Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikarierens von Strafe und Maßregel: Eine Untersuchung auf der Grundlage des § 67 StGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969 [1 ed.] 9783428426515, 9783428026517


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German Pages 180 Year 1972

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Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikarierens von Strafe und Maßregel: Eine Untersuchung auf der Grundlage des § 67 StGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969 [1 ed.]
 9783428426515, 9783428026517

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HELMUT MARQUARDT

Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maßregel

KRIMINOLOGISCHE FORSCHUNGEN Herausgegeben von Professor Dr. Hellmuth Mayer

Band 9

Dogmatische und kriminologische Aspekte des Vikariierens von Strafe und Maliregel Eine Untersuchung auf der Grundlage des § 67 StGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969

Von

Dr. jur. Helmut Marquardt

DUNCKER &

HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berl!n 41 Gedruckt 1972 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

© 1972 Duncker

ISBN 3 428 02651 9

Dem Gedächtnis meines Freundes cand. jur. Martin Mammel

Vorwort Die Arbeit hat im Sommersemester 1970 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel als Dissertation vorgelegen. Sehr herzlich danke ich Frau Professor Dr. Hilde Kaufmann für die Überlassung des Themas und für die stets verständnisvolle Förderung der Arbeit, den Kollegen am Kriminologischen Seminar der ChristianAlbrechts-Universität für die ständige Bereitschaft zur Diskussion und für mancherlei sonstige Hilfe, sowie Herrn Prof. Dr. Hellmuth Mayer für die großzügige Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebenen "Kriminologischen Forschungen". Helmut Marquardt

lnhaltsverzeichn is Einleitung I. Die Aufgabenstellung der Untersuchung II. Das Material und die Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 18

19

ERSTER TEIL Das Prinzip des Vikariierens als strafrechts· dogmatisches und kriminalpolitisches Problem I. Das Prinzip der Zweispurigkeit und seine Verwirklichung im gel-

21

tenden Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Der Grundsatz der Tatschuldstrafe und seine Reichweite . . . . . .

22

a) Die Limitierungsfunktion der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

b) Strafe als notwendige Folge von Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

2. Die (freiheitsentziehenden) Maßregeln. Voraussetzungen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Die Reichweite des Prinzips der Zweispurigkeit . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Der Grundsatz des Vikariierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Die Ausgestaltung im Gesetz (§ 67 i. d. F. des 2. StrRG) . . . . . . . . 34 2. Die Grundgedanken der gesetzlichen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . 35

III. Die Einwände gegen das Vikariieren und seine Regelung im Gesetz 36 1. Die strafrechtsdogmatischen Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

a) Widerspruch im System der Rechtsfolgen? . . . . . . . . . . . . . . . .

36

b) Verletzung des Schuldprinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

c) Unzulässige Übertragung von Straffunktionen auf die Maßregel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Die sonstigen Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

a) Ist die vikariierende Lösung ungerecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 aa) Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 GG? . . . . . . . . . . . . . . . .

45

bb) Verstoß gegen das allgemeine Gerechtigkeitsprinzip (Artikel 20 GG)? .. .. .. . .. . . .. . .. .. .. .. . .. .. .. . .. .. .. . 55

Inhaltsverzeichnis

10

cc) Das Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Begünstigt die vikariierende Lösung die gefährlichen Täter? 57 c) Das mangelnde Verständnis der Öffentlichkeit für die vikariierende Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 d) Die Bewährung der Vikariierungsregeln in der richterlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 ZWEITER TEIL Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

61 61

Vorbemerkung Erster Abschnitt

Die mit Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt belegte Tätergruppe

63

A. Die Kriminalität nach Ausmaß und Erscheinungsform . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I. Anlaßtat und Anlaßstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Die Anlaßtaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

a) Die Zahl der von der Gesamttätergruppe begangenen Taten 64 b) Die Deliktsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 c) Die Modalitäten der Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

aa) Tatgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

bb) Die Betätigungsrichtung und die dabei entfaltete kriminelle Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a 1) Diebstahlsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

a 2) Betrugsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a 3) Körperverletzungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

a 4) Widerstand gegen die Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . 71 a 5) Hausfriedensbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a 6) Die im Vollrausch begangenen Taten . . . . . . . . . . . . . .

72

2. Die neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen (Anlaßstrafen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Die Vorbestraftheit der Tätergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Die Vorstrafen der Täter .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .

77

2. Die neben den Vorstrafen angeordneten Maßregeln . . . . . . . . . . 78 3. Art und Anzahl der von den Probanden begangenen Vortaten 79

Inhaltsverzeichnis

11

B. Das Persönlichkeitsbild der nach § 42 c verurteilten Täter . . . . . . . . . . . . 81 I. Geschlecht, Alter und Kriminalitätsbeginn der Probanden . . . . . . 81 1. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

2. Das Alter zur Zeit der Verurteilung nach § 42 c . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Der Beginn der kriminellen Laufbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 li. Merkmale und Besonderheiten der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

82

1. Körperliche AuffäHigkeiten und Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . .

82

2. Die geistig-seelischen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 a) Geisteskrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 b) Intelligenzdefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) Die Persönlichkeitsstruktur der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . 83 III. Die Entwicklungsbedingungen der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Die eigene Entwicklung der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Ausbildung und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Schulbildung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

b) Berufsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Die unmittelbar vor der Einweisung ausgeübte Tätigkeit . . . . . . 89 3. Der Familienstand und die familiären Verhältnisse der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Der Familienstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

b) Die familiären Verhältnisse der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . .

90

Zweiter Abschnitt

Die naclt § 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe

92

A. Die Kriminalität nach Ausmaß und Erscheinungsform . . . . . . . . . . . . . . . .

92

I. Anlaßtat und Anlaßstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

1. Die Anlaßtaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

a) Die Zahl der Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Die Art der Taten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

c) Die Modalitäten der Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 aa) Tatgenossenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Die Betätigungsrichtung und die dabei entfaltete kriminelle Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a 1) Die Sittlichkeitsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a 2) Die Vermögensdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

12

Inhaltsverzeichnis a 3) Die sonstigen Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Die neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen (Anlaßstrafen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II. Die Vorbestraftheit der Tätergruppe ........ . ................. .. 104 1. Die Vorstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

2. Die neben den Vorstrafen angeordneten Maßregeln .......... 105 3. Die Vortaten ................................................ 105 B. Das Persönlichkeitsbild der nach § 42 b verurteilten Probanden . . . . . . 108 I. Geschlecht und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Das Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

2. Das Alter zur Zeit der Verurteilung nach § 42 b StGB ..... .. . 108 3. Der Beginn der kriminellen Laufbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Merkmale und Besonderheiten der Persönlichkeit der Probanden 109 1. Körperliche Auffälligkeiten und Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . 110

2. Die geistig-seelischen Merkmale ..... .. ..................... 111 a) Die Geisteskrankheiten ............ .. ................. . .. 111 b) Die Intelligenzdefekte .............. .. ... .. ... . . .... .. . . .. 111 c) Die Persönlichkeitsstruktur der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Die Entwicklungsbedingungen der Probanden ............ .. .... 114 1. lierkunft der Probanden ............ .. ................ ... ... 114 a) lierkunft nach Ehelichkeit und Unehelichkeit . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Die soziale lierkunft ............. . .......... . ............. 114 aa) Die Berufe der Väter der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 bb) Die Familiengröße .. . .. . . . .. . . . .. . .. .. .. . .. .. . .. . . .. .. 115 2. Die Erziehungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Unvollständige oder fehlende Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Belastung des Erziehungsmilieus durch negative Eigenschaften der Eltern und Erziehungspersonen ....... . .......... 117 IV. Die eigene Entwicklung der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Ausbildung und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

a) Schulausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Berufsausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Die unmittelbar vor der Einweisung ausgeübte Tätigkeit . . . . 120 3. Der Familienstand und die Familienverhältnisse der Probanden 121

Inhaltsverzeichnis

13

DRITTER TEIL Das Untersuchungsergebnis und seine Folgerungen

123

Erster Abschnitt Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung und die Folgerungen für das vikariierende System

123

A. Die gegen die Einführung des Vikariierungsprinzips erhobenen Bedenken ....... .. . . .......... . .................. . .. . .. . . ... . . . . . .. .. 123 I. Die angebliche Begünstigung gefährlicher Tätergruppen . . . . . . . . 123 1. Die Gruppe der nach § 42 c StGB a. F. verurteilten Probanden 123 a) Das Ausmaß der Gefährlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Das Ausmaß der Begünstigung . .. . .. . . . ........ .. ........ . 129 2. Die Gruppe der nach § 42 b StGB a. F. verurteilten Probanden 135 a) Das Ausmaß der Gefährlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Das Ausmaß der Begünstigung . . . .. . .. .. . .. .. .. ... . .. ..... 142 II. Die Sorge um die Bewährung der Rechtsordnung und um das mangelnde Verständnis der Öffentlichkeit .. ............... . .... 143 B. Die Problematik der Schuldgrößenbestimmung . ..................... 146 C. Der Wegfall der faktischen Doppelbestrafung . . ... . .... .. . . ... . . . .. .. 147 D. Das Vikariieren von Strafe und Sozialtherapeutischer Anstalt . . . . . . . . 149 I. Die Gefährlichkeit des Täterkreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

II. Die Begünstigung des Täterkreises durch das Vikariieren . . . . . . . . 153 Ill. Das Ergebnis

155

Zweiter Abschnitt Die voraussichtliche Bewährung der Vikariierungsregeln in der richterlichen Praxis A. Die Entscheidung über das Vikariieren im Erkenntnisverfahren

157 157

I. Das Problem der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Die Möglichkeit der Durchbrechung des Vikariierungsgrundsatzes (§ 67 Abs. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 B. Die Entscheidung über das Vikariieren im Vollstreckungsverfahren .. 162 I. Die Regelung des § 67 Abs. 3 und 5 im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . 162

II. Einzelne Zweifelsfragen .. . ............................. ... ... .. 163 C. Zusammenfassendes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Scblußwort

169

Literaturverzeichnis

171

Abkürzungsverzeichnis (Die verwendeten Abkürzungen entsprechen dem "Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache auf der Grundlage der für den Bundesgerichtshof geltenden Abkürzungsregeln" bearbeitet von Dr. H. Kirchner. Soweit im Text andere als die dort angeführten Abkürzungen gebraucht werden, sind diese im folgenden nur insoweit erläutert, als dies zum besseren Verständnis erforderlich erscheint.) AE BK E

GT HWBKrim. Mat. MoKrim NS o.ä. Pb., Prob. Prot. IV, V RdNr. SC.

SchwZStR StrafR StrRG ZStrafVollz

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches Allgemeiner Teil (vorgelegt von J. Baumann u. a .) 2. Aufl. Tübingen 1969 Bonner Kommentar, Harnburg 1950 ff. Entwurf Geschlechtsteil Handwörterbuch der Kriminologie Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 1 ff., Bonn 1954 ff. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 36 ff. (1953 ff.) Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Bd. 1 ff., Bonn 1956 ff. oder ähnlich(e) Proband Beratungen des Sonderausschusses des Deutschen Bundestags für die Strafrechtsreform, 4. Wahlperiode, 5. Wahlperiode Randnummer scilicet Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 9 ff. (1896 ff.) Strafrecht Strafrechtsreformgesetz (1. StrRG v. 25. 6. 1969, BGBl. I, S. 645 ff.; 2. StrRG v. 4. 7. 1969, BGBl. I, S. 717 ff.) Zeitschrift für Strafvollzug 1 ff. (1950 ff.)

Einleitung Mit dem am 1. 10. 1973 in Kraft tretenden Zweiten Gesetz zur Reform des Strafrechts findet eine Entwicklung ihren - zumindest vorläufigen - Abschluß, die unter anderem gekennzeichnet ist durch das Ringen um eine kriminalpolitisch wirkungsvollere Ausgestaltung des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems. Grob betrachtet besteht das Ergebnis dieser Entwicklung in der verstärkten Individualisierung der Rechtsfolgen unter gleichzeitiger Beschränkung des Anwendungsbereichs der (vor allem kurzfristigen) Freiheitsstrafen, sowie dem Ausbau und der Verfeinerung des überkommenen Maßregelkatalogs. Gespeist wurde diese Entwicklung aus den unterschiedlichsten Quellen. Von Anfang an und bis in die letzte Phase des Gesetzgebungsverfahrens war die Frage nach Funktion und Rechtfertigung der staatlichen Strafgewalt, nach Sinn und Zweck der Strafe, nach der ethischen Rechtfertigung der bessernden und sichernden Maßregeln einer der Schwerpunkte der kriminalpolitischen Reformdiskussion. Entsprechend der aus den verschiedensten dogmatischen, rechtsphilosophischen und kriminologischen Erkenntnissen und Überzeugungen gespeisten Vielfalt ihrer Ausgangspositionen war der Bogen der Forderungen der Reformer an den Gesetzgeber weitgespannt. Der Gesetzgeber selbst sah - unterstützt vom überwiegenden Teil des strafrechtlichen Schrifttums - den Ausweg aus der Vielfalt der widerstreitenden Meinungen erneut in der Beibehaltung des zweispurigen Systems, wie es im Kern bereits 1893 von Carl Stooss im Vorentwurf zum schweizerischen StGB entwickelt wurde. Es erschien ihm als das noch immer am besten geeignete Instrument, um den repressiven und präventiven Aufgaben des Strafrechts gleichermaßen Rechnung zu tragen. Um die insbesondere aus der gleichzeitigen Anordnung von Strafe und Maßregel und deren kumulativem Vollzug sich ergebenden Nachteile dieses Systems wenigstens teilweise auszuräumen, entschloß sich der Gesetzgeber zu einer Modifizierung des Zweispurigkeitsprinzips. Sah das geltende Recht hier in § 456 b StPO grundsätzlich den Vorwegvollzug der Strafe vor der Maßregel vor, so gilt nunmehr der Grundsatz des sogenannten obligatorischen Vikariierens: Mit Ausnahme der Sicherungsverwahrung sind die freiheitsentziehenden Maßregeln grundsätzlich vor der Strafe zu vollziehen, die Zeit ihres Vollzugs ist auf die Strafe anzurechnen1 . 1

Vgl. § 67 i. d. F. des Art. 1 des 2. StrRG vom 4. Juli 1969, BGBl. 1969, I,

s. 729.

16

Einleitung

Mit der Kompromißlösung des Vikariierens ist der Gesetzgeber in der Sache jenen Kritikern entgegengekommen, die gegen das System eines zweispurigen Kriminalrechts mit dem Nebeneinander von Strafen und freiheitsentziehenden Maßregeln aus kriminalpolitischen und verfassungsrechtlichen Gründen Bedenken tragen. Einer der entschiedensten Kritiker des Zweispurigkeitsprinzips ist seit jeher Hellmuth Mayer2 • In seiner Schrift "Strafrechtsreform für heute und morgen" hat er im Wege einer kritischen Auseinandersetzung mit dem amtlichen Entwurf 1960 seinen Standpunkt noch einmal umfassend begründet und zugleich den Weg zur Überwindung des herrschenden dualistischen Systems aufgezeigt. Sein Vorschlag gipfelt in der Herauslösung jener freiheitsentziehenden Maßregeln aus dem Strafrecht, die - wie die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt und in einer Trinkerheilanstalt - als "personenrechtliche Fürsorgemaßnahmen" in ihrem Wesensgehalt nicht eine Beeinträchtigung der rechtlichen Freiheit des Betroffenen bewirken, sondern echte "Rechtswohltaten" darstellen; als solche aber gehören sie nicht in den Zuständigkeitsbereich der Strafrechtspflege, sondern haben ihren Platz in einem umfassenden System der sozialen Hilfe, wie es in dem geltenden Wohlfahrtsrecht bereits für weite Gebiete Gestalt gewonnen hat3 • Die Grundgedanken dieser Konzeption können auf weite Strecken als unangefochten gelten; sie bilden die gemeinsame Grundlage für die Reformbemühungen der jüngsten Zeit: sie beinhalten die Forderung nach einer quantitativen Beschränkung des Strafrechts und des Anwendungsbereichs der Freiheitsstrafe, nach stärkerer rechtsstaatlieber Sicherung des Straffälligen, nach Achtung seines Eigenwerts gegenüber dem Gedanken eines kollektiven Nutzens, nach möglichster Vermeidung der depersonalisierenden Wirkungen des staatlichen Eingriffs, nach wirksamer Hilfe für den Sozialschwachen, der straffällig geworden ist. Die Wege, die Hellmuth Mayer für die Verwirklichung dieser Forderungen vorschlägt, sind andere, als die Entwürfe und das Reformgesetz sie gegangen sind. Ausgangspunkt ist für ihn die Erkenntnis, daß es Menschen gibt, die zu freier Selbstverantwortung nicht fähig sind und die gleichsam zur Freiheit verurteilt werden, wenn man sie dem gleichen Personenrecht unterwirft, das für den gesunden Durchschnitt gilt4 • Wer aus irgendwelchen Gründen unfähig ist, die nor2 StrafR I §§ 13-17 (S. 133-160); StrafR II, S. 36 f., S. 389 ff.; StuB, S.169 ff., S. 179 ff.; Strafrechtsrefonn, S. 43 f., S.ll9 ff.; Der Wanderer 1963, S.17 ff. a Strafrechtsreform, S. 165 ff.; StuB, S. 29, S. 170. 4 Strafrechtsreform, S. 43.

Einleitung

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malen sozialen Aufgaben zu erfüllen, ist hilfsbedürftig und bedarf der fürsorgenden Aufsicht, um nach dem Maß seiner Fähigkeiten sein Leben vernünftig gestalten zu können5 • Auch wenn er straffällig geworden ist, muß die ihn treffende Sanktion anders als durch den Gedanken des kollektiven Nutzens gerechtfertigt sein; jede auf bloße Prävention abgestellte Maßregel mißbraucht den Straffälligen in unzulässiger Weise als bloßes Mittel zum Schutz der Gesellschaft6 • Soweit der Straftäter als freier und verantwortlicher Mensch gehandelt hat, ist die auf den Gedanken der gerechten, sühnenden Vergeltung gegründete Strafe die einzig legitime Form unmittelbaren staatlichen Zwanges, weil sie allein den Täter in seinem Eigenwert anerkennt und es vermeidet, ihn zum Mittel für staatliche Zwecke zu erniedrigen7 • Wo der Täter dagegen der inneren, von sittlicher Selbstbestimmung gelenkten Freiheit nicht hinreichend mächtig und deshalb unfähig ist, sich von den Normen des Gemeinschaftslebens leiten zu lassen, hat er Anspruch auf die Hilfe der Gesellschaft, die losgelöst von kriminalpolitischen Zweckerwägungen geleistet werden muß. Der Gesetzgeber hat sich diesen Gedanken nicht angeschlossen. Die Ansicht, daß "Störungen oder Gefahren, die von gefährdeten, sozial hilflosen oder auch im eigentlichen Sinne gefährlichen Personen ausgehen und zugleich Gefahren für diese Personen selbst mit sich bringen, nur im Wege fürsorgender Tätigkeit von Staat und Gesellschaft behoben oder gebannt werden" können und daß es "auch für den Schutz der Allgemeinheit keinen besseren Weg (gibt) als den der Fürsorge" 8 , hatte im gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Chance einer legislatorischen Verwirklichung. Sozialschwache Täter, die- aus welchen Gründen immer - den äußeren Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht haben, fallen auch weiterhin in den Aufgabenbereich der Strafrechtspflege und unterliegen Maßregeln, die zumindest formell als strafrechtliche zu qualifizieren sind, auch wenn sie ihrem Wesen nach fürsorgerechtliehen Charakter haben. Der Gedanke freilich, daß der sozialschwache und gefährdete Straftäter vor allem andern der Hilfe bedarf, um jene Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, die ihm ein selbstverantwortliches Leben in der menschlichen Gemeinschaft erst ermöglichen, hat in dem Institut des Vikariierens eine im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand entscheidende Ausdehnung erfahren: es beinhaltet den Verzicht auf den Vollzug von Strafe, wo den Täter belastende körperliche oder s Strafrechtsreform, S. 43. 6 Strafrechtsreform, S. 42. 7 Strafrechtsreform, S. 42; StrafR II, S. 32; StuB, S. 26 ff.; vgl. ferner: Kant, Hegel und das Strafrecht a.a.O., S. 54 ff. s Strafrechtsreform, S. 127; StuB, S. 180. 2 Marquardt

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Einleitung

geistige Mängel nur im Wege medizinischer oder therapeutischer Hilfe beseitigt werden können. Gemessen an den Forderungen Hellmuth Mayers erscheint diese Neuerung als ein relativ bescheidender Reformschritt. Aber selbst als solcher fand er im strafrechtlichen Schrifttum keineswegs einhellige Zustimmung. In der folgenden Untersuchung soll die Diskussion um die Überwindung des dualistischen Systems der strafrechtlichen Rechtsfolgen und die Frage der Legitimierbarkeit der präventiven Maßregeln nicht aufgenommen werden. Die Abhandlung legt deshalb das vom Gesetzgeber gewählte zweispurige System von Strafen und Maßregeln zugrunde und untersucht die aus der Einführung des Vikariierungsprinzips sich ergebenden Probleme mit den Mitteln systemimmanenter Kritik. Die Reform des Strafrechts freilich wird an dem jetzt erreichten Punkt kaum stehenbleiben und sie wird sich zu späterer Zeit mit der Fragwürdigkeit des zweispurigen Rechtsfolgensystems erneut auseinandersetzen müssen. I. Die Aufgabenstellung der Untersuchung Die vorliegende Arbeit will versuchen, den dogmatischen Zusammenhängen nachzuspüren und die praktischen Folgerungen aufzuzeigen, die sich a'Us der Neuregelung des Gesetzes durch die Geltung des Vikariierungsgrundsatzes ergeben. Dabei steht nicht so sehr eine ins einzelne gehende theoretische Erörterung im Vordergrund; ebenso wichtig erschien eine Darstellung der kriminologischen Fakten, die der gesetzlichen Regelung vorgegeben sind und deren fehlende Kenntnis sich bei den Erörterungen der Großen Strafrechtskommission und des Sonderausschusses vielfach als nachteilig erwiesen hat. Auch die an der Neuregelung geübte Kritik ist weithin durch die ungenügende Berücksichtigung dieser Fakten gekennzeichnet. Diese Fakten sind bekannt und lassen sich ermitteln für die Tätergruppen, deren Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder in einer Psychiatrischen Krankenanstalt in Frage steht9 • Sie bilden den Schwerpunkt der folgenden Darstellung. Da durch die Neufassung des Strafgesetzbuches die Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung in einer "Entziehungsanstalt" (§ 64 StGB n. F.) oder in einer 9 Nach Aufhebung der Bestimmung über das Arbeitshaus durch das Erste StrRG (BGBl 1969 I, S. 445 ff., 649) und angesichts des Fehlens von kriminologisch relevanten Daten über die Insassen von sozial-therapeutischen Anstalten war für die empirische Untersuchung eine Beschränkung auf die genannten Maßnahmen geboten. Die ebenfalls diskutierte Frage, ob nicht auch die Sicherungsverwahrung in die Regelung des obligatorischen Vikariierens einbezogen werden solle, wird hier ausgeklammert. Sie stellt eine von der vorliegenden Fragestellung abweichende Problematik dar.

11. Das Material und die Untersuchungsmethode

19

"Psychiatrischen Krankenanstalt" (§ 63 StGB n. F.) nicht wesentlich geändert wurden10, dürfte der Kreis der Täter, auf den die Vikariierungsregeln zur Anwendung kommen, dem hier untersuchten Täterkreis im wesentlichen gleichen. An ihm lassen sich deshalb auch am ehesten die möglichen Auswirkungen des Vikariierungsgrundsatzes aufzeigen. Die Darstellung beginnt mit einer Erörterung der strafrechtsdogmatischen Problematik des Vikariierungsprinzips und seiner gesetzlichen Ausgestaltung. Im anschließenden zweiten Teil folgt sodann ein Überblick über Ausmaß und Erscheinungsform der Kriminalität der Untersuchungsgruppen, sowie über die Persönlichkeit der Täter. Die dabei ermittelten Daten sollen Aufschluß geben über die praktischen Auswirkungen der neuen Bestimmung; sie sollen ferner dazu dienen, die bestehenden Zweifel an der kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit und der rechtlichen Unbedenklichkeit des Vikariierens zu beseitigen. Ihre Kenntnis soll schließlich Kriterien vermitteln für eine möglichst sachgerechte Anwendung des § 67 in der richterlichen Praxis. Das Ergebnis dieser Untersuchung bildet den Inhalt des abschließenden dritten Teils der Arbeit. II. Das Material und die Untersuchungsmethode Um festzustellen, wie der Täterkreis beschaffen ist, der für eine gleichzeitige Anordnung von Strafe und einer der genannten Maßregeln in Betracht kommt, wurden in den Landgerichtsbezirken Bonn, Hannover und Kiel insgesamt 156 Strafakten derjenigen Täter ausgewertet, die in den Jahren 1950 (bzw. 1955) bis 196511 zugleich mit Strafe und mit einer Maßregel gemäß § 42 b StGB (Heil- oder Pfl.egeanstalt) oder gemäß § 42 c (Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt) belegt wurden. Das Untersuchungsmaterial verteilt sich auf die einzelnen Landgerichtsbezirke wie folgt: Landgerichtsbezirk Bonn: 57 Strafakten (davon Verurteilungen gemäß § 42 b: 20 § 42 c:

37)

§ 42 c:

13)

Landgerichtsbezirk Hannover: 45 Strafakten (davon Verurteilungen gemäß § 42 b: 32 Landgerichtsbezirk Kiel: 54 Strafakten (davon Verurteilungen gemäß § 42 b: 26 § 42 c: 28) to Vgl. §§ 62, 63, 64 StGB n. F. Danach werden die Voraussetzungen für die Anordnung einer Maßregel gegenüber dem bisherigen Rechtszustand zwar enger gefaßt, doch tritt dadurch im Hauptanwendungsbereich der bisherigen Vorschriften keine Veränderung ein. 11 Im Landgerichtsbezirk Hannover waren die Akten der Jahre vor 1955 2•

20

Einleitung

Die Zahl der für die Untersuchung ausgewerteten Akten entspricht dabei nicht der Zahl der Verurteilungen. In den Landgerichtsbezirken Bonn und Kiel war ein Teil der anhand des Registers ermittelten Akten nicht greifbar; teils waren die Akten versandt, teils im Geschäftsgang, teils unauffindbar12 • Auf diese fehlenden Akten konnte für die Untersuchung ohne Nachteil verzichtet werden: das für die Auswertung verbliebene Aktenmaterial stellt eine unausgelesene Stichprobe aus dem Gesamtmaterial dar, ihr Inhalt darf noch als repräsentativ für die gesamte Tätergruppe angesehen werden. Die Untersuchungsmethode ist die bei vergleichbaren Aktenuntersuchungen übliche: Mittels eines vor Beginn der Erhebung angelegten Fragebogens wurden aus jeder Akte die wesentlichen Daten über den Täter und die der Verurteilung zugrunde liegende Tat ermittelt; herangezogen wurden dafür vor allem Strafregisterauszug, Urteil, Gutachten (soweit vorhanden) und Vollstreckungsheft. Die ermittelten Daten wurden dabei jeweils in Tabellen zusammengestellt und aus diesen sodann die einzelnen Ergebnisse errechnet. Als mißlich erwies sich bei diesem Verfahren, daß die Gerichte sich - was die Verurteilungen gemäß § 42 c StGB anbelangt - verschiedentlich mit einer nur oberflächlichen Begutachtung der Täterpersönlichkeit begnügten und daß auch die eingeholten Fachgutachten oftmals eine alle erheblichen Fakten berücksichtigende Persönlichkeitsdiagnose vermissen ließen. Hier zeigt sich eine Schwäche, an der Aktenuntersuchungen vergleichbarer Art fast stets leiden und die auch dieser Untersuchung anhaftet: Das Bild, das durch sie gewonnen wird, kann immer nur ein grobes sein. Soweit bei der folgenden Darstellung des Fallmaterials einzelne wesentliche Daten nicht zu ermitteln waren, wurde dies jeweils in einer Anmerkung kenntlich gemacht.

nicht mehr greifbar. Nach Auskunft der Geschäftsstelle wurden sie wegen Raummangels bereits vernichtet. 12 Im Landgerichtsbezirk Bonn konnten anhand des VRs insgesamt 101 Verurteilungen ermittelt werden; nicht greifbar waren 44 Akten. Im Landgerichtsbezirk Kiel konnten von insgesamt 73 festgestellten Verurteilungen (45 Verurteilungen nach § 42 b, 28 Verurteilungen nach § 42 c StGB) 19 Akten nicht ausgewertet werden (sie betrafen sämtlich Verurteilungen nach § 42 b StGB).

Erster Teil

Das Prinzip des Vikariierens als strafrechtsdogmatisches und kriminalpolitisches Problem Das Prinzip des Vikariierens, die Ersetzung der Strafe durch die Maßregel im Vollzug, setzt das Prinzip der Zweispurigkeit voraus; im Schrifttum wird es vielfach als dessen Durchbrechung angesehen1 • Dieser Zusammenhang der Prinzipien macht es erforderlich, zunächst den Grundsatz der Zweispurigkeit und seine rechtstheoretische Begründung innerhalb der Strafrechtslehre in den wesentlichen Aspekten darzustellen. Ihre Kenntnis ergibt die Grundlage für die weiteren Erörterungen.

I. Das Prinzip der Zweispurigkeit und seine Verwirklichung im geltenden Strafrecht Das zweispurige Rechtsfolgensystem, das im Jahre 1933 in das deutsche StGB aufgenommen wurde, ist das Ergebnis jener lang andauernden Auseinandersetzung um das Wesen und die Rechtfertigung der Strafe, die als sogenannter "Schulenstreit" in die Geschichte der Strafrechtspflege eingegangen ist. Als Kompromiß der widerstreitenden Auffassungen beinhaltet die Gesetz gewordene dualistische Lösung einerseits die Anerkennung der Strafe als notwendiges Mittel staatlicher Verbrechensbekämpfung; sie trägt andererseits der kriminalpolitischen Erkenntnis Rechnung, daß für bestimmte Tätergruppen die Strafe sowohl in rechtlicher Hinsicht wie auch in ihrer tatsächlichen Wirkung als Sanktion ungeeignet ist. In der seit etwa 1950 in Gang gekommenen Reformdiskussion erneut Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, vermochte sich die überkommene Lösung wiederum als Ausweg aus dem unlösbar scheinenden Konflikt der Meinungen durchzusetzen2 • 1 Bruns, ZStW 71, S. 211; Dreher, ZStW 65, S. 481 ff.; Dünnebier, ZStW 72, S. 37; Herrmann, Mat. 2, S. 195; W . Schmidt, a .a.O., S. 3 ff.; Schröder, Kriminalpalitische Aufgaben, a.a.O., S. E 9; Schultz, JZ 1966, S. 119 f. 2 Vgl. etwa Frey, Kriminalpolitische Aufgaben, a .a.O., S. E 35 ff.; Dreher, ZStW 65, S. 485 ff.; Dünnebier, ZStW 72, S. 32 ff., 38 ff.; Grünwald, ZStW 76, S. 633 ff.; Heinitz, ZStW 65, S. 28 ff.; Sieverts, Mat. 1, 8.107 ff.; Eb. Schmidt,

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

Der entscheidende dogmatische Unterschied zwischen den im dualistischen System verankerten Rechtsfolgen besteht in der Verschiedenartigkeit ihrer Voraussetzungen: Strafe ist Reaktion auf die Schuld eines Täters, Maßregel ist Reaktion gegen dessen künftige Gefährlichkeit3. Diese dogmatische Eigenart beider Rechtsnormen beinhaltet zugleich die Grundlage und die Grenze ihres Anwendungsbereichs. 1. Der Grundsatz der Tatschuldstrafe und seine Reichweite

Der Satz, daß Strafe Schuld voraussetzt, ist so sehr unangefocht.em~r Bestandteil der gesamten Strafrechtswissenschaft, daß sich eine besondere Begründung hier erübrigt4 • Weniger einhellig hingegen wird die Frage nach der Tragweite und der Grenze seiner Geltung beantwortet. Die Zweifel, die sich an dieser Frage seit jeher entzündeten, haben durch die wechselnde Formulierung in den jüngsten Strafgesetzentwürfen und diedarangeknüpften Auseinandersetzungen neue Nahrung erhalten. Zwar wurde der Grundsatz nunmehr in § 46 Abs. 1 StGB in der Fassung des 2. StrRG (fortan mit n . F. bezeichnet) erstmalig ausdrücklich gesetzlich verankert. Der Gesetzgeber gab ihm jedoch bewußt eine sehr allgemein gefaßte Formulierung, um eine Bindung von Schrifttum und Rechtsprechung an eine bestimmte Auffassung zu vermeiden5 • Die Frage nach Inhalt und Grenze des Schuldgrundsatzes stellt sich für die vorliegende Arbeit in zweifacher Hinsicht: Zum einen dahin, ob durch ihn das Maß der Strafe auf das Maß der Schuld begrenzt wird und zum andern dahin, ob er dazu zwingt, auf vorhandene Schuld stets mit Strafe zu reagieren.

a) Die Limitierungsfunktion der Schuld Die in § 46 Abs. 1 StGB n. F. enthaltene Formulierung des Schuldgrundsatzes (- die der Formulierung des § 60 E 1962 entspricht -) wird im E 1962 u. a. damit begründet, daß es Fälle gebe, "in denen es NS 1, S. 51 ff. und die Erörterungen der Großen Strafrechtskommission ebenda. Vgl. ferner Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, a.a.O., S. 16 ff.; Mezger, ZStW 66, S.176 f.; Schröder, ZStW 66, S. lBO ff.; ders., Kriminalpolitische Aufgaben, a.a.O., S. E 10. 3 Unbestritten; vgl. Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 55; Schönke-Schröder, StGB § 13, Vorbem. 1 ff.; Welzel, StrafR, S. 244. 4 Vgl. etwa auch § 13, Abs. 1 Satz 1 des gelt. StGB, in dem dieser Grundsatz gesetzlich verankert wurde. s So ausdrücklich die Begründung zum E 1962, S. 96 und Erster schriftlicher Bericht a.a.O., S. 5 (zu § 13 des geltenden StGB, der jedoch mit § 46 I StGB n. F. identisch ist). Kritisch dazu Schröder, Kriminalpolitische Aufgaben, S. E 76 und Warda, ebenda, S. E 121 f.

I.

Das Prinzip der Zweispurigkeit

23

gerecht erscheint, eine gewisse Überschreitung des Schuldmaßes zuzulassen, um dadurch eine nachhaltigere Einwirkung auf den Täter zu ermöglichen" 6 • Ausdrücklich wird deshalb auch die - noch in E 1959 gebrauchte - Formulierung verworfen, daß die Strafe das Maß der Schuld nicht übersteigen dürfe. Diese Erwägungen der amtlichen Begründung fanden nahezu unverändert Eingang in die Beratungen des Sonderausschusses und stießen dort überwiegend auf Zustimmung; sie waren letztlich auch bestimmend für die entsprechende Fassung des § 46 Abs. 1 n. F.7 • Die amtliche Begründung erweckt damit zumindest den Anschein, als erteile sie der Auffassung von der limitierenden Funktion der Schuld eine klare Absage. Indessen zeigen die weiteren Ausführungen im Text der Begründung ebenso wie die Erörterungen im Sonderausschuß, daß für die gewählte Fassung in erster Linie praktische Erwägungen maßgebend waren, die die Limitierungsfunktion der Schuld unangetastet lassen. Wenn die Entwurfsbegründung feststellt, die Strafe könne zwar aus spezial- oder generalpräventiven8 Erwägungen das Schuldmaß überschreiten, dürfe sich davon aber nicht so weit entfernen, "daß sie ihrem Kern nach nicht mehr als Schuldstrafe angesehen werden" könne, so ist diese Feststellung nicht nur in sich selbst widersprüchlich, sie zeigt zugleich, daß die Verfasser zwei verschiedenartige Fragestellungen in unzulässiger Weise vermengen9 : Die Frage nach der uneingeschränkten Geltung des Schuldprinzips ist selbständig und unabhängig von der w eiteren Frage zu beantworten, ob und wie die Schuldgröße sicher bestimmt und in eine entsprechende Maßzahl der Strafe umgesetzt werden kann. Sieht man mit einer breiten Auffassung des strafrechtlichen Schrifttums das Wesen der Strafe in der sozialethischen Mißbilligung des Täters 10 , in dem Ausspruch eines sittlichen Unwerturteils über menschliches Verhalten11 , so folgt daraus zwingend und unabdingbar, daß ihre Anordnung nicht nur dem Grunde, sondern ebenso der Höhe nach begrenzt sein muß durch das Maß an Vorwerfbarkeit, das den Täter trifft. Jenseits dieser Grenze ist für die Strafe kein Raum; sie würde den Täter mit einem sittlichen Makel belegen, wo ihm sein Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden 6

E 1962, S . 96.

