in irgendeinem Sinn von etwas handeln. Stimmungen werden zwar oft von konkreten Ereignissen ausgelöst, aber es ist nicht klar, inwieweit diese auch den Gehalt der Stimmung ausmachen. Wie sich später noch zeigen wird, ist dies ein kontroverser Punkt. Ähnliche Überlegungen drängen sich im Zusammenhang mit Körperempfindungen auf: Ist es so klar, daß Schmerzen von etwas handeln? Man kann vielleicht sagen, sie repräsentierten, daß etwas Bestimmtes, genauer etwas Schädliches, an einer bestimmten Partie unseres Körpers vor sich geht. Aber lassen sich damit auch die charakteristischen Unterschiede zwischen brennenden und pochenden Schmerzen einfangen? Und wie steht es mit anderen Körpergefiihlen? Was repräsentiert ein Jucken oder ein Kitzel? Auch hier ist eine Lokalisation einer bestimmten Körperpartie im Spiel, aber was kann uns solch eine Empfindimg schon viel darüber sagen? Oder wie steht es mit einem Orgasmus? Kann man hier von einem intentionalen Zustand reden, der unter einem bestimmten Aspekt von etwas handelt? Später werden wir genauer sehen, inwiefern alle diese Punkte kontrovers diskutiert worden sind. Für den Augenblick braucht uns nur zu interessieren, daß es gegebenenfalls eine Rede von Gehalt gibt, die nicht mit intentionalem Gehalt gleichzusetzen ist. Der Begriff des Gehalts, sei er mm intentional verstanden oder nicht, ist per se kein physischer Begriff.81 Materialistische Theorien des Geistes müssen sich also daran messen lassen, ob sie die Tatsache, daß ein mentaler Zustand einen Gehalt hat, in einer Terminologie analysieren können, die einem materialistischen Verständnis problemlos zugänglich ist. Und meist ist es auch der selbst gesetzte Anspruch dieser Theorien, daß sie dies leisten können. Entsprechend versuchen sie z.B., die Tatsache, daß ein mentaler Zustand einen bestimmten Gehalt hat, darüber zu analysieren, daß er eine bestimmte funktionale Rolle einnimmt oder daß er in einer spezifischen Beziehung zur Umwelt steht, die sich problemlos physisch verstehen läßt. Anders als Brentano sind
81
Brentano, der den Begriff der Intentionalität wieder in die neuere Diskussion eingeführt hat, war der Auffassung, daß sie das geeignete Kriterium ist, mit dessen Hilfe sich das Mentale von allem anderen unterscheiden läßt (vgl. Brentano 1874/1924 S.124f.). Danach wären alle mentalen Zustände intentional. Nicht ganz klar ist, ob er auch der Auffassung war, daß ihr Gehalt auch vollständig intentional ist (vgl. dazu Brentanos Diskussion über die Gefühle, Brentano 1874/1924 S. 125-128). Anders als die meisten heutigen Autoren sah Brentano in der Intentionalität des Mentalen die entscheidende Hürde für seine Naturalisierbarkeit.
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Qualia
heute die meisten an der aktuellen Debatte beteiligten Autoren der Auffassung, daß nicht der intentionale Gehalt die eigentliche Hürde für den Materialismus darstellt, sondern vielmehr die Möglichkeit, daß es nichtintentionalen Gehalt geben könnte. Und die Auffassung, daß es irgendwie ist, in einem mentalen Zustand zu sein, geht häufig mit der These einher, daß hierbei ein nichtintentionales Verständnis von Gehalt von zentraler Bedeutung ist. Inwiefern, wird u.a. im nun folgenden Abschnitt klarer werden, in dem die Motive für die Annahme von Qualia näher diskutiert werden sollen.
1.3
1.3.1
Qualia
Ein Blick in die Literatur
Wenn sich mentale Zustände des gleichen Typs durch ihren Gehalt unterscheiden können, und sich Wahrnehmungen desselben Typs durch unterschiedliche Qualia unterscheiden, wie in der Einleitung behauptet wurde (sich also z.B. eine visuelle Wahrnehmung von etwas Rotem durch ein entsprechendes Quale von einer visuellen Wahrnehmung von etwas Blauem unterscheidet), dann liegt es nahe, Qualia als Aspekte des Gehalts mentaler Zustände aufzufassen. Aber was kann das genauer heißen? Werfen wir dazu einen Blick in die einschlägige Literatur. Schlägt man im Companion to the Philosophy of Mind unter dem entsprechenden Stichwort nach, so heißt es u.a.: Qualia include the way it feels to see, hear and smell, the way it feels to have a pain. [...] Qualia are experiential properties of sensations, feelings, perceptions and in my view, thoughts and desires as well. (Block 1994b) S. 514)
Joseph Levine gibt uns als Beispiel für das Auftreten eines Quales „[...] die rötliche Qualität meiner jetzigen visuellen Sinnesempfindung beim Blick auf den roten Diskettenbehälter [...]" und bezeichnet diese Eigenschaft als eine „intrinsische Eigenschaft der Sinnesempfindung" (Levine 1995 S.329). Ganz ähnlich unterscheidet David Chalmers in diesem Zusammenhang zwischen einer „rötlichen [„reddish"] Empfindung", die wir angesichts roter Gegenstände haben, und dem Rot des in Frage stehenden Gegenstandes.82 Und bei Diana Raffman können wir lesen:
82
Vgl. Chalmers 1996 S.5 sowie Fn.3 S.359. Zur Rede von „rötlich" nur folgende Anmerkung. Das Suffix „-lieh" hat im Deutschen im Zusammenhang mit Färb- aber auch Geschmacksprädikaten („süßlich") eigentlich einen diminuitiven Sinn. Man meint damit gewissermaßen einen
Qualia
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Nach der traditionellen Auffassung über Qualia ist eine Wahrnehmung reifer Tomaten insofern eine präsentierende Repräsentation, als sie die Rotheit der Tomaten dadurch repräsentiert, daß sie selbst phänomenal rot ist - oder anders ausgedrückt, indem sie „zeigt", wie die Tomaten aussehen. [Hervorhebungen v. mir]. (Raffman 1995 S.354) Was können wir dem entnehmen? Qualia werden uns hier als erfahrbare Eigenschaften mentaler Zustände vorgestellt. Levine, Chalmers und Raffman wollen ferner in irgendeiner Form zwischen den Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände (Rot), und einem dabei auftretenden Quale („phänomenal Rot", „rötlich") unterscheiden. Qualia gelten hier also als besondere Eigenschaften der Sinneserfahrung selbst, die es offenbar von den Eigenschaften der Dinge, von denen diese Sinneserfahrungen handeln, zu unterscheiden gilt. Ferner soll es sich dabei um intrinsische Eigenschaften der Sinneserfahrungen und Empfindungen handeln. Als intrinsisch gilt eine Eigenschaft gemeinhin dann, wenn sie nicht relational ist: Daß Peter eine bestimmte absolute Körpergröße hat, ist in diesem Sinne eine intrinsische Eigenschaft von Peter, weil sie keinen Rekurs auf andere Gegenstände involviert. Daß Peter hingegen größer ist als Paul, ist eine relationale Eigenschaft von Peter. Es ist wichtig zu sehen, daß dies eine Bestimmung ist, die weit darüber hinausreicht, Qualia als jene Eigenschaften anzusehen, die es ausmachen, wie es ist, in den fraglichen Zuständen zu sein. Wie wir später sehen werden, versuchen fast alle rekonstruktiv orientierten materialistischen Theorien, die Frage, was es heißt, in einem Zustand zu sein, der sich irgendwie anfühlt, unter Rekurs auf bestimmte relationale Eigenschaften dieser Zustände zu beantworten. Doch für den Moment soll uns dies nicht weiter kümmern. Die Unterscheidung zwischen Qualia und den Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände wirft zunächst sicherlich mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Soll damit etwa gesagt sein, daß wir, wenn wir etwas Rotes sehen, gleichzeitig bemerken, daß unsere Erfahrung ein rötliches Quale besitzt? Das Zitat von Levine drängt einem eine solche Lesart (im Folgenden: „die erste Lesart") förmlich auf. Oder ist die Behauptung vielmehr, daß diejenige Eigen-
blassen Abklatsch einer bestimmten Qualität, z.B. einer bestimmten Farbe. Daran ist hier natürlich nicht gedacht, sondern eher an die Bedeutung, die dieses Suffix in der Regel bei anderen Adjektiven hat, wo es eine Zugehörigkeit oder auch eine Ähnlichkeit zum Ausdruck bringen kann (vgl. etwa „königlich"). Wenn diese Verwendung im Zusammenhang mit Farben also nicht exakt der Norm entspricht, so vermeidet sie doch ungelenke Formulierungen wie „rotartig" oder dgl. Das im Englischen in diesen Kontexten geläufige Suffix „-ish" (z.B. in „reddish") kann sowohl die diminuitive wie die Zugehörigkeits- oder Ahnlichkeitskomponente ausdrücken (vgl. Simpson und Weiner 11989 Bd. VIII S.108, Stichwort „-ish") Gemeint sein dürfte lediglich die Zugehörigkeitskomponente.
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Qualia
schaft, die wir für eine Eigenschaft der Tomate halten (Rot), in Wahrheit eine Eigenschaft unserer Sinneserfahrung („rötlich", „phänomenales Rot") ist? Dies könnte gemeint sein, wenn Raffman sagt, wir sehen das Rot der Tomate dadurch, daß die Wahrnehmung selber phänomenal rot ist. Direkt würden wir nur das phänomenale Rot erfahren, indirekt und dadurch das Rot der Tomate (im Folgenden: „die zweite Lesart"). Die erste Lesart führt offenbar zu einer interessanten Konsequenz im Hinblick auf die Frage, um was für eine Art von Gehalt es sich bei Qualia handeln kann. Wir hatten den intentionalen Gehalt von Wahrnehmungen im letzten Abschnitt so verstanden, daß er durch die Angabe der repräsentierten Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände bestimmt wird. Der intentionale Gehalt einer Wahrnehmung einer roten Tomate sollte (u.a.) sein, daß die Tomate rot ist. Wenn die Qualia einer Sinneserfahrung von denjenigen Eigenschaften zu unterscheiden sind, die die repräsentierten Gegenstände besitzen sollen, dann können die Qualia nicht zum intentionalen Gehalt der fraglichen Zustände gehören. So, wie sich Stimmungen usw. gegebenenfalls durch nichtintentionalen Gehalt auszeichnen, würden sich dann auch Wahrnehmungen für uns durch nichtintentionalen Gehalt auszeichnen, nämlich durch die entsprechenden Qualia. Wir würden unsere Erfahrungen dann anhand dieser Qualia gerade so unterscheiden können, wie wir unsere Stimmungen anhand ihres Gehalts unterscheiden können. Und was ein blind Geborener im Vergleich zu den Sehenden nicht kennt, wären genau diese Aspekte des nichtintentionalen Gehalts, genauso wie wir diese Aspekte des nichtintentionalen Gehalts einer Echolotwahrnehmung nicht kennen würden. Aber ist dies im Hinblick auf eine Wahrnehmung von einem roten Diskettenbehälter oder einer Tomate ein attraktiver Vorschlag? Er scheint folgendes zu beinhalten: Der Gehalt unserer Sinneserfahrungen zerfällt einmal in einen intentionalen Gehalt, der uns über die Gegenstände unserer Umwelt und deren Eigenschaften informiert (die Tomate, die Farbe der Tomate: Rot), und in einen nichtintentionalen Gehalt, der uns über die phänomenalen Eigenschaften der Sinneserfahrung informiert (das „phänomenale Rot" der Wahrnehmung von der roten Tomate). Dieses Bild scheint nicht sonderlich plausibel zu sein: In der Wahrnehmung werden uns zweifellos Qualitäten der wahrgenommenen Gegenstände präsentiert, wir sehen das Rot der Tomate; aber werden uns darüber hinaus noch weitere phänomenale Qualitäten der Wahrnehmung selbst präsentiert, die uns erlauben, unsere Wahrnehmungen voneinander zu unterscheiden? Kann man in irgendeinem Sinn sagen, daß wir gewissermaßen „neben" oder „außer" den Farben der Gegenstände unserer Wahrnehmung noch
Qualia
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irgendwelcher phänomenalen Qualitäten unserer Wahrnehmung gewahr werden, die uns erlauben, diese Wahrnehmungen voneinander zu unterscheiden? Wohl kaum! Wenn man einen roten Diskettenbehälter oder eine Tomate betrachtet, dann läßt sich außer der roten Farbe dieser Gegenstände keine weitere Qualität entdecken, die den Namen „rötlich" oder „phänomenales Rot" verdienen würde. Allein, in welcher Beziehung sollten diese phänomenalen Qualitäten dann zu den entsprechenden Qualitäten der Gegenstände stehen? Sind sie ihnen irgendwie ähnlich, wie die Rede von „phänomenalem Rot" oder „rötlich" im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von roten Gegenständen es nahelegt? Zumindest was die Farben angeht, scheint der Gehalt unserer visuellen Wahrnehmung völlig durch Eigenschaften des intentionalen Gehalts erschöpft zu werden. Wenn man versucht, den Gehalt einer bestimmten visuellen Wahrnehmung anzugeben, so sind die einzigen Farben, auf die man stößt, offenbar diejenigen der wahrgenommenen Gegenstände. Ganz in diesem Sinn hat G. E. Moore einmal gesagt, unsere Erfahrung sei gewissermaßen 'durchsichtig' („diaphanous"), weil wir in ihr nur auf Eigenschaften dessen stoßen, was sie repräsentiert, nicht jedoch auf Eigenschaften der Erfahrung selbst.83 Auf diesem Wege lassen sich also gar keine Farbqualia ausfmdig machen, die nicht zum intentionalen Gehalt der Wahrnehmung gehören. Wie wir später sehen werden, spielt diese These eine zentrale Rolle in der Argumentation der sogenannten Repräsentationalisten wie etwa Tye und Dretske. Wir wollen ihr deshalb hier schon einen Namen geben, und von der „Transparenzthese" sprechen.
1.3.2
Qualia - Ein Scheinproblem?
Wenn wir überhaupt von Qualia reden wollen, mag es so gesehen weitaus plausibler scheinen, sie mit denjenigen Eigenschaften zu identifizieren, die zum intentionalen Gehalt der Wahrnehmungen gehören, also mit dem von uns gesehenen Rot der Tomate, und auf die Rede von „rötlich", oder „phänomenal rot" im Gegensatz zu „rot" besser ganz zu verzichten. Motiviert wurde die Rede von Qualia mit Verweis auf die Tatsache, daß unsere Erfahrungen sich für uns deshalb voneinander unterscheiden, weil sie sich in ihren Qualia unterscheiden. Wir können jetzt einfach sagen, daß sich unsere Erfahrungen für uns dadurch unterscheiden, daß sie von unterschiedlichen Gegenständen mit unter83
Vgl. Moore 1903 S.450. Vgl. auch Tye 1995 S.30f., der von „Transparenz" unserer Erfahrung spricht sowie Harman 1990 S.39.
66
Qualia
schiedlichen Eigenschaften handeln: Erfahrungen von roten Tomaten unterscheiden sich von Erfahrungen von unreifen, grünen Tomaten, weil sie unterschiedliche Eigenschaften von Tomaten repräsentieren, aber nicht deshalb, weil sie selbst davon zu unterscheidende phänomenale Qualitäten aufweisen würden. Und wenn wir uns fragen, wovon der Blindgeborene nicht weiß, so lautet die Antwort ganz einfach: er kennt bestimmte Eigenschaften der Gegenstände nicht, weil er sie nicht wahrnehmen kann. Was ihm fehlt, ist dann kein Wissen über mentale Zustände, sondern vielmehr ein Wissen über Gegenstände und deren Eigenschaften. Bestenfalls im Gefolge davon fehlt ihm ein Wissen über bestimmte mentale Zustände. Die Behauptung, jemand könne nicht wissen, wie es ist, Farben zu sehen, scheint sich dann einfach darauf zu reduzieren, daß er keine Farben sehen kann, und sie in diesem Sinne eben nicht kennt. Dies führt unmittelbar zu der Frage, inwieweit sich die in der Einleitung genannten Schwierigkeiten für den Materialismus überhaupt noch sinnvoll formulieren lassen. Dem Rot einer Tomate oder eines Diskettenbehälters scheint erst einmal überhaupt nichts Geistiges anzuhaften. Was kann da noch die Rede von einem spezifischen Problem des phänomenalen Bewußtseins bedeuten? Wenn ich vor mir auf dem Tisch eine Tomate liegen sehe, dann handelt es sich dabei um eine Eigenschaft, die einem Gegenstand zukommt, der sich immerhin in einiger Entfernung von mir befindet. Daß die Tomate diese Eigenschaft hat, scheint in mehrerer Hinsicht überhaupt nichts mit mir, meinen mentalen Zuständen und geistigen Fähigkeiten zu tun zu haben. Andere Leute können sie genauso sehen wie ich, und ich gehe auch nicht davon aus, daß sie ihre Farbe verliert, wenn sie keiner mehr betrachtet. Ohne daß wir uns überhaupt näher mit dem Materialismus und seinen einzelnen Behauptungen eingelassen haben, scheint uns also das Problem, welches wir in der Einleitung formuliert haben, wie Sand zwischen den Fingern zerronnen zu sein. Mit dieser Diagnose können wir uns offenbar eine Reihe aufwendiger und zeitraubender Diskussionen sparen, scheinen sie doch alle schon auf relativ simplen, falsche Voraussetzungen aufgebaut zu sein. Wie der folgende Abschnitt jedoch deutlich machen soll, ist diese Diagnose aus mehreren Gründen voreilig.
Qualia 1.3.3
67
Vier Gründe für die Rede von Qualia
1.3.3.1
Empfindungsqualia
Könnte es nicht sein, daß wir (und die zitierten Autoren) mit den Farben vielleicht nur die falschen Beispiele für Qualia gewählt haben? Vielleicht läßt sich die Vorstellung nichtintentionaler Qualia in bezug auf andere Qualitäten entsprechend verteidigen. Wie sieht es etwa mit der typischen Qualität aus, durch die sich ein stechender Schmerz auszeichnet? Können wir hier so ohne weiteres sagen, daß hier ein Gegenstand oder ein Zustand repräsentiert würde, dem diese Eigenschaft zukommt? Da wir Schmerzen in der Regel lokalisieren können, könnte man vielleicht sagen, daß hier eine bestimmte Stelle unseres Körpers repräsentiert wird, und zwar so, daß ihr diese Qualität zukommt. Aber repräsentiert diejenige Qualität, die den Schmerz zu einem stechenden im Gegensatz zu einem brennenden macht, etwas? Selbst wenn dies in irgendeinem Sinn plausibilisiert werden kann, so bleiben offenbar immer noch eine Reihe von Fällen übrig, wo es extrem schwierig ist, überhaupt einen repräsentationalen Gehalt zu erkennen. Im letzten Abschnitt wurde bereits auf Stimmungen hingewiesen, aber auch bei körperlichen Empfindungen wie einem Orgasmus oder einem allgemeinem Unwohlsein ist es schwer, solch einen Gehalt anzugeben. In all diesen Fällen macht es aber offenbar einen qualitativen Unterschied für die betroffenen Personen aus, ob sie in diesen Zuständen sind oder nicht. Das ist schließlich ein Grund, sie zu meiden oder zu suchen. Dieser Kontrast zur Sinneswahrnehmung macht im übrigen deutlich, warum manche Autoren der Rede von Qualia in bezug auf Wahrnehmungen eher skeptisch gegenüberstehen und sie nur für Empfindungen wie Schmerz oder für Gefühle gelten lassen wollen.84 Vielleicht haben wir aber auch von der Vorstellung, Wahrnehmungen könnten Qualia aufweisen, die man nicht auf ihren intentionalen Gehalt reduzieren kann, ein zu naives Bild gezeichnet. Mindestens drei Gründe lassen sich dafür ins Feld führen.
84
Dazu tendiert Bieri 1982 S.13 Fn.13, S.14, anders allerdings Bieri 1995 S.63.
68
Qualia
1.3.3.2
Der erste Grund für Wahrnehmungsqualia: Wie uns Dinge in der Wahrnehmung erscheinen
Wenn man genauer auf den Gehalt seiner Wahrnehmung achtet, so scheint es gar nicht einmal so aussichtslos, wie eben suggeriert wurde, auf Qualitäten zu stoßen, die wir nicht als Eigenschaften der wahrgenommenen Objekte auffassen würden: Wem auf Grund seiner Kurzsichtigkeit ein Objekt verschwommen erscheint, der glaubt nicht, daß der Gegenstand, den er sieht, unscharfe Grenzen hat, oder wer eine Straße mit Alleebäumen entlang fährt, glaubt nicht, daß die Bäume am Horizont um ein vielfaches kleiner sind als jene, die er gerade passiert, auch wenn diese erheblich größer aussehen als diejenigen am Ende der Straße. Anders als beim Rot der Tomate gilt also keineswegs, daß wir hier die fraglichen Eigenschaften umstandslos den in der Wahrnehmung repräsentierten Gegenständen zuschreiben würden. Dies könnte doch immerhin ein Indiz dafür sein, daß es sich bei den fraglichen Eigenschaften um solche handelt, die nicht zum intentionalen Gehalt der Wahrnehmung gehören. Selbst beim Rot der Tomate scheint solch eine Vorstellung nicht abwegig: Wenn wir die Tomate genau betrachten, dann stellen wir fest, daß sie nicht einheitlich rot aussieht, sondern vielmehr unterschiedliche Rotschattierungen aufweist. Ihre beleuchtete Seite zeigt ein helleres Rot als die im Schatten befindliche.85 Dennoch sieht sie für uns in einem gewissen Sinn auch einheitlich rot aus. Wenn uns jemand fragen würde, ob die Tomate ein- oder mehrfarbig ist, dann würden wir auf Grund unserer Wahrnehmung sagen, sie sei einfarbig. Und ganz analog zu den Alleebäumen können wir natürlich auch darauf verweisen, daß ein bewaldeter Berg am fernen Horizont so blau aussieht wie ein Lapislazuli, den man direkt in der Hand hält. Dennoch würden wir hier sicherlich nicht sagen, daß wir zwei gleichfarbige Gegenstände sehen.86 Die These, unser Wahrnehmungsgehalt sei ausschließlich repräsentationaler Gehalt, sieht sich im übrigen noch einer weiteren Schwierigkeit ausgesetzt: Wir können ein und dieselbe Eigenschaft eines Gegenstandes sowohl sehen als auch ertasten. Der qualitative Eindruck, der sich einstellt, wenn ich eine Kante ertaste, ist aber zweifellos ein ganz anderer, als der, wenn ich diese Kante sehe. Auf der anderen Seite weisen offenbar beide Wahrnehmungen denselben
85 86
Für eine eindrückliche Schilderung dieser Phänomene vgl. W. James 1892/1984 S.142f. Für zahlreiche Beispiele dieser Art und die Konsequenz, daß es sich um nichtintentionale Eigenschaften handeln muß, vgl. Peacocke 1983 S.12ff. Für eine Kritik daran vgl. Tye 1992 S.172ff. Peacockes Argumentation ist komplexer als die hier angedeutete Argumentation.
Qualia
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intentionalen Gehalt auf, indem sie ein und dieselbe Kante ein und desselben Gegenstandes repräsentieren. Es sieht also ganz so aus, als ob auch hier die Eigenschaften des Gehalts nicht mit den Eigenschaften des repräsentierten Gegenstandes identisch sein können. Und es scheint hier wieder einen spezifisch subjektiven Aspekt zu geben, insofern ein blind Geborener durch seine taktile Kenntnis von Kanten noch nichts über ihre visuelle Erscheinung weiß. Auch dieses Beispiel wird freilich kontrovers diskutiert und soll uns später noch beschäftigen.87 Im Moment geht es nicht darum, in diese Kontroversen einzusteigen, sondern vielmehr darum, der Rede von Qualia angesichts der Zweifel im letzten Abschnitt überhaupt eine anfängliche Plausibilität zu verschaffen. Keines der genannten Beispiele kann natürlich für die These in Anspruch genommen werden, daß wir „neben" oder „außer" der in der Wahrnehmung repräsentierten Eigenschaften der Gegenstände noch irgendwelcher anderer Qualitäten gewahr werden könnten; wir würden nicht sagen, daß das Blau des bewaldeten Berges eine Eigenschaft unserer Wahrnehmung des Berges ist, der wir in irgendeinem Sinn zusätzlich zum tatsächlichen Grün des Berges gewahr werden könnten. Vielmehr wird man eher sagen wollen, daß wir den Berg als grün wahrnehmen indem er uns blau erscheint, und daß wir den letzten Alleebaum in der Reihe als gleich groß mit dem ersten wahrnehmen, indem er uns vergleichsweise kleiner erscheint. Insofern sind diese Überlegungen nicht geeignet, der Sache nach unsere erste Lesart der Zitate von Levine und Raffman zu verteidigen. Was diese Beispiele offenbar zeigen, ist, daß es hier eine bestimmte Art gibt, Eigenschaften der Gegenstände in unserer Umwelt mittels unserer Wahrnehmung zu repräsentieren, so daß wir den repräsentationalen Gehalt unserer Wahrnehmung nicht mehr einfach allein unter Verweis auf die Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände angeben können. Wenn wir den Gehalt unserer Wahrnehmung einfach dadurch charakterisieren, daß wir sagen, sie repräsentiere einen grünen Berg, dann ist damit diese bestimmte Art, in der dies repräsentiert wird, noch nicht angemessen berück-
87
Dagegen gehalten hat wieder Tye 1995 S.157 sowie auch Dretske 1995 S.94f. Beispiele dieser Art haben Pendlebury dazu veranlaßt, eine Unterscheidung zwischen dem Gehalt einer Wahrnehmung und ihrem „Charakter" einzuführen. Die taktile und die visuelle Wahrnehmung in unserem Beispiel haben denselben Gehalt (Kante), aber einen unterschiedlichen Charakter, der in dem typischen phänomenalen Eindruck besteht, welcher hier mit der taktilen Wahrnehmung im Unterschied zur visuellen Wahrnehmung einhergeht (vgl. Pendlebury 1993). Dem liegt offenkundig ein engeres Verständnis von „Gehalt" als das hier unterstellte zugrunde, wonach unter „Gehalt" ausschließlich intentionaler Gehalt zu verstehen ist. Üblicher ist es, das Verständnis von „Gehalt" so weit zu fassen, daß es auch nichtintentionalen Gehalt geben kann (Vgl. z.B. Peacocke 1983 Kap.l sowie 1993a) Kap.3, Block 1995 S.232).
70
Qualia
sichtigt worden. Diese Art der Repräsentation sagt uns im übrigen auch etwas darüber, was man als die „repräsentationale Trennschärfe" eines Wahrnehmungssinnes bezeichnen könnte: Die Tatsache, daß ein entfernter Alleebaum kleiner aussieht als ein naher Alleebaum von gleicher absoluter Größe (oder daß sich ein nahes leises Geräusch genauso laut anhört, wie ein fernes lautes Geräusch), führt dazu, daß man unter gewissen Umständen nicht entscheiden kann, was hier wirklich der Fall ist. Unter bestimmten Umständen sagt uns der Gehalt unserer Wahrnehmung lediglich, daß ein Objekt entweder nah und klein, oder groß und entfernt ist. Ganz unterschiedliche Eigenschaften können insofern auf dieselbe Weise repräsentiert werden. In diesem Sinne leistet unsere Sinneswahrnehmung also nicht immer eine eindeutige Repräsentation unserer Umwelt. Wieder kann man hier davon sprechen, daß die Wahrnehmung die Umwelt auf eine bestimmte Art repräsentiert. Und für den Kontext unserer Diskussion von besonderem Interesse, es scheint eine sinnvolle Frage zu sein, ob diese Art der Repräsentation nicht genau in jenen Bereich fällt, von dem eine blind oder taub geborene Person in bezug auf den entsprechenden Sinn nicht wissen kann. Denn solch eine Person kann gegebenenfalls bestimmte Begriffe von Lautstärke, Entfernung und Größe entwickeln, aber dies allein gibt ihr natürlich noch kein Verständnis von einer Repräsentation, die unterschiedliche Kombinationen dieser Eigenschaften nicht entsprechend unterschiedlich repräsentiert. Was kann es für einen Blinden letztlich heißen, daß ein Gegenstand seine Größenerscheinung mit zunehmender Entfernung ändern kann, obwohl seine wahre Größe natürlich konstant bleibt? Insofern scheint unsere Wahrnehmung der Umwelt ein subjektives Element zu enthalten, da sie die Umwelt auf eine besondere Weise repräsentiert, die man nur verstehen kann, wenn man selber entsprechende Wahrnehmungen haben kann. Ob dies wirklich so ist, und ob sich aus dieser Beobachtung irgendwelche gravierenden Konsequenzen für den Materialismus ergeben, muß natürlich noch eingehend überprüft werden. Im Moment geht es, wie gesagt, nur darum, eine Indizienkette zu bilden, die unserer Ausgangsthese neue Plausibilität verleiht: Wir haben offenbar die Möglichkeit, zwischen unseren Erfahrungen Ähnlichkeiten und Differenzen festzuhalten, die sich nicht ohne weiteres auf Ähnlichkeiten und Differenzen in den repräsentierten Gegenständen reduzieren lassen. Wenn also die erste Lesart (Wahrnehmungsgehalt = Farbe des Gegenstandes + Farbquale) kaum zu halten ist, so hat auch die zunächst so plausibel wirkende Konsequenz daraus, wir könnten Farben usw., so wie sie im Gehalt unserer Wahrnehmimg figurieren, einfach mit den Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände identifizieren, einiges an ihrer intuitiven Plausibilität verloren.
Qualia
71
Die eben erörterten Fragen lassen sich im übrigen alle als Aspekte einer einzigen Frage verstehen, nämlich der Frage, was es heißt, daß einem etwas in der Wahrnehmung erscheint. Die Rede davon, daß einem Gegenstände auf eine bestimmte Art erscheinen, ist bloß eine andere Ausdrucksweise dafür, daß sie uns in der Wahrnehmung auf eine spezifische Art präsentiert werden. Wenn diese spezifische Art nicht durch die Angabe der repräsentierten Eigenschaften, die ein Gegenstand de facto besitzt, erschöpfend geklärt werden kann, bilden Qualia sicherlich einen geeigneten Kandidaten, um diese Lücke aufzufüllen.
1.3.3.3 Der zweite Grund für Wahrnehmungsqualia: Der Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmen Daß uns unsere Wahrnehmung die Eigenschaften der Gegenstände in einer bestimmten Weise präsentiert, scheint noch in einer anderen Hinsicht der Fall zu sein, die uns auch zu der oben zitierten Passage von Diana Raffman, und damit auch zur zweiten Lesart führt. Es macht einen Unterschied aus, ob wir denken, daß sich vor uns eine rote Tomate befindet, oder ob wir dies sehen. Wenn ich eine Tomate sehe, dann die Augen schließe, so mag ich denken, daß vor mir eine rote Tomate liegt, aber ich repräsentiere sie dann offenkundig in einer ganz anderen Weise, als wenn ich sie sehe. Das zeigt sich einmal daran, daß ich die Tomate nur in einer Teilansicht zu Gesicht bekommen kann, ein Gedanke an sie aber natürlich nicht nur eine solche Teilansicht repräsentieren muß, sowie zum anderen daran, daß mir ihre visuelle Wahrnehmung anders als ein Gedanke in jedem Fall etwas über ihre räumliche Position (z.B. ihre Lage zu anderen Objekten) sagt und nur ganz bestimmte Eigenschaften repräsentiert (z.B. nichts darüber, ob sie schnittfest ist). Aber es spielt hier noch ein ganz anderer Gesichtspunkt eine entscheidende Rolle: Nach Raffman soll eine Wahrnehmung reifer Tomaten insofern eine präsentierende Repräsentation einer solchen Tomate sein, als sie deren Rotheit dadurch repräsentiert, daß sie selbst phänomenal rot ist. Und dies sollte heißen, daß sie „zeigt", wie die Tomaten aussehen.88 Wenn wir vergleichen, wie wir eine rote Tomate gedanklich repräsentieren und wie wir sie in der Wahrnehmung repräsentieren, dann scheint die Rede davon, daß die Wahrnehmung im Gegensatz zum Gedanken das Rot „zeigt",
88
S.o. S.63. Vergleichbare Formulierungen finden sich auch bei Lanz 1996 S.71f. sowie bei Perkins 1983 S.224.
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in folgender Hinsicht einen guten Sinn zu machen: Im einen Fall ist das Rot der Tomate für den Betrachter wirklich präsent, im anderen hingegen nicht. Damit etwas für einen Betrachter präsent sein kann, reicht die bloße Tatsache, daß der Gegenstand existiert, natürlich nicht aus. Er muß den Beobachter zumindest auch in geeigneter Weise Offizieren können. Dazu gehört z.B., daß er sich in einer geeigneten Entfernung sowie in einer geeigneten Position zum Betrachter befindet (die Tomate darf sich nicht zwei Kilometer hinter seinem Rücken befinden); er muß ferner hinreichend groß sein für das Auflösungsvermögen unserer Sinnesorgane (ein Molekül kommt z.B. nicht in Frage); es dürfen sich keine Störfaktoren wie z.B. eine Mauer zwischen Gegenstand und Betrachter befinden und schließlich müssen auch die relevanten Sinnesorgane in einem bestimmten Zustand sein. All dies sind Bedingungen, die für einen bloßen Gedanken an eine Tomate nicht erfüllt sein müssen. Aber natürlich ist die Erfüllung dieser Bedingungen allein mit Sicherheit noch nicht hinreichend dafür, daß ein Gegenstand wahrgenommen wird. Diese Bedingungen spezifizieren zunächst nur, was der Fall sein muß, damit bestimmte Gegenstände auf den Körper des Betrachters kausal einwirken können. Dies gilt jedoch auch für zahllose andere Prozesse, die nicht das geringste mit Wahrnehmung zu tun haben: So kann etwa die Sonne unsere Haut nur bräunen, wenn kein Kleidungsstück dazwischen ist und wenn wir uns in eine geeignete Position zur Sonneneinstrahlung bringen. Wenn man einen Unterschied zwischen Sonnenbädern und Wahrnehmungen machen will, müssen letztere also mehr sein, als bloße Affizierung. Diese Feststellung ist vielleicht so trivial, daß es kaum lohnt, sich mit ihr überhaupt aufzuhalten. Zumindest scheint sie zu den wenigen Dingen zu gehören, die in der gegenwärtigen Diskussion von niemandem bestritten werden. Jeder weitere Schritt ist allerdings schon mehr oder weniger kontrovers. Daneben besteht noch die Möglichkeit, sich vor allem auf die möglichen Konsequenzen zu stützen, die für Wahrnehmungen typisch sind, um auf diese Weise einzufangen, was Wahrnehmungen sind. Einmal kann man dabei an bestimmte Verhaltensweisen denken. Im einzelnen wird man dabei an klassifikatorisches Verhalten oder relativ komplexe Fähigkeiten denken wollen, etwa die Tatsache, daß man ein Gebäude, welches man mit eigenen Augen gesehen hat, besser aus dem Gedächtnis nachzeichnen kann, als wenn man es nur aus einer Beschreibung (und damit über eine gedankliche Verarbeitung) kennt, oder daß man eine Melodie, die man selber gehört hat, leichter nachpfeifen kann, als wenn man nur die Partitur kennt usw. Darüber hinaus kommen in diesem Zusammenhang auch bestimmte kognitive Folgen in Frage, die mit
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Wahrnehmungen typischerweise einhergehen: Der Betrachter kann sich später nicht nur an den Gegenstand erinnern und ihn wiedererkennen, sondern er kann dies in einer ganz spezifischen Weise tun, er kann ihn sich z.B. in ganz bestimmter Weise, nämlich wie man häufig sagt, „bildhaft" vorstellen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob sich die Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Denken auf diese Unterschiede in der Affizierung und den genannten Konsequenzen reduzieren lassen. Desweiteren möchte man nämlich einmal fragen, worin sich Wahrnehmungen von Gedanken unterscheiden müssen, damit sie diese unterschiedlichen Konsequenzen haben können. Eine naheliegende Schlußfolgerung ist, daß dies mit der unterschiedlichen Art zusammenhängt, in der ein Gegenstand in der Wahrnehmung repräsentiert wird. Und es ist sicher plausibel zu sagen, daß es gerade die Tatsache ist, daß der Gegenstand in einer bestimmten Art und Weise in der Wahrnehmung „präsentiert" wird, die einem z.B. das Zeichnen hier erleichtert. Zur Beantwortung der Frage, wie diese Konsequenzen möglich sind, wird man gegebenenfalls entweder auf die spezifische Art zurückgreifen wollen, wie uns die Gegenstände in der Wahrnehmung affizieren, oder zusätzlich die Einführung von Qualia für nötig halten. Auch dieser Gesichtspunkt läßt sich als Aspekt der Frage verstehen, was es heißt, daß einem in der Wahrnehmung ein Gegenstand erscheint (nämlich im Kontrast dazu, was es heißt, daß man an ihn denkt). Tum anderen ist bei ausschließlicher Konzentration auf die genannten Konsequenzen schwierig zu sehen, worin der unmittelbare Unterschied zwischen einem Gedanken an eine rote Tomate und ihrer Wahrnehmung für den Betroffenen bestehen soll. Mit anderen Worten: Solange keine konkrete Gelegenheit für das Auftreten dieser Konsequenzen gegeben wäre, könnte man dann keinen klaren Unterschied zwischen Denken und Wahrnehmen feststellen. Es scheint jedoch, daß sich Wahrnehmungen und Gedanken auch unmittelbar für den Betroffenen unterscheiden, und zwar ganz gleichgültig, ob dies die genannten Konsequenzen zeitigt oder nicht. Ganz unabhängig von den genannten Konsequenzen kann uns in der Wahrnehmung eine Farbe offenbar in einer Weise präsent sein, wie dies bei Gedanken an einen Gegenstand dieser Farbe nicht der Fall ist. Etwas Rotes sehen zu können (statt daran denken zu können) läßt sich dann nicht darauf reduzieren, daß man sich in Folge auf eine bestimmte Weise daran erinnern kann, Zeichnungen anfertigen kann usw. Wie wir später sehen werden, ist dieser Aspekt insbesondere von Repräsentationalisten wie Tye und Dretske hervorgehoben worden. Ja, man kann sogar sagen, daß sie darin den entscheidenden Faktor gesehen haben, der das phänomenale Erleben vor anderen kognitiven Fähigkeiten auszeichnen soll, so daß ein richtiges Ver-
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ständnis dieses Unterschieds letztlich zur angemessenen Konzeption von phänomenalem Bewußtsein führen soll. Es ist wichtig zu sehen, daß man in diesem Sinne für den Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Gedanken argumentieren kann, obwohl man ansonsten ein Anhänger der Transparenzthese ist und die Rede von Qualia als Eigenschaften bestimmter mentaler Zustände (insbesondere, wenn man sie als intrinsische Eigenschaften dieser Zustände versteht) für unangebracht hält. Wahrnehmungen und Empfindungen weisen dann im Gegensatz zu Gedanken nur insofern einen qualitativen Aspekt auf, als sie uns auf eine andere Art und Weise mit den Eigenschaften der uns umgebenden Gegenstände (der Farbe einer Tomate) oder unseres Körpers (etwa einer Verletzung im Fall eines Schmerzes) bekannt machen. Es gibt aber noch einen weiteren möglichen Grund, Qualia eine zentrale Rolle einzuräumen.
1.3.3.4 Der dritte Grund für Wahrnehmungsqualia: Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten Wir sind bislang von der Voraussetzung ausgegangen, daß diejenigen Eigenschaften, die uns in der Wahrnehmung als Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände erscheinen wie etwa die Farben, auch wirklich Eigenschaften dieser Gegenstände sind. Fraglos kommt es uns so vor. Daher rührt jedenfalls die intuitive Plausibilität der Transparenzthese. Was aber, wenn sich durchschlagende Gründe dafür finden ließen, daß die Gegenstände, die uns umgeben, gar nicht wirklich farbig sind, oder zumindest, daß sie nicht in dem Sinne farbig sind, wie sie uns farbig erscheinen? Selbst wenn wir davon ausgehen, daß der Gehalt unserer Wahrnehmung ausschließlich representational in dem Sinne ist, daß er durch die Angabe der Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände vollständig charakterisiert werden kann, so heißt dies natürlich noch lange nicht, daß die Gegenstände unserer Wahrnehmung auch nur eine einzige dieser Eigenschaften jemals tatsächlich aufweisen. Wenn sich zeigen ließe, daß Gegenstände nicht in dem Sinne farbig sind, in dem sie uns farbig erscheinen, dann stellt sich aber die Frage, ob wir es nicht mit farbigen Erscheinungen zu tun haben, die wir nicht mehr als Eigenschaften der Gegenstände der Wahrnehmung auffassen können. Gegebenenfalls müßten wir dann diese farbigen Erscheinungen als etwas Mentales interpretieren. Das würde die Rede von Farbqualia natürlich in ein ganz anderes Licht rücken; zumindest kann man sie dann nicht mehr einfach mit Hinweis darauf aus dem Feld schlagen, daß die einzigen Farbqualitäten, die in unserer Wahrnehmung eine Rolle
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spielen, Eigenschaften der Gegenstände sind, die mit unserer geistigen Verfassung nicht das Geringste zu tun haben. Es bleibt dann zwar immer noch die Frage, inwiefern es legitim ist, zwischen dem Rot der Tomate und dem phänomenalen Rot unserer Wahrnehmung zu unterscheiden. Hier ist jedoch folgende Lösung denkbar: das Rot der Tomate ist nichts anderes als diejenige Eigenschaft, die in uns eine phänomenal rote Farbwahrnehmung auslöst. Aber was könnte solch einen Schritt überhaupt motivieren? Was immer man von solch einer Idee halten mag, eines ist klar: Wir können nicht durch bloße Betrachtung einer Tomate herausfinden, ob sie wahr oder falsch ist. Wir können dies auch nicht tun, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmung einer Tomate richten. Solche Aktivitäten scheinen uns vielmehr eine Bestätigimg der Transparenzthese zu liefern. Die Behauptung, daß die Gegenstände gar nicht farbig sind, läuft dagegen darauf hinaus, daß diese These falsch ist. Wir haben es hier mit einer theoretischen Behauptung über unsere Wahrnehmung zu tun, die uns sagt, wie wir den Gehalt unserer Wahrnehmungen im Lichte aller möglichen Evidenzen und Kenntnisse zu interpretieren haben. Auf den ersten Blick gibt es für die Wahrheit dieser Behauptung offenbar wenig Indizien. Einmal spricht, wie gesagt, die Transparenzthese dagegen. Zudem gibt es eine Reihe von Beispielen, in denen die Frage, welche Farbe ein Gegenstand hat, statt von unserer Wahrnehmung von Einflüssen anderer Gegenstände auf diesen Gegenstand abhängt: Ein farbiges Papier bleicht unter Sonnenbestrahlung langsam aus, ein zu heiß gewaschenes Hemd färbt ab usw. Diese Prozesse ereignen sich ohne unser Zutun oder irgendwelche kognitive Beteiligung unsererseits. Dennoch gibt es eine traditionsreiche philosophische Auffassung, wonach eine ganze Reihe von Qualitäten, die wir den Gegenständen unserer Wahrnehmung zurechnen, nicht als beobachterunabhängige Eigenschaften dieser Gegenstände angesehen werden können. Es geht natürlich um die berühmte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten. Demnach gilt es, zwischen Eigenschaften zu unterscheiden, die den Gegenständen, wenn überhaupt, dann nur insofern zukommen, als daß sie in bestimmten Beobachtern unter bestimmten Bedingungen bestimmte Erfahrungen hervorrufen, sowie solchen Eigenschaften, die ihnen unabhängig davon zukommen. Seit Robert Boyle hat es sich eingebürgert, die Eigenschaften der ersten Gruppe als sekundäre Qualitäten zu bezeichnen, die der zweiten hingegen als primäre Qualitäten. Werfen wir zum besseren Verständnis dieser
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Unterscheidung einen kurzen Blick auf die klassische Unterscheidung aus dem siebzehnten Jahrhundert.89 Als sekundäre Qualitäten gelten in der Regel Farben, Gerüche, Geräusche, Geschmackseigenschaften sowie taktil erfahrbare Temperatureigenschaften (Wärme, Kälte).90 Locke, Boyle und Descartes vertraten im wesentlichen eine Auffassung, wonach sekundäre Qualitäten den Gegenständen nur insofern zukommen, als sie in bestimmten Betrachtern unter bestimmten Bedingungen bestimmte Erfahrungen hervorrufen.91 Für die Farbe Rot würde dies bedeuten, daß ein Gegenstand nur insofern rot ist, als er in bestimmten Beobachtern Erfahrungen von Rot hervorruft. Damit würde es sich bei den sekundären Qualitäten um dispositionelle Eigenschaften ganz bestimmter Art handeln, nämlich solche, die auf Beobachter relativiert sind. Eine primäre Qualität ist hingegen nicht als dispositionale Eigenschaft dieser Art anzusehen. Zwar hält Locke fest, daß man primäre Qualitäten auch als Dispositionen ansehen kann, in uns bestimmte Vorstellungen hervorzurufen. Aber eine primäre Qualität ist mehr, nämlich eine „reale" Eigenschaft, die „in den Gegenständen selbst existiert" und die nicht relational, sondern vielmehr intrinsisch ist.92 Diese dispositionale Lesart erlaubt es, sekundäre Qualitäten als Eigenschaften der Gegenstände anzusehen, die diese auch dann besitzen, wenn kein entsprechender Beobachter da ist. So wie man von einem Zuckerwürfel sagen kann, er sei 89
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Die wichtigsten Quellen für die klassische Unterscheidung bilden Locke 1690/1975 Book II, Kapitel viii, Descartes 1644/1964 Pars Π, §§3-4, Pars IV §§ 198-203, Boyle 1666/1744 Π-VI. Particular sowie Galilei 1624/1969 S.458f. Eine ähnliche Unterscheidung hat femer schon für die griechischen Atomisten eine Rolle gespielt. Demokrit wird die Äußerung zugeschrieben, daß in Wirklichkeit nur Atome und die Leere existieren, während Süßes, Bitteres, Heißes und Kaltes sowie Farbe nur der „gebräuchlichen Redeweise" nach seien (Vgl. Diels u. Kranz "1964 Fragment Β 125). Nach Aristoteles geht diese Vorstellung ursprünglich auf Leukipp zurück (vgl. Aristoteles 1994 985b). Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß sich die übliche Liste der sekundären Qualitäten mit der Liste derjenigen Qualitäten zu decken scheint, die man nur mit einem Sinn erfassen kann (Aristoteles unterscheidet in De Anima zwischen 'den Sinnen eigentümlichem Wahrnehmbaren', d.h., was nur mit einem Sinn wahrgenommen werden kann, und 'den Sinnen gemeinsam Wahrnehmbaren'. Seine Liste deckt sich dabei weitgehend mit der üblichen Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten. Vgl. Buch Π 418a 9-24). Aber eben nur weitgehend. Geruchs- und Geschmackseigenschaften lassen Überlappungen zu (z.B. „muffig"), obwohl sie allesamt als sekundäre Qualitäten gelten. Die traditionellen Listen für die primären Qualitäten sind weniger einheitlich: Galilei, Descartes, Boyle und Locke nennen Ausdehnung, Gestalt, Bewegung (oder Ruhe), Anzahl sowie Lage; Galilei und Descartes bringen noch zeitliche Dauer ins Spiel („duratio" bzw. „tempo"), Locke und Boyle nennen Textur sowie Locke zusätzlich Undurchdringlichkeit („solidity") und Galilei die Tatsache, ob ein Körper einen anderen berührt oder nicht (Für die Beispiele vgl. z.B. Locke 1690/1975 Π, viii, §§ 9, 10, 18, 23, Galilei 1623/1969 S.455f., Boyle 1666/1744 II, S. 461, ffl S.461, IV S.466 sowie Descartes, 1644/19641, § 69, IV, §§ 198-199). Vgl. Boyle 1666/1744 V. u. VI. S.466f„ Locke 1690/1975 Π, viii, §10 sowie Descartes 1644/1964 IV §199. Vgl. Locke 1690/1975 Π, viii, §§ 17, 23.
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wasserlöslich, wenn er sich gerade nicht in Wasser auflöst, kann man von einem Gegenstand sagen er sei rot, wenn kein Betrachter in der Nähe ist, oder dieser im Dunkeln die Farbe nicht sehen kann.93 Plausiblerweise besitzen Gegenstände bestimmte Dispositionen weil sie entsprechende „Basiseigenschaften" aufweisen. So löst sich etwa Zucker in Wasser auf, weil er eine bestimmte chemische Struktur hat. Entsprechend findet sich bei den Vertretern der dispositionalen Lesart der sekundären Qualitäten die Auffassung, daß in diesem Fall die primären Qualitäten diese Basis darstellen. So finden wir bei Locke die These, daß den Gegenständen sekundäre Qualitäten kraft der Tatsache zukommen sollen, daß sie bestimmte primäre Qualitäten besitzen: [...] such Qualities which in truth are nothing in the Objects themselves, but Powers to produce various Sensations in us by their primary qualities, [...] I call secondary Qualities. (Locke 1690/1975 Π, viii, § 10)94
Die Konzeption von sekundären Qualitäten, wonach diese als Dispositionen der Gegenstände anzusehen sind, die in Betrachtern bestimmte Erfahrungen hervorrufen, erlaubt nun ein ganz zwangloses Verständnis jener Formulierungen von Levine, Chalmers und Raffman, die uns erst so unplausibel vorgekommen sind: Die Beziehung zwischen dem Rot einer Tomate und dem „phänomenalen Rot" unserer Sinneserfahrung besteht einfach darin, daß die Tomate insofern rot ist, als sie in uns phänomenal rote Sinneserfahrungen hervorruft. Das Rot der Tomate ist eine dispositionale Eigenschaft der Tomate, das phänomenale Rot unserer Sinneserfahrung eine Eigenschaft unserer Sinneserfahrung, und die Eigenschaft der Tomate ist unter Rekurs auf die Eigenschaft unserer Sinneserfahrung zu erklären. Worauf gründet sich aber die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten genauer? Eine einfache Antwort ist hier schon deshalb schwierig, weil es einmal strittig ist, wie die klassische Unterscheidung des siebzehnten Jahrhunderts überhaupt richtig zu interpretieren ist, und dies zum anderen dazu geführt hat, daß ganz unterschiedliche moderne Versionen dieser Unterscheidung als deren legitime Erben ausgegeben wurden. Für unseren
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Vgl. dazu Boyle 1666/1744 VI. §4 S.467 sowie auch Locke 1690/1975 II, viii, §19. Nicht alle der genannten Autoren, die die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten getroffen haben, verstehen die sekundären Qualitäten als dispositionale Eigenschaften der fraglichen Gegenstände. Bei Galilei finden wir z.B. die These, in den sekundären Qualitäten sei ein rein subjektives Phänomen zu sehen: Die sekundären Qualitäten existieren demnach lediglich in unserer Wahrnehmung, wenn wir im Hinblick auf die Gegenstände von deren Farben usw. reden, dann haben diese Ausdrücke keine Referenz, sondern sind „bloße Namen" („puri nomi" vgl. Galilei 1624/1969 S.456). In dieselbe Richtung deutet natürlich auch das bekannte Fragment von Demokrit (vgl. Fußnote 90).