Vgl. eingehend zur Gesetzgebungsgeschichte und insbesondere zur Behandlung im Sonderausschuß: Horstkotte, JZ 1970, S. 123 f. s Insoweit abweichend der Standpunkt des Sonderausschusses, vgl. Prot. V, S. 2235, 2238, 2793 f. und Erster schriftlicher Bericht, a.a.O., S. 4 f. 9 Vgl. dazu die Kritik von Lang-Hinrichsen, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 72 ff. und zum ganzen Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 272, 279 ff.; MüllerDietz, Strafbegriff, S. 18 ff. 1o Henkel, a.a.O., S. 7; Jescheck , StrafR, Allg. T., S. 40; Noll, ethische Begründung, S. 23 ; Sax, Strafrechtspflege, S. 924; Stree, a.a.O., S. 52. u So ausdrücklich der Entwurf 1962, S. 96. 7

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

kann. Die (zweifellos gegebene) Schwierigkeit, die Größe des Schuldvorwurfs mit hinreichender Sicherheit zu bestimmen, vermag an der Richtigkeit und Unabdingbarkeit des Grundsatzes nichts zu ändern12 und hat offensichtlich zu der Fassung der Begründung geführt. § 46 Abs. 1 StGB n. F. kann danach nur so verstanden werden, daß die Schuld des Täters Voraussetzung für seine Bestrafung ist und daß die Strafe das Maß der Schuld nicht übersteigen darf13 • b) Strafe als notwendige Folge von Schuld

Auch die zweite, oben bereits angedeutete Frage nach Umfang und Grenze des Schuldprinzips stellt sich, wie schon die vorangegangene, in doppelter Hinsicht: Sie muß erstens danach fragen, ob Schuldhaftes Verhalten notwendig eine strafende Reaktion des Staates verlangt und zum andern, ob der durch die Schuld gezogene Rahmen jeweils bis zur vollen Höhe ausgeschöpft werden muß. Die Erörterung führt damit an einen Punkt, der zu den umstrittensten der gegenwärtigen Strafrechtslehre zählt14 • In ihm stoßen die gegensätzlichen Auffassungen der verschiedenen Strafrechtstheorien wieder mit aller Schärfe aufeinander. Für den vorliegenden Zusammenhang kann es nicht darum gehen, die Kontroverse in vollem Umfang aufzurollen15 ; es muß genügen, den eigenen Standpunkt insoweit aufzuzeigen, als er für die Fragestellung bedeutsam ist. 12 Auch die vom BGH und von einem Teil des Schrifttums vertretene Spielraumtheorie (vgl. dazu i. e. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 270 ff. m. w. N.) betrifft lediglich die Schwierigkeit, die Schuldgröße exakt zu bestimmen, läßt jedoch den Grundsatz der limitierenden Funktion der Schuld unberührt (so richtig Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 286; Heinitz, ZStW 70, S. 5; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 66, 261). Die insoweit im Schrifttum immer wieder auftretenden Mißverständnisse können im vorliegenden Zusammenhang nicht erörtert werden. 13 Vgl. aus der Literatur zur Limitierungsfunktion der Schuld z. T. m. w. N. - etwa H. Kaufmann, Gramaticas System, a.a.O., S. 437; Müller-Dietz, Grenzen, S. 35; Rudolphi, a.a.O., S. 20; Sax, Strafrechtspftege, S. 963; SchönkeSchröder, StGB, Vorbem. 5 ff. vor § 13; Zipf, a.a.O., S. 60 ff. - Dieser Auslegung liegt ein Verständnis des Schuldprinzips zugrunde, wie es vor der Reform des StGB in der Strafrechtslehre fast einhellig vertreten wurde; sie verwirft zugleich die vereinzelt erhobenen Gegenstimmen. a. A. vor allem Peters, Grundfragen, S. 42 f.; Heinitz, ZStW 70, S.17; Dreher, ZStW 65, S. 486 ff.; Dreher-Maassen, StGB, § 13 Vorbem. 1; Eb. Schmidt, ZStW 69, s. 372 ff. 14 Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 14. Daß die Meinungsverschiedenheiten in diesem Punkt quer durch die ganze Strafrechtswissenschaft gehen, zeigen die Referate u. Sitzungsniederschriften der Großen Strafrechtskommission; es wurde auf der Strafrechtslehrertagung 1967 in Münster erneut deutlich (vgl. dazu den Bericht von Friedrichs in ZStW 80, S. 119 ff.). 15 Nicht zu Unrecht hat man im Hinblick auf sie bereits festgestellt, es lasse sich "kaum übersehen, daß in der Strafrechtslehre unserer Zeit der

I. Das Prinzip der Zweispurigkeit

25

aa) Dabei zeigt sich sogleich, daß die Frage, ob dogmatische Gründe dazu zwingen, auf das Vorhandensein von Schuld mit der Rechtsfolge der Strafe zu reagieren, ohne eine Klärung der umfassenden Frage nach der Legitimation staatlichen Strafens überhaupt nicht zu beantworten ist. Läge der Realgrund des staatlichen Strafanspruchs etwa in der Vergeltung oder Sühnung von Schuld, so wäre damit die gestellte Frage bereits entschieden. Demgegenüber findet sich jedoch vor allem im jüngeren strafrechtlichen Schrifttum in zunehmendem Maße eine ausschließlich rational begründete Auffassung von der Zweckbestimmung der staatlichen Strafgewalt. "Der Staat straft nicht, damit überhaupt in der Welt Gerechtigkeit, sondern damit Rechtlichkeit des Gemeinschaftslebens (Geltung und Befolgung seiner Rechtsordnung) seil6 ." Die Rechtfertigung der Strafe aus ihrer Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und die Beschränkung der staatlichen Straffunktion auf diese Aufgabe beinhaltet zugleich eine Absage an jene Auffassungen, die den Zweck der Strafe in erster Linie in der Schuldvergeltung sehen wollen17 • Aus ihr folgt weiter die für die gegebene Fragestellung bedeutsame Feststellung, daß das Schuldprinzip als solches für die Auswahl der Rechtsfolgen ohne Belang ist, daß es insbesondere nicht eine bestimmt geartete Sanktion - die Strafe - impliziert. Der aus dem Schuldprinzip abzuleitende Satz: Keine Strafe ohne Schuld, läßt sich nicht umkehren in den Satz: Wo Schuld vorliegt, muß Strafe folgen18 • bb) Mit dieser - gerade in den jüngsten Beiträgen zur Strafrechtsreform immer wieder zum Argument erhobenen19, im übrigen aber kaum ernsthaft bestrittenen - Feststellung, daß das Schuldprinzip funktional nicht auf die Bestrafung des Täters abzielt, ist die eingangs Schulenstreit wieder in vollem Gange ist" (Schuttz, SchwZStR 75, S. 245); im übrigen sind die Argumente, mit denen die Kontroverse geführt wird, so häufig dargestellt, daß eine erneute Auseinandersetzung mit ihnen neue Erkenntnisse kaum erbringen dürfte. 16 WeZzeZ, StrafR, S. 240. 17 In diese Richtung tendiert vor allem die Begründung des E 1962 (vgl. Einleitung, S. 216); sowie Friedrichs, Spezialpräventive Wirkung, S. 15 ff. m . w . N. Kritisch dazu Henkel, a.a.O., S. 7 f.; NoZZ, Strafe, S. 53; Eb. Schmidt, NJW 1967, S. 1933 ; Stratenwerth, Schuld, S. 32. Nicht als Zweck, sondern als Rechtsgrund der Strafe bezeichnet H. Mayer die "gerechte sühnende Vergeltung", vgl. Strafrechtsreform, S . 42; StuB, S . 26 f. ; S. 169 f. 18 BockeZmann, NS 5, S. 241; Dreher, NS 2, S. 253; GaZZas, NS 1, S. 64; Horstkotte, JZ 1970, S. 122; Jescheck, Menschenbild, S. 27; Arth. Kaufmann, Aspekte, a.a.O., S. 58; MüZZer-Di etz, Grenzen, S. 39; Stratenwerth, Schuld, a.a.O., S. 32; a. A. etwa KriZZe, NS 1, S. 132; Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S . 15 f., sowie (jedenfalls dem Sinne nach) Friedrichs, Spezialpräventive Wirkung, S. 25 ff., 204 ff., 209. 19 Baumann, Streitschriften II, S. 110 ff. ; Arth. Kaufmann, Aspekte, a.a.O., S. 56 ff., 58 ff.; Lenckner, Strafrechtsreform, a.a.O., S. 70 ff.; No!Z, Stra fe, a.a.O., S. 52 ff.; Stratenwerth, Schuld, a.a.O., S. 32 ff.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

gestellte Frage nach der Reichweite der Schuldstrafe jedoch noch nicht beantwortet. Die zuvor angestellten Überlegungen haben jedoch gezeigt, daß die Antwort nicht auf der Seite der Schuld, sondern vielmehr auf der Seite der Strafe zu suchen ist. Liegt der Rechtsgrund der Strafe in ihrer Unentbehrlichkeit für den Bestand und die Befolgung der Rechtsordnung, so folgt daraus, daß sie immer dann und jeweils in einer Weise zur Anwendung kommen muß, die die Erfüllung dieser Aufgabe ermöglicht. Über die Reichweite der Strafe - das Ob und das Wie ihrer Verhängung - entscheidet dann (im Rahmen der durch das Schuldmaß bestimmten Obergrenze) in erster Linie ihre "generalpräventive"20 Notwendigkeit. Die diesem Abschnitt zugrunde liegende Frage, ob in dem dualistischen System das Vorliegen von Schuld die Rechtsfolge der Strafe auslösen müsse, kann danach nur lauten, ob die - in abstracto - generalpräventiv begründete Notwendigkeit der Strafe als Sanktionsmittel deren ausnahmslose Verhängung in jedem einzelnen Fall beinhaltet. Das StGB selbst enthält eine Reihe von Hinweisen, aus denen sich ergibt, daß ihm eine solche Auffassung nicht zugrunde liegt, daß jedenfalls für bestimmte Tätergruppen vom Ausspruch einer Strafe oder von der Vollstreckung einer ausgesprochenen Strafe ohne Schaden für die Rechtsordnung abgesehen werden kann21 . In welchen Fällen ein solcher Verzicht auf die Strafe als Rechtsfolge schuldhafter Tat von der Rechtsordnung hingenommen werden kann, ist zunächst eine allgemeine rechtspolitische Frage. Auf der Grundlage des geltenden Strafrechts ist die Beantwortung gebunden an ein bestimmtes Verständnis vom Wesen und der Funktionsweise der Strafe, aus dem sich erklärt, warum der Gesetzgeber gerade die Strafe als - bevorzugtes - Mittel der Verbrechensbekämpfung ansieht. Ungeachtet des bis heute andauernden Theorienstreits über Wesen und Zweck der Strafe22 lassen 20 "Generalpräventiv" wird hier in dem heute überwiegend vertretenen positiven Sinne einer sozialpädagogischen Einwirkung auf die Gesamtheit durch Strafandrohung, -ausspruch und -vollzug verstanden. Generalpräventive Notwendigkeit bedeutet demnach die Notwendigkeit, durch Bestrafung des Rechtsbrechers in der Bevölkerung die Achtung vor dem Recht zu bewahren und zu stärken. Vgl. aus der neueren Literatur etwa : Baumann, Streitschriften II., S.127 ff.; Grünwald, ZStW 80, S. 92; Hellmer, Kriminalistik 1966, S. 287 ff. ; Henkel, a.a.O., S. 13 f.; Horstk otte, NJW 1969, S. 1603 f.; J escheck StrafR Allg. T., S. 3, 43, 560; H. Mayer, Strafrechtsreform, S. 15 ff.; Mezger , Mat. 1, S. 2; Naucke, Betrug, S. 55 ff.; Noll, Schuld und Prävention a.a.O., S. 223; Roxin, JuS 1966, S. 383; Sieverts, HWB Krim. Bd. II S. 3 ff. (7 ff.); Zipf, a.a.O., S. 106 ff. 21 Vgl. etwa §§ 15, 16, 23 ff. des geltenden StGB (i. d. F. des 1. StrRG) sowie §§59 ff. StGB (i. d. F. des 2. StrRG). 22 Vgl. etwa die Begründung zum E 1962, S. 96 ff. einerseits, diejenige des AE, S. 29 andererseits. Aus der neueren Literatur Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 235 ff. m. w. N.; Friedrichs, Spezialpräventive Wirkung, S. 15 ff.,

I.

Das Prinzip der Zweispurigkeit

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sich zwei Punkte hervorheben, über deren grundlegende Bedeutung im wesentlichen Einigkeit besteht. Der eine ist rechtsstaatlicher Art und besagt, daß die Strafe durch ihre unumstößliche Bindung an die Schuld des Täters zugleich die wirksamste Begrenzung der staatlichen Strafgewalt in sich trägt23, die Strafe deshalb wie keine andere Maßnahme, zugleich dem Schutz des Täters dient. Der zweite betrifft die kriminalpolitische Seite der Strafe. Hier zeigt sich besonders im jüngeren Schrifttum über alle Fronten hinweg eine weitgehende Relativierung des überkommenen Vergeltungsgedankens. Zwar nennt die Begründung des E 1962 als ,,Sinn der Strafe" an erster Stelle den Schuldausgleich24 ; schon der folgende Satz zeigt jedoch, daß mit diesem Hinweis nicht einer Vergeltung um ihrer selbst willen das Wort geredet werden soll. Dadurch, daß sie die Schuld des Täters ausgleicht, hat die Strafe vielmehr "zugleich auch den allgemeinen Sinn, die Rechtsordnung zu bewahren". Der Wandel in dem Verständnis des Vergeltungsgedankens, der in dieser Formulierung freilich nur unvollkommen Ausdruck gefunden hat, findet sich im Schrifttum weit deutlicher ausgesprochen: Zwar sei die Strafe ihrem Wesen nach Vergeltung; doch dürfe sie nur da und nur insoweit ausgesprochen werden, als dies zum Schutz der Rechtsordnung erforderlich sei25 • Daß ein solches Erfordernis nicht in jedem Fall besteht, ist dabei ebenso unbestritten wie die Feststellung, daß in einer Vielzahl von Fällen auf den Ausspruch schuldangemessener Strafe nicht verzichtet werden kann. Deutlich wird dieser Wandel des überkommenen Vergeltungsstandpunkts auch in den Erörterungen des Sonderausschusses sichtbar: Hier ergab sich im Verlauf der Beratungen gegenüber dem E 1962 eine deutliche Akzentverlagerung vom Schuldausgleich zur Prävention. So wurde etwa der in den Vorschriften über die Verhängung einer Geldstrafe und über die Strafaussetzung zur Bewährung ursprünglich enthaltene Satz gestrichen, daß die Höhe der Schuld die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gebiete, auch wenn spezialpräventive oder generalpräventive Erwägungen dies nicht erforderten26 • 240 ff.; Henkel, a.a.O., S. 6 ff.; Müller-Dietz, Strafbegriff, a.a.O.; Eb . Schmidt, ZStW 69, S. 367. 23 Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 13, 496 f.; H. Kaufmann, Gramaticas System, a.a.O., S. 437; Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 554 ff., Lang-Hinrichsen, Kriminalpalitische Aufgaben, S. 76; M ü ller-Dietz, Grenzen, S. 33 ff., 35; NoH, Strafe, a.a.O., S. 54; Reigl, ZStW 73, S. 636 f.; Rudolphi, a.a.O., S. 20 f.; Sax, Strafrechtspflege, S. 934 f.; 962; Stree, a.a.O., S. 36 ff., 51 ff.; Zipf, a.a.O., S. 47 ff. 24 a.a.O., S. 96. 25 Welzel, StrafR, S. 238 ff., 240. In dieselbe Richtung gehen Gallas, ZStW 80, S. 3 ff.; Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 1 ff., 562; ders., ZStW 80, S. 57 ff.; Henkel, a.a.O., S. 7 f.; Lackner, JZ 1967, S. 515 f.; H. Mayer, StrafR II., S. 33; Rudolphi, a.a.O., S. 18 ff., 21. 26 Vgl. §§53, 72 Abs. 1 des E 1962 und Prot. V, S. 885 ff., 903 einerseits, §§ 47, 56 StGB n. F. andererseits.

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Auf dem Boden dieser gewandelten Auffassung wird der Streit um das Wesen der Strafe und die ihr immanenten Strafzwecke zweitrangig: Ob man der Strafe neben der General- und Spezialprävention auch einen Vergeltungs- oder Sühnezweck beimißt, kann für die Frage nach der Reichweite der Schuldstrafe in einem dualistisch angelegten Strafrecht nur unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der Notwendigkeit des Schutzes der Rechtsordnung bedeutsam sein. Dieser übergreifende Gesichtspunkt aber ist in der Strafrechtslehre nahezu unangefochten. Zwar spricht insoweit vieles dafür, dem Gedanken der Schuldvergeltung eine nicht unerhebliche Bedeutung beizulegen, weil gerade "die schuldangemessene, der Gerechtigkeitserwartung der Allgemeinheit entsprechende und allen Rechtsgenossen gegenüber gleichmäßige Anwendung des Strafrechts am ehesten geeignet sei, die erstrebte generalpräventive Schutzwirkung zu gewährleisten und dadurch die Rechtstreue der Bevölkerung am wirksamsten zu fördern" 27 • Von einem solchen Verständnis der Strafe aus gewinnt auch die Schuld eine über die bloß limitierende Funktion hinausgehende, konstitutive Bedeutung: Sie führt folgerichtig zu dem Satz, daß Schuld Strafe fordere. Inwieweit dieser Standpunkt freilich Zustimmung verdient, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. c) Ergebnis

Die bisherigen Überlegungen zeigen folgendes: Als Rechtsfolge schuldhaft verwirklichten Unrechts ist die Strafe in ihrem Ob und Wie strikt gebunden an das Vorliegen und das Maß der Schuld. Dieses dogmatische Erfordernis bedeutet zugleich die Begrenzung der kriminalpolitischen Wirksamkeit der Strafe. Aus dem Schuldgrundsatz als solchem folgt jedoch nicht, daß das Vorliegen von Schuld die Verhängung von Strafe gebietet. Ob und inwieweit der Schuld eine strafbegründende Wirkung zukommt, ist keine dogmatische, sondern eine kriminalpolitische Frage. Die Entscheidung des Gesetzgebers für das Prinzip der Zweispurigkeit und damit für die Sanktionsform der Strafe bedeutet keine Fixierung auf das Prinzip strikter Schuldvergeltung. Fordert aber Schuld nicht Strafe, so fordert sie auch nicht die Ausschöpfung des durch sie gegebenen Rahmens bei der Verhängung von Strafe, und sie erfordert erst recht nicht die Vollstreckung und den Vollzug einer ausgesprochenen Strafe (allein um diese letzte Frage geht es bei der Vikariierungsproblematik). Freilich bleibt auch hier 27 Lackner, JZ 1967, S. 515. Ebenso GaHas, ZStW 80, S. 3; Grünwald, ZStW 80, S. 92, 94; Jescheck, ZStW 80, S. 59; Stratenwerth, Schuld, a.a.O.,

s. 41.

I. Das Prinzip der Zweispurigkeit

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das Problem, wann von einem Vollzug der Strafe abgesehen werden kann. Auf diesen Punkt wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 2. Die (freiheitsentziehenden) Maßregeln. Voraussetzungen und Grenzen

Anders als bei der Strafe besteht in der Beurteilung des Wesens und der Funktion der Maßregeln im wesentlichen Einigkeit28 • Sie sind reine, d. h. sozialethisch indifferente Zweckmaßnahmen, dazu bestimmt, den Täter soweit möglich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern und die Allgemeinheit vor weiteren Rechtsverletzungen durch ihn zu schützen. In dieser Funktion sind sie auf den Täterkreis zugeschnitten, bei dem die Strafeinfolge ihrer begrenzten Wirksamkeit die ihr zugedachte präventive Aufgabe nicht hinreichend erfüllen kann. Als Rechtsfolgen, die weder nach ihrer Funktion noch in ihrer faktischen Wirkung ein Unwerturteil über Tat und Täter enthalten, bedürfen sie keiner Bindung an die Schuld; ihr Anknüpfungspunkt ist allein die in einer Tat zutage getretene künftige Gefährlichkeit. Sie ist die Voraussetzung für die Anordnung der Maßregeln und bestimmt grundsätzlich auch deren zeitliche Dauer29 • Die Tat selbst ist dabei nicht nur auslösendes Moment für die Maßregelanordnung, sie dient als Bezugspunkt für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit3° und trägt dadurch mit dazu bei, den Anwendungsbereich der Maßregeln zu beschränken; sie hat schließlich einen Erkenntnis- und Symptomwert für den Grad der Gefährlichkeit des Täters. 3. Die Reichweite des Prinzips der Zweispurigkeit

Nach der vergleichenden Gegenüberstellung von Strafe und Maßregeln als den Komponenten der Zweispurigkeit, ihrer dogmatischen Eigenarten und ihres kriminalpolitischen Wirkungsbereichs, liegt es nahe, die Frage zu stellen, ob sich daraus Rückschlüsse auf die Reichweite und den Gehalt des Grundsatzes selbst ergeben. So ist bisher noch völlig offen geblieben, ob das dualistische Prinzip etwa dazu zwingt, Strafe und Maßregel kumulativ zu verhängen oder zu vollstrecken, oder ob nicht auch eine alternative Anwendung beider Spuren mit dem Grundsatz in Einklang steht. Die Beantwortung dieser Frage könnte zugleich Aufschluß darüber geben, inwieweit das Prinzip des Vikariierens mit dem der Zweispurigkeit vereinbar ist. Gleichwohl er28 Vgl. statt vieler Baumann, StrafR, Allg. T., S. 712 ff.; Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 507 ff.; Mezger-Blei, StrafR, Allg. T., S. 377 f.; Schönke-Schröder, StGB, RdNr. 4 vor § 13; RdNr. 1-4 vor § 42 a; Welzel , StrafR, S. 244 ff. Abw. H. Mayer, Stram II, S. 36 ff.; StuB, s. 29 f ., 179 f. 29 Vgl. § 42 f. StGB a. F. ao Vgl. § 42 a Abs. 2 StGB a. F.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

scheint ein solches Vorgehen wenig erfolgversprechend. Daß von einer rein begrifflichen Inte.rpretation Aufschlüsse insoweit nicht zu erwarten sind, liegt auf der Hand. Vom Begriff her steht nichts entgegen, als zweispurig ein Reaktionssystem zu kennzeichnen, das sowohl Strafen als auch Maßregeln vorsieht, dabei aber offen läßt, ob auf Strafen und Maßregeln im Einzelfall nebeneinander erkannt werden oder ob jeweils nur die eine oder die andere Sanktion ausgesprochen werden kann31 . Zweispurigkeit würde in diesem Fall lediglich bedeuten, daß das strafrechtliche Rechtsfolgensystem durch zwei in Wesen und Voraussetzungen unterschiedliche Arten von Sanktionen bestimmt wird. In diesem Sinne wird der Begriff der Zweispurigkeit im strafrechtlichen Schrifttum - soweit ersichtlich - nicht vertreten, und auch das StGB geht von einem solchen Verständnis des Begriffs offensichtlich nicht aus. Zweispurigkeit wird hier vielmehr verstanden als die "Doppelspurigkeit der Unrechtsfolgen, die den (verantwortlichen) Täter eines Verbrechens gleichzeitig treffen"32 • Dieses Verständnis entspricht der geschichtlichen Entwicklung des Prinzips der Zweispurigkeit33 ; ihm liegt die Auffassung zugrunde, daß die im Verbrechen zutage tretenden Komponenten - Tatschuld und Gefährlichkeit - von seiten des Staates in doppelter Weise einer Antwort bedürfen: Tatschuld soll durch Vergeltungsstrafe gesühnt, Gefährlichkeit durch Maßregeln bekämpft werden34 . Zwingend wäre ein solches Verständnis des Zweispurigkeitsprinzips nur dann, wenn man entweder der oben bereits abgelehnten Ansicht folgte, daß auf eine schuldhafte Tat stets Strafe als Sanktion folgen müsse, oder wenn man der Maßregel jeglichen - im Sinne der Ordnungsfunktion des Strafrechts- repressiven und generalpräventiven Gehalt absprechen würde und aus diesem Grunde zur Unentbehrlichkeit der Strafe kommen müßte. Es erscheint müßig, auf diesen letzten Punkt im einzelnen einzugehen: Auch er ist bis heute belastet mit Argumenten aus der Kampfzeit des Schulenstreits, und ein Blick in das neuere Schrifttum bringt wenig mehr zutage als die Erkenntnis, daß lange Vertretenes zwar breitere Anerkennung gefunden hat, daß jedoch mangels empirischer Untersuchungen die Spekulation auf weite Strecken das Feld beherrscht. 31 Schwalm, in Prot. IV, S. 308. 32 W. Schmidt, a.a.O., S. 3. In der Sache ebenso Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 54; Maurach, StrafR, Allg. T., S. 80 f.; Mezger-Blei, StrafR, Allg. T., S. 377 f.; Welzel, StrafR, S. 246 f. 33 Einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung gibt W. Schmidt, a.a.O., S. 5 ff. 34 So Bruns, ZStW 71, S. 215; ähnlich Eb. Schmidt, NS 1, S. 354; Welzel, StrafR, S. 244; Resch, NS 1, S. 55; Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, a.a.O.,

s. 121.

I. Das Prinzip der Zweispurigkeit

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Folgendes läßt sich sagen: a) Ungeachtet des Unterschiedes im Wesen und in der begrifflichen Struktur von Strafen und Maßregeln steht der einheitliche Rechtsgrund beider Sanktionsmittel - ihre Notwendigkeit für den Gemeinschaftsschutz - weitgehend außer Streit; sie sind unterschiedliche Mittel zu demselben ZieP5 • b) Als Rechtsfolge einer Rechtsverletzung wirken auch die Maßregeln repressiv. Die theoretisch-begriffliche Unterscheidung zwischen Strafe und Maßregel, derzufolge die Strafe zum vergeltenden Ausgleich für den schuldhaften Rechtsbruch, die Maßregel hingegen zur künftigen Sicherung der Gemeinschaft vor den zu erwartenden weiteren Rechtsbrüchen des Täters verhängt wird36, läßt sich in der Rechtswirklichkeit in dieser Absolutheit nicht aufrechterhalten. Das folgt nicht nur aus der nirgendwo angezweifelten "de-facto-Strafwirkung" 37 der freiheitsentziehenden Maßregeln; es ergibt sich ebenso aus der keineswegs neuen38 Erkenntnis, daß alle Sanktionen, die als Reaktion auf die Verletzung einer Rechtsnorm verhängt werden, repressiven Charakter haben, gleichgültig, wie sie im einzelnen geartet und ausgestaltet sind39 • c) Das soeben Gesagte gilt in gleicher Weise für die generalpräventive Wirkung der Maßregeln. Sie ist de facto schon durch den in der (potentiellen) Freiheitsentziehung liegenden Übelsgehalt gegeben und wird vom Täter ebenso wie von der Allgemeinheit als solche empfunden40. Daß die Strafe von ihrer Funktion her ein "gewolltes" Übel darstellen soll, die Maßregel hingegen einen "ungewollten" Übelsgehalt enthält41 , muß sich für die Frage nach ihrer generalpräventiven (oder auch repressiven) Wirkung als eine praktisch unergiebige, formale Dif35 Vgl. u. a. Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 2 ff.; Maurach, StrafR, Allg. T., S. 2 f.; Mezger, ZStW 66, S.173; Mezger-Blei, StrafR, Allg. T., S. 4 f. ; S. 377 f.; Welzel, StrafR, S. 244; Schultz, JZ 1966, S. 125; Arth. Kaufmann, JZ 1967, S. 554; Kaiser, ZStW 78, S. 110; s. auch § 2, Abs. 1 des AE. Differenzierend Müller-Dietz, Strafbegriff, S. 124. a. A. H. Mayer, StrafR II, S. 27 ff.; S. 36 ff.; StuB, S. 23 ff.; S. 29 ff.; S. 169 ff. 36 Welzel, StrafR, S. 244. 37 Bruns, ZStW 71, S. 215. 38 Vgl. etwa Exner, a.a.O., S. 197 ff., 205 ff. 39 Vgl. Schultz, JZ 1966, S. 120. 40 Das ist im Schrifttum kaum bestritten; vgl. etwa: Begründung zu § 1 AE (S. 29); Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 255 und ZStW 71, S. 215, 223; Dreher, ZStW 65, S. 485; Güde, Prot. IV, S. 6; Hellmer, Gewohnheitsverbrecher, S. 321; Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 508; Lange, Strafanspruch, a.a.O., S. 97; H. Mayer, StrafR, Allg. T., S. 170; Müller-Dietz, Strafbegriff, S. 75; Noll, Strafe, a.a.O., S. 57 und ZStW 76, S. 714; Sieverts, Mat. 1, S. 113; v. Weber, Kriminalpolitik, a.a.O., S. 22. 41 Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, S. 121; Maurach, StrafR, Allg. T., Vorauf!., S. 749; Zipf, a.a.O., S. 132.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

ferenzierung erweisen: In der Rechtswirklichkeit entspringt die generalpräventive Wirkung -wenn überhaupt- nicht der theoretischbegrifflichen Struktur der einzelnen Sanktionsformen, sondern allenfalls dem, was sie an tatsächlichen Einbußen für den potentiell Betroffenen enthalten42 • Kann die Maßregel danach von ihrer Struktur her wesentliche Funktionen der Strafe übernehmen, so bestehen dogmatisch keine Bedenken, daß die Maßregel im Einzelfall die Strafe vertritt. Zwar kann die Maßregel niemals - auch faktisch nicht - eine sozialethische Mißbilligung des Täters zum Ausdruck bringen. Daß eine solche aber in jedem Falle schuldhafter Tatbegehung erforderlich sei, ist - gemessen an dem allgemeinen Grund staatlicher Strafrechtspflege, der Bewahrung der Rechtsordnung- nicht unmittelbar evident. Die Argumentation führt damit letztlich auf ihren Ausgangspunkt zurück: Sieht man die umfassende Aufgabe der Strafrechtspflege in der Erhaltung der Rechtsordnung und in der Ermöglichung eines geordneten sozialen Zusammenlebens, so ist damit ein - wenn auch sehr allgemeiner- einheitlicher Bezugsrahmen für die Ausgestaltung des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems gegeben. Aus ihm folgt einmal die Notwendigkeit, Strafen und Maßregeln als Sanktionsformen zur Verfügung zu stellen; er ist zum andern der Maßstab, an dem sich bemißt, ob die strukturellen Eigenarten von Strafe und Maßregel und deren je spezifische Funktionen eine kumulative oder alternative Anwendung bedingen. Für das Prinzip der Zweispurigkeit wird von einer solchen Betrachtungsweise aus fraglich, ob es sich in dem von der herrschenden Meinung vertretenen Sinne aufrechterhalten läßt oder ob nicht seine Reichweite erheblich begrenzter sein muß, als dies bisher angenommen wird. Verbleibt man auf dem überkommenen Standpunkt, so führt dies dazu, daß man "der Maßregel grundsätzlich keine Strafzweckwirkung im Sinne des Vergeltungs- und Sühneprinzips beilegen kann, ohne an den Grundlagen der Zweispurigkeit zu rütteln und dem monistischen System Konzessionen zu machen" 43 • Man negiert dann die Rechtswirklichkeit, in der die Maßregel diese Strafzweckwirkung zu einem erheblichen Teil hat, ohne daß sie ihr in irgendeiner Weise erst noch beigelegt werden müßte. Steht man hingegen auf dem Standpunkt, daß die 42 Die Problematik der Generalprävention als solcher (die die Frage nach ihrem sachlichen Substrat und dem Vorgang ihrer Verwirklichung beinhaltet) soll hier beiseite bleiben (vgl. dazu aus neuerer Zeit Naucke, Betrug, S. 51 ff.; Müller-Dietz, Strafbegriff, S. 91 f.; Popitz, a.a.O.). Sie betrifft Strafe und Maßregel in gleicher Weise. 43 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 256 f.

I. Das Prinzip der Zweispurigkeit

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Maßregel die Strafe in einzelnen, hier nicht näher zu bestimmenden Fällen vertreten kann, weil dem weder dogmatische noch kriminalpolitische Gründe entgegenstehen, so ist das Prinzip der Zweispurigkeit in seinem Bedeutungsgehalt zumindest eingeschränkt auf die Aussage, daß das Gesetz als Reaktion auf das Verbrechen mit Strafe und Maßregel zwei dogmatisch unterschiedlich strukturierte Rechtsformen zur Verfügung stellt. Theoretisch lassen sich beide Auslegungen vertreten. Spätestens an diesem Punkt der Erörterung wird deutlich, daß die Frage nach der Reichweite des Prinzips der Zweispurigkeit und seiner Bedeutung für die Problematik des Vikariierens im wesentlichen in begrifflichen Erwägungen steckenbleibt. Je nach dem, welcher Auffassung man den Vorzug gibt, wird man dazu kommen, das Vikariieren entweder als Durchbrechung des Zweispurigkeitsgrundsatzes anzusehen, oder bloß als eine der möglichen Ausgestaltungen dieses Grundsatzes selbst. Glaubte man freilich, in dem Prinzip der Zweispurigkeit zugleich ein ordnendes Prinzip gefunden zu haben - Strafe nach dem Maß der Schuld, Maßregel für die darüber hinaus bestehende Gefährlichkeit - so ist dieses Prinzip in jedem Falle durch die Einführung des Vikariierungsgrundsatzes teilweise aufgegeben. Die Suche nach einem neuen, übergeordneten Prinzip, in dem zugleich die Reinheit des Rechtsfolgensystems gewahrt bliebe, kann nicht die Aufgabe dieser Untersuchung sein44 • Die diesem Abschnitt vorangestellte Frage zielte auf den Bedeutungsgehalt und die Reichweite des Zweispurigkeitsprinzips im Hinblick auf mögliche Folgerungen für das Prinzip des Vikariierens. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß das Prinzip der reinen Zweispurigkeit, wie es ursprünglich im Strafgesetz verwirklicht war, die gleichzeitige Anordnung von Strafe und Maßregel und deren kumulativen Vollzug beinhaltete, daß ein solches Verständnis jedoch der heutigen Auffassung über das Wesen und den Zweck von Strafe und Maßregel nicht mehr entspricht und daß es auch durch dogmatische Erfordernisse nicht erzwungen wird. Ob man insoweit von einer Modifizierung des Zweispurigkeitsgrundsatzes sprechen will, oder ob man in dem gewandelten Verständnis bereits eine teilweise Abkehr vom Prinzip der Zweispurigkeit sehen will45 , erscheint vorwiegend als Frage begrifflicher Konvenienz. Für das Prinzip des Vikariierens folgt daraus, daß mit der teilweisen46 Abkehr von dem Satz: Strafe (und deren Vollzug) als Reaktion auf Vgl. zur Problematik Kaiser, ZStW 78, S. 100 ff. Verschiedentlich sieht man bereits im derzeitigen Strafrecht ein System der Dreispurigkeit verwirklicht, vgl. dazu SchiLling, a.a.O., m. w. N. 46 Für das Verhältnis Strafe Sicherungsverwahrung gilt der Satz auch weiterhin. 44

45

3 Marquardt

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1. Teil: Das Prinzip des Vikarüerens

Schuld, Maßregel für das darüber hinaus bestehende Präventionsbedürfnis aus dem Zweispurigkeitsprinzip irgendwelche Folgerungen für die Form und den Umfang des Vikariierens nicht zu gewinnen sind; weder in dogmatischer noch in kriminalpolitischer Hinsicht. Damit kann sich die Untersuchung dem vikariierenden System selbst und der ihm vom Gesetz gegebenen Fassung zuwenden.

II. Der Grundsatz des Vikariierens 1. Die Ausgestaltung im Gesetz (§ 67 i. d. F. des 2. StrRG)

Bei der Regelung des Vikariierens sah sich der Gesetzgeber drei Problemkreisen gegenüber, für die er eine Lösung finden mußte. Zunächst stellte sich die Frage der Reihenfolge der Vollstreckung: Sollte der Erstvollzug der Maßregel obligatorisch oder nur fakultativ festgelegt werden? Zum zweiten ergab sich sodann das Problem der Anrechnung der Dauer der - vorweg vollzogenen - Maßregel auf die Strafzeit. Auch hier lautete die Alternative: Obligatorische oder fakultative Anrechnung. Als drittes schließlich entstand die Frage, was mit einem nach Anrechnung noch verbleibenden Strafrest geschehen sollte: Sollte er vollstreckt werden - und wenn ja, in welcher Form - oder sollte er ausgesetzt werden47? Die Lösung, die § 67 StGB n. F. vorsieht, sei an dieser Stelle kurz angeführt, um die weiteren Darlegungen verständlich zu machen. Dabei ist vorweg festzustellen, daß § 67 StGB n. F. eine doppelte Regelung enthält: Er beinhaltet neben der Lösung der (soeben aufgezeigten) materiellen Sachprobleme zugleich eine funktionale Aufteilung der Entscheidungszuständigkeiten hinsichtlich des Vikariierens zwischen dem erkennenden Gericht und dem Vollstreckungsgericht. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren allein die Sachfragen. a) Hinsichtlich der Reihenfolge der Vollstreckung sieht § 67 Abs. 1 einen im Grundsatz obligatorischen Vorwegvollzug der Maßregel (mit 47 Theoretisch ließe sich als zusätzliches Problem die Frage anführen, ob ein Vikariieren nicht in der Weise zu gestalten sei, daß nicht nur der Vollzug der Strafe durch den der Maßregel ersetzt würde, sondern daß die Maßregel in den betreffenden Fallgruppen die Strafe überhaupt ersetzt hätte. Derartige Erwägungen spielten jedoch in der Reformdiskussion - von der anfänglichen Diskussion um Ein- oder Zweispurigkeit abgesehen (vgl. NS 1, S. 56, 267 ff.) - fast überhaupt keine Rolle, so daß dieses Problem hier ausgeklammert bleiben soll.

II. Der Grundsatz des Vikariierens

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Ausnahme der Sicherungsverwahrung) vor der Strafe vor. Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes wird in Absatz 2 lediglich für den Fall zugelassen, daß durch einen vorangehenden Vollzug der Strafe der Zweck der Maßregel leichter erreicht wird. Nur wenn sich diese nach Absatz 1 oder Absatz 2 getroffene Entscheidung des erkennenden Gerichts im Vollzug als unangebracht erweist, kann sie vom Vollstreckungsgericht korrigiert werden (Absatz 3). b) Wird die Maßregel - dem Grundsatz entsprechend - vor der Strafe vollzogen, so wird diese Zeit des Vollzugs voll auf die Strafe angerechnet. Die Anrechnung ist somit streng obligatorisch. Sie erfolgt eo ipso aufgrund des Gesetzes und bedarf keines besonderen Beschlusses. c) Die Aussetzung eines nach Anrechnung etwa noch verbleibenden Strafrestes ist dagegen fakultativ gestaltet: Sie steht im Ermessen des Vollstreckungsgerichts (Absatz 5, Satz 1); für dessen Entscheidung gibt das Gesetz keine weiteren Richtlinien. Lehnt das Vollstreckungsgericht eine Aussetzung der Reststrafe ab, so wird grundsätzlich der Maßregelvollzug fortgesetzt; das Vollstreckungsgericht hat jedoch die Möglichkeit, Strafvollzug anzuordnen, "wenn Umstände in der Person des Verurteilten es angezeigt erscheinen lassen" (Absatz 5, Satz 2). 2. Die Grundgedanken der gesetzlichen Lösung

Für die Aufnahme des Grundsatzes der Vikariierung in das Gesetz waren ebenso wie für seine Ausgestaltung im einzelnen überwiegend kriminalpolitische Erwägungen maßgebend48 • Ein Vollzug der Maßregel vor bzw. anstelle des Vollzugs der Strafe erschien im Hinblick auf das mit den strafrechtlichen Sanktionen - Strafe wie Maßregel verfolgte Ziel, die Resozialisierung des Täters, zweckmäßiger und sinnvoller, weil im Maßregelvollzug spezieller auf die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Täters eingegangen werden kann. Dies war für die sogenannten medizinisch indizierten Maßregeln (Heil- und Pflegeanstalt und Trinkerentziehungsanstalt) unbestritten, wurde aber auch für die sozialtherapeutische Anstalt überwiegend angenommen. Der Maßregelvollzug selbst sollte sowohl im Interesse des Täters wie im Interesse des Schutzes der Gesellschaft mit einem möglichst hohen Maß an Effektivität ausgestattet werden. Dieses Höchstmaß an Effek48 Vgl. dazu insbesondere die Diskussionsbeiträge der Mitglieder der Großen Strafrechtskommission und des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform: z. B. Mezger, Welzel, Eb. Schmidt, KrHle, Schafheutle, Dreher, NS 1, S. 356 f. ; Bockelmann, GaHas, NS 12, S. 228, 229. Ferner Horstkotte, MüHer-Emmert, Kaffka u. a. in Prot. IV, S. 290, 324, 338 ff. (342, 348, 356), 922; Prot. V, S. 331 f., 363.