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Kontext ist lediglich wichtig zu sehen, was die Unterscheidung überhaupt legitimieren kann. Ganz grob betrachtet bestehen hier zwei alternative Auffassungen: Folgt man der ersten Auffassung, ist die Unterscheidung im wesentlichen empirisch motiviert. Folgt man der zweiten Alternative, sind die Gründe letztlich begrifflicher oder semantischer Natur. Werfen wir zunächst einen Blick auf die erste Alternative, die sich insbesondere im Rahmen des wissenschaftlichen Realismus nahelegt.
1.3.3.4.1
Die Unterscheidung im Kontext des wissenschaftlichen Realismus
Als wissenschaftlichen Realismus bezeichnet man gemeinhin die Auffassung, daß es letztlich Aufgabe der Naturwissenschaften ist herauszufinden, wie die Welt beschaffen ist. Was es wirklich gibt und was nicht, welche Eigenschaften die Dinge besitzen und welche nicht, ist dann eine Fragestellung, die durch diese Wissenschaften erfolgreich beantwortet wird, und kein Gegenstand philosophischer Forschung. Wenig überraschend ist diese Auffassung unter vielen Materialisten weit verbreitet.95 Eines der Hauptmotive für den wissenschaftlichen Realismus hat mit Sicherheit die faktische Erfolgsgeschichte naturwissenschaftlicher Erklärungen geliefert. Was hat diese Position aber mit der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten zu tun? Es hat sich einfach herausgestellt, daß die sogenannten sekundären Qualitäten im Inventar der Eigenschaften, dessen sich die Naturwissenschaften bedienen, keine Rolle spielen. In der modernen Physik ist z.B. nirgendwo von Farbe oder Wärme die Rede, sondern höchstens von Wellenlängen, Reflexionsgraden oder kinetischer Energie. Die explanatorische Irrelevanz der sekundären Qualitäten kann man auch schon als zentrales Thema klassischen Position ansehen.96 Insofern mag man im wissenschaftlichen Realismus den legitimen Erben dieser Position sehen.97 Anders als die klassische Auffassung ist sich der wissenschaftliche Realismus allerdings der Tatsache bewußt, daß Listen über die wirklichen Eigenschaften der Gegenstände im Verlauf des wissenschaftlichen Fortschritts immer wieder Veränderungen unterliegen. So spielen die klassischen primären Qualitäten Ausdehnung und Undurchdringlichkeit in der modernen Physik keine fundamentale Rolle mehr, während neue Größen wie etwa elektrische Ladimg hinzugekommen sind. Was 95
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Anhänger des wissenschaftlichen Realismus sind u.a. Smart, Armstrong, die Churchlands sowie Sellars. Vgl. dazu Mackie 1976 S.17ff. Solch eine Verbindung stellt z.B. Lanz her (vgl. Lanz 1996 S.114ff.).
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der wissenschaftliche Realismus unserer Tage aber auf jeden Fall mit Denkern wie Galilei, Descartes, Boyle und Locke teilt, ist die Auffassung, daß das wissenschaftliche Weltbild und nicht unser Alltagsweltbild unsere physische Umwelt korrekt erfaßt. Für einen Materialisten, der zugleich wissenschaftlicher Realist ist, stellt sich natürlich das Problem, wie er unsere Erfahrung von den sekundären Qualitäten angemessen deutet. Wenn Rot keine Eigenschaft eines Gegenstandes ist, die eine Rolle bei dessen physischer Interaktion mit der Umwelt spielt, was kann es dann noch heißen, daß uns ein Gegenstand rot erscheint, wo doch klar ist, daß auch hier eine physische Einwirkung des Gegenstandes auf unsere Sinne im Spiel ist? Im Prinzip gibt es hier drei Möglichkeiten: Entweder man gibt den sekundären Qualitäten ihre kausale Interaktion mit der physischen Umwelt zurück, indem man sie mit bestimmten physischen Eigenschaften identifiziert. So müßten dann z.B. die Farben, so wie sie uns in der Wahrnehmung erscheinen, mit bestimmten physikalischen Eigenschaften wie etwa Reflexionsgraden von Oberflächen identisch sein. Zweifellos ein anspruchsvolles Programm, da nicht leicht zu sehen ist, warum z.B. Rot, so wie wir es aus der Wahrnehmung kennen, solch eine Eigenschaft sein soll. Oder aber wir erliegen hier einer generellen Täuschung, weil es überhaupt nichts gibt, was in dem Sinn farbig ist, wie es uns farbig erscheint. Dies verlangt nach einer Erklärung dafür, wie solch ein Irrtum genauer zu denken sein soll. Es gilt dann zu klären, wieso es uns unweigerlich so vorkommt, daß eine Tomate buchstäblich in dem Sinne rot ist, wie sie uns in der Wahrnehmung rot erscheint, obwohl de facto nichts rot ist. Solch eine Erklärung wird auf die Gegebenheiten unseres Wahrnehmungsapparates bzw. Gehirns rekurrieren müssen und Qualia als Charakteristika unseres subjektiven Erlebens mit diesen identifizieren wollen. Oder man wird Qualia drittens gänzlich eliminieren wollen, so daß es nicht einmal ein entsprechendes subjektives Erleben gibt. Dies verlangt nach einer plausiblen Erklärung dafür, wie es uns dennoch unweigerlich so vorkommen kann, daß wir uns eines bewußten Erlebens erfreuen. In jedem Fall kann der wissenschaftliche Realismus an den Qualia nicht sprachlos vorbeigehen. Sollten diese Strategien alle scheitern, dann steht man offenkundig vor der Alternative, entweder den wissenschaftlichen Realismus für die Eigenschaften der uns umgebenden Gegenstände aufzugeben; eine rote Tomate hätte dann mit ihrer Farbe eine beobachterunabhängige objektive Eigenschaft, über die die Wissenschaften nichts zu sagen haben. Oder man läßt zu, daß bei unseren Wahrnehmungen bestimmte Qualitäten eine Rolle spielen, die sich nicht auf
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die Eigenschaften der wahrgenommenen Gegenstände reduzieren lassen. Damit hätte man das materialistische Programm für die Wahrnehmung aufgegeben und Qualia zugelassen. Ob man als wissenschaftlicher Realist diesen Konsequenzen entgehen kann oder nicht, soll uns im Moment noch nicht interessieren. Hier geht es, wie gesagt, erst einmal nur darum, die Behauptung zu plausibilisieren, es gebe Wahrnehmungsqualia. Hatten wir anfangs noch den Eindruck, daß diese Behauptung auf Grund der Transparenzthese eher künstlich und an den Haaren herbeigezogen klingt, so können wir jetzt sehen, daß aus der Perspektive des wissenschaftlichen Realismus erheblicher Argumentationsbedarf besteht, die Rede von Qualia erfolgreich zu vermeiden.98 Wie bereits erwähnt, läßt sich die Unterscheidimg zwischen primären und sekundären Qualitäten auch noch in anderer Weise motivieren.
1.3.3.4.2
Die begriffliche Unterscheidung und ihre Schwierigkeiten
Diese zweite Alternative geht wie gesagt davon aus, daß schon unser alltägliches Verständnis von den sekundären Qualitäten beinhaltet, daß es sich bei ihnen um dispositionale Eigenschaften der angegeben Art handelt." Lockes Behauptung über die sekundären Qualitäten, sie seien in Wahrheit „nothing in the objects themselves but powers to produce various sensations in us"100 würde demnach wiedergeben, was wir alle schon immer unter den entsprechenden Eigenschaften verstanden haben. Von einem Gegenstand zu sagen er sei grün, bedeutet dann nichts anderes als zu sagen, er rufe unter bestimmten Bedingungen in bestimmten Beobachtern eine bestimmte Empfindung hervor. Unsere Begriffe für primäre Qualitäten sollen hingegen keine solche Analyse zulassen. Sie sind vielmehr als diejenigen Qualitäten anzusehen, die eine vollständige, beobachterunabhängige Charakterisierung der Gegenstände unserer Umwelt, oder um es mit einer Formulierung von Bernard Williams auszudrücken, eine „absolute Konzeption" von der Wirklichkeit erlauben.101 Diese Rolle soll ihnen
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Es sind gerade diese Schwierigkeiten, auf die Peter Lanz sein Plädoyer für die Existenz von phänomenalem Bewußtsein gestützt hat (vgl. Lanz 1996). 99 Für diese Auffassung vgl. Bennett 1965/68, 1971, Williams 1978 S.242-245. McGinn 1983 v.a. Kap.2 u. 7, Dummett 1979, Evans 1980, McDowell 1985. Nagel sympathisiert explizit mit der Auffassung von McGinn, vgl. Nagel 1986 S.75. Dieser Ansatz tritt z.T. im Gewand einer Rekonstruktion der Positionen von Locke und Descartes auf (vgl. z.B. Bennett, Williams und McGinn). Für eine kritische Diskussion von Evans und Dummett vgl. Maund 1995 S.1215, S.36-38. Zur Kritik von Bennetts Position vgl. Mackie 1976 S.34f. 100 Vgl. Locke 1690/1975 Π, viii, §10. 101 Vgl. McGinn 1983 S.74f., 138f. Für diesen Ausdruck vgl. Williams 1978 S.245^9.
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u.a. deshalb zukommen, weil ihr Vorliegen auf eine Weise gemessen werden kann, die eine Korrektur unserer entsprechenden Erfahrungen erlaubt, und weil wir ihnen eine explanatorische Relevanz fur das Zustandekommen unserer entsprechenden Wahrnehmungen zubilligen können.102 Anders bei den sekundären Qualitäten. Sie gehören nach dieser Konzeption zu jener großen Gruppe von Eigenschaften, bei denen von Haus aus klar ist, daß sie eine Relation zu mentalen Zuständen implizieren. Eine bestimmte Farbe zu haben wäre demnach eine ähnliche Eigenschaft wie interessant, spannend oder wohlschmeckend zu sein. Bei diesen Eigenschaften kann man nicht sagen, daß sie Gegenständen unabhängig davon zukommen, daß sie in irgendeiner Weise auf jemanden wirken. Interessant oder wohlschmeckend zu sein heißt nichts anderes, als in bestimmter Weise auf jemanden zu wirken. Anders als bei einer intrinsischen Eigenschaft ist es hier auch ohne weiteres denkbar, daß ein Gegenstand ceteris paribus für den einen von uns interessant erscheint, für den anderen hingegen nicht. Wir haben zwar gewisse Standards dafür, was interessant ist oder nicht, aber die beruhen eben nur darauf, daß bestimmte Gegenstände auf die meisten Menschen entsprechend wirken. Wenn wir den Kopf schütteln über jemanden, weil er das Fernsehtestbild spannender findet als einen Film von Hitchcock, dann nicht deshalb, weil er eine bestimmte objektive Eigenschaft eines Gegenstandes nicht zur Kenntnis nimmt, sondern weil er nicht unsere Standards teilt. Der Testbildliebhaber erliegt keinem Irrtum über die objektiven Eigenschaften von Gegenständen in der Welt, er hat letztlich nur eigenartige Präferenzen. Die Kritik an entsprechenden Wahrnehmungsurteilen oder die Einstufung von jemandem als „rot-grün-blind" ist dann ebenfalls nicht als Verkennen objektiver Eigenschaften sondern lediglich als Abweichimg vom intersubjektiv üblichen Standard anzusehen. Und dies gilt dann nicht deshalb, weil wir herausgefunden haben, daß es keine entsprechende objektive Eigenschaft gibt, sondern aus begrifflichen Gründen. Der häufig betonte Umstand, daß sekundäre Qualitäten keine Rolle bei der Erklärung des Zustandekommens unserer entsprechenden Wahrnehmungen spielen, kann von dieser Auffassimg als mehr oder weniger triviale Konsequenz der These verbucht werden, daß sekundäre Qualitäten aus begrifflichen Gründen Dispositionen der angegebenen Art sind: Wenn eine bestimmte sekundäre Qualität zu haben nichts anderes heißt, als daß der Gegenstand einem Betrachter in dieser Qualität erscheint, dann können wir unsere Wahrnehmung von ihr, also daß sie uns so erscheint, nicht unter Rekurs auf die sekundäre
102
Vgl. McGinn 1983 S. S.8ff„ S.115.
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Qualität als Eigenschaft des Gegenstandes erklären, ohne in einen Zirkel zu geraten: Wenn rot zu sein nichts anderes bedeutet als rot auszusehen, dann können wir die Tatsache, daß etwas rot aussieht, nicht dadurch in informativer Weise aufklären, daß es rot ist.103 Mit dieser kurzen Skizze dieser Position stehen zugleich zwei Fragen im Raum: Erstens die Frage, welche Konsequenzen sich aus ihr für die Annahme der Existenz von Qualia ergeben, und zweitens, wieviel Plausibilität sie für sich beanspruchen kann. Was die Frage nach der Existenz von Qualia betrifft, so heißt dies, daß der erste Schritt zu ihrer Annahme begrifflicher Natur ist. Eine adäquate Analyse der Tatsache, daß χ rot ist, würde uns darauf verweisen, daß χ jemandem rot erscheint. Ob wir genötigt sind, Wahrnehmungsqualia anzunehmen oder nicht, würde sich dann im zweiten Schritt daran entscheiden, wie wir es verstehen wollen, daß jemandem etwas in einer bestimmten Farbe erscheint. In jedem Falle verweist uns nach diesem Ansatz schon die bloße Analyse der Begriffe für die sekundären Qualitäten auf ein subjektives Element.104 Was die zweite Frage betrifft, so müssen hier ein paar kritische Hinweise genügen. Die zentrale Frage lautet hier natürlich, ob wir es hier tatsächlich mit einer begrifflichen Tatsache zu tun haben. Vieles deutet darauf hin, daß der Common sense die sekundären Qualitäten als objektive, beobachterunabhängige Eigenschaften interpretiert, so daß von einer Relativierung auf Beobachter aus begrifflichen Gründen keine Rede sein kann. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die intuitive Plausibilität der Transparenzthese vor Augen hält. Die Transparenzthese macht nur Sinn vor dem Hintergrund der Annahme, daß es sich bei den sekundären Qualitäten um objektive Eigenschaften der Gegenstände handelt. Damit steht dieser Vorschlag aber offenbar im Widerspruch zu unseren begrifflichen Alltagsintuitionen anstatt sie zu rekonstruieren. 105 Darüber hinaus scheint es typisch für unsere Alltagsauffassung, daß wir Leute, die zu Fehlurteilen bei Farben usw. kommen, auffordern, ihre Sinne erneut dem fraglichen Objekt zuzuwenden, um seine wirkliche Eigenschaft zu entdecken, statt lediglich eine Anpassung an unsere gängige Urteilspraxis zu fordern. Und was schließlich die Tatsache der explanatorischen Irrelevanz betrifft, so wird man sagen müssen, daß es sich hier in erster Linie um empirische Entdeckungen handelt, die uns haben erkennen lassen, daß für den Umstand, daß uns ein Gegenstand rot erscheint, die Reflexionseigenschaften des 103 104
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Vgl. a.a.O. S.15, S.115. Nicht umsonst trägt jenes Buch, in dem McGinn sich für diese These stark macht, den Titel „The subjective View". McGinn hat dies inzwischen eingeräumt und deshalb einen Alternativvorschlag unterbreitet (vgl. McGinn 1996).
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Gegenstandes, die Wellenlängenkomposition des Lichts und v.a. die Gegebenheiten in unserem visuellen System von Bedeutung sind, aber kein Rekurs auf eine Farbe als objektiver Oberflächeneigenschaft des fraglichen Gegenstandes ins Spiel kommt. Auch scheint es zweifelhaft, die begriffliche Unterscheidung darauf gründen zu wollen, daß wir nur bei primären Qualitäten über Meßverfahren verfügen, unsere Erfahrungsurteile zu korrigieren. Was wir messen und was nicht, hängt letztlich von empirischen Faktoren ab und eignet sich daher kaum, um eine begriffliche Unterscheidung zu etablieren. Zudem verfügen wir im Fall der Temperaturmessung angesichts einer sekundären Qualität über ein Verfahren unsere Temperaturempfindungen zu korrigieren. Selbst wenn wir uns alle einig sein mögen, daß es heute mindestens -20 °C sein müssen, hat hier das Thermometer das letzte Wort. Das Beispiel Temperatur lenkt die Aufmerksamkeit auf einen radikalen Gegenvorschlag zu der These, daß sekundäre Qualitäten aus begrifflichen Gründen als betrachterrelative Dispositionen von Gegenständen aufgefaßt werden müssen. So schätzen eine ganze Reihe von Philosophen auch die anderen sekundären Qualitäten analog zum Temperaturbeispiel ein.106 Demnach läßt sich die semantische Analyse, die Kripke und Putnam für Eigennamen und Bezeichnungen natürlicher Arten vorgeschlagen haben, auf die Ausdrücke für sekundäre Qualitäten ausdehnen.107 Die Art, wie uns z.B. bestimmte Farben erscheinen, würde dann, mit Kripke gesprochen, nur dazu dienen, die Referenz unseres Farbvokabulars zu fixieren. Sie würde aber keine Information darüber enthalten, was Farben tatsächlich sind, und damit auch nichts darüber aussagen, was Ausdrücke wie „Farbe" oder auch „rot" bedeuten.108 Nach 106
Vgl. z.B. Kripke 1980 S.127f„ S.140 Fn.71, Jackson u. Pargetter 1987, Hilbert 1987 sowie v.a. Jackson 1996, der hier die Grundlage der Darstellung bilden soll. Vgl. dazu Kripke 1980 sowie Putnam 1975. Folgt man Kripke und Putnam, gehört es zur Bedeutung von Ausdrücken für natürliche Arten, daß sich diese Ausdrücke auf jene Sorte von Gegenständen beziehen, die in der Situation der Namensgebung in einer geeigneten kausalen Relation zum Namensgeber standen. Die Grundidee ist, daß wir es hier mit einer Klasse von Ausdrücken zu tun haben, zu deren Semantik es gehört, daß die Natur dessen, was sie bezeichnen, nicht auf der Hand liegt, sondern etwas ist, was es erst zu entdecken gilt. Deijenige, der den Namen „Gold" eingeführt hat, konnte Gold mit ziemlicher Sicherheit nicht von falschem Gold unterscheiden („Nicht alles, was glänzt, ist Gold"), er wußte nicht, daß es sich dabei um das chemische Element Aureum handelt. Ob etwas Aureum ist oder nicht, hängt nicht davon ab, welche farbliche Erscheinung es hat, sondern vielmehr davon, welche atomare Struktur es besitzt. Die Erscheinungsweise (bzw. eine entsprechende Beschreibung) mag für die Festlegung der Referenz von Belang sein, gehört aber nicht zur Bedeutung des Ausdrucks. Die Theorie von Kripke und Putnam bringt hier die Intuition zum Ausdruck, daß die Bedeutung des Ausdrucks „Gold" gleich geblieben ist, obwohl sich die Methoden, wie man Gold identifiziert, im Lauf der Zeit radikal verändert haben. Demnach meint der Mensch der Antike, wenn er von „Gold" spricht, dieselbe Sache wie ein moderner Edelmetallexperte. 108 Diese Analyse des Farbbegriffs könnte selbst dann zutreffend sein, wenn sich herausstellen
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diesem Vorschlag können wir sekundäre Qualitäten als betrachterunabhängige, objektive Eigenschaften von Gegenständen analysieren. Das heißt allerdings nicht, daß man damit auch der Wahrnehmungsqualia als subjektiver Qualitäten entledigen kann. Schließlich geht es ihr nur um die Analyse unserer Begriffe für Farben usw., nicht um eine Analyse unserer entsprechenden Erfahrungen oder der Art wie uns Farben usw. erscheinen. Zumindest was die Semantik der Farbnamen betrifft, gibt es allerdings gewichtige Einwände gegen den Vorschlag, daß sie nach dem Kripke-PutnamModell zu analysieren sind. Führt doch das semantische Modell, wonach sich Farben als beobachterunabhängige, objektive Eigenschaften von Gegenständen verstehen lassen, zu folgender Konsequenz: Ganz so wie man bei anderen Termini, die dieser Semantik gehorchen, etwa solchen für natürliche Arten wie „Gold", von „falschem Gold" reden kann (also von Gold, welches nur so erscheint wie wirkliches Gold, aber keines ist), ganz so müßte man dann auch von „falschem Rot" usw. reden können, einem Rot, welches keines ist, sondern nur so erscheint. Die Erscheinung von Rot hätte dann bloß eine zufällige Rolle für die Festlegung der Referenz des entsprechenden farblichen Ausdrucks gespielt. Dies erfordert lediglich, daß sie in unserer Welt bis zu einem gewissen Grade mit faktischem Rot einhergeht, sie erfordert aber weder, daß dies generell so ist, noch, daß es nicht mögliche Welten geben könnte, in denen rote Gegenstände allen gelb oder grün oder vielleicht sogar in gar keiner einheitlichen Weise erscheinen. Unsere visuelle Wahrnehmung sagt uns dann über die Farben der Gegenstände nicht viel mehr, als sie uns über die chemischen Elemente Gold oder Molybdän sagt. Dementgegen impliziert unser Alltagsbegriff von Farben jedoch offenbar, daß die visuelle Wahrnehmung uns die Farben so zeigt, wie sie wirklich sind, und nicht bloß grobe Anhaltspunkte über sie liefert. Damit spielen unsere Farberfahrungen nicht nur eine Rolle für die Fixierung der Referenz von Farbausdrücken, sie sagen uns auch, was Farben sind. Dies macht auch deutlich, warum Blindgeborene, wenn überhaupt, nicht denselben Farbbegriff wie Sehende haben können. Darauf kann der Verteidiger des Kripke-Putnam-Modells für Farbausdrücke allerdings entgegnen, daß es offenbar auch zu unserem Alltagsverständnis von Farben gehört, daß sie unsere Farbwahrnehmungen kausal hervorrufen. Das beinhaltet aber, daß Farbe und Farberscheinung voneinander logisch unabhängig sind. Damit ist jedoch nicht mehr ersichtlich, warum uns die visuelle Wahrnehmung mit den
sollte, daß es gar keine einheitliche Eigenschaft gibt, die jene Gegenstände aufweisen, die wir als „rot" bezeichnen. Es würde lediglich bedeuten, daß die fraglichen Begriffe eben nicht referieren.
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Farberscheinungen die Farben notwendig so zeigen sollte, wie sie sind.109 Und was den Blindgeborenen betrifft, so könnte man sagen, ihm fehle ein Begriff von der Art, wie uns Farben erscheinen, nicht hingegen von Farben als objektiven Eigenschaften der Gegenstände. Dieser Hinweis nützt jedoch wenig gegen einen Einwand, der ausgerechnet denjenigen Faktoren Rechnung trägt, die es attraktiv machen, von einer spezifischen kausalen Rolle von Farben im Blick auf uns zu sprechen.110 So fungieren Farben als Zeichen oder Indikatoren für die Reidentifikation von Gegenständen, darüber hinaus haben sie bestimmte psychologische Effekte (beruhigend, erregend usw.) und verschiedene ästhetische Funktionen, die großteils von Eigenschaften abhängen, die das Verhältnis der Farben untereinander bestimmen, wie etwa Harmonie und Kontrast. Viele der Anzeigefunktionen von Farben sind dabei konventioneller Natur (etwa ob Schwarz oder Weiß für Trauer steht). Für die Erfüllung all dieser Faktoren scheint jedoch allein die Orientierung daran, wie uns Farben erscheinen, maßgeblich zu sein, da all diese Rollen an dieser Erscheinungsweise anknüpfen. Ein Kleidungsstück hätte wohl kaum deshalb als Trauerkleidung im europäischen Raum ausgedient, weil sich herausstellen würde, daß es nach den Kriterien für „objektive" Farbe orange ist. Sofern eine Unterscheidung Sinn macht, nach der erscheinendes Schwarz „falsches Schwarz" sein könnte, sofern wären wir in bezug auf die entsprechende kausale Rolle in erster Linie an diesem „falschen Schwarz" interessiert und wir würden es natürlich auch als „schwarz" bezeichnen. Damit ist klar, daß das Kripke-Putnam-Modell keine plausible Analyse unseres Farbvokabulars liefern kann. Darüber hinaus ergibt sich hier ein interessanter Kontrast zu den traditionellen primären Qualitäten wie Form oder Ausdehnung: Auch sie haben psychologische Wirkungen, fungieren als konventionelle Zeichen usw. Aber hier besteht in Folge der kausalen Eigenschaften zweiter Ordnung, die diese Eigenschaften besitzen (z.B., daß kubische Gegenstände stapelbar sind usw.), die Möglichkeit, daß die erscheinende Eigenschaft und die tatsächlich bestehende Eigenschaft in einem Sinn auseinanderfallen können, der die Rede von „falschen Vierecken" usw. erlaubt: In einer Welt, in der uns alle Gestalten verzerrt erscheinen (etwa weil sich die Atmosphäre oder die Struktur unserer Linse im Auge entsprechend verändert hat), gäbe es in Geometrie, Architektur und Ingenieurswesen immer noch ein Interesse an „tatsächlichen Vierecken."111 109 110 111
Für beide Gesichtspunkte vgl. Jackson 1996 S.210f. Vgl. Maund 1995 S.64ff. Schon jetzt ist es ja so, daß wir mit bloßem Auge nicht erkennen können, ob etwas wirklich
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Die Tatsache, daß Farbnamen nicht nach dem Kripke-Putnam-Modell zu analysieren sind, sollte allerdings nicht als Beleg dafür verstanden werden, daß wir Farben aus begrifflichen Gründen für betrachterrelativ halten. Denn dieses Ergebnis ist bestens damit kompatibel, daß wir von Haus aus geneigt sind, eben jene Eigenschaften, die die besagten psychologischen Wirkungen haben und von uns mit bestimmten konventionellen Rollen betraut worden sind, auch für diejenigen Eigenschaften zu halten, die in uns Farbwahrnehmungen hervorrufen und die den Gegenständen auch unabhängig davon zukommen, ob es bestimmte Beobachter gibt oder nicht. Ganz in diesem Sinne hat Maund einen goldenen Mittelweg zur Semantik der Farbausdrücke beschritten, wonach der Alltagsbegriff von Farben zwei Faktoren beinhaltet:112 Erstens: Farben haben wesentlich eine charakteristische Erscheinung. Zweitens: Farben sind diejenigen Eigenschaften, die eine zentrale kausale Rolle dabei spielen, daß sie uns so erscheinen, wie sie uns erscheinen. Diese Analyse unterscheidet sich von der begrifflichen Analyse maßgeblich durch den zweiten Gesichtspunkt, da Farben hier als Ursachen, unabhängig von den Farberscheinungen, die sie hervorrufen, zu verstehen sind. Von der Analyse nach dem Kripke-Putnam-Modell unterscheidet sich dieser Vorschlag hingegen durch den ersten Gesichtspunkt, da hier nicht nur eine kontingente Beziehung zwischen Farberscheinung und Farbe gemeint ist, sondern vielmehr, daß die spezifischen Erscheinungen die Farben so zeigen wie sie sind, und diese nicht nur anzeigen. Es ist ein Frage, wie unser Farbbegriff richtig zu analysieren ist, eine ganz andere jedoch, ob ihm auch etwas in der Wirklichkeit entspricht. Entscheidend ist hier also, ob es de facto so ist, daß Farbe, so wie sie uns erscheint, auch diejenige Eigenschaft ist, die kausal dafür verantwortlich ist, daß wir Farben wahrnehmen. Sollte dies nicht so sein, dann gibt es keine einzelne Eigenschaft, die den beiden genannten Komponenten unseres Farbbegriffs gerecht wird. Dies würde letztlich darauf hinauslaufen, daß es Farbe in diesem Sinn nicht wirklich gibt. Ob es sie gibt oder nicht, hängt davon ab, ob wir eine objektive Eigenschaft ausfindig machen können, die die entsprechenden Erfordernisse erfüllt. Wie bereits angedeutet, ist höchst umstritten, ob es de facto eine physische Eigenschaft gibt, die diese Rolle einnehmen kann. Sollte es tatsächlich keine solche Eigenschaft geben, so zeigt dies natürlich nicht, daß es keine hätte geben können. Die These, daß Farben oder die sekundären Qualitä-
112
rund ist, und nicht vielmehr nur ein Oval oder ein Vieleck. Bestimmte Tests, die auf die kausalen Eigenschaften rekurrieren, die sich aus den geometrischen Eigenschaften ergeben, können hier Abhilfe schaffen: Ob wir einen Kolben wirklich kreisrund geschliffen haben, zeigt sich letztlich daran, ob er sich ohne Widerstand in einem entsprechenden Lager drehen läßt. Vgl. Maund 1995 S.70.
Qualia
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ten allgemein in dem Sinne subjektiv sind, als sie nur in den Wahrnehmungserscheinungen bestimmter Wahrnehmungssubjekte figurieren, wäre dann aus empirischen Gründen und nicht aus begrifflichen Gründen wahr. Für den Augenblick ist nur folgendes von Bedeutung: Maunds Rekonstruktion des alltäglichen Farbbegriffs macht verständlich, warum einem die Transparenzthese so einleuchtet und warum man die Vorstellung, daß Farben in irgendeiner Hinsicht etwas Subjektives sein sollen, erst wenig plausibel vorkommt, sie läßt aber auch Raum für die Möglichkeit, daß es aus faktischen Gründen nichts gibt, was beide diese Funktionen erfüllt. Damit können die tatsächlichen Eigenschaften der Gegenstände, die unsere Farbwahrnehmungen auslösen, und die Art, wie wir die Farben in der Wahrnehmung erleben, auseinandertreten, so daß zur Klärung des letzteren die Postulierung bestimmter intrinsischer Eigenschaften der Wahrnehmung selbst (Qualia) geboten sein könnte. Resümierend können wir also zu den sekundären Qualitäten als Grund für die Annahme der Existenz spezifischer Wahrnehmungsqualia folgendes festhalten: Mag es dem gesunden Menschenverstand zunächst eher abwegig erscheinen, bei den sekundären Qualitäten in Zweifel zu ziehen, daß es sich um beobachterunabhängige Eigenschaften der Umgebung handelt, ergeben sich bei näherem Hinsehen eine ganze Reihe von unterschiedlichen Ansätzen, die diese Unterscheidung dennoch zu motivieren vermögen. In all diesen Konzeptionen scheint entweder ein sinnvoller Platz für Wahrnehmungsqualia zu sein, die als intrinsische Eigenschaften unserer Sinneserfahrung zu verstehen sind, oder ein Bedarf nach entsprechenden Alternativen gegeben, die die Qualia überflüssig machen. Keine dieser Positionen kann sich ohne weiteren Kommentar darauf berufen, daß die sekundären Qualitäten einfach beobachterunabhängige Eigenschaften der Gegenstände sind, wie der gesunde Menschenverstand es zunächst will. Damit sind wir am Ende unserer Erörterung der Motive angelangt, die einen zur Annahme von Qualia führen können. Es ist wichtig zu sehen, daß der Begriff „Quäle" manchmal auch etwas anders verstanden wird, und zwar in einem Sinn, der für die hier folgenden Diskussionen keine Rolle spielen soll. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sollten wir auf eine besonders einflußreiche Verwendung hier kurz eingehen.
1.3.4
Qualia als Fundament der Erkenntnis?
Der Begriff Quale hat eine Vorgeschichte, die leicht zu Mißverständnissen führen kann: So spricht etwa C. I. Lewis in seinem Buch The Mind and the World Order häufig von Qualia, und zwar in einem Sinn, der sich mit den hier
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Qualia
angegebenen Merkmalen z.T. durchaus überschneidet, aber eben nicht identisch ist. Vor allem muß man die Ziele, in deren Rahmen C. I. Lewis seine Qualia einführt, von den Zielen und Zwecken der Qualia-Sympathisanten in der gegenwärtigen Diskussion unterscheiden: C. I. Lewis verfolgt ein erkenntnistheoretisches Projekt, in dem zwei theoretische Größen eine herausragende Rolle spielen: „Das Gegebene" und seine begriffliche Verarbeitung.113 Diese beiden Elemente sind unabdingbar für empirische Erkenntnis, ganz ähnlich wie bei Kant „Anschauung" und „Begriff" beide notwendig sind für empirische Erkenntnis. Und so wie bei Kant die Anschauung nichts Unstrukturiertes ist, sondern ein „Mannigfaltiges" präsentiert, ist auch C. I. Lewis' Gegebenes nicht unstrukturiert. Die Elemente, die diese Struktur letztlich ausmachen, nennt C. I. Lewis „Qualia."114 Lewis' Qualia sind subjektiv, sprachlich nicht artikulierbar („ineffable") und man kann sich über ihren Charakter nicht täuschen.115 Die Vorstellung, empirische Erkenntnis beruhe auf einem Gegebenen dieser Art, welches letztlich das Fundament dieser Form von Erkenntnis bilden soll, ist in den letzten Jahrzehnten bekanntlich heftigen Angriffen ausgesetzt gewesen.116 Ob diese Angriffe berechtigt sein mögen oder nicht, für unseren gegenwärtigen Diskussionskontext ist wichtig zu sehen, daß das aktuelle Interesse an Qualia nicht von bestimmten erkenntnistheoretischen Fragestellungen der Art geleitet ist, was als Fundament unserer Erkenntnis firmieren könnte, sondern vielmehr davon, wie eine adäquate Charakteristik von mentalen Zuständen, insbesondere von Sinneserfahrungen und Empfindungen auszusehen hat, und ob die bekannten Spielarten des Materialismus in der Lage sind, solch einer Charakteristik gerecht zu werden oder nicht. Dieser Fragenkomplex ist natürlich völlig unabhängig von der Problematik einer fundamentalistisch orientierten Erkenntnistheorie: Man kann Qualia für die adäquate Charakterisierung mentaler Zustände für unabdingbar halten und gleichzeitig der Auffassung sein, daß sie eine unüberwindliche Hürde für den Materialismus darstellen, ohne ein Fundamentalist in der Erkenntnistheorie zu sein. Die Frage nach dem Charakter mentaler Zustände hat erst einmal gar nichts zu tun mit der Frage nach der richtigen Erkenntnistheorie bzw. der Frage, welche mentalen Zustände mit welchem Charakter in solch einer Theorie welche Rolle spielen
113
Vgl. C. I. Lewis 21956 S. S.38 sowie Kap.2 passim. Vgl. C. I. Lewis 21956 S. 60. 115 Vgl. C .1. Lewis 21956 S.124f. Die sprachliche Unartikulierbarkeit von Lewis' Qualia scheint dabei eine Folge der Tatsache zu sein, daß sie die Basis für jeglichen Begriffs- und Spracherwerb bilden. 116 Vgl. u.a. Seilars 1956/1963, Rorty 1979. 114
Resümee
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sollen.117 Auch wenn also gewissermaßen der historische Ursprung des Terminus „Quäle" anderes nahelegen mag, so ist die gegenwärtige Qualiadebatte völlig unabhängig von den erwähnten erkenntnistheoretischen Problemstellungen.118 Mit der Maßgabe, daß die Qualiaproblematik nichts mit dem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus zu tun hat, können wir uns wieder unserem eigentlichen Thema, der Philosophie des Geistes, zuwenden, um unsere Vorstellung vom phänomenalen Bewußtsein im Kontext anderer, insbesondere traditioneller Bewußtseinsbegriffe etwas schärfer zu konturieren.
1.4
Resümee
Wenn man sich fragt, was Qualia sind, so lassen sich zwei unterschiedlich weitgehende Bestimmungen festhalten: Erstens, Qualia sind diejenigen Eigenschaften von mentalen Zuständen, die ausmachen, wie es ist, in ihnen zu sein. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die mentale Zustände in dieser Hinsicht aufweisen, sind Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Qualia geschuldet. Zweitens: Qualia sind intrinsische Eigenschaften unserer Sinneserfahrungen und Empfindungen. Diese Annahme mag gegebenenfalls erforderlich sein, um den erörterten vier Gesichtspunkten, die die Annahme von Qualia rechtfertigen können, befriedigend gerecht werden zu können. Diese Gesichtspunkte lauten: Gegebenenfalls gibt es mentale Zustände, deren Gehalt sich nicht völlig auf repräsentationalen Gehalt zurückführen läßt, so daß wir Qualia benötigen, um die Ähnlichkeiten und Differenzen dieser Zustände festmachen zu können. Beispiele waren hier v.a. Körperempfindungen wie Schmerz, aber auch Stim-
117
Natürlich ist es denkbar, eine fundamentalistische Erkenntnistheorie insofern mit der These von der Existenz der Qualia zu verknüpfen, als man Qualia zum Fundament der Erkenntnis macht. Und vielleicht lassen sich die meisten klassischen erkenntnistheoretischfundamentalistischen Projekte so rekonstruieren, gleichviel, ob sie den Terminus "Quale'1 verwenden oder nicht. Aber selbst solch eine Verbindung zwischen Qualia und Fundamentalismus scheint nicht zwingend zu sein, da die Idee, unsere Erkenntnis brauchte eine unanzweifelbare Basis, nicht zwangsläufig auf Qualia verweisen muß. Schließlich ist auch das berühmteste Argument für solch eine Basis, Descartes' Cogito-Argument, ohne Rekurs auf die Existenz von Qualia möglich. 118 Vergleichbares ließe sich auch über die Rolle von Qualia für die Ethik sagen: Angenommen jemand vertritt eine Ethik, deren fundamentale Kategorien empfundene Lust und Leid sind. In dieser Konzeption würden Qualia vermutlich eine ausgezeichnete Rolle spielen. Gesetzt nun, es setzt sich die allgemeine Überzeugung durch, daß solch eine Ethik unhaltbar ist, etwa weil eine Ethik, die diesen Namen verdient, deontologisch oder kantianisch aufgebaut sein muß. Qualia hätten dann nicht die ethisch bedeutsame Rolle, die man ihnen zuschreiben wollte, aber wir hätten damit natürlich kein Argument gegen die Existenz von Qualia gefunden.
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Qualia
mungen und Gefühle wie Trauer oder Freude. Qualia wären dann verantwortlich für die entsprechenden Unterschiede im Empfinden und Fuhlen. Es gibt Schwierigkeiten, den Gehalt der Wahrnehmung als vollständig representational aufzufassen, wie die Beispiele mit den unterschiedlich entfernten Alleebäumen usw. zeigen sollten. Es gibt Unterschiede zwischen Wahrnehmen und Denken, die sich einerseits unmittelbar für den Betroffenen manifestieren, zum anderen in unterschiedlichen Konsequenzen dieser Zustände. Gegebenenfalls brauchen wir zur Erklärung unserer Wahrnehmung einiger Eigenschaften die Annahme, daß es Qualia gibt, weil die Gegenstände diese Eigenschaften gar nicht besitzen können (das Problem der sekundären Qualitäten). Die Punkte zwei bis vier haben alle etwas damit zu tun, wie uns etwas in der Wahrnehmung erscheint. Sollte die Auffassung richtig sein, daß Körperempfindungen (sowie die fraglichen Anteile an Emotionen und Stimmungen) letztlich eine Art Wahrnehmung des eigenen Körpers sind, dann reduziert sich die erste Frage ebenfalls auf das Problem des Erscheinens in der Wahrnehmung. Wir müssen im Folgenden also versuchen herauszufinden, inwieweit diese vier Gesichtspunkte, seien es alle oder nur einige, wirklich stichhaltig sind. Entsprechend wird die Frage, wie es zu verstehen ist, daß uns ein Gegenstand in der Wahrnehmung erscheint, in den folgenden Diskussionen einen breiten Raum einnehmen. Hier scheint es viel schwieriger als bei den somatischen Empfindungen, sich davon zu überzeugen, daß hier ein wesentlich subjektiver Aspekt eine Rolle spielt.
2
Phänomenales Bewußtsein im Kontext
In der Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Begriff „Bewußtsein" ganz unterschiedlich verwendet wird, so daß man den Begriff „phänomenales Bewußtsein" am besten erst einmal als terminologische Wendung dafür versteht, daß es irgendwie ist, in einem bestimmten mentalen Zustand zu sein. In diesem Abschnitt soll auf einige der anderen Bewußtseinsbegriffe eingegangen werden, die man vom phänomenalen Bewußtsein abgrenzen sollte. Dabei wird sich u.a. zeigen, daß einer dieser weiteren Begriffe in unserer Darstellung bereits implizit eine wichtige Rolle gespielt hat. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf einige alltägliche Wendungen, in denen die Rede von Bewußtsein oder dem Adjektiv „bewußt" direkt oder indirekt auftaucht.
2.1
Zur alltäglichen Rede von Bewußtsein
Wenn man von jemandem sagt, er sei bewußtlos, so meinen wir damit in der Regel, er sei entweder unter Vollnarkose, ohnmächtig oder in traumlosem Tiefschlaf. Wer sich nicht in diesen Zuständen befindet, ist hingegen „bei Bewußtsein". Angesprochen wird damit offenbar eine Art Gesamtzustand eines Lebewesens. Ferner reden wir aber auch davon, daß wir uns eines Schmerzes oder einer Berührung bewußt sind. Damit ist in erster Linie gemeint, daß man den Schmerz oder die Berührung spürt oder föhlt.U9 Diese Rede von „bewußt" steht offenbar in engem Zusammenhang mit der erstgenannten Verwendungsweise, weil wir von jemandem, der keinerlei Bewußtsein von seinen Schmerzen oder bestimmten Stimuli wie Berührungen hat, kurz, der nichts mehr spürt, in der Regel nicht sagen würden, er sei bei Bewußtsein. Einige ganz andere Verwendungen von „bewußt" kommen in Wendungen wie der folgenden zum Ausdruck: „Ich habe ganz bewußt auf das Honorar verzichtet", was nichts anderes besagt, als daß man etwas absichtlich getan
119
„Fühlen" und insbesondere „spüren" beziehen sich meistens auf einen somatischen Kontext. Der Ausdruck „bewußt" wird allerdings gelegentlich auch dann in gleicher Weise wie das Wort „fühlen" gebraucht, wenn kein solch ein Kontext gegeben ist oder wo dies Zumindestens zweifelhaft ist: „Ich bin mir keiner Schuld bewußt" entspricht „Ich fühle mich nicht schuldig."
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
hat, und zwar in dem Sinne, daß man sich über seine Absicht völlig im klaren ist. Ganz ähnlich sind auch Äußerungen wie „Es war mir bewußt, daß sie meine Äußerung verletzen würde." Dies kann einmal besagen, daß man die fragliche Äußerung absichtlich getan hat. Es heißt aber auch, daß man wußte, was die Äußerung bewirken würde. Ist in solchen Kontexten von fehlendem Bewußtsein die Rede, so kann dies schlicht fehlendes Wissen oder auch Mangel an Klarheit bedeuten. In der positiven Form ist damit jedoch nicht einfach gemeint, daß man etwas weiß, sondern, daß es einem irgendwie zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenwärtig oder wenigstens verfügbar ist. Da man etwas auch wissen kann, ohne daß es einem in dieser Weise verfügbar oder gegenwärtig ist, kann man „bewußt" hier nicht mit „wissen" gleichsetzen. So kann jemand sein ganzes Leben lang wissen, daß 2 + 2 = 4 , ohne daß ihm dieses Wissen zu jedem Zeitpunkt seines Lebens zur Verfügung steht oder gegenwärtig ist, z.B. im Tiefschlaf oder extremen Streßsituationen. Es heißt nur, daß man in der Regel in bestimmten Situationen entsprechende Rechenaufgaben lösen kann usw. Eine weitere Bedeutung von „bewußt", häufig in der Steigerungsform verwendet, meint etwa dasselbe wie Aufmerksamkeit oder auch Konzentration. Diese Aufmerksamkeit kann sich einmal auf bestimmte Dinge, Handlungen usw. richten, etwa, wenn man sich „bewußter ernährt", also mehr darauf achtet, was man ißt, sie kann sich aber auch auf das eigene Erleben und die eigenen Reaktionen richten, z.B. wenn einem bewußt wird, daß einem das Rauchen gar keinen Genuß bereitet, sondern nur einen Zwang darstellt. Oder wenn man eines Tages bemerkt, daß man sich in Gegenwart einer bestimmten Person nicht besonders wohl fühlt. In solchen Fällen ist die Aufmerksamkeit auf die eigene Geschmacksempfindung beim Rauchen oder bestimmte Körpergefühle bezogen, die man schon die ganze Zeit, also vor Einsatz der Aufmerksamkeit verspürt und insofern bewußt erlebt hat. Die Aufmerksamkeit verschafft einem hier nicht das Geschmacks- oder Gefühlserlebnis selbst, sondern erlaubt einem etwas darüber zu entdecken, wie einem die Zigarette schmeckt, gegebenenfalls sogar, wie sie einem die ganze Zeit über geschmeckt hat. Die letzten beiden Verwendungen haben ganz klar einen kognitiven Sinn, es geht hier um bestimmte kognitive Leistungen, bei den ersten beiden Verwendungsweisen ist dies hingegen nicht so klar: Nicht ohnmächtig usw. zu sein könnte man eher als eine Vorbedingung für die Ausübung bestimmter kognitiver Fähigkeiten, denn als eigenständige kognitive Leistung bezeichnen wollen. Und auch beim Spüren scheint nicht so klar, ob man von einer kognitiven Leistung sprechen soll.
Bewußtsein in der philosophischen Tradition
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Darüber hinaus spricht man noch von „Selbstbewußtsein", womit im Alltag vor allem Selbstsicherheit gemeint ist. Und schließlich wird manchmal noch in einem überindividuellen, eher soziologischen Sinn von Klassenbewußtsein, Standesbewußtsein u.dgl.m. gesprochen, womit mehr oder weniger die Tatsache gemeint ist, daß man weiß, welcher sozialen Gruppe man angehört sowie welche sozialen und politischen Konsequenzen damit verbunden sind. Dies scheinen zumindest im Deutschen die geläufigsten Verwendungen der Ausdrücke „bewußt" bzw. „Bewußtsein" zu sein. Wenn wir hier nach einem unmittelbaren Anknüpfungspunkt für unsere Rede von einem phänomenalen Bewußtsein suchen, dann dürfte klar sein, daß hier v.a. derjenige Sinn in Frage kommt, der sich auch durch „Spüren" oder „Fühlen" ausdrücken läßt. Wir hatten das phänomenale Bewußtsein in der Einleitung ja schließlich auch mit Verweis darauf charakterisiert, daß es sich irgendwie anfühlen soll, Empfindungen und Wahrnehmungen zu haben. Im nächsten Abschnitt wollen wir einen flüchtigen Blick auf die Rede vom Bewußtsein in der philosophischen Tradition werfen.
2.2
Bewußtsein in der philosophischen Tradition
Auch in der philosophischen Tradition ist der Bewußtseinsbegriff nicht immer einheitlich verwendet worden. Die folgenden Bemerkungen beanspruchen nicht, die unterschiedlichen traditionellen Auffassungen von Bewußtsein auch nur annähernd angemessen vorzustellen oder zu berücksichtigen. Es sollen nur ein paar Aspekte herausgegriffen werden. Ziel und Zweck ist dabei v.a. mögliche Divergenzen zum phänomenalen Bewußtsein deutlich zu machen. Wer mit der philosophischen Tradition vertraut ist und den Begriff „Bewußtsein" hört, mag damit assoziieren, was Kant oder Leibniz damit gemeint haben. Was das Verhältnis des phänomenalen Bewußtseins zu diesen traditionellen Konzeptionen betrifft, so sollten wir hier jedoch lieber Vorsicht walten lassen. Dies gilt selbst dann, wenn diese Konzeptionen der Intention nach dem phänomenalen Bewußtsein gerecht werden wollten. Zu sehr hat sich einfach der Kontext gewandelt, in dem die jeweiligen Fragestellungen verhandelt wurden. Eine zentrale Rolle hat in der Tradition v.a. die Vorstellung gespielt, Bewußtsein sei eine Kenntnisnahme dessen, was im eigenen Geist vor sich geht. So finden wir z.B. bei Kant die Behauptung: „Eigentlich ist das Bewußtsein
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
eine Vorstellung, daß eine andere Vorstellung in mir ist."120 Genauer bestimmt wird diese Art der Kenntnisnahme häufig entweder als Reflexion oder reflexiver Gedanke (so spricht Locke von „reflection" und Leibniz von einer „connaissance reflexive"121), häufig ist aber auch von einer besonderen Art von „innerer Wahrnehmung" die Rede. So heißt es u.a. in einer bekannten Wendung bei Locke „Consciousness is the perception of what passes in a man's own mind."122 Unter Bewußtsein wurde allerdings nicht nur eine irgendwie geartete Kenntnis der eigenen mentalen Zustände verstanden, sondern manchmal auch schlicht die Kenntnis von den Gegenständen der uns umgebenden Welt. In diesem Sinne spricht z.B. Kant von einem „Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge", welches ganz klar von einem „Bewußtsein meines eigenen Daseins" bzw. unserer „inneren Erfahrung" zu unterscheiden sei.123 In welcher Beziehung stehen diese beiden Auffassungen von Bewußtsein aber zu unserem phänomenalen Bewußtsein? Die Rede von Reflexion oder Introspektion läßt einen vielleicht am ehesten an die oben erwähnte alltagstypische Redeweise denken, wonach wir uns darüber klar sein können, was wir gerade denken oder beabsichtigen. Man möchte hier auch an einen bestimmten Typ von Aufmerksamkeit denken, mit der man sich gezielt auf mentale Zustände richten kann, etwa wenn man darauf achtet, ob einem Zigaretten noch
120
Vgl. Kant 1800/1923 S.33. Vgl. Locke 1690/1975 Π, i, §4, Leibniz 1714/1956 Principes de la Nature et de la Gräce fondes en Raison §4 S.6ff. 122 Locke 1690/1975 Π, i, §19. Vgl. auch die Rede von einem „internal sense" in §4 sowie Descartes' Rede „perceptio" in 1641/1964 S. 160 und Kants Rede von einem „inneren Sinn" in 1787/1904 B37, B49 u.ö.. Manchmal werden beide Dinge auch einfach gleichgesetzt. So sagt Hume im Treatise·. „[...] consciousness is nothing but a reflected thought or perception." (Hume 1739/1978 S.635). Häufig findet man die Behauptung, daß ein Bewußtseinsbegriff dieser Art erst von Descartes in die philosophische Diskussion eingeführt wurde. Manchmal wird dies als Indiz dafür gesehen, daß es sich um eine relativ zeit- und theoriegebundene Konstruktion handelt, die man heute, wo die erkenntnistheoretische Konzeption von Descartes stark unter Beschüß geraten ist, besser ignorieren sollte (vgl. z.B. Wilkes 1995). Daran ist nur soviel richtig: Descartes war vermutlich der erste, der den Ausdruck „conscientia" nicht mehr, wie vorher üblich, für „Gewissen" verwendet hat, sondern ausschließlich für Bewußtsein in der eben erläuterten Art. Schon vorher haben antike und mittelalterliche Autoren wie Cicero, Seneca und Thomas von Aquin diesen Ausdruck gelegentlich auch für Bewußtsein verwendet (vgl. dazu die Hinweise in Diemer 1971). Häufig haben sie das dasselbe Phänomen einfach unter einem anderen Namen angesprochen und diskutiert. Etwa wenn Piaton im Charmides kritisch diskutiert, ob es ein Sehen des Sehens usw. geben kann (vgl. Piaton 1970 Bd. 1, Charmides 168 d, e). Zum selben Problem vgl. auch Aristoteles in De Anima (Aristoteles 1959ΙΠ. Buch 425 b 12) sowie Thomas in der Summa theologica (vgl. Thomas v. Aquin 1937 Pars I. Quaestio78, Art. 4, Quaestio 87 Art. 3 Obj. 3 ad 3). 123 Vgl. Kant 1787/1904 Β 277, B275. 121
Bewußtsein in der philosophischen Tradition
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schmecken oder nicht.124 Die Beziehung zum Bewußtsein im Sinne von Fühlen und Spüren ist jedoch weit weniger klar. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß es in der Tradition eine gewisse Uneinigkeit darüber gegeben hat, ob alle mentalen Zustände zu jeder Zeit Gegenstand der Reflexion oder Introspektion sein sollen, oder ob dies nur von Zeit zu Zeit geschieht.125 Anders hingegen Leibniz, der „den Cartesianern" explizit vorwirft, nicht zwischen bloßer Wahrnehmung und Wahrnehmung, die von Bewußtsein begleitet wird, unterschieden zu haben.126 Folgt man der Auffassung, wonach alle mentalen Zustände immer im reflexiven Sinn bewußt sind, dann könnte man dies auch als Vorschlag zur Erklärung dafür sehen wollen, daß Empfindungen und Wahrnehmungen bewußt sind, indem sie sich für die Betroffenen irgendwie anfühlen. Ob dies bei den Autoren, die man dieser Auffassung zurechnen kann, auch tatsächlich der Fall ist, ist jedoch eine ganz andere Frage, die wir hier nicht schlüssig beantworten können.127 Was andererseits die Auffassung von Leibniz betrifft, wonach wir
124
Hier ist jedoch Vorsicht geboten vgl. unten die Bemerkungen zur „Introspektion." So favorisieren Locke und Brentano ersteres (vgl. Locke 1690/1975 Π, i, §19, u. indirekt, xxvii, §9). Brentano setzt Bewußtsein zwar zunächst einfach schlicht mit intentionalen Zuständen, oder wie er es auch nennt „psychischen Akten" gleich, was der eben genannten traditionellen Rede vom „Bewußtsein äußerer Gegenstände" nahe kommt (vgl. Brentano 1874/1924 S.142f.). Er gelangt dann aber zu dem Ergebnis, das jeder psychische Akt zwangsläufig von einer „inneren Wahrnehmung" begleitet sei (vgl. 1874/1924 S.176-183). Auch Descartes ist häufig so verstanden worden, wenn er etwa sagt: „Cogitationes nomine complector illud omne quod sic in nobis est, ut ejus immediate consccii simus. [...] Ideae nomine intelligo cujuslibet cogitationis formam illam, per cujus iromediatam pereeptionem ipsius ejusdem cogitationis conscius sum;" sowie in der Erwiderung auf die vierten Einwände: „Quod autem nihil in mente, quatenus est res cogitans, esse possit, cujus non sit conscia [...]".(vgl. Descartes 1641/1964 S.160, S.246., vgl. auch 1644/1964 I, §9). Für eine andere Interpretation dieser Passagen vgl. Perler 1998 S.163ff. 126 So spricht Leibniz in der Monadologie von: „[...] la Perception, qu'on doit distingüer de Γ apperception ou de la conscience, comme il paroütra dans la suite. Et e'est en quoi les Cartesiens ont fort manqu6, ai'ant compte pour rien les perceptions dont on ne s'appersoit pas." Und in den Principes heißt es in §4: „Ainsi il est bon de faire distinction entre la perception qui est l'6tat intdrieur de la Monade representant les choses externes; et 1'apperception, qui est la conscience ou la connaissance reflexive de cet 6tat intirieur, laquelle n'est point donnee ä toutes les Ames, ni toujours ä la meme Arne." (für beide Zitate vgl. Leibniz 1714/1956 S.30, S.6ff.). Ein Grund, warum er diese Unterscheidung für geboten hielt, lag darin, daß wir sonst in einen infiniten Regreß zu geraten drohen, der verhindert, daß wir jemals wieder einen neuen Gedanken fassen können: „[...] il n'est pas possible que nous reflechissions tousjours expressement sur toutes nos pens6es: autrement l'Esprit feroit reflexion sur chaque reflexion ä rinfini sans pouvoir jamais passer ä une nouvelle pensee." (Leibniz 1705/1962 S.118 Nouveaux Essais Livre Π., ch. i, §19 ) 127 Hume mag dieser Auffassung gewesen sein, wenn er relativ unmittelbar an seine Bestimmung von Bewußtsein als Reflexion auf die eigenen Zustände Unterschiede zwischen mentalen Zuständen offenbar als Unterschiede im phänomenalen Bewußtsein bestimmt, indem er sagt: „[...] that two ideas of the same object can only be different by their different feeling,[...]" (vgl. Hume 1739/1978 S.636). Zu Bewußtsein als Reflexion vgl. das Zitat Fn.122.
125
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
zwischen Wahrnehmung („perception") und Bewußtsein („conscience", „apperception", „connaissance reflexive") als zwei voneinander unabhängigen Zuständen zu unterscheiden haben, dann ist ebenfalls nicht klar, ob er der Auffassung war, daß das phänomenale Erleben dadurch zustandekommt, daß unsere Wahrnehmungen und Empfindungen erst durch den hinzutretenden zweiten, reflexiven Zustand phänomenal bewußt werden, oder ob er vielleicht eher sagen würde, daß jede Wahrnehmung schon als solche phänomenal bewußt ist, und das reflexive Bewußtsein einfach nur darin besteht, daß man sich explizit klar darüber wird, daß man solch einen Zustand hat. Eine plausible Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, was Leibniz letztlich unter Wahrnehmung („perception") versteht. Eine Frage, der wir hier ebenfalls nicht näher nachgehen können. Immerhin scheint klar, daß Wahrnehmung für ihn mehr ist als bloße Affektation der Sinnesorgane (im Sinne einer mechanischen Reizung) oder die Fähigkeit, in bestimmter Weise auf seine Umwelt reagieren zu können. Dies legt die Deutung nahe, daß es sich auch schon irgendwie anfühlen muß, eine Wahrnehmung zu haben.128 Wie wir später noch sehen werden, wird genau diese Frage in der gegenwärtigen Debatte kontrovers diskutiert: David Rosenthal hat eine Konzeption von Bewußtsein entwickelt, die derjenigen von Leibniz nicht unähnlich ist, dabei aber explizit geltend gemacht, daß auch das phänomenale Bewußtsein nach diesem Muster zu analysieren ist. Philosophen, die dem sogenannten Repräsentationalismus zuzuordnen sind, haben diese Vorstellung wiederum scharf kritisiert und lassen bestenfalls gelten, daß das Wissen von den phänomenalen Zuständen, nicht aber das bloße Auftreten und Fühlen dieser Zustände nach diesem reflexiven Muster zu verstehen ist. Im Moment kommt es jedoch nur darauf an sich klar zu machen, daß man bei der Herstellung von Beziehungen zwischen dem phänomenalen Bewußtsein und den traditionellen,
128
In den Nouveaux Essais kontrastiert er bloße Affektation der Sinnesorgane mit reflexiv unbewußter Wahrnehmung (d.h. Wahrnehmung ohne den Gedanken, daß man sie hat, ohne „apperception") mit dem Argument, daß anders nicht zu erklären wäre, wie eine minimale Steigerung eines Stimulus, der für sich genommen zu schwach ist, um bewußt zu werden, dazu führen kann, daß wir auf einmal zu einer bewußten Wahrnehmung gelangen. Würde es sich in beiden Fällen bloß um eine mechanische Reizung der Sinne handeln, wäre nicht erklärbar, wie durch bloße Addition eines neuen minimalen Reizes, der für sich genommen ebenfalls zu schwach wäre eine bewußte Wahrnehmung zu erzeugen, auf einmal eine bewußte Wahrnehmung zustande kommen soll (vgl. Leibniz 1705/1962 S.134). Er erwägt darüber hinaus mehr oder weniger indirekt, Wahrnehmung über eine bestimmte Sorte von Verhaltensreaktion zu bestimmen, so daß man selbst bei Pflanzen (die sich ja nach der Sonne ausrichten usw.) fragen könnte, ob sie wahrnehmen oder empfinden, lehnt dies aber letztlich ab (vgl. a.a.O. S.138f.). Damit scheint Wahrnehmung für ihn schon mit genuinem Empfinden verbunden zu sein.
Bewußtsein in der philosophischen Tradition
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am Reflexionsmodell orientierten philosophischen Bewußtseinsbegriffen größte Vorsicht walten lassen sollte. Doch wie sieht es mit dem zweiten traditionellen Bewußtseinsbegriff aus, wonach wir ein Bewußtsein von den uns umgebenden Dingen haben? Läßt sich vielleicht von hier aus eine eindeutigere Beziehung zwischen der Tradition und dem phänomenalen Bewußtsein der gegenwärtigen Diskussion herstellen? Dies scheint zumindest dann möglich, wenn wir jene Zustände, die uns ein Bewußtsein von den uns umgebenden Dingen verschaffen, so verstehen, daß sie selber bewußte Zustände sind, ohne daß sie dabei Gegenstand einer weiteren Reflexion würden. Die Umwelt ist uns dann in dem Sinn bewußt, als daß es sich für uns irgendwie anfühlt, Sinneseindrücke von ihr zu haben. Für den Fall der Körperempfindungen müßte man dann entsprechend sagen, daß wir ein Bewußtsein dieser Art von den Vorgängen in unserem Körper haben. Nahegelegt wird solch eine Sicht der Dinge von einigen angelsächsischen Autoren zu Ende des 19. Jahrhunderts. So finden wir etwa bei dem Philosophen und Psychologen Stout folgende Feststellung: Consciousness includes not only awareness of our own states, but these states themselves, whether we have cognisance of them or not. If a man is angry, that is a state of consciousness, even though he does not know that he is angry. If he does know that he is angry, that is another modification of consciousness, and not the same. (Stout 1898 S.8, zitiert nach Landesman 1967 S.193)
Es dürfte klar sein, daß hier das körperliche Gefühl der Erregung gemeint ist, welches für Ärger häufig typisch ist. Und wenn Moore in seinem Essay „The Refutation of Idealism" zu dem Ergebnis gelangt, daß sich alle Sinnesempfindungen trotz ihres unterschiedlichen Inhalts durch ein gemeinsames Element, nämlich Bewußtsein auszeichnen, welches dafür verantwortlich zeichnet, daß es sich überhaupt um Sinnesempfindungen handelt, dann scheint dahinter eine vergleichbare Vorstellung zu stecken.129 Auch wenn W. James von den „Bestandteilen" des „Bewußtseinsstroms" redet, drängt sich natürlich eine vergleichbare Lesart auf.130 Zusammenfassend können wir also folgendes festhalten: Wenn wir von phänomenalem Bewußtsein reden, dann sollten wir immer daran denken, daß damit gemeint ist, daß sich ein Zustand irgendwie anfühlt. Wer nach Anknüpfungspunkten in der Tradition sucht, sollte sich weniger am Reflexionsmodell orientieren als an der Vorstellung, daß wir ein Bewußtsein von unserer Um129 130
Vgl. Moore 1903 S.444 u. S.447. Vgl. James 1892/1984 Kapitel 11. James betont dabei allerdings v.a. den Zusammenhang zwischen diesen Teilen, z.B. wie sie sich gegenseitig beeinflussen.
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
weit haben. Am nächsten scheinen der Vorstellung vom phänomenalen Bewußtsein die zuletzt genannten angelsächsischen Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu kommen. Im nächsten Teil dieses Kapitels wollen wir noch auf einen traditionsreichen Begriff zu sprechen kommen, der hier von Bedeutung ist, und dabei auch auf eine wichtige Voraussetzung zu sprechen kommen, die hier in der Darstellung immer wieder implizit gemacht wurde. Es handelt sich um den Begriff der Introspektion.
2.3
Introspektion
Introspektion oder innere Wahrnehmung meint ganz grob die Fähigkeit, seine eigenen mentalen Zustände zu dem Zeitpunkt, zu dem sie auftreten (oder kurz danach) erfassen zu können. Man könnte meinen, daß wir dieses Thema schon abgehandelt haben, wenn hier etwa von Lockes Auffassung die Rede war, Bewußtsein sei Wahrnehmung dessen, was im eigenen Geist vor sich geht. Häufig genug spricht man von Introspektion genau in diesem Sinne. So verstanden wäre Introspektion eine geistige Aktivität, die mehr oder weniger automatisch als Begleiterscheinungen unserer mentalen Zustände auftritt. Aber es gibt noch ein anderes Verständnis von Introspektion, wonach es sich dabei eher um eine gezielt eingesetzte Form von Aufmerksamkeit handelt, die man auf die eigenen mentalen Zustände richten kann und mit deren Hilfe sich Angaben über die Dauer oder die Art dieser Zustände machen lassen. Dieser Sinn ist z.B. im Zusammenhang mit psychologischen Experimenten von Interesse. Wenn etwa jemand, der eine Droge eingenommen hat, im Rahmen eines solchen Experiments dazu aufgefordert wird, darauf zu achten, wie sich seine Wahrnehmungen und Gedanken verändern. Ein anderes Einsatzfeld wären psychophysische Untersuchungen, in denen jemand berichten soll, wann genau eine Empfindimg welcher Art einsetzt (etwa, wann eine langsam zunehmende Wärmeempfindung als schmerzhaft empfunden wird). Fähigkeiten dieser Art erfordern nicht unbedingt, daß man von seinen mentalen Zuständen ein Bewußtsein ä la Locke hat, so daß man sie die ganze Zeit automatisch erfaßt, sondern lediglich, daß man von Zeit zu Zeit dazu in der Lage ist. In dieser Arbeit wurde an mehreren Stellen bereits implizit vorausgesetzt, daß es solch eine Fähigkeit gibt. Wenn in der Einleitung von der spezifischen subjektiven Perspektive im Zusammenhang mit unseren Wahrnehmungen und Empfindungen die Rede war, dann wurde damit auch die Fähigkeit angesprochen, daß man den qualitativen Charakter dieser Zustände bei sich selbst auf
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besondere Art und Weise ermitteln kann. Und wenn daran appelliert wurde, daß Schmerzen episodische Zustände sind, die sich für die Betroffenen unterschiedlich anfühlen können, dann stand dahinter natürlich die Vorstellung, daß man die Plausibilität solcher Behauptungen im Prinzip empirisch an sich selber überprüfen kann. Dasselbe gilt natürlich, wenn hier im Zusammenhang mit den Motiven für Qualia davon die Rede war, daß uns Alleebäume oft systematisch anders erscheinen als wir glauben, daß sie beschaffen sind. Auch dabei wurde implizit daran appelliert, daß es sich dabei um eine empirische Tatsache handelt, die jedem von uns mehr oder weniger vertraut ist. Wenn man so will, bildet der Appell an das Bestehen solch einer Fähigkeit einen wesentlichen Teil des intuitiven Fundaments für die Überzeugung, daß es so etwas wie phänomenales Erleben überhaupt gibt. Wer nicht auf diese Weise nachvollziehen kann, daß seine Schmerzen eine bestimmte Dauer oder einen qualitativen Charakter haben, den wird man kaum davon überzeugen können, daß es sich dabei um ein universelles mentales Phänomen handelt.
2.3.1
Introspektion in der Kritik
Die Vorstellung, es gebe so etwas wie Introspektion oder „innere Wahrnehmung" , ist unter Philosophen jedoch keineswegs unumstritten: Wenn William James Introspektion als die „erste" und „vorrangige" psychologische Untersuchungsmethode bezeichnet und ferner in der introspektiv gewonnenen Überzeugung, daß wir unserer geistigen Aktivitäten unmittelbar gewahr werden können, das „grundlegendste Postulat der Psychologie" erkennt, an dem zu Zweifeln eine metaphysische Extravaganz darstellt, so wird dies so manchem Philosophen bestenfalls als naive Schwärmerei erscheinen.131 Von Kritikern der Introspektionsthese wurde dabei sowohl die Rede von einer Art von Wahrnehmung wie auch die Umschreibung ihres Gegenstandsbereichs als „Inneres" angegriffen. Was den letzten Punkt betrifft, so scheint die Rede von einer „inneren" Wahrnehmung gerade dann schwierig zu sein, wenn man der traditionellen cartesianischen Auffassung folgt, daß der Geist nichts Räumliches darstellt.132 Die Rede von einem „Innen" legt nahe, daß der Geist eine Art Behälter ist, in den man gewissermaßen hineinschauen kann, und dies ist natürlich schwer mit der Auffassung in Einklang zu bringen, daß er nicht 131 132
Vgl. James (81905/1981) Band 1 S.185. Vgl. Descartes 1637/1965 S.33, 1641/1964 S.78 sowie auch Kants These, daß der „innere Sinn" nur die Zeit als Anschauungsfonn hat, nicht hingegen den Raum (vgl. Kant 1787/1904 B37, B50).
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
räumlich sein soll. Insofern scheint klar, daß es sich bei der Rede von einer inneren Wahrnehmung im Grunde nur um eine Metapher handeln kann.133 Was die Rede von Wahrnehmung in diesem Zusammenhang betrifft, so gibt es hier eine Reihe von Einwänden, die alle mehr oder weniger auf die Disanalogien zwischen Wahrnehmung im üblichen Sinn und allem, was man unter Introspektion möglicherweise positiv verstehen könnte, abheben: Die erste offenkundige Disanalogie besteht darin, daß nicht offensichtlich ist, ob es introspektive Sinnesorgane gibt. Ferner läßt Wahrnehmung die Möglichkeit der Sinnestäuschung zu, Introspektion gilt jedoch in der Tradition als unfehlbar; wenn jemand zu dem Ergebnis gelangt, daß er einen stechenden Schmerz hat, dann kann es demnach nicht sein, daß er einen dumpfen oder sogar gar keinen Schmerz hat.134 Aber auch im Blick auf die jeweiligen „Objekte" von innerer und normaler Wahrnehmung scheinen sich Disanalogien zu ergeben: So wurde öfters geltend gemacht, daß jede Form auf seine eigenen mentalen Zustände zu achten, deren Charakter verändere.135 Dies wird meist als Argument für die mangelnde Brauchbarkeit der Introspektion zur Entscheidung bestimmter Sachfragen (etwa in der Psychologie) angeführt, zeigt aber natürlich nicht, daß es keine Introspektion gibt (wie könnte sie sonst verfälschend sein?). Doch man könnte von dieser Beobachtung ausgehend noch zusätzlich sagen, daß sich hier eben eine ganz spezifische Disanalogie zur normalen Sinneswahrnehmung zeigt, weil diese natürlich nicht in der Lage ist, ihre Gegenstände zu verändern. Eine Sinneswahrnehmung von einem Apfel kann diesen nicht in der Weise verwandeln, wie eine aufmerksame Konzentration auf meinen Zorn diesen beeinflussen kann (oder vielleicht sogar zwangsläufig beeinflussen wird). Ferner sind die Gegenstände der Sinneswahrnehmung, anders als diejenigen der Introspektion, intersubjektiv zugänglich. Und zu guter letzt kann 133
134 135
Die Unklarheit hinsichtlich einer räumlichen Dimension in diesem Zusammenhang mag mit dafür verantwortlich sein, daß manche Philosophen es extrem schwierig finden, mit der Aufforderung „nach innen zu blicken", überhaupt etwas anfangen zu können (vgl. z.B. Tetens 1994 S.48 oder Tugendhat 1976 S.93). Vgl. etwa Locke1690/1075 IV, xi, §3. Vgl. Comte 1830/1975 S.33f., Brentano 1874/1924 S.41, Ryle 1949 S.159. Typisches Beispiel sind hier immer Leidenschaften wie Zorn, die man nicht kühl und sachlich beobachten könne, ohne sich dadurch zwangsläufig in einen ruhigeren Gemütszustand zu bringen, was den Zom abmildert. Brentano führt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen „innerer Wahrnehmung" und „innerer Beobachtung" ein. Demnach zeigen solche Beispiele, daß innere Beobachtung problematisch (in seinen Augen sogar unmöglich) ist, nicht aber innere Wahrnehmung, welche einfaches Gewahrwerden der eigenen Zustände ist und automatisch mit den Zuständen (sogar als ein unabtrennbarer Bestandteil von ihnen) auftreten soll (vgl. Brentano a.a.O. S. 40ff., S.176ff. sowie oben Fn.125.). Brentanos Rede von „innerer Wahrnehmung" darf also nicht mit der Art von Introspektion gleichgesetzt werden, die gelegentliche, willentliche Selbstbeobachtung meint.
Introspektion
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man sich fragen, ob in der Introspektion überhaupt ein klarer Unterschied zwischen Objekt und Wahrnehmung zu ziehen ist, wie dies bei der Wahrnehmung der Fall scheint.136 Zu Einwänden dieser Art nur kurz soviel: Die Rede von introspektiver Wahrnehmung knüpft einfach an bestimmte Analogien an zwischen der Art, wie wir von unseren eigenen mentalen Zuständen unmittelbar empirisches Wissen erlangen können, und unserer gewöhnlichen Sinneserfahrung. Es geht im wesentlichen darum, daß man unmittelbar empirisch feststellen kann, daß man Schmerzen hat, daß diese unterschiedliche erfahrbare Eigenschaften aufweisen, weil sie sich unterschiedlich anfühlen, und daß sie wie wahrnehmbare Ereignisse episodisch sind. Es sind im wesentlichen diese Analogien, die die Rede von einer Art von Wahrnehmung nahelegen. Das schließt natürlich nicht aus, daß es in anderen Hinsichten Disanalogien gibt, die einen von dieser Redeweise eher Abstand nehmen lassen. Letztlich ist es für die hier vertretene Position gleichgültig, ob man hier von „Wahrnehmung" sprechen will oder nicht, solange akzeptiert wird, daß man den erwähnten empirischen Zugang zu den eigenen Zustände hat. Sofern man weiß, was man zu tun hat, um festzustellen, welcher Art der Schmerz ist, den man gerade spürt, sollte man sich auch nicht lange damit herumschlagen, welchen Sinn Metaphern von einem „Blick nach innen" oder dgl. haben. Man kann auf sie schlicht verzichten.137 Darüber hinaus bleibt fragwürdig, ob die Betonung der genannten Disanalogien überhaupt ausreicht, der Rede von Wahrnehmung den Boden zu entziehen. Es müßte vielmehr gezeigt werden, daß die Disanalogien auf Gesichtspunkte verweisen, die für Wahrnehmung unabdingbar sind. Das ist aber bei den angeführten Einwänden durchaus fragwürdig: Die Tatsache, daß wir bislang kein introspektives Sinnesorgan kennen, zeigt natürlich nicht, daß es keines gibt. Vielleicht gilt es dieses erst durch Gehirnforschung zu entdecken. Und selbst wenn Wahrnehmung aus begrifflichen Gründen ein Sinnesorgan erfordern sollte, heißt dies noch lange nicht, daß unsere Fähigkeit zur Wahr-
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Vgl. Searle 1992 S.97. Ein Introspektionskonzept dieser Art wird in der gegenwärtigen Diskussion auch von vielen Materialisten verfochten (vgl. insbes. Armstrong 21993 Kap. 15, 1984 S.108ff., Lycan 1987 Kap. 6, 1992, u. 1996, Churchland 1981/89b) S.23f., Tye 1995 S.115, S.165ff.). Für diese Konzeptionen ergibt sich im übrigen eine ganz einfache Auflösung für die Schwierigkeit, wie die Rede von einer „inneren" Wahrnehmung zu verstehen ist. Es handelt sich schlicht um einen Vorgang, bei dem Zustände im Körper, aller Wahrscheinlichkeit nach Zustände im Gehirn der fraglichen Person wahrgenommen werden. Man kann die Rede von einer inneren Wahrnehmung dann ganz wörtlich nehmen. Eine andere Frage ist jedoch ob diese materialistischen Auffassungen von Introspektion ein angemessenes Bild davon geben, wie und was wir von unseren eigenen mentalen Zustände wissen können.
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
nehmung die Kenntnis dieses Organs voraussetzt. Was die traditionell weitverbreitete Auffassung von der Unfehlbarkeit der Introspektion betrifft, so kann man sich einmal fragen, ob diese, wenn sie denn bestünde, wirklich hindern würde, hier noch von Wahrnehmung zu sprechen. Selbst wenn unsere Sinneswahrnehmung fehlbar ist, so folgt daraus nicht, daß es zum Begriff der Wahrnehmung gehört, daß sie fehlbar ist. Wichtiger ist aber für unseren Kontext, daß es gar nicht erforderlich ist, Introspektion hier als unfehlbar zu verstehen. Für die folgende Argumentation reicht völlig aus, daß sie eine mehr oder weniger verläßliche Informationsquelle über unser Innenleben darstellt. Es reicht, daß wir uns im Prinzip darüber einigen können, daß unsere Schmerzen einen episodischen Charakter haben sowie sich durch bestimmte Qualitäten unterscheiden. Es ist jedoch nicht erforderlich, daß jemand immer introspektiv korrekt zu bestimmen weiß, wann er Schmerzen welcher Art hat oder nicht. Was die angebliche intersubjektive Zugänglichkeit der Objekte der Wahrnehmung betrifft, so kann man hier mit Recht auf die Wahrnehmung innerer Kqrperzustände verweisen wie etwa die kinästhetische Wahrnehmimg, bei der die Objekte der Wahrnehmung auch nicht in der Weise intersubjektiv wahrgenommen werden können, wie dies normalerweise der Fall ist.138 Ja, es muß nicht einmal ausgeschlossen werden, daß man unter bestimmten Bedingungen (Verbindung zweier Gehirne in der richtigen Weise o.ä.) mentale Zustände zu intersubjektiv introspizierbaren Objekten machen kann. Was schließlich Searles Einwand betrifft, man könne gar nicht klar zwischen Objekt der Introspektion und der Introspektion selber unterscheiden, so scheint dies bestenfalls für den Sinn von Introspektion zu gelten, der mit Lockes „internal sense" oder Brentanos „innerer Wahrnehmung" angesprochen wird, nämlich der angeblich automatischen, unfreiwilligen Wahrnehmung dessen, was im eigenen Geist vorgeht, nicht jedoch mit unserer Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit gezielt auf einen Zustand zu richten, oder festzustellen, daß man einen Schmerz von der und der Art hat. Die Vorstellung, wir könnten vom Vorliegen unserer eigenen mentalen Zustände empirisch auf eine spezifische Weise Kenntnis erlangen, ist auch unabhängig von möglichen Schwierigkeiten, diese Kenntnis als eine Form von Wahrnehmung zu sehen, generell in Abrede gestellt worden. Insbesondere Philosophen mit behavioristischen Neigungen haben geltend gemacht, daß es keine solche Fähigkeit gibt, ja, daß der einzige empirische Zugang zu mentalen Zuständen ein Zugang aus der Perspektive der dritten Person, genauer über
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Vgl. Armstrong 21993 S.325.
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die Beobachtung des jeweiligen Verhaltens, darstellt. Einzige Basis für die empirische Feststellung, daß jemand z.B. einen Schmerz von einer bestimmten Art spürt, wäre dann die Tatsache, daß er sich unter bestimmten Umständen auf eine bestimmte Art und Weise verhält oder gegebenenfalls eine Untersuchimg seines Gehirns. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, kurz auf Wittgensteins Vorschlag einzugehen, wonach sich die Aussagen in der ersten Person über mentale Zustände so verstehen lassen, daß sie weder eine besondere epistemische Perspektive voraussetzen, noch auf Evidenzen über das eigene Verhalten rekurrieren.139
2.3.2
Wittgensteins Analyse der unmittelbaren mentalen Selbstzuschreibung
Nach Wittgenstein drücken wir so etwas wie einen Schmerz unmittelbar durch ein natürliches Ausdrucksverhalten aus. Dies kann z.B. ein Schrei sein. Von sich zu sagen, man hätte Schmerzen, ist lediglich ein neu erworbenes Ausdrucksverhalten, welches das natürliche Ausdrucksverhalten in vielen Kontexten ersetzen kann. Wenn jemand also von sich sagt, er hätte einen Zahnschmerz, so beschreibt er damit kein inneres Ereignis, kein Erlebnis, von dem er introspektiv Wissen erlangt hat, sondern drückt seinen Schmerz auf eine konventionell erworbene Art und Weise aus.140 Auch wenn Äußerungen über eigene mentalen Zustände manchmal nach diesem Muster plausibel gedeutet werden können, sieht sich dieser Vorschlag vor ernsthafte Probleme gestellt, wenn er als generelle Alternative zu der Auffassung verstanden werden soll, daß Äußerungen dieser Art auf einer spezifischen epistemischen Erste-Person-Perspektive beruhen können.141 Zunächst
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vgl. Wittgenstein 1984 Band 1 Philosophische Untersuchungen (PU) I §§244, 246. Die folgenden Bemerkungen implizieren nichts darüber, ob Wittgenstein ein Behaviorist war. Die Frage ist notorisch strittig, seine Anhänger bestreiten dies in der Regel, während eher kritische Autoren dazu tendieren, ihn so einzuordnen. Notorisch sind die Schwierigkeiten, die richtige Deutung von Formulierungen wie „Ein 'innerer Vorgang' bedarf äußerer Kriterien" (PU I §580 ) zu finden. Gibt es nun innere Vorgänge, die äußerer Kriterien bedürfen, oder deuten die Anführungszeichen an, daß die Rede von inneren Vorgängen gänzlich unangemessen ist? Ist Verhalten nur eine notwendige Bedingung dafür, daß wir von mentalen Zuständen sprechen, oder ist es gar hinreichend dafür? Für beide Lesarten lassen sich Belege finden. 140 In eine ähnliche Richtung weist auch Ryles Konzeption von „avowals" vgl. Ryle 1949 S.102, 183f. 141 Wittgenstein selbst hat ihn im übrigen auch nur als „eine Möglichkeit" hingestellt und gelegentlich Zweifel daran geäußert. So hat er an mehreren Stellen die Beschreibbarkeit mindestens mancher eigener mentaler Zustände mehr oder weniger eingeräumt (vgl. etwa Wittgenstein 1984 Bandl PU Π ix sowie 1984 Band 8, Zettel § 472, § 482, § 488 sowie 1984 Band 7 Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie Π § 63, § 148).
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kann man sich fragen, ob der Lernprozeß, in dessen Verlauf unmittelbares Ausdrucksverhalten durch konventionelles ersetzt wird, nicht gegebenenfalls eine besondere kognitive Leistung der lernenden Person voraussetzt. Wie soll man erfolgreich lernen, daß gerade wieder die Situation besteht, in der das konventionelle Ausdrucksverhalten angemessen ist, wenn man nicht in irgendeiner Weise zu erkennen in der Lage ist, daß eben diese Situation besteht? Und wenn das konventionelle Ausdrucksverhalten unser natürliches Ausdrucksverhalten ersetzen soll, dieses also nicht mehr unbedingt auftreten muß, so fragt sich, woran sich die Betroffenen dann orientieren sollen, wenn nicht am Schmerzgefühl, wie es sich aus der subjektiven Perspektive präsentiert. Darauf mag man vielleicht entgegnen, daß hier gar kein Erkennen auf Seiten des Betroffenen vorliegen muß, vielmehr bildet sich einfach ein entsprechender Automatismus aus. Auch wenn diese These nicht widersinnig ist, so sie doch völlig ad hoc, und solange keine entsprechende Erklärung vorliegt, wie dies im einzelnen möglich sein soll, scheint sie wenig glaubhaft.142 Doch damit nicht genug. Ganz offenkundig kann man einen Schmerz sehr wohl beschreiben und nicht nur unmittelbar ausdrücken, wobei solch eine Beschreibung natürlich involviert, daß man auf ihn achtet. Manchmal wird man z.B. vom Arzt aufgefordert, dies zu tun, damit er seine Schlüsse daraus ziehen kann. Zweitens gibt es jede Menge unterschiedlicher mentaler Zustände, die sich nicht durch ein spezifisches Ausdrucksverhalten unterscheiden; man denke nur an die unterschiedlichen Schmerzarten. Wir unterscheiden spitze, stumpfe, pochende usw. Schmerzen, ohne daß wir hier auf ein entsprechend differenziertes Verhaltensbild zurückgreifen könnten, welches einem entsprechenden Ausruf „Ich habe einen spitzen Schmerz!" vorausgehen könnte. Unser natürliches Ausdrucksverhalten ist eben bei weitem nicht so differenziert wie unsere unterschiedlichen Empfindungen. Schmerz scheint aber noch das günstigste Beispiel für diese Theorie zu sein; bei vielen anderen mentalen Zuständen tendieren wir überhaupt nicht dazu, sie unmittelbar auszudrücken. Beschreibungen eigener Empfindungen, die nicht an ein spezifisches Ausdrucksverhalten anknüpfen können, spielen im übrigen auch in wissenschaftlichen Kontexten eine wichtige Rolle, nämlich der Psychophysik, wenn
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Es ist klar, daß von den beiden bekanntesten behavioristischen Lernmodellen hier keine Hilfe zu erwarten ist: Die Pawlowsche Konditionierung kommt schon deshalb nicht in Frage, weil sie nie zur Ausbildung neuer Verhaltensweisen führt, sondern nur dazu, daß ein bereits vorhandener Reflex (z.B. Speichelfluß) in neuen Situationen als bisher zutage tritt. Das operante Lernen von Skinner erfordert natürlich u.a. die Registrierung des relevanten Stimulus. Mit verbundenen Augen wird die Ratte im Käfig nie lernen können, daß bei Druck auf die rote Taste mehr Futter wartet als bei Druck auf die blaue.
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es z.B. darum geht, bestimmte neuronale Prozesse als die für bestimmte mentale Zustände relevanten Abläufe zu identifizieren. So haben etwa Berichte von Versuchspersonen über die Intensität von Schmerzen eine wichtige Rolle gespielt, um bestimmte Nervenfasern als diejenigen, die für den Schmerz verantwortlich sind, überhaupt identifizieren zu können: Man hat in diesem Zusammenhang Versuchspersonen thermalen Stimuli unterschiedlicher Stärke ausgesetzt, und dann ihre Berichte über die Intensität der verspürten Schmerzen festgehalten, wobei sich herausstellte, daß 45° C eine relevante Schwelle für eine empfundene Intensitätssteigerung ist. Gleichzeitig vorgenommene elektrophysikalische Messungen ergaben nun, daß die Intensitätssteigerung der Feuerrate der Schmerzrezeptoren mit den Intensitätsberichten korreliert.143 Die Intensitätsberichte müssen hier natürlich als Berichte über Intensitätssteigerungen der Empfindungen aufgefaßt werden und können insofern kaum als artikulierte Schreie oder dgl. verstanden werden. Die Rolle dieser Berichte besteht darüber hinaus darin, daß sie wesentlich präziser sind als unsere unwillkürlichen Reaktionen auf Temperaturunterschiede. Die fraglichen Experimente setzen insofern implizit voraus, daß die Versuchspersonen Feststellungen über ihre mentalen Zustände machen können, die sich nicht einfach als artikulierter Verhaltensausdruck verstehen lassen. Wittgensteins Auffassung steht auch in krassem Gegensatz zu der Auffassimg, wonach unser bewußtes Erleben einen lohnenden Untersuchungsgegenstand für die Psychologie darstellt, den es mit Hilfe introspektiver Berichte der Betroffenen über ihr Erleben zu erforschen gilt.144 Solchen Berichten kommt z.B. dann eine entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, den Einfluß psychoaktiver Substanzen (Drogen, Psychopharmaka usw.) oder hypnotischer und meditativer Techniken auf unser bewußtes Erleben genauer zu ermitteln. Es macht hier nicht nur Sinn, das verbale oder sonstige Verhalten von Versuchspersonen unter solchen Bedingungen zu registrieren, sondern man wird sie auch auffordern wollen, genauer zu beachten, wie sich ihr Erleben unter diesen Bedingungen verändert hat und dies näher zu beschreiben. Darüber hinaus ergeben sich folgende Probleme mit der angemessenen Interpretation von Aussagen in der ersten Person über mentale Zustände. Diese Aussagen können in Konditionalen auftreten, verneint sowie zeitlich modifiziert werden. Es ist schwierig zu sehen, wie dies mit einem konventionellen artikulierten Ausdrucksverhalten möglich sein soll. Es gibt keinen Sinn, die 143 144
Vgl. H. Fields u. D. Price 1994 S.455. Für die ausführliche Darstellung und Rechtfertigung einer entsprechenden psychologischen Position vgl. Farthing 1992 Kap. 1-3.
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Aussage „Bis gerade eben hatte ich Zahnschmerzen" als einen Ausruf zu verstehen. Vielmehr wird hier eine Tatsache zum Ausdruck gebracht. Es ist auch nicht richtig, daß man, wenn man solch eine Aussage macht, plötzlich über sich selbst wie über einen anderen Menschen redet, und auf einmal das eigene Verhalten zum Ausgangspunkt für diese Äußerung nimmt. Man muß nichts darüber wissen, welche Verhaltensweisen von einem gerade beobachtbar waren, man muß diese auch nicht selber wahrgenommen haben.145 Ein weiteres Problem stellen Fälle dar, in denen wir Behauptungen anderer über unsere mentalen Zustände widersprechen: Wenn man gegen die ungeduldige Feststellung des Zahnarztes „Sie können jetzt, nach der dritten Spritze, gar keinen Schmerz mehr fühlen" vehement Widerspruch einlegt, so kann dies kaum sinnvoll als Ausruf gedeutet werden, sondern muß natürlich als eine Tatsachenbehauptung verstanden werden; andernfalls ist gar nicht klar, wie man hier die Äußerung als einen Einspruch gegen die Behauptung des Zahnarztes auslegen könnte.146 Es ist einfach nicht klar, wie ein Ausruf eine Tatsachenbehauptung negieren kann. Aus den genannten Gründen scheint also die rein expressive Deutung der entsprechenden Aussagen zum Scheitern verurteilt. Bekanntlich stellt Wittgensteins These vom Ausrufcharakter mentaler Selbstzuschreibungen nur einen Mosaikstein in jenem komplexen Gebilde von Überlegungen dar, die unter dem Namen „Privatsprachenargument" geläufig sind.147 Wittgenstein hat dort unter anderem geltend gemacht, daß die Vorstellung einer Sprache, die jemand einfuhrt, um Empfindungen zu bezeichnen, die in dem Sinne „privat" sein sollen, daß nur der Betroffene von ihnen wissen kann, ein Unding ist.148 Ferner hat er die Auffassung vertreten, daß unser faktisch gebräuchliches Empfindungsvokabular nicht so verstanden werden kann, daß wir uns damit auf Empfindungen als eine Art von Gegenständen beziehen können, die nur dem Betroffenen zugänglich sind.149 Worin genau Wittgensteins Argumentation im einzelnen besteht, ist Gegenstand zahlreicher Debatten und Kontroversen gewesen, auf die wir uns hier weder einlassen können noch müssen. Es gibt jedoch einen kritischen Berührungspunkt mit der 143
146 147
148 149
Es scheint auch wenig plausibel, daß man in diesem Fall seine Erinnerung an den Schmerz unmittelbar artikuliert. Erstens fehlt hier das vorgängige natürliche Ausdrucksverhalten. Zweitens ist der Vorschlag völlig ad hoc. Für diesen Einwand vgl. Rosenthal 1993 S.203. Traditionell versteht man darunter die Paragraphen §§243-315 im ersten Teil der Philosophischen Untersuchungen. Kripke hat vor einiger Zeit vorgeschlagen, das Kernstück der Argumentation in den vorausliegenden Paragraphen zum Problem des Regelfolgens zu sehen (vgl. Kripke 1982). Das Kernstück dazu bildet der Paragraph 258. Relevant sind hier die Paragraphen 272-280 sowie 293 u. 304.
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hier vertretenen Auffassung, daß wir uns mit Ausdrücken wie „Schmerz" usw. deskriptiv auf unsere eigenen mentalen Zustände auf Grund von empirischer Evidenz durch die subjektive Perspektive beziehen können. Denn dies scheint kaum verträglich mit Wittgensteins Auffassung. Gegebenenfalls haben wir also eine These aufgestellt, die nicht mit der Semantik dieser Ausdrücke vereinbar ist. Wir haben zwar gerade einige Gesichtspunkte dafür ins Feld geführt, daß Wittgensteins Ausrufthese nicht mit der Semantik dieser Ausdrücke in Einklang stehen kann. Dies heißt aber natürlich noch nicht, daß unsere These zur Selbstzuschreibung mit deren Semantik verträglich ist. Wir sollten also wenigstens kurz einzuschätzen versuchen, inwieweit wir hier Gefahr laufen, diese Semantik zu mißachten. Wir können uns dabei nur auf das Notwendigste beschränken und wollen deshalb gar nicht erst versuchen, Wittgensteins Argumentation in all ihren Facetten nachzugehen. Wir haben gerade geltend gemacht, daß das Ausruf-Modell u.a. schon daran scheitert, daß gar nicht für jeden mentalen Zustand ein spezifisches Ausdrucksverhalten zur Verfügung steht, woran eine entsprechende Lernprozedur anknüpfen könnte. Für den gegenwärtigen Punkt ist dies jedoch nicht wichtig. Wir wollen uns jetzt auf diejenigen Fälle beschränken, in denen es solch ein Verhalten gibt und dies auch die entscheidende Rolle dabei spielt, wie wir die Anwendung dieser Ausdrücke im eigenen Fall erlernen. Ferner wollen wir unterstellen, daß die zugrundeliegende Lerntheorie befriedigend ist. Es bleibt dann nur noch die Frage, ob es eine sinnvolle Annahme sein kann, daß man einen so erlernten Ausdruck zur Bezeichnung einer Empfindung verwenden kann, auf die man sich durch die subjektive Perspektive oder „introspektiv" bezieht. Als zentrale Argumentation von Wittgenstein können wir in diesem Zusammenhang den Paragraphen vom berühmten Käfer in der Schachtel nehmen: Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir 'Käfer' nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. - Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. - Aber wenn nun das Wort 'Käfer' dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? - So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas·, denn die Schachtel könnte auch leer sein. - Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann 'gekürzt werden'; es hebt sich weg, was immer es ist. Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von 'Gegenstand und Bezeichnung' konstruiert, dann fallt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus. (Wittgenstein 1984 Band 1 PUl §293)
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Für unseren Kontext heißt das: Wenn der Gebrauch und damit die Bedeutung eines Ausdrucks wie „Schmerz" durch Rekurs auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt worden ist, dann kann man mit diesem Ausdruck nicht auch noch auf eine bloß subjektiv zugängliche Empfindung Bezug nehmen, weil der spezifische Charakter dieser Empfindung oder gar die Frage, ob sie überhaupt vorliegt, dafür, ob der Ausdruck angemessen verwendet worden ist oder nicht, keine Rolle mehr spielen kann. Diese Argumentation scheint offenbar von zwei ganz wesentlichen Voraussetzungen getragen. Erstens: Wenn ein Ausdruck unter Bezugnahme auf einen bestimmten Typ von epistemischer Situation eingeführt wird, dann ist damit ein für allemal ausgeschlossen, daß auf Grund andersartiger epistemischer Situationen entschieden werden kann, ob der Ausdruck korrekt verwendet worden ist oder nicht. Zweitens: Dies hat Folgen für die Bedeutung des Ausdrucks. Er kann dann nicht mehr sinnvoll als Bezeichnung für Entitäten verstanden werden, die in der andersartigen epistemischen Situation eine Rolle spielen sollen. Bevor wir uns fragen, ob diese Voraussetzungen zwingend sind, sollten wir uns eine wichtige Konsequenz dieser These deutlich machen: In der Einleitung wurde kurz die wissenschaftliche Hypothese erwähnt, daß bei manchen Menschen auf Grund bestimmter Erbanlagen die Farbpigmente im Auge vertauscht sind, was die Konsequenz haben sollte, daß die Betroffenen invertierte Farbspektra haben, obwohl sich dies nicht an ihrem klassifikatorischen und sprachlichem Verhalten ablesen läßt.150 Der Witz bei diesem Fall war, daß er nicht als Beispiel für eine Inversion herhalten sollte, die sich jeder wissenschaftlichen Entdeckung entzieht, sondern, daß gerade auf Grund einer wissenschaftlichen Entdeckung einige Theorien, nämlich behavioristische oder funktionalistische Theorien der Wahrnehmung in Schwierigkeiten gebracht werden. Wir hatten zwar gesehen, daß diese Hypothese daran krankt, daß sie mit der Asymmetrie des Farbraums nicht zurechtkommt, sofern wir uns hier aber an den Voraussetzungen von Wittgensteins Argumentation orientieren, müßte jedoch gelten, daß solch ein Fall von Spektruminversion auch dann nicht auftreten kann, wenn unser Farbraum völlig symmetrisch wäre.151 Der Grund dafür besteht einfach darin, daß die Bedeutung von Ausdrücken wie „Rotwahrnehmung", „sieht rot aus" usw. durch Bezugnahme auf bestimmte Situationen ein für alle mal festgelegt worden wäre, Situationen, in denen Leute bestimmte Objekte wie reife Tomaten und Feuerwehrhydranten mit einem 150 151
Vgl. oben S.92. Vgl. auch Wittgensteins Bezugnahme auf den Fall der Spektruminversion in 1984 Band 1 PUI §§272-3.
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bestimmten klassifikatorischen oder sprachlichen Verhalten herausgreifen lernen. Etwas Rotes zu sehen heißt dann letztlich nichts anderes als Gegenstände dieser Art unter bestimmten Bedingungen als „rot" bezeichnen zu können (bzw. sie wortlos entsprechend aussortieren zu können). Der Ausdruck „Rotwahrnehmung" bezeichnet dann nichts anderes als den Zustand, der jemanden zu dieser Leistung befähigt. Das heißt aber, daß jene Farbwissenschaftler, die davon sprechen, daß Leute mit vertauschten Pigmenten „Rotwahrnehmungen" haben, wenn sie sagen, daß Rasenanlagen ihnen grün erscheinen, im Grunde gegen die Semantik des Ausdrucks „Rotwahrnehmung" verstoßen. Nach dem Wittgensteinschen Bild hat jemand eine Rotwahmehmung genau dann, wenn er den richtigen Gegenständen (reifen Tomaten usw.) gegenüber äußern kann, sie seien rot. Wenn diese Farbwissenschaftler von jemandem behaupten, er hätte eine Rotwahrnehmung angesichts von den Gegenständen, die er in Übereinstimmung mit allen anderen als „grün" bezeichnet, dann sagen sie gemäß diesem Bild nicht nur etwas Überraschendes, oder gegebenenfalls etwas, was sich auf Grund weiterer Überlegungen, wie denen zur mangelnden Symmetrie des Farbraums, als falsch herausstellt, sondern sie sagen schlicht etwas Inkohärentes, was nicht mit den Begriffen „Rotwahrnehmung" und „Grünwahrnehmung" vereinbar ist. Ganz ähnlich wird es sich mit einem Naturwissenschaftler verhalten, der auf Grund von neurophysiologischen Betrachtungen zu dem Ergebnis kommt, daß bestimmte Wesen, deren Verhalten nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem üblichen Schmerzverhalten aufweist, z.B. Muscheln oder Austern, dennoch Schmerzen fühlen können.152 So hat man kürzlich etwa festgestellt, daß Austern, wenn man sie gewaltsam öffnet, Stoffe ausschütten, die denjenigen Opiatverbindungen gleichen, die unser Gehirn bei Streß und Schmerz ausschüttet. Wer darin auch nur ein schwaches Indiz dafür sehen will, daß sie womöglich tatsächlich Schmerzen haben können, würde wiederum gegen die Semantik des Begriffes „Schmerz" verstoßen. Eingefleischte Wittgensteinianer werden hier nicht zögern, dies alles zu unterschreiben. Wer beim Überprüfen seiner begrifflichen Intuitionen keine Inkohärenz in der Vorstellung zu entdecken vermag, daß jemand, der rote Gegenstände „rot" nennt, dennoch einen grünen Farbeindruck hat, oder daß eine Auster Schmerzen fühlen kann, bei dem wird sich hier unweigerlich der Eindruck einstellen, daß mit einer Position, die dort eine Inkohärenz postuliert, wo man selber beim besten Willen keine entdecken kann, etwas nicht
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Vgl. dazu Wittgenstein 1984 Band 1 PUI §281, wo es heißt, daß man „[...] nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist (sich ähnlich benimmt) sagen [kann], es habe Empfindungen; es sähe; sei blind, höre; sei taub; sei bei Bewußtsein, oder bewußtlos."
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Phänomenales Bewußtsein im Kontext
in Ordnung sein kann. Er wird u.a. fordern, daß man ihm explizit zeigt, daß die Vorstellung, wonach jemand etwas grün statt rot erscheint, obwohl er in denselben Situationen wie alle anderen die Lautfolge „rot" (statt „grün") benutzt, eine Inkohärenz enthält. Doch wie soll die Verwendung einer bestimmten Lautfolge in einer bestimmten Situation etwas über die Erscheinung eines Gegenstandes präjudizieren können? Rot sieht anders aus als Grün. Wie soll sich zwischen diesem Unterschied und der Verwendung unterschiedlicher Lautfolgen angesichts von Rasenanlagen und Feuerwehrhydranten eine logische Abhängigkeit herstellen lassen? Ohne die Demonstration eines entsprechenden Zusammenhangs wird er an der Kohärenz seiner Vorstellungen festhalten wollen. Darüber hinaus stellt sich hier noch ein weiteres Problem: Wittgenstein selbst betont explizit, daß kaum ein Unterschied „größer sein" könnte, als der zwischen „Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen."153 Es ist v.a. diese Passage, die Wittgensteins Anhängern als Beleg dafür gilt, daß man ihm größtes Unrecht tut, wenn man ihn als logischen Behavioristen einstuft.134 Wenn wir jedoch die Moral vom Käfer in der Schachtel ernst nehmen, wie sollen wir die Bedeutung des Ausdrucks „Schmerz" in eben dieser Wendung überhaupt noch verstehen? Zwei Möglichkeiten, die sich hier prima facie zu eröffnen scheinen, scheiden im Rahmen von Wittgensteins Ansatz eindeutig aus: Einmal die Möglichkeit, daß man Schmerzen als Ursachen von Schmerzverhalten begreift, zum anderen die damit verwandte (aber nicht zwangsläufig identische) Möglichkeit, daß man „Schmerz" als einen theoretischen Terminus zur Erklärung von Schmerzverhalten begreift, was beinhaltet, daß unsere alltägliche Verwendung mentaler Ausdrücke als eine Art „Alltagstheorie" zur Erklärung unseres Verhaltens zu verstehen ist. Der erste Gesichtspunkt scheidet aus, weil Wittgenstein eine kausale Deutung mentaler Zustände explizit zurückweist. Der zweite scheidet aus, weil sich die Vorstellung, daß wir bei der Zuschreibung mentaler Zustände eine theoretische oder explanatorische Haltung eingenommen hätten, einmal schwer in Einklang bringen läßt mit seiner Vorstellung, daß es sich dabei um eine ganz und gar untheoretische Haltung oder Einstellung zu anderen wie uns selber handelt, sowie zum anderen natürlich mit der Idee, daß Selbstzuschreibungen mentaler Zustände artikulierte Ausrufe sind, denn theoretische Aussagen lassen sich wohl kaum nach diesem Muster verstehen.155 153 154 155
Vgl. Wittgenstein 1984 Band 1 PU §304. Vgl. z.B. Hacker 1990 S.240. Zum ersten Punkt vgl. vgl. Wittgenstein 1984 Band 5 Das blaue Buch S.34f., zur Rede von
Introspektion
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Wir sollten uns jetzt noch kurz fragen, ob die beiden Voraussetzungen plausibel sind, wonach durch die epistemische Situation, in welcher der Ausdruck seine Bedeutung erhalten hat, zwangsläufig festgelegt wird, daß andere Situationen hier keine Rolle mehr spielen können und dies Konsequenzen für die Bedeutung der Ausdrücke zeitigt. Eine offenkundige Alternative hält hier natürlich das semantische Modell von Kripke und Putnam mit der Möglichkeit von Beschreibungen bereit, die lediglich zur Festlegung der Referenz eines Ausdrucks dienen, jedoch keinen Eingang in die Bedeutung des Ausdrucks finden.156 So wie der Ausdruck „Gold" unter Bezugnahme auf die gelbliche Erscheinung dieses Metalls eingeführt worden sein mag, so können wir uns im Prinzip auch denken, daß ein Ausdruck wie „Schmerz" seine Bedeutung unter Bezugnahme auf bestimmte Verhaltensweisen erhält, ohne daß dem weiteres semantisches Gewicht zukommen müßte. Wir lernen dann, was „Schmerz" bedeutet, anhand unseres Verhaltens, ohne daß dies ausschließt, daß wir später auf unsere Empfindungen Bezug nehmen, genauso wenig, wie die ursprüngliche Bezugnahme auf Gold als gelblichem Metall uns hindert, es später als das Element an der 79. Stelle im Periodensystem zu identifizieren. Es wird dann natürlich keineswegs gleichgültig sein, ob die „Schachtel" leer ist oder sich ihr Inhalt ständig verändert. Ein Wittgensteinianer wird diese semantische Theorie natürlich in Bausch und Bogen verwerfen.157 Wir können und wollen die möglichen weiteren Verläufe dieser Auseinandersetzung hier nicht weiterverfolgen, sondern uns damit begnügen, daß wir bislang auf keinen triftigen Grund gestoßen sind, der die These von der Möglichkeit einer introspektiven Bezugnahme auf die eigenen mentalen Zustände ad absurdum führt. Doch wir sollten noch kurz auf einen anderen Einwand eingehen. Ist der Vergleich zwischen Gold und Schmerzen bzw. der Empfindung und der wissenschaftlichen Bezugnahme auf Gold nicht schon deshalb unzulässig, weil nur im einen Fall eine intersubjektive Verifikation möglich ist, ob eine Instanz vorliegt, die unter den Begriff fällt, im anderen jedoch nicht? Hier stellt sich einfach die Frage, welches Gewicht wir der Forderung nach Verifizierbarkeit letztlich geben müssen. Die Forderung nach intersubjektiver Verifizierbarkeit macht nur Sinn, wenn wir der Forderung nach genereller Verifizierbarkeit Folge leisten wollen. Die Versuche, mit dem sogenannten empiristischen Sinnkriterium eine befriedigende Verifikationstheorie der Bedeutung aufzustellen, haben sich jedoch selbst nach Einschätzung der Urheber dieser Theorie den „Einstellungen" vgl. Band 1 PU 1 §§284, 310, Band 8 Zettel §§ 537ff. Vgl. die kurze Erläuterung oben Fn.107. 157 Vgl. z.B. Hacker 1997 S.480ff.