3•

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

tivität aber war nur zu erzielen, wenn die (hinlänglich bekannten) negativen Wirkungen des Strafvollzugs, die in einem dem Maßregelvollzug vorangehenden Strafvollzug ebenso bestanden wie in einem nachfolgenden, ausgeschaltet wurden. Zugleich sollte mit dem Vorwegvollzug der Maßregel der Tatsache Rechnung getragen werden, daß ein solcher Vollzug in den Augen des Täters ebenso wie in den Augen der Öffentlichkeit durch seinen faktischen Übelsgehalt weitgehenden Strafcharakter hat, und dadurch auch dem Sühnebedürfnis der Gesellschaft gegenüber dem Täter Genüge getan werden kann. Ein kumulativer Vollzug mußte demgegenüber als doppelte Bestrafung angesehen werden und als solche nicht nur sinnlos, sondern auch ungerecht erscheinen. In der gesetzlichen Lösung des Vikariierens zeigt sich so ein Abrücken von einer allzu doktrinären Beurteilung des Verhältnisses von Strafe und Maßregel zugunsten praktischer, kriminalpolitischer Überlegungen49. 111. Die Einwände gegen das Vikariieren und seine Regelung im Gesetz Wenngleich die Einführung des vikariierenden Systems im strafrechtlichen Schrifttum überwiegend zustimmend aufgenommen wurde50 , so fehlt es doch nicht an kritischen Stimmen51 • Diese nähren sich teils aus strafrechtsdogmatischen, teils aus kriminalpolitischen Vorbehalten, teils haben sie die Praktikabilität der gesetzlichen Regelung zum Gegenstand. Im folgenden sollen die wesentlichsten Einwände kurz erörtert werden. 1. Die strafrechtsdogmatischen Einwände

a) Widerspruch im System der Rechtsfolgen? Ein erster, sehr allgemeiner Einwand, der sich bei der Erörterung des Zweispurigkeitsprinzips bereits andeutete, betrifft die Systematik der Rechtsfolgen. Er besagt, daß durch den Austausch von Strafe und So ausdrücklich Horstkatte in Prot. IV, S. 922. Vgl. Baumann, Streitschriften I, S. 25; Frey, Die Rolle der Kriminologie, a.a.O., S. 28; Grünhut, ZStW 71, S. 534 ff. ; Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 57; ders., Menschenbild, S. 29 f.; Arth. Kaufmann, Aspekte, a.a.O., S. 67 f.; Mannheim, ZStW 71, S. 196; NoH, ethische Begründung, S. 23 f.; Peters, Grundfragen, S. 43; Welzel, StrafR, S. 247. 51 Vgl. Bruns, ZStW 71, S. 214, 223; Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, a.a.O., S. 121 ff., 127; Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 15 ff.; Peters, Grundfragen, S. 43 Anm. 53; Resch, NS 1, S. 55; Schröder, ZStW 66, S. 190 f. 49

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III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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Maßregel im Vollzug und die gleichzeitige Anrechnung der Maßregelzeit auf die Strafzeit der dem Rechtsfolgensystem zugrunde liegende Grundsatz der Zweispurigkeit an entscheidender Stelle durchbrachen worden sei. Die klare Trennung zwischen der Strafe als einer Reaktion auf Schuld und der Maßregel als einer Reaktion auf (durch die schuldbezogene Strafe nicht zu beseitigende) Gefährlichkeit, von der das Strafrecht ausgehe, sei ebenso aufgegeben wie die - ebenfalls systembestimmende - Differenzierung zwischen der Strafe als bewußter Übelszufügung und den Maßregeln als Tatfolgen ohne Übelscharakter52 • Man hat diesem Einwand - soweit man ihn als berechtigt ansah die Feststellung entgegengestellt, daß das Strafrecht nicht dazu da sei, "sich als imponierender Bau systematischer Geschlossenheit zu repräsentieren"a3, und daß kein System der Kriminalpolitik aufgehen und zugleich praktikabel sein könneM. Überwiegend sieht man so in der Einführung des vikariierenden Systems eine Durchbrechung des Zweispurigkeitsprinzips, nimmt diese jedoch hin und rechtfertigt sie durch den Hinweis auf die erzielte "höhere Wirksamkeit und Schlagkraft des Kriminalgesetzes"a5 • Daß ein System der reinen Zweispurigkeit mit seiner antithetischen Gegenüberstellung von Schuld/Strafe einerseits, Gefährlichkeit/Maßregel andererseits und dem daraus folgenden kumulativen Vollzug in einem modernen Strafrecht keinen Platz hat, weil es weder kriminalpolitischen Bedürfnissen gerecht wird, noch der Wirklichkeit des Sanktionsvorganges Rechnung trägt, wurde im vorangehenden Abschnitt bereits dargelegt56 • Das dort Gesagte gilt auch hier. Das Anliegen des Gesetzgebers, sich vom Gedanken der Schuldvergeltung um bloßer Vergeltung willen abzuwenden und ein Strafrecht zu schaffen, "das sich auf die zum Rechtsgüterschutz notwendigen Maßnahmen beschränkt und im übrigen den Gedanken der sozialen Anpassung des Täters besonders in den Vordergrund stellt"57 , entspricht den geänderten Einsichten in das Wesen und die Funktion des Straf52 So Bruns, ZStW 71, S. 222; Dünnebier, ZStW 70, S. 37 f.; Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, S. 121, 127; Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben S. 17. a. A. (das vikariierende System sei mit dem dualistischen System "nicht unvereinbar") Mezger, NS 12, S. 225; Frey, Kriminalpolitische Aufgaben, S. E 37. 53 Lackner, Kriminologie und Strafrecht, S. 10. 54 Bockelmann, NS 12, S. 47, 53 f. 55 Vgl. Baumann, Streitschriften I, S. 25; Dreher, NS 3, S. 176; Güde, Prot. IV, S. 326 f.; Horstkotte, Prot. IV, S. 922; Kaiser, Kriminalistik 1967, S. 281; Lenckner, Strafrechtsreform, a.a.O., S. 83 f. 56 Siehe oben S. 21 ff., 29 ff. 57 Erster schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform BT-Drucks. V/4094, S. 9 f.; vgl. ferner Baumann bei J. Meyer, ZStW 81, S. 353 ff.; Hei nitz, Individualisierung, S. 3 ff.; Hohler, NJW 1969, S.1226; Horstkotte, NJW 1969, S.1601 ff.; Lange, Wandlungen, S. 345, 351; Noll, Schuld und Prävention, S. 220, 221; SchülerSpringorum, a.a.O., S. 131.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

rechts und der strafrechtlichen Sanktionen. Zu verwirklichen war dieses Anliegen nur durch eine gewisse Auflockerung und Durchbrechung des überkommenen Prinzips der Zweispurigkeit. Im Grunde erweist sich der Einwand des Systemwiderspruchs so als ein rein formaler Einwand, der von keinen Sachgesichtspunkten getragen ist, der vielmehr wesentliche Einsichten um der Geschlossenheit des Systems willen preisgibt. Er kann deshalb nicht ins Gewicht fallen58•

b) Verletzung des Schuldprinzips? In engem Zusammenhang mit dem soeben behandelten Einwand steht der kritische Hinweis, das vikariierende System sei mit dem Schuldstrafrecht unvereinbar; es führe - zumindest soweit es eine Anrechnung des Maßregelvollzugs auf den Strafvollzug vorsehe - zu einer Verletzung des Schuldprinzips59 • Auch dieser Einwand muß sich bereits von den zuvor angestellten Erörterungen aus60 als nicht stichhaltig erweisen. So kann allenfalls ss Oft steckt hinter dem Argument des Systemwiderspruchs mehr oder weniger offen ausgesprochen die Befürchtung, jede Auflockerung des Zweispurigkeitsgedankens führe schrittweise und zwangsläufig zur Abschaffung des Strafrechts und seiner Ersetzung durch ein einspuriges, auf bloße Spezialprävention bedachtes Maßregelrecht (so besonders Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 15, 20; vgl. auch Arth. Kaufmann, Schuldprinzip, S. 202 ff.) . Eine solche Befürchtung aber ist derzeit unangebrachter denn je zuvor. Zwar werden Mergen und seine Schule nicht müde, in immer neuen Abhandlungen die Widersprüchlichkeit und Unzweckmäßigkeit eines zweispurigen Strafrechtssystems zu behaupten und statt dessen ein System sozialer Schutzmaßnahmen vorzuschlagen (vgl. Mergen, Kriminologie und Strafrecht, S. 15 ff.; Eisenberg, a.a.O., S. 57 ff.; 70 ff.). Die Entwicklung der Kriminologie und der Sanktionsforschung ist über die in diesen Abhandlungen zutagetretende vereinfachende Fragestellung und ihre durchweg undifferenzierte wissenschaftliche Behandlung längst hinweggeschritten, vgl. H. Kaufmann, JZ 1962, S. 193 ff. ; Gramaticas System, a.a.O., S. 418 ff.; Lange, Wandlungen, a.a.O.; Sack, Neue Perspektiven, a.a.O.; Kaiser, Moderne Kriminologie, a.a.O. Es gibt in der modernen Kriminologie keinen Trend zur Abschaffung des Strafrechts oder zu einer bloß einspurigen Behandlung der Rechtsbrecher, gegen den man ein Bollwerk errichten müßte. Auch die von kriminologischen Erkenntnissen getragene kriminalpolitische Forderung nach stärkerer Differenzierung der Rechtsfolgen, die sich in der Strafrechtsreform wenigstens teilweise realisierte, zielt nicht auf die Schaffung eines einspurigen Rechtsfolgensystems. Derartige Befürchtungen, Relikte aus der unseligen Zeit des Schulenstreits, erschweren eine sachliche Auseinandersetzung; sie sollten in der Diskussion einer an kriminologischen Forschungsergebnissen orientierten Strafrechtsreform keinen Platz mehr haben. Daß die Kriminologie das Strafrecht und besonders seine Sanktionen immer wieder in Frage stellt, liegt in der Situation ihrer Wissenschaftlichkeit begründet. Die Gefahr jedoch, daß man aus den Ergebnissen der kriminologischen Forschung voreilige Folgerungen für das strafrechtliche Rechtsfolgensystem zieht, besteht in Deutschland nicht. 59 Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 15 f.; Rehs, NS 3, S. 219; vgl. auch Peters, Grundfragen, S. 43 Anm. 53. 60 s. o. s. 22 ff.

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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derjenige, welcher aus dem Schuldprinzip die Notwendigkeit einer strafenden Reaktion ableitet, in der teilweisen Ersetzung des Strafvollzugs durch den Maßregelvollzug einen Verstoß gegen dieses Prinzip herleiten61 ; daß das Schuldprinzip insoweit jedoch keine konstitutive Bedeutung hat, wurde oben dargelegt62 • Auffallend ist immerhin, daß auch konsequente Anhänger des Schuld-Sühne-Gedankens das vikariierende System als mit einem so verstandenen Schuldprinzip für vereinbar ansehen63 • Möglich wird dies durch ein gewandeltes Verständnis des Sühnegedankens, in welchem die rein vergeltende Funktion der Sühne zurücktritt hinter die individualethische Bedeutung des Sühnevorgangs als Akt der Erkenntnis der Schuld und als Appell an die Selbstverantwortlichkeit des Täters. Die von der Schuld geforderte Sühne wird so zu einem Mittel der Spezialprävention und ist darüber hinaus nicht mehr angewiesen auf das Substrat der Strafe oder des Strafvollzugs64 , weil Resozialisierung stets - auch im Gewand der Maßregel - auf die Ermöglichung des Sühneerlebnisses bedacht ist. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip ist darin nicht enthalten. Schließlich erscheint es auch schon deshalb verfehlt, das Vikariieren in einen Widerspruch zum Schuldstrafrecht zu bringen, weil auch in dem für ein Vikariieren offenen Bereich der Strafausspruch beibehalten ist und der Gesetzgeber den Austausch von Strafe und Maßregel lediglich auf der Vollzugsebene zugelassen hat. Damit ist eine wesentliche Funktion der Strafe, in der sie sich auch und gerade von der Maßregel grundlegend unterscheidet - die am Schuldmaß ausgerichtete sozialethische Mißbilligung des Täters - , beibehalten. Der mögliche Einwand, eine Strafe, die lediglich ausgesprochen, aber (in der Regel) nicht vollzogen werde, stelle allenfalls eine leere Formel dar, von der keine realen Wirkungen mehr ausgingen und auf die man deshalb ebensogut verzichten könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als unzutreffend. Hier zeigt ein Blick in das neuere strafrechtliche Schrifttum, daß die strafrechtliche Dogmatik in der Beurteilung nicht nur der Funktion und des Wesens der Strafe, sondern auch der Strafwirkungen zu einer 61 So geht etwa Rehs (NS 3, S. 219) davon aus, der Schuldstrafe liege der Gedanke zugrunde, daß sie von der Schuld befreien, während die Maßregel künftige Schuld verhindern solle. Daraus folgert er: "Wendet man nur die Maßregel an, so bleibt der Täter mit der Schuld belastet, die Tat ungesühnt." 62 s. o. s. 24 ff. 63 So z. B. Arth. Kaufmann, Aspekte, S. 67 f. 64 Ausdrücklich sagt Arth. Kaufmann (Aspekte, S. 67): Zwar mache "Schuld Sühne erforderlich - aber nicht Sühne gerade durch staatliche Strafe ... , vielmehr tritt diese ... zurück, wenn die Schuld auf andere Weise gesühnt werden kann". Vgl. auch Baumann bei J. Meyer, ZStW 81, S. 355, der zu der Feststellung gelangt, daß Sühne in einem an bloßer Übelszufügung ausgerichteten Strafvollzug gar nicht möglich sei. "Schuld und Sühne erforderten eine sozial vernünftige, d. h. eine zweckmäßige Reaktion auf die Tat" ; ähnl. Streitschriften II, S. 110 ff.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

wesentlich differenzierteren Betrachtungsweise gefunden hat, als dies etwa noch vor eineinhalb Jahrzehnten der Fall war65• Dazu gehört die Erkenntnis, daß die Strafe in den verschiedenen Phasen ihrer Verwirklichung- von der Gesetzgebung über den Richterspruch bis zum Vollzug - ihre einzelnen Zwecksetzungen in unterschiedlicher Akzentuierung zur Geltung bringt66 , daß vor allem -und darin ist die Übereinstimmung der Standpunkte wohl am größten - der Strafvollzug in Form und Zielsetzung auf Spezialprävention ausgerichtet sein muß und alle anderen - den Straftheorien entnommenen - Strafzwecke (sei es Vergeltung oder Generalprävention) hier keine eigenständige Bedeutung mehr haben67 • So gesehen ist es nur folgerichtig, im Sinne des Vikariierens einzelne Stadien des Strafvorgangs- hier den Vollzugabzulösen und durch die spezielpräventiv besser geeignete Maßregel zu ersetzen, der Strafe im übrigen aber ihren vollen Wirkungsbereich zu belassen. Ein Widerspruch zum Schuldstrafrecht wird durch ein solches Verfahren nicht hervorgerufen. Soweit man der Schuld eine für die Verhängung von Strafe konstitutive Bedeutung beilegt68 , ist dem durch den Strafausspruch Genüge getan. Nicht übersehen ist dabei auch, daß die der Schuld zukommende eingriffsbegrenzende Funktion praktisch wirkungslos bleibt, weil diese zwar für die Strafe, nicht aber für die Maßregel und deren Vollzug gilt. Wollte man darin einen Widerspruch zum Schuldprinzip sehen, so wäre dieser nicht begründet durch die Zulassung des Vikariierens, er läge vielmehr bereits weit davor, nämlich in der Verwirklichung des dualistischen Systems selbst69 • Aus den angeführten Gründen läßt sich auch der Einwand nicht aufrechterhalten, ein Widerspruch zum Schuldstrafrecht liege darin, daß das Maß der Strafe nicht allein von der Schuld, sondern auch von der Gefährlichkeit des Täters abhängig gemacht werde, das vikariie65 Man vergleiche etwa die Entwicklung der Diskussion in der Großen Strafrechtskommission bis hin zu den Erörterungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform und die Beiträge der Verfasser des AE in: Programm für ein neues Strafgesetzbuch, a.a.O., und in: Mißlingt die Strafrechtsreform, a.a.O. 66 Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 243, 245; Kohlrausch-Lange, Vorbem. vor § 13 StGB; Milller-Dietz, Strafbegriff, S. 121; Roxin, JuS 1966, S. 377 ff.; Schilter-Springorum, a.a.O., S. 123 ff. 67 Baumann, StrafR, Allg. T., S. 12 ff.; Lenckner, Strafrechtsreform, a.a.O., S. 76; Milller-Dietz, Strafbegriff, S. 114 f. m. w. N.; Noll, ethische Begründung, S. 17 ff.; Roxin, JuS 1966, S. 377 ff.; Schiller-Springorum, a.a.O., S. 131 ff.; Stratenwerth, SchwZStR 72, S. 350; ders., Schuld, a.a.O., S. 350. Differenzierend Friedrichs, Spezialpräventive Wirkung, S. 5 ff., 204 ff., der jedoch für den praktischen Vollzug letztlich zum selben Ergebnis kommt (S. 266 ff., 270). 68 Vgl. neben den Anhängern des Gedankens der Schuldvergeltung (wie z. B. Maurach StrafR, Allg. T., S. 76 ff., 835 ff. m. w. N.) auch Gallas, ZStW 80, S. 4 f.; Jescheck, ZStW 80, S. 58 ff.; Arth. Kaufmann, Aspekte, a.a.O., S. 63 ff. 69 Vgl. dazu Grilnwald, ZStW 76, S. 633 ff. (636 f.).

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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rende System dadurch zu einem "unzulässigen Austausch von Rechtsgrund und Rechtsfolgen" führe 70 • Die in diesem Einwand vorgebrachte Kritik richtet sich in erster Linie gegen die vom Gesetz bestimmte vbligatorische Anrechnung der Maßregeldauer auf die Strafdauer. Diese Regelung führt praktisch dazu, daß je nach der Gefährlichkeit des Täters die nach dem Vollzug verbleibende Reststrafe mehr oder weniger hoch ist, und daß weiter der Strafrest gemäß § 67 Abs. 5 StGB n. F. in der Regel ausgesetzt werden kann, wenn - grob gesprochen - die Gefahr erneuter Straffälligkeit nicht mehr besteht. So gesehen ist nicht zu bestreiten, daß der VolLzug der Strafe und die Dauer eines solchen Vollzugs im Bereich des Vikariierens wesentlich von der Gefährlichkeit des Täters und nicht von seiner Schuld bestimmt werden. Ebenso unbestreitbar aber bleibt auch hier die Strafe selbst in ihrem Ob und Wie strikt gebunden an das Vorliegen und an das Maß der Schuld. Ein Austausch von Rechtsgrund und Rechtsfolge kann jedenfalls dem vikariierenden System nicht unterstellt werden. Daß im übrigen das Schuldprinzip weder dazu zwingt, den durch das Schuldmaß bestimmten Strafrahmen in jedem Fall in voller Höhe auszuschöpfen, noch dazu, eine ausgesprochene Freiheitsstrafe auch tatsächlich zu vollstrecken, sollte nicht mehr ernsthaft in Streit stehen71 • c) Unzulässige Übertragung von Straffunktionen auf die Maßregel?

Gegen das System der Vikariierung wurde schließlich eingewendet, es enthalte eine unzulässige Übertragung von Straffunktionen auf die MaßregeF2 und schaffe dadurch einen unklaren Bereich zwischen dieser und der Strafe73 • Zwar wird von den Kritikern nicht näher ausgeführt, worin sie im einzelnen diese Übertragung begründet sehen, doch liegt es nahe, sie darin zu suchen, daß auf der Vollzugsebene die Strafe faktisch weitgehend durch die Maßregel ersetzt wird, die letztere also - so lautet die Schlußfolgerung - insoweit offenbar die Funktionen der ersteren mit zu übernehmen hat. Genau genommen So Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S . 15 f. s. o. S. 24 ff. und unten S. 158 f.; a. A. aber Maurach, der sich a.a.O. auch gegen eine aus spezialpräventiven Gründen angebrachte Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe wendet (Kriminalpolitische Aufgaben, S.15 f.). 12 Vgl. etwa Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, a.a.O., S. 123 (Maßregeln würden durch Vermischung mit Strafelementen denaturiert). In dieselbe Richtung gehen die Ausführungen von Würtenberger, Mat. 1, S. 97 f., die über die Problematik der Sicherungsverwahrung hinaus grundsä tzliche Bedeutung haben. Vgl. auch R eh s, NS 3, S. 219 und Resch, NS 1, S. 55. 73 Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 17 ("Verwischung des Wesens und ... d er ratio essendi beider Sanktionsgruppen"). 10

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

wäre es also nicht die Maßregel als solche, sondern lediglich deren Vollzug, der mit Straffunktionen belastet sein könnte. Vom Standpunkt der Logik erscheint bereits die von den Kritikern gezogene Schlußfolgerung nicht zwingend: Eine Funktionsverlagerung wäre nur dann anzunehmen, wenn der Vollzug der Maßregel andere Funktionen zu erfüllen hätte als der Vollzug der Strafe; dies ist zumindest zweifelhaft. So kommen etwa die wenigen Untersuchungen, die sich mit dem Verhältnis von Strafe und Strafvollzug befassen, überwiegend zu dem Ergebnis, daß das, "was für das staatliche Strafen allgemein gilt, ... nicht schon deswegen auch den Strafvollzug" bestimmt74, daß der Vorgang des Strafens in seinen einzelnen Stufen qualitativ und funktional durchaus unterschiedliche Zielsetzungen aufweist75• Schließlich darf heute auch der Standpunkt als überwunden gelten, daß die Strafe, weil begrifflich ein gewolltes Übel, auch nur als solches vollzogen werden könne, daß, was auf der begrifflichen Ebene unvereinbar sei, sich auch im Vollzug nicht gleichen und gegeneinander aufgerechnet werden könne7&. Damit ist zwar nichts darüber ausgesagt, ob etwa die Funktionen von Strafvollzug und Maßregelvollzug identisch sind oder inwieweit sie sich überschneiden. Dies zu untersuchen, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich. Doch erscheint jedenfalls die Feststellung zulässig, daß beide Vollzugsformen nicht schon deshalb unterschiedliche Funktionen aufweisen müssen, weil Strafe und Maßregel als solche dogmatisch unterschiedlich strukturiert sind und sich in einzelnen Stufen ihrer Verwirklichung (etwa im Vorgang ihrer Verhängung) auch funktional nicht völlig decken77. Selbst wenn man aber einen solchen Austausch der Funktionen annehmen wollte, so ist nicht ersichtlich, warum dieser unzulässig sein sollte. Daß das Vikariieren keinen Verstoß gegen das Schuldprinzip bedeutet, wurde bereits dargelegt78 • Desgleichen zeigte sich, daß dogmatische Gründe nicht dagegen sprechen, die Strafe in beschränktem Maße völlig durch die Maßregel zu ersetzen, wobei die letztere die Aufgaben der ersteren mit zu übernehmen vermag, weil in ihrer faktischen Wirkung beide Sanktionsformen nicht wesentlich differieren und die Maßregel so die wesentlichen Elemente für die Erfüllung spezifischer Straffunktionen enthält 74 Schii.ler-Springorum, a.a.O., S. 129; a. A. Friedrichs, Spezialpräventive Wirkung, S. 5 ff. 75 Müller-Di etz, Strafbegriff, S. 110. 7& Vgl. dazu W. Schmidt, a.a.O., S. 173 ff. 11 So hat die Strafe hier weitere Funktionen : Etwa die sozialethische Mißbilligung des Täters nach dem Maß seiner Schuld oder auch den im Schuldausspruch vollzogenen formalen Ausgleich der verletzten Rechtsordnung. 78 s. o. s. 38 ff.

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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(Reaktion auf eine strafbare Handlung, Übelszufügung durch Freiheitsentzug und dadurch Ermöglichung von Sühne und Ausgleich der verletzten Rechtsordnung)1 9 • Dies besagt freilich nicht, daß die Maßregel, indem sie Straffunktionen wahrnimmt, eben nicht mehr Maßregel, sondern Strafe sei80• In ihren Voraussetzungen - der Anknüpfung an die Täterpersönlichkeit - und in ihrer spezifischen Zielsetzung der Beseitigung tiefgreifender psychischer Störungen oder physischer Mängel von kriminologischer Bedeutung - ist die Maßregel strukturell und funktional von der Strafe verschieden. In ihrer faktischen Wirkung aber enthält sie Elemente der Strafe, die - mögen sie auch nur von sekundärer Bedeutung sein- gleichwohl real zur Geltung kommen und dadurch auch funktional verwertbar werden, indem sie insoweit den Verzicht auf Strafe, wenn nicht erzwingen81 , so doch ermöglichen. Es ist kein Grund ersichtlich, der diesen - im Vikariieren eigentlich bloß sichtbar gemachten - Zusammenhang von Strafe und Maßregel als unzulässig erscheinen ließe. 2. Sonstige Einwände

Neben den spezifisch strafrechtsdogmatischen Einwänden gegen das System des Vikariierens finden sich im Schrifttum eine Reihe weiterer Bedenken, die teils allgemein-rechtsdogmatischer, teils kriminalpolitischer Natur sind, und die teils auch die Praktikabilität der gesetzlichen Regelung betreffen. a) Ist die vikariierende Lösung ungerecht? Das Bedenken, die Anwendung der gesetzlichen Regeln über das Vikariieren müßte zumindest teilweise in Konflikt mit dem Gerechtigkeitsgebot geraten, hat vor allem in den Erörterungen des Sonderausschusses eine Rolle gespielt82 und wurde auch im Schrifttum vereinzelt geltend gemacht83 • Meist standen dabei bestimmte Fallkonstellationen vor Augen, etwa derart, daß von Tätern der eine sowohl zu (länger dauernder) Freiheitsstrafe als auch zu stationärer Maßregel s. 0. s. 31 ff. Es wäre in der Tat ein - unzulässiger - Etikettenschwindel par excellence, wollte man unter dem Deckmantel der Maßregel Strafe betreiben. Darum geht es, wie im Text darzulegen versucht wird, gerade nicht. Vgl. demgegenüber die Ausführungen von Würtenberger in Mat. 1, S. 97 f. 81 Es ließen sich ohne daß dies hier ausgeführt werden könnte sicherlich beachtliche Gründe dafür finden, eine Kumulation im Vollzug als unzulässig anzusehen (Problem der Doppelbestrafung; Verletzung des in Art. 20 GG verfassungsmäßig verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes). 82 Vgl. Prot. V, S. 362 f.; 2323 ff. 83 Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, a.a.O., S. 122; Schröder, ZStW 66, S. 189. 79

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

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verurteilt wird, der andere aber - da er zuvor bereits aufgrund der Unterbringungsgesetze der Länder mit einer Einweisung belegt worden war - nur eine Freiheitsstrafe erhält; in diesem Fall sei es ungerecht, daß der erstgenannte Täter im Wege des Vikariierens vom Strafvollzug verschont bleibe, während der zweite seine Strafe verbüßen müßte. Ähnliche Bedenken ergaben sich für eine Fallkonstellation, in der eine hohe Freiheitsstrafe mit einer relativ kurzfristigen Maßregelanordnung zusammentrifft, etwa derart, daß ein Trunksüchtiger wegen Totschlags zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und gleichzeitig die (auf längstens zwei Jahre begrenzte84) Einweisung in eine Trinkerheilanstalt angeordnet wird. Hier kann das Vollstreckungsgericht gemäß § 67 Abs. 5 StGB n. F. den durch Anrechnung nicht erledigten Strafrest stets zur Bewährung aussetzen; geschieht dies nicht, so wird grundsätzlich85 der Vollzug der Maßregel fortgesetzt. In der Regel bleibt also der Täter auch hier vom Strafvollzug verschont. Bedenken könnten unter dem Aspekt der Gleichbehandlung schließlich auch dagegen bestehen, daß bei den medizinisch indizierten Maßregeln der aufgrund einer Straftat in Beh andlung gebrachte Täter dieselbe Behandlung erfahre wie ein Nichtstraffälliger, der aufgrund der Unterbringungsgesetze der Länder in eine - möglicherweise dieselbe - Anstalt gebracht wurde oder sich freiwillig dorthin begeben hat. Die Frage, ob die gesetzliche Regelung des Vikariierens in der richterlichen Praxis zu Entscheidungen führt, die als unbillig anzusehen sind, läßt sich einmal messen an dem abstrakten Gerechtigkeitsprinzip, das nach überwiegender Auffassung des verfassungsrechtlichen86 wie des strafrechtlichen87 Schrifttums im Rechtsstaatsgedanken des Grundgesetzes (Artikel 20 Abs. 3) zum Ausdruck kommt. Ein solches Unterfangen sieht sich allerdings zunächst der Schwierigkeit ausgesetzt, daß es eine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung der Gerechtigkeit bisher nicht gibt, und daß allein aus dem Gerechtigkeitsprinzip als solchem mittels eines einfachen Subsumtionsschlusses unmittelbare Entscheidungen in einem konkreten Streitfall nicht herzuleiten sinds8. Speziell für das Strafrecht hat der Gerechtigkeitsgedanke zwar seit langem im Bereich der Strafzumessungslehre eine gewisse Konkretisierung erfahren; so wird etwa die Schuldangemessenheit der Strafe 84 § 67 d Abs. 1, erster Halbsatz, StGB n. F. 85 Die in § 67 Abs. 5 Satz 2 n. F. genannten Ausnahmen für den Fall, daß Umstände in der Person des Verurteilten den Vollzug der Strafe angezeigt erscheinen lassen, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang. 86 Vgl. etwa Hamann-Lenz, a.a.O., S. 57; v. Mangoldt-Klein, a.a.O., Art. 20, Bem. VI 1; Maunz-Dürig, a.a.O., Art. 20, RdNr. 59; BVerfGE 3, S. 253 ; 7, S. 196. 87 Lange, Mat. 1, S. 71; ders., SchwZStR 70, S. 380 ff.; Warda, Ermessen,

s. 132 ff.

ss Warda, Ermessen, S. 134 m. w. N.

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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oder die Berücksichtigung der verschiedenen Strafzumessungsgründe aus dem Gerechtigkeitsgebot hergeleitet89 • Dem hier im einzelnen nachzugehen, bedarf es jedoch nicht. Denn auch soweit sich der Gerechtigkeitsgedanke in einzelnen Bereichen des Strafrechts in Form bestimmter Regelungen oder Auslegungsgrundsätze niedergeschlagen hat, gibt er wenig mehr als ein äußerstes negatives Maßprinzip, das besagt, wann eine bestimmte Regelung oder eine konkrete Entscheidung eindeutig d. h. nach dem Urteil einer breiten Mehrheit vernünftiger Staatsbürger - den Forderungen der Gerechtigkeit widerspricht90 • An diesem noch immer sehr allgemeinen Maßstab sind die Regeln über das Vikariieren zu messen. Zuvor allerdings empfiehlt sich eine Prüfung der Frage, ob der Grundsatz des Vikariierens und seine Ausformung im Gesetz nicht bereits gegen Artikel 3 GG verstößt, einen Rechtssatz, der nach verbreiteter Auffassung der verfassungsrechtlichen Literatur eine besondere Ausgestaltung des Gerechtigkeitsgedankens darstellt91 • Wäre hier bereits ein Widerspruch zu finden, so würde sich ein Rückgriff auf das allgemeine Prinzip erübrigen. aa) Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 GG? Artikel 3 Abs. 1 GG beinhaltet das für den Gesetzgeber92 wie für den Richter bindende Gebot, sachverhaltlieh Gleiches gleich, sachverhaltlieh Verschiedenes je nach seiner Eigenart unterschiedlich zu behandeln93 • Über diesen allgemeinen Grundsatz hinaus besteht im verfassungsrechtlichen Schrifttum keine Einmütigkeit über die konkrete Inhaltsbestimmung der Gleichheit und den Umfang der Bindung des Gesetzgebers. Der überwiegende Teil des Schrifttums sieht in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Verletzung des Gleichheitssatzes dann als gegeben an, wenn eine gesetzliche Regelung nach dem jeweiligen Rechtsbewußtsein "willkürlich" erscheint, d. h. "wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonstiger, sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung 89 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 43; Henkel, a .a.O., S. 23 ff. ; Maurach, StrafR, Allg. T., S. 835 f.; v. Weber, Strafzumessung, S. 8, S. 11 ff. 9o Vgl. dazu eingehend Warda, Ermessen, S. 132 ff.; Leibholz, a.a.O., S. 61. 91 Leibholz, a.a.O., S. 219, 244; v. Mangoldt-Klein, Art. 3, Anm. III 4; Warda, Ermessen, S. 155m. w. N.; vgl. auch BVerfGE 1, S. 264 ff.; 9, S. 206. 92 h. M. vgl. etwa Hamann-Lenz, a.a.O., Art. 3, Anm. B 3; Leibholz, a.a.O., S. 34 f., 86 f.; v. Mangoldt-Klein, Art. 3, Anm. 111, 2; Wernicke, BK, Art. 3, Anm. II 1 a. sa v. Mangoldt-Klein, Art. 3 Anm. III, 1; Warda, Ermessen, S . 156, jew eils m.w.N.

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1. Teil:

Das Prinzip des Vikariierens

nicht finden läßt" 94 . Für die Frage, wann eine Verschiedenheit so gravierend oder "sachlich einleuchtend" ist, daß sie im Rahmen einer gesetzgebensehen Regelung eine differenzierende Behandlung gebietet, muß diese Meinung auf den allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken zurückgreifen: Nur wenn die in der Regel vielfältig vorhandenen tatsächlichen Ungleichheiten in den zur Kodifizierung anstehenden Sachzusammenhängen "für eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise"95 bedeutsam erscheinen, muß der Gesetzgeber sie berücksichtigen, will er vor dem Willkürverbot bestehen. Demgegenüber sieht eine Mindermeinung in der weitgehenden Identifizierung des Gleichheitsbegriffs mit dem Willkürverbot bzw. dem Gerechtigkeitsgebot die Justiziabilität des Gleichheitssatzes weitgehend aufgehoben; an die Stelle objektiv berechenbarer Entscheidungskriterien tritt - so befürchtet man - zwangsläufig das subjektive Wertempfinden des Richters96. Daß der Gesetzgeber "dem Gebot der Gerechtigkeit verpflichtet" ist, wird auch von dieser Auffassung ausdrücklich anerkannt. Sie wendet sich aber dagegen, "daß der Richter es ist, der ihn (den Gesetzgeber) zur Gerechtigkeit zu rufen habe"97. Freilich kommen auch die Anhänger dieser Lehre nicht daran vorbei, "zur alleräußersten Begrenzung des legislatorischen Ermessens" eine richterliche Willkürprüfung gegenüber dem Gesetzgeber zuzulassen98 ; um jedoch justiziabel zu sein, muß diese Willkürkontrolle auf eine allgemeine Gerechtigkeitsprüfung verzichten und sich darauf beschränken, zu untersuchen, ob das zu prüfende Gesetz den maßgeblichen Verfassungsprinzipien entspricht, also nicht etwa die Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Gewaltenteilung und andere fundamentale Prinzipien verletzt99• Mit der Anerkennung einer derartigen Willkürkontrolle geraten die Anhänger jener Mindermeinung freilich in Widerspruch zu ihrem eigenen Ausgangspunkt: Eine Prüfung der Rechtsstaatlichkeit eines Gesetzes muß zwangsläufig die Prüfung seiner Gerechtigkeit mit umfassen; denn daß die Gerechtigkeit ein wesentliches Element des Rechtsstaates ausmacht, darf heute als gesicherte Erkenntnis der Verfassungslehre be94 So das Bundesverfassungsgericht bereits im ersten Band, S. 52. Dieser Satz kehrt in ähnlichen Formulierungen in fast allen späteren Entscheidungen wieder; vgl. etwa BVerfGE 1, S. 247; 3, S. 136. Vgl. aus dem Schrifttum Hamann-Lenz, Art. 3, Anm. B 4; Hesse, Verfassungsrecht, S. 165 f.; Lei bholz, S. 2 ff., 238 ff.; v. Mangoldt-Klein, Art. 3, Anm. III 1; Stree, a.a.O., S. 63; Warda, a.a.O., S. 157. 95 So BVerfGE 1, S. 276 und 2, S. 119; zustimmend Leibholz, a.a.O., S. 4. 96 So vor allem Ipsen, a.a.O., S. 166; Jerusalem, NJW 1952, S. 47; einschränkend auch Zeidler, DÖV 1952, S. 6; Hesse, AÖR 77, S. 224. 97 Ipsen, a.a.O., S. 170. 98 Ipsen, a.a.O., S. 186 ff. 99 Ipsen, a.a.O., S. 183 f.