156
112
Phänomenales Bewußtsein im Kontext
nicht befriedigend durchführen lassen.158 Ganz unabhängig davon gibt es einen guten Grund, von solchen Versuchen Abstand zu nehmen: Da wir keinen unmittelbaren empirischen Zugang zur Vergangenheit haben, müssen wir bei allen Ausdrücken, die sich in irgendeiner Form auf die Vergangenheit beziehen, auf solch eine Verifikation verzichten. Wenn hier ein Verzicht möglich ist, dann sollte er auch im Fall der Ausdrücke möglich sein, die sich auf unsere subjektiven Erlebnisse beziehen. Natürlich gäbe es auch dazu noch einiges mehr zu sagen, was uns aber vom eigentlichen Thema unserer Arbeit wegführen würde. Wieder wollen wir uns damit begnügen, daß auch hier semantische Vorstellungen im Hintergrund stehen, die alles andere als selbstevident sind. Für unseren Kontext wollen wir lediglich festhalten, daß der Appell an introspektive Fähigkeiten, von dem hier gebraucht gemacht wird, nicht so leicht von der Hand zu weisen ist, wie dies von Anhängern der klassischen sprachanalytischen Philosophie oder des logischen Behaviorismus suggeriert worden ist. Wenn hier die Auffassung vertreten wird, daß es eine entsprechende Fähigkeit gibt, so sollen dabei Fragen, welche faktischen Voraussetzungen hier eine Rolle spielen, offengelassen werden. Es handelt sich dabei um komplexe empirische Fragestellungen, die sich nicht von einer philosophischen Warte aus entscheiden lassen. Wir wollen und sollten uns hier also z.B. nicht darauf festlegen, ob diese Fähigkeit den Besitz einer natürlichen Sprache voraussetzt oder nicht. Wir sollten auch offenlassen, inwieweit die Fähigkeit zu sprechen diese Fähigkeit maßgeblich beeinflussen, erweitern oder verbessern kann. Genausowenig müssen wir uns darum kümmern, wie verläßlich introspektive Berichte sind. Für unsere Diskussion ist nur folgendes wichtig: Es ist plausibel, daß solch eine Fähigkeit besteht, und wir haben weder prinzipielle noch empirische Gründe kennengelernt, die diese Intuition diskreditieren konnten. Mit diesen Informationen vor Augen sollten wir jetzt einen Blick auf die Grundzüge einiger Bewußtseinskonzeptionen in der analytischen Philosophie des Geistes werfen. Es soll dabei nur darum gehen, die wesentlichen Alternativen soweit aufzuzeigen, daß sich ein klarer Katalog an Fragestellungen für spätere Kapitel ergibt. Details sollen erst dort erörtert werden.
158
Die Schwierigkeiten reichen in diesem Zusammenhang von der mangelnden Definierbarkeit der in den Wissenschaften unentbehrlichen Dispositionsprädikate (vgl. Carnap 1936-7 S.440) bis zur Frage, ob das Verifikationsprinzip nach seinen eigenen Maßstäben überhaupt in einem bedeutungsvollen Satz wiedergegeben werden kann, da es weder auf Beobachtung beruht noch eine logische Wahrheit darstellt. (Für eine zusammenfassende Diskussion zu diesem Problemkreis vgl. Hempel 1950 S. 53f.).
Bewußtseinskonzeptionen in der analytischen Philosophie des Geistes 2.4
113
Bewußtseinskonzeptionen in der analytischen Philosophie des Geistes - eine Vorschau
Wenn wir hier soweit zu dem Ergebnis gelangt sind, daß es die unterschiedlichsten Bewußtseinsbegriffe gibt, so dürfte dies ein Punkt sein, über den in den gegenwärtigen Debatten weitgehender Konsens herrscht. Entsprechend werden eine Reihe von Bewußtseinsbegriffen unterschieden. Kontroversen drehen sich v.a. um zwei Punkte: Einmal darum, ob sich einer dieser Bewußtseinsbegriffe als fundamental auszeichnen läßt, so daß die anderen letztlich auf ihn zurückzufuhren sind. Zum anderen die spezifischere Frage, welchen Platz das phänomenale Bewußtsein in diesem Bild einnimmt, ob es auf einen der anderen Bewußtseinsbegriffe zurückführbar ist oder nicht. Beginnen wir mit einer ganz grundlegenden Unterscheidung, der Unterscheidung zwischen Subjekt- und Zustandsbewußtsein. Bewußtsein ist etwas, was bestimmten Lebewesen zukommen kann, man kann es verlieren, wenn man unter Vollnarkose steht oder im Tiefschlaf ist, man ist dann „bewußtlos". Erlangt man es wieder, wenn man aus solchen Zuständen erwacht, ist man „bei Bewußtsein". Ferner sagt man auch, daß ein Lebewesen Bewußtsein von etwas Bestimmtem hat bzw. sich einer Sache bewußt ist, etwa weil es sie wahrnimmt. Man kann in beiden Fällen von Subjektbewußtsein (englisch: creature consciousness) sprechen. Im ersten Fall kann man von intransitivem, im zweiten Fall von transitivem Subjektbewußtsein sprechen.159 Andererseits reden wir auch davon, daß einzelne mentale Zustände in einem intransitiven Sinne bewußt sein können. Wenn jemand z.B. einen Schmerz hat, so ist er in einem bestimmten Bewußtseinszustand. Entsprechend kann man von Zustandsbewußtsein sprechen. Man kann hier an die zweite alltagsspezifische Bedeutung von „bewußt" anknüpfen, die sich im Zusammenhang mit dem Spüren einer Empfindung ergibt. Ein Lebewesen ist in unterschiedlichen mentalen Zuständen, aber nur einige davon sind typischerweise bewußt, z.B. seine Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken zu einem bestimmten Zeitpunkt, während hingegen andere Zustände wie seine Überzeugungen über das Wetter in Berlin unbewußt sein mögen. Vielleicht gibt es sogar mentale Zustände, die überhaupt nicht bewußt werden können. Wenn
159
Vgl. Dretske 1993 S.269 u. 1995 S.98 sowie Rosenthal 1990 S.2ff., S.26, 29. Rosenthal spricht nur im Zusammenhang von „bei Bewußtsein sein" von Subjektbewußtsein. Entsprechend läßt er auch transitives Bewußtsein ohne Subjektbewußtsein zu, etwa wenn man schläft und dabei träumt (Vgl. Rosenthal 1990 S.27). In diesem Fall hat man dann transitives Bewußtsein bei fehlenden Subjektbewußtsein. Die hiesige Darstellung folgt hier Dretske. Von dem Unterschied hängt für das Folgende nichts ab.
114
Phänomenales Bewußtsein im Kontext
das zutrifft, dann handelt es sich offenbar um einen Kontrast in bezug auf Zustandsbewußtsein: Einige mentale Zustände können bewußt sein, andere können es nie.160 Aber selbst wenn man die traditionelle cartesianische Auffassung teilt, daß alle mentalen Zustände immer bewußt sind, kann man noch sinnvoll von Zustandsbewußtsein reden. Zustandsbewußtsein zeichnet dann eben alle mentalen Zustände vor anderen nichtmentalen Zuständen aus, z.B. dem Zustand, sich gerade 40 Meter über dem Meeresspiegel zu befinden. Natürlich stellt sich hier sofort die Frage, wie diese beiden unterschiedlichen Bewußtseinsbegriffe miteinander zusammenhängen. Insbesondere möchte man wissen, ob einer von beiden der Grundlegendere ist, auf den der andere zurückgeführt werden kann. Eine mögliche These wäre etwa, daß Subjektbewußtsein daraus resultiert, daß man beim Erwachen aus einer Narkose bewußte Zustände hat. Oder man könnte umgekehrt versuchen zu argumentieren, daß Zustände nur bewußt sein können, indem das Subjekt ein Bewußtsein von diesen Zuständen hat. Im Blick auf das intransitive Subjektbewußtsein, das bloße „bei Bewußtsein sein", tendieren einige Autoren dazu, dieses ohne Rekurs auf Zustandsbewußtsein zu verstehen. Dies liegt im wesentlichen daran, daß sie intransitives Bewußtsein mehr oder weniger mit „wach" im Sinne von „reaktionsfähig" gleichsetzen, wonach es sich letztlich relativ unproblematisch als ein physischer Zustand des Organismus oder eine Verhaltensdisposition verstehen läßt.161 Es ist natürlich möglich, in diesem Sinn vom Bewußtsein eines Lebewesens zu reden, man sollte dieses Verständnis jedoch nicht ohne weiteres mit jenem alltäglichen Verständnis von intransitivem Subjektbewußtsein gleichsetzen, wonach ein Mensch oder ein höheres Säugetier, die aus dem Tiefschlaf oder aus der Narkose erwachen, wieder bei Bewußtsein sind. In diesem Fall scheint weit weniger klar, ob wir hier nicht fordern würden, daß auch ein qualitatives Erleben vorhanden ist, was bedeuten würde, daß dieser 160
161
Es gibt eine Reihe von Theorien, die die Existenz von mentalen Zuständen, die nie bewußt werden, zu implizieren scheinen, z.B. Chomskys Theorie der Universalgrammatik oder Fodors Theorie der Sprache des Denkens. (Vgl. Chomsky 1987/1990, Fodor 1975, 1987). Searle hat dagegen geltend gemacht, daß die Rede von unbewußten mentalen Zuständen nur im Blick auf Zustände gerechtfertigt ist, die potentiell bewußt sind, also bewußt werden können. Searle spricht hier vom sogenannten „connection principle", wonach nur was bewußt werden kann, überhaupt als mental anzusehen ist. Bewußtsein scheint für ihn somit ein wesentliches Kriterium des Mentalen zu sein, so daß alle Prozesse, die sich jenseits der Reichweite des Bewußtseins abspielen, letztlich bloß physiologische Prozesse sein können (Vgl. Searle 1992 Kap. 7, für eine kritische Diskussion des connection principle vgl. van Gulick 1995). Für die folgende Argumentation hängt von der Frage, ob Searle recht hat oder nicht, nichts ab. Wer Searles Auffassung in diesem Punkt teilt, wird höchstens finden, daß eine Position, die hier im nächsten Kapitel kritisch diskutiert werden sollen, über Gebühr ernst genommen wird. Vgl. etwa Rosenthal 1990 S.3, 1993 S.197, vgl. auch Armstrongs Rede von „Minimalbewußtsein" in Armstrong 1978/80 S.55ff.
Bewußtseinskonzeptionen in der analytischen Philosophie des Geistes
IIS
Sinn von Subjektbewußtsein bereits phänomenales Bewußtsein voraussetzt. Begriffe wie „reaktionsfähig", die Unterschiede in den Verhaltensdispositionen eines Lebewesens kennzeichnen, lassen sich aber auch auf Lebewesen anwenden, von denen mindestens zweifelhaft ist, ob sie in irgendeinem Sinn bewußte Zustände haben können. So befinden sich etwa auch Insekten in unterschiedlichsten Ruhe- und Aktivitätszuständen, die sich auf ihre Reaktionsbereitschaft auswirken. Manche Einzeller können nach jahrelanger Eintrocknung durch Kontakt mit Wasser wiederbelebt werden. Sie reagieren dann wieder auf ihre Umwelt, bewegen sich usw. Hier wird man starke Zweifel daran haben, ob wir es hier mit irgendeinem Fall von Bewußtsein zu tun haben, obwohl man sie in einem behavioralen Sinne als „wach" oder zumindest „reaktionsfähig" bezeichnen mag. Dieser Punkt wird für die folgende Diskussion allerdings keine Rolle mehr spielen, auch wenn man ihn als Indiz dafür sehen mag, daß phänomenales Bewußtsein schon erforderlich ist, um unsere alltägliche Intuition davon, was es heißt, bei Bewußtsein zu sein, angemessen rekonstruieren zu können. Wie fügt sich nun das phänomenale Bewußtsein, welches ausmachen soll, daß es irgendwie ist, in einem bestimmten mentalen Zustand zu sein, in dieses Bild von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Zustande- und Subjektbewußtsein? Phänomenales Bewußtsein ist eine Form von Zustandsbewußtsein, darüber herrscht in der Literatur weitgehende Einigkeit, und es scheint auch kaum sinnvoll bestreitbar zu sein: Die Rede von Qualia oder davon, daß es irgendwie ist, in bestimmten Zuständen zu sein, wird ja immer auf einzelne Zustände bzw. Zustandstypen hin spezifiziert: Empfindungen wie Schmerzen oder eine visuelle Wahrnehmung vom Blau des Himmels sollen in dieser Art bewußt sein. Alles weitere ist hingegen schon strittig. Grundsätzlich lassen sich hier zwei Optionen unterscheiden, auf die sich die in der Einleitung erwähnten vier Varianten materialistischer Bewußtseinstheorien verteilen lassen.162 Nach der ersten Option sind Wahrnehmungen und Empfindungen per se phänomenal bewußte Zustände. Um aufzuklären, was phänomenales Bewußtsein ist, braucht man dann nicht viel mehr als eine Analyse davon zu geben, was eine Empfindimg oder eine Wahrnehmung ist. Und sollte es z.B. eine befriedigende funktionalistische oder repräsentationalistische Theorie des 162
S.o. S.SO. Diese Varianten lauteten ganz kurz (in Klammern die Kapitel, in denen sie behandelt werden sollen): Bewußtsein ist eine spezifische kognitive Einstellung zu den eigenen mentalen Zuständen (3. Kapitel). Bewußtseinszustände befähigen einen zu einem bestimmten klassifikatorischen Verhalten (4. u. 5. Kapitel). Bewußtseinszustände sind Zustände, die die Umwelt oder den eigenen Körper in einer spezifischen Weise repräsentieren (6. u. 7. Kapitel). Bewußtsein läßt sich auf spezifische Vorgänge im Gehirn zurückführen (entfällt).
116
Phänomenales Bewußtsein im Kontext
Wahrnehmens und Empfindens geben, hätten wir damit - gewissermaßen frei Haus - auch eine befriedigende Theorie des phänomenalen Bewußtseins. Gibt es hingegen keine befriedigende Theorie dieser Art, dann müssen wir auf eine weitere Analyse des phänomenalen Bewußtseins durch psychologische Begriffe im weitesten Sinn verzichten. Die erste Option erfährt ihre materialistische Konkretisierung damit durch eine der Varianten (2) bis (4). Diese Option schließt natürlich die Möglichkeit phänomenal unbewußter Wahrnehmungen aus. Ferner erlaubt sie einmal, daß phänomenales Bewußtsein nichts mit Subjektbewußtsein zu tun hat, sei es transitiv oder intransitiv verstanden. Sie erlaubt aber auch, daß phänomenales Bewußtsein die Basis für beide Formen des Subjektbewußtseins darstellt: Intransitives Bewußtsein oder bei Bewußtsein zu sein, heißt dann nichts anderes als in bewußten Zuständen zu sein, und bestimmte Formen von transitivem Subjektbewußtsein könnten dann schlicht darin bestehen, daß man entsprechende phänomenal bewußte Zustände hat. Das transitive Subjektbewußtsein, welches X von einer roten Tomate hat, wenn er eine Tomate sieht, wäre dann Ergebnis der Tatsache, daß X im phänomenal bewußten Zustand des Sehens ist. Die zweite Option besteht darin, daß sich phänomenales Bewußtsein als eine Form von Zustandsbewußtsein analysieren läßt, indem ein Subjekt ein Bewußtsein vom fraglichen Zustand hat. Diese Option erlaubt nicht nur die Möglichkeit unbewußter Schmerzen und Wahrnehmungen, sie setzt sie sogar voraus. Ferner schließt sie natürlich aus, daß Subjektbewußtsein ein Resultat der Tatsache darstellt, daß man sich in phänomenal bewußten Zuständen befindet. Diese Option fallt schlicht mit der Variante (1) zusammen. Nach der zweiten Option muß jedes Wesen oder System, welches mentale Zustände besitzt und diese zum Inhalt anderer intentionaler Zustände machen kann, das Potential für ein bewußtes Erleben besitzen. Diese Position kann sich weitgehende Neutralität im Blick auf die Frage leisten, ob die Wahrnehmungen und Empfindungen, die Gegenstand eines solchen Zustandes sein sollen, repräsentationalistisch oder funktionalistisch zu analysieren sind. Sie kann ferner an die traditionelle Vorstellung vom Bewußtsein als einer Form von Reflexion auf die eigenen Zustände anknüpfen, nun allerdings mit dem expliziten Zusatz, daß dieses Modell zur Klärung des phänomenalen Bewußtseins hilfreich ist. Eine Vorstellung, die sich, wie wir gesehen haben, nicht unbedingt von selbst versteht, sondern eigens begründet werden sollte. Die Vorstellung, daß ein mentaler Zustand bewußt wird, indem er zum Gegenstand eines anderen mentalen Zustande wird, wird manchmal damit verglichen, daß der zweite Zustand sich zum ersten wie ein „Monitor" verhält, der diesen
Bewußtseinskonzeptionen in der analytischen Philosophie des Geistes
117
(metaphorisch gesprochen) für die Betroffenenen quasi auf einem „Bildschirm" sichtbar und damit bewußt macht. Entsprechend hat sich für die zweite Option die Rede von „Monitortheorien" des Bewußtseins eingebürgert. Diese Konzeption wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen. Wir sollten diese unterschiedlichen Optionen noch kurz in Beziehung setzen zu den Fragestellungen im Blick auf Qualia, die am Ende des letzten Kapitels standen. In der Einleitung wurde zwischen Qualia und phänomenalem Bewußtsein folgende Beziehung unterstellt: Ein Zustand ist phänomenal bewußt, wenn es irgendwie ist, in ihm zu sein, und daß es gerade so ist, in ihm zu sein, ergibt sich aus den spezifischen Qualia, die für den Zustand typisch sind. Gemäß der ersten Option müßte sich dann die Tatsache, daß ein Zustand ein bestimmtes Quale aufweist, entweder funktional oder representational oder gar nicht weiter analysieren lassen. Gemäß der zweiten Option müßte sich die Tatsache, daß ein Zustand einen qualitativen Aspekt aufweist, daraus ergeben, daß die betroffene Person ein Bewußtsein von diesem Zustand hat. Versteht man unter Qualia nicht nur einfach dasjenige, was ausmacht, wie es ist, in den fraglichen Zuständen zu sein, sondern eine spezifische intrinsische Eigenschaft der fraglichen Zustände selbst,163 so können wir von den materialistischen Varianten (l)-(3) sagen, daß sie die Existenz von Qualia in diesem Sinne leugnen und das bewußte Erleben statt dessen unter Rekurs auf spezifische Relationen, die die fraglichen Zustände zu anderen Zuständen oder zur Umwelt unterhalten, zu analysieren versuchen. Einzig für die vierte Variante scheint im Prinzip denkbar, daß sie Qualia auch als intrinsische Eigenschaften der fraglichen Zustände verstehen könnte, die sich letztlich mit intrinsischen physischen Eigenschaften der Zustände im Gehirn identifizieren lassen.164 Dies wirft u.a. die Frage auf, inwieweit diese Positionen den vier Gesichtspunkten gerecht werden können, die wir am Schluß des ersten Kapitels als Motive für die Annahme intrinsischer Qualia genannt haben.
163 164
S.o. S.62. Es ist nicht klar, ob irgend jemand solch eine Position vertritt. Vielleicht lassen sich die Positionen von Lockwood 1989, Feigl 1958 sowie von Rüssel 1927 so interpretieren (vgl. dazu die kurze Anmerkung u. S.413)
3
David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins
Es wurde bereits im letzten Kapitel kurz darauf hingewiesen, daß ein Zustand nach der Monitortheorie insofern bewußt wird, als das fragliche Subjekt ein Bewußtsein von ihm hat. Einen besonders vehementen und artikulierten Fürsprecher hat diese Theorie in David Rosenthal gefunden. In seiner Version dieser Theorie werden mentale Zustände dadurch bewußt, daß man einen Gedanken hat, dessen Gehalt es ist, daß man in dem fraglichen Zustand ist: [...] a mental state's being conscious is its being accompanied by a roughly simultaneous higher-order thought about that very mental state. (Rosenthal 1993 S.198) 165
Diese Konzeption soll hier GhO-Theorie heißen (Ein Zustand wird bewußt durch einen Gedanken ftöherer Ordnung).166 Rosenthal verbindet mit dieser These explizit den Anspruch, nicht nur irgendeine Form von Bewußtsein erklären zu können, sondern jede Form von Zustandsbewußtsein, also auch phänomenales Bewußtsein.167 Einen Schmerz zu fühlen heißt dann letztlich,
165
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Vgl. auch Rosenthal 1986/91, 1990, 1993. Eine zumindest prima facie andere Version der Monitortheorie wird von D. Armstrong vertreten. Demnach wird ein mentaler Zustand dadurch bewußt, daß das Subjekt diesen Zustand mittels eines weiteren mentalen Zustands wahrnimmt (vgl. Armstrong 1978/1980 S.60). Da Wahrnehmungen für Armstrong ein spezifischer Typ von Überzeugungen sind, die sich nicht wesentlich von Rosenthals Gedanken zu unterscheiden scheinen, spricht vieles dafür, seine Konzeption als Variante der GhO-Theorie aufzufassen (zu Armstrongs Wahrnehmungstheorie vgl. das nächste Kapitel). Die Rede von einem „Gedanken" ist hier in dem eigentümlich terminologischen Sinn zu verstehen, den Rosenthal diesem Ausdruck gegeben hat: Ein Gedanke ist ein assertorischer, episodischer propositionaler Zustand (vgl. Rosenthal 1990 S.42). Eigentümlich deshalb, weil der Ausdruck „Gedanke" häufig gleichbedeutend mit „ be wußte Überzeugung" verstanden wird, was bei Rosenthal auf keinen Fall gemeint ist. Zu unterscheiden von Rosenthals Gebrauch sind auch Gedanken i.S.v. episodischen Zuständen, die man nicht glaubt, denen sozusagen der assertorische Charakter fehlt, etwa wenn man etwas bewußt erwägt. Dasselbe gilt für den generischen Gebrauch des Ausdrucks, der alle propositionalen Einstellungen einschließen soll (vgl. Descartes Rede von „cogitatio") (vgl. dazu auch Rosenthal 1990 S.40). Vgl. Rosenthal 1990 S.llf. sowie Rosenthal 1991. Vgl. dagegen Armstrong, wonach wir letztlich zwischen drei unterschiedlichen Bewußtseinsbegriffen unterscheiden müssen: Minimalbewußtsein (d.h. Reaktionsfähigkeit i.S.v. Wachheit), Wahrnehmungsbewußtsein („perceptual consciousness") und introspektives Bewußtsein (vgl. Armstrong 1978/80), welches nach dem Monitor-Modell zu denken ist. Inzwischen hat er sogar als Anhänger der ersten Option zu erkennen gegeben, indem er phänomenales Erleben „Wahrnehmungsbewußtsein" („perceptual consciousness") gleichsetzt, womit er einfach die Fähigkeit zur Wahrnehmung meint, die für
Zu Voraussetzungen und Motivation der GhO-Konzeption
119
einen entsprechenden GhO über ihn zu hegen. Die GhO-Theorie führt Zustandsbewußtsein auf transitives Subjektbewußtsein zurück, weil ein Zustand dadurch bewußt wird, daß das Subjekt ein Bewußtsein von ihm hat (indem es an ihn denkt). Die Analyse von Zustandsbewußtsein greift also auf eine bestimmte Form von Subjektbewußtsein zurück. Der Ausdruck „Bewußtsein" taucht in der Analyse wieder auf. Ist die Analyse damit nicht zirkulär? Hier ist zu beachten, daß ZHi/a/ufobewußtsein durch transitives Si/ft/efebewußtsein analysiert wird. Und letzteres soll sich einfach darauf reduzieren lassen, daß jemand in einem bestimmten intentionalen Zustand ist. Den erforderlichen Typ von Subjektbewußtsein hat jeder, der an etwas denkt, etwas sieht usw. Bewußte Zustände hat dieser Auffassung zufolge hingegen nur, wer ein Subjektbewußtsein von diesen Zuständen hat, was eben nichts anderes heißt, daß er (in noch genauer zu spezifizierender Weise) an sie denkt bzw. sie wahrnimmt: One is transitively conscious of something if one is in a mental state whose content pertains to that thing: A thought about the thing, or a sensation of it. (Rosenthal 1990 S.27)
Rosenthal motiviert sein GhO-Modell mit zwei grundlegenden Argumentationsschritten, mit deren kritischer Erörterung wir hier beginnen wollen.
3.1
3.1.1
Zu Voraussetzungen und Motivation der GhO-Konzeption
Der erste Schritt: Die Möglichkeit unbewußter mentaler Zustände
Ausgangspunkt für alle Monitorkonzeptionen ist zunächst die Überlegung, daß ein mentaler Zustand per se nicht in dem Sinne bewußt ist, der durch das Monitorkonzept erhellt werden soll. Man darf dann den Bereich des Mentalen nicht mit dem der bewußten mentalen Zustände identifizieren, wie z.B. Descartes oder Brentano es getan haben. Bewußtsein kommt mentalen Zuständen vielmehr nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu. Demnach gibt es unbewußte Überzeugungen, Wünsche, Schmerzen usw. Erst dadurch, daß zu diesen Zuständen etwas hinzukommt, nämlich, daß das betroffene Subjekt ein Bewußtsein von ihnen hat, werden sie zu bewußten Zuständen. Wenn diese Konzeption für phänomenales Bewußtsein aufschlußreich sein soll, dann müssen auch die typischen Beispiele für phänomenal bewußte Zustände wie ihn funktional zu analysieren ist. (vgl. Armstrong 1995, zum Begriff des Wahrnehmungsbewußtseins auch 1978/1980).
120
David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins
Schmerzen oder Wahrnehmungen unbewußt sein können, und erst kraft der Tatsache, daß sich das Subjekt ihrer bewußt wird, zu phänomenal bewußten Zuständen werden. Während die Rede von unbewußten propositionalen Einstellungen wie Überzeugungen und Wünschen nicht weiter schwierig scheint (so macht einen guten Sinn zu sagen, daß man bestimmte Überzeugungen wie 2 + 2 = 4 oder den Wunsch gesund zu sein auch dann hat, wenn sie einem nicht bewußt sind, etwa im Schlaf, oder wenn man einfach nicht an sie bzw. ihren Inhalt denkt), erscheint solch eine Auffassung für Empfindungen wie Schmerz zunächst weitaus weniger plausibel. Es scheint einen Sinn von „Schmerz" oder zumindest von „Schmerzgefühl" zu geben, der impliziert, daß diese bewußt sind; einen Schmerz zu fühlen heißt offenbar nichts anderes, als einen bewußten Schmerz zu haben. Und wenn man einen Schmerz nicht fühlt, so scheint zweifelhaft, ob man ihn überhaupt hat.168 Dies liefert ein starkes Indiz dafür, daß das Monitorkonzept von vornherein nicht geeignet ist, eine adäquate Rekonstruktion des phänomenalen Erlebens zu bieten. Wir wollen diese Zweifel jedoch erst einmal zurückstellen und der Vorstellung, es gebe völlig unbewußte Schmerzen u.dgl. möglichst viel Kredit einräumen. Immerhin können die Vertreter der Monitoranalyse auf konkrete Beispiele verweisen, mit denen man die Rede von unbewußten Schmerzen plausibilisieren kann. So kann das Bewußtsein von einem Schmerz etwa durch Ablenkung (ein interessantes Gespräch usw.) unterbrochen werden, so daß er in diesem Sinne für eine Zeitlang unbewußt wird. Aber warum nicht sagen, daß der Schmerz während der Ablenkung aufgehört hat zu bestehen, und nach der Ablenkung (die dann allerdings strenggenommen gar nicht mehr so genannt werden darf) ein neuer Schmerz von gleicher Art an der gleichen Stelle einsetzt? Als Evidenz dafür, daß ein Schmerz auch unbewußt vorhanden ist, kann man dann auf bestimmte Verhaltensweisen hinweisen, die während der Ablenkung manifest sind, z.B. eine Schonhaltung beim Gehen, wenn es sich um einen Schmerz im Fuß handelt.169 Solange man mentalen Zuständen überhaupt eine kausale Rolle zubilligt und davon ausgeht, daß diese kausalen Rollen insofern an die fraglichen Zustände gebunden sind, als sie nicht so ohne weiteres von etwas anderem als diesen Zuständen eingenommen werden können, scheint es in diesen Fällen plausibel, davon auszugehen, daß der Schmerz auch noch während der Ablenkung vorhanden sein kann, wenn es zu entsprechenden Verhaltensäußerungen
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Bieri bezeichnet die Vorstellung von einem Schmerz, den man nicht empfindet, der also phänomenal nicht bewußt ist, als inkohärent (vgl. Bieri 1989 S.128f.) V g l . Rosenthal 1990 S . l l , Armstrong 21993 S.114.
Zu Voraussetzungen und Motivation der GhO-Konzeption
121
kommt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wollen wir die Möglichkeit unbewußter Schmerzen erst einmal konzedieren. Für die Wahrnehmung lassen sich vergleichbare Fälle konstruieren, etwa, wenn jemand etwas eine Zeitlang wahrnimmt und plötzlich merkt, daß er es wahrnimmt sowie auch, daß er es die ganze Zeit vorher wahrgenommen hat. Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang stammt von Armstrong:170 Auf langen und eintönigen Autofahrten merkt ein Fahrer manchmal plötzlich, daß er eine ganze Weile gefahren ist, ohne darauf zu achten, was er getan hat. Indem er dies merkt, werden ihm seine Wahrnehmungen in einer Weise bewußt, wie sie es vorher nicht gewesen sind. Insofern soll sich ein Kontrast zwischen bewußter und unbewußter Wahrnehmung ergeben. Daß er zuvor seine Umwelt wahrgenommen hat, dürfte außer Zweifel stehen. Wie hätte er sonst das Fahrzeug sicher auf der Fahrbahn halten können? Soviel zum ersten Schritt, wonach mentale Zustände bewußt oder unbewußt sein können. Worin besteht der nächste Schritt? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, wollen wir noch einen zusätzlichen Gesichtspunkt betrachten, der von Rosenthal ins Spiel gebracht wurde.
3.1.2
Rosenthals Ergänzungsschritt: Bewußtsein ist nur erklärbar, wenn mentale Zustände unbewußt sein können
Rosenthal macht in diesem Zusammenhang geltend, daß jegliche Aussicht auf eine Erklärung von Bewußtsein mit der Möglichkeit steht und fallt, daß es unbewußte Zustände geben kann. Sofern wir der Auffassung sind, daß Bewußtsein ein erklärbares Phänomen darstellt, dürfen wir es s. E. nicht als ein wesentliches Merkmal mentaler Zustände in dem strikten Sinn begreifen, daß jeder mentale Zustand zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz bewußt sein müßte, um überhaupt als mentaler Zustand gelten zu können. Rosenthal schreibt: It turns out that if all mental states were conscious states, it would be impossible to give any nontrivial, informative explanation of the nature of state consciousness. (Rosenthal 1990 S.18) Seine Argumentation dafür sieht ganz grob folgendermaßen aus:171 Bewußtsein unmittelbar durch etwas Physisches erklären zu wollen erscheint ihm hoffnungslos. Rosenthal sieht hier ganz wie die Anhänger der explanatorischen Lücke eine unüberbrückbare Kluft gegeben. Wenn eine Erklärung möglich ist, so sollte sie deshalb besser im Bereich des Mentalen ansetzen, hier sieht er 170 171
Armstrong 1978/1980 S.59. Vgl. Rosenthal 1990 S. 18-21.
122
David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins
keine solche Kluft. Damit solch eine Erklärung informativ sein kann, darf sie natürlich nicht schon den Begriff des Bewußtseins enthalten. Insofern erfordert eine informative Erklärung von Bewußtsein nach Rosenthal, daß etwas mental sein kann, ohne damit schon bewußt zu sein. Die Eigenschaft, an die er dabei letztlich denkt, ist Intentionalität. Wenn Rosenthal eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Physischen und dem Bewußtsein sieht, so darf dies allerdings nicht so verstanden werden, daß er eine materialistische Erklärung für ausgeschlossen hält. Zwischen Intentionalität und der physischen Welt sieht Rosenthal keine solche Kluft. Wenn wir Bewußtsein erst einmal mit Hilfe des Begriffs der Intentionalität analysiert haben und diese dann einer materialistischen Deutung zugeführt haben, verfügen wir am Ende auch über eine materialistische Erklärung von Bewußtsein. Wir können nur nicht unmittelbar auf der physischen Ebene nach einem Explanandum suchen. Dies ist aber in den Wissenschaften nichts Ungewöhnliches: Wir können auch nicht unmittelbar auf die Atomphysik zurückgreifen, wenn wir an Erklärungen biologischer Phänomene interessiert sind. Auch hier sind Zwischenschritte erforderlich. Sind diese jedoch erst einmal erbracht, lassen sich z.B. biologische Phänomene (zumindest im Prinzip) als rein physikalische Abläufe rekonstruieren. Rosenthals Argumentation ist hier relativ voraussetzungsreich. So ist es alles andere als trivial, ob sich Intentionalität wirklich naturalisieren läßt. Aber ganz unabhängig davon erscheint seine Schlußfolgerung - zumindest ohne weitere substantielle Ergänzungen - ungerechtfertigt: Selbst wenn alle mentalen Zustände zu jeder Zeit bewußt sind, könnte sich ihr Bewußtsein immer noch dadurch erklären lassen, daß sie intentional sind. Grundvoraussetzung wäre dafür lediglich, daß sie auch zu jeder Zeit intentional sind. Insofern scheint Rosenthals Ergänzungsschritt hier überflüssig, und lediglich eine einseitige Begünstigung der Auffassung darzustellen, daß mentale Zustände per se nicht bewußt sind. Doch wenden wir uns dem zweiten zentralen Schritt der Argumentation für Monitorbewußtsein zu.
3.1.3
Der zweite Schritt: Bewußtsein als Relation
Der zweite Schritt kam schon mehrfach mehr oder weniger deutlich zur Sprache und besteht schlicht darin, daß zu dem fraglichen Zustand noch etwas hinzukommt, nämlich daß das Subjekt ein Bewußtsein von dem fraglichen Zustand hat. Wenn wir etwa an den gerade erwähnten Fernfahrer denken, so soll dies dadurch möglich sein, daß der Fernfahrer merkt, daß er die ganze
Zu Voraussetzungen und Motivation der GhO-Konzeption
123
Zeit Auto fährt, die Straße sieht usw. Ganz allgemein ausgedrückt: der Zustand wird bewußt, indem er in einer bestimmten Relation zu etwas anderem steht. Zustandsbewußtsein wäre dann letztlich relational zu analysieren. Es ist klar, daß sich dies noch nicht allein aus der Tatsache ergibt, daß ein Zustand bewußt und unbewußt im angegebenen Sinne sein kann. Daß etwas eine bestimmte Eigenschaft nicht zu allen Zeiten besitzt, heißt noch lange nicht, daß die fragliche Eigenschaft relational sein müßte. Ein Gegenstand kann z.B. von Zeit zu Zeit seine Form wechseln. Und Form gilt als klassisches Beispiel für eine intrinsische Eigenschaft. Genauso könnte ein mentaler Zustand einmal bewußt sein und das andere mal nicht, obwohl Zustandsbewußtsein eine intrinsische Eigenschaft des Zustands darstellt. Man könnte sich dann den Wechsel zwischen bewußt und unbewußt bei einem mentalen Zustand wie den Wechsel zwischen dem Aufleuchten und dem Erlöschen einer Glühbirne vorstellen oder wie die wechselnden Zustände eines Baumes zwischen Blüte und Abwurf seiner Blätter. Ob das eine sinnvolle Idee ist oder nicht, braucht uns nicht weiter zu kümmern. Wir sollten uns hier nur klarmachen, daß sich die These vom relationalen Charakter des Bewußtseins nicht schon allein daraus ergibt, daß mentale Zustände bewußt wie unbewußt sein können. Offensichtlich ist dieser Gesichtspunkt von Rosenthal nicht hinreichend gewürdigt worden.172 Ganz in Analogie zu seiner These, man könne Bewußtsein nur erklären, wenn man von der Existenz unbewußter mentaler Zustände ausgeht, hat Rosenthal hier allerdings auch die Behauptung aufgestellt, man könne es nur erklären, wenn es keine intrinsische Eigenschaft sei.173 Rosenthal sagt: |T|t will be hard to justify the idea that being conscious is an intrinsic property of mental states if that property does have some informative structure. Once an explanation assigns such structure, it will be equally plausible to regard being conscious as an extrinsic property of mental states.[...] So the only reason to see consciousness as an intrinsic property of mental states will be that it lacks such structure, and is therefore simple and unanalysable. And its being simple would effectively preclude our explaining it by appeal to anything else. Simple properties are those we take to be primitive in our hierarchies of explanation. (Rosenthal 1990 S.22f.)
Aber warum sollte das so sein? Kugelförmigkeit ist ein Paradebeispiel für eine intrinsische Eigenschaft. Ob ein Gegenstand diese Form aufweist oder nicht, bestimmt sich nicht danach, welche Relationen er zu anderen Gegenständen 172
173
So vollzieht er in Rosenthal 1986/91 unmittelbar den Schritt von seiner These, daß mentale Zustände nicht bewußt sein müssen, zu der These, daß Bewußtsein relational sei (Vgl. a.a.O. insbes. S.465) Vgl. Rosenthal 1990 S.21-23.
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Theoretische Konsequenzen aus der Kritik am Materialismus
unterhält. Diese Tatsache hindert uns jedoch nicht daran, informative Erklärungen über diese Eigenschaft abgeben zu können. So gibt es in Innern eines kugelförmigen Körpers einen Punkt, von dem jeder Punkt der Oberfläche gleich weit entfernt ist. Dies scheint eine untadelige Erklärung dafür zu sein, welche Bedingungen ein Körper erfüllen muß, wenn er kugelförmig sein soll. Etwas kann eine intrinsische Eigenschaft einer Sache sein und dennoch mit Hilfe der Relationen erklärt werden, die Bestandteile dieser Sache zueinander haben. Insofern ist es schlicht nicht richtig, daß intrinsische Eigenschaften einfache, d.h. unanalysierbare Eigenschaften darstellen. Folglich legt man sich auch nicht durch die Erwartung, Bewußtsein sei erklärbar, auf eine relationale Interpretation fest. Auf der anderen Seite mag eine relationale Deutung dennoch die einzig richtige und plausible sein. Sehen wir uns also Rosenthals Analyse daraufhin näher an.
3.2
3.2.1
Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
Fünf Einwände gegen Rosenthals GhO-Modell
Im Zusammenhang mit der These, daß mentale Zustände dadurch bewußt werden, daß man entsprechende Gedanken über sie hat, stellen sich eine Reihe von kritischen Fragen. Einmal scheint der Vorschlag auf den ersten Blick phänomenologisch unplausibel zu sein: Wenn man z.B. bewußt eine Grünlilie w a h r n i m m t , so hat man meist keine Gedanken der Art 'Ich sehe gerade eine Grünlilie'. Zweitens kommt der Verdacht auf, ob die Notwendigkeit von Gedanken höherer Ordnung für Bewußtsein nicht von vornherein ausschließt, daß Kleinkinder und Tiere bewußte Wahrnehmungen haben können.174 Selbst wenn man es für eine offene Frage halten sollte, ob Kleinkinder und Tiere tatsächlich Schmerzen u.ä. bewußt erleben können, sollte man diese Frage nicht durch ein bestimmtes philosophisches Bewußtseinsmodell in negativer Weise vorentscheiden. Drittens stellt sich die Frage, ob ein Gedanke höherer Ordnung nicht einschließen muß, daß es sich um einen der eigenen mentalen Zustände handelt, und Zustandsbewußtsein damit das normalerweise für komplexer gehaltene
174
vgl. Dretske 1995 S.llOf.
Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
125
(und letztlich auf Zustandsbewußtsein beruhende) Selbstbewußtsein voraussetzen würde.175 Viertens möchte man wissen, wie es genauer zu verstehen ist, daß der fragliche Zustand von einem Gedanken höherer Ordnung begleitet ist. Wenn man davon ausgeht, daß es unbewußte mentale Zustände gibt, so reicht es mit Sicherheit nicht aus, einfach einen Gedanken zu haben, daß man solch einen Zustand hat: Angenommen, es gibt so etwas wie verdrängte mentale Zustände (man kann dabei etwa an Freuds Konzeption denken, kommt aber sicherlich auch mit weniger voraussetzungsreichen Modellen von Verdrängung aus), dann scheint es durchaus denkbar, daß man einen verdrängten Wunsch hat sowie auch einen Gedanken dahingehend, daß man solch einen Wunsch hat, ohne daß der Wunsch dadurch schon bewußt werden müßte. Diese Möglichkeit scheint besonders plausibel zu sein für den Fall, in welchem der fragliche Gedanke selber unbewußt ist. Fünftens erhebt sich schließlich ein Einwand, der alle Theorien betrifft, die Bewußtsein mit irgendwelchen Zuständen höherer Ordnung erklären wollen: Wie kann ein Zustand dadurch bewußt werden, daß ich denke (oder wahrnehme usw.), daß er da ist, wenn ein entsprechender Gedanke (bzw. eine Wahrnehmung) an einen materiellen Gegenstand, z.B. einen Stein, diesen nicht bewußt macht?176 Gleichermaßen könnte man fragen, ob einer meiner Gedanken an einen mentalen Zustand meines Nachbarn dessen Zustand (für mich? für ihn?) bewußt macht. Die meisten dieser Einwände hat Rosenthal selber aufgegriffen und auszuräumen versucht. Sehen wir uns also seine Antworten genauer an.
3.2.2
Rosenthals Reaktion auf die Einwände
Der erste Einwand ist relativ leicht zu beheben: Die GhO-These ist nicht darauf festgelegt, daß der Gedanke höherer Ordnung seinerseits bewußt ist (also von einem weiteren Gedanken höherer Ordnung begleitet ist).177 Damit
175
176
177
Ganz abgesehen davon, daß damit das Zustandsbewußtsein von Tieren und Kleinkindern einmal mehr in Frage gestellt würde, da es zweifelhaft ist, ob diese über Selbstbewußtsein verfügen. Dieser Einwand ist von Bieri und Dretske gegen Rosenthal erhoben worden (vgl. Rosenthal 1990 S. 30 Fußnote 33).Vgl. auch Goldman 1993b) S.366. Vgl. Rosenthal 1990 S.42f. Ausgeschlossen ist es freilich auch nicht. Merkwürdigerweise bezeichnet Rosenthal jenen Fall, in dem Gedanken höherer Ordnung ihrerseits bewußt sind, weil sie von entsprechenden absichtlich angestrengten Gedanken begleitet sind, als Introspektion (vgl. Rosenthal 1986/91 S.466, Rosenthal 1990 S.4 u. 51f. sowie Rosenthal 1993 S.199).
126
David Rosenthals Monitortheorie des BewuBtseins
entfällt natürlich der entsprechende Einwand, weil es dann ganz normal ist, daß wir Gedanken höherer Ordnung haben, ohne das Vorliegen dieser Gedanken eigens in irgendeiner Form bemerken zu müssen. Die zweite und die dritte Schwierigkeit versucht Rosenthal sozusagen in einem Aufwasch zu erledigen. Dem Vorhalt, daß die GhO-These von vornherein die Möglichkeit auszuschließen scheint, daß Kleinkinder und Tiere bewußte Zustände haben können, weil ihnen die geistigen Kapazitäten zur Bildung von Gedanken höherer Ordnung vermutlich fehlen, begegnet Rosenthal mit der Feststellung, daß die intellektuellen Ressourcen, die man zur Bildung dieser Gedanken benötigt, derart niedrig sind, daß man Kleinkinder und Tiere getrost in die Klasse der Wesen mit bewußten Zuständen einschließen kann.178 Es ist klar, daß man zur Bildung von Gedanken Begriffe benötigt. Dies erfordert nach Rosenthal allerdings nicht unbedingt den Besitz einer Sprache. Vielmehr sollen für diesen Zweck weitaus schwächere Anhaltspunkte im Verhalten des Wesens ausreichend sein, die eine Gewähr dafür bieten, daß es wenigstens rudimentäre Wünsche und Meinungen (oder „Gedanken") hat. Dabei wäre etwa an zustimmendes oder ablehnendes Verhalten zu denken. Rosenthal weist in diesem Zusammenhang die These von Davidson zurück, wonach nur derjenige etwas meinen kann, der über den Begriff der Meinimg verfügt, was aber wiederum die Kenntnis des Unterschieds zwischen wahren und falschen Meinungen voraussetzen soll. Diese Kenntnis soll aber nur besitzen, wer über einen intersubjektiven Begriff von Wahrheit und damit auch über eine Sprache verfügt.179 Nach Rosenthal zeigt Davidsons Argumentation bestenfalls, daß man Begriffe von wahr und falsch benötigt um den Begriff der Meinung haben zu können. Dies schließe jedoch nicht aus, daß man gegebenenfalls Meinungen haben könnte, ohne den Begriff der Meinung zu haben.180 Auch wenn man Rosenthal hier zustimmen will, bleibt allerdings die Frage, ob ein Wesen ohne Sprache denn auch über die spezifischen Begriffe verfügen kann, die in einen Gedanken höherer Ordnung eingehen müssen. Erforderlich sind hier einmal Begriffe von mentalen Zuständen (um den Gedanken haben zu können, daß man eine Wahrnehmung, einen Schmerz usw. hat, muß man über den Begriff der Wahrnehmimg, den Begriff des Schmerzes usw. verfügen) sowie ein minimaler Begriff von sich selbst, damit man sich den mentalen Zustand als seinen eigenen zuschreiben kann. (Ein Gedanke der Art, daß ein mentaler Zustand eines bestimmten Typs gegeben ist, bringt noch nicht den von Rosen-
178 179 180
Vgl. Rosenthal 1990 S.37ff. Vgl. Davidson 1975/51991 sowie 1982. Vgl. Rosenthal 1990 S.37f. Fn.40.
Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
127
thai geforderten Inhalt eines GhO's zu Ausdruck, wonach es sich um ein konkretes Einzelvorkommnis eines mentalen Zustande handeln muß. Dazu muß der Zustand aber konkret jemandem zugeschrieben werden.)181 Selbst wenn man akzeptiert, daß es einen bestimmten Begriff von Meinung gibt, für den Davidsons Auffassung zutreffend ist, so mag es sein, daß diese Begriffe von den eigenen mentalen Zuständen, zumal wenn es sich um Schmerzen oder Wahrnehmungen handelt, so primitiv sein können, daß sie nicht den Erfordernissen genügen müssen, die Davidson für Meinungen gegeben sieht. Eine Klärung dieser Frage ist hier letztlich nicht möglich und erforderlich. Wir werden gleich noch auf eine Konkretisierung zu sprechen kommen, die Rosenthal in diesem Zusammenhang gegeben hat. Sofern allerdings ein minimaler Begriff von einem Selbst für einen geeigneten GhO erforderlich ist, kommt natürlich die dritte Schwierigkeit (die Frage nach dem Selbstbewußtsein) ins Spiel. Wie sieht Rosenthals Reaktion auf diese Schwierigkeit aus? Der erforderliche Begriff von einem Selbst soll lediglich die Fähigkeit beinhalten, daß man sich selbst von anderen Dingen unterscheiden kann. Dazu ist nicht einmal erforderlich, daß man auch nur irgendeines der Prädikate kennt, die auf einen de facto zutreffen. Es reicht vielmehr eine Fähigkeit zur unmittelbaren Bezugnahme auf sich selbst aus, die kein elaborierten Wissen über einen selbst, geschweige denn eine kognitiv anspruchsvolle Form von Selbstbewußtsein einschließt. Rosenthal beruft sich hier explizit auf Arbeiten von Η. N. Castaneda und anderen, wonach es Weisen des Selbstbezugs gibt (genauer Gebrauchsweisen des Ausdrucks „ich"), die nicht so verstanden werden dürfen, daß sie noch durch irgendeine eindeutig identifizierende Beschreibung abgestützt werden.182 Wenn der Gewinner des nächsten Nobelpreises in Physik von sich glaubt, daß er ein guter Mensch sei, so können wir das Personalpronomen (in unserem Munde „er", in seinem „ich") nicht durch die Beschreibung „nächster Nobelpreisträger in Physik" ersetzen, wenn wir den Inhalt seiner Überzeugung wiedergeben wollen, weil er für diese Überzeugung über sich gar nicht wissen muß, daß diese (oder irgendeine andere eindeutig identifizierende) Beschreibung auf ihn zutrifft. Rosenthals Manöver mag hier aber aus folgendem Grund fragwürdig erscheinen: Die direkte Bezugnahme auf sich selbst, die Gegenstand der Arbeiten von Castaneda, Perry und anderen ist, konzentriert sich konkret auf Eigentümlichkeiten von Personalpronomen in intensionalen Kontexten. Die Tatsache, daß die Art der Bezugnahme mittels dieser Pronomina nicht durch Beschreibungen vermittelt 181 182
Vgl. Rosenthal 1986/91 S.469 sowie Rosenthal 1990 S.37. Vgl. z.B. Castaneda 1968 sowie Periy 1979.
128
David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins
sein kann, darf nicht so ohne weiteres für die These in Anspruch genommen werden, daß man ohne große begriffliche Ressourcen auf sich selber Bezug nehmen kann. Der Gebrauch der Personalpronomina wird im Vergleich zu unseren sonstigen sprachlichen Fähigkeiten erst relativ spät erlernt. Lange bevor Kinder die Semantik von Ausdrücken wie „ich", „du", und „er" durchschaut haben, beziehen sie sich mit Beschreibungen oder ihrem eigenen Namen auf sich selbst (was die Beschreibung involviert, daß dieser Name auf sie zutrifft). Es mag sogar sein, daß die prinzipielle Fähigkeit, sich durch Beschreibungen zu identifizieren, eine Voraussetzung dafür ist, daß man sich später ohne Rekurs auf irgendwelche Beschreibungen unmittelbar mit Hilfe der fraglichen Pronomen auf sich selber beziehen kann. In diesem Zusammenhang ist unter anderem zu beachten, daß man die Bedeutung von „ich" nicht isoliert lernt, sondern im Zusammenhang und in Abhängigkeit von der solcher Ausdrücke wie „du" oder „er".183 Wie immer sich dies im einzelnen verhalten mag, der Weg von der Möglichkeit, daß jemand unvermittelt, d.h. ohne konkreten Einsatz individuierender Begriffe, auf sich selbst Bezug nehmen kann, zur Möglichkeit, daß ein Wesen ohne die Fähigkeit, sich mit Hilfe von Begriffen eindeutig zu identifizieren, zu solch einer unmittelbaren Bezugnahme fähig ist, ist nicht so kurz, wie Rosenthal hier suggeriert, ganz einfach deshalb, weil die Fähigkeit zu solch einer unmittelbaren Bezugnahme gegebenenfalls einen sehr reichhaltigen begrifflichen Hintergrund erfordert. Wie sieht es aber konkret mit den Erfordernissen an die mentalen Begriffe aus? Wie kann jemand ohne Sprache einen Begriff von mentalen Zuständen haben? Oder wie soll man sich auch nur vorstellen, daß ein Wesen mit geringen begrifflichen Ressourcen sich auch ohne Sprache auf seine mentalen Zustände als mentale Zustände beziehen kann? Selbst wenn wir den prinzipiellen philosophischen Einwänden nicht trauen wollen, die hier der Sprache ein großes Gewicht einräumen, hätte man dazu gerne eine konkrete Antwort. Sehen wir uns die von Rosenthal im Wortlaut an: We refer in thought to the physical objects by way of their position in our visual field. It is natural to suppose that thought can similarly refer to sensory states by way of their position in the relevant sensory field. In any case, conscious differentiation of sensory detail quickly outstrips one's conceptual resources; so some means of referring to sensory states is necessary. (Rosenthal 1990 S.39f.) 184
183 184
Vgl. dazu Tugendhat 1979 S.73f. Vgl. auch Rosenthal S.32ff.
Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
129
Was Rosenthal offenbar im Auge hat, ist die Vorstellung, daß wir auch hier, ganz so wie beim Selbstbezug, mit einer relativ voraussetzungslosen Fähigkeit einer unmittelbaren Bezugnahme auskommen und diese auch gewährleistet scheint: So wie wir uns auf Gegenstände unserer Wahrnehmung gedanklich einfach dadurch beziehen können, daß wir auf ihre Position im visuellen Feld Bezug nehmen, so können wir uns auch auf sensorische Zustände beziehen, indem wir ihnen eine Position im „relevanten sensorischen Feld" zuweisen. Im Extremfall wird es sich einfach um schlichte deiktische Bezugnahme („da", „dort") handeln. Was ist aber unter einem sensorischen Feld zu verstehen, in dem sich sensorische Zustände auf eine Weise auffinden lassen sollen, wie dies bei den Gegenständen unserer Umgebung innerhalb unseres visuellen Feldes zweifellos der Fall ist? Vielleicht können wir unterschiedliche Körperempfindungen in solch einem Feld anordnen, dann wäre solch ein Feld in etwa mit dem gleichzusetzen, was man gelegentlich als Körperschema bezeichnet. Aber schon für unsere Wahrnehmungen ist solch ein Bild viel schwerer zu erstellen: Kann man sagen, unsere visuellen Eindrücke bilden neben unseren akustischen Eindrücken Bestandteile eines sensorischen Feldes?185 Aber selbst wenn wir dies alles einräumen, bleibt doch die Frage, ob Rosenthal hier nicht schlicht das GhO-Modell zugunsten eines Modells der inneren Wahrnehmung aufgegeben hat. Diesen Vorwurf erhebt jedenfalls Dretske, wenn er schreibt: This [Rosenthals Vorschlag] won't do. It is a thinly disguised conflation of higherorder thought with higher-order experience. I can see an object (off to my left next to the tree) without knowing what it is, but if this is the model we are to use to understand the way thought can be about experience without representing the experience as experience, then our relation to our own experiences is being likened to the objects we see and hear. (Dretske 1995 S.112)
Rosenthal scheint hier demnach schlicht eine Möglichkeit in Anspruch zu nehmen, die, wenn überhaupt, nur für Wahrnehmungen, nicht hingegen für Gedanken in Frage kommt, nämlich die Möglichkeit, sich auf einen Gegenstand zu beziehen, ohne ihn dabei begrifflich weiter klassifizieren zu können, ohne sich auf ihn als Gegenstand von einem bestimmten Typ beziehen zu müssen.186 Rosenthal wird hier vielleicht entgegnen wollen, daß er doch explizit davon spricht, wie wir uns mit unseren Gedanken auf Objekte unserer Umwelt
185
186
Für einige Andeutungen, die solche Vorstellungen offenbar stützen sollen, vgl. Rosenthal 1985 S.33. Inwiefern dies im Fall der Wahrnehmung überhaupt möglich ist, soll im nächsten Kapitel erörtert werden.
130
David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins
beziehen. Und wir haben dies insoweit ergänzt, daß er dabei vermutlich an deiktische Ausdrücke wie „dort" denkt. Deiktische Ausdrücke sind aber natürlich begriffliche Bestandteile von Gedanken, und insofern muß es sich hier nicht um eine kaum kaschierte Version des Introspektionsmodells handeln. Dennoch enthält Dretskes Kritik einen Hinweis auf etwas Richtiges: Rosenthals Konzeption scheint hier in jedem Falle so etwas wie eine innere Wahrnehmung der eigenen Zustände vorauszusetzen, damit die entsprechenden GhO's mit ihren deiktischen Komponenten überhaupt erst greifen können. Deiktische Ausdrücke oder ganz allgemein Ausdrücke, die Positionsbestimmungen in bezug auf ein visuelles oder sensorisches Feld vornehmen, setzen offenbar die Wahrnehmung dessen voraus, was durch diese Ausdrücke bezeichnet wird. Nun hat Rosenthal aber an anderer Stelle explizit deutlich gemacht, daß er die Idee einer Wahrnehmung der eigenen mentalen Zustände für völlig verfehlt hält.187 Er beruft sich dabei im wesentlichen auf den bereits im ersten Kapitel erörterten Gedanken, wonach wir an unseren mentalen Zuständen neben den Eigenschaften der repräsentierten Gegenstände keine zusätzlichen Eigenschaften ausmachen können. Wir können also festhalten, daß es Rosenthal letztlich nicht gelingt, mit der zweiten und dritten Schwierigkeit in befriedigender Weise zu Rande zu kommen. Wie sieht es mit dem vierten Einwand aus? Rosenthal diskutiert in diesem Zusammenhang folgenden Fall:188 Jemand hat ein bestimmtes Gefühl, welches verdrängt ist. Trotzdem mag es sein, daß ihm dieses Gefühl Lust bereitet, und zwar unbewußte Lust. Das verdrängte Gefühl löst also ein weiteres Gefühl aus, nämlich Lust, und diese Lust ist unbewußt. (Man könnte sich etwa denken, daß jemand ein verdrängtes Gefühl von sexueller Erregung für eine bestimmte Person hat, und ihm diese Erregung, wenn sie auftritt, ein spezifisches Lustgefühl bereitet, welches unbewußt ist.) Dagegen, daß das zweite Gefühl unbewußt ist, kann Rosenthal nichts haben, da mentale Zustände nach seiner Auffassung nicht bewußt sein müssen. Damit dieses unbewußte Gefühl aber überhaupt aufkommen kann, so die Pointe an dem Beispiel, muß die betroffene Person in irgendeiner Form realisieren, daß das auslösende Gefühl (also etwa die sexuelle Erregung) gegeben ist. Damit wäre aber ein Gedanke höherer Ordnung über dieses Gefühl gegeben, der dieses nicht bewußt macht. Rosenthal begegnet diesem Einwand schlicht mit der Behauptung, daß man auch an etwas Lust empfinden könne, ohne auch nur einen Gedanken daran verschwenden zu müssen. Er räumt zwar ein, daß man nicht an der Existenz 187 188
Vgl. Rosenthal 1990 S.32-35. Vgl. Rosenthal 1986/91 S.470f.
Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
131
des Gegenstandes der Lust zweifeln darf, aber es müsse kein aktueller Gedanke im Sinne von einem episodischen Ereignis auftreten. Letzteres ist es aber, worauf es in der GhO-Theorie ankommt. Selbst wenn Freude an etwas zu haben in gewisser Hinsicht ein propositionaler Zustand sei, in dem Sinn, daß man den Gehalt dieses Zustandes prepositional charakterisieren würde („ich freue mich darüber, daß ..."), so heißt dies nicht, daß man de facto einen episodischen Gedanken haben muß, der zum Ausdruck bringt, was der Gegenstand der Freude ist: Having a thought in that sense is the holding of an assertive mental attitude, which need not occur when one takes pleasure in something. (Rosenthal 1986/91 S.471) Dazu nur folgender, kurzer Kommentar: Die Antwort wirkt hier sehr stark auf das im übrigen extrem gewählte Beispiel zugeschnitten. Dabei sind wesentlich einfachere Beispiele denkbar, die sich nicht auf diese Weise abhandeln lassen: Generell wird man doch sagen wollen, daß der bloße Gedanke, man sei in seine Mutter verliebt, sei ein rassistischer Chauvinist usw., entsprechend vorhandene verdrängte Einstellungen und Zustände noch nicht bewußt machen wird. Die Anerkennung der Tatsache, daß man bestimmte mentale Zustände hat, die verdrängt worden sind, fordert meistens einen langwierigen Prozeß der Einsicht in diese Tatsache. Das bloße Faktum, daß man einen Gedanken entsprechenden Inhalts hat, reicht dafür nicht aus. Andernfalls wären die meisten Psychotherapeuten vermutlich bald arbeitslos. Sollte es ferner mentale Zustände geben, die nie bewußt werden können (wenn es etwa angeborenes Wissen über Grammatik oder auch eine „language of thought" geben sollte, deren Struktur wir uns nicht ins Bewußtsein rufen können usw.), dann stellt sich die Frage, warum auch ein Gedanke höherer Ordnung diese Zustände nicht bewußt machen kann. Rosenthal müßte eigentlich sagen, daß ein Gedanke höherer Ordnung diese Zustände automatisch bewußt macht. Das erscheint aber extrem unplausibel. Niemand macht durch den Gedanken, daß er Zustände hat, die die Regeln einer Universalgrammatik repräsentieren, diese Zustände in irgendeiner Form bewußt.189 Was immer man darüber denken will, Rosenthal müßte in jedem Falle mehr darüber sagen, wie ein Gedanke höherer Ordnung einen mentalen Zustand bewußt machen können soll, was für weitere
189
Natürlich steht und fällt diese Überlegung mit der Existenz solcher Zustände. Wenn es diese Zustände gar nicht gibt, ist es kein Wunder, daß sie nicht bewußt werden können. Aber das scheint eine Frage zu sein, die man nicht durch eine philosophische Theorie über Bewußtsein vorentscheiden sollte.
132
David Rosenthals Monitortheorie des Bewußtseins
Faktoren hier gegebenenfalls eine Rolle spielen, damit er Einwände der angeführten Art ausräumen kann.190 Der fünfte Einwand ist offenbar der grundlegendste. Wenn der Gedanke an einen Stein diesen nicht bewußt macht, warum soll ein Gedanke an einen mentalen Zustand diesen bewußt machen? Natürlich ist dieser Einwand von besonderer Bedeutung für die Stichhaltigkeit von Rosenthals These, phänomenales Bewußtsein könne durch die GhO-Theorie erklärt werden; denn phänomenales Bewußtsein ist eine Form von Zustandsbewußtsein. Wie begegnet Rosenthal dieser Schwierigkeit? Kurz gefaßt beruht seine Entgegnung auf der Feststellung, daß jemand, der diesen Einwand plausibel findet, intransitives Zustandsbewußtsein fälschlich für eine intrinsische Eigenschaft des Zustandes hält, und damit also schlicht schon die Falschheit der GhO-Theorie voraussetzt. In Rosenthals eigenen Worten: The mistake here [d.h. an dem Einwand] is to suppose that a state's being intransitively conscious is an intrinsic property of that state. If it were, then being intransitively conscious could not consist in one's being in that state unless being thus conscious induced a change in that state's intrinsic properties. This objection is at bottom just a disguised version of the doctrine that being intransitively conscious is an intrinsic property. (Rosenthal 1990 S.31)
Doch hier ist schwer zu sehen, inwiefern dieser Einwand tatsächlich diese Voraussetzung macht. Vielmehr wird doch nur nach dem Unterschied zwischen Steinen und mentalen Zuständen gefragt, warum die einen durch Gedanken an sie bewußt werden können, die anderen hingegen nicht. Und dieser Frage weicht Rosenthal hier offensichtlich aus. Im Prinzip gibt es hier zwei 190
Nur am Rande sei auf einen in diesem Zusammenhang wichtigen Sinneswandel von Rosenthal hingewiesen: In 1986/91 war er noch davon ausgegangen, daß ein mentaler Zustand seinen dazugehörigen GhO verursacht (vgl. S.465), in 1990 verhält er sich schon neutral zu dieser Frage (vgl. S.46f.) und in 1993 bedient er sich eines völlig neuen Arguments (obwohl schon angedeutet in 1990 S.55ff.) zur Etablierung der GhO-Theorie, welches mit einer kausalen Beziehung als entscheidendem Faktor nicht verträglich ist. Die Grundidee besteht dabei darin, daß allein schon unsere Fähigkeit, von unseren mentalen Zuständen zu berichten, automatisch mit sich bringt, daß wir einen entsprechenden Gedanken höherer Ordnung über den fraglichen Zustand zum Ausdruck bringen, gerade so, wie ein Bericht über das Wetter unseren Gedanken über das Wetter zum Ausdruck bringt. Die Beziehung zwischen Bericht und Ausdruck ist natürlich nicht kausaler Natur, sondern liegt sozusagen in der Natur der entsprechenden Sprechakte. Da diese Argumentation für die GhO-Theorie an wirkliche Sprechakte anknüpft, möchte man vermuten, daß Tiere und Kleinkinder nach dieser Auffassung nicht mehr als Träger bewußter Zustände angesehen werden können. Dem versucht Rosenthal mit der These zu begegnen, daß zwar Wesen mit der Fähigkeit, ihre mentalen Zustände zu berichten (und damit die entsprechenden GhO's zum Ausdruck zu bringen), den paradigmatischen Fall für Wesen mit bewußten Zuständen abgeben sollen, dies uns aber nicht daran hindern soll, den Bereich bewußter Wesen auf Wesen ohne Sprache auszudehnen, da unsere Fähigkeit über unsere Zustände berichten zu können letztlich das Resultat entsprechender GhOs sein soll (vgl. 1993 S.207).
Schwierigkeiten von Rosenthals GhO-Modell
133
Möglichkeiten: Entweder Steine werden so bewußt wie unsere Schmerzen, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, wenn wir nur an sie denken, oder sie werden es nicht. Beide Male stehen Steine und mentale Zustände im Blick auf ihr Bewußtsein völlig auf einer Stufe. Die erste Möglichkeit scheint absurd, weil sie darauf hinausläuft, daß Steine gerade so wie Schmerzen phänomenal bewußt sind, wenn wir an sie denken. Ferner müssen wir dann auch sagen, daß fremde und eigene mentale Zustände in dieser Hinsicht auf der gleichen Stufe stehen: Wenn ich an den Kopfschmerz meines Nachbarn denke, müßte dieser geradeso phänomenal bewußt werden wie mein eigener. Die zweite Möglichkeit hat für mentales Zustandsbewußtsein die Konsequenz, daß ein mentaler Zustand genauso wenig phänomenal bewußt sein kann wie ein Stein oder der Zustand eines anderen. Die Rede von Zustandsbewußtsein ist dann im Grunde nur eine irreführende Ausdrucksweise dafür, daß jemand von ihnen ein Bewußtsein hat, genauer, daß er an sie denkt. Überlegungen dieser Art dürften besonders deutlich vor Augen führen, wie wenig Rosenthals GhO-Modell in der Lage ist, phänomenales Bewußtsein in plausibler Weise zu erhellen. Zumindest als Konzeption des phänomenalen Bewußtseins ist die GhO-Analyse also offenbar gescheitert. Das muß nicht heißen, daß dieses Modell nicht dennoch in der Lage ist, einen anderen Sinn von Bewußtsein, der eher bestimmten reflexiven Vorstellungen von Bewußtsein entspricht, plausibel zu rekonstruieren. Da es uns jedoch in erster Linie um die Frage geht, was es heißt, einen Zustand mit einer Erlebnisqualität zu haben, können wir uns an dieser Stelle von dieser Position verabschieden und uns Positionen zuwenden, die der ersten Option zur Rekonstruktion des phänomenalen Zustandsbewußtseins folgen.
4
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
In diesem Kapitel soll eine Auffassung untersucht werden, nach der Wahrnehmungen letztlich nichts anderes sind als Zustände, die sich durch ihre Rolle für unser klassifikatorisches Verhalten charakterisieren lassen. Aus Gründen, die gleich klar werden, können wir diese Auffassung als die „Meinungstheorie der Wahrnehmung" bezeichnen. Wenn Wahrnehmungen per se phänomenal bewußt sind, und diese Analyse erfolgreich ist, dann können wir phänomenal bewußte Zustände schlicht als Zustände dieser Art verstehen. Der einzige Faktor, der dem Erfolg dieser Analyse noch entgegenstehen könnte, wäre dann gegebenenfalls das Problem der sekundären Qualitäten. Diese Problematik soll und muß hier jedoch noch nicht angeschnitten werden. Wir wollen lediglich fragen, inwieweit es der Meinungstheorie der Wahrnehmung gelingt, eine korrekte Analyse dessen zu liefern, was unter Wahrnehmung zu verstehen ist. Die Meinungstheorie der Wahrnehmung versucht die These zu verteidigen, daß Wahrnehmungen einen spezifischen Typus von Meinungen darstellen.191 Die Rede davon, daß einem in der Wahrnehmung etwas so und so erscheint, läßt sich dann ganz analog zu Redeweisen verstehen, in denen mit diesem Ausdruck Meinungen oder Vermutungen zum Ausdruck gebracht werden („Mir scheint dies ein gutes Argument zu sein" usw.). Als Fachbegriff ist hier der Terminus epistemisches Scheinen geläufig. Als Diskussionsgrundlage sollen die Positionen von Armstrong und Pitcher dienen, die die Idee, Wahrnehmungen seien Meinungen, am ausführlichsten entwickelt haben.192 Daß Wahrnehmungen nichts anderes als Meinungen sein sollen, scheint auf den ersten Blick nicht besonders plausibel zu sein: So bestehen doch offenkundige Unterschiede zwischen meiner Wahrnehmung meines Computerbildschirms vor mir und meinen Meinungen über die Verhältnisse hinter meinem Rücken. Paradigmatische Fälle für Meinungen scheinen ferner sprachliche Äußerungen, sprachlich verfaßte Gedanken oder wenigstens Dispositionen zu sprachlichen Äußerungen zu sein. Aber Wahrnehmungen sind offenkundig keine sprachlich
191 192
Zur Erinnerung: Mit „Meinung" ist hier „belief" gemeint. Vgl. Armstrong '1993 Kap. 10. sowie Pitcher 1971 Kap. 2. Weitere Vertreter sind u.a. Heil 1982 sowie Dennett 1991 S.362-368, siehe auch Dennett 1993b).
Armstrongs kausale Theorie des Geistes
135
verfaßten Gedanken und sie können, wenn es einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung der Verhältnisse vor mir und meiner Meinung über die Verhältnisse hinter meinem Rücken geben soll, auch nicht bloße Dispositionen zu sprachlichen Äußerungen sein, da sie sich dann nicht von den erwähnten Meinungen unterscheiden ließen. Erwartungsgemäß wird man die These also entsprechend qualifizieren müssen. Machen wir uns deshalb zunächst klar, was in diesem Zusammenhang unter Meinungen verstanden wird. Leitfaden sollen dabei die Äußerungen Armstrongs bilden, da Pitcher in diesem Punkt erstens weniger explizit ist und zweitens keine Abweichungen zu Armstrong erkennen läßt. Bei Armstrong finden wir die Information, sie seien „mental states apt for selective behaviour towards the environment", wobei „environment" den eigenen Körper und die Vorgänge in ihm einschließt.193 Diese Bestimmung bewegt sich ganz konsequent im Rahmen von Armstrongs genereller These darüber, was ein mentaler Zustand ist. Um sie besser einordnen zu können, mag eine kurze Skizze dieses Rahmens sinnvoll erscheinen.
4.1
Armstrongs kausale Theorie des Geistes
Armstrongs zentrale These in der Philosophie des Geistes lautet: The concept of a mental state is primarily a concept of a state of the person apt for bringing about a certain sort of behaviour. (Armstrong '1993 S.82)
Die zentralen Begriffe dieser Formel sollen dabei etwa folgendes besagen: „Zustand" ist im weitesten Sinne zu verstehen, so daß auch Ereignisse oder Prozesse als Zustände gelten können. Die zurückhaltende Rede von „geeignet" soll Raum für die Möglichkeit lassen, daß jemand einen mentalen Zustand haben kann, ohne daß dies zu behavioralen Konsequenzen führen muß. Die Rede von „zuwege bringen" soll ein möglichst lockeres Verständnis von Kausalität implizieren, welches erlaubt, Kausalität als ein einheitliches Phänomen im mentalen wie im physischen Bereich zu begreifen. „Verhalten" soll nun im Sinne von „physischem Verhalten" zu verstehen sein, also im wesentlichen körperliche Veränderungen bzw. deren Ausbleiben bezeichnen. Es darf auf keinen Fall in einem Sinne verstanden werden, der schon einen versteckten Bezug auf den Bereich des Mentalen enthält, weil Armstrongs Formel sonst natürlich ungeeignet ist, eine zirkelfreie Erklärung mentaler Zustände zu lie-
193
Für das Zitat vgl. Armstrong Ί993 S.339, für die Erläuterung von „environment" vgl. Armstrong '1993 S.341. Für eine relativ ähnliche Formulierung bei Pitcher vgl. Pitcher 1971 S.71.
136
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
fern.194 Wir können Armstrongs Position also als eine Form von Funktionalismus verstehen, weil sie die kausale Rolle mentaler Zustände betont. Ferner handelt es sich um eine Form, bei der insbesondere die Reaktion, das Verhalten, für die Spezifizierung der kausalen Rolle im Vordergrund steht. Eine untergeordnete Rolle spielt bei Armstrong hingegen das „andere Ende" der kausalen Rolle, die Art, wie der Zustand verursacht wird, oder terminologisch ausgedrückt, der Stimulus.195 Wie läßt sich Armstrongs Formel rechtfertigen? Armstrong denkt, dies durch die Analyse unserer mentalen Begrifflichkeit leisten zu können.196 Man hat seine Position deshalb zusammen mit der von Lewis als „analytischen" bzw. „semantischen" oder „a priori" Funktionalismus bezeichnet.197 Entsprechend analysiert er Begriffe wie „Wille", „Meinung", „Wahrnehmung", „Gefühl" usw. als Zustände mit spezifischen kausalen Rollen im Blick auf unser Verhalten.198
4.1.1
Meinungen in Armstrongs Theorie
Gemessen an den beiden zitierten Formulierungen besteht das Spezifikum von Meinungen gegenüber anderen mentalen Zuständen im klassifikatorischen Verhalten. Aber das ist noch nicht alles: Anders als Wünsche, die ja auch für unser Verhalten relevant sind, können Meinungen wahr und falsch sein, sie sind in der bekannten Formulierung von Ramsey 'maps by which we steer'.199 Für Armstrong wie Pitcher involvieren Meinungen Begriffe; Meinungen über etwas Rotes oder einen Computer erfordern Besitz sowie Anwendung der entsprechenden Begriffe.200 Ein Säugling oder ein Hund, die wohl kaum über den Begriff des digitalen Computers verfügen dürften, können demnach keine
194 195
196 197 198
199
200
Für diese Erläuterungen vgl. Armstrong '1993 S.82-84. Vgl. dazu auch Armstrong '1993 S.82 sowie seine Kritik an den am Stimulus orientierten Ansätzen von Place und dem frühen Smart S.81. Vgl. Armstrong '1993 S.90f., 129f. Vgl. Block 1978/80 S.271, S.283, Bieri 1981 S.47. Nach Lewis handelt es sich hier bloß um die Angabe von „Platitüden" unserer Alltagsauffassung (vgl. D. Lewis 1972 S.249f., 256). Angesichts der Tatsache, daß wir mentale Zustände in der Regel zur Erklärung von Handlungen, nicht aber von physischem Verhalten wie Bewegungen und Geräuschen ins Feld führen, ist es jedoch alles andere als trivial, ob sich dieses Programm so einfach durchführen läßt. Vgl. Armstrong '1993 S.210, Armstrong 1973 S.3. Armstrong betont in diesem Zusammenhang nicht explizit den Kontrast zu den Wünschen, er scheint aber der Sache nach gerechtfertigt. Vgl. Armstrong '1993 S.339 u. S.210, Pitcher 1971 S.94.
Armstrongs kausale Theorie des Geistes
137
digitalen Computer wahrnehmen.201 Ferner wird man sagen wollen, daß Meinungen eine innere Struktur haben und daß die Elemente dieser Struktur Begriffe sind.202 Die Meinungen „Schlagsahne schmeckt gut" und „Schlagsahne macht dick" besitzen ein gemeinsames Element, nämlich den Begriff „Schlagsahne" sowie auch unterschiedliche Elemente wie die Begriffe „gut", „schmecken" und „dick". Insofern kann man Begriffe als die Elemente bezeichnen, aus denen Meinungen bestehen und aus denen sich auch spezifische Beziehungen zwischen unterschiedlichen Meinungen ergeben können. Weder Begriffe noch Meinungen setzen die Beherrschung einer natürlichen Sprache voraus; Begriffe können „subverbal" sein.203 Entsprechend können dann auch Tiere über Begriffe verfügen und damit Meinungen haben.204 Gegenstände unter Begriffe zu bringen, ist nichts anderes als sie als „instances of a certain sort" aufzufassen, und dies ist letztlich „acquire information or beliefs of a certain sort."205 Wir haben bereits gesehen, daß solch eine Auffassung von Meinungen nicht unumstritten ist.206 Für die Zwecke unserer gegenwärtigen Diskussion ist es jedoch nicht erforderlich in diesem Streit Partei zu ergreifen. Denn selbst wenn man einräumt, daß Begriffe wie „Begriff" und „Meinung" nur im Zusammenhang mit Wesen eine Anwendung finden sollten, die über eine Sprache verfügen, kann man daran festhalten, daß es a) Zustände gibt, die sich darüber individuieren lassen, daß sie eine spezifische Rolle in unserem klassifikatorischen Verhalten spielen und eine Struktur aufweisen, die zumindest eine in diesem Sinne ähnliche Funktion wie Begriffe erfüllen kann, um dann b) für eine Identifikation von Wahrnehmungen mit solchen Zuständen zu plädieren. Schließlich weisen viele Tiere ein uns Menschen relativ ähnliches Verhalten auf, so daß wir mit der Unterstellung solcher Zustände und der weiteren Unterstellung, daß diese Zustände als Ursache dieses Verhaltens unseren Zuständen in vielen Hinsichten sehr ähnlich sind, ihr Verhalten befriedigend voraussagen und erklären können. Und wer jenseits des Tierreichs nach einem plausiblen Beispiel für hochgradige klassifikatorische Leistungen ohne Sprache sucht, kann sich ganz einfach an unserer Fähigkeit orientieren, musikalische Strukturen zu erkennen, die keineswegs an unsere bescheidenen 201 202 203 204
205 206
Vgl. Pitcher Vgl. a.a.O. Vgl. Armstrong 1973 S.18f sowie auch Kap. 5. Vgl. Armstrong '1993 S.141 u. 342 sowie ausführlicher 1973 S.25-31. Vgl. Armstrong '1993 S.209, und ausführlicher, Armstrong 1973 a.a.O. sowie Pitcher 1971 S.171 u. S.178. Pitcher betont allerdings die Möglichkeit, daß Sprache einen sehr starken Einflufl auf unsere Wahrnehmung hat (vgl. Pitcher 1971 S. 170-186). Das könnte bedeuten, daß sich unsere Wahrnehmungen grundlegend von denen der Tiere unterscheiden. Vgl. Armstrong '1993 S.141. S.o. S.126.
138
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
sprachlichen Ausdrucksmittel gebunden scheint.207 Vor dem Hintergrund dieser ziemlich skizzenhaften Bemerkungen zu Armstrongs Meinungsbegriff können wir uns nun der Meinungstheorie der Wahrnehmung im einzelnen zuwenden.
4.2
Wahrnehmungen als Meinungen
Armstrong und Pitcher identifizieren Wahrnehmung nicht einfach schlechtweg mit Meinungen (auch wenn sie manchmal so reden), ihre These lautet vielmehr, daß Wahrnehmung einen besonderen Typ von Meinungen darstellt. Wodurch zeichnet sich dieser Typ aus? Sechs Faktoren sind dabei von Bedeutung, wobei allerdings nur die ersten drei von beiden Autoren geteilt werden. Der vierte und der fünfte werden nur von Pitcher hervorgehoben, und angesichts des sechsten Faktors schlagen Armstrong und Pitcher unterschiedliche Wege ein.
4.2.1
Sechs Qualifizierungen der Meinungsthese
Einmal bilden Wahrnehmungen die Grundlage für alle anderen Meinungen, so daß keine anderen Meinungen ohne Wahrnehmungsmeinungen möglich sein sollen. Wir könnten uns demnach Wesen vorstellen, die nur Wahrnehmungen haben, aber sonst keine weiteren Meinungen, hingegen keine Wesen, die ohne eine einzige Wahrnehmungsmeinung andere Meinungen erwerben könnten.208 Zweitens kann man Wahrnehmungen sinnvollerweise nur als Meinungen über Gegenwärtiges auffassen, wir können weder Vergangenes noch Künftiges wahrnehmen, auch wenn wir über vergangene oder künftige Ereignisse mit Hilfe von Wahrnehmungen gegenwärtiger Ereignisse und entsprechenden Schlußfolgerungen Meinungen erwerben können („Auf Grund der Spuren muß hier ein Löwe entlang gelaufen sein").209 Drittens spielt das Wahrgenommene eine besondere kausale Rolle beim Zustandekommen der fraglichen Meinung;210 wohingegen für Meinungen ge-
207
208 209 210
Man kann z.B. einen Ton als Dominante hören, ohne in sprachlicher Form über den musiktheoretischen Begriff „Dominante" zu verfügen. Zu diesem Punkt vgl. DeBellis 1995 S.26ff. Vgl. Armstrong '1993 S.340. Vgl. Armstrong '1993 S.210, S.229-31. Vgl. a.a.O. Armstrong schränkt diese These ein, weil Künftiges nichts Gegenwärtiges verursachen könne, dies aber wahrnehmbar sei (a.a.O.).
Wahrnehmungen als Meinungen
139
nerell nicht gilt, daß dasjenige, wovon sie handeln, sie verursachen muß (man denke an Meinungen über abstrakte Gegenstände wie Zahlen usw.).211 Viertens ist Wahrnehmung zumindest laut Pitcher eine Meinung, die durch den Gebrauch der Sinnesorgane erworben wurde.212 Man könnte demnach versuchen, unterschiedliche Wahrnehmungen durch unterschiedliche Sinnesorgane zu definieren („Sehen ist Erwerb von Meinungen über die Augen"). Diese Qualifizierung ist natürlich als Ergänzimg zum gerade erwähnten Gesichtspunkt äußerst naheliegend, weil sie uns Auskunft gibt über den kausalen Pfad, den der fragliche Gegenstand bei der Verursachung der Wahrnehmungsmeinung nimmt. Armstrong leugnet zwar nicht die zentrale Rolle von Sinnesorganen für unsere Wahrnehmung. Er sieht sie nur nicht als begriffliches Ingredienz der Wahrnehmung: Sowohl die Tatsache, daß wir Sinnesorgane haben, als auch, daß wir mit den Augen sehen, den Ohren hören usw., stellen für ihn lediglich kontingente Tatsachen dar.213 Fünftens muß die Meinungsanalyse dem Rechnung tragen, was man mit Pitcher als „Reichhaltigkeit" von Wahrnehmungsmeinungen bezeichnen könnte.214 Wahrnehmungen sind nicht einfach irgendwelche Meinungen über das, was wahrgenommen wird, sondern sie weisen einen so spezifischen wie reichhaltigen Gehalt auf: Eine Wahrnehmung von etwas Rotem erschöpft sich nicht darin, daß etwas Rotes da ist, sondern beinhaltet auch, daß es sich um einen ganz spezifischen Rotton handelt, der zugleich auch eine bestimmte Fläche einnimmt, die sich in einer bestimmten Entfernung vom Betrachter befindet und eine bestimmte Position vor seinem Hintergrund oder anderen Gegenständen einnimmt usw. Da Wahrnehmungen Ereignisse sind, Meinungen hingegen Dispositionen, analysiert Armstrong Wahrnehmungen sechstem als Erwerb von Meinungen und Pitcher als deren Verursachung.215 Pitchers Auffassung kommt offenbar besser als Armstrongs Version mit Fällen zurecht, in denen etwas über einen längeren Zeitraum hinweg wahrgenommen wird. Dies gilt besonders dann, wenn sich die Eigenschaften des fraglichen Gegenstandes relativ schnell vollständig erfassen lassen. Man denke etwa an einen grauen Kreis vor weißem 211
212 213 214
215
Ergänzend sei hier noch darauf hingewiesen, daß wir Wahrnehmungen, anders als Gedanken oder Phantasievorstellungen, nicht willentlich heraufbeschwören können. Eine einfache Erklärung dafür bietet natürlich der Verweis auf die Kausalbeziehung zwischen Wahrnehmungsgegenstand und Wahrnehmendem. Vgl. Pitcher 1971 S.65 u. 70. Vgl. Armstrong '1993 S.211-213. Vgl. Pitcher 1971 S.87. Dieser Gesichtspunkt spielt vor allem für Dennett eine zentrale Rolle, vgl. Dennett 1991 S.338-344, 1995 S.252f. Vgl. Armstrong !1993 S.208 sowie Pitcher 1971 S.73.
140
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
Hintergrund.216 Hier scheint klar, daß man binnen kürzester Zeit alle durch visuelle Wahrnehmung vermittelbaren Meinungen erworben hat, ohne daß einen dies hindert, den Kreis nach Abschluß dieses Prozesses weiterhin zu sehen. Nach Armstrong erwerben wir in solchen Situationen immer aufs neue die Meinung, daß das fragliche Objekt immer noch unverändert da ist.217 Hier stellt sich jedoch die Frage, ob man die zeitliche Implikation „immer noch" so ohne weiteres als Bestandteil des Gehalts der fraglichen Wahrnehmungen ansehen darf. Denn warum sollte man nicht etwas andauernd wahrnehmen können, ohne über diesen Begriff zu verfügen?218 Pitchers Vorschlag stellt einem demgegenüber frei zu sagen, daß ein und dieselbe Meinung immer wieder aufs neue im Betrachter verursacht bzw. durch entsprechende kausale Prozesse aufrechterhalten wird. Soviel zu den wichtigsten Qualifizierungen der These, Wahrnehmungen seien ein Typ von Meinungen. Wahrnehmungen sind demnach der Erwerb oder die Verursachung von Meinungen über Gegenwärtiges, die nicht auf anderen Meinungen beruhen. Das Wahrgenommene ist für ihr Zustandekommen kausal relevant, wobei gegebenenfalls den Sinnesorganen eine entscheidende Rolle zukommt. Mit diesem groben Bild vor Augen können wir nach der Motivation und Plausibilität der Meinungsanalyse fragen. Was den ersten Punkt betrifft, verweist Armstrong einmal auf die biologische Funktion der Wahrnehmung, die im Erwerb von überlebenswichtiger Information über die Umwelt und den eigenen Körper besteht.219 Da diese Information wahr oder falsch sein kann, und jede Wahrnehmungstheorie auch den Unterschied zwischen veridischer und illusionärer Wahrnehmung rekonstruieren können muß,220 könnte man Armstrongs Ausführungen noch mit dem Hinweis ergänzen, daß sich diese Tatsache besonders leicht durch die Meinungsanalyse der Wahrnehmung erläutern läßt, da es einen klaren Sinn gibt, in dem Meinungen wahr oder falsch sein können. Diese Wahrheitsfälligkeit deutet darauf hin, daß sie propositionalen Charakter aufweisen. Nimmt man nun noch die wenig anspruchsvolle Prämisse hinzu, daß nur Meinungen propositional sein können, scheint zu folgen, daß Wahrnehmungen Meinungen sind. Entsprechend sagen 216 217 218
219 220
Vgl. Pitcher a.a.O. Vgl. Armstrong "1993 S.214. Einen anderen Ausweg könnte Armstrongs Konzeption von „leerlaufenden" mentalen Zuständen bieten (vgl. Armstrong 21993 S.223), die ihre Rolle nicht mehr aktuell auszuüben brauchen, weil sie wie ein Siegel, welches man in schon geprägtes Wachs drückt, gewissermaßen nichts mehr tun können. Diese Konzeption soll unten S.147f. in einem anderen Kontext noch zur Sprache kommen. Vgl. Armstrong "1993 S.209. Vgl. a.a.O.
Wahrnehmungen als Meinungen
141
wir auch, man könne sehen, daß die Tasse herunterfällt, oder hören, daß die Oboe einsetzt usw. Wir können in diesem Zusammenhang auch sagen, daß wir etwas als etwas wahrnehmen; wenn ich höre, daß die Oboe einsetzt, dann höre ich sie u.a. als Oboe und klassifiziere dieses Musikinstrument durch mein Hören in bestimmter Hinsicht. Ferner werden Wahrnehmungen oft durch unser Hintergrundwissen, mithin andere Meinungen und Begriffe, derart beeinflußt, daß wir uns neue Meinungen bilden. Habe ich ein entsprechendes Hintergrundwissen, so nehme ich etwas ganz anders wahr als zuvor. So wird mir ein Bild, welches mir zunächst als eine mehr oder weniger strukturlose Ansammlung von Flecken erscheinen mag, als eine Abbildung von einem Dalmatiner im Schatten eines Laubbaumes erscheinen, wenn ich gesagt bekomme, daß es sich um ein Bild von einem Dalmatiner unter einem Baum handelt. Ich glaube dann, daß es sich um ein Bild von einem Dalmatiner handelt, und meine Wahrnehmung hat sich entsprechend verändert. Dieses Phänomen wird übrigens häufig als „Top-Down-Processing" bezeichnet.221 Die Meinungsanalyse der Wahrnehmung ist also offenbar in der Lage, einige kaum bestrittene Tatsachen über Wahrnehmung zu erklären. Ist sie aber auch mit all den anderen relevanten Tatsachen zumindest kompatibel? Es finden sich in der Literatur eine Reihe von Einwänden gegen die Meinungstheorie. Sie gehen alle mehr oder weniger davon aus, daß die Meinungsanalyse der Wahrnehmung durch folgende Äquivalenz ausgedrückt werden kann: X nimmt wahr, daß ρ Ο X meint (in den oben qualifizierten Hinsichten), daß p. Oder im Jargon des „Scheinens"222: für ein wahrnehmungsfahiges Lebewesen W, einen Gegenstand x, und eine Eigenschaft F gilt: * erscheint W F o f f glaubt, daß χ F ist. Zum Beispiel: χ sieht für W rot aus Ο W meint (in den oben qualifizierten Hinsichten), daß χ rot ist. Die Strategie besteht dann darin, diese Äquivalenz als falsch zu erweisen.
221
222
Ein zusätzliches Motiv für Autoren wie Armstrong und Pitcher besteht darin, daß die Meinungsanalyse vor dem Hintergrund der These, Meinungen seien Zustände, die zur Hervorbringung von spezifischen Verhaltensweisen in der Lage sind, Aussichten auf eine naturalistische Theorie der Wahrnehmung bietet, die nicht auf irreduzible mentale Objekte wie z.B. Sinnesdaten zurückgreifen muß. bzw. Aussehens, sich Anhörens usw.
142
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung 4.3
Kritik an zwei Implikationen
Die Strategie für eine Kritik an der Meinungstheorie ist angesichts der Äquivalenzthese nicht schwer zu erraten: Es wird einmal versucht, den Nachsatz für Fälle als falsch (wahr) zu erweisen, in denen der Vordersatz wahr (falsch) ist. Entsprechend kann man die Äquivalenzthese in zwei Implikationen zerlegen, die es dann kritisch zu untersuchen gilt: (/,) χ erscheint W F => W meint (in den oben qualifizierten Hinsichten), daß χ F ist. (I2) W meint (in den oben qualifizierten Hinsichten), daß χ F ist => χ erscheint W F Für die Kritik an (/,) sollen hier zwei Überlegungen aus der Literatur angesprochen werden. Die erste Überlegung soll einen Fall präsentieren, in dem W entweder explizit nicht der Meinimg ist, daß χ F ist, oder aber nicht weiß, ob er dies meinen soll oder nicht, die zweite Überlegung versucht zu zeigen, daß es einen Sinn von Wahrnehmung gibt, der keinerlei Meinung impliziert.223 Für die Kritik an (I2) wollen wir uns an drei Überlegungen von Jackson orientieren, die sich alle an den bereits erwähnten Versuchen orientieren, die fraglichen Meinungen in geeigneter Weise zu spezifizieren, um diese Überlegungen in noch einem weiteren Punkt zu ergänzen, der in der geläufigen Diskussion vielleicht etwas vernachlässigt worden ist.224
4.3.1
Kritik an (//)
Lassen sich Beispiele geben, in denen jemand eine bestimmte Wahrnehmung hat, ohne etwas zu glauben, was dem Gehalt dieser Wahrnehmung entspricht? Besonders augenfällig scheint dies zu sein im Fall bestimmter Wahrnehmungsillusionen wie der Müller-Lyer-Illusion, bei der zwei gleich lange Strecken unterschiedlich lang erscheinen, oder der Neonfarb-Illusion, bei der ein auf weißem Grund gedrucktes farbiges Gitter die Illusion einer farbigen Fläche zu erzeugen in der Lage ist. Die Pointe bei all diesen Illusionen ist bekanntlich, daß der illusionäre Eindruck auch dann bestehen bleibt, wenn man davon überzeugt worden ist, daß es sich um eine Illusion handelt. Insofern gibt es aber zwei gute Gründe, daran 223
224
Für den ersten Typ von Überlegung vgl. die drei Argumente von Jackson 1977 S.38-42, für den zweiten Typ Dretske 1969. Vgl. Jackson 1977 S.42-48. Weitere Kritiker der Meinungsanalyse sind Chisholm 1957 u. Maund 1986.
Kritik an zwei Implikationen
143
zu zweifeln, daß es sich bei den entsprechenden Wahrnehmungen um Meinungen handeln kann: Einmal den schlichten Grund, daß man, sofern man über diese Illusionen Bescheid weiß, gerade nicht glaubt, was man sieht. Zumindest würde man auf Nachfrage und dergleichen zu erkennen geben, daß man die beiden Müller-Lyer-Strecken für gleich lang hält. Zum anderen wäre von einer Wahrnehmung als einem Typ von Meinung zu erwarten, daß sie im Lichte durchschlagender gegenläufiger Meinungen revidiert würde. Aber genau dies ist hier eben nicht der Fall, die Wahrnehmung bleibt völlig unverändert bestehen. Entweder liegt in diesen Fällen also eine Wahrnehmung vor, die sich nicht als Meinung analysieren läßt, oder es läßt sich zeigen, wie sich Wahrnehmungen trotz der zweifellos vorhandenen Meinung, die Dinge verhielten sich anders als in der Wahrnehmung suggeriert, als Meinungen begreifen lassen. Natürlich kommt für die Meinungsanalyse nur die zweite Option in Frage. Die Aufgabenstellung besteht also darin, wie man der fraglichen Person zwei schwerlich in Einklang zu bringende Meinungen unterstellen kann: nämlich diejenige, die durch die Information, wie es sich tatsächlich verhält, vermittelt wird (also etwa „Die Müller-Lyer-Strecken sind gleich lang"), sowie die weitere, die einem durch den visuellen Eindruck vermittelt wird („Die Müller-Lyer-Strecken sind verschieden lang"). Die Schwierigkeit, die sich hier ergibt, können wir als das Illusionsproblem bezeichnen. Auf der anderen Seite gibt es erst einmal eine ganze Reihe von Gesichtspunkten, die dafür zu sprechen scheinen, daß gerade in Fällen wie der MüllerLyer-Illusion eine bestimmte Meinung erworben wurde: Erstens kommt es bei den fraglichen Illusionen zur Anwendung von Begriffen in dem Sinne, daß das Wahrgenommene in einer bestimmten Weise klassifiziert wird: Wir sehen die Strecken als verschieden lang. Sehen-ais gilt in der Regel als ein Zustand, der eine bestimmte Meinimg (nämlich, daß etwas entsprechend beschaffen ist) impliziert. Zweitens muß die Wahrnehmung, damit sie der durch Messung erworbenen Meinung überhaupt widersprechen kann, eine Struktur besitzen, die dies auch erlaubt. Das heißt, ihr Gehalt muß so interpretierbar sein, daß er die Negation der durch Messimg erworbenen Behauptung impliziert. Was kann das aber anderes heißen, als daß es sich dabei um den Gehalt einer entsprechenden Meinung handelt?225 Drittens·. Was gibt uns das Recht, hier überhaupt 225
Crane hat als Beleg dafür, daß Wahrnehmungen keine Meinungen sein können, ins Feld geführt, daß erstere sich intern widersprechen können, letztere hingegen nicht (vgl. Crane 1992, 1988). Als Beispiel führt er dabei die sogenannte „Wasserfall-Hlusion" an, bei der jemand angeblich ein und dasselbe Objekt zugleich in Ruhe und Bewegung wahrnimmt (Der Effekt soll entstehen, wenn man zunächst einige Zeit ein bewegtes Objekt wie einen Wasserfall fixiert und dann auf ein ruhendes Objekt, etwa einen Fels, blickt). Was immer die korrekte Deutung die-
144
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
von einer Illusion zu sprechen, wenn die fragliche Wahrnehmung nicht beinhaltet, daß die Strecken verschieden lang sind, und sie somit einen entsprechenden propositionalen Gehalt aufweist? Viertens geht gerade eine der überzeugendsten psychologischen Hypothesen über das Zustandekommen solcher Illusionen wie der von Müller-Lyer davon aus, daß wir es hier mit einer Art von inferentiellem Prozeß zu tun haben. Solch ein Prozeß ist aber kaum anders denkbar als einer, der bestimmte Begriffe involviert, unter die etwas subsumiert werden kann. Wenn Wahrnehmung aber inferentielle Prozesse beinhaltet, dann scheint sie auch Meinungen zu beinhalten, denn inferentielle Prozesse lassen sich kaum anders denn als Beziehungen zwischen Meinungen deuten. Machen wir uns kurz klar, inwiefern hier inferentielle Prozesse im Spiel sein können. Folgt man der sogenannten „Perspektiv-Theorie",226 so werden etwa die Müller-Lyer-Pfeile als typische Kennzeichen unterschiedlicher räumlicher Gegebenheiten begriffen, nämlich als vorspringende Kante bzw. als zurückweichende Ecke. Der scheinbare Größenunterschied ist dann das Resultat relativ komplexer Prozesse: Das Gehirn realisiert einmal, daß die Retinabilder der beiden Pfeile gleich lang sind, die räumliche Interpretation der Strecken impliziert jedoch, daß sie unterschiedlich weit entfernt sind (die eine Kante springt vor, die andere weicht zurück). Wenn aber zwei Gegenstände, die sich in unterschiedlicher Entfernung vom Betrachter befinden, gleich groß erscheinen, dann muß der weiter entfernte größer sein als der nähere. Da unser Wissen (oder unsere Vermutungen) über die Größe von Gegenständen ihre Größenerscheinung beeinflussen (das Phänomen der sogenannten „Konstanzskalierung"), erscheint die Strecke mit nach außen gewinkelter Pfeilspitze länger, weil sie die zurückweichende Ecke darstellt.227 Der unmittelbare Eindruck von den beiden Pfeilen wäre dann also das Resultat komplizierter unbewußter Schlußfolgerungen. Was diese sicherlich nicht triviale Erklärung unter anderem stützt, ist die Tatsache, daß sich die fragliche Illusion nur bei Wesen aus-
ses Falles sein mag (für eine andere Deutung vgl. Dretske 1997), Cranes Argumentation scheint auf der Mißachtung der eben formulierten These zu beruhen; denn wie will man überhaupt zu dem Ergebnis kommen, daß hier ein interner Widerspruch vorliegt, wenn sich die Wahrnehmungssituation nicht als eine Zuschreibung widersprüchlicher Begriffe analysieren läßt? 226 Vgl. zum Folgenden Gregory 31977 S.150ff. 227 Wer Zweifel an der sogenannten Konstanzskalierung hat, strecke einen Arm aus, winkle die Hand nach innen ab, so daß er auf die Handfläche blickt, strecke dann den anderen Arm mit gleichermaßen angewinkelter Handfläche soweit, bis diese sich etwa in Ellbogenhöhe des voll ausgestreckten Armes befindet. Beide Hände werden ihm gleich groß erscheinen, obwohl die Hand des voll ausgestreckten Armes nur ein wesentlich kleineres Retinabild einnimmt als diejenige des halb ausgestreckten Armes. Die Erklärung: Wir wissen, daß unsere Hände gleich groß sind.
Kritik an zwei Implikationen
145
bildet, die einen entsprechenden Kontakt mit Ecken gehabt haben: Kleine Kinder mit geringen Erfahrungen dieser Art oder Bewohner von Gegenden, in denen Architektur und Natur wenig oder gar keine Ecken und Kanten aufweisen (weil sie in runden Hütten leben und dgl.), sind für die Müller-LyerIllusion nicht anfallig.228 Diese Beobachtungen allein reichen aber zur Verteidigung der Meinungsanalyse der Wahrnehmung noch nicht aus. Plausibilisiert werden muß einmal, ob und inwiefern man in diesen Situationen widersprüchliche Meinungen haben kann. Ferner muß eine Erklärung dafür gegeben werden, warum wir die fraglichen Meinungen nicht revidieren, obwohl wir uns von ihrer Falschheit überzeugt haben. Denn schließlich bleiben die Illusionen auch dann bestehen, wenn wir die wahre Länge der Strecken ausgemessen haben.