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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trachtet werden1o0. Das Problem der Justiziabilität des G€rechtigkeitsprinzips, das jene Mindermeinung durch einen Rekurs auf den Hechtsstaatsgedanken gelöst zu haben glaubt, stellt sich auf diesem Wege erneut. Der Standpunkt der Rechtsprechung und der überwiegenden Auffassung des Schrifttums erscheint so folgerichtiger und hat sich durchweg auch als praktikabel erwiesen. Er führt auch nicht zu einer unter dem Aspekt der Gewaltenteilung bedenklichen - Ersetzung der legislativen Gerechtigkeitsbestimmung durch eine richterliche. Er bedeutet vielmehr - wie dies oben bereits dargelegt wurdetot - die Annahme eines äußersten Maßprinzips, das jenseits jeder rechtlich vertretbaren Erwägung und außerhalb der "Sphäre des möglichen Zweifels" einen konkreten Sachverhalt nach dem Urteil "aller rechtlich Denkenden" deshalb als ungerecht ausweistl 02 , weil einzelne Merkmale des zu regelnden Sachverhalts in einer Weise verwertet wurden, die diese nach dem Zweck der Norm als unerheblich, sachfremd oder inadäquat erscheinen läßttos. Mißt man die Regeln über das Vikariieren an diesem Maßstab, so zeigt sich folgendes: Soweit Straffällige und nicht Straffällige räumlich und zeitlich demselben Maßregelvollzug unterworfen werden, kann darin kein Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG (in seiner negativen Bedeutung: Ungleiches verschieden zu behandeln) gesehen werden: Für den Straftäter ist der Maßregelvollzug nur ein Teil des gesamten Sanktionsvorgangs; er wird darüber hinaus entsprechend seiner Schuld zusätzlich mit einer Strafe belegt, die - mae: sie auch nicht vollstreckt werden - den Täter doch mit einem sozialen Tadel belegt und für die Zukunft als vorbestraft ausweist. Eine Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte ist somit nicht gegeben. Unbedenklich ist ferner die Bestimmung, daß Straftäter, die einer besonderen, medizinisch indizierten Behandlung bedürfen, statt in den Strafvollzug in einen gesonderten Maßregelvollzug gelangen, und daß dabei die Maßregeldauer auf die Strafzeit angerechnet wird; diese Regelung kann in dem zuvor dargelegten Sinne nicht als willkürlich bezeichnet werden. Schwieriger ist demgegenüber die Frage zu beantworten, ob das Gleichbehandlungsgebot auch insoweit gewahrt ist, als der in den Maßregelvollzug Eingewiesene in der Regel vom Strafvollzug auch dann verschont bleibt, wenn die tatsächliche Vollzugsdauer erheblich hinter dem im Strafausspruch enthaltenen Strafmaß zurückbleibt. Im too Vgl. die o. Anm. 86 zitierte Literatur. 101

s. 0.

s. 45.

to2 Leibholz, a.a.O., S. 261; Warda, a.a.O., S. 139. to3 In diesem letzteren Sinne auch Ipsen, a.a.O., S. 190.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

Vergleich mit dem "normalen" Straftäter wäre hier der mit Strafe und Maßregel gleichzeitig belegte Täter zumindest dort begünstigt, wo die Strafe gemäß § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB n. F. zur Bewährung ausgesetzt wirdto4. So läßt sich etwa der durchaus nicht lebensfremde Fall denken, daß zwei Täter, A und B, wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt werden, B als Trinker jedoch gleichzeitig gemäß § 64 StGB n. F. in eine Entziehungsanstalt eingewiesen wird. Wird die Maßregel gemäß § 67 Abs. 1 StGB n. F. vor der Strafe vollzogen, so ist B, wenn der Zweck der Unterbringung erreicht ist, gemäß § 67 d StGB n. F. spätestens nach Ablauf von zwei Jahren aus der Anstalt zu entlassen, gemäß § 67 Abs. 5 n. F. kann die durch Anrechnung noch nicht erledigte Reststrafe in Höhe von acht Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden. Für A hingegen stellt sich der Vorgang der Bestrafung wesentlich ungünstiger dar. Er kann gemäß §57 Abs. 1 StGB n. F. aus dem Strafvollzug grundsätzlich erst entlassen werden, wenn er zwei Drittel seiner Strafe, hier also über sechs Jahre, bereits verbüßt hat. Nur in Ausnahmefällen ermöglicht § 57 Abs. 2 StGB n. F. eine Entlassung bereits nach Verbüßung der Hälfte der Strafdauer. Nun läßt sich zwar nicht leugnen, daß die ungleichartige Behandlung durch die Besonderheit der konstitutionellen Eigenart des "bevorzugten" Täters bedingt ist und sich also insoweit auf "sachlich einleuchtende, aus der Natur der Sache sich ergebende" Gründe stützen kann. Und doch erscheint es zweifelhaft, ob diese Differenzierung betrachtet man den gesamten Zusammenhang von Tat- und Sanktionsvorgang - als gerecht angesehen werden kann. Widerspricht es nicht dem Gerechtigkeitsgebot, daß von zwei Tätern mit gleicher Tatschuld der eine nur deswegen erheblich "milder" angefaßt wird, weil bei ihm noch andere, nicht durch den Vollzug der Strafe zu beeinflussende Faktoren vorhanden sind oder - umgekehrt betrachtet - daß ein Täter (dessen Strafe bei entsprechender Schuldschwere über das spezialpräventiv erforderliche Maß durchaus hinausgehen kann) länger als spezialpräventiv notwendig im Strafvollzug verbleiben muß, während ein anderer, trotz gleicher Schuld (weil besonderer Behandlung bedürftig) nur für die Dauer des spezialpräventiven Erfordernisses mit Freiheitsentzug belegt wird? Die Problematik ist also, dies sei ausdrücklich hervorgehoben, nicht darin zu sehen, daß gleiche Schuld nicht to4 Soweit der Täter weiter im Maßregelvollzug verbleibt, kann angesichts der damit verbundenen Freiheitsbeschränkung von einer ins Gewicht fallenden Benachteiligung des Normaltäters nicht die Rede sein; zumindest aber können ernsthafte Zweifel über die Sachgerechtigkeit dieser Regelung nicht aufkommen.

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gleiche Sanktionsschwere zur Folge hat105, sondern darin, daß im einen Fall im wesentlichen106 spezialpräventive Erfordernisse die tatsächliche Eingriffsschwere (nämlich die zeitliche Dimension des Vollzugs) bestimmen, während im anderen Fall für die Strafzumessung und für die Dauer des Strafvollzugs auch andere (im weiteren Sinne generalpräventive) Erwägungen eine vorrangige Rolle spielen107. Es erscheint zumindest auf den ersten Blick nicht einleuchtend, daß im einen Fall die Schuldgröße neben dem spezialpräventiven Bedürfnis auf die Dauer des Freiheitsentzuges ohne Einfluß bleiben soll, daß sie im anderen hingegen diese Dauer auch über spezialpräventive Erfordernisse hinaus aus Gründen der Bewährung der Rechtsordnung maßgebend bestimmt. Legt der Gesetzgeber - dies ist die Frage - hier nicht an eine im wesentlichen gleichartige Sachverhaltsgestaltung zwei verschiedene Maßstäbe an und ist dies gerechtfertigt? Vom kriminalpolitischen Standpunkt aus läßt sich eine derart unterschiedliche Behandlung der Rechtsbrecher durchaus vertreten. Die These, daß die Durchsetzung der Rechtsordnung nicht dadurch gefährdet wird, daß ein bestimmter Täterkreis von einer schuldangemessenen Betrafung verschont bleibt, ist bisher nicht widerlegt. Ein Kriterium der Beurteilung ist zweifellos die Häufigkeit einer solchen "inadäquaten" Bestrafung. Je seltener solche Fälle tatsächlich auftreten und je geringer in der Praxis die Differenz zwischen der zeitlichen Dauer des Maßregelvollzugs und der ausgeworfenen Strafhöhe ist, desto weniger ist eine Schwächung des Rechtsgehorsams der Bürger zu befürchten. Darüber, insbesondere über die zahlenmäßige Häufigkeit der in Betracht kommenden Tätergruppe wird der zweite Teil der Arbeit Aufschluß geben. Daß die kriminalpolitische Zielsetzung die Sanktionsgestaltung zuläßt, schließt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG freilich noch nicht aus. Denn ob es kriminalpolitisch sinnvoll ist, in bestimmten Fällen die Schuldgröße bei der Sanktionsgestaltung weitgehend außer acht zu lassen, ist eine Frage, ob es gerecht ist, dies zu tun, ist eine andere. Der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, der diese Frage durchtos Soweit trotz gleicher Schuld durch die Sanktion unterschiedliche spezialpräventive Bedürfnisse zu befriedigen sind, bestehen keine Bedenken gegen eine unterschiedliche Reaktion, weil das Erfordernis der Spezialprävention in beiden Fällen das wesentliche Entscheidungskriterium darstellt. to& Freilich nicht ausschließlich, wie sich aus §57 Abs. 1 Satz 2 StGB n. F. ergibt. 101 So ist zwar allgemein anerkannt, daß die Strafhöhe das Schuldmaß nicht voll ausschöpfen muß, daß aber andererseits die Strafe aus spezialpräventiven Gründen nicht so niedrig bemessen werden darf, daß ein zur Bewährung der Rechtsordnung gebotener gerechter Bezug zur Schuldgröße nicht mehr gegeben ist. Vgl. dazu bereits oben S . 24 ff. und unten 5. 157 ff.

4 Marquardt

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aus gesehen hat108, hat sich mit ihr gleichwohl nicht weiter auseinandergesetzt. Der Forderung einzelner Mitglieder, die Strafaussetzung auf Fälle zu begrenzen, in denen durch Anrechnung des Maßregelvollzugs wenigstens die Hälfte der Strafe verbüßt ist, wurde entgegengehalten, sie führe zu einer systemwidrigen Ausdehnung des Maßregelvollzugs, der seiner Zielsetzung nach stets nur bis zur Grenze des spezialpräventiv Erforderlichen andauern könne. Die konsequenteste Lösung, die gesamte Strafzumessung oder wenigstens den Strafvollzug innerhalb der durch die Schuld bestimmten Strafobergrenze ausschließlich an spezialpräventiven Erfordernissen auszurichten und so auch eventuelle, aus Art. 3 GG resultierende Bedenken zu beseitigen, erschien dem Sonderausschuß ebenso wie dem späteren Gesetzgeber als ein zu weitgehender Reformschritt109. So bleibt die Situation, daß nach dem Gesetz beim einen Täter von vornherein ausschließlich spezialpräventive Erwägungen die tatsächliche Dauer des Sanktionseingriffs bestimmen, beim anderen hingegen solche Erwägungen erst nach einem bestimmten Zeitablauf in Betracht gezogen werden dürfen. Für diese unterschiedliche Behandlung aber läßt sich ein sachlich zu rechtfertigender Grund schwerlich finden. Das Argument, die Notwendigkeit der Bewährung der Rechtsordnung lasse eine allein am Gedanken der Spezialprävention ausgerichtete Strafrechtspflege nicht zu, vermag in diesem Zusammenhang nichts auszurichten, weil nichts dafür spricht, daß gerade hier die entscheidende Trennungslinie verläuft, jenseits derer die Stabilität der Rechtsordnung ins Wanken geriete. Auch vom Standpunkt des der Norm verpflichteten Bürgers bedeutet es keinen Unterschied, ob ein zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilter Täter, der lediglich zwei Jahre verbüßen muß, diese im Gefängnis oder in einer Entziehungsanstalt zubringt; er wird jedenfalls kaum den Vollzug der Entziehungsmaßnahme als einen so tiefgreifenden Eingriff ansehen, daß dieser in der Relation einem zeitlich erheblich länger dauernden Strafvollzug gleichkäme. Auch daraus lassen sich Argumente, die jene unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten, nicht herleiten. Auch eine Reihe anderer Erwägungen, denen man im vorliegenden Zusammenhang eine gewisse Bedeutung durchaus zuerkennen mag, führen letztlich zu keinem anderen Ergebnis. So ließe sich erwägen, 1os Bemerkenswert ist, daß die Bedenken des Sonderausschusses bis zuletzt angehalten haben. Vgl. Prot. V, S. 362 f., 2323 ff., insbesondere die Stellungnahme von Dreher, dort S. 2325; gegen ihn insbesondere MüUer-Emmert, ebenda. Auch der kriminalpolitisch so fortschrittliche AE sieht in diesem Punkt von einer derart ungleichmäßigen Behandlung ab ; er läßt eine Aussetzung nur unter den Voraussetzungen der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug zu. Vgl. § 77 AE. 109 Vgl. Zweiter schriftlicher Bericht, a.a.O., S . 32.

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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ob nicht der für den Maßregelvollzug in Frage kommende Täterkreis nach seiner Persönlichkeitsartung für Strafe und Freiheitsentzug wesentlich empfänglicher ist, als der "gesunde" Täter; ob ferner jener Täterkreis nicht durch erschwerte Bedingungen seines Lebens im sozialen Nahraum, durch nicht geglückte gesellschaftliche Einordnung, durch fortschreitenden physischen und psychischen Verfall bereits so erhebliche Einbußen an natürlicher Lebensentfaltung hinnehmen mußte und auch weiter hinnehmen muß, daß seine durch die unterschiedliche Vollzugsdauer bedingte Bevorzugung gegenüber dem normalen Täter als sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Aber selbst wenn die Umstände in jenem Täterkreis überwiegend von der geschilderten negativen Art sind, so finden sich solche doch nicht ausschließlich dort, sondern lassen sich durchaus auch bei Tätern nachweisen, für die die Voraussetzungen des Maßregelvollzugs nicht gegeben sind; im Grundsatz bleibt deshalb das Bedenken bestehen, daß das Gesetz die Möglichkeit eröffnet, im wesentlichen gleiche Sachverhalte ungleich zu behandeln und sich dadurch in Widerspruch setzt zu Artikel 3 Abs. 1 GG. Mit den aufgezeigten Bedenken sind deren rechtliche Folgen jedoch noch nicht endgültig bestimmt, ist insbesondere noch nicht dargetan, daß sie einen zur Nichtigkeit führenden Verstoß des § 67 Abs. 5 StGB n. F. gegen Artikel 3 Abs. 1 GG zu begründen vermögen. Ein solcher Verstoß kann nach den im verfassungsrechtlichen Schrifttum übereinstimmend vertretenen Grundsätzen nicht schon dann angenommen werden, wenn gegen eine bestimmte Regelung bloß Bedenken bestehen, mögen diese auch noch so ernst sein. Es muß vielmehr stets hinzukommen, daß die Unsachlichkeit einer Regelung und die daraus folgende Verfassungswidrigkeit evident ist110• Das Bundesverfassungsgericht, das in ständiger Rechtsprechung denselben Standpunkt einnimmt, spricht dabei dem Gesetzgeber eine sehr weitgehende Gestaltungsfreiheit zu; es sieht jene äußerste Grenze der Vertretbarkeit, die es als Maßstab für die Evidenz eines Verfassungsverstoßes zugrundelegt111, im Falle des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann als verletzt an, wenn der Gesetzgeber bei der Gestaltung eines Sachverhalts nicht "die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat" 112 und demgegenüber eine andere Gestaltung "gerechter oder zweckmäßiger wäre oder dem Bedürfnis nach Gleichbehandlung besser entspräche" 113 • Nur wenn sich ein sachlich irgendwie vertretbarer Grund für die im Gesetz zum Ausdruck kommende ungleiche Behandlung überhaupt nicht finden uo Hesse, Verfassungsrecht, S. 32.

111 s. o. s. 45 ff. BVerfGE 9, S. 206; ähnl. BVerfGE 3, S. 182; 17, S. 330; 11, S. 123. 113 BVerfGE 11, S. 254. 112

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

läßt, kann ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG als offenkundig angesehen werden114 • Diesen allgemeinen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen konkretisiert und dabei als sachlich vertretbare Erwägung etwa angesehen, daß bei einer Kollision zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit der letzteren der Vorrang gegeben wurde115 ; daß "um der Praktikabilität der Regel willen" eine Norm geschaffen wurde, "die generell die von ihr Betroffenen gleichbehandelt, mag auch ihre Anwendung im Einzelfall einmal zu einer Benachteiligung der Betroffenen führen" 116 ; daß der Gesetzgeber unter mehreren rechtspolitischen Gesichtspunkten dem einen den Vorrang gab (wobei sich freilich gerade für die Art der Differenzierung ein sachlich vertretbarer Grund finden lassen mußte) 117 • Sucht man mit Hilfe dieser den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entnommenen Kriterien nach Gründen, die einen Verfassungsverstoß der in § 67 Abs. 5 StGB n. F. enthaltenen Regelung zumindest zweifelhaft erscheinen lassen würden, so bietet sich zu allererst der Gedanke der Rechtssicherheit an. Daß der Gesetzgeber, wenn er die Dauer des Strafvollzugs allein oder vorrangig nach spezialpräventiven Bedürfnissen bemessen würde, dies nur unter Verzicht auf ein erhebliches Maß an Rechtssicherheit erreichen könnte, liegt auf der Hand: Was spezialpräventiv erforderlich ist, richtet sich nach den Besonderheiten jedes einzelnen Falles und läßt sich angesichts der Vielfalt der möglichen Lebenssachverhalte im voraus tatbestandlieh mit der nötigen Bestimmtheit nicht erfassen, sondern allenfalls generalklauselartig umschreiben. Hinzu kommt, daß die Bestimmung der Dauer des Vollzugs und vor allem der Zeitpunkt der Entlassung in jedem Falle ein Prognoseurteil voraussetzt, dessen Unsicherheit sich nach dem derzeitigen Stand der Prognoseforschung in jeder Untersuchung aufs neue bestätigt118 • Würde der Gesetzgeber hier unter Verzicht auf von vornherein festgelegte Grenzen generell das spezialpräventive Bedürfnis zum alleinigen Maßstab der Vollzugsdauer machen, so entstände dadurch für alle Beteiligten eine ans Unerträgliche grenzende Unsicherheit; sie würde nicht nur die Gefahr ungerechter und willkürlicher richterlicher119 Entscheidungen in sich bergen, sondern sich auch auf den Vollzug selbst negativ auswirken, weil die Gefangenen sich in BVerfGE 17, 8.130. Vgl. etwa BVerfGE 11, 8. 253; 15, 8 . 319 f.; 19, 8. 166. 116 BVerfGE 17, 8. 354. 117 BVerfGE 17, 8.130. us Vgl. etwa aus jüngster Zeit die Darstellungen von Mannheim, a.a.O., S. 77 ff.; Mey, a.a.O.; Munkwitz, a.a.O.; Wimmer, a.a.O. 119 Oder wem sonst die Entscheidung über die Dauer des Vollzugs übertragen würde. 114

115

111. Die Einwände gegen das Vikariieren

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vielen Fällen ungleich behandelt fühlen würden. Durch die in den §§ 57 und 67 StGB n. F. geschaffene Regelung erreicht der Gesetzgeber, daß der Einfluß spezialpräventiver Gedanken auf die Dauer des Freiheitsentzugs in dem Regelfall einer Verurteilung zu Freiheitsstrafe erst nach Ablauf von zwei Dritteln (oder unter Umständen der Hälfte) der verhängten Strafe zur Wirkung kommt; nur ausnahmsweise, wenn Strafe und Maßregel gleichzeitig ausgesprochen werden, soll die Dauer des Vollzugs vorrangig von der Erreichung des spezialpräventiv bezweckten Erfolges abhängig gemacht werden120• In der überwiegenden Zahl der ausgesprochenen Freiheitsstrafen wird damit die Dauer des Freiheitsentzugs für die Betroffenen voraussehbar und berechenbar eine Rechtsfolge, die dem in Artikel 20 GG verankerten Gebot der Rechtssicherheit nicht nur entspricht, sondern von diesem auch gefordert wird121 • Daß der Gesetzgeber die Grenze für die vorrangige Berücksichtigung spezialpräventiver Gesichtspunkte bei der Bestimmung der Vollzugsdauer gerade zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug gezogen hat, ist nicht allein durch das zwischen diesen bestehende Regel-AusnahmeVerhältnis gerechtfertigt. Einen weiteren sachlichen Grund findet diese Regelung darin, daß es sich bei den für den Maßregelvollzug in Betracht kommenden Delinquenten um eine eng umgrenzte Tätergruppe handelt, deren kriminelle Verhaltensweisen sich auf spezifische Ursachenzusammenhänge zurückführen lassen, und die zugleich einem entsprechend gezielten Einsatz medizinischer und im weitesten Sinne therapeutischer Behandlungsmaßnahmen zugänglich sind. Dieser relativ sicher diagnostizierbare Befund rechtfertigt es, in diesen Fällen dem Gedanken der Heilung und Besserung einen ausschließlichen oder jedenfalls dominierenden Einfluß auf den gesamten Vollzug der Maßregel und damit auch auf deren zeitliche Dauer zu geben. Zugleich bewirkt die räumliche Trennung von Strafvollzug und Maßregelvollzug, daß die aus der ungleichen ,B ehandlung der beiden Tätergruppen möglicherweise entstehende negative Auswirkung auf den Vollzugsablauf weitgehend verhindert wird, weil die relative Homogenität der 120 Daß insoweit ein Regel-Ausnahme-Verhältnis besteht, zeigt die Verurteilungsstatistik eindeutig. Für das Jahr 1966 z. B. sind ausgewiesen: nach allg. Strafrecht zu Gefängnis oder Zuchthaus verurteilte Erwachsene: 189 771, mit einer Maßregel nach §§ 42 b, 42 c belegte Erwachsene (allein oder neben Strafe): 551. Das entspricht einem Hundertsatz von 0,27. (Quelle: Strafverfolgungsstatistik, Hrsg. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Bevölkerung und Kultur 1966 Reihe 9, Fachserie A, S. 14, 44). 121 v. Mangoldt-Klein, Art. 20, Anm. VI 2; Maunz-Diirig, Art. 20, RdNr. 86 ff.; Warda, a.a.O., S. 43 f.; BVerfGE 1, S. 14 ff.; 8, S. 274 ff. Zwar kollidieren hier Rechtssicherheit und Gerechtigkeit. Aber Kollisionsfälle dieser Art hat der Gesetzgeber selbst zu lösen. So zutreffend unter Hinweis auf BVerfGE 3, S. 237 f.; Stree, a.a.O., S. 6 f.

1. Teil: Das Prinzip des Vikarüerens

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jeweiligen Vollzugsgruppen dem bei den Betroffenen leicht entstehenden Verdacht einer nicht gerechtfertigten Bevorzugung einzelner enge Grenzen setzt. Die Überprüfung des § 67 StGB n. F. auf seine Vereinbarkeit mit Artikel 3 Abs. 1 GG führt demnach zu dem Ergebnis, daß die Vikariierungsregelung zwar zu einer Benachteiligung der nicht mit Maßregelvollzug belegten Straftäter führen kann, daß diese ungleichartige Behandlung jedoch durch sachlich vertretbare Gründe gerechtfertigt ist. Die gegen die Bestimmung des § 67 StGB n. F. zu erhebenden Bedenken wiegen jedenfalls nicht so schwer, daß sie einen evidenten, zur Nichtigkeit der Vorschrift führenden Verfassungsverstoß begründen könnten. Die Überzeugungskraft der insoweit noch verbliebenen Bedenken könnte schließlich durch eine Reihe weiterer Fakten zusätzliche Einbußen erfahren. So könnte sich etwa ergeben, daß die im Zusammenhang mit der Anwendung der Vikariierungsvorschriften befürchtete Bevorzugung der Maßregelunterworfenen in der Praxis deswegen weitgehend ausbleibt, weil die Divergenz zwischen der verhängten Strafe und der Dauer des Maßregelvollzugs nur in seltenen Fällen auftritt; dies deshalb, weil der Vollzug der Maßregel im Regelfall die Hälfte oder gar zwei Drittel der ausgesprochenen Strafe ohnehin erreicht, oder weil dies als Folge eines häufig eintretenden Widerrufs der bedingten Aussetzung des Vollzugs einer Maßregel in einer Art Summierung von Vollzugsintervallen geschieht. Die angeführte Problematik könnte dadurch zu praktischer Bedeutungslosigkeit herabsinken. Ob dies der Fall ist, wird sich anhand der im dritten Teil der Arbeit darzustellenden Ergebnisse der Aktenauswertung erweisen. Die Sichtung des in der Aktenerhebung angesammelten Fallmaterials könnte ein weiteres Phänomen zutage fördern, das die - zumindest formal bestehende Ungleichbehandlung jener Tätergruppen in einem anderen, milderen Licht erscheinen läßt: Die Fragwürdigkeit der Schuldgrößenbestimmung. Nicht, daß diese Fragwürdigkeit allein in dem hier angesprochenen Täterkreis bestünde; die Frage nach dem Maß der Verantwortlichkeit eines Menschen für seine Tat und nach der Möglichkeit, dieses Maß zu bestimmen, kennzeichnet die Auseinandersetzungen um das Schuldstrafrecht von Anfang an und stellt sich bei jedem Akt einer Strafzumessung neu: Es ist und bleibt das zentrale Problem jedes Schuldstrafrechts. Dessen ungeachtet aber gibt es, wie die kriminologische Erfahrung zeigt122 , Typen und Gruppen von Tätern, bei denen die aus der begrenzten richterlichen Erkenntnismöglichkeit resultierende, generelle Unsicherheit in der Bestimmung des Schuld122

Vgl. dazu H. Kaufmann, in: Gramaticas System, a.a.O., 5. 438 ff.

111. Die Einwände gegen das Vikariieren

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maßes zusätzlich dadurch vergrößert wird, daß diese Täter konstitutionelle oder milieubedingte AuffäHigkeiten physischer oder psychischer Art in einer über das Normale weit hinausgehenden Häufung aufweisen, und daß so mehr als sonst die Schwierigkeit und Unzulänglichkeit der Schuldfeststellung eine zu hohe und damit ungerechte Bestrafung zur Folge hat. Die Darstellung des Fallmaterials wird zeigen, ob nicht in der Mehrzahl der dort gefundenen Fälle solche vermehrten Zweifel an der Verläßlichkeit der Schuldgrößenbestimmung bestehen und ob diese für die dem Maßregelvollzug ausgesetzte Tätergruppe symptomatisch sind. Daraus würde folgen, daß der Verzicht auf den Vollzug der ausgeworfenen Strafe, mag er auch zu einer scheinbaren Bevorzugung einzelner Täter führen, in jenen Zweifeln eine nicht gering zu schätzende Rechtfertigung erfährt. Die auf Artikel 3 Abs. 1 gegründeten Bedenken gegen die Vikariierungsregelung des § 67 könnten schließlich durch folgenden Befund noch weiter abgebaut werden: Es wäre denkbar, daß in den wenigen Fällen, in denen eine Diskrepanz zwischen Strafmaß und Dauer des Maßregelvollzugs und damit eine Kollision mit vergleichbaren Fällen ohne Maßregelanordnung möglich erscheint, eine spezialpräventiv zu begründende Aussetzung des Strafrestes praktisch gar nicht erfolgt. Eine solche Möglichkeit wird durch die Verweisung des § 67 Abs. 5 StGB n. F. auf § 57 Abs. 1 StGB n. F. eröffnet. Danach ist eine Aussetzung des Strafrestes "unter den Voraussetzungen des §57 Abs. 1" auch dann zulässig, wenn durch die Anrechnung des Maßregelv ollzugs noch nicht zwei Drittel der Strafe abgegolten sind. Zu den Voraussetzungen einer Strafaussetzung nach § 57 Abs. 1 aber gehört auch die Feststellung, daß "die Umstände der Tat" einer Aussetzung nicht entgegenstehen123• Das Fallmaterial der Aktenerhebung wird deshalb darüber zu befragen sein, ob in eventuell bestehenden Konfliktsfällen nicht regelmäßig Umstände dieser Art gegeben sind. bb) Verstoß gegen das allgemeine Gerechtigkeitsprinzip (Artikel 20 GG)? Ist somit ein Verstoß des § 67 StGB n. F. gegen den Gleichheitssatz (Artikel 3 Abs. 1 GG) nicht anzunehmen, so bleibt die - nach dem bisher Dargelegten nicht mehr problematische -Frage, ob die vikariierende Lösung des Gesetzes etwa zwingenden Anforderungen des in Artikel 20 GG verankerten allgemeinen Gerechtigkeitsgebotes zuwiderläuft. 123

Zur Auslegung dieser Bestimmung s. u. S. 164.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

Die Möglichkeit eines solchen Verstoßes ließe sich überhaupt nur in zweierlei Hinsicht in Erwägung ziehen: Einmal dahin, daß es ein zwingendes Gebot der Gerechtigkeit sei, die Schuld eines Täters durch ein entsprechendes Maß an Strafe auszugleichen bzw. eine ausgesprochene Strafe auch tatsächlich (teilweise oder ganz) zu vollstrecken. Daß es dieses Gerechtigkeitspostulat für den staatlichen Gesetzgeber nicht gibt, wurde in anderem Zusammenhang bereits dargelegt124 • Auch aus Artikel 20 GG folgt etwas anderes nicht. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß durch das Vikariieren Forderungen der individuellen Gerechtigkeit verletzt werden, daß also gerade die Bestimmungen über das Vikariieren den betroffenen Täterkreis einer Behandlung aussetzen, die als ungerecht bezeichnet werden müßte125 • Auch insoweit bietet die Vorschrift des § 67 StGB n. F. keine Anhaltspunkte, sie bewirkt eher das Gegenteil, indem sie die aus der bisher geübten Kumulation des Vollzugs von Strafe und Maßregel teilweise126 sich ergebende Ungerechtigkeit einer faktischen Doppelbestrafung beseitigt127• cc) Das Ergebnis Damit hat sich der von den Kritikern der vikariierenden Lösung geltend gemachte Einwand, diese führe zu ungerechten Entscheidungen insofern als unbegründet erwiesen, als eine Kollision mit zwingenden Normen der Verfassung nicht gegeben ist. Ob die Anwendung des § 67 StGB n. F. in der Praxis in einer überhaupt ins Gewicht fallenden Anzahl von Fällen zu unbilligen Ergebnissen führt, erscheint zweifelhaft. Dieser Frage soll später anhand des Aktenmaterials abschließend nachgegangen werden.

s. 25. Dabei erscheint es auch hier, wie schon im vorangegangenen Text (S. 45) nicht erforderlich, den Inhalt des Gerechtigkeitsprinzips für diesen Bereich näher zu konkretisieren. Auch hier kann es nur darum gehen, zu ermitteln, inwieweit die Regelung insgesamt oder in ihren einzelnen Auswirkungen auf die Betroffenen jenseits aller Zweifel von den allgemein anerkannten Forderungen der Gerechtigkeit getragen wird. Erwähnenswert ist allerdings der Hinweis auf jene Stimmen im strafrechtlichen Schrifttum, die betonen, daß gerade der Gedanke der Gerechtigkeit eine größere Individualisierung der strafrechtlichen Sanktionen erfordert, als dies der herkömmliche Vergeltungsgedanke ermöglicht, vgl. bsw. Heinitz, ZStW 65, S. 26 und Individualisierung, S. 13 f.; Würtenberger, Geistige Situation, S. 97 und NJW 1952, S. 249; Eb. Schmidt, ZStW 67, S. 191 und ZStW 69, S. 374 ff.; auch Peters, Grundfragen, S. 24 f. 12a Vgl. über das Ausmaß die Feststellungen in der Aktenerhebung. 127 Dies war auch vielfach ein Argument für die Einführung des Vikariierungsprinzips in das StGB. Vgl. Baumann, Streitschriften I, S. 25; Lenckner, Strafrechtsreform, a.a.O., S. 83 f.; Noll, ethische Begründung, S. 24; Eb. Schmidt, NS 1, S. 51 ff. 124 s. o. 125

Ill. Die Einwände gegen das Vikariieren

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b) Begünstigt die vikariierende Lösung die gefährlichen Täter? Einer der am häufigsten zu findenden Einwände gegen die gesetzliche Verankerung des Vikariierungsprinzips beinhaltet die Behauptung, durch das Vikariieren werde gerade der gefährliche Täter begünstigtl28 • Diese Behauptung unterstellt zweierlei: Einmal, daß der für den Maßregelvollzug bestimmte Täterkreis "gefährlicher" sei, als der Normaltäter; und zum anderen, daß der Vollzug der Maßregel den ihm Unterworfenen gegenüber dem nicht behandlungsbedürftigen Straftäter begünstige. Die erste Annahme wird durch das Gesetz selbst nahegelegt, das in den §§ 63, 64 StGB n. F. als Voraussetzung für die Anordnung einer Maßregel die Feststellung fordert, daß von dem Täter infolge seines Zustandes "erhebliche rechtswidrige Taten" zu erwarten sind und so § 63 Abs. 1 - "er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist". Diese Formulierung besagt indes nicht mehr, als daß Täter mit bestimmten Krankheits- oder Suchtsymptomen nur dann mit einer Maßregel belegt werden können, wenn sie zusätzlich in dem näher beschriebenen Sinne als gefährlich anzusehen sind. Der Begriff der "Gefährlichkeit" dient sonach in erster Linie zur Begrenzung des Anwendungsbereichs jener Vorschriften; mit ihnen sollte nicht etwa eine besonders gefährliche Tätergruppe erfaßt werden129 • Im übrigen lassen die zitierten Kritiker Angaben darüber, worin sie die besondere Gefährlichkeit jener Täter begründet sehen, ebenso vermissen, wie sie Anhaltspunkte dafür schuldig bleiben, daß eine Begünstigung durch den Maßregelvollzug zumindest in einer beachtenswerten Anzahl von Fällen tatsächlich stattfindet130• Theoretisch denkbar wäre eine solche Begünstigung entweder in der Weise, daß die Ausgestaltung des Maßregelvollzugs gegenüber dem Strafvollzug wesentlich mehr Annehmlichkeiten bietet, oder daß die Dauer des Freiheitsentzugs bei der Maßregel hinter der sonst zu vollziehenden Strafe erheblich zurückbleibt. Beide Fragen, die nach der Gefährlichkeit und die nach einer eventuellen Begünstigung, lassen sich beantworten anband der aus der Aktenauswertung gewonnenen Daten. Sie sind bis zu deren Darstellung zunächst zurückzustellen.

12s So etwa Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 19; Mezger, NS 3, S. 198 (für die Sicherungsverwahrung); Gilde, Prot. V, S. 2327; Meyer, Prot. V, s. 2326 f. 129 Jedenfalls gilt dies für die hier interessierenden Bestimmungen der §§ 63 und 64 StGB n. F.; ob dies in gleicher Weise auch für die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 StGB n. F.) gilt, kann hier dahinstehen. Vgl. dazu u. S. 149 ff. 130 Nur wenn dies der Fall wäre, hätte dieser Einwand Gewicht.

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1. Teil: Das Prinzip des Vikariierens

c) Das mangelnde Verständnis der Öffentlichkeit für die vikariierende Lösung Ein letztes Argument gegen das vikariierende Prinzip als solches verweist auf das mangelnde Verständnis, das die Öffentlichkeit diesem Institut und den von ihm ausgehenden Folgerungen für die Strafrechtspraxis vermutlich entgegenbringe131 • Vermutungen dieser Art sind für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wenig geeignet, vor allem dann, wenn Tatsachen, auf die sie gestützt werden könnten, nicht vorgetragen werden. Man könnte sich deshalb gegenüber diesem Einwand ohne weiteres auf den Standpunkt stellen, daß, wer solche Behauptungen aufstelle, sie auch beweisen müsse und - solange dies nicht geschehen sei - es einer Auseinandersetzung mit ihnen nicht bedürfe. Nun findet sich freilich jener Einwand in unmittelbarem Zusammenhang mit den zuvor bereits erwähnten Bedenken, eine Vikariierung zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug sei ungerecht und begünstige den gefährlichen Täter. Träfe dies zu, so ließe sich insoweit zweifellos auch ein mangelndes Verständnis der Öffentlichkeit konstatieren. Darüber hinaus scheint diesem Einwand freilich eine andere unausgesprochene Befürchtung zugrunde zu liegen, nämlich die, daß der mit dem Vikariieren bezweckte Verzicht auf den Vollzug von Strafe in der Öffentlichkeit auf Ablehnung und Verständnislosigkeit stoße. Diese Annahme wiederum muß davon ausgehen, daß in der Öffentlichkeit eine Sanktionserwartung der Art bestünde, daß strafbares Verhalten Strafe und darin eingeschlossen deren unabdingbaren Vollzug zur Folge haben müsse; mit anderen Worten aber bedeutet dies nichts anderes, als daß die von der Öffentlichkeit erwartete Reaktion die absolute Vergeltung sei. Der Verzicht auf Vergeltung aber, so ließe sich die Logik dieser Argumentation zu Ende führen, müsse einen schweren Verlust an generalpräventiver Wirkung zur Folge haben. Die Untersuchung kann und will dem damit angesprochenen Fragenkreis nicht weiter nachgehen; um ihn auch nur annähernd zu erschöpfen, bedürfte es einer breit angelegten empirischen Untersuchung über den sozialpsychologischen Wirkungsmechanismus des gesamten Bestrafungsvorgangsm. Was die Untersuchung vermag, ist allein dies: Anhand einer möglichst breiten Zahl von Fällen, die unter die Vikariierungsregelung fallen, zu ergründen, ob sie durch ihre Häufigkeit. durch Art und Umfang ihrer Kriminalität, durch die Persönlichkeits131 Lang-Hinrichsen, Betrachtungen, S. 127; Maurach, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 19; Schröder, ZStW 66, S. 190 f. 132 Vgl. zu dieser Frage Naucke, Betrug, S. 51 ff.; Müller-Dietz, Strafbegriff, S. 91 f. und neuerdings Popitz, a .a.O., passim.