4.3.1.1
Meinungstheoretische Lösungsversuche für das Illusionsproblem
Pitcher wählt hier einen Weg, der nicht zwingend darauf hinauszulaufen scheint, daß die Person widersprüchliche Meinungen hat, er macht statt dessen folgenden Vorschlag: In den besagten Fällen glauben wir zwar nicht, daß etwas Entsprechendes der Fall sei, vielmehr haben wir eine unterdrückte Neigung zu glauben, die Strecken seien verschieden lang.229 Da eine unterdrückte Neigung zu einer Meinung nicht damit gleichzusetzen ist, daß man tatsächlich solch eine Meinung hat, liegen hier keine widersprechende Meinungen vor. Was hat Pitcher aber mit einer Neigung zu einer Meinung genauer im Auge? Typische Fälle sind für ihn solche, in denen jemand zu einer Meinung tendiert, sich aber auf Grund gegenläufiger Evidenz seiner Sache nicht besonders sicher ist, z.B. wenn er glaubt, eine Pfütze befinde sich in einiger Entfernung auf der Straße, obwohl er weiß, daß alles in näherer Umgebimg völlig trocken ist.230 Dieser Fall paßt allerdings kaum auf die Müller-Lyer-Illusion; denn wenn ich die Länge der Strecken gemessen habe, habe ich in der Regel überhaupt keine Neigung zu glauben, sie seien verschieden lang, auch keine unterdrückte Neigung. Und falls ich je solch eine Meinung hatte, dann werde ich sie jetzt revidieren. Nim gibt es allerdings eine spezifische Form einer Meinung zuzuneigen, bei der die Neigung nicht durch gegenläufige Meinungen erschüttert wird, eine Form, die von Pitcher auch explizit hervorgehoben 228
229 230
Vgl. Gregory 31977 S.161f. Dasselbe gilt auch für andere Illusionen mit vergleichbaren Erklärungsmodellen wie etwa die Ponzo-IIlusion. Vgl. Pitcher 1971 S.93. Vgl. Pitcher 1971 S.92.
146
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
wird.231 Manchmal wünscht man sich, daß etwas der Fall sei, obwohl man weiß, daß es nicht der Fall ist, etwa wenn eine verehrte oder geliebte Person ein Verbrechen begangen hat. Man neigt dann dazu, den wahren Sachverhalt zu ignorieren. Kann man aber sagen, man wünsche sich, die Müller-Lyer Strecken seien verschieden lang? Wohl kaum. Wir können Jackson nur zustimmen, wenn er Pitcher vorwirft, hier zwei unterschiedliche Bedeutungen des Ausdrucks „Neigung" in einen Topf zu werfen.232 Armstrong spricht wie Pitcher von einer unterdrückten Neigung etwas zu glauben, erläutert dies aber so, daß in solchen Fällen eine Meinung durch andere Meinungen gewissermaßen „in Schach gehalten wird". Damit legt er sich auf eine kontrafaktische Analyse der Phänomene fest: Hätten wir nicht diese anderen Meinungen, so würden wir die fraglichen Illusionen für bare Münze nehmen.233 Und entspricht dies nicht auch weitgehend den Tatsachen? Würden wir ohne Wissen um die tatsächliche Länge der Strecken nicht wirklich glauben wollen, daß sie verschieden lang sind? Was die kontrafaktische Analyse jedoch nicht erklärt, ist, warum die Müller-Lyer-Strecken uns nicht nur solange verschieden lang erscheinen, als wir ihre richtige Länge nicht ausgemessen haben, sondern warum sich der entsprechende Eindruck auch danach noch hartnäckig hält. Normalerweise werden Meinungen, die sich als falsch herausstellen, nicht nur von anderen, überzeugenderen Meinungen in Schach gehalten, sondern schlicht aufgegeben. Darüber hinaus kann man sich mit Jackson fragen, ob es wirklich so sein muß, daß man in Abwesenheit gegenläufiger Evidenzen glauben wird, daß die Strecken verschieden lang sind.234 So halten wir oft genug unser Urteil darüber zurück, ob das, was wir wahrnehmen, der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Wer zum ersten Mal mit der Müller-Lyer-Illusion konfrontiert ist, wird nicht zwangsläufig glauben, daß die beiden Strecken verschieden lang sind, und zwar schlicht, weil man sich denken kann, daß die verschieden ausgerichteten Pfeilspitzen der Strecken einen verzerrenden Einfluß ausüben. Ferner wird jemand, der sich wissentlich einem psychologischen Experiment unterzieht, bei dem er nicht weiß, ob er Dinge unter Standardbedingungen zu sehen bekommt oder nicht, sein Urteil entsprechend zurückhalten. Und so gibt es im Prinzip etliche Gründe, die einen hier zur Zurückhaltung veranlassen können. Die einzige Möglichkeit all diese Gründe abzuschließen, besteht offenbar in
231
Vgl. a.a.O. Vgl. Jackson 1977 S.39. 233 Vgl. Armstrong '1993 S.221f. 234 Vgl. Jackson 1977 S.40ff.
232
Kritik an zwei Implikationen
147
einer Beschreibung der Wahrnehmungssituation, durch die diese explizit als Standardfall ausgewiesen wird, in dem alles so aussieht, wie es de facto beschaffen ist. Man könnte dann mit Blick auf die Müller-Lyer-Pfeile etwa folgendes sagen: Wenn ich nicht gewußt hätte, wie der Gegenstand der Wahrnehmung de facto beschaffen ist, und der Meinung gewesen wäre, daß er so erscheint, wie er tatsächlich beschaffen ist, dann hätte ich geglaubt, sie seien verschieden lang. Als Analyse dessen, was es heißt, daß einem etwas in der Wahrnehmung irgendwie erscheint, ist dieser Vorschlag natürlich nicht brauchbar, da er selber diesen Ausdruck enthält. Zudem steht es einem Betrachter selbst in diesem Fall immer noch frei, daran zu zweifeln, ob die Dinge so sind, wie sie einem erscheinen, z.B. weil er generelle Zweifel an seiner (oder unser aller) Fähigkeit hat, zu ermitteln, wie die Dinge wirklich beschaffen sind. Der kontrafaktischen Analyse gelingt damit nicht, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen man sich den Gehalt seiner Meinung zu eigen gemacht hätte. Armstrong selbst sieht die Schwierigkeit ganz klar, wenn er festhält: „We can quite well imagine the occurrence of perceptions that involve no acquiring of belief at all, even although contrary beliefs about the world are quite absent. Now if this is so [...] it does not pertain to the essence of perceptual experiences that they involve either belief or even 'potential belief. So perception is something more than our analysis allows."235 Seine Lösung dieser Schwierigkeit läuft jedoch im Grunde auf einen Abschied von der kontrafaktischen Analyse hinaus. Er räumt die Möglichkeit solcher Fälle ein, wobei diese allerdings nur insofern als Wahrnehmungen beschrieben werden könnten, als sie sich analog zu Wahrnehmungen verstehen lassen, welche wiederum als Erwerb einer Meinung gelten können.236 Die These, wir müßten uns hier eines analogen Verständnisses bedienen, wird von Armstrong mit einer Überlegung erläutert, die er im Zusammenhang mit einem anderen Problem entwickelt hat. Es handelt sich dabei um die Frage, wie eine kausale Theorie des Geistes eine Auffassung von Wünschen entwickeln kann, die Willensschwäche, mithin also 'leerlaufende' Wünsche ohne hinreichende kausale Kraft, auch in Fällen erlauben kann, in denen keine entgegenwirkenden Wünsche vorhanden sind. Sollte sich dies plausibilisieren lassen, dann könnte Armstrong in der Tat der Vorstellung gerecht werden, daß wir uns Wahrnehmungen denken können, die keinen Erwerb einer Meinung darstellen, selbst wenn keine entgegenwirkenden Meinungen vorhanden sind. Die fragliche Analogie muß dabei zweierlei 235 236
Vgl. Armstrong '1993 S.223. Vgl. a.a.O.
148
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
leisten: Erstens dürfen die Wahrnehmungen nicht nur irgendwelche Ähnlichkeiten mit Meinungen aufweisen, sondern es muß sich natürlich um Ähnlichkeiten handeln, die sie immer noch eindeutig als etwas „Meinungsartiges" kenntlich machen. Zweitens müssen die Ähnlichkeiten im Rahmen der kausalen Theorie explizierbar sein, es müssen Ähnlichkeiten sein, die immer noch im Zusammenhang mit der kausalen Rolle des fraglichen Zustandstyps stehen, wenn die kausale Theorie aufrechterhalten werden soll. Vor dem Hintergrund der kausalen Theorie des Geistes mag solch ein Vorhaben wie ein ziemlich waghalsiger Balanceakt erscheinen. Armstrong versucht ihn auszuführen, indem er ein Bild aus einem ganz anderen Kontext wählt: So wie es denkbar sein soll, daß eine Person die Giftigkeit von Flüssigkeiten ohne Rückgriff auf weitere Evidenzen immittelbar durch eine Geschmacksprobe erkennen kann, so soll folgendes eine Option darstellen: Suppose that some very weak solutions of poisons are mixed. Suppose the taster can correctly mark these off by saying 'poison, but in too weak a concentration to poison'. He is non-inferentially aware that these samples of liquid resemble poisonous liquid. The liquid is describable by him as 'containing what is apt for causing death if drunk, but in too small a concentration actually to cause death'. I suggest that this is parallel to the case of one who has an 'idle' want or wish. He is aware of a state within himself which is in fact (whether he realizes this or not) not operating at sufficient strength to produce behaviour, even if inhibition were removed and/or circumstances were perfectly favourable. (Armstrong '1993 S. 157)237
Völlig dunkel bleibt bei diesem Vorschlag allerdings, welche Rolle die kausalen Eigenschaften, die nach Armstrong die wesentlichen Eigenschaften des fraglichen Phänomens (sei es nun Gift, Wünsche oder Meinungen) ausmachen sollen, hier noch dafür spielen können, daß es sich um ein Phänomen der fraglichen Art (ganz zu schweigen von spezifischen Phänomenen dieser Art)238 handelt. Auch Armstrongs Strategien im Umgang mit dem Illusionsproblem können also nicht recht überzeugen.
4.3.1.2
Lassen sich die Schwächen der Meinungstheorie beheben?
Weder der Vorschlag von Pitcher noch der von Armstrong geben uns eine gelungene Handhabe für das Illusionsproblem aus meinungstheoretischer Sicht. Auf der anderen Seite gibt es, wie schon festgestellt, einen ganz klaren Sinn, 237 238
Für die Übertragung dieser Überlegung auf den Kontext der Wahrnehmungsdiskussion vgl. S.223f. Also nicht nur um eine Meinung, sondern die Meinung, daß p.
Kritik an zwei Implikationen
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in dem bei der Müller-Lyer-Illusion und verwandten Fällen ein Sehen-als vorliegt, das Gesehene also klassifiziert oder unter Begriffe gebracht wird. Und es sind zumindest Fälle denkbar, in denen jemand diese Illusionen für bare Münze nimmt und sich in diesem Sinne mittels seiner Wahrnehmung eine falsche Meinung bildet. Das Illusionsproblem zielte im Grunde nur auf die Schwierigkeit, wie man hier von aktuell widersprüchlichen Meinungen sprechen kann, sowie darauf, warum es hier zu keiner Revision einer sonst als falsch erkannten Meinung kommt. Es zielte jedoch nicht auf die grundlegenden Gesichtspunkte, die einen dazu veranlassen, Wahrnehmungen als Meinungen anzusehen, wie etwa der Gesichtspunkt, daß hier eindeutig Sehen-als vorliegt. Es ist also offenbar nicht einfach damit getan, sich hier darauf zurückzuziehen, daß Wahrnehmungen keine Meinungen sein können, nur weil die Antworten auf das Illusionsproblem nicht besonders gelungen erscheinen. Eine befriedigende Lösung sollte ihr Augenmerk auf folgenden Punkt richten: Gegeben, es handelt sich bei Wahrnehmungen um Meinungen, wie ist es im Fall der fraglichen Illusionen möglich, daß man solch eine Meinung hat sowie eine weitere Meinung, die dieser Meinung widerspricht? Dies wirft erst einmal die Frage danach auf, ob es überhaupt möglich ist, widersprüchliche Meinungen zu haben. Und es wirft zum anderen die Frage auf, warum es in diesem Fall, wo doch eine Meinung nicht nur als im Widerspruch mit einer anderen Meinimg erkannt worden ist, sondern man auch noch weiß, welche die richtige ist, zu keiner Revision der falschen Meinung kommt: Die Strecken erscheinen einem verschieden lang, man weiß jedoch, daß sie de facto gleich lang sind, dennoch erscheinen sie einem weiterhin verschieden lang, so daß man (gegeben, die Wahrnehmung ist eine Meinimg) bei seiner falschen Meinung bleibt. Und drittens schließlich muß deutlich werden, inwieweit es sich bei einem Zustand, der zumindest nicht in normaler Weise auf das klassifikatorische Verhalten durchschlägt, noch um einen meinungs-analogen Zustand handeln kann, wenn man Meinungen in der Regel als Zustände versteht, die entsprechende Folgen für das klassifikatorische Verhalten zeitigen.239 In den nächsten beiden Abschnitten wollen wir die Chancen für solch eine Lösung ausloten. Unser Vorschlag orientiert sich dabei nicht mehr in erster Linie an einer begrifflichen Analyse der Wahrnehmung, sondern versucht, einige empirische Beobachtungen in einem kohärenten Bild davon zu organisieren, wie es sich verhalten könnte. Kurz, es handelt sich um den Versuch, 239
Natürlich kann er insofern durchschlagen, als die Betroffenen sagen werden: „Die Pfeile sehen verschieden lang aus" usw. Das gibt aber nicht den Inhalt der Wahrnehmungserscheinung wieder, wonach die Pfeile verschieden lang sind.
150
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
das Illusionsproblem psychofunktionalistisch und nicht mehr bloß im Rahmen des analytischen Funktionalismus zu lösen. Beginnen sollten wir aber mit einigen Überlegungen zur Möglichkeit widersprüchlicher Meinungen.
4.3.1.2.1
Sind widersprüchliche Meinungen möglich?
Daß wir oft genug widersprüchliche Meinungen haben, ohne uns darüber klar zu sein, ist kein Geheimnis. Häufig überblicken wir einfach nicht die Implikationen unserer Meinungen, weil es uns an Information oder Scharfsinn fehlt. Für unseren Fall ist jedoch wichtig, daß man sich ihrer Widersprüchlichkeit voll bewußt ist. Jemand kann angesichts der Müller-Lyer-Strecken nicht nur eine Meinung haben, die seiner Wahrnehmung entgegensteht, er kann dies auch wissen. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß Armstrong in seinem Buch Belief, Truth and Knowledge die Möglichkeit wissentlich widersprüchlicher Meinungen ganz explizit betont.240 Armstrong faßt Meinungen wie gesagt als Zustände auf, die klassifikatorisches Verhalten verursachen. Auf dieser Basis kann er dann folgendermaßen argumentieren: [...] if we identify beliefs with categorical, structured, states of the believer, we can give a straightforward account of a situation of the sort Bap & Ba~p [wobei „a" die fragliche Person ist, „B" den Operator für Meinen und „p" die geglaubte Proposition darstellt]. There are simply two numerically different states, the one encoded for the proposition ' p \ the other for ' ~ p \ Manifestations, if they occur, are divided without difficulty into two classes by their causes: the two different states. The manifestations of the belief that ρ are brought about (in conjunction with other factors) by the belief-state which is the belief that p, while the manifestations of the belief that ~ p are caused by the belief that ~p. (Armstrong 1973 S.105)
Anders als der logische Behaviorismus kann er problemlos zwischen mentalen Zuständen und ihren Manifestationen unterscheiden und so zwei widersprüchliche Zustände zulassen, obwohl sich entweder nur einer von ihnen oder vielleicht gar keiner im Verhalten manifestiert.241 Was er natürlich ausschließen 240 241
Vgl. Armstrong 1973 S.104ff. Allerdings sind dieser Möglichkeit auch im Rahmen von Armstrongs „kausaler Theorie des Geistes" gewisse Grenzen gesetzt: Selbst wenn für Armstrongs Theorie der Begriff der Rationalität offenbar keine Rolle zu spielen scheint, so wird man auch hier sagen müssen, daß sie widersprüchliche Meinungen, wenn vielleicht nicht als Ausnahmefall, so doch nur als einen sekundären Fall zulassen kann: Damit man mentalen Zuständen kausale Rollen im Sinne der kausalen Theorie des Geistes überhaupt zuordnen kann, damit wir also eine Begrifflichkeit von mentalen Zuständen entwickeln können, die eine entsprechende kausale Komponente enthält, müssen sie natürlich de facto hinreichend oft ihre kausalen Rollen auch ausüben. Dies ist aber nur dann möglich, wenn nicht ständig widersprechende Meinungen vorliegen, bei denen die
Kritik an zwei Implikationen
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muß, ist, daß zwei in Widerspruch befindliche Zustände sich gleichzeitig im selben Verhalten manifestieren können. Dieser Gesichtspunkt deutet allerdings auf ein Problem hin: Welchen Grund haben wir dann überhaupt, daß im Fall der besagten Illusionen zwei widersprechende Meinungen gleichzeitig gegeben sind? Schließlich manifestiert sich nur eine der beiden in der richtigen Weise im Verhalten, wenn man danach gefragt wird, wie lang die Strecken sind usw. Hier muß die Vorstellung ins Spiel kommen, daß es sich um einen Zustand handelt, der nicht wie eine normale Meinung funktioniert, aber trotzdem als analog zu ihr verstanden werden kann. Der Schlüssel liegt hier in einem Merkmal von Meinungen, welches wir oben im Rahmen unserer kurzen Charakteristik von Armstrongs Auffassung über Meinungen angesprochen haben: Meinungen sind strukturierte Zustände, die sich aus bestimmten Elementen, nämlich Begriffen, konstituieren.242 Wenn Wahrnehmungen dieselbe Struktur aufweisen, dann kann man sie als Analoga zu Meinungen verstehen. Dafür spricht, daß sie uns etwas als etwas präsentieren können. Erklärt werden muß jetzt nur noch, warum sie sich nicht in der üblichen Weise im Verhalten äußern können und warum es zu keiner Revision der als falsch erkannten Wahrnehmung kommt.243
242 243
eine Meinung der anderen gewissermaßen die freie Fahrt bei der Verhaltensmanifestation raubt. S.o. S. 137. Nach einer gegenwärtig recht populären Auffassung sind der Möglichkeit (wissentlich wie unwissentlich) widersprüchlicher Meinungen allerdings enge Grenzen gesetzt. Demnach erfordert die Zuschreibung von Meinungen ein hohes Maß von Rationalität und damit weitgehend kohärente Meinungen (vgl. Davidson 1970 S.97, 1982, 1975/Ί991 sowie Dennett 1981/87a) S.21, 1981/87b) sowie 1971/78 zur Kritik vgl. Fodor und Lepore 1992 sowie Stich 1981/90). Anders, so Dennett, könnten wir zu gar keinen spezifischen intentionalistischen Erklärungen und Voraussagen (d. h. solchen, die Verhalten unter Rekurs auf Meinungen und Wünsche erklären bzw. voraussagen) gelangen. Wenn wir zulassen, daß jemand aus seinen Meinungen ebenso gut völlig irrationale Schlußfolgerungen ziehen könnte, wie diejenigen, die wir für rational halten, dann können wir aus der Unterstellung dieser Meinungen beliebige Voraussagen über sein Verhalten ableiten: Er wird entweder tun, was wir gemäß der Rationalitätsunterstellung von ihm erwarten, oder eben gerade das pure Gegenteil (vgl. Dennett 1971/78 S.lOf.). Scheitert also das Zulassen widersprüchlicher Meinungen an diesen Theorien? Hier muß man sehen, daß die Rationalitätsunterstellung nicht grundsätzlich ausschließen soll, daß jemand widersprüchliche Meinungen haben bzw. irrational sein kann (vgl. Davidson 1982 S.321), sondern diese Möglichkeit zu Ausnahmefällen macht, wobei es bei Dennett und Davidson keine genauen Angaben darüber gibt, wieviel Inkonsistenz letztlich erlaubt ist. Die Überlegungen im Folgenden laufen letztlich darauf hinaus, daß es manchmal rational sein kann, meinungsartige Zustände zu haben, die man keiner Konsistenzprüfung unterziehen kann.
152
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung 4.3.1.2.2
Von der Sturheit unserer Wahrnehmungen Ein kurzer Blick auf Fodors Modularitätsthese
Die Tatsache, daß wir unsere Wahrnehmungen im Lichte besserer Evidenzen nicht revidieren können, könnte man sich im Prinzip mit folgender Hypothese über die Struktur unseres kognitiven Apparates erklären: Dieser Apparat ist so gebaut, daß Wahrnehmungen nicht in der Weise beeinflußt werden können, wie dies bei Meinungen in der Regel der Fall ist. Es handelt sich dabei um eine empirische Hypothese, für die unter anderem evolutionäre Gesichtspunkte sprechen: Um eine schnelle Lageeinschätzung vornehmen zu können, kann es von Vorteil sein, wenn neu gewonnene Information nicht immer mit dem Rest der bereits vorhandenen Information abgeglichen wird. So mag es lebensrettend sein, wenn Information über die Anwesenheit eines Löwen nicht erst mit allem über Löwen erworbenen Wissen in Beziehung gesetzt wird, bevor man handelt, d.h. schnell wegläuft.244 Wahrnehmungen oder zumindest ein Teil des Wahrnehmungsprozesses wären dann, wie Fodor es nennt, „modular".245 In den Computerwissenschaften versteht man unter einem Modul eine Komponente eines Rechners, die als unabhängiges Subsystem eine genau definierte Aufgabe ausführt und mit dem Rest des Systems nur in einem ganz eng festgelegten Rahmen interagieren kann.246 Fodor hat nun eine Theorie entwickelt, wonach sich zumindest ein Teil des Wahrnehmungsprozesses, den er „perzeptuelle Analyse" nennt,247 von unseren Meinungen dadurch unterscheidet, daß er sich wie ein Modul verhält und damit modular ist. Im einzelnen hat er neun Kriterien genannt, die ausmachen sollen, daß ein Zustand modular in seinem Sinne ist.248 Für unseren gegenwärtigen Kontext ist jedoch nur dasjenige Kriterium von Belang, das Fodor selbst als das wichtigste ansieht: „informationale Abkapselung".249 Machen wir uns kurz an Fodors eigenem Beispiel klar, was das heißen kann: Denken wir zunächst an einen unbedingten Reflex, wie etwa den Lidreflex des Auges, der auftritt, wenn sich etwas nur schnell und nah genug dem Auge nähert. Dieser Reflex dient offenbar dem Schutz des Auges. Er wird allerdings auch dann ausgelöst, wenn man beste Gründe hat, daß kein Schaden zu erwarten ist. Unsere Meinungen über Gegenstände, die sich unseren Augen in der entsprechenden Weise nähern,
244 245 246 247 248 249
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Fodor 1983 S.70f. Fodor 1983. Haugeland 1985 S.162. Fodor 183 S.40, u. S.43. Fodor 1983 Part ΙΠ. Fodor 1983 S. 71 sowie zu Abkapselung generell, S.64-86.
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haben nicht den geringsten Einfluß auf diesen Reflex, sie können ihn weder verhindern, noch ist er ein Resultat der Ausbildung solcher Meinungen. Insofern können wir sagen, daß die Mechanismen, die die Auslösung dieses Reflexes steuern, von unserem Wissen isoliert und damit abgekapselt sind. Relativ ähnlich mag es sich nun mit unserer Wahrnehmung der Müller-Lyer-Strecken verhalten, auch sie ist zumindest insofern informational abgekapselt, als sie durch unser Wissen über die wirklichen Verhältnisse nicht mehr beeinflußt werden kann. Was den Reflex angeht, so liegt natürlich auf der Hand, daß es sich dabei um nichts Mentales, geschweige denn etwas Kognitives handeln kann. Wahrnehmung ist aber sicherlich ein mentaler Zustand, und wenn man der Meinungstheorie folgen will, auch ein kognitiver Zustand. Das will Fodor auch gar nicht leugnen. Das Phänomen der Abkapselung läßt sich nur besonders drastisch an Beispielen aufzeigen, die nichts Mentales an sich haben. Etwas schwieriger ist schon die Frage einzuschätzen, ob ein Ansatz wie der von Armstrong wirklich von der Modularitätsthese profitieren kann: Wenn man Wahrnehmungen als Meinung versteht und einfach hinzufügt, daß es sich um informational abgekapselte Meinungen handelt, verliert der Verweis auf Beispiele wie die Müller-Lyer-Illusion an Kraft. Die Frage ist nur, ob man von Meinungen sinnvoll sagen kann, daß sie modular sind. Fodor selbst siedelt Meinungen zusammen mit Absichten im sogenannten „zentralen System des Geistes" an, einer Einheit, die von den durch die Wahrnehmung gelieferten Informationen profitiert und für die gerade typisch ist, daß dort verfügbare Information frei zirkuliert. Für unsere Meinungen und Wünsche gilt gerade, daß sie beständig im Licht anderer Meinungen und Informationen modifiziert, revidiert oder gar aufgegeben werden können.250 Ferner finden wir bei ihm häufig Äußerungen der folgenden Art: [...] Modularity advocates a principled distinction between perception and cognition in contrast to the usual Cognitivist claims for their continuity. (Fodor 1990 S.201) 251
Man kann so leicht den Eindruck gewinnen, daß Modularität einen scharfen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Meinung markiert, der es eben gerade nicht erlaubt, Wahrnehmungen als Meinungen zu verstehen. Doch das wäre zu einfach: Fodor betont einerseits explizit, daß er Wahrnehmung als Meinungen (fixation of belief) versteht, vor allem, um der oben
250 251
Vgl. Fodor 1983 Part IV insbes. S.104ff. Vgl. auch Fodor 1983 S.42.
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
angeführten Möglichkeit von Top-down-Processing (man denke an das Beispiel mit dem Dalmatiner) gerecht werden zu können.252 Wahrnehmung selbst ist damit nicht als modular anzusehen. Was modular ist, ist vielmehr nur ein Teil des Wahrnehmungsprozesses, nämlich die „perzeptuelle Analyse" ,253 Diese Analyse legt zwar nicht unsere Meinungen fest, sie ist Fodor zufolge aber als ein inferentieller Prozeß anzusehen, in dessen Verlauf es zu einer, wenn auch bescheidenen („shallow"); Kategorisierung des Wahrgenommenen kommt.254 Insofern kann er Vorstellungen aufgreifen, wonach das Zustandekommen von Illusionen wie der von Müller-Lyer auf bestimmten inferentiellen Prozessen beruht. Fodor plädiert in diesem Zusammenhang explizit für folgende Unterscheidung: „[...] the distinction between the inferential complexity of perception and its cognitive penetrability. "255 Damit macht Fodor im Grunde nur auf folgenden Tatbestand aufmerksam: Die Tatsache, daß Wahrnehmungen z.T. auf Schlußfolgerungen beruhen, bedeutet nicht zwingend, daß sie zu allen Prämissen im System Zugang haben. Deshalb können wir akzeptieren, daß es bei der Müller-Lyer-Illusion, wie oben angedeutet, zu bestimmten Schlußfolgerungen kommt, diese aber, anders als gewöhnliche Schlußfolgerungen, „kognitiv undurchdringlich" oder „abgekapselt" sind. Wenn wir einmal davon ausgehen, daß nur Zustände in inferentielle Prozesse eingehen können, die eine entsprechende Struktur aufweisen (Konstitution durch Begriffe), sollten wir uns von Phänomenen wie der Müller-Lyer-Hlusion nicht mehr abhalten lassen, Wahrnehmungen als meinungsartige Zustände zu verstehen. Sie sind damit im Prinzip nicht anders strukturiert als jene Zustände, die für unser klassifikatorisches Verhalten verantwortlich sind, sie sind lediglich von ihnen abgekapselt. Damit scheint ein plausibleres Verständnis greifbar von Armstrongs Idee, wonach es auch meinungsartige Zustände geben kann, die
252 253 254
255
Vgl. Fodor 1983 S.40, S.73. Vgl. Fodor 1983 S.40. Vgl. Fodor 1983 S.74 sowie S.86ff. Fodor bekennt sich in diesem Zusammenhang mehrfach zur computationalen Theorie der visuellen Wahrnehmung von David Marr (vgl. Fodor 1983 S.74, u. S.94), die visuelle Wahrnehmung als einen Prozeß verschiedener Kategorisierungen und Berechnungen analysiert: Am Anfang des Sehens steht demnach eine Auswertung von Lichtverteilungsmustern auf der Retina, aus der erst einmal Flächen und ihre Begrenzungen ermittelt werden können sowie Kanten und Ecken, was schließlich zur sogenannten „Primärskizze" führt. Die Verrechnung der beiden Retinabilder miteinander, die Aufschlug über gewisse räumliche Ausrichtungen liefert, führt zur sogenannten „2 Ά D-Skizze", dem nach weiteren Prozessen das „3-D-Modell" folgt, das dreidimensionale Objekte im Raum repräsentiert. Für unseren Zusammenhang wichtig ist dabei nur, daß hier verschiedene Lichtverteilungsmuster letztlich als Kanten usw. gedeutet werden können (Vgl. Marr 1982. Eine übersichtliche und wenig technische Darstellung findet sich bei Johnson-Laird 1988 Part Π). Vgl. Fodor 1990 S.199.
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nicht verhaltenswirksam werden, so daß das Illusionsproblem aus dem Weg geräumt werden kann.256 Auf der anderen Seite steht und fallt dieser Zug natürlich mit der Annahme, daß man unseren kognitiven Apparat wirklich in bestimmte Abteilungen oder Fakultäten unterteilen kann, so daß es buchstäblich Sinn macht, davon zu reden, daß die eine Abteilung von der anderen in gewissen Hinsichten isoliert sein kann. Anders würde die Rede von „Abkapselung" oder „Undurchdringlichkeit" nicht wirklich erklären, warum es zu solchen Phänomenen wie der Müller-Lyer-Illusion kommt, sondern bestenfalls eine terminologisch aufgeladene Neubeschreibung der Tatsache darstellen, daß diese Illusionen wider bessere Einsicht bestehen bleiben. Ob diese Annahme wirklich berechtigt ist oder nicht, kann hier nicht erörtert werden. Festhalten sollte man allerdings, daß einige Autoren, die an einer Deutung von Wahrnehmungen als Meinungen interessiert sind, wie etwa Dennett, solch einer „Fakultätenpsychologie" negativ gegenüber stehen, und deshalb auch nicht auf die Modularität bestimmter Wahrnehmungsprozesse zurückgreifen können.257 Dennoch müssen wir festhalten, daß wir bislang keinen wirklich durchschlagenden Grund kennengelernt haben, warum jemand, dem etwas in einer bestimmten Weise erscheint, damit nicht auch etwas Bestimmtes glaubt. (/ ; ) hat damit alle Attacken unbeschadet überstanden. Wir wollen deshalb noch
256
257
Die These, daß man die Meinungstheorie hier einfach dadurch retten kann, daß man auf die analoge Struktur der kategorisierenden und inferentiellen Prozesse in den Wahrnehmungsmodulen zu unseren gewöhnlichen Meinungen hinweist, sollte allerdings in einer wichtigen Hinsicht etwas modifiziert werden. Zwar erlegen wir mit dieser Modifikation der Meinungstheorie etwas auf, was in ihrer Formulierung bei Armstrong nicht vorgesehen ist, aber es scheint sich dabei dennoch um eine sinnvolle Beschränkung zu handeln. Wir sollten nur diejenigen Zustände als Kandidaten für Meinungen gelten lassen, zu deren Gehalt die fragliche Person Zugang hat. Insofern könnten die kategorisierenden Prozesse, die z.B. für das Zustandekommen von Marrs sogenannter Primärskizze relevant sind, nicht als Meinungen gelten, weil sie uns in keiner Weise entsprechend zugänglich sind. Wir nehmen niemals wahr, was sich auf den ersten Stufen der visuellen Informationsverarbeitung abspielt. Unsere Wahrnehmung von der MüllerLyer-Pfeile kann dagegen sehr wohl als ein solcher Kandidat gelten, weil wir die Pfeile tatsächlich als verschieden lang sehen. Zu Dennetts Ablehnung der Modularitätsthese vgl. Dennett 1991 S.260f., wo sie als „Bürokratentraum" abgekanzelt wird. Dennett selbst hat im Zusammenhang seiner Meinungsanalyse der Wahrnehmung von „urteilsartigen Episoden" (judgment like episodes) gesprochen, bei denen es sich um „[...] contentful states [handelt] whose contents the subject does not necessarily endorse (as one does endorse the contents of one's judgings) [...] my theory demands that there be judgment-like episodes that compete for something like eventual endorsement." (vgl. Dennett 1993b) S.922). Wenn diese Klarstellung im Zusammenhang mit dem Illusionsproblem hilfreich sein soll, dann mößten wir es bei der Müller-Lyer-Illusion mit einer Art Konkurrenzkampf zwischen Meinungen zu tun haben. Dem steht natürlich wieder entgegen, daß sich bei uns durch Messung de facto die Meinung durchgesetzt hat, daß die Strecken gleich lang sind und es gleichwohl so scheint, daß sie verschieden lang sind.
156
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
einen Blick auf ein Argument von Dretske werfen, wonach jemand zumindest in einem bestimmten Sinn etwas wahrnehmen kann (ihm etwas erscheinen kann), ohne daß er dabei auch nur irgend etwas glauben müßte.
4.3.1.3
Wahrnehmungen ohne Meinungen (Dretskes nichtepistemisches Sehen)
In seinem Buch Seeing and Knowing258 hat Fred Dretske den Versuch unternommen, ein Element der Wahrnehmung herauszuarbeiten, das von der Meinungsanalyse nicht adäquat berücksichtigt werden kann. Er beschränkt sich in seiner Analyse auf die visuelle Wahrnehmung und spricht entsprechend von „nichtepistemischem Sehen" (im Folgenden: Sehen,).259 Die Art seiner Analyse ist freilich so gehalten, daß sie eine problemlose Übertragimg auf andere Sinne erlaubt, so daß diese Einschränkung hier bedeutungslos ist. Sehen, ist als eine Fähigkeit von Menschen wie vielen Tieren anzusehen, es soll sich dabei um ein „primitive visual achievement" handeln.260 Sehen,, kann von der Meinungstheorie der Wahrnehmimg schlicht deshalb nicht berücksichtigt werden, weil jemand etwas sehen,, können soll, ohne daß er dadurch auch nur irgendeine Meinung erwirbt. Wenn es diese Form von Sehen gibt, dann ist natürlich (/,) für diese Form von Sehen falsch. Diese Form des Sehens ist zu kontrastieren mit dem epistemischen Sehen, welches ein Erkennen von etwas als etwas (Sehen-a/s) darstellt und damit auch bestimmte Begriffe und Meinungen involviert sowie nach Dretskes Auffassung Sehen, voraussetzt. Wenn wir den Gehalt einer epistemischen Wahrnehmung angeben wollen, dann bedienen wir uns dabei eines daß-Satzes, z.B. „W sieht, daß der Kühlschrank leer ist." Der Gehalt des epistemischen Sehens ist in diesem Sinn propositional. Und Wkann natürlich nur dann sehen, daß der Kühlschrank leer ist, wenn er über die entsprechenden Begriffe („Kühlschrank", „leer") verfügt. Anders beim Sehen,: Hier gibt man den Gehalt schlicht mit dem Gegenstand an, der gesehen, wird: In diesem Sinne soll man zwar den Kühlschrank sehen, können, nicht aber, daß der Kühlschrank leer ist.261 Wenn Dretske hier zwischen epistemischer und nichtepistemischer Wahrnehmung unterscheidet, verwirft er also nicht einfach die Vorstellung, wonach Wahrnehmung in irgendeinem Sinne Begriffe und Meinungen implizieren mag, sondern hält sie nur in einem 258 259 260 261
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Dretske Dretske Dretske Dretske
1969. 1969 Kap.2. 1969 S.4, S.17. 1969 S.6.
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wesentlichen Punkt für unvollständig.262 Anders als die bisherige Argumentation hebt Dretskes Argument auch an keiner Stelle auf die Schwierigkeiten ab, die sich daraus ergeben, daß wir Meinungen haben können, die nicht mit unseren Wahrnehmungen, wenn wir sie als Meinungen auffassen, kompatibel sind. Es soll vielmehr ganz grundsätzlich gezeigt werden, daß Wahrnehmung,, und Meinung logisch voneinander unabhängig sind. Der Akzent ist dabei auf logisch zu setzen, Dretske betont explizit die Möglichkeit, daß unsere Wahrnehmungen psychologisch immer an bestimmte Meinungen gekoppelt sein mögen, von ihnen beeinflußt werden könnten usw.263 Was für eine Fähigkeit hat Dretske mit Sehen,, konkret im Auge?264 Es handelt sich um eine Fähigkeit, die durch Brillen, Lupen, Augen- und Gehirnoperationen entscheidend verbessert oder verschlechtert werden kann. Ganz in diesem Sinne scheint es einen im Alltagsgebrauch verankerten Sinn von „sehen" zu geben, in dem ein Kleinkind ein wissenschaftliches Labor besser sehen kann, als der darin tätige kurzsichtige Wissenschaftler, wenn er seine Brille verlegt hat. Ob man in diesem Sinne besser oder schlechter sehen kann, unterliegt nicht dem Einfluß unserer identifikatorischen Fähigkeiten, so daß bestehende Mängel nicht durch den Erwerb von Wissen irgendwelcher Art ausgeglichen werden können. Was hier durch Brillen usw. verbessert wird, ist letztlich die Fähigkeit, etwas in der erforderlichen Art Weise visuell differenzieren zu können. Damit ist bei Dretske v.a. gemeint, daß sich der fragliche Gegenstand für den Betrachter von seiner Umgebung abhebt. Insofern sind wir also nicht in der Lage, ein durch perfekte Mimikry getarntes Chamäleon zu sehen,, welches sich in unserem Gesichtsfeld befindet.265 Köpfe in einer unüberschaubaren Menschenmenge, die wir nie wiedererkennen würden, können wir hingegen sehen,,, wenn sie sich nur von ihrer Umgebung abheben. Was die These betrifft, daß Sehen,, keine Meinungen impliziert, so sieht Dretske sein Ziel erreicht, wenn es gelingt zu zeigen, daß Feststellungen der Art „W sieht, F' keinerlei Meinung auf Seiten von W implizieren.266 Damit wäre natürlich (/,) widerlegt. Im einzelnen versucht er dies dadurch zu zeigen,
262
263 264 265 266
Für unsere gegenwärtigen Zwecke können wir den genaueren Zusammenhang zwischen Sehen, und epistemischem Sehen ignorieren und uns allein auf die Analyse des Sehens,, konzentrieren. Zur genaueren Bestimmung des epistemischen Sehens vgl. Dretske 1969 Kap.3, zum Zusammenhang zwischen epistemischem und nichtepistemischem Sehen speziell S.78-93. Vgl. Dretske 1969 S.8, u. S.10, S.13. Zum Folgenden vgl. Dretske 1969 S.20ff. Für die Diskussion der Fragen, inwieweit wir undifferenzierte Teile von Gegenständen sowie Gegenstände, die unser Gesichtsfeld sprengen, sehen können, vgl. Dretske 1969 S.25ff. Vgl. Dretske 1969 S.5f.
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
daß Ws Wahrnehmung,, mit beliebigen Meinungen von W verträglich ist.267 Dies soll durch folgende Schritte plausibilisiert werden: Erstens, man kann ein F sehen, ohne zu glauben, es handle sich um ein F.268 Es gibt zahllose Gegenstände wie etwa spezielle Werkzeuge oder technische Gerätschaften, die man als Laie sehen kann, ohne eine Ahnung davon zu haben, womit man es jeweils zu tun hat. Man kann ζ. B. einen Computer sehen, ohne zu meinen, es handle sich um einen Computer. Auch wenn wir einen Computer bei entsprechendem Kenntnisstand ohne Umschweife als Computer sehen werden, so scheint dies keine notwendige Voraussetzung dafür zu sein, daß wir ihn überhaupt sehen können.269 Der nächste Schritt besteht nun in der These, daß wir in solchen Fällen auch nichts Allgemeineres oder Unspezifischeres meinen müssen: weder müssen wir angesichts eines Computers meinen, einen grauen Kasten, eine Tastatur und einen Bildschirm vor uns zu haben, noch müssen wir glauben, es mit einem materiellen Gegenstand zu tun zu haben. Denn wir könnten gegebenenfalls auch irrtümlich der Meinung sein, einer Halluzination zu erliegen. Wir würden dann de facto einen materiellen Gegenstand sehen, obwohl wir der Auffassimg wären, es mit einer Halluzination zu tun zu haben. Dretske kann in diesem Zusammenhang auf psychologische Experimente verweisen, in denen die Versuchspersonen bestimmte reale Projektionen auf eine Leinwand fälschlicherweise für eine Ausgeburt ihrer Imaginationsfähigkeiten halten. Unsere Fähigkeit etwas wahrzunehmen scheint mit allen möglichen (wahren, falschen, sogar unsinnigen) Meinungen darüber kompatibel zu sein, um was für Objekte es sich dabei eigentlich handelt, ob um materielle Gegenstände, Sinnesdaten, Konstruktionen des Gehirns usw. So können wir also etwas wahrnehmen, obwohl wir beliebige falsche Meinungen darüber hegen mögen, worum es sich letztlich handelt. Da wir aber natürlich auch beliebige wahre Meinungen darüber haben mögen, ist unsere Fähigkeit mit beliebigen Überzeugungen darüber, was wir wahrnehmen, verträglich und damit von diesen logisch unabhängig.270 Muß man aber nicht wenigstens glauben, es entweder mit einem realen Gegenstand oder einer Halluzination respektive einer Einbil-
267 Vgl. Dretske 1969 S.8f. Dabei ist gleichgültig, ob diese Meinungen wahr oder falsch sind. 268 Vgl. Dretske 1969 S.7. Hierher gehört auch die Beobachtung, daß die Wahrnehmungen von Wesen mit unterschiedlichster begrifflicher Ausstattung Gemeinsamkeiten im Gehalt aufweisen können. Ein Wissenschaftler und ein Kleinkind können demnach beide eine Kathodenstrahlröhre sehen, oder eine Maus kann dann genauso wie ein Musiklehrer das Klavierspiel hören (Vgl. Dretske 1969 S.710 u. 1995 S.9 sowie Crane 1992 S.137). Selbstverständlich heißt dies nicht, daß die Maus hören kann, daß ein Klavier gespielt wird; dazu bräuchte sie einen Begriff von einem Klavier, der ihr vermutlich fehlt. 270 Vgl. Dretske 1969 S.8f. 269
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dung zu tun zu haben? Auf Überlegungen dieser Art hat Dretske später mit der Replik reagiert, daß wir es dann mit einer völlig nichtssagenden Meinung zu tun hätten, die für jede Wahrnehmung gleichermaßen zu unterstellen wäre, von der also nicht zu sehen ist, wie sie den jeweiligen Inhalt unserer Wahrnehmungen charakterisieren soll.271 Doch selbst, wenn wir Dretske soweit folgen wollen, mögen hier noch Zweifel zurückbleiben. So wird sich der Meinungstheoretiker darauf stützen wollen, daß unsere Vorstellung davon, daß jemand etwas wahrnimmt, aufs engste mit der Idee verknüpft ist, daß wir dabei etwas bemerken oder entdecken, und dies beinhaltet offenbar, daß wir bemerken, daß es da ist und auch was es ist. Denken wir an die berühmte Sequenz aus Michelangelo Antonionis Film „Blow up", in der ein voyeuristisch veranlagter Photograph ein Liebespaar im Park fotografiert und zu Hause beim Entwickeln der Bilder voller Überraschung eine Leiche unter dem Gebüsch im Hintergrund entdeckt. Natürlich hat die Leiche im Gebüsch schon damals Licht reflektiert, welches eine charakteristische Spur auf seiner Retina hinterlassen hat, aber sollen wir hier sagen, er habe sie bereits damals gesehen'? Vergleichbares möchte man vielleicht angesichts von Suchbilderpaaren sagen, wie man sie etwa auf den Rätselseiten vieler Zeitschriften fmdet, wo es darum geht, die gut versteckten Unterschiede zwischen ansonsten gleichartigen Bildern zu entdecken. Soll man hier wirklich sagen, man habe die ganze Zeit die geschickt versteckte Schwalbe auf dem Ast rechts oben gesehen, lange bevor man sie entdeckt hat? Um Dretskes Vorstellung von nichtepistemischer Wahrnehmung weiter zu plausibilisieren, können einige Beispiele nicht schaden.
4.3.1.3.1
Einige Beispiele für nichtepistemische Wahrnehmung
Erstens: Manche identifikatorischen Wahrnehmungsleistungen setzen offenbar nichtepistemische Wahrnehmung voraus: Damit man eine Melodie hören kann, muß man natürlich auch die Töne hören können, aus denen sie besteht. Enthält die Melodie ein eingestrichenes F, hört man also auch dieses eingestrichene F. Interessant ist nun die Beobachtung, daß jemand, der eine Melodie wiedererkennen kann und insofern einen Begriff von ihr hat, keineswegs in der Lage sein muß, die Töne wiederzuerkennen, aus denen sie besteht. Kaum einer von uns kann ein eingestrichenes F als eingestrichenes F hören; dies kann nur, wer über ein absolutes Gehör verfügt, eine Fähigkeit, die sich übri271
Vgl. Dretske 1993 S.268f.
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
gens nicht erlernen läßt. Vergleichbares gilt natürlich für die Intervalle (Quart, Quint usw.), aus denen eine Melodie besteht. Wer eine Melodie wiederzuerkennen vermag, muß damit noch nicht zwangsläufig ihre einzelnen Intervalle erkennen können.272 Diese Tatsachen scheinen zu zeigen, daß klassifizierendes Hören-a/s hier nichtklassifizierendes Hören von Tönen und Intervallen voraussetzt.273 Zweitens: Es gibt Situationen, in denen man Begriffe, über die man eigentlich verfügt, in einer konkreten Wahrnehmungssituation nicht zum Einsatz bringen kann. Und, für uns besonders wichtig, es scheint in diesen Situationen sinnvoll zu sagen, man habe die betreffende Sache wahrgenommen: Ausgerechnet Dennett, der die Meinungstheorie verteidigen will, führt ein Beispiel dieser Art ins Feld: Wenn man (etwa im Rahmen eines Spiels) gezielt nach einem kleinen versteckten Gegenstand wie einem Fingerhut sucht, dann mag es sein, daß sich der Fingerhut schon die ganze Zeit im Bereich der gesehenen Gegenstände befindet, es mag sein, daß man eine ganze Weile förmlich auf ihn starrt, ohne ihn damit schon entdecken zu können.274 Voraussetzung ist hier natürlich, daß man im Prinzip in der Lage ist, Fingerhüte zu erkennen und insofern einen Begriff von ihnen hat. Durch gesteigerte Aufmerksamkeit und eine gewisse Erwartungshaltung ist man sogar schon auf den Einsatz dieser klassifikatorischen Fähigkeit ausgerichtet. Man ist im besten Sinne dazu disponiert, seine klassifikatorische Fähigkeit zum Einsatz zu bringen. Wenn der Fingerhut mitten auf dem Sofakissen piaziert ist, und man das Sofakissen als Ganzes betrachtet, scheint es offenbar sinnvoll zu sagen, daß man mit dem Sofakissen auch den Fingerhut gesehen,, hat. Besonders eindrückliche Beispiele liefert hier wieder das Musikhören: Hier kann es einem leicht passieren, daß man eine vertraute musikalische Struktur trotz entsprechend gerichteter Aufmerksamkeit nicht aus dem musikalischen Gesamtzusammenhang lösen kann. So mag man die Melodie der Marseillaise oder auch nur einige ihrer charakteristischen Phrasen mit Leichtigkeit erkennen können und es trotzdem extrem schwierig finden, solch einen Ausschnitt in Debussys „Feux d'artifice" zu erkennen, auch wenn man weiß, daß dort eine entsprechende Phrase versteckt ist. In jedem Fall wird man hier aber sagen wollen, daß man das ganze Musikstück inklusive der Phrase gehört hat. Hätte der Pianist die fragliche Phrase weggelassen, hätte sich das Stück ganz anders angehört. Vor diesem Hintergrund mögen auch die oben erwähnten 272 273 274
Intervallerkennung ist allerdings erlernbar. Vgl. DeBellis 1995 S.61-68, insbes. S.65f. Vgl. Dennett 1991 S.334ff.
Kritik an zwei Implikationen
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Beispiele von der gut versteckten Schwalbe auf unserem Suchbild oder der Leiche unterm Busch in einem anderen Licht erscheinen. Wir tendieren hier dazu, die Wahrnehmung mit der Entdeckung der Schwalbe oder der Leiche gleichzusetzen, weil dies in dieser Situation den Zweck unserer Wahrnehmungsaktivitäten ausmacht. Das heißt aber nicht, daß wir diese Dinge nicht schon vorher gesehen haben oder sogar gesehen haben müssen. Nach Dennett können wir beim Fingerhut erst dann von seiner Wahrnehmung sprechen (im Gegensatz zu einer bloßen Reizimg der Retina oder dgl.), wenn gilt: „What must happen is [...] to separate it as a 'figure' from 'ground' and identify it. "27S Wobei im Folgenden klar wird, daß „Identifikation" letztlich die Fähigkeit zu bestimmten identifikatorischen Verhaltensweisen darstellen soll. Doch hier muß man fragen, ob nicht von zwei völlig unterschiedlichen Dingen die Rede ist: etwas als „Figur aus seinem Hintergrund" herauslösen zu können und es identifizieren zu können. Warum soll die Fähigkeit, etwas von seinem Hintergrund abheben zu können, darauf hinauslaufen, es als Gegenstand von einer bestimmten Art, z.B. als Fingerhut, zu erkennen? Wenn jemand fragt: „Was ist das dort drüben?" muß er nicht die geringste Fähigkeit haben, es als Gegenstand einer bestimmten Art erkennen zu können, aber natürlich muß er es von seinem Hintergrund abheben können. Drittens: Wir nehmen in der Regel wesentlich mehr wahr, als wir begrifflich erfassen bzw. durch unser klassifizierendes Verhalten jemals zum Ausdruck bringen können: Wir können einen kompliziert gemusterten Orientteppich oder ein so detailreiches Gemälde wie Albrecht Altdorfers „Alexanderschlacht" sehen, ohne die Vielfalt der Arabesken bzw. die einzelnen Figuren angemessen klassifizieren zu können. Würde man etwa eine Kopie dieser Gegenstände nach einer Beschreibung, wie sie uns erscheinen, anfertigen, dann wäre sofort augenfällig, wie wenig wir von dem, was wir wahrnehmen, in solch eine Beschreibung fassen können.276 Für sprachliche Beschreibungen mag dies fast schon trivial erscheinen, aber es gilt natürlich ganz generell für unsere Fähigkeiten, das Wahrgenommene als gleichartig zu klassifizieren: Ein komplexes musikalisches Werk oder die Geräuschkulisse eines Waldes mit zahlreichen Vogelstimmen verschaffen uns akustische Eindrücke, deren Inhalt die klassifikatorischen Fähigkeiten der meisten von uns bei weitem sprengen dürfte, denn wer könnte von den einzelnen Tönen, Geräuschen oder gar Sequenzen mit Sicherheit sagen, daß er sie korrekt klassifizieren kann? Es gibt Evidenzen dafür, daß unsere Klassifikationsfähigkeit in diesem Zusammen275 276
Vgl. Dennett 1991 S.335. Für ähnliche Beispiele vgl. Dretske 1981 S.149.
162
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
hang feste Obergrenzen aufweist. So können wir kaum mehr als sieben akustische Stimuli nach Lautstärke oder Tonhöhe fehlerfrei klassifizieren, obwohl wir natürlich weitaus mehr unterschiedliche Stimuli zu hören vermögen.277 Ferner können wir bei weitem mehr Farben sehen, als wir zu klassifizieren in der Lage sind: Die Blätter eines Baumes erscheinen uns z.B. alle in leicht unterschiedlichen Grüntönen, jedoch vor die Aufgabe gestellt, diese Blätter nach all diesen Farbtönen einheitlich zu klassifizieren, stoßen wir schnell an unsere Grenzen, schon wenige Momente später können wir nicht mehr feststellen, welche Farbtöne wir genau gesehen haben, wenn wir etwa eine Zuordnung zu einem Muster vornehmen sollen. Zwar sehen wir sofort, ob der Farbton von zwei nebeneinander liegenden Socken übereinstimmt oder nicht, aber daß heißt nicht, daß wir in der Lage wären, Gegenstände situationsunabhängig nach diesen Farbtönen zu klassifizieren. Was die Obergrenze der Farbunterschiede betrifft, die ein Mensch unmittelbar bemerken kann, so wird hier mit Zahlen im Millionenbereich operiert.278 Exakt klassifizieren können die wenigsten von uns in Alltagssituationen jedoch kaum mehr als ein Dutzend.279 Insofern können wir also einen bestimmten Farbton sehen, ohne ihn als diesen bestimmten Farbton sehen bzw. klassifizieren zu können. Wichtig ist hier vor allem, daß die Umwelt nicht nur mehr Farben, Töne usw. aufweist, als wir klassifizieren können, bzw. diese Stimuli lediglich irgendwelche Spuren in unserem Wahrnehmungsapparat hinterlassen, die kein Anrecht darauf haben, als mentale Zustände zu gelten, sondern daß wir diese Farben und Töne wirklich wahrnehmen. Dies läßt sich u.a. an zwei Faktoren ablesen: Einmal an der gerade erwähnten Tatsache, daß wir die fraglichen feinen Unterschiede bemerken, zum anderen daran, daß uns hier unmittelbar klar ist, daß uns die Aufgabe überfordert, alles zu klassifizieren, was wir wahrnehmen. Dies wird viertens offenbar auch durch den Nachweis des ikonischen Gedächtnisses von Sperling bestätigt.280 Eine Versuchsperson bekommt für einen sehr kurzen Zeitraum (50 Millisekunden) eine Anordnung von neun oder mehr
277
278
279 280
Vgl. G.A. Miller 1956. Vergleichbares läßt sich auch für Geschmacksempfindungen feststellen. Roth spricht von über einer Million (vgl. Roth 51996 S.115), Tye hingegen sogar von 10 Millionen (vgl. Tye 1995 S.139). Vgl. auch Raffinan 1995. Diese erheblichen Schwankungen ergeben sich daraus, daß manchmal lediglich von Farbunterschieden im Sinne von Rot, Blau, Violett usw. die Rede ist, manchmal jedoch auch zusätzlich noch von Unterschieden im Farbton wie Hellblau, Dunkelblau, Königsblau usw., was natürlich die Anzahl der möglichen Unterschiede um ein Vielfaches ansteigen läßt. Vgl. Raffinan 1995 S.349. Vgl. Dretske 1981 S.149f., eine genauere Darstellung findet sich bei Neisser 1974 S.31 ff.
Kritik an zwei Implikationen
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Buchstaben in verschiedenen Zeilen gezeigt. Dabei überdauert der Eindruck, ihr würden Buchstaben präsentiert, den Zeitraum der realen Präsentation der Buchstaben etwa um das Dreifache: Die Versuchsperson hat bis zu 150 Millisekunden lang den Eindruck, die Buchstaben wären noch in leserlicher Form vorhanden. Dieses Phänomen ist als „ikonisches Gedächtnis" bezeichnet worden, weil hier ganz offenbar visuelle Information über den Zeitraum der unmittelbaren Präsentation hinaus „bildhaft" (d.h. u.a.: unter Wahrung der räumlichen Beziehungen der Buchstaben) gespeichert wird.281 Generell können die Versuchspersonen trotz ihrer Aussage, alle Buchstaben seien präsent und leserlich, nur einen Bruchteil (etwa drei) korrekt identifizieren. Sperlings interessante Entdeckung bestand nun darin, daß sich mittels eines erst nach der Präsentation eingesetzten akustischen Signals (für jede Reihe ein anderer Ton) erreichen läßt, daß die Versuchsperson bezüglich eines bestimmten Teils der Buchstaben, genauer einer Reihe, alle Buchstaben korrekt zu identifizieren vermag. Durch diese Art von Marker kann die Aufmerksamkeit der Versuchsperson also offenbar auf Teile des „Ikons" gerichtet werden. Dabei schneiden die Versuchspersonen beim Identifizieren der einzelnen Buchstaben desto schlechter ab, je später das Signal eingesetzt wird. Inwiefern ist hier aber wirklich Wahrnehmung oder etwas Wahrnehmungsartiges im Spiel, welches mehr beinhaltet als einen Zustand der Versuchsperson, der sie zu bestimmten klassifikatorischen Fähigkeiten in Stand setzt, die hier nur z.T. blockiert sein mögen? Auch wenn sich die Buchstaben nicht mehr unter allen Umständen als Buchstaben einer bestimmten Art erkennen lassen {als R, als Ζ usw.) werden sie ja immer noch als Buchstaben gesehen. Hören wir dazu die Deutung des Kognitionspsychologen Neisser: Es scheint also sicher, daß ein visueller Input für kurze Zeit gespeichert werden kann in einem Medium, das einem sehr schnellen Verfall unterworfen ist. Bevor es verfallen ist, kann die Information aus diesem Medium gelesen werden, genauso, als ob der Reiz noch vorhanden wäre. Ebenso sicher können wir sein, daß diese Speicherung in gewissem Sinne ein 'visuelles Vorstellungsbild' ist. Sperlings Versuchspersonen sagten, daß die Buchstaben sichtbar vorhanden und lesbar waren, als der Signalton erklang, auch wenn der Reiz in Wirklichkeit schon 150 Millisekunden lang nicht mehr da war. Das bedeutet, daß die für den Experimentator auf 'Gedächtnis' basierende Leistung im Erleben der Betrachter reine Wahrnehmung war. (Neisser 1974 S.35)
281
Es handelt sich dabei um ein Phänomen, welches ganz typisch ist für Experimente, in denen Versuchspersonen extrem kurzen Reizen ausgesetzt werden. Als verwandtes Phänomen kann auch der Lichtstreifen angesehen werden, den die glühende Spitze einer Zigarette im Dunkeln hinterläßt. Dazu wie für den Begriff ikonisches Gedächtnis vgl. Neisser a.a.O.
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
Für Neisser ist also offenbar die Tatsache, daß es den Betroffenen so vorkommt, als ob der Stimulus noch da sei, das Hauptindiz, hier von einer wahrnehmungsartigen Speicherung, einem ikonischen Gedächtnis zu sprechen. Ein ikonisches Gedächtnis ist natürlich mehr als eine bloße Speicherung von Information über bestimmte Buchstaben, es ist eine ganz bestimmte Art der Informationsspeicherung, die insbesondere die räumlichen Beziehungen der Buchstaben zueinander festhält. Neben der Tatsache, daß die räumliche Anordnung einen Einfluß darauf zu haben scheint, welche Buchstaben man erkennen kann (nämlich die, die in einer markierten Reihe nebeneinander liegen), ist es v.a. die Einschätzung der Versuchspersonen, die hier zur Grundlage der Beurteilung gemacht wird, um was für eine Art von Phänomen es sich handelt. Neisser beruft sich hier darauf, daß es den Versuchspersonen so vorkam, als ob noch ein sichtbarer Eindruck vorhanden war. Aber was, wenn die Betroffenen sich einfach täuschen? Strenggenommen scheint die Datenlage doch nicht mehr herzugeben, als daß die Versuchspersonen solch eine Einschätzung hegen. Dürfen wir daraus aber schon schließen, daß diese Einschätzung auch richtig ist? Eine Variante dieses Experiments scheint es jedoch immens plausibel zu machen, daß die Versuchspersonen hier durchaus eine richtige Einschätzung vorgenommen haben: In dieser Variante wird statt des akustischen Signals ein optisches Signal benutzt und es geht um die Identifikation einzelner Buchstaben. Dabei wird das optische Signal dorthin projiziert, wo sich vorher die Buchstaben befunden haben.282 Die Versuchsperson muß also in der Lage sein zu realisieren, daß sich das Signal am selben Ort befmdet wie zuvor der gefragte Buchstabe, und sie muß dies relativ präzise tun können, da sich ja unmittelbar daneben die anderen Buchstaben befinden. Die beste Erklärung scheint zu sein, daß es sich hier um eine visuelle Wahrnehmung aller Buchstaben in ihrer spezifischen Anordnung handelt, weil visuelle Wahrnehmungen sich typischerweise dadurch auszeichnen, daß sie Gegenstände an bestimmten Positionen im Raum entsprechend genau repräsentieren.283 Es gibt also eine Reihe von Fällen, die es ziemlich plausibel machen, daß wir Größen wahrnehmen können, ohne sie als diese Größen wahrnehmen zu können, d.h., ohne sie entsprechend klassifizieren zu können. Wie insbesondere die musikalischen Beispiele zu zeigen scheinen, müssen wir manchmal sogar Größen in dieser Weise wahrnehmen, um wiederum andere Dinge als
282 283
Dieses Experiment stammt von Averbach und Coriell, vgl. dazu ebenfalls Neisser 1974 S.33ff. Wie später noch kurz angesprochen werden soll, läßt sich diese Eigentümlichkeit von Wahrnehmungen kaum angemessen im Rahmen von Theorien fassen, die den Gehalt einer Wahrnehmung durch ihren Beitrag zu unserem klassifikatorischen Verhalten fassen wollen.
Kritik an zwei Implikationen
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etwas wahrnehmen zu können. Ferner scheint unsere Wahrnehmung auf eine Art und Weise strukturiert zu sein, wonach wir manchmal Dinge, die wir im Prinzip als etwas wahrnehmen können, unter anderen Umständen nicht mehr so wahrnehmen können, weil sie in der restlichen Information, die dem Betroffenen zur Verfügung steht, gewissermaßen so „versteckt" worden sind, daß er sie nicht mehr als diese Information herauslösen kann. Gleichwohl macht es in diesen Fällen Sinn zu sagen, daß der Gegenstand der Information wahrgenommen worden ist, weil sonst nicht mehr der räumliche (oder bei Musik der zeitliche) Gesamteindruck der Wahrnehmung erklärbar wäre. Wir können nicht eine Konfiguration von Buchstaben sehen, ohne die Bestandteile dieser Konfiguration zu sehen. Wenn Wahrnehmung nichts anderes sein soll als ein (i.S.v. Armstrong) begrifflich strukturierter Zustand, der einen zu einem bestimmten klassifikatorischen Verhalten in Stand setzt, (was in bestimmten Fällen durch modulare Abkapselung behindert werden mag), dann ist extrem schwer zu sehen, wie diese Phänomene zu erklären sind. Insofern scheint die Unterscheidung zwischen epistemischer und nichtepistemischer Wahrnehmimg, zwischen Wahrnehmung-afe und Wahrnehmung,, wohlmotiviert zu sein. Damit haben wir auch starke Indizien dafür erhalten, daß (/,), die These, daß Wahrnehmung in jedem Falle eine Meinung impliziert, falsch sein muß. Kann die Meinungstheorie das Illusionsproblem noch dadurch in den Griff bekommen, daß sie bestimmte psychofunktionale Thesen mobilisiert, die die Abkapselung von „meinungsanalogen" Zuständen verständlich machen, scheinen ihre Ressourcen spätestens dann erschöpft zu sein, wenn man in Rechnimg stellt, daß wir mehr wahrnehmen können, als wir klassifizieren können, und daß der Gehalt unserer Wahrnehmung auf eine Weise organisiert zu sein scheint, die sich nicht mehr dadurch erklären läßt, daß sie uns bestimmte klassifikatorische Fähigkeiten an die Hand gibt. Damit kann uns offenbar etwas in der Wahrnehmung in einer Weise erscheinen, die nicht damit einhergeht, daß wir etwas darüber meinen. Wir haben jetzt vermutlich genug Material zur Zurückweisung dieser Implikation gesammelt, und sollten uns jetzt daher (I2) zuwenden.
4.3.2
Kritik an (I2)
Daß nur in ganz bestimmter Weise qualifizierte Meinungen als Kandidaten für eine plausible Meinungsanalyse in Frage kommen, wurde bereits im Zusammenhang mit den fraglichen Qualifikationen eingehend erläutert. Man kann diese Qualifikationen als notwendige Bedingungen dafür betrachten, daß eine
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
Meinung überhaupt als Wahrnehmung angesehen werden kann. Die Gültigkeit von (I2), der Implikation von einer entsprechend qualifizierten Meinung auf eine Wahrnehmimg, hängt nun aber davon ab, ob sich unter diesen (oder gegebenenfalls anderen, mangels Eignung als notwendige Bedingung bisher nicht genannten) Qualifikationen eine hinreichende Bedingung dafür ausfindig machen läßt, daß jemand etwas wahrnimmt. Welche Qualifizierungen kommen hier in Frage? Klar ist, daß die zweite, die dritte und die fünfte Qualifizierung ungeeignet sind: Weder der Gegenwartsbezug, noch die unmittelbare Verursachung durch das Objekt der Wahrnehmung, noch auch die Rede vom Erwerb einer Meinung stellen hinreichende Kriterien dafür dar, um Wahrnehmungen von Meinungen, die keine Wahrnehmungen sind, unterscheiden zu können. Es bleiben also noch drei mögliche Kandidaten (bzw. eine Kombination aus ihnen) übrig: die fundierende Rolle von Wahrnehmungen im Konzert mit den anderen Meinungen, die Bezugnahme auf die Sinnesorgane sowie die spezifische Reichhaltigkeit des Wahrnehmungsgehalts gegenüber anderen Meinungen.
4.3.2.1
Wahrnehmungen als fundierende Meinungen
Prima facie bildet dieses Kriterium eine gute Basis zur Unterscheidung zwischen dem Fall, in dem ich etwas Rotes wahrnehme, indem ich es sehe, und Fällen, in denen ich die Meinung, es befinde sich an entsprechender Stelle etwas Rotes, auf andere Weise erwerben mag. So mag es sein, daß mir jemand anders erzählt hat, daß sich dort etwas Rotes befindet. Oder ich mag es irgendwo gelesen haben. Im letzten Fall spielt meine visuelle Wahrnehmung zwar eine Rolle, aber man kann natürlich nicht sagen, etwas erscheine mir in solch einer Situation rot. In beiden der zuletzt genannten Fälle spielen eine Reihe von weiteren Meinungen eine entscheidende Rolle dafür, daß ich die fragliche Meinung über etwas Rotes erwerbe, die im Fall, wo mir etwas rot erscheint, nicht gegeben sein müssen: ich muß z.B. meinen Informanten für verläßlich und kompetent halten, Meinungen über den semantischen Gehalt bestimmter Laute und Schriftzeichen haben usw. Im erstgenannten Fall handelt es sich um eine Meinung, die sich nicht auf andere Meinungen von mir stützt. Haben wir damit aber ein hinreichendes Kriterium, um entsprechende Wahrnehmungsmeinungen zu identifizieren? Dagegen spricht erstens, daß wir unmittelbare Meinungen über Gegenwärtiges erwerben können, die wir nicht als Wahrnehmungen ansehen würden. Manche Leute können sich erfolgreich vornehmen, am nächsten Tag ohne
Kritik an zwei Implikationen
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Hilfe eines Weckers um eine bestimmte Uhrzeit aufzuwachen. Insofern sie tatsächlich um diese Zeit aufwachen und auf Nachfrage die fragliche Uhrzeit angeben, kann man ihnen eine entsprechende Meinimg über die Uhrzeit zuschreiben. Dennoch wäre es mehr als fragwürdig, ihnen eine Wahrnehmung der Uhrzeit zu unterstellen. Ähnliches ließe sich über die Fähigkeit vieler Menschen und Tiere sagen, sich automatisch richtig im Raum zu orientieren, so daß sie sich nicht verlaufen. Man spricht hier zwar oft von einem „Ortssinn", aber es wäre nicht korrekt zu sagen, daß man in Ausübung dieser Fähigkeit bestimmte Himmelsrichtungen wahrnimmt oder dgl. Man ist einfach in den entsprechenden Situationen ohne weitere Schlußfolgerungen zu dem entsprechenden klassifikatorischen Verhalten in der Lage. Was aber, wenn wir das Kriterium einfach nur um eine weitere notwendige Bedingung für Wahrnehmung ergänzen, um zu einem befriedigenden Resultat zu gelangen, nämlich die Verursachung durch den Gegenstand der Wahrnehmung? Demnach wäre eine Wahrnehmung eine Meinung über Gegenwärtiges, die auf keiner weiteren Meinimg beruht, und vom Gegenstand der Wahrnehmung verursacht worden ist. Doch auch hier lassen sich Gegenbeispiele finden: Angenommen, es ließe sich mit Hilfe einer Gehirnmanipulation unmittelbar die Meinung hervorrufen, daß das eigene Gehirn gerade manipuliert wird, so würden wir diese Meinung kaum als Wahrnehmung ansehen. Zweitens können wir mit Jackson fragen, ob es überhaupt stimmt, daß bei Wahrnehmungen gar keine weiteren Meinungen im Spiel sind.284 Häufig genug erscheint ein Gegenstand in einer anderen Farbe als der, die er tatsächlich besitzt, etwa weil die Beleuchtungsverhältnisse entsprechend sind (man denke an Schwarzlicht). Jemand der weiß, daß dies so ist, wird einen rot erscheinenden Gegenstand nur für rot halten (also der Meinung sein, er sei rot), wenn er zusätzlich der Auffassung ist, daß keine solche abnormen Bedingungen herrschen. Das zeigt sich unter anderem daran, daß man hier sinnvoll die Frage stellen kann, worauf man seine Meinung stützt, etwas Rotes vor sich zu haben.
4.3.2.2
Wahrnehmungen als Meinungen, die über bestimmte Organe vermittelt werden
Wie sieht es also mit dem zweiten Qualifizierungsvorschlag aus? Liegt die Lösung nicht vielleicht darin, daß z.B. visuelle Wahrnehmungen Meinungen sind, die mittels der Augen erworben worden sind? Andererseits scheint klar, 284
Vgl. a.a.O.
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
daß man mit dem Verweis auf die Augen allein die Tatsache, daß einem etwas rot erscheint usw., nicht als Meinung analysieren kann. Läßt sich doch, wie Pitcher selbst feststellt, mit diesem Verweis nicht einmal die Klasse der visuellen Wahrnehmungen ausgrenzen, weil man die Augen auch (was natürlich wenig empfehlenswert ist) zu taktiler oder zu Temperaturwahrnehmung einsetzen kann.285 Ferner kann man mit Hilfe seiner Augen Information über die Farbe eines Gegenstandes erlangen, ohne daß einem dieser bzw. seine Farbe erscheint, ganz einfach, weil man es gelesen hat.286 Diese Schwierigkeit versucht Pitcher zu lösen, indem er die fraglichen Meinungen als WahrnehmM/igimeinungen (perceptual beliefs) qualifiziert. Für den Fall der visuellen Wahrnehmung läuft die Meinungsanalyse dann auf folgende Behauptung hinaus: χ sieht für W zum Zeitpunkt t r aus In W wird durch standardgemäßen Gebrauch seiner Augen die Wahrnehmungsmeinung, daß χ zu t r aussieht, hervorgerufen.287 Was unterscheidet dann aber Wahrnehmungsmeinungen von anderen Meinungen? Dazu Pitcher: [...] by a perceptional belief that there is an χ at u I mean one that a person has when, [...] it looks (in the phenomenal sense) to him as though there is an χ at u. (Pitcher 1971 S.90)
Dabei soll phänomenales Scheinen denjenigen Sinn von Scheinen bezeichnen, der im Zusammenhang mit Wahrnehmungen gebräuchlich ist.288 Da die Meinungsanalyse ursprünglich die Rede vom Erscheinen im Zusammenhang mit Wahrnehmungen als Meinungen analysieren wollte, führt dieser Ausweg, wie Jackson zu Recht moniert, in einen Zirkel.289 Pitcher spricht diese Schwierigkeit selber an, sieht darin aber kein spezifisches Problem seiner Position, weil es auch für diejenigen Positionen auftreten soll, die er als Hauptkonkurrenten der Meinungsanalyse ansieht, nämlich die sogenannten Sinnesdatentheorien: Demnach müßte 'x sieht für W zum Zeitpunkt t r aus' nämlich analysiert werden als 'W hat ein visuelles Sinnesdatum von χ zu t, welches r aussieht.29°
285
Vgl. Pitcher 1971 S.89. Vgl. Pitcher 1971 S.89f. Vgl. a.a.O. 288 Ygj pi te her 1971 S.86. Häufig wird der Ausdruck „phänomenales Scheinen" auch in einer Weise gebraucht, die nur Sinn macht, wenn man die Meinungsanalyse ablehnt (vgl. z.B. Jackson 1977 S.33 u. Maund 1986 sowie Dretske 1995 S.68, der den Begriff wiederum anders verwendet) 289 Vgl. Jackson 1977 S.44. 290 Vgl. Piteher 1971 S.91, die Argumentation wurde hier etwas vereinfacht. 286
287
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Doch hier kann Jackson für die Sinnesdatenanalyse geltend machen, daß sie im Gegensatz zu Pitchers Formel eine informative und zirkelfreie Analyse des Terms „Aussehen" liefern kann.291 Daß etwas so und so aussieht, heißt demnach, daß der Betrachter ein so und so beschaffenes Sinnesdatum hat. Diese Analyse ist insofern informativ und zirkelfrei, als das Analysandum nicht mehr im Analysans auftaucht. Und selbst wenn alle philosophischen Wahrnehmungstheorien letztlich mit einem Begriff von „Erscheinen" leben müßten, den sie nicht mehr weiter analysieren können, so muß dies nicht für alle Theorien gleichermaßen einen Makel darstellen (etwa, weil es wie bei der sogenannten „Theorie des Erscheinens" zum Inhalt dieser Theorie gehört, daß sich dieser Begriff nicht mehr weiter analysieren läßt).292 Für die Meinungsanalyse der Wahrnehmung stellt dieses Eingeständnis aber in jedem Falle einen Makel dar, weil sie mit dem Anspruch angetreten ist, nur einen einzigen epistemischen Begriff zur Analyse von Wahrnehmungen zu benötigen, eben den der Meinung. Aber damit nicht genug, es besteht bei der Berufung auf die Sinnesorgane nämlich noch ein ganz grundsätzliches Problem: Lassen sich diese überhaupt in einer für die Meinungstheorie brauchbaren Form definieren? Es ist klar, daß Vorschläge der Art, „Die Augen sind dasjenige, womit wir sehen", nicht in Frage kommen, weil sie wiederum in einen Zirkel führen. Deshalb mag eine Berufung auf detailliertere physiologische Faktoren naheliegen: Wir greifen einfach auf eine Beschreibung eines Auges zurück, wie wir sie etwa in einem Anatomiebuch finden können. Doch auch dieser Vorschlag greift zu kurz, da wir visuelle Halluzinationen auch durch direkte Stimulation des Gehirns hervorrufen können. Man könnte dann versucht sein, diese Areale mit in die Definition des visuellen Sinnesorgans aufzunehmen. Das führt jedoch zu folgendem Problem: Die Meinungstheorie soll eine angemessene Analyse von Wahrnehmungen ermöglichen, m. a. W., sie muß in der Lage sein zu rekonstruieren, was man unter Sehen, Hören usw. versteht.293 Jenes Verständnis ist aber völlig unabhängig von irgendwelchen Informationen darüber, welche Teile des Gehirns welche Aufgaben übernehmen. Schließlich konnte die Menschheit schon lange zwischen Hören und Sehen wie auch zwischen Wahrnehmen und Denken unterscheiden, bevor sie von der Existenz des Gehirns 291 292 293
Vgl. Jackson 1977 S. S.45. Für eine aktuelle Version dieser Theorie vgl. Aiston 1999. Und das gilt nicht nur für den analytischen Funktionalismus. Auch ein Psychofunktionalist, für den es ein empirisches Projekt darstellt, die funktional relevanten Komponenten der Wahrnehmung zu ermitteln, muß sich auf eine Analyse dessen stützen können, was „Wahrnehmen", „Sehen", „Hören" usw. sind.
170
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
überhaupt wußte. So gesehen können solche Informationen hier nicht weiter hilfreich sein. Ja, man wird sogar sagen müssen, daß die neurophysiologischen Untersuchungen in gewisser Weise auf diesen herkömmlichen Begriffen von Wahrnehmung aufbauen müssen, anders wäre gar nicht verständlich, was eigentlich den Inhalt solcher Erklärungen ausmacht bzw. welche Fragen sie beantworten. Sobald man nur bereit ist einzuräumen, daß man empirisch entdecken kann, welche Organe letztlich für bestimmte Wahrnehmungen verantwortlich sind, wozu einen die Entdeckungen der Gehirnforschung zu zwingen scheinen, ist es plausibler anzunehmen, daß unsere Wahrnehmungsbegriffe wie „Sehen", „Hören" usw. nicht über die entsprechenden Organe definiert werden können. Denn es scheint ziemlich klar, daß wir unsere herkömmlichen Unterscheidungen zwischen sehen, hören usw. auch nicht im Lichte neuer Informationen über diese Zusammenhänge revidieren würden. Doch wie sieht es mit folgender, eher funktionaler Bestimmung der Sinnesorgane aus? Augen sind demnach dasjenige, was uns sowohl Information über Farbe als auch über Form liefert. Dieser an und für sich richtige Hinweis hilft hier auch nicht weiter, da man eben auch gekoppelte Information über Farben und Formen erwerben kann, ohne daß einem die entsprechenden Farben und Formen damit erscheinen würden, etwa wenn man einen entsprechend arrangierten Computerausdruck konsultiert, der immer gekoppelte Information über Farbe und Form liefert. Solch ein Computerausdruck würde aber ganz klar die vorgeschlagene funktionale Definition für ein Auge erfüllen und zu den entsprechenden Meinungen führen.294
4.3.2.3
Wahrnehmungen als spezifisch reichhaltige Meinungen
Es bleibt also noch die sechste Qualifizierung auf ihre Eignung als hinreichendes Kriterium zu überprüfen, die spezifische Reichhaltigkeit der Wahrnehmung. Damit wird der Sachverhalt angesprochen, daß z.B. visuelle Wahrnehmung immer Information über Farbe und Form, taktile Wahrnehmung immer Information über Resistenz und Temperatur eines Materials liefert usw.295 Mit dem Hinweis auf die spezifische Reichhaltigkeit lassen sich Einwände der Art entkräften, daß man glauben kann, etwas sei rot, ohne daß es einem rot erscheint, etwa weil es einem jemand gesagt hat oder weil es in der 294 295
Vgl. Jackson 1977 S.46. Wir sprechen hier von spezifischer Reichhaltigkeit, weil mit Reichhaltigkeit der Wahrnehmung häufig auch der Sachverhalt gemeint ist, daß unsere Wahrnehmung reichhaltiger ist als unsere Meinungen, weil wir Dinge wahrnehmen können, die wir nicht klassifizieren können.
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Zeitung stand, da solcher Art erworbene Information natürlich nichts über die Farbe Hinausgehendes, ja nicht einmal etwas die Farbe auch nur annähernd nach Helligkeit, Sättigung usw. Bestimmendes enthalten muß. Manche Meinungstheoretiker scheinen die Plausibilität ihrer Position mehr oder weniger stark von dieser These abhängig zu machen: So sieht Dennett eine Vorrichtung, mit deren Hilfe Blinde Information über distale Objekte erwerben können, indem der Input einer Kamera in taktile Signale verwandelt wird, die auf die Haut übertragen werden, noch nicht als gleichwertig mit visueller Wahrnehmung an.296 Was in seinen Augen die Information, die die Träger dieser Apparate erhalten, von visueller Wahrnehmung letztlich unterscheiden soll, ist ihr Mangel an spezifischer Reichhaltigkeit. Die mit dieser Technik übertragbare Rate an Information ist einfach nicht dicht genug, um mit normaler visueller Wahrnehmung konkurrieren zu können. Was immer man davon halten mag, es ist klar, daß hier der Rekurs auf spezifische Sinnesorgane wie etwa die Augen überhaupt keine Rolle mehr spielt.297 Bevor wir die Stichhaltigkeit dieser Strategie näher betrachten, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die Art der spezifischen Reichhaltigkeit zu werfen: Natürlich ist bloße spezifische Reichhaltigkeit des Gehalts nicht geeignet, einen mentalen Zustand als Wahrnehmung zu qualifizieren. Vielmehr scheint es sich um ganz bestimmte Aspekte zu handeln, aus denen sich diese Reichhaltigkeit des Wahrnehmungsgehalts ergibt. Lassen sich Angaben darüber machen, was eine Wahrnehmung eines bestimmtes Typs (einer bestimmten Modalität) zumindest enthalten muß? Pitcher hält die Anzahl möglicher Kandidaten für unbegrenzt, geht aber davon aus, daß der Kontext hier eine entscheidende Rolle spielt; so werde ich bei einem flüchtigen Blick weniger Details erhäschen als bei ausgiebiger Betrachtung.298 Nicht aufgeworfen wird von ihm hingegen die Frage, ob man Angaben über die minimalen Bedingungen der spezifischen Reichhaltigkeit machen kann, m.a.W., ob sich bestimmen läßt, worüber eine Wahrnehmung in jedem Fall Information enthält oder gar enthalten muß. Pitcher sagt lediglich, daß es eine spezifische Reichhaltigkeit geben muß. (Dies scheint im übrigen zu implizieren, daß die visuelle Wahr296 297
298
Vgl. Dennett 1991 S.339-42. Allerdings vermutet Dennett, daß das Ausmaß, in dem im Gehirn visuelle Assoziationsmechanisraen aufgebaut werden konnten, eine Rolle spielen kann, so daß Erblindete gegenüber Blindgeborenen bei Nutzung dieser Technik im Vorteil sein könnten. Insofern sind organische Faktoren für ihn nicht völlig irrelevant. Der Aspekt der spezifischen Reichhaltigkeit spielt für Dennett und andere auch im Zusammenhang der Diskussion um die richtige Deutung der sogenannten „Blindsicht" eine wichtige Rolle. Vgl. dazu die Diskussion im nächsten Kapitel. Vgl. Pitcher 1971 S.88.
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Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
nehmung einer einzigen Eigenschaft unmöglich ist, man also in absoluter Finsternis außer der Farbe noch eine andere Eigenschaft sehen muß) Wir können versuchen, verschiedene Sinne darüber zu definieren, über welche Eigenschaften sie Informationen liefern, die visuelle Wahrnehmung etwa darüber, daß sie Information über Farbe und Gestalt sowie Größe, vielleicht noch Lage oder Bewegung und Ruhe liefert. Es ist in diesem Zusammenhang eine interessante Frage, ob bestimmte Eigenschaften in der Wahrnehmung zwangsläufig miteinander kombiniert sind oder ob es sich dabei nur um eine kontingente Regelmäßigkeit handelt. So ist in der Literatur mindestens seit Berkeley immer wieder betont worden, daß wir keine der primären Qualitäten ohne entsprechende sekundäre Qualitäten wahrnehmen können.299 Vergleichbares läßt sich offenkundig auch nur im Blick auf die primären Qualitäten sagen: Wenn wir eine Form sehen, so sehen wir auch immer die Größe des betreffenden Gegenstandes, und wenn wir eine Form ertasten, so ertasten wir auch immer die Resistenz oder Härte des Materials. Ferner wäre zu berücksichtigen, daß wir, wenn wir eine Vielfalt von Objekten sehen, sie immer in einer räumlichen Beziehung zueinander sehen müssen (Vergleichbares gilt für zeitliche Verhältnisse beim Hören). Warum sollte es einer Meinungsanalyse der Wahrnehmung, die all diese Gesichtspunkte klärt und systematisch ordnet, nicht gelingen, Wahrnehmungen auf diese Weise als spezifische Typen von Meinungen darzustellen, die uns in ganz spezifischer Weise informieren? Die 'taktile Wahrnehmungsmeinung' muß dann immer etwas über Härte und Form enthalten, die visuelle Meinung hingegen über Form, Farbe und (mit Einschränkungen) Größe usw.300 Andererseits stellt sich die Frage, ob Wahrnehmung wirklich immer entsprechend reichhaltig sein muß: Kann man nicht einfach bloß Rot wahrnehmen oder ein Geräusch ohne jede Struktur und Kontrast zum Hintergrund hören? Oder wie sieht es mit der bereits erwähnten absoluten Finsternis aus? Es ist allerdings nicht einfach, wirklich überzeugende Beispiele dafür zu finden. Jackson denkt in diesem Zusammenhang an Situationen, in denen man nur
299 300
Vgl. Berkeley 1710/1962 Part 1 §10 sowie auch Husserl 1913/76 §40. Wenn man allerdings an die beständig wachsende Literatur denkt, in der Fälle von eigenartigsten Wahrnehmungstörungen geschildert werden, etwa daß trotz ansonsten normaler visueller Wahrnehmung bestimmte Formen von Bewegung nicht mehr erkannt werden, oder einzelne Objekte zwar erkannt, aber nicht mehr zu anderen Objekten in Beziehung gesetzt werden können, dann wird man vielleicht Zweifel bekommen, ob sich solch eine Liste der für Wahrnehmung relevanten Faktoren überhaupt aufstellen läßt. Die Frage, die sich hier stellt, ist natürlich, ob man bei diesen pathologischen Fällen noch von visueller, akustischer usw. Wahrnehmung sprechen soll (für Beschreibungen solcher Fälle vgl. Crick 1994 S.208ff. sowie Tye 1995 Appendix)
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einen ganz kurzen Anblick einer Sache erhascht, und beschreibt dies wenig glücklich als einen Fall, in dem man bloß eine „indistinct red shape [Herv. v. m.]" sieht.301 Auch hier ist ja noch Farbe und eine Formdeterminable gegeben. Die Möglichkeit, daß man nur eine einzige Eigenschaft wahrnimmt, scheint kaum haltbar, wenn man die gestaltpsychologische Einsicht akzeptiert, daß jede Wahrnehmung eine Art von „Figur-Grund"-Unterscheidung impliziert.302 Soweit scheint also spezifische Reichhaltigkeit mit ausreichenden Zusatzqualifizierungen (keine Meinungen über Vertrauenswürdigkeit, Zeichen usw.) das bislang beste Kriterium für die Meinungsanalyse darzustellen. Ist es damit auch hinreichend? Dagegen spricht, daß wir uns leicht Fälle denken können, in denen der Gehalt unserer Wahrnehmungen, etwa wegen schlechter Beleuchtungsbedingungen oder eines organischen Defekts, wesentlich reduzierter ist als die Meinungen, die wir über die Gegenstände unserer Umgebung hegen. Wenn jemand abends in sein dunkles Zimmer tritt, dann wird er Meinungen über die Einrichtung haben, die ihm helfen, Hindernissen auszuweichen, den Lichtschalter zu finden usw., die den Gehalt seiner Wahrnehmung bei weitem übersteigen dürften und die gegebenenfalls genau von jenen Eigenschaften handeln werden, die man im Normalfall als typisch für die spezifische Reichhaltigkeit der fraglichen Wahrnehmung (hier z.B. Farben und Formen) ansehen wird. Natürlich unterscheiden sich diese Meinungen von seiner Wahrnehmung nicht nur durch ihre spezifische Reichhaltigkeit, sondern auch durch ihre kausale Genese und ihre Abhängigkeit von anderen Meinungen. Aber wenn hier diesen beiden Faktoren die entscheidende Bedeutung für die Auszeichnung von Wahrnehmungen als einem spezifischen Typus von Meinungen zukommen und ihre spezifische Reichhaltigkeit gar keine Rolle mehr spielen soll, dann ist nicht mehr zu sehen, inwiefern diese hier überhaupt noch eine zentrale Rolle spielen kann. Darüber hinaus haben wir schon bei der Diskussion des ersten Kriteriums gesehen, daß auch diese beiden Gesichtspunkte weder für sich noch zusammengenommen taugliche Kriterien bilden. Damit scheint klar, daß die genannten Kriterien nicht geeignet sind, Wahrnehmungen als eine spezifische Form von Meinungen vor anderen Meinungen auszuzeichnen. Zum Abschluß sollten wir noch auf eine grundlegende Schwierigkeit für die Meinungsanalyse zu sprechen kommen, die von vielen Kritikern dieser Analyse merkwürdigerweise völlig vernachlässigt wird.
301 302
Vgl. Jackson 1977 S.43. Diese Einsicht gilt in der Wahrnehmungspsychologie offenbar als allgemein akzeptiert, vgl. Guski 1989 S.54. Vgl. ins diesem Zusammenhang auch Merleau-Ponty 1945 S.9ff.
174
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
4.3.2.4
Das Problem der Anschauung
Wahrnehmung vermittelt uns nicht nur spezifisch reichhaltige Information im angegebenen Sinne, sondern diese Information ist auch auf eine ganz besondere Art und Weise strukturiert und verknüpft, die sich durch die Meinungsanalyse nicht adäquat vermitteln läßt. So liefert visuelle Wahrnehmung nicht einfach nur Informationen über Farbe, Form und Bewegung, sondern diese Informationen stehen in eigentümlichen Beziehungen zueinander: Wer die Farbe und die Form eines Gegenstandes sieht, sieht auch, daß die Farbe die Fläche ausfällt oder einnimmt. Dies scheint ein ganz wesentlicher Bestandteil der Tatsache zu sein, daß uns etwas visuell erscheint.303 Es dürfte genau dieser Aspekt sein, der einen bei der visuellen Wahrnehmung so leicht dazu verleitet, sie buchstäblich mit einem Bild zu vergleichen, weil auch für ein Bild typischerweise gilt, daß die Elemente, die es enthält, in entsprechenden räumlichen Beziehungen zueinander stehen. Er läßt sich darüber hinaus auch noch zur Plausibilisierung des oben diskutierten Fingerhutbeispiels heranziehen.304 Wenn man auf das Sofakissen mit dem unbemerkten Fingerhut starrt, dann sieht man dieses Kissen als durchgängig von Farbe erfüllte Fläche, deren einzelne Bestandteile (seine Zipfel usw.) in eindeutig definierten räumlichen Beziehungen zueinander stehen. Dies scheint offenbar vorauszusetzen, daß der Bereich dazwischen, auf den man nicht achtet, nicht völlig unbestimmt sein kann, es muß sozusagen jeder uns zugewandte Teil des Kissens gesehen werden, damit das Kissen so gesehen werden kann, wie es gesehen wird. Dies impliziert entweder, daß man auch den Fingerhut sieht, oder, daß man an seiner Stelle ein Stück Kissen halluziniert.305 303
304 305
Vergleichbare Verknüpfungen existieren natürlich auch für andere Sinne, etwa die Art, wie Lautstärke und Tonhöhe verknüpft sind usw. S.o. S.160. In diesem Kontext ist auch die gegenwärtige Diskussion um das sogenannte „Ergänzen" (filling in") von Interesse, wonach unser visueller Eindruck an jener Stelle des Gesichtsfeldes, die wegen des Eintritts des Sehnervs in das Auge keine Sehzellen enthält (der „blinde Fleck"), von unserem Gehirn entsprechend „ergänzt" werden muß, weil wir uns zumindest keines „Lochs" an dieser Stelle bewußt sind, sondern vielmehr einen „durchgängigen" Eindruck haben. In der Regel wird dieser Bereich einfach mit denselben Reizen ergänzt, die im Umfeld auftreten. Da dieser Effekt für die Meinungstheorie eine Schwierigkeit bedeutet, hat Dennett den Versuch unternommen, ihn bzw. vergleichbare Effekte einfach als eine Form von Meinung zu analysieren. Inhalt dieser Meinung soll sein, daß man es einfach mit „mehr von derselben Art" wie in dem Bereich zu tun hat, in dem ein entsprechender Reiz wirksam wird (vgl. Dennett 1991 S.354ff.). Dies wirft einmal die Frage auf, wie diese Art von Meinungen von ähnlichen Meinungen zu unterscheiden ist, bei denen keinerlei Wahrnehmung im Spiel ist, wie etwa die Meinung, daß der Teil des blauen Himmels hinter meinem Rücken von „derselben Art" ist wie derjenige vor meinen Augen. Ferner hat der Neuropsychologe Ramachandran eine Reihe von raffinierten Experimenten durchgeführt, die zu belegen scheinen, daß hier nicht einfach nur
Kritik an zwei Implikationen
175
Es dürfte klar sein, daß der Begriff der Reichhaltigkeit viel zu schwach ist, um diesen Aspekt zum Ausdruck zu bringen, da er nur eine Vielfalt von Information impliziert, jedoch nichts über die Art und Weise, wie diese Information organisiert ist. Spezifische Reichhaltigkeit gewährleistet hier nur, daß jemand glauben wird, einen Gegenstand vor sich zu haben, der rot und vierekkig ist. Insofern kann man sagen, jemandem mit solch einer Meinung wird es epistemisch so scheinen, daß der fragliche Gegenstand z.B. rot und viereckig ist. Er wird dann die klassifikatorische Fähigkeit haben, ihn sowohl als rot einzuordnen wie auch als viereckig. Das besagt aber überhaupt nichts darüber, wie einem Farbe und Form eines Gegenstandes zusammen visuell verknüpft erscheinen. Um diesen Aspekt angemessen berücksichtigen zu können, müßte die Meinungsanalyse also neue Ressourcen mobilisieren. Welche könnten das aber sein? Die Grundidee der Meinungsanalyse besteht darin, daß eine Meinung ein begrifflich strukturierter Zustand ist, der einen zu bestimmten klassifikatorischen Leistungen befähigt. Wenn jemand glaubt, daß etwas rot und viereckig ist, dann kann er es eben als rot und viereckig klassifizieren. Wir müßten eine Art von klassifikatorischer Leistung angeben können, die genau den Aspekt herausarbeitet, der hier mit der Rede von räumlicher Verknüpfung deutlich gemacht werden sollte. Dieses klassifikatorische Verhalten müßte sich dabei maßgeblich von demjenigen unterscheiden, welches bloß zum Ausdruck bringt, daß jemand meint, der Gegenstand sei rot und viereckig. Natürlich gibt es bestimmte Formen von klassifikatorischem Verhalten, an denen ablesbar ist, daß jemandem Form und Farbe räumlich verknüpft erscheinen. Wenn etwa jemand eine Fläche mit dem Finger umschreibt und sagt, die Farbe sei dadurch begrenzt, dann ist dies ein gutes Indiz dafür, daß ihm Form und Farbe entsprechend verknüpft scheinen. Und wer zu solchem Verhalten völlig unfähig wäre, würde sich gegebenenfalls dem Verdacht aussetzen, daß er die Dinge nicht so wahrnimmt, wie man sie normalerweise sieht. Wir können Wahrnehmungen aber deshalb nicht einfach als diejenigen Zustände analysieren, die uns (u.a.) diesen Typ von klassifikatorischem Verhalten ermöglichen, und daraus dann die Folgerung ziehen, daß es sich lediglich um Meinungen (im Sinne von Zuständen, die unser klassifikatorisches Verhalten ermöglichen) handelt. Selbst eine blindgeborene Person könnte im Prinzip solche Auskünfte geben und sich entsprechend verhalten. Sie könnte die Form
geurteilt wird, sondern wirklich ein Ausfüllen stattfindet, etwa weil Bedingungen herstellbar sind, in denen der blinde Bereich peu ä peu räumlich ausgefüllt wird. Wie diese Experimente letztlich zu deuten sind, ist z.Z. allerdings noch Gegenstand kontroverser Diskussionen (vgl. P.S. Churchland u. Ramachandran 1993, Dennett 1993c) S.205-10, Dennett 1996).
176
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
des Gegenstandes ebenfalls mit einer Handbewegung umschreiben und sagen, daß seine zugewandte Oberfläche innerhalb dieses Bereichs farbig ist.306 Die Annahme, daß Eigenschaften in der Wahrnehmung entsprechend verknüpft erscheinen, erlaubt vielleicht auch ein besseres Verständnis des folgenden Phänomens, welches der Meinungsanalyse ebenfalls Schwierigkeiten zu bereiten scheint: Betrachtet man Figuren wie den sogenannten „Rubin-Pokal", so kann der Eindruck davon, was man sieht, „hin- und herkippen": Einmal sieht man einen Pokal vor schwarzem Hintergrund, das andere Mal sieht man zwei nahezu symmetrische, einander zugewandte Gesichter im Profil vor weißem Hintergrund. Phänomene dieser Art scheinen die Meinungstheorie zunächst insofern zu begünstigen, als diese Beispiele eindeutig demonstrieren, welch wichtige Rolle Interpretation in der Wahrnehmung spielt und inwiefern sich Wahrnehmungen danach unterscheiden lassen, daß sie Wahrnehmungen von etwas als etwas sind. Dieser Unterschied läßt sich natürlich leicht als Unterschied im klassifikatorischen Verhalten deuten: Einmal gruppiert man die Figur mit Gesichtern, das andere Mal mit Pokalen. Das Problem ist jedoch, daß damit nur die Unterschiede in der Erscheinung der Figur erklärt werden können, nicht jedoch die Tatsache, daß man als Betrachter den unweigerlichen Eindruck hat (und nicht nur weiß), daß es sich um jeweils dieselbe Figur handelt, die einem einmal als Pokal, das andere mal als Gesichterpaar erscheint. Das klassifikatorische Verhalten kommt sozusagen nur für die Unterschiede, nicht jedoch für die verbleibenden Gemeinsamkeiten zwischen den wechselnden Eindrücken auf. Eine einfache Erklärung für dieses Phänomen bietet sich natürlich an, wenn man davon ausgeht, daß Farbe und Form in der visuellen Wahrnehmung auf eine Weise miteinander verknüpft repräsentiert werden, die unabhängig von der jeweiligen Interpretation des Gesehenen ist. Mit diesen etwas spekulativen Bemerkungen wollen wir unsere Kritik an (/2) beschließen.
306
Wenn man so will, vernachlässigt die Meinungstheorie dasjenige, was Kant „Anschauung" genannt hat, die Alt, wie der Gehalt unserer Wahrnehmung organisiert ist, bevor er „unter Begriffe gebracht" wird (vgl. Kant 1787/1904 Β 33f.). Der Hinweis auf dieses Defizit der Meinungstheorie verpflichtet einen allerdings nicht auf Kants spezielle Theorie über Raum und Zeit als bloße „Formen" der Anschauung. Wahrnehmung mag im Gegensatz zu Meinungen eine spezifische raumzeitliche Struktur aufweisen, auch wenn Raum und Zeit realistisch zu verstehen sind.
Resümee 4.4
177
Resümee
Zu welchem Ergebnis hat uns der manchmal etwas gewundene Argumentationsweg in diesem Kapitel geführt? Die Antwort fällt vergleichsweise kurz aus: Auch bei weitgehendem Entgegenkommen scheint der Meinungstheorie der Wahrnehmung kaum Aussicht auf Erfolg beschieden zu sein. Mit dem Scheitern der Meinungsanalyse können wir sehen, daß der Begriff des epistemischen Scheinens nicht in der Lage ist, den spezifischen Sinn zu erfassen, der bei der Wahrnehmung eine Rolle spielt, wenn einem ein Gegenstand so und so erscheint. Dieser zusätzliche Sinn von Erscheinen wird häufig als phänomenales Scheinen bezeichnet.307 Die Tatsache, daß uns Dinge in der Wahrnehmung phänomenal erscheinen, kann dann letztlich so verstanden werden, daß es irgendwie ist, diese Gegenstände wahrzunehmen. Versteht man unter Wahrnehmungen Zustände, die per se phänomenal bewußt sind, so scheint klar, daß die Meinungsanalyse nicht in der Lage ist zu explizieren, was dies positiv heißen kann. Im einzelnen hat sich herausgestellt, daß die Meinungstheorie das ihr gerne vorgehaltene Illusionsproblem zu meistern vermag, zumindest dann, wenn man sie in der richtigen Weise ergänzt. Hier mag man auch einen ersten Ansatzpunkt zur Beantwortung der Frage aus dem ersten Kapitel sehen, wie uns etwas in der Wahrnehmung anders erscheinen kann, als wir glauben, daß es beschaffen ist. Ins Straucheln gerät diese Konzeption erst angesichts jener Phänomene, die letztlich die Basis für Dretskes Rede von einer nichtepistemischen Wahrnehmung bilden können, sowie angesichts der wenig befriedigenden Versuche, hinreichende Bedingungen dafür zu gewinnen, daß einem etwas in der Wahrnehmung erscheint. Weder der fundierende Charakter noch der Verweis auf Sinnesorgane oder auf die spezifische Reichhaltigkeit haben sich hier, sei es für sich oder sei es in Kombination, als wirklich hilfreich erwiesen. Hinzu kommt offenbar noch das Problem der Anschauung. Für den Fortgang unserer weiteren Diskussion sollte man im Auge behalten, daß die Meinungstheorie im Prinzip mit der Modularitätskonzeption verträglich ist. Im sechsten und siebten Kapitel werden wir nämlich im Zusammenhang mit der Diskussion des Repräsentationalismus auf die These stoßen, daß Modularität eine entscheidende Rolle bei der Erklärung jener Aspekte unserer Sinneserfahrung spielen soll, die die Rede von einem phänomenalen Erleben oder von Qualia u.a. motiviert. Wenn es richtig ist, daß die Probleme,
307
Vgl. Jackson 1977 S.30, Maund 1986.
178
Die Meinungstheorie der Wahrnehmung
die die Meinungstheorie der Wahrnehmung mit dem phänomenalen Scheinen und damit mit dem phänomenalen Erleben hat, letztlich unabhängig davon sind, ob sie durch die Modularitätsthese ergänzt werden kann oder nicht, dann ist dies ein starkes Indiz dafür, daß der Modularität unserer Wahrnehmungen nicht jenes Gewicht für die Erklärung des phänomenalen Charakters unserer Erfahrung zukommen kann, wie der Repräsentationalismus suggeriert. Doch davon später mehr. Nicht vergessen sollten wir auch die Ergebnisse, die wir im Zusammenhang mit Dretskes Konzeption vom nichtepistemischen Sehen diskutiert haben. Die Tatsache, daß wir weit mehr wahrnehmen können, als wir zu klassifizieren imstande sind, wird in den repräsentationalistischen Konzeptionen, die wir im sechsten und siebten Kapitel diskutieren wollen, noch eine wichtige Rolle spielen. Auch für die spezifische Art, wie unsere visuelle Wahrnehmung die Elemente, die sie repräsentiert, räumlich in Beziehung setzt, werden wir zumindest in der Konzeption von Tye einige interessante Anknüpfungspunkte finden. Im nächsten Kapitel wollen wir uns mit einer Verfeinerung einer funktionalistischen Analyse des phänomenalen Bewußtseins beschäftigen. Dafür werden einige der Ergebnisse unserer Diskussion zur Meinungstheorie der Wahrnehmung von Bedeutung sein.