III. Die Einwände gegen das Vikariieren

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belastung ihrer Täter oder aus sonstigen Gründen Anlaß geben zu der Annahme, ein Verzicht auf den Vollzug der ausgesprochenen Strafe müsse in der Öffentlichkeit auf Unverständnis stoßen oder gar die Rechtstreue eines Teils der Bevölkerung ins Wanken bringen. An späterer Stelle wird auf diese Frage zurückzukommen sein.

d) Die Bewährung der Vikariierungsregeln in der richterlichen Praxis Eine Reihe kritischer Fragen stellt sich schließlich im Hinblick auf die Anwendung des§ 67 StGB n. F. in der richterlichen Praxis. Problematisch erscheint hierbei vor allem die Praktikabilität der Vorschrift angesichts ihres weitgefaßten Wortlauts und des weitreichenden Ermessensspielraums, den sie der richterlichen Entscheidung einräumt. Dies gilt vor allem für die dem Vollzugsgericht obliegenden Entscheidungen über die Aussetzung des Strafrestes (Absatz 5), die Änderung einer Anordnung des Spruchrichters über das Vikariieren (Absatz 3), sowie über den Verbleib eines Täters im Maßregelvollzug bei nicht gewährter Aussetzung des Strafrests (Absatz 5). Dies gilt aber auch für die Entscheidung des Spruchrichters über den ausnahmsweisen Vorwegvollzug der Strafe (Absatz 2). Zugleich ergibt sich für die Strafzumessung das (strafrechtsdogmatische) Problem, inwieweit die Tatsache der Anordnung und des Vollzugs der Maßregel in den Erwägungen über die Bemessung der Strafhöhe Berücksichtigung finden darf oder gar muß. Alle diese Fragen münden schließlich in die umfassendere Frage, ob für die Elastizität der Vorschrift, die vom Gesetzgeber bewußt angestrebt wurde, ein sachliches Bedürfnis besteht, oder ob nicht eine konsequente Durchführung des Prinzips des obligatorischen Vikariierens (ohne die Möglichkeit einer nachträglichen Korrektur) im Grunde zu denselben Ergebnissen führen würde, aber den Vorteil der leichteren Handhabung und der größeren Einheitlichkeit in der Anwendung für sich hätte. Die Beantwortung dieser Fragen setzt weitgehend die Kenntnis des vom Vikariieren betroffenen Fallmaterials voraus. In dem nun folgenden zweiten Teil der Arbeit sollen deshalb zunächst die datenmäßigen Ergebnisse der Aktenerhebung dargestellt werden, ehe dann im abschließenden dritten Teil die noch ungeklärten Fragen einer Beantwortung zugeführt werden.

Zweiter Teil

Die Darstellung des Untersuchungsmaterials Vorbemerkung Die Herkunft des Untersuchungsmaterials aus drei verschiedenen Landgerichtsbezirken machte zunächst die Erwägung erforderlich, ob es ratsam oder gar notwendig sei, das Material und seine Ergebnisse für jeden Landgerichtsbezirk gesondert darzustellen. Für ein solches Vorgehen sprach vor allem die häufig beobachtete Tatsache, daß die Strafzumessungspraxis in den verschiedenen Gerichtsbezirken nicht einheitlich ist1 und sich sicherlich auch bei der Anordnung der Maßregel Unterschiede in der Handhabung der maßgeblichen Vorschriften aufweisen lassen2 • Andererseits sollte gerade durch die Ausdehnung der Untersuchung auf mehrere Landgerichtsbezirke erreicht werden, daß ein durch etwaige Besonderheiten der Gerichts- oder Gutachterpraxis bedingtes zufälliges Ergebnis vermieden wird. Die Untersuchung geht davon aus, daß Unterschiede in der Praxis der einzelnen Gerichte in gewissem Umfang bestehen; ihr geht es jedoch nicht darum, diesen Unterschieden nachzuspüren, sie sind für das Anliegen der Arbeit ohne Bedeutung3 • Für die Darstellung ergibt sich damit folgende allgemeine Einteilung: Die Daten der beiden Untersuchungsgruppen - der nach § 42 b StGB a. F. und§ 42 c StGB a. F. verurteilten Täter- werden gesondert und nacheinander dargestellt. Dabei wird nicht nach einzelnen Landgerichtsbezirken unterschieden, sondern jeweils die Summe der aus allen 3 Bezirken ermittelten Daten wiedergegeben. Das Fallmaterial setzt sich danach zahlenmäßig wie folgt zusammen: Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt (§ 42 b StGB): 78 Verfahren; 1 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 443 ff.; Zipf, a.a.O., S. 18 ff.; Lewrenz, Strafzumessungspraxis, S. 116 ff. 2 Hier kommt zu der begrifflichen Unbestimmtheit der Eingriffsvoraussetzungen (vgl. folgende Anm. 4) die vielfach anzutreffende Uneinheitlichkeit in Inhalt und Umfang der psychiatrischen Begutachtung. 3 Grob auffällige Unterschiede in der Zumessungspraxis waren den Akteninhalten insoweit nicht zu entnehmen. Von unterschiedlicher Güte waren allerdings vielfach die zu den einzelnen Fällen eingeholten Gutachten.

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2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Einweisung in eine Trinkerheilanstalt oder eine Entziehungsanstalt

(§ 42c StGB): 78 Verfahren.

Im folgenden soll zunächst das Material über die nach § 42 c verurteilten Täter und anschließend das Material über die Tätergruppe der nach § 42 b Verurteilten dargestellt werden.

Erster Abschnitt

Die mit Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt belegte Tätergruppe A. Die Kriminalität nach Ausmati und Erscheinungsform Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB n. F. setzt die Feststellung des Gerichts voraus, daß bei dem unterzubringenden Täter die Gefahr besteht, er werde infolge seines Hanges, alkoholische Getränke oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, "erhebliche rechtswidrige Taten" begehen. Im StGB a. F . war eine solche Feststellung lediglich für die Einweisung in eine Heilund Pflegeanstalt erforderlich4 • Gleichwohl gab, wie schon erwähnt, die Einführung des vikariierenden Systems zu der Befürchtung Anlaß, durch sie werde der gefährliche Teil der Straftäter in einem das Verständnis der Bevölkerung übersteigenden Maße begünstigt5• Der folgende Überblick soll zeigen, inwieweit diese Befürchtung berechtigt ist. Er berichtet über Art und Umfang der zur Maßregelanordnung führenden Straftaten (die sog. Anlaßtaten), sowie über die bei ihrer Begehung gezeigte kriminelle Intensität der Täter; er verfolgt zugleich anhand des Strafregisterauszugs das kriminelle Vorleben der Täter, um eine möglichst breite Grundlage für die Beurteilung ihrer Gefährlichkeit zu gewinnen6 • Bei der Aufschlüsselung der Delikte nach Art und Zahl wurde wie folgt verfahren: Soweit nach dem Urteil mehrere Taten in Fortsetzungszusammenhang begangen sind, wurde jede Tat einzeln erfaßt; wo genaue Tatzahlen fehlten, wurde die angegebene Mindestzahl zugrunde 4 § 42 b StGB a. F. umschrieb dieses mit der reichlich unbestimmten Wendung, daß "die öffentliche Sicherheit" eine Unterbringung erfordere. Für eine Einweisung nach § 42 c StGB a. F. genügte die Feststellung, daß die Unterbringung erforderlich sei, um den Täter "an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen". Gegen beide Fassungen bestanden rechtsstaatliehe Bedenken; sie wurden deshalb im neuen StGB entsprechend geändert. 5 s. 0. s. 57. 6 Daß die Häufigkeit und die zeitliche Aufeinanderfolge früherer Straftaten ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung der Gefährlichkeit eines Täters darstellt, ist im kriminologischen wie im strafrechtlichen Schrifttum anerkannt. Vgl. statt vieler Munkwitz, a.a.O., S. 3 ff.; S. 171 und SchönkeSchröder, StGB § 20 a RdNr. 32 der Vorauflage.

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2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

gelegt. Bei Verletzungen mehrerer Straftatbestände, die nach dem Urteil in Idealkonkurrenz begangen wurden, wurde jeweils nur das· schwerste Delikt berücksichtigt; die wichtigsten Kombinationsformen werden jeweils gesondert erwähnt. I. Anlaßtat und Anlaßstrafe 1. Die Anlaßtaten

a) Die Zahl der von der Gesamttätergruppe begangenen Taten

Die Verurteilungen, die zu einer Einweisung in die Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt führten, wurden wegen insgesamt 285 von den 78 Tätern begangenen Verbrechen und Vergehen ausgesprochen. Auf jeden Täter entfielen danach im Durchschnitt 3,65 Taten. Errechnet man die Anzahl der vom einzelnen Täter begangenen Taten, so ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 1

Zahl der Delikte 1 Delikt 2-3 Delikte 4-5 Delikte 6 Delikte mehr als 10 Delikte

Anzahl der Täter abs. Ofo (100 Ofo 33 25 12 1

7

= 78)

42,3 32,0 15,4 1,3 9,0

Bei nahezu der Hälfte aller Täter erfolgte demnach die Einweisung aus Anlaß der Begehung einer einzigen Tat, knapp drei Viertel der Täter hatten nicht mehr als 3 Taten begangen. Von den 7 Tätern, die mehr als 10 Taten aufzuweisen hatten, blieben 5 unter 20, nur 2 hatten 30 bzw. 31 Straftaten begangen. Dieser relativ geringe zahlenmäßige Umfang der auf den einzelnen entfallenden Taten, wegen der eine Einweisung ausgesprochen wurde, erklärt sich einmal aus den insoweit niedrigen Anforderungen, die § 42 c StGB a. F. an die Möglichkeit einer Einweisung stellte7 • Zum anderen aber zeigt sich daran auch, daß die von dieser Tätergruppe begangenen Taten im allgemeinen rasch ermittelt und abgeurteilt werden konnten8 • 7 Danach genügt für eine Einweisung die Verurteilung nach § 330 a oder wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das im Rausch begangen wurde oder das mit der Süchtigkeit des Täters in ursächlichem Zusammenhang steht. s Wobei die Frage nach der Höhe der Dunkelziffer freilich offenbleiben muß. Sie dürfte jedoch angesichts der - wie noch zu zeigen sein wird vielfach plumpen Art der Tatausführung relativ gering sein.

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A. I.

65

b) Die Deliktsarten Aufschlußreicher als der quantitative Umfang der Anlaßtaten ist deren qualitative Beschaffenheit. Aus der Art der begangenen Delikte ergibt sich ein klareres Bild über das Ausmaß der Sozialschädlichkeit der Täter und damit ein weiteres Indiz für die Beurteilung ihrer Gefährlichkeit. aa) In der folgenden Tabelle sind die einzelnen Deliktsarten nach der Häufigkeit ihrer Begehung dargestellt. Dabei empfiehlt sich vom verletzten Rechtsgut her eine grobe Unterteilung der Delikte in die angeführten Deliktsgruppen. (Vgl. Tabelle 2, Seite 66) Die Tabelle zeigt, daß 66,3 °/o aller der Einweisung zugrunde liegenden Straftaten Vermögensdelikte sind; diese stehen damit weit an der Spitze aller Delikte. An zweiter Stelle folgen die Vergehen des Vollrausches, deren Anteil an den Anlaßtaten 22,1 °/o beträgt. Je 2,5 °/o der Taten sind Körperverletzungsdelikte, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Hausfriedensbruch. Auffallend gering ist der Anteil der Sittlichkeitsdelikte (0,7 °/o). Ausgesprochene Gewaltkriminalität (Raub, Erpressung, vorsätzliche Tötung) fehlt - abgesehen von den Körperverletzungsdelikten - völlig. Betrachtet man demgegenüber die Anzahl der an den einzelnen Deliktsarten beteiligten Täter, so verschiebt sich das Bild geringfügig: Danach stehen nicht die Vermögenstäter an der Spitze, die größte Gruppe bilden stattdessen die wegen Vollrausch verurteilten Täter. Ihre Zahl beträgt 53,8 °/o gegenüber den Vermögenstätern mit 50,0 °/o. Wegen Körperverletzungsdelikten wurden 9,0 °/o aller Täter verurteilt, je 7,7 °/o begingen Widerstand gegen die Staatsgewalt und Hausfriedensbruch, 1,3 °/o waren Täter von Sittlichkeitsdelikten. Auf den Rest der Täter (12,8 Ufo) entfielen die verschiedensten Delikte leichterer Art. In jedem Falle nehmen somit die Vermögensdelikte und die Vergehen nach § 330 a StGB die dominierende Stellung in der Rangfolge der Taten ein, die der Einweisung der Täter in die Trinkerheilanstalt zugrunde lagen. bb) Der in der Tabelle ausgewiesene relativ hohe Anteil der Rauschdelikte an den Anlaßtaten macht es erforderlich, zu untersuchen, welcher Art die im Vollrausch begangenen Taten waren. Die Vermutung liegt nahe, die durch den Alkoholgenuß erfahrungsgemäß bewirkte Enthemmung der Täter könnte jene Gefährlichkeit zutage fördern, die aus der bisherigen Untersuchung durch das nahezu völlige Fehlen von Gewaltkriminalität und Sittlichkeitsdelikten nicht aufzuweisen war. 5 Marquardt

66

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials Tabelle 2

Anlaßtaten Art und Häufigkeit der Begebung Deliktsarten 1. Vermögensdelikte § 242C) § 243 § 246 §§ 249-251 § 263C) § 265 a § 267d) 2. Vergehen des Vollrausches § 330a 3. Körperverletzungs-Delikte § 223 § 223 a § 226 4. Widerstand § 113 5. Sittlichkeitsdelikte § 176 I 3 6. Hausfriedensbruch § 123 7. Sonstige Delikte § 185 § 240 § 248b § 303 StVO/StVZO §360 Z.8 § 361 z. 3 Gesamtsumme

Anzahl der Tatena> 0/o abs. (100 Dfo = 285)

Anzahl der Täterb) 0/o abs. (100 Dfo = 78)

72 6 4

25,2 2,1 1,4

15 4 3

19,2 5,1 3,8

104 1 2

36,5 0,3 0,7

15 1 1

19,2 1,3 1,3

289

66,3

39

50,0

63

22,1

42

53,8

4 2 1

1,4 0,7 0,3

4 2 1

5,1 2,6 1,3

7

2,5

7

9,0

7

2,5

6

7,7

2

0,7

1

1,3

7

2,5

6

7,7

2 1 2 1 2 1 1

0,7 0,3 0,7 0,3 0,7 0,3 0,3

2 1 2 1 2 1 1

2,6 1,3 2,6 1,3 2,6 1,3 1,3

285

100,0 °/1

a) Der besseren Übersichtlichkelt halber wird hier nur eine Stelle nach dem Komma errechnet. Diese Rechenweise führt dazu, daß die Addition der Einzelprozentzahlen mit der Gesamtprozentzahl nicht immer ganz übereinstimmt. Dies gilt entsprechend für alle folgenden Tabellen. b) Da die einzelnen Täter zum Teil mehrere Delikte begingen, ergibt die Zusammenrechnung hier eine die Zahl 78 übersteigende Täterzahl; entsprechend erhöht sich die Summe der Prozentzahlen. c) Soweit Rückfalldiebstahl (§ 244) gegeben war, wurde dieser dem § 242 oder 243 zugezählt. Rückfallbetrug (§ 264) wurde dem § 263 zugeordnet. d) Die Urkundenfälschung diente in allen Fällen der Begehung von Vermögensdelikten; § 267 wird deshalb hier in diese Deliktsgruppe einbezogen. Um zu erfahren, welches Ausmaß das im Vollrausch zutage getretene kriminelle Verhalten der Täter genommen hat, werden im folgenden die im Rausch begangenen Taten nach Anzahl und Deliktsrichtung

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A. I.

67

aufgeschlüsselt9 • Dabei werden alle Delikte berücksichtigt, auch soweit diese - bei verantwortlicher Tatbegehung - in Idealkonkurrenz zueinander stehen würden10 •

Die im Vollrausch begangenen Delikte Die nach § 330 a verurteilten Täter haben im Vollrausch insgesamt 129 Straftatbestände verletzt11 • Auf jeden Täter entfielen durchschnittlich 3,1 Delikte. Fast die Hälfte der Täter (nämlich 43,9 °/o) wurde jedoch wegen nur einer im Rausch begangenen Tat verurteilt, wie sich aus der folgenden Tabelle im einzelnen ergibt: Tabelle3

Deliktszahl 1

2-3

4-5 6--10 36

Anzahl der Täter abs. O/o (100 °/o 18 16 1 5 1 41

= 41)

43,9 39,0 2,4 12,2 2,4 100,0 °/e

In einer weiteren Tabelle sind nachfolgend die von den Rauschtätern im einzenen begangenen Delikte nach Art und Zahl zusammengefaßt. Bei den Taten steht danach der Hausfriedensbruch mit 27,9 OJo an erster Stelle. Dieser hohe Anteil ist - dies sei hier bereits angemerkt darauf zurückzuführen, daß einer der Täter, der mit einem Bahnhofsverbot belegt war, dieses im Vollrausch etwa 30 mal übertreten hat. Daneben stehen auch hier die Vermögensdelikte mit 17,8 OJo an vorclerster Stelle; es folgen die Delikte im Straßenverkehr (11,6 Ofo), die Sachbeschädigung (8,5 Ofo), die Körperverletzungsdelikte (7,7 Ofo). Häufiger begangen wurden auch Widerstand gegen die Staatsgewalt (6,2 Ofo), Sittlichkeitsdelikte (5,4 Ofo) und ruhestörender Lärm (4,6 Ofo). Der Vergleich der Täterzahlen bestätigt dieses Bild im wesentlichen, wobei die Bedeutung des Hausfriedensbruchs entsprechend dem Gesagten hier zurücktritt. 9 In einem Falle waren Art und Zahl der Rauschtaten nicht näher bezeichnet. Es konnten deshalb nur 41 Täter überprüft werden. to Dem in den Urteilen geschilderten Sachverhalt ließ sich in einer Reihe von Fällen nicht sicher entnehmen, ob eine oder mehrere Taten anzunehmen gewesen wären. Da das Gericht eine solche Feststellung nicht exakt zu treffen brauchte, wurde auf die Sachverhaltsfeststellungen insoweit keine besondere Sorgfalt verwendet. u Bei 41 Tätern und 62 Vergehen nach § 330 a.

68

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials Tabelle4

Rauschtaten Art und Häufigkeit der Begebung Deliktsart 1. Vermögensdelikte

§242 § 243 §246 § 263 § 267

2. Hausfriedensbruch § 123 3. Sachbeschädigung § 303 4. Körperverletzungsdelikte §223 § 223 a

5. Widerstand

§ 113 6. Sittlichkeitsdelikte § 175 § 176 I 1 § 176 I 3 § 183

7. Straßenverkehr §§ 1 StVO, 24 StVG u. a. 8. Ruhestörender Lärm § 360 Z.11 9. Bedrohung § 241 10. Sonstige Delikte § 145 d § 185 § 248b § 308 § 360 z. 4

Anzahl der Taten abs. Ofo (100 Ofo = 129)

Anzahl der Täter abs. Ofo (100 °/o = 41)

5

3,9 2,3 0,7 7,0 3,9

23

17,8

12

29,2

36

27,9

7

17,0

11

8,5

7

17,0

8 2

6,2 1,6

6 2

14,6 4,9

8

6,2

6

14,6

1 1 3

2

0,7 0,7 2,3 1,6

1 1 2

7

5,4

6

14,6

15

11,6

7

17,0

6

4,6

6

14,6

3

2,6

3

7,3

1 5 1 1 2

0,8 3,9 0,8 0,8 1,6

1 3 1 1 2

10

7,7

8

5

3

1

9

2 3 1

5

1

2

19,5

Insgesamt gesehen weisen die im Rausch verwirklichten Taten gegenüber den sonst von den Tätern gezeigten kriminellen Verhaltensweisen keine auffälligen Besonderheiten auf. Zwar finden sich hier prozentual häufiger Sittlichkeitsdelikte, Körperverletzungsdelikte, Sachbeschädigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Eigentliche Schwerkriminalität (§§ 249 ff., 253 ff., 211 ff., 177) ist jedoch auch hier nicht anzutreffen.

1. Abschnitt:

Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A. I.

69

c) Die Modalitäten der Tatbegehung Ob ein Täter gefährlich ist, zeigt nicht zuletzt auch die Art und Weise, wie er bei seinen Taten vorgeht, welchen Schaden er anrichtet, ob er planvoll und gezielt vorgeht oder eine sich ihm zufällig bietende Gelegenheit wahrnimmt. Im folgenden soll diesen Fragen bei den wichtigsten Deliktsgruppen in gedrängter Form nachgegangen werden. aa) Tatgenossenschaft Die meisten der Probanden haben die von ihnen begangenen Taten als Alleintäter verwirklicht. Nur in 4 Fällen (5,1 °/o der Täter) war ein weiterer Täter an der Tat beteiligt. In 2 dieser Fälle handelte es sich dabei um Widerstand gegen die polizeiliche Festnahme nach gemeinsamer Zechtour, in den beiden anderen um eine Reihe (teils schwerer) Diebstähle. bb) Die Betätigungsrichtung und die dabei entfaltete kriminelle Energie Aufs ganze gesehen zeigt die Art der Ausführung der verschiedenen Delikte, daß ein großer Teil der Probanden die begangenen Taten zuvor nicht geplant hatte, sondern eine sich zufällig bietende Gelegenheit zur Tatbegehung spontan und unüberlegt ausnutzte. Dementsprechend war das Vorgehen der Täter vielfach ausgesprochen plump und ließ auch Vorkehrungen gegen ein mögliches Entdecktwerden fast durchweg vermissen. Da die meisten Täter dieser Gruppe ihre Taten unter (mehr oder weniger starkem) Alkoholeinfluß begingen, ist diese Besonderheit der Deliktsausführung leicht erklärlich. Zu den einzelnen Deliktsgruppen ist folgendes zu sagen:

a1) Diebstahlsdelikte Von insgesamt 16 (u. a.) wegen Diebstahls verurteilten Tätern wurden 12 nur wegen einfachen Diebstahls (§ 242) und ein Täter nur wegen schweren Diebstahls (§ 243) verurteilt. Bei 3 Tätern umfaßte die Verurteilung sowohl einfachen als auch schweren Diebstahl. In etwas mehr als der Hälfte der Fälle (bei 9 Tätern) ging der Schuldspruch nicht ausschließlich auf Diebstahl, sondern erstreckte sich auf weitere teils tateinheitlich, teils tatmehrheitlich verwirklichte - Straftatbestände, in der Mehrzahl auf Betrug, Unterschlagung und Urkundenfälschung (5 Fälle). Bevorzugtes Diebstahlsobjekt war Bargeld. Etwa die Hälfte der Täter hatte es darauf abgesehen, nur einem Drittel gelang es, solches auch zu finden. Die entwendeten Beträge erreichten teils nur die Höhe

70

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

von wenigen Mark, überwiegend waren es Beträge von 20 bis 50 DM; ein Täter entwendete 180 DM, ein weiterer 600 bis 700 DM. Wo kein Geld gefunden wurde, wurden - wie auch von den meisten der anderen Täter- Gegenstände mitgenommen, die sich in entsprechenden Kreisen leicht versilbern ließen (Aktentaschen, Handtaschen, Radiogeräte, Wäsche u. ä.). Zwei Täter entwendeten Kraftfahrzeuge, die sie für kurze Zeit als Fortbewegungsmittel benutzten und dann stehenließen; 2 Täter entwendeten nach dem Besuch von Gaststätten dort abgestellte Mopeds, Blankorezepte von Ärzten waren für 2 weitere Täter das begehrte Diebstahlsobjekt. Alle Diebstahlshandlungen hatten ihr leicht aufzufindendes Motiv in der Süchtigkeit der Täter oder in ihrem Verlangen nach Alkohol. So wurde nicht nur ein erheblicher Teil der Taten bereits in alkoholisiertem Zustand begangen; auch das entwendete Bargeld wurde unmittelbar nach der Tat in Alkohol umgesetzt, wobei die Höhe der Summe keine Rolle spielte. Selbst jener Täter, der bei einem Diebstahl 600 bis 700 DM erbeutet hatte, gab das gesamte Geld nach der Tat für Alkohol und Frauen aus. Ebenso wurden entwendete Gegenstände bald nach der Tat an Serviererinnen veräußert oder an den Gastwirt verpfändet. Wie sehr die Täter bei ihren Diebstählen von ihrem Verlangen nach Alkohol beherrscht waren, zeigt auch die Wahl des Tatorts: Etwa die Hälfte der Täter beging die Diebstähle in einer Gaststätte oder in unmittelbarer Nähe einer solchen (auf dem Weg dorthin oder nach dem Weggang dort). Eine günstig erscheinende Gelegenheit wurde von den Tätern bedenkenlos ausgenutzt; persönliche Beziehungen zum Opfer (Arbeitskollege, Arbeitgeber, Zechgenosse) waren kein Hinderungsgrund für einen Diebstahl. Überwiegend waren die Diebstähle sowohl nach dem Tatobjekt als auch nach der Begehungsweise von leichterer bis mittlerer Schwere. Soweit Verurteilungen nach § 243 StGB erfolgten, betrafen diese sämtlich § 243 Abs. 1 Ziff. 2 (a. F.); in 3 Fällen stiegen die Täter durch offenstehende Fenster in ein Gebäude ein, in 3 weiteren Fällen schlugen sie Büro- bzw. Autofenster ein, um so an die Beute heranzukommen. a2) Betrugsdelikte

Der Betrug stellt mit 36,5 Ofo aller der Verurteilungen nach § 42 c zugrundeliegenden Taten den höchsten Anteil unter den Vermögensdelikten. Knapp die Hälfte dieser Taten (40,4 0/o) betrafen Zechbetrügereien, an denen etwa drei Viertel der Betrugstäter (73,3 Ofo) beteiligt waren. Fast durchweg waren es geringfügige Beträge, die die Täter nach reichlichem Alkoholkonsum nicht mehr bezahlen konnten; teils hatten sie entgegen ihrer ursprünglichen Absicht mehr getrunken als sie zunächst geplant hatten, teils waren sie von vornherein darauf aus,

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A. I.

71

die Zeche schuldig zu bleiben. Vielfach traf hierbei die Opfer - Gastwirte - eine gewisse Mitschuld, weil sie den Tätern Alkohol in jeder gewünschten Menge bedenkenlos abgaben, ohne sich gleichzeitig nach der Zahlungsfähigkeit ihrer - meist schon vom äußeren Erscheinungsbild her zweifelhaften - Kunden zu erkundigen. Die nach dem Zechbetrug häufigsten Betrugstaten wurden gegenüber Ärzten begangen; ein Viertel der Taten betrafen Fälle, in denen die Täter (es waren allerdings nur 2 von 15, also 13,3 °/o) sich von Ärzten Rezepte über schmerzstillende Medikamente ausstellen ließen, ohne das Honorar zu bezahlen. Ob die von den Tätern angegebenen Schmerzen tatsächlich bestanden haben, war nicht zu ermitteln. In einem weiteren Fall, in dem der Täter durch phantastische Vorspiegelungen sich von drei verschiedenen Personen Darlehen erschwindelte, stand er jeweils unter starkem Einfluß von Medikamenten (Pervitin). Als Provisionsbetrüger betätigten sich 2 Täter; sie stellten fingierte Aufträge aus und kassierten dafür von ihrem Arbeitgeber Provision; 29,8 °/o der Betrugstaten gingen auf ihr Konto. Ebenfalls 1· Täter beging Betrug durch den Verkauf bzw. die Verpfändung gestohlener Gegenstände. Bei mehr als der Hälfte der Täter (66,6 Ofo) erfolgte die Verurteilung allein wegen Betrugs; bei den übrigen umfaßte der Schuldspruch daneben die verschiedensten Delikte (§§ 267, 242, 113, 330 a, 123, 185).

a3) Körperverletzungsdelikte Alle Körperverletzungsdelikte wurden von den Tätern in erheblich alkoholisiertem Zustand begangen. Zum Teil fühlten sich die Täter durch eine harmlose Bemerkung Dritter gereizt und antworteten sofort mit Schlägen, zum Teil pöbelten sie grundlos andere an und provozierten dadurch eine Schlägerei. Die von 2 Probanden begangene gefährliche Körperverletzung geschah jeweils in der Form einer das "Leben gefährdenden Behandlung". In beiden Fällen waren die Opfer Polizeibeamte, die die Probanden festnehmen wollten; in einem Fall konnte der Beamte im letzten Augenblick aus dem Würgegriff des Täters befreit werden. Ein besonders krasses Beispiel von Enthemmung durch Alkoholgenuß bietet der schwerste Fall des nach § 226 verurteilten Probanden: Nachdem er erhebliche Mengen Alkohol zu sich genommen hatte, suchte er mit einem ihm völlig unbekannten Gast des Lokals Streit, indem er ihn beschimpfte. Als dieser Gast, um der Provokation auszuweichen, das Lokal verließ, folgte der Proband ihm und schlug ihn mit einem kräftigen Schlag nieder. Das Opfer starb einen Tag später. a4) Widerstand gegen die Staatsgewalt Wie bei den Körperverletzungsdelikten standen auch in den Fällen der Verurteilung nach § 113 StGB die Täter bei der Tat unter erheb-

72

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

lichem Alkoholeinfiuß. Sie wehrten sich durch wildes Umsichschlagen und -treten gegen eine Festnahme, die zum Zwecke der Ausnüchterung erfolgen sollte. Im Schuldspruch fanden sich bei diesen Probanden neben § 113 häufig die §§ 123, 185, 223 und § 330 a.

a5) Hausfriedensbruch In 5 der 7 Fälle von Verurteilungen wegen Hausfriedensbruchs verletzten die Probanden ein ihnen gegenüber ausgesprochenes Verbot des Aufenthalts an bestimmten allgemein zugänglichen Örtlichkeiten (zweimal Gasthaus, zweimal Bahnhof, einmal Landratsamt). Ein Täter wollte sich beim Nachbarn weitere Getränke besorgen und ging, einmal eingelassen, trotzAufforderungnicht wieder weg; ein weiterer Proband stieg durch ein offenstehendes Fenster in einen Schankraum ein, um sich eine Flasche Schnaps zu beschaffen. Die Taten dieser Deliktsgruppe können ausnahmslos als ausgesprochen leichte Fälle angesehen werden.

a6) Die im VoLlrausch begangenen Taten Bei den nach § 330a verurteilten Tätern fällt - wie schon hervorgehoben - die gegenüber den sonstigen Tätern der Probandengruppe erhöhte Zahl von Taten nach §§ 223, 113, 123, 175 ff., 303 und 241 auf. In der Art ihrer Ausführung und nach der Schwere ihrer Folgen zeigen die Taten dieser Gruppe jedoch kein wesentlich anderes Bild als die entsprechenden Taten der Restgruppe. Sämtliche Delikte tragen schon rein äußerlich den Stempel des alkoholisierten Täters, der infolge seiner erhöhten Reizbarkeit und durch die auf psychischem Gebiet eingetretene Enthemmung und gleichzeitige Steigerung der Antriebe zu unbesonnenen und unkoutrollierten Handlungen neigt12 • Häufig waren die Täter infolge ihres Zustandes mehr selbst gefährdet als daß sie anderen gefährlich wurden. Die einzelnen im Rausch begangenen Taten der wichtigsten Deliktsgruppen haben folgendes Bild: Die Vermögensdelikte Das hier am häufigsten vertretene Delikt des Betrugs (9 Fälle) 13 wurde in 3 Fällen in der bereits zuvor geschilderten Form des Zechbetrugs begangen; 6 weitere Fälle stellten sich als Kreditbetrug dar: das Objekt war in einem Falle eine Flasche Weinbrand, in den 5 anderen Fällen waren es Gebrauchsgegenstände, die ein Proband sich auf Kredit kaufte und sofort weiterverkaufte, um den Erlös in Betäubungsmittel (hauptsächlich Polamidon) umzusetzen; derselbe Proband fälschte 12 Vgl. zur Wirkung des Alkoholrausches auf die menschliche Persönlichkeit BLeuler, a.a.O., S . 265 f .; Fonsold in Ponsold, a.a.O., S. 209 ff.; Weitbrecht, a.a.O., S. 148 ff.; Jahrreiss II, a.a.O., S. 30. 1s Vgl. die Tab. o. S. 68.

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A.l.

73

in 5 weiteren Fällen Rezepte zur Erlangung von Betäubungsmitteln

(§ 267).

Bei den Diebstahlshandlungen überwiegt die Form des einfachen Diebstahls (5 Fälle) vor der des schweren Diebstahls (3 Fälle). Der letztere - begangen durchweg in der Form des Einbruchsdiebstahls (§ 243 Abs.l Ziff. 2 a. F.) - blieb jeweils im Versuchsstadium stecken: in 2 Fällen machten die Täter solchen Lärm, daß sie bereits nach Einschlagen einer Scheibe entdeckt wurden, im dritten Fall nahm der Tätertrotz Durchsuchens der gesamten Wohnung eines Arbeitskollegen nichts mit, weil ihm nichts gefiel. Beim einfachen Diebstahl war in 3 Fällen ein Moped das begehrte Objekt. Der Täter, es war stets derselbe, pflegte jeweils nach reichlichem Alkoholgenuß ziellos durch die Stadt zu streifen. Stieß er dabei auf ein abgestelltes Moped, so fuhr er damit durch die Gegend und ließ es später irgendwo stehen. Recht eigenwillig betätigte sich auch der zweite nach § 242 verurteilte Täter: er nahm im Vollrausch wahllos Luftpumpen, Rückleuchten und Dynamos von Fahrrädern ab und sammelte sie. Der Hausfriedensbruch Auf dieses Delikt entfallen zwar die zahlenmäßig meisten der im Rausch begangenen Taten; doch wurde der größte Teil davon (insgesamt 30) von einem einzigen Täter begangen, der das gegen ihn ausgesprochene Bahnhofsverbot immer wieder (bis zu 10 mal in einer Nacht) übertrat. Gegen ein von Gastwirten ausgesprochenes Hausverbot verstießen 3 Täter, ein weiterer hatte sich in der Eingangshalle eines Krankenhauses zum Schlafen niedergelegt und war daraus mit guten Worten nicht wieder zu vertreiben. 2 Täter hielten sich in Privaträumen von Bekannten oder Verwandten auf, obwohl sie dort bereits Hausverbot hatten oder zum Weggehen aufgefordert worden waren; in 1 Fall kam es dabei auch zu Tätlichkeiten, in einem anderen zu Sachbeschädigungen. Die Verkehrsdelikte Als ausgesprochen harmlos erwiesen sich die im Rausch begangenen Verkehrsdelikte. Außer dem Fahren ohne Führerschein (§ 24 StVG) handelte es sich ausnahmslos um Übertretungen nach der StVO/StVZO. Es kam weder zu Verkehrsgefährdungen im Sinne der §§ 315 a ff. StGB, noch zu Verletzungen anderer Verkehrsteilnehmer. Meist waren die betrunkenen Probanden selbst die Alleingefährdeten. Trunkenheit am Steuer, Trunkenheit als Radfahrer oder Fußgänger unter gleichzeitiger Behinderung Dritter waren hier die am häufigsten anzutreffenden strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen. Allein 6 der 15 Taten betrafen Fälle, in denen die Probanden betrunken auf dem Bürgersteig saßen oder sich auf einer Anlagenbank niedergelassen hatten, um ihren Rausch auszuschlafen. Die Behinderung der Fußgänger

74

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

durch die Probanden bzw. durch einen bei ihrem Anblick entstandenen Menschenauflauf war hier das die Bestrafung nach § 330 a auslösende Verhalten. Die Sachbeschädigungen Die als Sachbeschädigung begangenen Taten zeigen im wesentlichen zwei verschiedene Formen des Tatablaufs: in der geringeren Zahl der Fälle zerstörten die Täter sinnlos und ohne jeden äußeren Anlaß Schaufensterscheiben oder Straßenlaternen. Überwiegend erfolgte die Sachbeschädigung jedoch als Reaktion auf ein vom Täter nicht akzeptiertes Verhalten Dritter: 2 Täter schlugen an einem von Bekannten bewohnten Haus die Tür bzw. das Fenster ein, weil sie nicht eingelassen wurden; einer der Täter schlachtete aus Verärgerung darüber einen zu diesem Zweck aus dem Hühnerstall entwendeten Hahn. Weil er kein Bier mehr erhielt, zertrümmerte 1 Täter eine Anzahl Biergläser; ein anderer schlug an einer Straßenbahn eine Scheibe ein, nachdem er vom Schaffner aus dem Wagen geworfen worden war. Der Fall, daß ein Proband nach einem Streit mit seiner Ehefrau Geschirr und Möbel zerschlug, ist ebenfalls einmal im Material enthalten. Über die Höhe des von den Tätern angerichteten Schadens gaben die Akten in den meisten Fällen keinen Aufschluß. Die Tatschilderungen selbst gaben jedenfalls nichts dafür her, ihn als besonders hoch einzuschätzen. Die Körperverletzungen Die von den Tätern im Vollrausch begangenen Körperverletzungen trugen überwiegend den Charakter von einfachen Körperverletzungen (§ 223 StGB). Nur in 2 Fällen war eine gefährliche Körperverletzung (§ 223 a) anzunehmen, wobei die Opfer jeweils leicht verletzt wurden (einmal durch ein Messer, das andere Mal durch einen Steinwurf). Die einfache Körperverletzung bestand entweder in leichten Schlägen gegen Personen, von denen die Täter sich provoziert fühlten oder sie erfolgten im Verlauf von Schlägereien, die von den Tätern verursacht worden waren. In einem Fall waren die Frau des Probanden und deren Eltern die Opfer von Fausthieben und Fußtritten. Widerstand gegen die Staatsgewalt In allen Fällen einer Verurteilung nach §§ 330 a, 113 wehrten sich die Täter auf dieselbe Weise gegen eine Festnahme zum Zwecke der Blutentnahme und der Ausnüchterung: Sie schlugen und traten wild um sich, ließen sich zu Boden fallen und konnten meist nur von mehreren Beamten gemeinsam überwältigt werden. Die Sittlichkeitsdelikte Die sexuelle Enthemmung der Rauschtäter führte in 2 der 7 Fälle zu exhibitionistischer Betätigung; auffällig war dabei, daß die Täter sich

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A.l.

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jeweils an ausgesprochen belebten Orten der Innenstadt zur Schau stellten. In 3 weiteren Fällen vergingen die Täter sich an zufällig angetroffenen Jugendlichen, indem sie sie unsittlich berührten, sexuelle Gespräche führten und (so in 1 Fall) sie durch Versprechen von Geld dazu zu veranlassen suchten, sich zu entkleiden. In diesen Fällen kam die bei den Jugendlichen vorhandene Neugier den Tätern entgegen. Neben diesen durchweg als harmlos zu bezeichnenden Fällen steht 1 in der Begehungsweise erheblich schwerer wiegender Fall, in dem der Täter sich mit seiner siebenjährigen Tochter nackt auf ein Bett legte, deren GT mit der Zunge beleckte und sie aufforderte, bei ihm zu onanieren. Zu (leichter) Gewaltanwendung bei der Vornahme unzüchtiger Handlungen kam es nur in 1 Fall: Hier hatte der Täter einer schlafenden Frau mit der Hand an den GT gefaßt; er ließ davon auch nicht ab, als die Frau erwachte und sich wehrte (§ 176 Abs. 1 Ziff. 1). Die Bedrohungen Beleidigungen, Beschimpfungen und Drohungen gehören zum bekannten Erscheinungsbild des Rauschtäters14• Da diese Täter im Zustand des Vollrausches leicht zu Kurzschlußhandlungen neigen15 , können ihre Drohungen durchaus eine Gefahr für den Bedrohten darstellen. Das Untersuchungsmaterial enthielt nur 3 Fälle einer Bedrohung nach § 241 StGB: in 2 Fällen waren es Morddrohungen gegen Frau, Kinder und Bekannte, im dritten Fall bedrohte der Täter einen ihm unbekannten Passanten mit einer Luftpumpe und einem Messer. 2. Die neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen (Anlaßstrafen)

Art und Höhe der neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen lassen einen Schluß auf die Schwere der abgeurteilten Taten nur begrenzt zu. Zu viele subjektive, an der Persönlichkeit des Täters ausgerichtete Erwägungen fließen in die Strafzumessung ein16• Auch für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Täters gibt das Strafmaß im allgemeinen nur wenig Anhaltspunkte, weil nach dem Gesetz Grundlage für die Strafzumessung die Schuld des Täters ist17 , nicht aber seine Gefährlichkeit. Bei der hier untersuchten Tätergruppe kommt dazu noch die weitere Besonderheit, daß die Schuld der Probanden in den meisten Fällen infolge verminderter Zurechnungsfähigkeit als geringer zu bewerten war und deshalb auch die Strafe entsprechend ausfallen mußte. Schließlich kann auch nicht völlig außer acht gelassen werden, 14 Jahrreiss li, a.a.O., S. 40; Keyserlingk, a.a.O., S. 59. 1s Bleuler, a.a.O., S. 601; Jahrreiss li, a.a.O., S. 30. 16 17

Vgl. etwa die in § 46 Abs. 2 StGB n. F. genannten Umstände. § 46 Abs. 1 StGB n. F.

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

76

daß die neben der Strafe angeordnete Einweisung in eine Trinkerheianstalt gerade zu dem Zweck erfolgte, eine beim Täter vorhandene spezifische Gefahrenquelle zu beseitigen, die Strafe somit einen Teil der ihr sonst zukommenden Präventionsfunktion ohne Schaden an die Maßregel abgeben konnte. Zwar war den jeweiligen Urteilsbegründungen zur Strafzumessung nichts dafür zu entnehmen, daß diese Doppelung der Sanktionen sich mindernd auf das Strafmaß ausgewirkt hätte. Ganz auszuschließen war diese Möglichkeit, die auch im Schrifttum für zulässig erachtet wird18, jedoch nichtt 9 • In den soeben genannten Grenzen und unter den dort angeführten Vorbehalten läßt die Art und die Höhe der Strafe einen groben Schluß auf die Bedeutung der von den jeweiligen Tätern begangenen Taten und die Größe ihrer Schuld zu. Bei der folgenden tabellarischen Darstellung geht es in erster Linie darum, das bisher gewonnene Bild abzurunden. Über die Art der gegen die Probanden ausgesprochenen Strafen informiert Tabelle 5. Tabelle 5

Die Art der bei der Einweisung ausgesprochenen Strafen

Art Haft Gefängnis Haft u. Gefängnisa> Zuchthaus

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo 6 66 3 3

= 78)

7,7 84,6 3,8 3,8

a) Ein Täter erhielt neben Haft und Gefängnis zusätzlich 2 Geldstrafen in Höhe von

je 20 DM.

Die vorstehende Tabelle weist die Gefängnisstrafe als die ganz überwiegend verhängte Strafe aus. Die folgende Tabelle zeigt, in welcher Höhe diese Strafe jeweils angeordnet wurde. Über ein Drittel der ausgesprochenen Gefängnisstrafen waren danach nicht höher als 3 Monate, und mehr als zwei Drittel (68,1 Ofo) blieben innerhalb der Zeitgrenze von einem halben Jahr. Nur in 8,8 Ofo der Verurteilungen wurde eine Gefängnisstrafe von über einem Jahr ausVgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 252 ff. Die Erwägungen zur Höhe der Strafe kamen im allgemeinen über die auch sonst üblichen Formeln und Wendungen nicht hinaus; es ist jedoch eine bekannte Tatsache, daß in die richterliche Strafzumessung vielfach unausgesprochen vom Gerechtigkeitsgefühl des Richters getragene Elemente einfließen (vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 14 ff.; Henkel, a.a.O., S. 33 ff.; Zipf, a.a.O., S. 20 f.) Die Doppelung der Sanktionen könnte angesichts der tiefgreifenden Wirkungen für den Betroffenen im vorliegenden Material ein solches Moment darstellen. 18

19

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A. li.

77

gesprochen. In den 3 Fällen, in denen eine Zuchthausstrafe verhängt wurde, hatte diese eine Höhe von 3, 4 und 5 Jahren. Tabelle 6

Die Höhe der Gefängnisstrafeb) nach der Zahl der betroffenen Probanden

Anzahl der Prob. 0/o (100 Ofo abs.

Dauer bis 1 Monat über 1 bis 3 Monate über 3 bis 6 Monate über 6 bis 9 Monate über 9 bis 12 Monate über 1 Jahr bis 2 Jahre über 2 Jahre bis 3 Jahre 4 Jahre

2~} 47 19 8 8 3 2 1

= 69)

7,3} 68,1 33,3

27,5 11,6 11,6 4,3 2,9 1,4

b) Bei der (hier weniger bedeutsamen) Haftstrafe erhielten 4 Täter eine solche bis zu 4 Wochen; bei einem Täter betrug die Strafe 5 Wochen und bei einem weiteren 2mal 5 Wochen.

II. Die Vorbestraftheit der Tätergruppe 20 Ein Indiz für die Gefährlichkeit der von der Untersuchung erfaßten Gruppe der gewohnheitsmäßigen Trinker und Rauschgiftsüchtigen ist ihr kriminelles Vorleben. Der folgende Überblick über Art und Zahl der Vorstrafen, sowie über Art und Zahl der von den Tätern bisher begangenen Delikte gibt die wichtigsten Daten der bisherigen kriminellen Laufbahn der Täter des Untersuchungsmaterials wieder. 1. Die Vorstrafen der Täter

Im Zeitpunk der Anordnung der Maßregel21 waren von 71 Tätern 70 vorbestraft. Auf jeden dieser Täter entfielen durchschnittlich 5,9 Vorstrafen22. Die Belastung der einzelnen Täter mit Vorstrafen zeigen die folgenden Tabellen:

2o Sie war lediglich bei 71 Probanden zu ermitteln: in 2 Fällen erfolgte innerhalb des Untersuchungszeitraums eine zweimalige Einweisung; um eine doppelte Zählung zu vermeiden, wird hier lediglich die letzte Verurteilung zugrunde gelegt. In 2 Fällen fehlte der Strafregisterauszug, in 3 weiteren Fällen war er unvollständig. 21 Bei mehrmaliger Anordnung wird nur die letzte gezählt. 22 Gezählt werden alle Strafen, auch Geldstrafen und Strafen, die zur Bewährung ausgesetzt und später erlassen wurden. Nicht gezählt sind jugendrichterliche Maßnahmen (Zuchtmittel und Erziehungsmaßregel).

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

78

Tabelle 7

Die zahlenmäßige Häufigkeit

Anzahl der Prob. 0/o (100 °/o = 71) abs.

Zahl der Vorstrafen 0 1-5

1,4

1

35 28 5 2

6-10

11-15

16-20

49,3 39,5 7,0 2,8

Tabelle 8

Die Art der Vorstrafena)

Art Geldstrafe Haft Gefängnis Zuchthaus

Häufigkeit der Verurteilungen abs. 0/o (100 Ofo = 412) 120

45

242 5

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo = 71)b)

29,1 10,9

54 25

1,2

4

58,8

62

76,1 35,2 87,3 5,6

a) Lagen mehrere nebeneinander vor, so wurde nur die schwerste gezählt. b) Da zahlreiche Täter mehrere Strafen erhalten hatten, erhöht sich hier durch die Mehrfachzählung die Summe der absoluten und d er Prozentzahlen über 71 bzw. 100 hinaus.

Weder die Häufigkeit der früheren Verurteilungen noch die Art der dabei gegen die Probanden ausgesprochenen Strafen lassen das Bild einer in ihrer Gesamtheit gefährlichen Tätergruppe hervortreten. Auch die Höhe der insgesamt verhängten Gefängnis- und Zuchthausstrafen vermittelt keinen anderen Eindruck: Die 242 ausgesprochenen Gefängnisstrafen ergaben eine durchschnittliche Strafhöhe pro Urteil von knapp 5,4 Monaten, bei der Zuchthausstrafe waren es 2 Jahre 2 Monate pro Verurteilung. Errechnet man die auf jeden der 61 mit Gefängnis vorbestraften Täter entfallende durchschnittliche Dauer der Gefängnisstrafe, so ergibt sich ein Wert von etwa 1,8 Jahren. Über die Hälfte dieser Täter, nämlich 53,3 °/o war vor der Einweisung in die Trinkerheilanstalt sogar insgesamt weniger als ein Jahr im Gefängnis. 2. Die neben den Vorstrafen angeordneten Maßregeln

Bei insgesamt 8 Probanden wies der Strafregisterauszug die bereits in vorangegangenen Strafverfahren erfolgte Anordnung von Maßregeln und deren Vollzug aus. 2 Probanden waren zweimal mit einer Maßregel belegt worden. Angeordnet waren Trinkerheilanstalt bei 6 Pro-

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe A. II.

79

banden (in 7 Verurteilungen), Arbeitshaus bei 2 Probanden und Heilund Pflegeanstalt bei 1 Probanden. In einigen Fällen enthielten die Akten Hinweise auf frühere Entziehungskuren oder zivilrechtlich angeordnete Einweisungen in eine Trinkerheilanstalt. Genaue Angaben waren dazu jedoch nicht zu ermitteln. 3. Art und Anzahl der von den Probanden begangenen Vortaten

Welche Taten die Probanden der Untersuchungsgruppe bei den früheren Verurteilungen begangen haben, zeigt Tabelle 9. Sie bestätigt den bisher gewonnenen Eindruck, daß die Vorbestraftheit der Probanden nicht auf eine besonders schwerwiegende kriminelle Betätigung schließen läßt. Die von den meisten Probanden und am häufigsten begangenen Taten waren Vermögensdelikte; sie machten über die Hälfte aller Vortaten aus (54,4 °/o). Dabei stand nach der Zahl der begangenen Taten der Diebstahl mit 25,5 °/o an erster Stelle vor dem Betrug mit 20,9 °/o und der Unterschlagung mit 4,3 °/o der Taten. - Mehr als zwei Drittel aller Diebstähle wurden in der Form des einfachen Diebstahls begangen. Auf den schweren Raub entfielen insgesamt 4 Taten (0,6 °/o der Gesamtdeliktszahl). 9,6 °/o aller Vortaten waren Vergehen nach § 330 a StGB; sie fanden sich bei knapp der Hälfte aller Taten (43,6 °/o) und bildeten nach den Vermögensdelikten die zweitgrößte Deliktsgruppe. In der Rangfolge der Taten folgten die Übertretungen im Straßenverkehr (8,6 Ofo), Sittlichkeitsdelikte (2,8 Ofo), Körperverletzungsdelikte (2,8 Ofo), Hausfriedensbruch, ruhestörender Lärm und Vergehen im Straßenverkehr (je 2,1 Ofo). Die restlichen Taten entfielen in jeweils geringer Häufigkeit auf die unterschiedlichsten Straftatbestände.

80

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials Tabelle 9

Vortaten Art und Zahl der Taten Art 1. Vermögensdelikte

§ 242 § 243 §246 § 370 Ziff. 5 § 250 § 259 § 263 § 266 § 267

2. Rauschdelikte § 330 a 3. Widerstand § 113 4. Sittlichkeitsdelikte § 175 § 176 I 3 § 177 § 183 5. Körperverletzungsdelikte § 223 § 223 a 6. Hausfriedensbruch § 123 7. Straßenverkehr Vergehen/Übertretungen aus StVO/StVZO/StVG §§ 315 a I, 316, § 230 8. Sonstige Delikte § 145 d § 170b § 185 § 241 §248 b § 303 § 360 z. 11 (ruhestörender Lärm) § 361 z. 3 (Landstreicherei) § 361 Z. 4 (Bettelei) 9. Restliche Delikte Schwarzhandel, Ausweislosigkeit, Verstoß gegen Meldepflicht, § 164 StGB etc.

Anzahl der Taten abs. Ufo (100 Ufo = 654) 116 51 28 2 4 11 137 2 5

17,7 7,8 4,3 0,3 0,6 1,7 20,9 0,3 0,8

356

54,4

63

Anzahl der Täter abs. Ufo (100 Ufo = 71)8) 41 14 18 2 4 10 28 2 4

57,7 19,7 25,3 2,8 5,6 14,0 39,4 2,8 5,6

9,6

31

43,6

9

1,4

6

8,5

8 7 1 2

1,2 1,1 0,2 0,3

1 2 1 1

1,4 2,8 1,4 1,4

18

2,8

12 6

1,9 0,9

18

2,8

14

7,0 8 5

11,3 7,0

2,1

7

9,9

56

8,6

29

40,8

14

2,1

9

12,7

5 11 10 2 10 13

0,8 1,7 1,5 0,3 1,5 2,0

5 5 6 2 5 11

7,0 7,0 8,5 2,8 7,0 15,4

14

2,1

10

14,0

5 7

0,8 1,1

5 5

7,0 7,0

29

4,5

21

29,6

a) Vgl. oben T a b. 2 Anm. b) b ezüglich der Summe d e r T ä terzahlen.

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe B. I.

81

B. Das Persönlichkeitsbild der nach § 42 c verurteilten Täter I. Geschlecht, Alter und Kriminalitätsbeginn der Probanden 1. Geschlecht

Die nach § 42 c verurteilten Täter waren bis auf eine Ausnahme männlichen Geschlechts. Die einzige weibliche Probandin war eine (bereits wegen Trunkenheit entmündigte) Trinkerin. 2. Das Alter zur Zeit der Verurteilung nach § 42 c

Die überwiegende Anzahl der Probanden war im Zeitpunkt der Verurteilung zwischen 20 und 40 Jahre alt. Keiner der Probanden war jünger als 20, keiner älter als 60. Die näheren Einzelheiten enthält die folgende Tabelle: TabellelO

Altersgruppe 20 21-25 26--30 31-40 41-50 51-60

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo 1

~~}48

25 17 13

= 78)

1,3} 11•5 615 16,7 ' 32,0 21,8 16,7

3. Der Beginn der kriminellen Laufbahn

Laut Strafregisterauszug begannen knapp zwei Drittel der vorbestraften Probanden ihre kriminelle Laufbahn als Erwachsene. Nur 4 der Probanden waren bereits als Jugendliche mit einer Strafe belegt. Wie sich aus Tabelle 11 ergibt, lag bei der Mehrzahl der Probanden die erste strafgerichtliche Verurteilung zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr. Tabelle 11

Altersgruppe 14-17 18-20 21-25 26--30 31-40 41-50 51

Anzahl der Prob. 0/o (100 Ofo abs. 4 22 }45 15 8 14 9 1 73

= 73)a>

5,5}

~~:~

11,0 19,2 12,3 1,4

61,6

100,0 °/o

a) Die Zahl 73 ergibt sich hier daraus, daß von den 78 Probanden des Untersuchungsmaterials einer nicht vorbestraft war, 2 Probanden im Untersuchungszeitraum zweimal zu Trinkerhellanstalt verurteilt wurden und bei 2 Tätern der Strafregisterauszug fehlte. 6 Marquardt

82

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

II. Merkmale und Besonderheiten der Persönlichkeit 1. Körperliche Auffälligkeiten und Krankheiten

Bei etwa einem Drittel der Probanden fanden sich in den Unterlagen Hinweise auf körperliche Besonderheiten oder Erkrankungen, die als negative Faktoren in der Entwicklung des Probanden zur sozialunangepaßten oder kriminellen Persönlichkeit in Betracht gezogen werden mußten. Ihr Stellenwert ist jedoch insgesamt als gering anzusehen.

Am auffälligsten trat ein solcher Zusammenhang bei den rauschgiftsüchtigen Probanden zutage: Alle deswegen verurteilten Probanden (insgesamt 6) hatten aus Anlaß von schweren Verwundungen oder Erkrankungen betäubende Mittel in hoher Dosierung erhalten. Sie wollten (oder konnten) trotz weitgehender oder völliger Heilung auf die Medikamente nicht mehr verzichten und verschafften sich diese schließlich durch strafbare Handlungen. Äußerlich sichtbare körperliche Stigmata (Beinamputation, Hinken als Folge einer Beinverkürzung, Rückgratverkrümmung, teilweise Atrophie nach Kinderlähmung) waren bei einer kleinen Anzahl von Probanden zu finden (insgesamt 5). Überwiegend handelte es sich bei den festgestellten Besonderheiten um Erkrankungen oder Verletzungen der inneren Organe, die sich negativ auf das physische oder psychische Allgemeinbefinden auswirkten und so von den Probanden letztlich als dauernde Belastung empfunden wurden. Zu nennen sind hier vor allem Kopfverletzungen (Kriegsverwundung, Schädelbruch, Gehirnerschütterung mit nachwirkenden Kopfschmerzen bei 7 Probanden), Lungen-Tbc (2 Probanden), Magengeschwüre, Magenresektion (4 Probanden) und Lues (2 Probanden). Alle diese Merkmale stellen jedoch - dies sei noch einmal betont lediglich mögliche Faktoren in der Entwicklung der P robanden zur knminell auffälligen Persönlichkeit dar. Eine Feststellung im Sinne einer (unmittelbaren) Ursächlichkeit ist damit in keinem Falle getroffen. 2. Die geistig-seelischen Merkmale23

a) Geisteskrankheiten Bei keinem der Probanden wurde zur Zeit der Verurteilung das Vorliegen einer Geisteskrankheit diagnostiziert. Nur bei einem Probanden zeigte die Vorgeschichte ein zeitweises Auftreten psychotischer Symptome des schizophrenen Formenkreises als Folge einer über23 Als Quelle dienten die in den Akten enthaltenen Gutachten, Urteile und Anstaltsberichte.

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe B. II.

83

mäßigen Einnahme von Tradon-Tabletten; ein weiterer Proband erwies sich bei einer später durchgeführten Untersuchung als manischdepressiv.

b) Intelligenzdefekte Von den psychiatrisch untersuchten Probanden wiesen 12 Intelligenzdefekte unterschiedlichen Grades auf. Unter Berücksichtigung der uneinheitlichen Terminologie der verschiedenen Gutachter lassen sich diese nach der Stärke des Defektes in folgende Gruppen aufteilen: Tabellel2

Art des Intelligenzmangels I II III IV

debil leicht schwachsinnig erheblich minderbegabt unterdurchschnittlich begabt

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo 2 6 2 2

= 76)a)

2,6 7,9 2,6 2,6

a) Die Zahl der Probanden ist gegenüber der Ausga ngszahl 78 infolge der bei 2 Probanden gegebenen zweimaligen Einweisung um zwei vermindert.

Schwachsinnsformen der höheren Grade (Imbezillität und Idiotie) waren im Untersuchungsmaterial nicht vertreten. Wenngleich diese Zahlen infolge der häufig nur oberflächlichen und teilweise überhaupt unterbliebenen fachlichen Begutachtung der Probanden24 kein umfassendes Bild über das Intelligenzniveau der Gesamtprobandengruppe vermitteln, so lassen sie doch die Feststellung zu, daß im Untersuchungsmaterial Probanden mit erheblich unterdurchschnittlicher Intelligenz (Gruppe I bis III der Tabelle) nur in geringem Umfang vertreten sind (12,8 Dfo). Erfahrungsgemäß geben solche Täter - da das Vorliegen eines geistigen Defektes im allgemeinen auffällig, zugleich jedoch hinsichtlich Art und Grad zweifelhaft ist - in der richterlichen Praxis nahezu immer Anlaß zu entsprechender fachpsychiatrischer Begutachtung, so daß insoweit Zufälligkeiten im Zahlenmaterial mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden können.

c) Die PersönLichkeitsstruktur der Probanden Soweit die Probanden psychiatrisch untersucht wurden, lag der Schwerpunkt dieser Untersuchung in der Aufhellung der Charakterstruktur der Probanden. Sie spielte vor allem in zwei Verfahrensabschnitten eine wesentliche Rolle: im Urteilsverfahren für die Frage 24

Nur in 30 der 78 Verfahren erfolgte eine ausführliche Begutachtung; in

21 Verfahren wurden lediglich (meist mündliche) Kurzgutachten erstattet,

die sich häufig nur mit der Frage des §51 befaßten. In 27 Verfahren erfolgte keine Begutachtung.

84

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

der Notwendigkeit der Einweisung der Probanden und im Vollstrekkungsverfahren für die Frage einer möglichen Entlassung aus der Anstalt. Allerdings waren die Gutachten auch in diesem Punkt von sehr unterschiedlicher Qualität. Neben der methodisch exakten, umfassenden Ermittlung und Aufarbeitung der wesentlichen Fakten fand sich nicht selten eine oft laienhaft~dilettantisch anmutende Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen. Im folgenden interessiert allein das Auftreten von Charaktermerkmalen im Probandengut, die in der diagnostischen Beurteilung nach irgendeiner Richtung hin als abnorm bewertet oder als an der Grenze der Abartigkeit stehend negativ gekennzeichnet wurden. Der Versuch, die einzelnen Befunde bestimmten charakterologischtypisierbaren Merkmalsgruppen zuzuordnen, sieht sich dabei der kaum zu umgehenden Schwierigkeit ausgesetzt, daß die von den verschiedenen Gutachtern verwendete Terminologie uneinheitlich ist und häufig derselbe Befund mit unterschiedlichen Begriffen umschrieben oder ein und derselbe Begriff für verschiedenartige Sachverhalte verwendet wird. Dies gilt vor allem für den Begriff der Psychopathie, der im vorliegenden Zusammenhang eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Daß gerade dieser Begriff in der Psychiatrie seit langem zu den umstrittensten gehört, ist bekannt25 ; auf seine Problematik kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Zum Verständnis des folgenden ist lediglich ein Hinweis angebracht: soweit in den Gutachten der Psychopathiebegriff verwendet wurde, geschah dies weitgehend in Anlehnung an die Typologie Kurt Schneiders26 ; der Begriff wurde ferner von den Gutachtern überwiegend nur zur Beschreibung solcher abartiger Charakterstrukturen verwendet, in denen die Anlagekomponente dominierte oder jedenfalls deutlich hervortrat27 • Die nachstehende Tabelle enthält zunächst eine grobe Einteilung der Probanden in charakterlich Unauffällige, Psychopathen, Probanden mit schweren Persönlichkeitsstörungen und Probanden mit leichten Persönlichkeitsstörungen. Diese Einteilung wird durch die Untersuchungsberichte der in den Akten enthaltenen Gutachten nahegelegt In die 25 Bresser, a.a.O., S. 61 f.; Göppinger, a.a.O., S. 136 ff. ; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 45 ff.; Schultz-Hencke, a.a.O., S. 298 ff.; auch Suttinger, HwB Krim. 1966, S. 425. 26 Vgl. seine Darstellung: Die psychopathischen Persönlichkeiten, a.a.O. Als Psychopathien gelten danach anlagebedingte Persönlichkeitsanomalien, die von der "Durchschnittsbreite" der als Norm zugrunde gelegten menschlichen Charakterveranlagung dauernd abweichen (S. 2). Die von K. Schneider entwickelte Typologie enthält 10 Typen: hyperthyme (betriebsame), depressive, selbstunsichere, fanatische, geltungsbedürftige, stimmungslabile, explosible, gemütlose, willenlose und asthenische Psychopathen (a.a.O., S. 50 ff.). 27 Auch dies in Anlehnung an den Psychopathiebegriff von K. Schneider (a.a.O., S. 2); vgl. zur Problematik die o. Anm. 25 genannten Autoren.

1. Abschnitt:

Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe B. II.

85

Gruppe der Psychopathen werden dabei nur diejenigen Probanden eingestuft, die in den Gutachten ausdrücklich als solche gekennzeichnet wurden. Probanden, die nach dem Urteil des Gutachters abnorme Charakterzüge aufwiesen, ohne daß diese gleichzeitig mit dem Attribut "psychopathisch" belegt wurden, sind in der Gruppe der "Probanden mit schweren Persönlichkeitsstörungen" zusammengefaßt. Tabelle13 Charakterologische Einordnung der Probanden

Anzahl der Prob. O/o (100 Ofo = 76) abs.

Art

Unauffällig Psychopathen Prob. mit schweren Persönlichkeitsstörungen Prob. mit leichten Persönlichkeitsstörungen

~;:~

::} 41 28 7

)53,9

36,8 9,2

Aus der Tabelle ist ersichtlich, daß nahezu zwei Drittel der Probanden charakterliche Auffälligkeiten zeigten und daß diese bei über der Hälfte der Probanden den Grad einer erheblichen Störung der Persönlichkeitsstruktur annahmen. Über die im einzelnen diagnostizierten Formen dieser Charakterstörungen und die Häufigkeit ihres Auftretens informiert die folgende Aufstellung/la. Tabelle14 Art und Häufigkeit der psychopathischen Störungen

Anzahl der Prob. Art ohne besondere Kennzeichnung ("psychopath. Persönlichkeit") haltlos willensschwach geltungssüchtig stimmungslabil gemütlos

abs. 3 10 6 2 2 1

Ofa der Psychopathen (100 •to = 13) 23,1

76,9

46,2 15,4 15,4

7,7

Die am häufigsten vertretenen Psychopathieformen waren danach Haltlosigkeit und Willensschwäche. Nur in zwei Fällen wurde Haltlosigkeit als alleiniger psychopathischer Charakterzug genannt, in allen übrigen Fällen traten einzelne psychopathische Eigenschaften nebeneinander auf. Am häufigsten anzutreffen war dabei die Kombination von Haltlosigkeit und Willensschwäche (bei 6 Probanden). 2s Gezählt wird dabei jede als psychopathisch bzw. abnorm bewertete Charaktereigenschaft, auch soweit sie neben einer oder mehreren anderen Formen auftrat.

86

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Tabelle15

Art und Häufigkeit der schweren Persönlichkeitsstörungen

Anzahl der Prob. Ofo der Persönlichkeitsabs. gestörten (100 Ofo = 28)

Art haltlos willensschwach stimmungslabil gemütsarm (bzw. affektiv abgestumpft) reizbar-aggressiv geltungsbedürftig selbstunsicher sonstige: ("primitiv", "infantil", "triebhaft", "schwer fehlentwickelt")

17 14 7 6 4 3 2

60,7 50,0 25,0 21,4 14,3 10,7 7,1

7

25,0

Auch bei den erheblich persönlichkeitsgestörten Probanden standen Haltlosigkeit und Willensschwäche als dominante Charaktereigenschaften deutlich im Vordergrund. Häufiger vertreten waren ferner Stimmungslabilität, Gemütsarmut und Reizbarkeit. Vereinzelt wurden Geltungsbedürftigkeit, Selbstunsicherheit, Infantilität, Triebhaftigkeit oder ganz allgemein eine "schwere Fehlentwicklung" als Formen erheblicher Persönlichkeitsstörungen registriert. Fast durchweg traten auch hier mehrere Formen der Persönlichkeitsstörung nebeneinander auf. In der Gruppe der leicht persönlichkeitsgestörten Probanden waren die dominanten Wesensmerkmale Kontaktschwäche, Gehemmtheit, nervöse Überspannung und "infantiles Imponiergehabe". 111. Die Entwicklungsbedingungen der Probanden Über die für die Entwicklung der Probanden maßgeblichen Umweltbedingungen (soziale Verhältnisse, Elternhaus, Erziehungsverhältnisse) fanden sich in den Aktenunterlagen nur geringe Hinweise. Vielfach fehlten brauchbare Angaben über die Eltern, vor allem über psychische oder geistige Besonderheiten in der Familie, über den Beruf der Eltern, die wirtschaftliche Lage der Familie und insbesondere über die Umstände und die bestimmenden Faktoren der Erziehung. Aus den wenigen gewonnenen Daten lassen sich weder Rückschlüsse auf anlagemäßige oder umweltspezifische Ursachenzusammenhänge im kriminellen Werdegang der Gesamtprobandengruppe ziehen, noch reichen sie aus, um ein auch nur einigermaßen abgerundetes Bild über die Herkunft und die äußeren Bedingungen des Werdegangs der Probanden zu gewinnen. Auf ihre Wiedergabe soll deshalb hier verzichtet werden29• 29

Soweit Angaben vorlagen, ergab sich folgendes Bild: Unehelich geboren

1. Abschnitt: Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe B. IV.

87

IV. Die eigene Entwicklung der Probanden Im Gegensatz zu den Entwicklungsbedingungen enthielten die Aktenunterlagen ausreichende Angaben über die wichtigsten Stationen der Entwicklung der Probanden selbst. Zu ihnen zählen insbesondere die Schulbildung, der berufliche Werdegang, die ausgeübte Tätigkeit, das Arbeitsverhalten, der Familienstand und - soweit eine Familie gegründet wurde- die familiären Verhältnisse der Probanden. 1. Ausbildung und Beruf

a) SchuLbildung

In 52 der 76 Fälle fanden sich Angaben über die von den Probanden durchlaufene Schule und den erreichten Abschluß. Tabelle 16 zeigt zunächst die Verteilung der Probanden auf die einzelnen Schultypen, aus denen sie abgingen, Tabelle 17 gibt Aufschluß über den erreichten Abschluß der Volksschüler.

Tabelle16 Anzahl der Prob. abs. OJo (100 °/o

Schulart Höhere Schule (Gymnasium, Oberschule) Volksschule Hilfsschule kein Schulbesuch

8 40 3 1

= 52)

15,4 76,9 5,8 1,9

Tabelle17 Schulerfolg in der Volksschule Volksschule normal durchlaufen einmal sitzengeblieben zweimal sitzengeblieben vorzeitig abgegangen

Anzahl der Prob. abs. OJo (100 Ofo

29 2 1

8

= 40)

72,5

5,0

2,5 20,0

Aus Tabelle 16 ergibt sich, daß die überwiegende Anzahl der Probanden die Volksschule besuchte. Relativ gering ist der Anteil der Hilfsschüler, 8 der 52 Probanden (15,4 °/o) haben eine höhere Schule besucht. Von den Volksschülern haben 72,5 °/o die Schule ohne Schwierigkeiten bis zur Abschlußklasse durchlaufen, während 20 °/o vorzeitig waren 2 Probanden; 8 Probanden wuchsen als Halbwaisen, 1 Proband wuchs als Vollwaise auf (zwischen 1. und 20. Lebensjahr); 2 Probanden stammten aus geschiedenen Ehen. Bei 9 Probanden fanden sich Hinweise auf ungünstige Familienverhältnisse, in 6 Fällen war ein weiteres Familienmitglied trunksüchtig. Ihrer sozialen Herkunft nach kamen die Probanden aus den unteren und mittleren Schichten (Arbeiter bis mittlerer Beamter).

88

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

abgegangen sind (vgl. Tabelle 17; Gründe dafür waren in den Unterlagen nicht zu finden). Von den Oberschülern hat 1 Proband das Abitur abgelegt, 2 Probanden sind mit der mittleren Reüe abgegangen, 3 weitere haben vor und 2 nach Erreichung der mittleren Reife die Schule verlassen. Da bei einem knappen Drittel der Probanden keine Angaben über die Schulbildung vorlagen, stellen die ermittelten Werte freilich nur Mindestwerte dar. b) Berufsausbildung

Zur Berufsausbildung waren bei 65 Probanden des Untersuchungsmaterials die entsprechenden Daten vermerkt. Tabelle 18 informiert über die Zahl der Probanden, die eine solche Ausbildung begonnen, wieder abgebrochen oder beendet haben. Tabelle 18

Ausbildung keine abgebrochen abgeschlossen

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo = 65) 20 14 31

30,8 21,5 47,7

Wie die Tabelle zeigt, liegt die Anzahl der Probanden, die eine Lehre entweder nicht begonnen oder später wieder abgebrochen haben, nur wenig über der Zahl der Probanden mit abgeschlossener Ausbildung. Das Zahlenbild zeigt insoweit keine besondere Auffälligkeit. Eindrucksvoller ist demgegenüber die Feststellung der Anzahl derjenigen Probanden, die zur Tatzeit noch in ihrem erlernten Beruf tätig waren: von den 31 Probanden mit abgeschlossener Berufsausbildung waren 22 (= 71 °/o) in einen anderen Beruf übergewechselt, der - von einem einzigen Fall abgesehen - in der sozialen Bewertung eine niedrigere Rangstufe als der erlernte Beruf einnahm. Meist waren die Probanden als Hilfs- oder Gelegenheitsarbeiter tätig. Sieht man von 3 Probanden ab, die zur Tatzeit bereits Rentner waren, so bleiben lediglich 6 Probanden (19,4 °/o) übrig, die bei der Begehung der zur Einweisung führenden Straftaten noch in ihrem ursprünglich erlernten Beruf tätig waren. Die hier aufgefundenen Zahlen dokumentieren in einem Teilbereich der Entwicklung der Probanden bereits deutlich einen im Gang befindlichen sozialen Abstieg, der in dem weiteren Abgleiten in Trunksucht und Kriminalität seinen äußersten Abschluß fand.

1. Abschnitt:

Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe B. IV.

89

2. Die unmittelbar vor der Einweisung ausgeübte Tätigkeit

Wesentlichen Aufschluß über die soziale Stellung der Probanden gibt die Art der von ihnen vor der Einweisung in die Trinkerheilanstalt ausgeübten Tätigkeit. Tabelle 19 enthält dazu die näheren Angaben. Tabelle 19

Anzahl der Prob. abs. O/o (100 °/o = 76)

Art der Tätigkeit Selbständ. Unternehmer unselbständ. Handwerker Arbeiter Sonstige (Seemann, Krankenpfleger) erwerbslos Rentner/Pensionäre

3

5

3,9

6,6

49 2

64,5 2,6

7

9,2

10

13,2

Knapp zwei Drittel aller Probanden (64,5 °/o) waren danach unmittelbar vor ihrer Einweisung in die Trinkerheilanstalt als einfache Arbeiter (Hilfs-, Gelegenheits-, angelernte Arbeiter) tätig. Mit 13,2 °/o folgt die Gruppe der Erwerbslosen, wenig dahinter die Gruppe der Rentner und Pensionäre (9,2 °/o). Nur gering vertreten im Material waren die unselbständigen Handwerker (Maler, Maurer, Anstreicher: 6,6 °/o) und die selbständig Tätigen (sämtlich Vertreter: 3,9 °/o). Über das Verhalten der Probanden am Arbeitsplatz und über die Dauer der jeweiligen Beschäftigung an einer Arbeitsstelle gab das Aktenmaterial nur unvollkommen Auskunft. Zwar fanden sich bei fast allen Probanden Hinweise auf früher ausgeübte Tätigkeiten, aus deren mehr oder weniger häufigem Wechsel Rückschlüsse auf das Arbeitsverhalten der Probanden gezogen werden können. Doch bieten die ermittelten Daten auch insoweit keine Gewähr für Vollständigkeit, als es sich dabei im wesentlichen um eigene Angaben der Probanden handelte, deren Interesse an einer möglichst positiven Schilderung ihres bisherigen Verhaltens nahelag. Ein gewisser Aussagewert kann deshalb allenfalls den negativ zu bewertenden Fakten zugesprochen werden. Die folgende Aufstellung der Tabelle 20 gibt das aus den Akten gewonnene Bild wieder. Tabelle 20

Arbeitsverhalten unauffällig häufiger Wechsel der Arbeitsstelle keine Angaben

Anzahl der Prob. 0/o (100 Ofo = 76) abs. 36

28 12

47,4 36,8 15,8

90

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Danach haben mindestens 36,8 OJo der Probanden ihre Arbeitsstelle häufig gewechselt oder überhaupt nur Gelegenheitsarbeiten an verschiedenen Arbeitsstellen ausgeübt. Ausgesprochen positive Beurteilungen der Arbeitsleistungen der Probanden durch den Arbeitgeber fanden sich nur in zwei Fällen. Ein Gesamturteil über die Probandengruppe lassen diese Daten aus den angeführten Gründen jedoch nicht zu. 3. Der Familienstand und die familiären Verhältnisse der Probanden

a) Der Familienstand Die folgende Tabelle unterrichtet zunächst über die zahlenmäßige Aufteilung der Probanden. Tabelle 21

Familienstand ledig geschieden verwitwet verheiratet

Anzahl der Prob. 0/o (100 Ofo = 76) abs. 32 25

2 17

42,1 32,9 2,6 22,4

Wie die Tabelle zeigt, lebte weniger als ein Viertel aller Probanden in einer noch bestehenden Ehe. 32,9 OJo der Probanden waren geschieden. Berücksichtigt man die früher getroffene Feststellung, daß sämtliche Probanden bis auf einen zur Zeit der Einweisung die Volljährigkeitsgrenze bereits überschritten hatten, so gewinnt auch der hohe Anteil der ledigen Probanden (42,1 °/o) Bedeutung. Die gefundenen Zahlenwerte deuten auf das Vorhandensein erheblicher Störungen der Bindungs- und Kontaktfähigkeit beim größten Teil der Probanden hin. Das weitgehende Fehlen echter und dauerhafter Bindungen zu einem anderen Menschen und das Unvermögen, an bestehenden personalen Bindungen festzuhalten, war bei diesen Probanden ein wesentlicher Faktor für den in Süchtigkeit und kriminellem Verhalten sichtbar werdenden sozialen Abstieg.

b) Die familiären Verhältnisse der Probanden Über die familiären Verhältnisse der Probanden, ihr Verhalten gegenüber Frau und Kindern und ihre Fürsorge für die Familie fanden sich in den Akten nur sehr wenige Hinweise. Insgesamt 45 Probanden hatten zwischen 1 und 11 Kinder; in 7 Fällen hatten die Probanden für Kinder aus außer- oder vorehelichen Verhältnissen aufzukommen. Soweit die Probanden geschieden waren, hatte sich der Kontakt mit

1. Abschnitt:

Die mit Trinkerheilanstalt belegte Tätergruppe B. IV.