5
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
In seinem wichtigen Aufsatz „On a confusion about a function of consciousness" hat Ned Block eine Reihe von unterschiedlichen Ansätzen zum phänomenalen Bewußtsein unter dem Gesichtspunkt systematisiert, daß sie phänomenal bewußte Zustände als Zustände begreifen, die der einen oder anderen Art von „Zugriff" auf ihren Gehalt offen stehen.308 Block spricht in diesem Zusammenhang davon, daß diese Positionen phänomenales Bewußtsein als „Zugriffsbewußtsein" verstehen. Darin sieht Block jedoch eine Verwirrung. Es mag s.E. zwar legitim sein, unter dem Titel „Bewußtsein" auch solch eine Form von Zugriff zu verbuchen, man sollte sich jedoch davor hüten, phänomenales Bewußtsein mit dieser Form von Zugriff gleichzusetzen. Wir wollen und können hier nicht den höchst unterschiedlichen Vorschlägen im einzelnen nachgehen, die Block unter dieser Rubrik zusammenfaßt. Wir wollen uns vielmehr auf die Frage beschränken, ob Block hier tatsächlich einen wichtigen Unterschied markiert hat oder nicht. In diesem Zusammenhang werden wir uns mit einigen grundsätzlichen Argumenten von Dennett auseinandersetzen müssen, nach denen jeder Versuch solch einer Unterscheidung letztlich scheitern muß. Wir werden dabei, wenn auch nur in sehr knapper Form, auf seinen Alternatiworschlag zu sprechen kommen. Doch beginnen wollen wir mit einer genaueren Klärung dessen, was Zugriff bzw. Zugriffsbewußtsein hier heißen soll, und was es für Gründe gibt, es vom phänomenalen Bewußtsein zu unterscheiden.
5.1
Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein
Die Vorstellung, phänomenales Bewußtsein könnte an einer bestimmten Form von „Zugriff" auf den Gehalt eines Zustandes hängen, läßt sich besonders gut unter Rekurs auf eine Reihe von pathologischen Bewußtseinsstörungen erläutern, die mit dem Verlust bestimmter kognitiver Fähigkeiten einher-
308
Vgl. Block 1995a) sowie seine Reaktion auf Kritik 1995b).
180
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
gehen. Diese Fälle geben Anlaß zu der Spekulation, daß phänomenales Bewußtsein im Normalfall genau diese Funktionen erfüllt. Ein Paradebeispiel für solch einen Fall stellt die sogenannte „Blindsicht" dar.309 Gewisse Gehirnverletzungen können bei Personen mit ansonsten völlig intaktem visuellen Apparat zu folgender merkwürdiger Sehbehinderung führen: Ihr Gesichtsfeld ist durch das Auftreten eines Skotomas, eines „blinden Flecks", eingeschränkt, so daß sie berichten, in einem bestimmten Bereich nichts mehr wahrnehmen zu können. Fordert man die Betroffenen auf zu sagen, was sie in diesem Bereich sehen, weisen sie dieses Ansinnen als unsinnig zurück, da sie in diesem Bereich nach eigenem Ermessen blind sind. Dies legt die Deutung nahe, daß ihnen für diesen Bereich jegliches visuelles Bewußtsein fehlt. Bittet man sie hingegen, lediglich zu raten, was sich dort befinden könnte, wenn man sie vor die Alternative stellt, ob es sich etwa um eine vertikale oder horizontale Linie handelt, so liegt die Rate der richtigen Antworten überraschenderweise deutlich über der Zufallsmarge. Ferner können manche der Betroffenen in Richtung der Stimuli greifen bzw. ihre Augen dorthin bewegen. Daraus wird geschlossen, daß die Versuchspersonen auf irgendeinem Wege visuelle Information über die Figur erlangt haben müssen, obwohl ihnen das Wahrnehmungsbewußtsein (also auch phänomenales Bewußtsein) in dem fraglichen Bereich fehlt.310 Dies lädt zu folgender Spekulation über die Funktion von phänomenalem Bewußtsein ein: In dem Bereich, wo die betroffene Person nach eigenen Angaben nichts sieht, mithin nach unserer Deutung kein Bewußtsein hat, kann sie sich nur mit forciertem Raten behelfen. Andererseits ist klar, daß sie über diesen Bereich Information erlangt haben muß, sonst wären ihre Leistungen beim Raten nicht zu erklären. Ferner scheint es plausibel, wenn vielleicht auch nicht zwingend, den Informationserwerb als eine Art von Wahrnehmung einzustufen.311 Nun ist der Gehalt dieser Information für die betroffene Person 309 310
311
Für eine Darstellung vgl. u.a. Weiskrantz 1986, 1988, 1990. Siehe auch Block 1995a) S.227f. Block erwähnt noch andere vergleichbare pathologische Störungen wie z.B. Alexie, eine spezifische Lesestörung (vgl. Block 1995a) S.230). Wie bei der Blindsicht kann das Defizit (hier die Unfähigkeit, gedruckte Wörter zu erkennen), hier ebenfalls nicht vollständig sein, weil sich mit Hilfe bestimmter Methoden zeigen läßt, daß die Betroffenen doch Wissen über die Wörter erworben haben müssen. Ähnlich gelagert scheint auch der sogenannte „Hemineglekt" zu sein, bei dem die Betroffenen trotz Teilverlusts ihres Gesichtsfeldes durch Raten und dergleichen aber dazu gebracht werden können, Information über Geschehnisse in der lädierten Hälfte preiszugeben (zu diesem Phänomen vgl. Tye 1995 S.7ff., Metzinger 1993 S.139ff.). Wir können uns hier aber auf Blindsicht beschränken. Man sollte sich lediglich klar darüber sein, daß wir es hier nicht mit einem völlig singulären Phänomen zu tun haben. In jedem Falle scheint er die Kriterien der Meinungstheorie fiir Wahrnehmungen weitgehend zu erfüllen, er wird über die Augen erworben, ist fundamental, und weist zumindest in einigen
Phänomenales Bewußtsein als ZugriffsbewuBtsein
181
offenkundig nicht in der Weise verfügbar, wie dies mit „normalem" Wahrnehmungsgehalt der Fall ist: Wenn sie z.B. durstig ist, wird sie nicht nach einem Wasserglas im blinden Bereich greifen können.312 Wer normal sieht, wird bei Durst hingegen nach einem Glas Wasser greifen. Der Gehalt der visuellen Wahrnehmung ist dann sozusagen für unsere rationale Handlungsteuerung verfügbar. Zweitens kann sie nicht ohne weiteres berichten, daß sich vor ihr eine Linie befindet, wenn sie ihre Augen darauf gerichtet hat. Anders wiederum im Fall der normalen Wahrnehmung. Wer eine Linie sieht, kann in aller Regel sagen, daß sich eine Linie vor ihm befindet. Schließlich kann sie den Gehalt ihrer Wahrnehmung auch nicht in Schlußfolgerungen einbauen, wie Normalsichtige dies können: Wer eine Linie sieht, kann in der Regel sofort der Behauptung widersprechen, daß er vor einer leeren weißen Fläche sitzt, wer blindsichtig ist, kann dies für den blinden Bereich nicht. Solange wir die Berichte der Betroffenen, daß sie im blinden Bereich nichts sehen, als zutreffende Feststellungen über einen Mangel an phänomenalem Bewußtsein deuten, scheint dieses unweigerlich mit der Verfügbarkeit des Wahrnehmungsgehalts in der angeführten Form zu kovariieren. Was liegt also näher, als die Funktion des phänomenalen Bewußtseins darin zu sehen, diese Art von Verfügbarkeit sicherzustellen?313 Und haben wir damit nicht den Ansatzpunkt für eine funktionale Theorie des phänomenalen Bewußtseins vor uns? Block spricht im Zusammenhang mit den genannten Formen von Verfügbarkeit nicht nur von einem „Zugriff", sondern auch von einer bestimmten Form von Bewußtsein, nämlich Zugriffsbewußtsein. Sehen wir uns Blocks Kriterien für Zugriffsbewußtsein in seinen eigenen Worten an: A state is access-conscious (Α-conscious) if, in virtue of one's having the state, a representation of its content is (1) inferentially promiscuous [...], that is poised for use as premise of reasoning, (2) poised for rational control of action, and (3) poised for rational control of speech. (I will speak of both states and their contents as Aconscious). (Block 1995a) S.231)
312 313
Fällen eine gewisse spezifische Reichhaltigkeit auf. Insofern scheint der Fall der Blindsicht noch einmal die Inadäquatheit der Meinungstheorie vor Augen zu führen, da diese offenbar nicht ohne weiteres zwischen normaler visueller Wahrnehmung und Blindsicht unterscheiden kann. Vgl. Blocks Hinweis auf eine entsprechende Überlegung von Marcel, Block 1995a) S.228. Schlußfolgerungen dieser Art finden sich bei van Gulick 1989 S.217ff„ Flanagan 1992 Kap. 7 sowie bei zahlreichen Kognitionswissenschaftlern und Psychologen wie etwa Baars 1988, Marcel 1988 oder Schacter 1989 (vgl. dazu die Hinweise bei Block 1995a) S.228f, S. 230, S.236f., 239ff.). Vergleichbare (nicht auf Blindsicht gemünzte) Überlegungen finden sich auch bei Searle 1992 S.107f.
182
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
Obwohl diese letzte Bedingung nach Block in der Praxis oft das einfachste Anzeichen für das Vorliegen von Zugriffsbewußtsein darstellt, sollte sie jedoch nicht als notwendige Bedingung verstanden werden; auch für Wesen ohne Sprache, etwa Menschenaffen, soll die Option auf Zugriffsbewußtsein offengehalten werden. Zusammen sind die drei Bedingungen jedoch in jedem Falle hinreichend für Zugriffsbewußtsein.314 Ein Beispiel mag illustrieren, was es heißen kann, daß ein Zustand (bzw. sein Gehalt) zugriffsbewußt ist. Angenommen, Peter sieht einen Apfelbaum. Was könnte es genauer heißen, daß der Gehalt seiner Wahrnehmung „inferentiell promisk" ist? Wenn jemand von Peter behauptet, er befinde sich in einer ausgedörrten Wüste, dann kann er dies leicht unter Verweis auf den Apfelbaum zurückweisen. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß der Gehalt seiner Wahrnehmung in eine geeignete Schlußfolgerung eingehen kann, wonach hier keine Wüste sein kann, weil dort keine Apfelbäume vorkommen. Was kann es heißen, daß der Gehalt für die Handlungs- und Sprachkontrolle bereitsteht? Im Prinzip wurde es schon angedeutet: Peter kann z.B. auf Grund seiner Wahrnehmung nach einem Apfel greifen oder er kann sagen: „Dort steht ein Apfelbaum".315 Für einen Großteil unserer mentalen Zustände gilt offenbar, daß ihr Gehalt einem derartigen Zugriff offensteht, und es ist klar, daß dies bei den Wahrnehmungen der Blindsichtigen nicht gewährleistet ist. Ferner haben die Blindsichtigen im kritischen Bereich nach eigenem Bekunden keinerlei visuelles bewußtes Erleben. Legt dies nicht nahe, das phänomenale Bewußtsein eines mentalen Zustandes durch sein Zugriffsbewußtsein konstituiert zu sehen? Die Antwort hängt natürlich davon ab, inwiefern wir bei dieser Form von Zugriff überhaupt von Bewußtsein reden wollen. Einen positiven Anknüpfungspunkt bildet hier sicherlich einmal unsere alltägliche Praxis, wonach wir Zustände als unbewußt bezeichnen würden, deren Inhalt uns nicht zugänglich ist, etwa weil wir uns nicht daran erinnern können. Wir sagen z.B. Dinge wie „Es war mir beim Verhör gar nicht bewußt, daß jede Aussage gegen mich 314 315
Vgl. a.a.O. Es ist zu beachten, daß es für Zugriffsbewußtsein nicht erforderlich ist, daß Peter sagen kann: „Ich sehe einen Apfelbaum". Damit der Gehalt des Zustandes (und damit der Zustand selbst) zugriffsbewußt werden kann, ist es nicht zwingend, daß Peter über den Begriff des Sehens (oder den eines anderen mentalen Zustands) verfügt. Dies wäre eine bestimmte Form des oben diskutierten Reflexions- oder Monitorbewußtsein seiner Wahrnehmung (vgl. dazu Block 1995 a) S.234). In der Regel wird man Monitorbewußtsein als einen Spezialfall von Zugriffsbewußtsein ansehen wollen. (Es ist fraglich, ob ein Fall denkbar ist, in dem jemand zwar ein Bewußtsein davon hat, daß er einen bestimmten mentalen Zustand hat, aber keinerlei Bewußtsein von dessen Gehalt hat, indem er etwa weiß, daß er gerade an etwas denkt, ohne auch nur eine Spur von einer Vorstellung davon zu haben, was er gerade denkt, und dies keinen Einfluß auf sein Handeln usw. haben kann.)
Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein
183
verwendet werden kann." Damit kann auch gemeint sein, daß man dies im Prinzip sehr wohl weiß, nur daß dieses Wissen zum fraglichen Zeitpunkt eben nicht verfügbar war.316 Und ganz offenbar knüpft auch Freuds Rede vom „Unbewußten" an eine Vorstellung von Zugriffsbewußtsein an. Schließlich spielt dabei der Begriff der „Verdrängung" eine Schlüsselrolle, und Verdrängung stellt in Freuds Theorie bekanntlich eine Bedingung dar, die den Zugriff auf bestimmte Inhalte (den Haß auf den Vater, die erotische Zuneigung zur Mutter usw.) verhindert.317 Was immer man von Freuds Theorie letztlich halten mag, die zentralen Gedanken seiner Konzeption lassen sich auch nur ansatzweise verstehen, wenn man mit einer Vorstellung von Zugriffsbewußtsein einen Sinn verbinden kann. Wenn die erläuterte Art von Zugriff also als eine Form von Bewußtsein bezeichnet werden kann und dieses Bewußtsein im Fall der Blindsicht fehlt, ist es dann nicht um so naheliegender, phänomenales Bewußtsein mit Zugriffsbewußtsein zu identifizieren? Wenn die Betroffenen berichten, sie sähen nichts und hätten in diesem Sinn kein Bewußtsein mehr, heißt das dann nicht einfach, daß sie keinen direkten Zugriff mehr auf bestimmte visuelle Wahrnehmungszustände (genauer deren Gehalt) haben? Doch hier ist nach Block Vorsicht geboten. Es mag durchaus sein, daß wir es hier mit einem Fall zu tun haben, in dem sowohl phänomenales Bewußtsein als auch Zugriffsbewußtsein fehlen. Und dies mag seinen Grund darin haben, daß das Auftreten des einen eine Voraussetzimg für das Auftreten des anderen darstellt. Dies heißt aber noch lange nicht, daß phänomenales Bewußtsein letztlich nichts anderes als Zugriffsbewußtsein ist oder daß wir die Angaben über Zugriffsbewußtsein als eine brauchbare Analyse dessen verstehen können, was phänomenales Bewußtsein ausmacht. Eine Möglichkeit, sich dies klarzumachen, besteht darin, sich Fälle auszumalen, in denen das eine ohne das andere auftritt. Wenn solche Fälle auch nur kohärenterweise denkbar sind, dann können wir phänomenales Bewußtsein nicht einfach als eine Form von Zugriff analysieren. Bloße empirische Kovarianz, so durchgängig sie auch sein mag, ist in jedem Fall zu schwach für eine Identifikation; denn niemand würde z.B. sagen, daß Farbe und visuell erscheinende Form eines Gegenstandes dieselben Eigenschaften sein müssen, nur weil es keine klaren empirischen Beispiele für visuelle Formerscheinungen ohne Farbkontrast gibt.
316 317
Vgl. auch die Diskussion oben zum Bewußtseinsbegriff der Alltagssprache S.92. Vgl. Freud 1913/1946.
184
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein 5.1.1
Zugriffsbewußtsein ohne phänomenales Bewußtsein
Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, in denen der Gehalt eines mentalen Zustandes unserem Zugriff offen ist, ohne dabei zwangsläufig phänomenal bewußt zu werden: Angenommen jemand lernt, daß „merhaba" das türkische Wort für „Guten Tag" ist. Er hat dann eine Meinung des Gehalts erworben, daß dieser Ausdruck „Guten Tag" bedeutet. Zugriff auf diesen Gehalt hat er u.a. dann, wenn er Türken entsprechend grüßt, dem Türkischlehrer auf die Frage nach der türkischen Grußformel spontan antworten kann oder den Schluß zieht, daß Leute, die diesen Ausdruck verwenden, türkisch können usw. Das beinhaltet aber natürlich nicht, daß die fragliche Überzeugung in solchen Situationen in irgendeinem Sinn phänomenal bewußt wird. Es muß keineswegs der Fall sein, daß ihm dabei der Gedanke „'Merhaba' heißt 'Guten Tag'" in einer Weise durch den Kopf geht, die sich dadurch auszeichnet, daß es irgendwie ist, diesen Gedanken zu haben.318 Um jemanden auf türkisch grüßen zu können, muß einem überhaupt keine bewußte Episode durch den Kopf gehen, es reicht, daß man unter den richtigen Umständen „Merhaba" sagt. Damit ist aber ein Kriterium für Zugriffsbewußtsein der entsprechenden Meinung erfüllt worden. Aber nicht nur für Meinungsinhalte dieser Art, sondern auch für Wahrnehmungsinhalte läßt sich ein Fall ausmalen, in dem der Zugriff auf Information ohne phänomenales Erleben wenigstens denkbar scheint:319 Was wäre, wenn es nicht nur Blindsichtige geben würde, die nach Aufforderung zum Raten Auskunft über Ereignisse in ihrem visuellen Feld geben könnten, sondern auch Personen, die ohne Forcierung, mit Leichtigkeit beliebige Information darüber zum besten geben können, obwohl sie, ganz wie die „normalen" Blindsichtigen, darauf beharren, daß sie nichts, aber auch gar nichts sehen? Block bezeichnet diesen fiktiven Fall als „Superblindsicht". Wir können uns dies auch so denken, daß jemand peu ä peu vom gewöhnlichen Blindsichtigen
318
Für ähnliche, vielleicht weniger klare Beispiele vgl. Block 1995b) S.275 sowie Bürge 1995 S.587 u. 589. Man beachte, daß dieser Fall von einem anderen, ebenfalls von Block erwähnten Fall zu unterscheiden ist, in dem der Gehalt einer Überzeugung weder Zugriffs- noch phänomenal bewußt ist. Manche Überlegungen, die wir anstellen, sind so komplex, daß sie eine Reihe von einfacheren Zwischenschritten involvieren. Oft können wir über diese Zwischenschritte aber gar keine Angaben machen, und sie sind als solche auch jedem Zugriff entzogen: wir können nicht von ihnen berichten, sie können nicht isoliert unser Handeln beeinflussen usw. (vgl. Block 1995a) S.243). Das Bestehen solcher Zustände wird insofern von bestimmten Theorien über die Voraussetzungen des Spracherwerbs vorausgesetzt, als sich unsere Sprachkompetenz nur unter Rekurs auf Wissen über bestimmte grammatische Regeln erklären läßt, welches unserem Bewußtsein entzogen ist (vgl. Chomsky 1987/90).
319
V g l . Block 1995a) S.233.
Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein
185
zum Superblindsichtigen wird, indem er erst lernt, sich selber zum Raten zu forcieren, bis er schließlich ganz unvermittelt Berichte über Gegenstände vor seinen Augen abgibt. Ihm wird dann einfach ganz spontan der Gedanke kommen, daß sich da und dort eine vertikale Linie befmdet. Auf diesen Gehalt hat er dann in Schlußfolgerungen, Handlungen und sprachlichen Äußerungen den erforderlichen freien Zugriff, damit man von intaktem Zugriffsbewußtsein sprechen kann. Wir können hier wieder an zwei Fälle denken, die wir im letzten Kapitel schon im Zusammenhang mit der Frage, ob sich Wahrnehmungen als fundamentale Meinungen verstehen lassen, angesprochen haben:320 Der Superblindsichtige kommt zu seinen Einschätzungen über einen Teil der Welt vor seinen Augen in ganz der gleichen Weise, wie diejenigen von uns, die unmittelbar, ohne weitere bewußte evidentielle Basis, angeben können, wie spät es ist oder in welche Himmelsrichtung sie gerade gehen. Wenn man als normalsichtige Person gefragt wird, woher man weiß, daß vor dem Fenster ein Apfelbaum steht, kann man darauf verweisen, daß man dies sieht, wenn man hingegen gefragt wird, warum man die Zeit richtig schätzen kann, dann kann man kaum mehr sagen, als daß man es eben kann. Der jeweilige Gedanke, daß es jetzt ca. fünf Uhr ist, oder daß wir gerade nach Norden wandern, mag seinerseits phänomenal bewußt sein, aber wir können nicht sagen, daß es irgendwie ist, die Himmelsrichtung oder die Uhrzeit wahrzunehmen, die Himmelsrichtung oder die Uhrzeit erscheinen einem hier nicht in einer spezifischen Weise. Block räumt ein, daß Superblindsicht einen rein hypothetischen Fall darstellt, für dessen faktisches Auftreten bislang nicht die geringsten Anhaltspunkte existieren. Da reale Blindsichtige schnell begreifen, daß sie die Fähigkeit haben, Dinge mit Hilfe ihrer Augen zu erkennen, könnte man vielleicht erwarten, daß sie im Lauf der Zeit den Status einen Superblindsichtigen gewissermaßen durch eine Art Training erreichen können, indem sie erst durch andere forciert werden, sich dann schließlich selber forcieren, bis sie irgendwann spontan die richtigen Berichte und Handlungen zeigen werden. Doch die erzielten empirischen Resultate sind hier offenbar nicht wirklich ermutigend. Dies mag dafür sprechen, daß der Zusammenhang zwischen phänomenalem Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein zumindest im Fall der visuellen Wahrnehmung äußerst eng ist.321 Aber für Block kommt es, wie gesagt, nur auf die Möglichkeit einer begrifflichen Unterscheidung an, darauf, ob man sich Situa-
320 321
Vgl. S.167. Vgl. Block 1995a) S.242.
186
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
tionen, in denen Zugriff und phänomenales Bewußtsein auseinanderfallen, kohärenterweise denken kann. Der Superblindsichtige hat natürlich große Ähnlichkeit mit dem funktionalen Zombie, der sich ohne die Spur eines bewußten Erlebens völlig verhaltensunauffällig durch die Weltgeschichte bewegt. Entsprechend spricht Block hier auch von einem „partiellen Zombie".322 Der Unterschied zum „richtigen" Zombie besteht u.a. darin, daß der Superblindsichtige den Kontrast zwischen phänomenalem visuellem Erleben und seinem Ausfall kennt. Die deutliche Ähnlichkeit läßt jedoch erwarten, daß hier vergleichbare Widerstände zu erwarten sind wie im Fall des Zombies. Ist es wirklich eine sinnvolle Annahme, daß jemand, der z.B. ohne Mühe eine Zeitung lesen kann (einer Form von Zugriff auf visuelle Information), kein visuelles Erleben, kein phänomenales visuelles Bewußtsein hat? Würden wir jemandem, der erklärt, er habe einen blinden Bereich, der im Gegensatz zu seinem restlichen visuellen Feld kein visuelles Erleben zuläßt, obwohl er einen Zeitungsausschnitt, der in diesen Bereich fallt, genauso gut lesen kann wie im „phänomenal intakten" Bereich, überhaupt Glauben schenken wollen?323 Was hinter solchen Zweifeln steckt, ist natürlich wieder die bereits diskutierte Idee, daß sich genuine Wahrnehmung vor anderen Formen des Informationserwerbs v.a. durch die spezifische Reichhaltigkeit der gelieferten Information auszeichnet.324 Zieht man noch die anderen Qualifikationen für die Meinungstheorie hinzu, möchte man vielleicht sagen, daß jemand, der über seine Augen genügend Information zur unbeschwerten und spontanen Zeitungslektüre erhält, nicht mehr sinnvoll von einem Zeitungsleser mit normaler visueller bewußter Erfahrung unterschieden werden kann. Anderslautende Berichte seinerseits wären dann nicht mehr ernst zu nehmen. Der Superblindsichtige wäre dann als Beispiel für vollständigen visuellen Zugriff auf visuelle Information ohne bewußtes Erleben endgültig vom Tisch. Wenn unsere Kritik an der zweiten Implikation der Meinungstheorie im letzten Kapitel stichhaltig ist, dann können wir hier jedoch nicht mehr davon ausgehen, daß solch ein Superblindsichtiger keine kohärente Option darstellt, selbst wenn wir nicht den geringsten Anlaß haben, mit seinem realen Vorkommen zu rechnen. Hinzu kommt, daß schon in Fällen von normaler Blindsicht leicht denkbar scheint, daß die Betroffenen im blinden Bereich eine höhere Klassifikationsfähigkeit aufweisen als in dem Bereich, in dem sie nach eige322 323 324
Vgl. Block 1995a) S.233. Vgl. Dennett 1991 S.343f„ 1993a) S.152, 1995 S.253. Vgl. die Diskussion oben S.170ff.
Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein
187
nem Bekunden noch ein visuelles Erleben besitzen. Block verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, daß jemand im phänomenal bewußten Bereich so kurzsichtig sein kann, daß er dort nur einige vage Schatten phänomenal erlebt, während er im blinden Bereich die exakte Ausrichtung von Linien oder Gittern korrekt „erraten" kann.325 Und Weiskrantz sieht im Zusammenhang mit der Frage, ob Blindsicht einfach eine degradierte Form von visueller Wahrnehmung darstellt, Anlaß zu Zurückhaltung, weil er bei seinem Patienten „D B" folgendes beobachten konnte: Conditions can be found in which D Β can actually detect stimuli (gratings) better at a particular locus in his 'blind' field than he can in his intact good field. (Weiskrantz 1988 S.190) 326
Wenn dies möglich ist, dann reduziert sich der entscheidende Unterschied zwischen dem normalen Blindsichtigen und dem hypothetischen Superblindsichtigen wieder schlicht auf den Tatbestand, daß der eine einer Forcierung zum Raten bedarf und der andere nicht. Und warum soll es ausgerechnet an diesem Faktor liegen, daß der Superblindsichtige keine kohärente Option darstellt, wenn spontane Kenntnisse von Zeit- und Ortsverhältnissen auch kein phänomenales Erleben mit sich bringen müssen? Wie wir gleich sehen werden, hält Dennett noch weitere Einwände bereit. Doch zunächst zur Frage, inwieweit phänomenales Bewußtsein ohne Zugriffsbewußtsein denkbar ist.327
325
Vgl. Block 1995b) S.273. Daß sich dies bei DB so verhält, scheint aber nichts damit zu tun zu haben, daß er besonders kurzsichtig ist; Formen kann er wiederum besser im „phänomenal intakten" Bereich erkennen als im blinden Bereich (vgl. Weiskrantz a.a.O.). 327 Man könnte die These, daß sich phänomenales Erleben und Zugriff trennen lassen, auch in einer Weise bestreiten, die dazu führt, daß die isolierte Rede von Zugriffsbewußtsein als Bewußtsein nicht mehr korrekt ist. Man könnte die Auffassung vertreten, daß Zugriffsbewußtsein als wirkliche rationale Handlungs- und Sprachkontrolle gar nicht ohne phänomenales Erleben denkbar ist. Solch eine Überlegung könnte etwa folgende Gestalt annehmen: Damit z.B. eine sprachliche Äußerung mehr als ein bloßes Geräusch darstellt, muß sie letztlich Ausdruck eines phänomenal bewußten Gedankens sein. Was unseren Äußerungen und Handlungen erst einen Sinn gibt, ist die Tatsache, daß sie aus phänomenal bewußten Episoden hervorgehen. Daß unsere Außeningen und Gedanken etwas bedeuten, daß sie Intentionalität aufweisen, würde dann (u.a. oder sogar ausschließlich) davon abhängen, daß sie in geeigneten Beziehungen zu phänomenal bewußten Episoden stehen. Es spricht einiges dafür, daß solch ein Standpunkt in vielen traditionellen Auffassungen von der Natur geistiger Vorgänge angelegt ist, und auch Searles Auffassung, wonach Intentionalität letztlich vom bewußten Erleben abhängen soll, deutet in solch eine Richtung (vgl. Searle 1992 Kap. 7). Es dürfte klar sein, daß solch eine Auffassung für jemanden, der phänomenales Erleben auf eine Form des Zugriffs reduzieren will, völlig ungeeignet ist. Damit würde man gewissermaßen das Pferd von hinten aufzäumen. Wer also in allem Bewußtsein eine Form von Zugriff sehen möchte, der sollte zusätzlich noch über eine gesicherte Theorie der Intentionalität verfügen, die diese Möglichkeit definitiv ausschließt. Ob der verbreitete Optimismus in dieser Frage berechtigt ist oder nicht, kann hier jedoch nicht erörtert werden. 326
188
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein 5.1.2
Phänomenales Bewußtsein ohne Zugriffsbewußtsein
Da unser phänomenales Erleben so gut wie immer Eingang in unsere Meinungen und unsere rationale Handlungskontrolle findet, ist hier die Suche nach klaren Beispielen nicht ganz einfach. Entscheidend ist natürlich wieder die bloße Kohärenz der Annahme, aber auch hier lassen sich mit etwas gutem Willen empirische Evidenzen beibringen. Block verweist in diesem Zusammenhang zunächst auf die Möglichkeit neuronaler Evidenzen, wonach ein Teil des Gehirns für phänomenales Bewußtsein zuständig sein könnte, der andere hingegen für Zugriffsbewußtsein. Es wäre dann denkbar, daß lediglich der für das Zugriffsbewußtsein zuständige Teil zerstört wird, und das phänomenale Bewußtsein mit dem anderen Teil unbeschadet bestehen bleibt.328 Da dies schon als geklärt voraussetzt, wann wir von einem Wesen sagen sollen, es habe phänomenales Bewußtsein ohne Zugriffsbewußtsein, ist dieser Gesichtspunkt zur Etablierung der Unabhängigkeit der beiden Typen von Bewußtsein kaum brauchbar. Interessanter sind da schon die anderen Beispiele, die er ins Feld führt. Weitaus plausibler ist sein Verweis auf jene Fälle, in denen wir davon ausgehen müssen, daß der Gehalt unserer Erfahrung wesentlich reichhaltiger ist, als dies durch unser identifikatorisches Verhalten zum Ausdruck gebracht werden kann.329 Die Tatsache, daß der Gehalt unserer Wahrnehmungen den Rahmen unserer identifikatorischen Fähigkeiten sprengt, läßt sich so deuten, daß wir zumindest keinen vollständigen Zugriff auf diesen Gehalt haben. Wir nehmen zwar zahlreiche Farben, Muster, Klänge usw. wahr, sind aber nicht in der Lage, die entsprechende Information für unser klassifikatorisches Verhalten oder unsere Schlußfolgerungen auszubeuten. Wir haben zwar ein bestimmtes phänomenales Erlebnis, wenn wir ein Stück von Debussy hören, haben aber keinen vollständigen Zugriff auf den Inhalt unserer akustischen Erfahrung, weil wir nicht jeden Ton, jede Klangnuance identifizieren, für Schlußfolgerungen nutzbar machen und für Handlungs- und Sprachkontrolle in einer Weise einsetzen können, die die Reichhaltigkeit des Inhalts in voller Breite widerspiegelt. Doch wie sieht es mit Beispielen aus, in denen wir nicht nur ein „Teil" oder ein „Aspekt" eines phänomenal bewußten Zustandes unserem Zugriff entzogen ist, sondern der gesamte Gehalt des Zustande? Block bietet uns hier
328 329
Vgl. Block 1995a) S.233f. Vgl. dazu die Diskussion oben S.156ff. Block verweist in diesem Zusammenhang auf das oben diskutierte Experiment von Sperling (vgl. Block 1995a) S.243f.).
Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein
189
als Beispiel folgenden Fall an:330 Manchmal hört man den ganzen Tag ein Geräusch (z.B. einen Preßlufthammer auf der Straße). Erst nach Stunden mag einem jedoch in den Sinn kommen, daß dort schon die ganze Zeit solch ein Gerät in Betrieb ist. Erst dann wird einem das Geräusch, welches man die ganze Zeit schon gehört hat, zugriffsbewußt.331 Und erst dann wird man vielleicht eine Bemerkung über den Lärm machen, das Fenster schließen, zu dem Schluß kommen, daß die Straßenarbeiten immer noch nicht fertig sind u.dgl.m. Inwiefern läßt sich nun sagen, daß die akustische Wahrnehmung des Preßlufthammers die ganze Zeit zuvor wirklich phänomenal bewußt war? Der Schall mag irgendwelche nachweisbaren Spuren in unserem Nervensystem hinterlassen haben, doch welche Gewähr haben wir dafür, daß wir die ganze Zeit ein bewußtes Hörerlebnis hatten? Block beruft sich hier darauf, daß wir uns unmittelbar an die dauernde Präsenz des Lärms erinnern können, und appelliert ansonsten an introspektive Gewißheit.332 Wir sollten versuchen, etwas expliziter zu machen, worum es hier geht. Tatsache ist, daß es Situationen gibt, in denen wir nicht nur plötzlich den Eindruck haben, daß ein bestimmtes Geräusch präsent ist, sondern gleichzeitig auch den Eindruck, daß ein Geräusch dieser Art die ganze Zeit präsent gewesen ist. Wir nehmen dann nicht nur das aktuelle Geräusch wahr, sondern erinnern uns auch in ganz besonderer Weise daran, daß dieses Geräusch die ganze Zeit präsent gewesen ist. Und genau auf diese besondere Form der Erinnerung kommt es hier an, denn man kann auf ganz unterschiedliche Weise zu der Überzeugung gelangen, daß die ganze Zeit ein Geräusch dagewesen sein muß, welches man auch gehört haben muß. So kann man dies aus bestimmten Tatsachen erschließen, z.B. daraus, daß das Fenster die ganze Zeit offen war, daß die Straße seit heute morgen ein beträchtliches Stück weiter aufgerissen worden ist, was den pausenlosen Einsatz des Hammers erfordert usw. Aber das ist natürlich nicht der Fall, den Block hier im Auge hat, in dem man sich unmittelbar an das Geräusch erinnert, so wie man es gehört hat. Im gerade erwähnten Fall ist überhaupt keine Erinnerung an das gehörte Geräusch im Spiel, sondern bestenfalls Erinnerungen an den früheren Zustand der Straße usw.
330 331
332
Vgl. Block 1995a) S.234. Die Tatsache, daß man schon die ganze Zeit über sein Verhalten unwillkürlich an das Geräusch angepaßt hat, indem man etwa lauter spricht als gewöhnlich, läßt Block nicht als Evidenz für Zugriffsbewußtsein gelten, weil hier die inferentielle Promiskuität fehlt (vgl. Block 1995b) S.275). Würde man schon Verhalten dieser Art als eine Form von Zugriffsbewußtsein verstehen wollen, könnte man auch die unwillkürlichen Augenbewegungen eines Blindsichtigen in Richtung eines Stimulus im blinden Bereich als Zugriffsbewußtsein deuten. Vgl. Block 1995a) S.234.
190
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
Der erforderliche Typus von Erinnerung läßt sich auch nicht dadurch korrekt beschreiben, daß man ganz spontan, ohne weitere Überlegung eine wahre Meinung darüber hegt, daß es die ganze Zeit ein Geräusch der fraglichen Art gegeben hat. Es handelt sich hier nicht nur um eine korrekte Meinung über ein vergangenes Ereignis. Solch eine Meinung könnte z.B. dadurch zustande kommen, daß einem einfach der Gedanke durch den Kopf schießt, daß die ganze Zeit ein Preßlufthammer gehämmert hat. Tritt lediglich solch eine Gedanke auf, so wird man relativ gelassen der Möglichkeit ins Auge sehen, daß er falsch ist. Sollte sich herausstellen, daß immer, wenn man solch einen Gedanken hat, tatsächlich ein Geräusch dagewesen ist, dann wäre man vermutlich sogar ziemlich überrascht, daß man solch eine Fähigkeit hat. Man wird sich dies vielleicht damit erklären wollen, daß man das Geräusch gehört haben muß. Ganz anders in dem Fall, den Block im Auge hat: Wenn man sich unmittelbar daran erinnert, daß es schon die ganze Zeit ein Geräusch gab, dann ist man nicht so ohne weiteres offen dafür, ob da auch tatsächlich ein Geräusch gewesen ist. Vielmehr erwartet man, daß sich dies bestätigt, und wird entsprechend überrascht sein, wenn es sich anders herausstellen sollte. Man wird dann vielleicht sagen wollen: „Aber ich habe es doch deutlich gehört". Anders als in dem Fall, wo einem nur der Gedanke durch den Kopf geschossen ist, wird man hier keinen Erklärungsbedarf dafür sehen, warum es einem so vorkommen kann, daß ein Geräusch da war, wenn es tatsächlich eines gab. Man wird vielmehr Erklärungsbedarf verspüren, warum es einem so vorkommen konnte, daß ein Geräusch da war, wenn de facto Grabesstille herrschte. Kurz, wir müssen offenbar Situationen unterscheiden, in denen jemand einfach nur eine korrekte Überzeugimg über ein vergangenes Ereignis hat, und Situationen, in denen sich jemand auf eine Weise an etwas erinnert, die beinhaltet, daß es ihm in der Wahrnehmung unmittelbar erschienen ist. Und genau dies ist der Fall, der es erlaubt zu sagen, daß man zu dem Zeitpunkt, als einem der Gegenstand der Wahrnehmung entsprechend erschienen ist, einen phänomenal bewußten Wahrnehmungszustand hatte, der zu diesem Zeitpunkt in der Vergangenheit nicht zwangsläufig zugriffsbewußt sein mußte, auch wenn er später, durch die Erinnerung daran, zugriffsbewußt werden mag. Doch damit wird man sich vielleicht noch nicht zufrieden geben wollen: Einmal gegeben, man hatte tatsächlich die ganze Zeit phänomenales Bewußtsein von dem Lärm, ist wirklich klar, daß dieser nicht zugriffsbewußt war, auch wenn man vielleicht nie einen aktuellen Gedanken an solch ein Geräusch gehabt hat? Sollte es dafür, daß die fragliche akustische Wahrnehmung zugriffsbewußt ist, nicht schon ausreichen, daß der Betroffene, z.B. im Fall
Phänomenales Bewußtsein als Zugriffsbewußtsein
191
einer Nachfrage derart, ob die Bauarbeiten noch im Gange sind, mit ja geantwortet hätte?333 Allgemeiner ausgedrückt, sollte es für das Zugriffsbewußtsein eines Zustandes nicht schon ausreichen, daß man die Verfügbarkeit durch Zugriff dispositional versteht und nicht einfach auf den Fall beschränkt, in dem ein aktueller Gedanke an das Geräusch auftritt? Wird hier der Zugriffskonzeption nicht vielleicht ein zu enges Korsett angelegt, indem man sich auf explizite Gedanken kapriziert? Dieser Schwierigkeit kann Block allerdings mit dem Hinweis begegnen, daß eine dispositionale Auffassung von Zugriff dazu führen würde, daß viel zu viele Zustände, die nicht phänomenal bewußt sind, zugriffsbewußt sind, z.B. auch alle unsere mehr oder weniger „ruhenden" Meinungen, die so gut wie nie abgefragt werden, aber natürlich abgefragt werden könnten. Demnach müßten etwa unsere arithmetischen Meinungen („22+22=44" usw.) zugriffsbewußt sein, obwohl sie mit Sicherheit nicht phänomenal bewußt sind. Im Ergebnis wäre damit die Frage, ob phänomenales und Zugriffsbewußtsein auch nur koextensiv sind, trivialerweise negativ beantwortet. Die dispositionale Lesart des Zugriffs schwächt also nur unnötig die Position derjenigen, die auf einen engen Zusammenhang zwischen phänomenalem und Zugriffsbewußtsein aus sind.334 Wie wir gleich sehen werden, dürfte auch damit nicht jedes Unbehagen gegen dieses Beispiel ausgeräumt worden sein. Doch zunächst zu Blocks weiteren Beispielen. Danach soll ein Betrunkener (oder unter starken Drogen, Medikamenten stehender Mensch) phänomenal bewußte Wahrnehmungen seiner Umwelt bzw. phänomenal bewußte Halluzinationen haben können, ohne noch in der Lage zu sein, sich darüber zu äußern, Schlußfolgerungen auf sie aufzubauen, oder sie zur rationalen Handlungskontrolle zu gebrauchen.335 Ergänzend könnte man noch Leute anführen, die starke Schmerzen haben und (gegebenenfalls durch den Schmerz) derart paralysiert sind, daß sie nicht mehr zu dem Gedanken in der Lage sind, sie hätten Schmerzen, keine schmerzvermeidenden Handlungen mehr einleiten können usw. Es ist bekanntlich nichts Ungewöhnliches, daß Schmerzen unsere Handlungsabsichten wie unsere Konzentrationsfähigkeit konterkarieren können. Schmerzen können so stark sein, daß man zu keinem klaren Gedanken und keiner koordinierten Handlung mehr fähig ist. Natürlich ist es auch denkbar, daß ein Schmerz diesen Einfluß gerade auf jene Gedanken und Handlungsabsichten ausübt, die diesen Schmerz zum Gegenstand haben. Insofern scheint also die Erfahrung des Schmerzes den Zugriff auf diese Er333 334 335
In diese Richtung weist Church 1995 S.252. Vgl. Block 1995b) S.276f. Vgl. Block 1995b) S.274 sowie auch Bürge 1995 S.568.
192
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
fahrung vereiteln zu können. Nun mag man vielleicht fragen, woher man überhaupt wissen will, daß solche Situationen auftreten können. Natürlich werden auch hier wieder entsprechende Erinnerungen der Betroffenen an solche Situationen eine Rolle spielen. Außenstehenden wird das unwillkürliche Schmerzverhalten (Schreie usw.) einen Anhaltspunkt liefern. Dieses unwillkürliche Verhalten kommt aber kaum als Indiz für das Vorhandensein von Zugriffsbewußtsein in Frage, weil es keinen Teil unserer rationalen Sprachund Handlungskontrolle darstellt und sich auch nicht ohne weiteres als klassifikatorische Leistung gegenüber Zuständen des eigenen Körpers auffassen läßt. Wer keine kohärente Option darin sieht, daß man ohne Zugriff der erforderlichen Art furchtbare Schmerzen phänomenal bewußt erleben kann, sollte eigentlich nichts dagegen haben, daß man ihm in solch einer Situation Schmerzmittel verweigert. Gegeben, daß diese Schmerzmittel gravierende Nebenwirkungen haben oder extrem teuer sind, wäre es sogar rational, darauf zu bestehen, daß man sie nicht verabreicht bekommt. Doch wer wäre schon ernsthaft bereit, eine entsprechende Erklärung für den Ernstfall vorab zu unterschreiben? Die einzige rationale Basis, hier mit seiner Unterschrift zu zögern, besteht darin, daß man nicht ausschließen kann, in solch einer Situation ein phänomenales Erleben höchst unangenehmer Art zu haben.336 Wir wollen damit die Diskussion der Beispiele phänomenal bewußter Zustände ohne entsprechenden Zugriff beenden und uns einigen Einwänden von Dennett gegen die Unterscheidung zwischen phänomenalem Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein zuwenden sowie einigen Aspekten seiner positiven Konzeption von Bewußtsein. 336
Interessant in diesem Zusammenhang auch Blocks Verweis auf einige Indizien, wonach nicht sicher ausgeschlossen werden kann, daß man unter Vollnarkose Schmerzen verspüren kann (vgl. Block 1995a) S.244f.). Block gibt hier Hinweise von unterschiedlicher Aussagekraft, am interessantesten ist vielleicht das Phänomen der sogenannten „Aerodontalgie": Starke Luftdruckveränderungen (etwa in einem schlecht isolierten Flugzeug) können zu Reizungen der Nebenhöhlen und in Folge davon zu Empfindungen fuhren, welche die Betroffenen als Reaktivierung von Schmerzen anläßlich früherer Zahnbehandlungen einstufen. Im Anschluß an diese Beobachtung wurde folgender Versuch unternommen: Patienten wurden unter Vollnarkose gesetzt sowie auf einer Seite des Kiefers lokal anästhesiert, dann wurden ihnen auf beiden Seiten Zähne gezogen (Man möchte hier im Interesse der Betroffenen hoffen, daß wissenschaftlicher Forschungsdrang nicht der einzige Grund für diese Maßnahme war). Führte man nun später ähnliche Bedingungen herbei wie bei der Reizung der Nebenhöhlen durch Luftdruck, so ergab sich, daß es in den allein von Vollnarkose betroffenen Bereichen zu einer Reaktivierung der Schmerzen kam, nicht hingegen in den lokal anästhesierten Bereichen. Dies läßt es ebenfalls plausibel erscheinen, daß unter der Vollnarkose anders als unter der Lokalanästhesie phänomenal bewußter Schmerz vorhanden war, der zum Zeitpunkt der Vollnarkose allerdings nicht zugriffsbewußt war, sondern nur später wieder aktiviert werden kann. Vor die Wahl gestellt, welche Form der Betäubung man in solchen Situationen vorziehen soll, wird man sich nach Block deshalb wohl eher für die Lokalanästhesie entscheiden.
Dennetts Kritik an der Unterscheidung
5.2
193
Dennetts Kritik an der Unterscheidung
Dennett hat eine Reihe von unterschiedlichen Argumenten formuliert, die gegen eine strikte Unterscheidung zwischen phänomenalem Erleben und Zugriffsbewußtsein sprechen sollen. Die Palette reicht dabei vom Vorwurf der Inkohärenz über Thesen dahingehend, daß die Unterscheidung zu Konsequenzen führt, die keiner ernsthaft wollen kann, bis hin zu dem Vorschlag, daß alles, was uns glauben läßt, daß das phänomenale Erleben mehr als Zugriffsbewußtsein sei, Resultat einer selbstgeschaffenen Fiktion ist. Beginnen wollen wir mit dem Inkohärenzvorwurf. Daran anschließend wollen wir eine der Thesen betrachten, wonach die Unterscheidung zu unerwünschten Konsequenzen führen soll. Diese These liefert auch eines der Motive für seine positive Konzeption, die wir im Anschluß - allerdings nur knapp - charakterisieren wollen. Im nächsten Schritt soll der Inkohärenzvorwurf geprüft und der Frage nach der Plausibilität der grundsätzlichen Züge von Dennetts Position nachgegangen werden, um uns dann seiner These zuzuwenden, daß unser Erleben mindestens teilweise auf einer Fiktion beruht. Beschließen wollen wir das Kapitel mit der kritischen Diskussion von Dennetts Auffassung, wonach sich jede Suche nach einem neuronalen Korrelat des Bewußtseins, die das Kernstück seiner eigenen Auffassung ignoriert, einer grundlegenden logischen Schwierigkeit gegenüber sieht und zu s.E. unplausiblen Konsequenzen führt. In diesem Zusammenhang sollen einige „programmatische" Behauptungen dazu aufgestellt werden, wie eine empirische Bewußtseinsforschung aussehen könnte, die sich nicht an Dennetts Vorgaben orientiert.
5.2.1
Die These von der Inkohärenz
Nach Dennett ist der von Block unternommene Versuch einer strikten Unterscheidung zwischen phänomenalem Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein u.a. deshalb aussichtslos, weil er inkohärent sein soll. Wie kommt er zu dieser Behauptung? Lassen wir ihn selber sprechen: He [d.i. Block] cannot provide clear examples of Α-consciousness without Pconsciousness or P-consciousness without Α-consciousness, and although he claims that both are 'conceptually possible', it is unclear what this comes to. Moreover, if these two sorts of consciousness are conceptually independent, as Block insists, then he is not entitled to several claims he makes about P-consciousness. Consider for example his discussion of the phenomenon in which the solution to a difficult problem suddenly comes to you without conscious thought [vgl. dazu oben Fn.318]. He surmises that the 'high-level reasoning processes' by which you solve
194
Phänomenales Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein
such a problem are not P-conscious (in addition to not being Α-conscious). How does he know this? How could he know this, or even deem this more probable than not? He notes - but is apparently not embarrassed by - a similar problem with his account of blindsight. 'Note that the claim that P-consciousness is missing in blindsight is just an assumption. I decided to take the blindsight patient's word for his lack of P-consciousness stimuli in the blind field' (sect. 6, para. 21). But taking the subject's word is using the best criterion for Α-consciousness as one's sole evidence of P-consciousness. Block himself demonstrates thereby that the very idea of a sort of consciousness independent of access is incoherent. (Dennett 1995 S.252f.)
Was den letzten Punkt betrifft, so übersieht Dennett hier offenbar folgendes: Block unterstellt die Annahme, daß Blindsichtigen ein Typ von phänomenalem Bewußtsein abgeht, in erster Linie, um der Position, die er kritisieren will, möglichst viel Anfangsplausibilität zu verleihen.337 Blindsicht gibt selbstredend nur dann ein Indiz dafür ab, daß phänomenales Bewußtsein die Funktion hat, jene Form von Zugriff zu gewährleisten, die Blindsichtigen fehlt, wenn man voraussetzt, daß Blindsichtige kein phänomenales Bewußtsein der fraglichen Art besitzen. Dennoch bleibt die Frage, ob Dennett hier nicht auf einen wunden Punkt hingewiesen hat. Wenn hier wie bei Block mit dem hypothetischen Fall des Superblindsichtigen als Beispiel für Zugriff ohne phänomenales Erleben operiert wurde, dann steckt dahinter natürlich gleichfalls die Voraussetzung, daß die Bekundungen des Superblindsichtigen über mangelndes phänomenales Bewußtsein zutreffend sind. Und wenn wir schon in solch hypothetischen Beispielen implizit davon Gebrauch machen, daß die Anwesenheit von phänomenalem Bewußtsein nicht ohne Konsequenzen für die Berichte der Betroffenen (also eine Form von Zugriff) sein wird, ist die bloße Idee von phänomenalem Bewußtsein ohne Zugriff damit nicht tatsächlich inkohärent? Bevor wir uns mit dieser Frage näher beschäftigen, wollen wir noch ein anderes Motiv von Dennett aufgreifen, wonach eine strikte Unterscheidung zwischen phänomenalem Bewußtsein und Zugriffsbewußtsein nur zu unerwünschten Konsequenzen führen kann. Dieses Motiv soll uns auch zu einem wichtigen Element von Dennetts eigener Position führen, welches er als „Operationalismus der ersten Person" bezeichnet.
337
Vgl. Blocks entsprechende Bemerkung zwei Sätze nach der von Dennett zitierten Passage (Block 1995 a) S.242).
Dennetts Kritik an der Unterscheidung 5.2.2
195
Eine Skizze von Dennetts positivem Bewußtseinskonzept
Nehmen wir einmal an, phänomenales Bewußtsein kann ohne jeglichen Zugriff auftreten. Dies bedeutet, daß jemand in phänomenal bewußten Zuständen sein kann, ohne daß er der Meinung ist, daß dasjenige der Fall ist, was der Gehalt der fraglichen Zustände suggeriert. Es bedeutet ferner, daß er auch nicht der Meinung sein wird, daß er Zustände der und der Art hat. Dies scheint jedoch unweigerlich darauf hinauszulaufen, daß er in phänomenal bewußten Zuständen sein kann, ohne von ihrem Vorliegen zu wissen; denn Wissen beinhaltet zumindest eine entsprechende Meinung. Könnte es also sein, daß man zahllose phänomenal bewußte Zustände besitzt, von denen man nie und nimmer etwas weiß? Könnte es dann nicht sein, daß all die angeblich unbewußten inferentiellen Zwischenschritte in unseren Überlegungen nicht sehr wohl phänomenal bewußt sind, wir es nur nicht wissen, oder schlimmer noch, müßten wir nicht sogar damit rechnen, daß uns unser ganzes Leben lang ein schrecklicher Schmerz begleitet, wir nur nichts davon wissen? Und wäre das nicht schlicht eine absurde Konsequenz, die auch niemand wollen kann, der die Perspektive der ersten Person im Blick auf das Bewußtsein für maßgeblich hält? Dies ist offenbar einer der Gründe, warum wir nach Dennetts Auffassung im Blick auf Bewußtsein einen