91

den Kindern weitgehend verloren. Auch die finanziellen Verpflichtungen aus der Vaterschaft wurden nur von einem Teil der Probanden erfüllt; doch waren darüber genauere Angaben in den Aktenunterlagen nicht enthalten. Soweit die Akten Hinweise auf das Verhalten der Probanden innerhalb der noch bestehenden Ehe gaben, wurde dieses zum Teil als ausgesprochen negativ (Randalieren, Schlagen von Frau und Kindern) geschildert, teils aber auch als gut bezeichnet. Auch in diesem Punkt waren die Angaben jedoch zu dürftig, um eine verbindliche Beurteilung der Gesamtprobandengruppe zu ermöglichen.

Zweiter Abschnitt

Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe Im folgenden werden entsprechend der Darstellung des vorangegangenen Abschnitts die wesentlichsten Daten der außer der Strafe mit der Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt belegten Probandengruppe wiedergegeben.

A. Die Kriminalität nach Ausmaß und Erscheinungsform I. Anlaßtat und Anlaßstrafe 1. Die Anlaßtaten

a) Die Zahl der Taten Den Verurteilungen der nach § 42 b verurteilten Probanden lagen insgesamt 370 Straftaten zugrunde. Auf jeden Täter entfielen danach durchschnittlich 4,7 Taten. Die Aufschlüsselung nach der zahlenmäßigen Belastung der einzelnen Täter enthält die folgende Tabelle:

Tabelle 22 Zahl der Delikte 1

2-3 4-5 6-10 11-20 21-30 50

Anzahl der Täter 0/o (100 °/o = 78) abs. 20 31 8 14 3 1 1 78

25,7 39,7 10,3 17,3 3,8 1,3 1,3 100,0 °/o

Fast zwei Drittel aller Probanden wurden danach wegen nicht mehr als 3 begangenen Taten abgeurteilt. Nur 5 Probanden (= 6,4 Ofo) hatten mehr als 10 Taten begangen, ehe sie gefaßt und verurteilt werden konnten.

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. I.

93

b) Die Art der Taten Über die Art der begangenen Taten informiert Tabelle 23.

Tabelle 23

Anlaßtaten Art und Häufigkeit der Begehung Deliktsarten 1. Vermögensdelikte § 242 § 243 § 246 §§ 249-251 § 259 § 263 § 267b)

2. Sittlichkeitsdelikte §174Z.1 § 175 § 175 a Z. 3 § 175 b § 176 I 1 § 176 I 3 § 177 § 183 § 185C) 3. Sonstige Delikte § 113 § 123 § 145 d § 170b § 171 § 211 § 218III § 240 §271 § 303 §306 § 308 § 315 a I 2 a.F. § 330a § 360 z. 8 § 361 z. 3

Anzahl der Taten 0/o abs. (100 Ofo = 370)

Anzahl der Täter abs. Ofo (100 °/o = 78)a)

37 9 4

10,0 2,4 1,1

17 6 2

21,8 7,7 2,5

1 49 8

0,3 13,2 2,2

1 7 3

1,3 9,0 3,8

108

29,2

36

46,1

28 3 21 1 7 155 3 5 7

7,6 0,8 5,7 0,3 1,9 41,9 0,8 1,4 1,9

2 2 9 1 1 27 3 2 3

2,6 2,5 11,5 1,3 1,3 34,6 3,8 2,5 3,8

230

62,2

50

64,1

1 2 1 1 1 2 3 3 3 2 2 2 1 5 1 2

0,3 0,5 0,3 0,3 0,3 0,5 0,8 0,8 0,8 0,5 0,5 0,5 0,3 1,4 0,3 0,5

1 2 1 1 1 2 1 1 1 1 1 2 1 3 1 2

1,3 2,5 1,3 1,3 1,3 2,5 1,3 1,3 1,3 1,3 1,3 2,5 1,3 3,8 1,3 2,5

32

8,6

22

28,2

a) s. Tab. 2 Anm. b). b) s. Tab. 2 Anm. d). c) Die Beleidigung wurde in allen vorkommenden Fällen als sittliche Belästigung begangen, die nicht die Stärke einer unzüchtigen Handlung i. S. der §§ 174 ff. erreichte. Sie wird deshalb hier zu den Sittlichkeitsdelikten gezählt.

94

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Die Tabelle weist sowohl auf der Tat- wie auf der Täterseite einen hohen Anteil der Sittlichkeitsdelikte an der Gesamtkriminalität der Untersuchungsgruppe aus. Nahezu zwei Drittel der Probanden begingen Sittlichkeitsdelikte, 62,2 °/o aller von den Probanden begangenen Taten gehörten zu dieser Deliktsgruppe. Die häufigsten Verurteilungen erfolgten wegen schwerer Unzucht gemäß § 176 Abs. 1 Satz 3 (Unzucht mit Kindern unter 14 Jahren); auf dieses Delikt entfielen auch die meisten Taten (41,9 °/o der gesamten kriminellen Handlungen, 67,4 °/o der Sittlichkeitsdelikte). Kaum vertreten sind die Gewaltunzucht des §J 76 Abs. 1 Satz 1 (1,9 Ofo aller Taten) und die Notzucht (0,8 Ofo der Taten insgesamt). An zweiter Stelle der Tabelle folgt mit großem Abstand die Gruppe der Vermögensdelikte (29,2 Ofo der Taten, 46,1 Ofo der Täter), wobei den Tatbeständen des Betrugs und des Diebstahls das Hauptgewicht zukommt. Die Urkundenfälschung hat mit 2,2 Ofo der Taten noch eine gewisse Bedeutung, Unterschlagung (1,1 Ofo) und Hehlerei (0,3 Ofo) sind schwach, Raub und Erpressung überhaupt nicht vertreten. Unter der Gruppe der sonstigen Delikte sind die 2 Fälle des § 211 (0,5 Ofo aller Taten) hervorzuheben; in beiden Fällen blieb die Handlung im Versuchsstadium stecken, doch trat in einem Fall der Tod infolge der vom Täter zugefügten Körperverletzung ein (§ 226). Zu nennen ist ferner das Delikt der vorsätzlichen Brandstiftung (§§ 306, 308), es wurde von 3 Tätern insgesamt viermal (davon zweimal in der Form des § 306) verwirklicht (1,6 Ofo der Taten). Je dreimal begangen wurde Fremdabtreibung (§ 218 Abs. 3). Nötigung (§ 240) und mittelbare Falschbeurkundung (§ 271). 1,4 Ofo der Taten waren Vergehen nach § 330 a. Eine geringe Rolle spielten Hausfriedensbruch (0,5 Ofo der Taten) und Widerstand - § 113 StGB - (0,3 Ofo der Taten). Die Deliktsgruppe der §§ 223 ff. (Körperverletzung) fehlt völlig.

c) Die Modalitäten der Tatbegehung aa) Tatgenossenschaft 97,4 Ofo aller mit Heil- und Pflegeanstalt belegten Täter haben ihre Taten im Alleingang ausgeführt. Nur 2 der 78 Täter handelten mit einem weiteren Täter zusammen (1 Diebstahl, 1 Hehlerei). bb) Die Betätigungsrichtung und die dabei entfaltete kriminelle Energie Ein Drittel aller Täter verwirklichte die zur Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt führenden Taten ohne vorgefaßten Plan. Diese Täter folgten einem plötzlich auftretenden Tatanreiz, der vielfach

2. Abschnitt: Die nach § 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. I. 95 durch eine zufällig vorgefundene, einer Deliktsbegehung günstige Situation hervorgerufen wurde (ein offenstehendes Fenster weckt den Entschluß zum Diebstahl; eine zufällige Begegnung mit einem einsam spielenden Kind verlockt zur Vornahme unzüchtiger Handlungen). Meist ließen diese Täter auch bei der Durchführung der Tat alle sonst üblichen Vorsichtsmaßregeln außer acht, so daß sie in der Regel im unmittelbaren Anschluß daran gefaßt werden konnten (so wurde beispielsweise ein Proband gefaßt, als er 2 von ihm gestohlene Damenfahrräder gleichzeitig durch die Straßen schob, wobei an einem Fahrrad noch eine gefüllte Einkaufstasche hing.). Ganz allgemein fällt bei der nach § 42 b abgeurteilten Tätergruppe ferner der hohe Anteil der Täter auf, die ihre Taten ganz oder teilweise im sozialen Nahraum (Arbeitsstätte, Familie, Nachbarschaft) begangen haben (44,8 °/o). Hier wird ein gewisser Trend erkennbar, Delikte vor allem dort zu begehen, wo die Durchführung leicht und der Erfolg ohne große Anstrengung sicher zu erreichen ist. Zugleich dokumentiert sich hier ein verstärkter Abbau psychischer Hemmfunktionen, die im allgemeinen einer kriminellen Aktivität im persönlichen Umfeld entgegenwirken. Im einzelnen zeigen die verschiedenen Deliktsgruppen folgendes Bild: a1)

Die Sittlichkeitsdelikte

Bei mehr als der Hälfte der Probanden, die wegen eines Sittlichkeitsdelikts verurteilt wurden, war Grundlage der Verurteilung ein Verbrechen nach§ 176 Abs.1 Satz 3 (Unzucht mit Kindern unter 14 Jahren). Auf dieses Delikt entfielen 41,9 °/o aller Taten der Gesamtprobandengruppe, 67,4 °/o aller Sittlichkeitsdelikte wurden in dieser Form begangen. Die Opfer dieser Verbrechen waren Kinder aller Altersstufen zwischen 4 und 13 Jahren; ein großer Teil von ihnen gehörte zum engeren Bekanntenkreis der Täter. In 97 von 155 Fällen richtete sich die Tat gegen einen Jungen, in 58 Fällen gegen ein Mädchen, doch war - wie die folgende Übersicht zeigt - die Zahl der Probanden, die sich ein Mädchen als Opfer aussuchten, fast doppelt so hoch wie die Zahl derer, die sich an Jungen vergingen. Tabelle24

Opfer nur Mädchen nur Jungen sowohl Mädchen als Jungen

Anzahl der Täter 0/o abs. (100 OJo = 27) 16 9 2

59,3 33,3 7,4

Anzahl der Taten abs. OJo (100 Ofo = 155) 49

90

16

31,6 58,1 10,3

96

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Die hohe Zahl der gegen die männlichen Jugendlichen begangenen Taten ist vor allem darauf zurückzuführen, daß bei einem Probanden sich die Unzuchtshandlungen über einen längeren Zeitraum hinzogen und mindestens 50 Fälle umfaßten. Die Unzuchtshandlungen gegenüber den männlichen Jugendlichen bestanden vorwiegend in manuellen Manipulationen am eigenen GT oder am GT der Kinder. Meist wurden die Kinder dazu verleitet, beim Täter zu masturbieren. Verschiedentlich kam es clahei auch zu wechselseitiger Onanie und zum Mundverkehr. In etwa 17 der 95 Fälle hatten die Taten die Form einer Art qualifizierten Exhibitionismus: die Probanden entblößten sich und onanierten vor den Jugendlichen, meist unter gleichzeitiger "Aufklärung" über die Technik der Onanie und des Geschlechtsverkehrs und meist auch unter gleichzeitiger Aufforderung an die Jugendlichen, selbst zu onanieren. Auch die gegenüber weiblichen Jugendlichen begangenen Unzuchtshandlungen zeigten in knapp der Hälfte der Fälle überwiegend exhibitionistische Züge: die Täter entblößten sich und onanierten; zum Teil veranlaßten sie dabei auch die Mädchen, den GT des Täters anzufassen und daran zu reiben. Daneben war auch hier eine häufige Verhaltensweise die manuelle Berührung von GT oder Brust der Mädchen, wobei die Mädchen sich verschiedentlich auf Veranlassung des Täters ganz oder teilweise entkleideten. Weiter enthielt das Material 9 Fälle von versuchtem Geschlechtsverkehr und 9 Fälle, in denen die Probanden ohne den Versuch eines Geschlechtsverkehrs eine Art Schenkelverkehr ausübten (meist als Ersatz für den infolge des Alters der Mädchen physisch nicht möglichen Geschlechtsverkehr). Den Probanden gelang es in den meisten Fällen ohne besondere Mühe, Opfer für ihre Unzuchtshandlungen zu gewinnen. Soweit sie diese nicht ohnehin aus ihrem engeren Bekanntenkreis wählten und damit auf ein bestehendes Vertrauensverhältnis zurückgreifen konnten, erreichten sie ihr Ziel teils durch Versprechen und Gewähren von Geld- oder Sachgeschenken, teils nutzten sie die Arglosigkeit der Kinder, teils kam ihnen auch deren - je nach Alter - bestehende Neugier an sexuellen Dingen entgegen. In einer kleinen Zahl von Fällen ließen die Kinder die Probanden aus Angst vor Strafe oder Tadel gewähren29 a. Geringe Bedeutung bei der Begehung der Taten hatte der Alkohol. Nur 5 Urteile erwähnten eine Alkoholbeeinflussung des Täters bei der Tatausführung. Nach der Anzahl der Taten war das am zweithäufigsten begangene Delikt die "Unzucht mit Abhängigen" (§ 174 Ziff. 1); allerdings waren 29a Die Art des Vorgehens der Täter war häufig auch vom Alter der Kinder bestimmt. Die folgende Aufstellung gibt - in groben Umrissen Aufschluß über die altersmäßige Zusammensetzung der jugendlichen Opfer.

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. I. 97

es ·nur 2 Probanden, die deswegen verurteilt wurden. Beide hatten verbotenen Geschlechtsverkehr ausgeübt, der eine in 26 Fällen mit seiner 16jährigen Stieftochter, der andere zweimal mit seiner leiblichen 13jährigen Tochter (hier kam es auch zu einer Schwangerschaft der Minderjährigen). Beide Minderjährige gaben dem Verlangen des Vaters nur widerwillig nach, waren dessen hartnäckigem Drängen jedoch letztlich nicht gewachsen. Insgesamt 11 Täter der Gesamtprobandengruppe begingen in 24 Fällen homosexuelle Handlungen, überwiegend in der Form der schweren Unzucht (mit Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren; § 175 a Ziff. 3). In der Ausführung glichen die Taten den bei § 176 Abs. 1 Satz 3 (männliche Jugendliche) beschriebenen: Wechselseitige Onanie, Mundverkehr, sexuelle "Aufklärung". Gewaltunzucht (§ 176 Abs. 1 Ziff. 1) fand sich nur bei einem Probanden des Untersuchungsmaterials. Er überfiel in 7 verschiedenen Fällen in einsamer Gegend Frauen zwischen 17 und 37 Jahren, um sie unzüchtig zu berühren. Verschiedentlich stieß er die Opfer zu Boden und schlug sie mit Fäusten, um ihren Widerstand zu brechen. In allen Fällen führte er gleichzeitig unzüchtige Reden, in mindestens 2 Fällen exhibitionierte er während der Tat. Wegen (versuchter) Notzucht wurden 3 Täter verurteilt. Ihre Handlungen, die in keinem Fall zur Vollendung führten, waren ausgea) Mädchen

-----------------------------------------Alter 5----6 7-8 9-10 11-12 13

ungenau (zw. 7 + 13)

Anzahl der gegen die genannte Altersgruppe beg. Taten abs. Ofo (100 Ofo = 58) 9 12 7 7 3

15,5 20,6 12,1 12,1 5,2

20

34,4

b) Jungen

Alter 4-5 7-8 9-10 11

12-13 ungenau (zw. 7 + 13) 7 Marquardt

Anzahl der gegen die genannte Altersgruppe beg. Taten abs. Ofo (100 Ofo = 97)

4

5,2 2,1 6,2 68,0 4,1

14

14,4

5 2

6 66

98

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

sprochen brutal. In einem Fall würgte der Täter sein Opfer, schlug es und stach mit einem Taschenmesser auf es ein; hier wurden schlimmere Folgen nur durch die rasche Hilfe Dritter verhindert. Auch in den beiden anderen Fällen bedrohten die Täter ihre Opfer (in einem Fall mit einer Pistole) und verletzten sie. Der Rest der Sittlichkeitsdelikte war leichterer Art: In 7 Fällen wurden Frauen durch unflätige Redensarten oder unzüchtige Berührungen beleidigt (§ 185 StGB), 2 Probanden exhibitionierten in insgesamt 5 Fällen und 1 Proband trieb widernatürliche Unzucht durch Geschlechtsverkehr mit einem Schwein. Schuldsprüche wegen anderer als Sittlichkeitsdelikte fanden sich nur bei wenigen Tätern der behandelten Deliktsgruppe. Es waren solche wegen tateinheitlich oder tatmehrheitlich begangener Delikte der §§ 123, 223, 223 a, 242, 263, 267. a2) Die Vermögensdelikte

Unter den Vermögensdelikten steht nach der Häufigkeit der begangenen Taten der Betrug an erster Stelle, doch erreicht die Zahl der Täter dieser Gruppe nicht einmal ein Drittel der Anzahl der wegen Diebstahls Verurteilten; die durchschnittliche Belastung der einzelnen Täter mit Betrugstaten erweist sich damit als recht hoch (7 Taten gegenüber 2 Taten je Täter beim Diebstahl). Nimmt man Tat- und Täterzahlen zusammen, so kommt die größere Bedeutung dem Diebstahl zu. Auf ihn entfielen 12,4 Ofo aller Taten, mehr als drei Viertel davon auf den einfachen Diebstahl. 29,5 Ofo aller Probanden wurden wegen Diebstahls verurteilt. Die wichtigsten Deliktsgruppen unter den Vermögensdelikten zeigten folgendes Bild: aal) Die Diebstahlshandlungen Verurteilungen wegen Diebstahls fanden sich bei insgesamt 18 Probanden. Von diesen waren verurteilt: nur wegen einfachen Diebstahls 12 Probanden, nur wegen schweren Diebstahls 1 Proband, wegen einfachen und schweren Diebstahls zugleich 5 Probanden. In 12 Fällen betraf der Schuldspruch ausschließlich Diebstahl, in 2 Fällen erfolgte gleichzeitig eine Verurteilung wegen Landstreicherei (§ 361 Ziff. 3), in 2 weiteren Fällen wegen Urkundenfälschung (§ 267). Unterschlagung (§ 246) und gleichgeschlechtliche Unzucht (§§ 175, 175 a) waren je einmal vertreten. Diebstahlsobjekte An der Spitze der entwendeten Gegenstände stehen zu gleichen Teilen Bargeld und Gebrauchsgegenstände (Kleidung und Handtaschen u. ä .). Sie waren in jeweils 32,6 Ofo aller Diebstähle das begehrte Objekt. An nächster Stelle folgen Lebens- und Genußmittel (23,9 Ofo der Taten). Auch der Fahrraddiebstahl hat mit einem Anteil

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. I.

99

von 15,2 °/o an den Diebstahlshandlungen eine gewisse Bedeutung, während der Diebstahl von Kraftfahrzeugen nur eine untergeordnete Rolle spielt (je 1 Pkw- und 1 Mopeddiebstahl). Mehrfach vertreten ist schließlich auch der Diebstahl von Sparbüchern (in 8,7 Ofo der Fälle). Tathandlung - Tatmotivation Gut die Hälfte der Täter (56,6 Ofo) beging die Diebstähle aufgrund eines vorgefaßten Plans. Diese Täter waren stets auf der Suche nach günstigen Diebstahlsmöglichkeiten und nutzten jede sich bietende Gelegenheit. Auf ihr Konto geht überwiegend die Entwendung von Bargeld, Lebensmitteln und sonstigen Gebrauchsgegenständen. Nur ein kleiner Teil der Täter stand bei der Tatbegehung unter Alkoholeinwirkung. Als Motiv der Diebstahlshandlungen erwies sich bei etwa einem Drittel der Täter die Beschaffung der Mittel für den unmittelbaren Lebensunterhalt, während ein weiteres Drittel der Täter die Diebstahlsbeute in Alkohol umsetzte oder sonstwie verjubelte. Der Rest der Täter handelte ohne erkennbares Motiv, teilweise wurden die entwendeten Gegenstände später wieder weggeworfen. Die Begehungsfarm des schweren Diebstahls war bis auf einen Fall, in dem ein falscher Schlüssel verwendet wurde, die des Einsteigens (§ 243 Abs. 1 Ziff. 2); in 5 der 8 Fälle verschafften sich die Täter durch gewaltsames Öffnen von Türen oder Fenstern Zugang. aa2) Der Betrug Geht man von der Zahl der begangenen Taten aus, so zeigten die 7 wegen Betrugs verurteilten Probanden eine erhebliche kriminelle Aktivität; ein einziger wurde wegen nur einer Tat verurteilt, die übrigen hatten 4, 5 (2 mal), 8, 9 und 16 verschiedene Betrugshandlungen aufzuweisen. Auch der von den Probanden angerichtete Schaden war zum Teil beträchtlich und erreichte in einem Fall sogar die Summe von über 8 000 DM. Versucht man die einzelnen Betrugshandlungen nach ihrer Begehungsart zu typisieren30, so zeigen sich die in der folgenden Tabelle aufgeführten Formen als vorherrschend. TabeHe 25

Betrugsformen Darlehensbetrug Warenkreditbetrug Warenbeschaffungsbetrug Einmiet- u. Zechbetrug Heiratsschwindel Sonstige Formen

Anzahl der Taten Anzahl der abs. Ufo (100 Ufo = 49) Täter abs. 12 12 10 10 1 4

24,4 24,4 20,4 20,4 2,0 8,2

2 3 3

3 1

3

ao Wobei es nicht um eine Einordnung in eine bestimmte kriminologische Tattypologie, sondern ausschließlich darum geht, die einzelnen Taten nach den dominanten Merkmalen ihrer Begehungsform zu ordnen. 7*

100

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Am häufigsten begangen wurden - sieht man auf die Zahl der Taten - Darlehensbetrug und Warenkreditbetrug. Warenbeschaffungsbetrug, sowie Einmiet- und Zechbetrug blieben nur geringfügig darunter. Auf der Täterseite verschiebt sich diese Rangfolge dadurch, daß wegen Darlehensbetrug nur 2 Probanden verurteilt wurden, gegenüber jeweils 3 Verurteilungen bei den 3 anderen Deliktsformen. Den größten Schaden richteten die wegen Darlehensbetrug verurteilten Probanden an. In einem Falle war es eine Frau, die teilweise als Hochstaplerio auftrat. Sie erzählte Freundinnen und Bekannten von einem hohen Bankkonto, das sie besitze und einer großen Erbschaft, die sie noch erwarte, ging mit einem Freund und dessen Schwester zum Notar, ließ ein Testament errichten, worin sie diesen 75 000 DM vermachte, wobei sie nicht einmal die Notariatsgebühren bezahlen konnte. In anderen Fällen wiederum spielte sie die arme Frau, die Arzneimittel kaufen oder einem bei einem Unfall verletzten Neffen helfen müsse. Sie erschwindelte sich auf diese Weise mehr als 6 000 DM. (Auf ihr Konto gingen ferner Einmiet- und Zechbetrügereien über weitere 2-3000 DM). Der zweite Proband, ein bereits entmündigter Bauhilfsarbeiter, erschwindelte sich hohe Geldbeträge unter der Vorspiegelung, er sei Unternehmer einer "Verkaufsgemeinschaft für Verbrauchsgüter", die bereits in 82 Städten der Bundesrepublik vertreten sei und die noch weiter ausgebaut werden solle. Als dieses Unternehmen aufflog, gründete der Proband eine neue Gesellschaft ("Baumusterhaus"), für die er sogar einen Rechtsanwalt und einen Architekten als Gesellschafter gewann. Der Proband ließ sich als Geschäftsführer dieser Gesellschaft gegen ein monatliches Entgelt von 500 DM anstellen, ohne daß die Gesellschaft jemals ihre volle Geschäftstätigkeit aufnahm. In den Fällen des Warenkreditbetrugs kauften die Probanden jeweils Gebrauchsgegenstände (Möbel, Kleidung, Fernsehgeräte, Spirituosen) gegen geringe oder gar keine Anzahlungen und ließen sich diese aushändigen, ohne gewillt oder in der Lage zu sein, sie zu bezahlen. Den Kredit erschlichen sie sich entweder durch falsche Angaben zur Person oder unter Hinweis auf den Besitz eines (nicht bestehenden) Großunternehmens (1 Proband: er bestellte u. a. Möbel im Wert von über 100 000 DM. Hier kam es allerdings nicht mehr zur Auslieferung). Als Warenbeschaffungsbetrug sind diejenigen Betrugshandlungen erfaßt, bei denen die Täter unter der Vorspiegelung, verbilligte Waren (Kohlen, Spirituosen, Haushaltsgegenstände) beschaffen zu können, sich von ihren Opfern Geld als Vorschuß geben ließen und damit verschwanden. Die jeweils erschwindelten Beträge bewegten sich zwischen 2,50 DM und 450 DM.

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A.l. 101

Beim Einmiet- und Zechbetrug mieteten die Täter sich (zum Teil über längere Zeit) in Hotels und Gasthöfen ein; sie machten dabei in 10 Fällen Schulden für Speisen und Übernachtungen zwischen 6,50 DM und 2 000 DM. Als Heiratsschwindler trat ein Proband auf. Er hatte seine Familie verlassen und war von einer Frau aufgenommen worden, deren Heiratsannonce er der Bildzeitung entnommen hatte. Obwohl Hilfsarbeiter, gab er sich als Dolmetscher aus, der eine Stelle bei der Landesregierung in Aussicht habe. Die Frau und deren Mutter liehen dem Probanden nach und nach 1000 DM, zahlten Rechnungen und gaben ihm Unterkunft und Verpflegung. Auf Drängen der Frau heiratete der Proband sie schließlich (die Ehe war wegen Bigamie nichtig). Die sonstigen Betrugstaten waren in 1 Fall ein Taxibetrug, in 2 Fällen verkauften die Probanden Gegenstände, die ihnen nicht gehörten und in 1 Fall stellte ein Proband für sein angeblich bestehendes Großunternehmen 5 Angestellte an und beschäftigte diese vorübergehend, ohne den vereinbarten Lohn zu zahlen. Von den 7 wegen Betrugs verurteilten Probanden lassen sich nur 3 als Kleinbetrüger einstufen (Darlehens- und Zechbetrug geringen Umfangs). Bei den restlichen 4 Probanden hatten die Betrügereien ein recht beachtliches Ausmaß. Die meisten der Probanden handelten bei ihren Taten aus Gewinnsucht, nur 2 benutzten den Betrug als Mittel zum Erwerb des nötigsten Lebensunterhalts. Opfer waren in 5 Fällen eines Täters Rentner und Flüchtlinge, sie wurden um geringfügige Geldbeträge gebracht. In den übrigen Fällen richtete sich die Tat gegen Angehörige aller sozialen Schichten. Vielfach war auf der Seite der Opfer nicht nur Leichtgläubigkeit, sondern auch eine gewisse Profitgier anzutreffen, die sie blind machte gegen die offen zutage liegende Fragwürdigkeit des abgeschlossenen Geschäfts und gegen die mangelnde Kreditwürdigkeit der Probanden, denen so die Arbeit erheblich erleichtert wurde. Neben den Verurteilungen wegen Betrugs fanden sich bei 4 Probanden zusätzlich Schuldsprüche wegen Urkundenfälschung (§ 267), Unterschlagung (§ 246), Hausfriedensbruch (§ 123), versuchter Notzucht (§§ 177, 43), Bigamie (§171) und Unterhaltspflichtverletzung ( §170b). aas) Die Urkundenfälschung (§ 267) Innerhalb der Vermögensdelikte hat schließlich noch die Urkundenfälschung eine gewisse Bedeutung. Sie diente 3 Probanden in 8 Fällen als Mittel ungerechtfertigter Bereicherung: 2 Probanden unterschrie-

102

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

ben nach der Entwendung von Sparbüchern die Auszahlungsscheine mit dem Namen des berechtigten Inhabers, 1 Proband fälschte in einem entwendeten Personalausweis das Geburtsdatum, um unter falschem Namen Geschäfte zu tätigen. a3) Die sonstigen Delikte

Aus der Gruppe der sonstigen Delikte verdienen zunächst die beiden Fälle eines (versuchten) Mordes besonderes Interesse. In einem Fall stach der Proband knapp 2 Monate nach seiner Entlassung aus einer Heilanstalt seine geschiedene Ehefrau mit einem Küchenmesser in Tötungsabsicht nieder und verletzte sie schwer. Er hatte sich zu diesem Zweck in die Wohnung der Frau eingeschlichen und stürzte sich auf sie ohne ein Wort zu sagen. Schon vorher hatte er seiner Frau bereits mehrfach angedroht, sie umzubringen. Grund dafür war die Weigerung der Frau, zum Probanden zurückzukehren. Der Proband hatte sie bereits während der Ehe mehrfach schwer mißhandelt. Im zweiten Fall des Untersuchungsmaterials tötete der Proband einen 7112jährigen Jungen, den er knapp einen Tag kannte. Während der Junge ihm beim Pflügen zusah, verspürte der Proband plötzlich den Wunsch, den Jungen sexuell zu mißbrauchen. Er fiel über ihn her, fesselte ihn, würgte ihn und entkleidete dessen Unterleib, um den Afterverkehr durchzuführen. Als dies mißlang, onanierte er in knieender Stellung über dem Jungen. Aus Furcht, von dem noch zuckenden Jungen verraten zu werden, stach er diesem in Tötungsabsicht mit dem Taschenmesser in den Hals. Das Motiv für die versuchte Tötung lag ausschließlich in der Furcht des Probanden vor der Entdeckung seiner unzüchtigen Handlung, die er in einer dranghaft aufschießenden sexuellen Erregung begangen hatte31 • In ihrer Begehungsweise glich diese Tat bis in die Einzelheiten früheren Vorfällen, in denen der Proband in plötzlicher sexueller Erregung Tiere (einen Hund und mehrere Katzen) getötet hatte: er hatte sie eingefangen, erdrosselt, mit dem Taschenmesser abgestochen und zwischen den noch warmen Hinterbeinen der Tiere knieend onaniert. Als brutal und gefährlich erwies sich ein weiterer Proband des Untersuchungsmaterials, der wegen 3fach begangener versuchter Nötigung (§ 240 StGB) verurteilt wurde. Er hatte innerhalb eines Monats in drei verschiedenen Fällen Frauen angefallen, sie zu Boden geworfen und gewürgt (in einem Falle hatte er eine Nylonschnur um den Hals des Opfers gezogen). Welche Absicht er verfolgte (Raub oder Vergewaltigung), ließ sich nicht klären. 31 Da zu diesem Zeitpunkt der Tod möglicherweise schon (durch das vorangegangene Würgen) eingetreten war, wurde Pb. nur wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit § 226 (Körperverletzung mit Todesfolge) verurteilt.

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. I. 103

Wegen Brandstiftung wurden 2 Probanden verurteilt. Der eine legte in insgesamt 3 Fällen Feuer an Scheunen und Gehöfte seines Wohnorts. Sobald es brannte, alarmierte er die Feuerwehr, lief als erster zum Brandort und tat sich bei den Löscharbeiten besonders hervor. Der zweite Proband legte Feuer im Archiv des Bundespresseamtes in Bonn, in das er zuvor durch ein eingeschlagenes Fenster eingestiegen war. Auch sein Motiv war, aufzufallen und in die Zeitungen zu kommen. Er stellte sich noch während des Brandes der Polizei und gab dabei zunächst an, in sowjetischem Auftrag gehandelt zu haben. Die von den 3 Probanden im Vollrausch begangenen Delikte waren in 3 Fällen Sittlichkeitsdelikte (2 in der Form des § 176 Abs. 1 Satz 3, 1 in der Form des § 185 StGB). In zwei weiteren Fällen bedrohte der Proband 2 Passanten mit einem feststehenden Messer (§ 241 StGB). 2. Die neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen (Anlaßstrafen)

Die Schwere der Schuld und die Bedeutung der begangenen Taten spiegelt sich in gewissem Umfang auch in der Höhe der ausgesprochenen Strafen. Aus den früher dargelegten Gründen32 , die hier entsprechend gelten, dienen die im folgenden wiedergegebenen Daten im wesentlichen der Abrundung des aus dem vorigen Abschnitt gewonnenen Bildes. Sie werden an späterer Stelle bei der Erörterung der praktischen Auswirkungen des vikariierenden Systems noch einmal Bedeutung gewinnen 33 • Tabelle 26 gibt zunächst einen Überblick über die Art der neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen, Tabelle 27 enthält die Aufschlüsselung der Höhe nach. Tabelle 26

Die Art der bei der Einweisung ausgesprochenen Strafen

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo

Art

Haft Gefängnis Gefängnis und Haft Zuchthaus

0 71 1 6

= 78)

0

91,0 1,3 7,7

Die am häufigsten ausgesprochene Strafe war die Gefängnisstrafe; sie kam in 72 der insgesamt 78 Verfahren zur Anwendung (und damit in 92,3 Ofo der Fälle). Verurteilungen zu Zuchthausstrafe erfolgten in 6 Fällen. Die Höhe der ausgesprochenen Gefängnisstrafe lag in 65,2 Ofo 32 33

s. 0 . s. u.

s. 75 f. s. 147 f.

104

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

innerhalb der Grenze von einem Jahr; die höchste Strafe betrug hier 41/2 Jahre, sie wurde einmal ausgesprochen. Die Höhe der Zuchthausstrafen bewegte sich zwischen einem und zehn Jahren. Tabelle 27

Die Höhe der Freiheitsstrafen nach der Zahl der jeweils betroffenen Täter Die Gefängnisstrafe

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo = 72)a>

Dauer bis 3 Monate über 3 bis 6 Monate über 6 bis 12 Monate über 1 Jahr bis 2 Jahre über 2 bis 3 Jahre über 3 bis 4 Jahre über 4 bis 5 Jahre Die Zuchthausstrafe

Dauer

9 15 23 17 5 2 1

12,5 20,8 31,9 23,6 6,9 2,8 1,4

abs.

1 Jahr 2-3 Jahre 4 Jahre 6 Jahre 10 Jahre

1 2 1 1 1

a) Die in einem Fall neben der Gefängnisstrafe verhängte Haftstrafe 4 Wochen - wird hier nicht gerechnet.

sie betrug

II. Die Vorbestraftheit der Tätergruppe34 1. Die Vorstrafen

Die Anzahl der auf jeden Täter dieser Gruppe im Durchschnitt entfallenden Vorstrafen betrug 4,0. Eine ganze Reihe von Probanden war jedoch vor ihrer Einweisung überhaupt nicht bestraft. Die zahlenmäßige Belastung im einzelnen ergibt sich aus der Tabelle 28. Tabelle 28

Die zahlenmäßige Häufigkeit

Zahl der Vorstrafen 0 1-5 6-10 11-15 25 34

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo 12 43 17 3

1

= 76)

15,8 56,6 22,4 3,9 1,3

Sie ließ sich für insgesamt 76 Täter ermitteln: Bei einem Täter war das

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. II. 105

Die meisten der Probanden (56,6 Ofo) hatten danach zwischen 1 und 5 Vorstrafen aufzuweisen. Nur 4 Probanden (5,2 °/o) waren mehr als 10 mal vorbestraft. In der Strafart war die Gefängnisstrafe die am häufigsten verhängte Strafe; sie kam in fast drei Vierteln aller früheren Verurteilungen zur Anwendung. Insgesamt 14 Vorstrafen (4,6 Ofo der Verurteilungen) lauteten auf Zuchthaus. Die genaue Aufteilung hierzu enthält Tabelle 29. Tabelte29 Die Art der Vorstrafen

Art Geld Haft Gefängnis Zuchthaus

Häufigkeit der Verurteilungen Ofo (100 Ofo = 307) abs. 48

25

220 14

15,6 8,1 71,7 4,6

Anzahl der Prob. abs. O/o (100 Ofo = 76) 27

11 62 9

35,5 14,5 81,6 11,8

Die Höhe der Freiheitsstrafen (außer Haft). In den 220 auf Gefängnis lautenden Urteilen wurde im Durchschnitt pro Urteil eine Strafe von 7,2 Monaten ausgesprochen. Jeder der 62 Probanden dieser Untersuchungsgruppe war danach durchschnittlich mit 2,1 Jahren bestraft worden. Nur 15 der Probanden hatten vor ihrer Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt eine Gefängnisstrafe von weniger als 1 Jahr erhalten. Bei den Zuchthausstrafen betrug die durchschnittliche Strafhöhe 2 Jahre und 21/2 Monate pro Verurteilung. 2. Die neben den Vorstrafen angeordneten Maßregeln

Bei 10 Probanden (= 13,2 Ofo) wies der Strafregisterauszug neben der Strafe eine gleichzeitig angeordnete Maßregel aus. In 5 Fällen war dies ebenfalls die Heil- und Pflegeanstalt, in 3 Fällen das Arbeitshaus und in 2 Fällen die Trinkerheilanstalt. Gegen einen weiteren Probanden wurde anläßlich eines Freispruchs nach §51 Abs. 1 StGB die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt angeordnet. Bei 4 Probanden enthielten die Akten Hinweise auf eine zivilrichterlich angeordnete Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt. 3. Die Vortaten

Die 76 Täter begingen vor ihrer zur Einweisung führenden Verurteilung insgesamt 667 Taten. Auf jeden Täter entfielen somit durchRegister unvollständig, ein weiterer Täter war im Untersuchungszeitraum 2 mal mit einer Maßregel belegt worden.

106

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

schnittlieh 8,8 Taten. Wie die folgende Tabelle zeigt, hatten 14,5 Ofo aller Täter überhaupt keine früheren Taten aufzuweisen35, bei 31,6 Ofo waren es nicht mehr als 5. Nur knapp ein Drittel der Täter (28,9 Ofo) hatte vor seiner Einweisung mehr als 10 Taten begangen. Tabelle 30

Verteilung der Vortaten auf die einzelnen Täter

Deliktszahl 0 1-5 6--10 11-20 21-30 31-40 50 55

Anzahl der Täter 0/o (100 °/o abs. 11 24

19 16 3

1 1

1

76

= 76)

14,5 31,6 25,0 21,1 3,9 1,3 1,3 1,3 100,0 Ofo

Über die Art der bei den früheren Taten verwirklichten Delikte und die Häufigkeit ihrer Begehung informiert Tabelle 31. Bevorzugte Delikte bei früheren Straftaten der Probanden waren danach die Vermögensdelikte. Auf sie entfielen weit über die Hälfte aller begangenen Taten (62,4 Ofo). Häufigstes Delikt dieser Gruppe war der einfache Diebstahl (27, 3 Ofo), gefolgt vom Betrug (15,7 Ofo) und dem schweren Diebstahl (9,7 Ofo). Nur 1 Täter war wegen schweren Raubes verurteilt worden (0,2 Ofo aller Vortaten), andere gewaltsame Vermögensdelikte waren unter den Vortaten nicht zu finden. Weniger als ein Fünftel aller Taten (17,7 Ofo) entfielen auf die Gruppe der Sittlichkeitsdelikte, die meisten davon auf die schwere Unzucht (§ 176 Abs. 1 Ziff. 3). Wegen Notzucht waren lediglich 2 Probanden bei insgesamt 5 Taten vorbestraft. Nach der zahlenmäßigen Häufigkeit waren schließlich Bettelei und Landstreicherei {4,4 Ofo aller Taten) hinter den Vermögens- und den Sittlichkeitsdelikten die am nächstmeisten begangenen Taten. Schwere Delikte (§§ 113, 222, 223 a, 240) waren äußerst selten, schwerste Delikte (§§ 211 ff., 224 ff., 306 ff.) fehlten völlig.

35 Der Unterschied zwischen dieser Zahlenangabe und der bei den Vorstrafen ist darin begründet, daß ein Proband zwar Vortaten begangen hatte, dafür aber keine Strafe, sondern ein im Jugendstrafverfahren ausgesprochenes Zuchtmittel erhalten hatte.

2. Abschnitt: Die nach § 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe A. li. 107 Tabelle 31

Vortaten Art und Zahl der Taten Delikte 1. Vermögensdelikte § 242 § 243 § 246 § 248 a § 370 z. 5 § 249 § 250 §259 § 263 § 267

2. Sittlichkeitsdelikte § 175 § 175 a § 176 I 1 § 176 I 3 § 177 § 183 3. Straßenverkehr §§ 315 a I, 316 § 222 § 230 4. Sonstige Delikte § 113 § 123 § 145 d § 185 § 218 III § 223 § 223 a § 240 § 248 b § 303 § 330a § 361 z. 3 § 361 z. 4 5. Restliche Delikte Ausweismißbrauch, Nichtbesitz von Kennkarten, Münzvergehen etc., insgesamt

Anzahl der Taten abs. Ofo (100 Ofo = 667)

Anzahl der Täter 0/o abs. (100 Ofo = 76)

182 65 32 1 1

27,3 9,7 4,8 0,2 0,2

37 18 15 1 1

48,7 23,7 19,7 1,3 1,3

1 14 105 15

0,2 2,1 15,7 2,2

1 7 21 9

1,3 9,2 27,6 11,8

416

62,4

24 8 2 59 5 20

3,6 1,2 0,3 8,8 0,8 3,0

8 5 2 25 2 7

10,5 6,6 2,6 32,9 2,6 9,2

118

17,7

2 1 5

0,3 0,2 0,8

2 1 4

2,6 1,3 5,3

1 2 2 10 11 4 2 2 1 2 1 13 17

0,2 0,3 0,3 1,5 1,6 0,6 0,3 0,3 0,2 0,3 0,2 1,9 2,5

1 2 2 5 2 3 2 2 1 2 1 5 5

1,3 2,6 2,6 6,6 2,6 3,9 2,6 2,6 1,3 2,6 1,3 6,6 6,6

57

8,5

23

30,2

108

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

B. Das Persönlichkeitsbild der nach § 42 b verurteilten Probanden I. Geschlecht und Alter I. Das Gesehlecht

Unter den nach § 42 b verurteilten Probanden waren 5 weiblichen Geschlechts. Die männlichen Probanden dominierten sonach hier nicht ganz so stark wie bei der nach § 42 c verurteilten Probandengruppe (eine Frau), stellten aber auch hier den überwiegenden Anteil der Probanden (93,6 °/o). 2. Das Alter zur Zeit der Verurteilung naeh § 42 b StGB

Tabelle 32 Altersgruppe 16--17 18-20 21-25 26--30 31--40 41-50 51---60 61-70 71-80

Anzahl der Prob. 0/o (100 °/o abs. 2

4

13124

ur

17 9 9 6 7 13

78

= 78)

2,6 5,1 16,71308 141 ' 21:8 11,5 11,5 7,7 9,0 16,7

100,0 °/•

Am stärksten vertreten bei den Einweisungen in die Heil- und Pflegeanstalt war danach die Altersgruppe der 21-30jährigen; sie enthält mit 30,8 Ofo ein knappes Drittel aller Probanden. An zweiter Stelle folgen die 31-40jährigen mit einem Anteil von 21,8 Ofo. Eine gleich große Gruppe bilden die 41-50jährigen und die 51-60jährigen (je 11,5 Ofo). Mit insgesamt 7 Probanden (= 9,0 Ofo) sind auch die 71 bis 80jährigen noch relativ zahlreich vertreten. Am Ende der Tabelle stehen die Heranwachsenden (4 Probanden= 5,1 Ofo) und die Jugendlichen (2 Probanden = 2,6 Ofo). 3. Der Beginn der kriminellen Laufbahn

Tabelle 33 gibt Aufschluß über das Alter, in dem die Probanden ausweislich des Strafregisters zum ersten Mal mit dem Strafgesetz in Konflikt kamen. Die Tabelle weist einen auffallend hohen Anteil von Probanden aus, die ihre kriminelle Laufbahn bereits als Jugendliche begannen; zusammen mit den Heranwachsenden stellen sie über ein Drittel aller

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. li. 109 Probanden (35,5 °/o). Untersucht man die Persönlichkeitsstruktur dieser Jugendlichen, so zeigt sich, daß - abgesehen von 1 Fall, in dem eine anlagemäßige Psychopathie diagnostiziert wurde - alle entweder hirnorganische Schäden aufwiesen oder in unterschiedlichem Grade schwachsinnig waren. Der hohe Anteil von Frühkriminellen an dem Probandenmaterial hat in diesen biologischen Mängeln ohne Zweifel seine wesentlichste Ursache. Bei weiteren 23 Probanden (30,3 °/o) fiel die erste Verurteilung in das Alter zwischen 21 und 30 Jahren. 18,4 °/o der Probanden wurden nach Vollendung des 50. Lebensjahres zum ersten Mal verurteilt. Tabelle33

Anzahl der Prob. 0/o (100 Ofo abs.

Altersgruppe 14-17 18-20 21-30 31-40 41-50 51-60

12 15 23 7

15,8135 5 19,71 ' 30,3 9,2 6,6

5

6 8

über60

76

= 76)a)

1~:~} 18,4 100,0 Ofo

a) Vgl. oben S . 104 Anm. 34.

II. Merkmale und Besonderheiten der Persönlichkeit der Probanden36 Die Tatsache der Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt macht bereits erkenntlich, welcher Art die bei dieser Probandengruppe anzutreffenden Störungen überwiegend sind: es handelt sich fast ausschließlich um pathologische Zustände, die geistige Störungen unterschiedlicher Ausprägung zur Folge haben. Daß daneben auch nicht krankhafte körperliche und charakterliche Eigenarten gegeben sind, die auf den Werdegang und die Verhaltensbesonderheiten der Probanden Einfluß genommen haben, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Im folgenden werden ähnlich wie bei der zuvor behandelten Gruppe der nach § 42 c Verurteilten die in Gutachten, Urteilen oder Anstaltsberichten angeführten Besonderheiten in der Persönlichkeitsstruktur der nach § 42 b verurteilten Probanden wiedergegeben. Im Vordergrund steht auch hier die phänomenologische Beschreibung solcher 36 Da 1 Pb. im Untersuchungszeitraum zweimal in die Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, wird im folgenden von 77 untersuchten Pb. ausgegangen (bei 78 durchgeführten Verfahren).

110

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Merkmale, deren kriminogene Bedeutung in der kriminologischen Forschung allgemein anerkannt ist oder jedenfalls im konkreten Fall als möglicher kriminogener Faktor in Betracht zu ziehen war. Die Frage nach dem ätiologischen Stellenwert der einzelnen Faktoren läßt sich dabei freilich nur in Einzelfällen eindeutig beantworten. 1. Körperliche Auffälligkeiten und Erkrankungen

Eine auffallend hohe Zahl von Probanden, und zwar insgesamt 50 von 77 (= 64,9 °/o), zeigte bereits im körperlichen Bereich Auffälligkeiten und Erkrankungen der verschiedensten Art. Am häufigsten fanden sich hirnorganische Schäden, die teils durch äußere Verletzungen (Schädelbrüche, Kriegsverwundungen), teils als Folge encephalitischer Erkrankungen, teils im Verlaufe eines allgemeinen Altersabbaues entstanden waren. Häufig führten diese Schäden gleichzeitig zu Wesensveränderungen bei den betroffenen Probanden, die sich insbesondere auf die Fähigkeit zu sozialer Einordnung negativ auswirkten.

Im einzelnen fanden sich bei den verschiedenen Probanden folgende Auffälligkeiten: Tabelle34

Art der körperlichen Anzahl der Prob. Ofo (100 Ofo = 77) Besonderheiten abs. Hirnorganische Schäden (Kopfverletzungen, Hirnatrophie u. ä.) . . . . . . . . . . . . 22 28,6 Hirnarteriosklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 13,0 Verlust oder Verkrüppelung von Gliedmaßen 16,9 u. äußeren Organen (Auge, Ohr, Gesicht) . . . . 13 6,5 an Lues erkrankt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 5,2 sterilisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Sonstige schwere Erkrankungen (Lungen-Tbc, 5,2 Malaria) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Neben den hirnorganischen Schäden fanden sich am zahlenmäßig häufigsten Schädigungen an den äußeren Organen. Doch ist gerade deren Anzahl am Zusammenspiel der kriminogenen Kräfte am schwersten zu bestimmen. Am nächsten lag ein solcher Einfluß dort, wo angeborene oder früherworbene Fehler (Wirbelsäulenverkrümmung, Verkrüppelung einzelner Gliedmaßen, Wolfsrachen) eine ungestörte Entwicklung der Probanden von Anfang an verhinderten oder erschwerten (bei insgesamt 7 Probanden). Jedoch führte keiner dieser Mängel schon durch seine bloße Existenz zur späteren kriminellen Anfälligkeit; stets mußten andere - endogene und exogene - Faktoren hinzutreten, um in einer langen Entwicklung die kriminelle Disposition zur Ent-

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. II. 111 stehung zu bringen. 13,2 °/o der Probanden litten an beginnender oder fortgeschrittener Hirnarteriosklerose, die teilweise mit einer altersbedingten Demenz einherging und die bekannten Ausfallerscheinungen im gesamten psychischen Bereich37 zur Folge hatte. Bei den von den Probanden durchgemachten Erkrankungen spielte die Lues zahlenmäßig die größte Rolle; 5,3 Ofo der Probanden waren daran erkrankt. Zwar war die Krankheit im Zeitpunkt der Einweisung in allen Fällen ausgeheilt, doch ließen sich Folgeschäden in keinem Falle mit Sicherheit ausschließen. 2. Die geistig-seelischen Merkmale

a) Die Geisteskrankheiten38 Geisteskrankheiten waren im Untersuchungsmaterial nur in geringem Umfang vertreten. Lediglich bei einem Probanden konnte das Vorliegen einer manisch-depressiven Psychose nachgewiesen werden. 4 Probanden litten an akuter seniler Demenz39 • Bei 3 Probanden ergab die Anamnese das Auftreten epileptischer Anfälle in der Vergangenheit.

b) Die Intelligenzdefekte Weit über die Hälfte aller Probanden (59,8 Ofo) wiesen Intelligenzdefekte auf, wobei der Schwachsinn in der Form der Debilität die größte Rolle spielte. Im einzelnen waren: Vgl. Weitbrecht, a.a.O., S . 230 ff. Der Begriff der Geisteskrankheit wird im kriminologischen und im psychiatrischen Schrifttum nicht einheitlich verwendet. In der neueren psychiatrischen Literatur wird der Begriff sehr weit gefaßt: Er bezeichnet sowohl die im Zusammenhang mit Körperkrankheiten auftretenden Geistesstörungen (neben Paralyse und Paranoia u. a. auch die sog. Hirnschwundkrankheiten, posttraumatischen Störungen und die Epilepsie), als auch die sog. "endogenen" Geistesstörungen (vor allem Schizophrenie und manischdepressives Irresein). Vgl. Bleuler, E. und M., a.a.O., S. 180 ff.; 368 ff.; Weitbrecht, a.a.O., S. 181 ff.; 286 ff.; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 23 ff. Der Text legt diesen weiten Begriff zugrunde, doch werden die Fälle, in denen seelische Störungen als Folge von Hirntraumen oder im Gefolge von Hirngefäßsklerosen auftraten und die letzteren das Stadium der allgemeinen Dementia senilis noch nicht erreicht hatten, in dieser Rubrik nicht erfaßt. Soweit in den Gutachten Hirnarteriosklerose oder Hirnathrophie als Befunde angegeben waren, fehlte durchweg der ausdrückliche Hinweis auf die hier in der Regel vorliegenden psychepathologischen Folgen und die damit begrifflich gegebene Geistesstörung, diese Befunde werden deshalb nur in Tabelle 34 aufgeführt. 39 In einigen weiteren Fällen sprachen die Gutachter von "altersbedingter Depravation der Persönlichkeit", ohne daß diese jedoch ausdrücklich als dementia senilis im klinischen Sinne bezeichnet wurde. Diese Fälle wurden im obigen Text nicht mitgezählt. 37

38

112

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials Tabelle 35

Minderbegabt Debil Imbezill

9 Probanden 35 Probanden 2 Probanden

11,7 Ofo

= 45,5 °/o 2,6 Ofo

Die damit erkennbar werdende Bedeutung des Schwachsinns als kriminogener Faktor liegt dabei nicht so sehr in der generell geminderten Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Probanden, als vielmehr in dem mit den vorhandenen Intelligenzmängeln fast stets einhergehenden Persönlichkeitstiefstand. Dieser ist - wie das vorliegende Untersuchungsmaterial bestätigt - vorwiegend gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Halt- und Willensschwäche, durch Abnormitäten der Stimmungs- und Affektlage und vielfach auch durch eine starke sexuelle Triebhaftigkeit40 • Über das Persönlichkeitsbild der Probanden gibt der folgende Abschnitt Aufschluß.

c) Die PersönLichkeitsstruktur der Probanden Von den 77 Probanden des Untersuchungsmaterials, über die in den Akten fast durchweg ausführliche schriftliche Begutachtungen vorlagen, wiesen 76 (= 98,7 °/o) charakterliche Eigenarten auf, die bis auf eine dem Bereich der Psychopathien oder der erheblichen Persönlichkeitsstörungen zuzuzählen waren. Ausdrücklich als Psychopathen bezeichnet wurden 29 Probanden (= 37,7 Ofo), 46 (= 59,7 Ofo) zeigten sonstige schwere charakterliche Auffälligkeiten, bei einem Probanden (1,3 Ofo) war von "leichten psychischen Abweichungen" die Rede. Über die Art der psychopathischen Charaktereigenschaften41 und deren zahlenmäßige Verteilung auf die einzelnen Probanden gibt zunächst Tabelle 36 Aufschluß. Die zahlenmäßig größte Bedeutung hatten danach die Merkmale Willensschwäche und Haltlosigkeit (bei je 51,7 Ofo der als Psychopathen bezeichneten Probanden); nicht ganz so häufige, aber doch deutlich hervortretende Züge waren Stimmungs- oder Affektlabilität (37,9 Ofo), Triebhaftigkeit (31,0 Ofo) und Reizbarkeit (24,1 Ofo). In allen Fällen traten mehrere der genannten Wesensmerkmale nebeneinander in Erscheinung. Am häufigsten waren die Kombinationen von Haltlosigkeit und Willensschwäche mit Triebhaftigkeit, Stimmungslabilität und 40 Bleuler, a.a.O., S. 548 ff.; Weitbrecht, a.a.O., S. 173 ff.; Göppinger, a.a.O., S. 134 f.; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 44. 41 Zur Problematik des Psychopathiebegriffs vgl. die oben S. 84 Anm. 25 gegebenen Hinweise.

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. II. 113 Reizbarkeit. 13 der als Psychopathen eingestuften Probanden waren zugleich debile (16,8 °/o des Gesamtprobandenmaterials). Tabelle 36

Art und Häufigkeit der psychopathischen Störungen Anzahl der Prob. abs. 0/o (100 Ofo

Art der Psychopathien willensschwach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . haltlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . stimmungs-, affektlabil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . triebhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . reizbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gelt~_ngsbedürftig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . geroutsarm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . pseudologistisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . selbstunsicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hypomanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ohne nähere Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 11 9 7 6 5 3 1 1 2

= 29)

51,7 51,7 37,9 31,0 24,1 20,7 17,2 10,3 3,4 3,4 6,9

Über Art und Häufigkeit der nichtpsychopathischen schweren Persönlichkeitsstörungen informiert die folgende Tabelle 37. Tabelle 37

Art und Häufigkeit der schweren Persönlichkeitsstörungen Art der Persönlichkeitsstörung

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 0/o = 46)

triebhaft . ... ............. .... ............. . gemütsarm (affektiv-abgestumpft) ......... . willensschwach ........... . . . . ... ...... . ... . stimmungs-, affektlabil ..... . . ............ . . haltlos .... . . . ........ . .... .. . .. . .......... . reizbar . ...... .. ... .. . . ........ . ... .. ... ... . geltungsbedürftig .... . . .. .. . ............. . . infantil ............. . . .. ...... . ....... . .. . . . antriebsarm . ........ .. ..... ... ......... . .. . selbstunsicher .............. . ... ........... . pseudologistisch . . ............ .. ........... .

20

2

43,5 34,8 21,7 21,7 19,6 19,6 8,7 6,5 6,5 4,3 4,3

"primitive Charakterstruktur" .. ... .. ...... . "charakterliche Abartigkeit" (allg. Ausfallerscheinungen im psych. Bereich, allg. Persönlichkeitsabbau) . . . . . . . . . .. ... . .. .... . .

11

23,9

7

15,2

Allgemeine Wendungen:

16

10 10 9 9 4 3 3 2

Am häufigsten fand sich danach bei den Probanden eine abnorme Triebhaftigkeit; sie hatte ihre Wurzel vorwiegend im sexuellen Bereich. Auffällig ist auch die bei 34,8 °/o der persönlichkeitsgestörten Probanden fest gestellte affektive Abstumpfung und Gemütsarmut. Weitere he rvorstechende chara kterliche Eigenarten der Probanden w a r en Willensschwäche (21 ,7 °/o), Stimmungs- und Affektlabilität (eben8 Mar quardt

114

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

falls 21,7 °/o), Haltlosigkeit (19,6 °/o) und Reizbarkeit (19,6 °/o). Gehäuft fanden sich auch Bezeichnungen allgemeiner Art wie "primitive Charakterstruktur", "primitive Grundstruktur" u. ä. (bei 23,9 Ofo der Probanden) oder Wendungen wie "allgemeiner Persönlichkeitsabbau", "erhebliche Ausfallerscheinungen im psychischen Bereich" u. ä. (bei 15,2 Ofo). Überwiegend waren die genannten Charakterdefekte gekoppelt mit Mängeln und Störungen im geistigen Bereich oder sie waren Folge eines umfassenden altersbedingten Persönlichkeitsverfalls: 24 Probanden dieser Gruppe (= 52,2 Ofo) waren debil bzw. imbezill, 8 Probanden (= 17,4 Ofo) wiesen Hirnschädigungen auf und 7 Probanden (= 15,2 Ofo) befanden sich im Stadium eines vorgeschrittenen Altersabbaues.

111. Die Entwicklungsbedingungen der Probanden Über die Entwicklungsbedingungen der Probanden gab das Aktenmaterial nur unvollständig Auskunft. Auch die vorliegenden Gutachten begnügten sich häufig mit einer differentialdiagnostischen Begutachtung des gegenwärtigen Persönlichkeitszustandes, ohne in Längsschnittuntersuchungen den Werdegang der Probanden näher zu analysieren. Die im folgenden wiedergegebenen Daten können deshalb nur als Mindestwerte verstanden werden. 1. Herkunft der Probanden

a) Herkunft nach Ehelichkeit und Unehelichkeit

Sieben der insgesamt 77 Probanden der Untersuchungsgruppe sind unehelich geboren. Das bedeutet einen Anteil von 9,1 °/o. Geht man davon aus, daß der Anteil Unehelicher an der Gesamtbevölkerung im allgemeinen zwischen 7 und 12 Ofo42 gelegen ist, so ist der hier gefundene Anteil statistisch nicht weiter auffällig. Inwieweit das Faktum der unehelichen Geburt im Einzelfall als Faktor für die spätere Fehlentwicklung des Probanden bestimmend wurde, bleibt damit freilich unbeantwortet. b) Die soziale Herkunft

Die soziale Herkunft der Probanden soll im folgenden lediglich nach dem Beschäftigungsverhältnis der Väter bestimmt werden. Angaben über das Gesamteinkommen und die wirtschaftliche Lage der Familie fehlten in den Akten fast völlig. Einen gewissen Anhaltspunkt für die 42

s. Hetlmer, Jugendkriminalität, S. 81; Göppinger, a.a.O., S. 181.

2. Abschnitt: Die nach § 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. III. 115

Beurteilung der sozialen Verhältnisse bietet in der Regel auch die Größe der Familie. Über die dazu gefundenen Daten wird deshalb ebenfalls kurz berichtet. aa) Die Berufe der Väter der Probanden Tabelle38

Anzahl der Prob. abs.

Berufsart

-------------------------------------------------5

Beamter (sämtlich im mittleren Dienst) Berufssoldat (davon Offizier) Kleinkaufleute und Händler Handwerker Landwirt Bergmann Hilfsarbeiter Kraftfahrer Fischer Plakatmaler Hausdiener ohne Angaben

2 1 5 17 2 2 15 1 1 1 1 25

Die meisten der Probanden kamen danach aus den unteren und mittleren Einkommens- und Bevölkerungsschichten, wobei Arbeiterund Handwerkerfamilien in nahezu gleicher Häufigkeit vertreten waren. Nicht zu ermitteln war bei den Handwerkern die Zahl der selbständig Gewerbetreibenden. Angehörige freier geistiger Berufe waren im Untersuchungsmaterial ebensowenig vertreten, wie Angehörige der höheren Einkommensgruppen (Großunternehmer o. ä.). bb) Die Familiengröße Tabelle 39 gibt Aufschluß über die Kinderzahl der Probandenfamilien. Angaben darüber fanden sich bei 56 Probanden des Untersuchungsmaterials43. Nur 2 Probanden wuchsen als Einzelkinder auf; mindestens 35 (= 45,5 °/o der Gesamtprobandengruppe) sind in kinderreichen Familien (4 und mehr Kinder) groß geworden. Geht man davon aus, daß

Kinderreichtum im allgemeinen die wirtschaftliche Basis der Familie schmälert, so bedeutet dies für fast die Hälfte der Probanden ein Aufwachsen in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen.

43 6 der unehelich geborenen Probanden sind später nicht in einer Geschwisterfamilie groß geworden; sie wurden deshalb bei der Zählung nicht berücksichtigt. a•

116

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials TabeHe 39

Anzahl der Prob.-Familien

Kinderzahl

2 10 7

1 2 3 4

141

i

5

6 7 8 9 10

mehr als 10 ungenau (mehrere)

35

iJ 2

2. Die Erziehungsverhältnisse

Entscheidenden Anteil an dem Gelingen einer sozialen Einordnung hat die dem Probanden zuteil gewordene Erziehung. In den Erfahrungen und Erlebnissen seiner Erziehungswelt, durch die in ihr dominierenden Sinnwerte und Verhaltenskonstellationen erfährt der Jugendliche die wesentlichste und nachhaltigste Prägung seines sozialen Verhaltens 44 • Bestimmende Faktoren des Erziehungsfeldes sind demnach vor allem die Erziehungspersonen, die von ihnen ausgehenden Impulse, das Bestehen und die Intaktheit einer Familie und die Gesamtheit der dort vermittelten Leitbilder des Verhaltens. Soweit die Akten Angaben über die Erziehungswelt der Probanden enthielten, handelte es sich teilweise um pauschale Beurteilungen (schlecht, negativ, ungünstig). Verschiedentlich fanden sich jedoch auch Hinweise auf negative Eigenschaften der Eltern oder sonstiger Erziehungspersonen (Verwahrlosung, Trunksucht, Charakterdefekte) , auf Unvollständigkeit der Familie und auf Aufwachsen außerhalb der Familie. Kaum berichtet wurde dagegen über den Erziehungsstil und über sonstige prägende Einflüsse (Werthaltung, soziale Einstellung u. ä.) der Erziehungsumwelt. Die wichtigsten Angaben finden sich in den folgenden Zusammenstellungen.

a) Unvollständige oder fehlende Familie Der Ausfall einer intakten Familie kann unterschiedliche Gründe haben; er kann durch Tod oder Scheidung der Eltern bedingt sein 44 Claessens, a.a.O., S. 32 ff.; 62 ff.; 100 ff.; Lersch, Mensch, S. 18 ff.; 123 ff.; Remplein, Entwicklung, S. 563 f.; Wurzbacher, Sozialisation, a.a.O., S. 1 ff.; 19 ff. Zum Zusammenhang zwischen mangelnder Sozialisation und Kriminalität vgl. HeHmer, Sozialisation, a.a.O., S. 206 ff. , sowie neuerdings Göppinger, a.a.O., S. 175 ff.; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 116 ff., 218 ff.

2. Abschnitt: Die nach§ 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. III. 117 oder auf unehelicher Mutterschaft beruhen. In Tabelle 40 sind die einzelnen Formen aufgeführt. Dabei werden die Altersgruppen 1-14 (Vorschul- und Schulalter) und 15-21 (Nachschulalter) getrennt angegeben.

Tabelle 40 Anzahl der Prob. (abs.) nach Altersgruppen

Art der Unvollständigkeit Vater oder Mutter oder beide durch Tod verloren Scheidung oder Trennung der Eltern uneheliche Mutterschaft (ohne frühkindliche Adoption)

1-14J.

15-21 J.

11 11

1

5 27

7

= 35,1 °/o

8

= 10,4 °/o

Über ein Drittel aller Probanden (35,1 Ofo) sind - wie die Tabelle zeigt- zwischen dem 1. und 14. Lebensjahr mindestens vorübergehend in einer unvollständigen Familie aufgewachsen. Weitere 8 Probanden (= 10,4 °/o) verloren zwischen dem 15. und 21. Lebensjahr einen oder beide Elternteile. Soweit diese Probanden nicht bei einem der Elternteile verblieben, kamen sie teils in Heime, teils wurden sie in Pflegestellen vermittelt.

b) Belastung des Erziehungsmilieus durch negative Eigenschaften der Eltern und Erziehungspersonen Charakterdefekte, Intelligenzmängel, geistige Erkrankungen der Erziehungspersonen beeinträchtigen stets in mehr oder weniger starkem Maße die Sozialisierungsfunktion der Familie45 • Tabellen 41 und 41 a enthalten die im Untersuchungsmaterial vorgefundenen Elternauffälligkeiten.

Tabelle 41 Auffälligkeit der Eltern Vater auffällig Mutter auffällig Vater und Mutter auffällig

Anzahl der Prob. abs. 12 6 6

24

= 31,2 Ofo

45 Die Frage nach der Vererbung der genannten Eigenschaften, die in den meisten kriminologischen Untersuchungen der vorliegenden Art angesprochen

118

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

Tabelle 41 a

)Unzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo = 77)

Die Art der Auffälligkeiten Vater: Alkoholmißbrauch Intelligenzdefekte Psychopath. Charaktereigenschaften Kriminalität Geistesstörungen Mutter: Intelligenzdefekte Psychopath. Charaktereigenschaften (einschl. Verwahrlosung) Geistesstörungen

12 4 1 2 1

15,6 5,2 1,3 2,6 1,3

6

7,8

5 3

6,5 3,9

Wie die Tabellen zeigen, waren bei nahezu einem Drittel aller Probanden ein oder beide Elternteile auffällig. Bei den Vätern standen Alkoholmißbrauch und Intelligenzdefekte im Vordergrund, bei den Müttern waren es vor allem Intelligenzmängel und psychopathische Charaktereigenschaften. Neben diesen besonderen AuffäHigkeiten fanden sich bei weiteren 8 Probanden(= 10,3 °/o) mehr allgemein gehaltene Hinweise auf ein negatives Erziehungsmilieu, bedingt durch Streit zwischen den Eltern, Scheidung oder mangelnde Erziehungsgeeignetheit der Eltern. Zählt man diese 8 Probanden zu den in Tabelle 41 aufgeführten 24 Probanden hinzu, so zeigt sich, daß fast die Hälfte aller Probanden (32 = 41,5 °/o) in einem gestörten, ungünstigen Erziehungsmilieu aufgewachsen ist, die äußeren Entwicklungsbedingungen für diese Probanden also ausgesprochen negativ waren.

IV. Die eigene Entwicklung der Probanden 1. Ausbildung und Beruf

a) SchulausbiLdung

Bei 75 der 77 Probanden fanden sich Angaben über die Art der besuchten Schule und den Schulerfolg. Tabellen 42 und 42 a geben darüber Aufschluß. Aus den Tabellen ist ersichtlich, daß nur etwa ein Drittel aller Probanden eine normale Schulbildung aufzuweisen hatte. Zwar besuchte etwa die Hälfte der Probanden die Volksschule und 4 Probanden gingen in weiterführende Schulen. Doch wurde die Volksschule nur von 22 Probanden (das ist weniger als die Hälfte der Volksschüler) glatt wird, soll hier nicht gestellt werden. Das Material läßt mehr als Vermutungen in dieser Richtung nicht zu.

2. Abschnitt: Die nach § 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. IV. 119

durchlaufen. Von den Probanden mit Mittel- und Oberschulbildung hat je einer die Schule vor Abschluß verlassen. Bei den Hilfsschülern war der Anteil der Schulversager nicht zu ermitteln. Tabelle42

Anzahl der Prob. abs. O/o (100 Ofo

Schulart Oberschule (bzw. Oberrealschule) Mittelschule (bzw. Realschule) Volksschule Hilfsschule keine Schule

2 2

51

18 2

= 77)

2,6 2,6 66,2

23,4 2,6

Tabelle 42a

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo = 77)

Schulerfolg in der Volksschule glatt durchlaufen 1mal sitzengebliebena> 2mal sitzengeblieben mehr als 2mal (bis 4mal) vorzeitig abgebrochen

22 7 9 7

6

28,6 9,1 11,7 9,1 7,8

a) Aus den Akten ergab sich nicht, ob die einzelnen Sltzenblelber vorzeitig von der Schule abgingen oder ob die Schulzelt bis zum normalen Abschluß (8. oder 9. Klasse) verlängert wurde. Zumindest bei den Mehrfach-Sitzenblelbern kann auch von einem vorzeitigen Schulabgang (ohne Erreichung des Schulzlels) ausgegangen werden.

b) Berufsausbildung

Nahezu drei Viertel der Probanden (= 71,4 °/o) haben eine Berufsausbildung entweder nicht begonnen oder später wieder abgebrochen. Nur 20 Probanden (26 Ofo) konnten einen Berufsabschluß aufweisen. Die genauen Zahlenangaben enthält Tabelle 43. Tabelle 43

Ausbildung keine abgebrochen abgeschlossen noch in Ausbildung keine Angaben

Anzahl der Prob. Ofo (100 Ofo = 77)

abs.

43\ss 121 20 1 1

55,81714 15,6 ' 26,0 1,3 1,3

Von den Probanden mit abgeschlossener Berufsausbildung waren in der Zeit vor der Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt noch 5 Probanden (25 Ofo) in dem ursprünglich erlernten Beruf beschäftigt. 5 Pro-

120

2. Teil: Die Darstellung des Untersuchungsmaterials

banden waren bereits Rentner, die übrigen (50 °/o) waren in andere, bis auf eine Ausnahme niedriger qualifizierte, Tätigkeiten übergewechselt oder arbeitslos. Die unter a) und b) angeführten Zahlenwerte machen deutlich, daß ein hoher Prozentsatz von Probanden des Untersuchungsmaterials durch ungenügende Schul- und Berufsausbildung nur unzulänglich auf das spätere Leben in der Gesellschaft vorbereitet war und daß nur wenige die für ihre Existenzbewältigung notwendige soziale Tüchtigkeit aufbringen und sich in ihrem erlernten Beruf bewähren konnten. 2. Die unmittelbar vor der Einweisung ausgeübte Tätigkeit

Die zuvor getroffenen Feststellungen der Berufsausbildung der Probanden lassen bereits darauf schließen, daß deren zuletzt ausgeübte Tätigkeit vorwiegend nur in einfachen Arbeiten bestand. Die in den Akten enthaltenen Angaben bestätigen dies, wie Tabelle 44 im einzelnen aufweist. Tabelle 44

Art der Tätigkeit Vertreter Kaufmann handwerklich tätig Arbeiter Sonstige: Altmetallhändler Hausierer Soldat Portier Kraftfahrer Büffetier Hausgehilfin erwerbslos Rentner

Anzahl der Prob. abs. Ofo (100 Ofo = 77) 1 2 4 36

n q7

~J

16 11

1,3 2,6 5,2 46,8

9,1

20,8 14,3

Mit 46,8 °/o ist danach der Anteil der Arbeiter am Probandengut am höchsten; überwiegend waren es Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten in der Industrie und in der Landwirtschaft, die die Probanden verrichteten. Relativ hoch ist der Anteil der Erwerbslosen (20,8 °/o); sie lebten soweit sie nicht Arbeitslosen- oder Fürsorgeunterstützung bezogen von Bettelei oder aus den Einkünften ihrer Straftaten. Zahlenmäßig stärker vertreten waren auch die Rentner; sie stellten 14,3 Ofo der Probanden. Über AuffäHigkeiten im Arbeitsverhalten der Probanden war dem Aktenmaterial wenig zu entnehmen. Von Arbeitsscheu war bei keinem

2. Abschnitt: Die nach § 42 b StGB (a. F.) verurteilte Tätergruppe B. IV. 121

Probanden die Rede. Aus der (meist von den Probanden selbst stammenden) Schilderung der früher ausgeübten Tätigkeiten ergab sich, daß mindestens 25 von ihnen (32,5 °/o) häufiger ihren Arbeitsplatz wechselten. 3. Der Familienstand und die Familienverhältnisse der Probanden

Tabelle 45 gibt zunächst Aufschluß über den Familienstand der Probanden. Danach waren: TabeUe 45

Familienstand ledig geschieden verwitwet verheiratet (davon getrennt lebend)

Anzahl der Prob. 0/o (100 Ofo abs. 44 15 4 14

(4)

= 77)

57,1 19,5 5,2 18,2 (5,2)

Auffällig ist zunächst der hohe Anteil an Ledigen unter den Probanden. Er bleibt es auch dann, wenn man berücksichtigt, daß 7,7 °/o von ihnen zur Zeit der Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt noch minderjährig waren. Sieht man von diesen ab, so bleibt immer noch die Feststellung, daß etwa die Hälfte aller erwachsenen Probanden niemals verheiratet war. Die früher festgestellten geistigen Mängel und Charakteranomalien mögen dafür die Hauptursache gewesen sein; sie dokumentieren zugleich die mangelnde Bindungsfähigkeit dieser Probanden. Letztere kommt auch in der zahlenmäßigen Häufigkeit der Ehescheidung zwn Ausdruck (19,5 °/o der Probanden waren geschieden). Verheiratet waren 18,2 °/o der Probanden, doch lebten nur 13 °/o innerhalb einer bestehenden ehelichen Gemeinschaft. Über die sonstigen Familienverhältnisse der Probanden fanden sich in dem Aktenmaterial im wesentlichen nur noch Angaben über die Kinderzahl der Probanden. Danach hatten 27 der verheirateten, geschiedenen oder verwitweten Probanden zwischen 1 und 11 Kindern, 3 Probanden hatten je 1 uneheliches, 1 Proband hatte 2 uneheliche Kinder. Sonstige Umstände, wie die Intensität bestehender Bindungen an die Angehörigen, die Einstellung der Probanden zu ihrer Familie, die Verantwortungsbereitschaft in der Erfüllung der familiären Verpflichtungen, waren in den Akten fast überhaupt nicht erwähnt. Damit war ein auch nur umrißhaftes Bild der individuellen Familiensituation der Probanden nicht zu gewinnen.

Dritter Teil

Das Untersuchungsergebnis und seine Folgerungen In diesem dritten Teil der Arbeit sollen abschließend in gedrängter Form die Ergebnisse der Untersuchung dargestellt und mögliche Folgerungen für den Vikariierungsgedanken und die Praktikabilität der mit dem § 67 StGB n. F. geschaffenen Regelung gezogen werden.

Erster Abschnitt

Die Ergehnisse der empirischen Untersuchung und die Folgerungen für das vikariierende System A. Die gegen die Einführung des Vikariierungsprinzips erhobenen Bedenken Als erstes sei danach gefragt, inwieweit sich die in der Diskussion um die Einführung des vikariierenden Prinzips in das StGB vorgebrachten Bedenken bestätigt oder zerstreut haben. I. Die angebliche Begünstigung gefährlicher Tätergruppen

Die Annahme, gerade die Gruppen der gefährlichen Täter würden durch das Vikariieren begünstigt, hat in der Untersuchung keine Stütze gefunden. Nur ein geringer Prozentsatz der Täter der Untersuchungsgruppe kann als gefährlich bezeichnet werden und wiederum nur ein kleiner Teil von diesen wäre bei einem Vorwegvollzug der Maßregel mit anschließender bedingter Entlassung günstiger gestellt gewesen. 1. Die Gruppe der nadl § 42 c StGB a. F. verurteilten Probanden

Diese Feststellung gilt zunächst für die Gruppe der nach § 42 c abgeurteilten Täter.

124

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

a) Das Ausmaß der Gefährlichkeit Hier zeigte die Untersuchung, daß weit über die Hälfte aller Taten, die Anlaß zu einer Einweisung in die Trinkerheilanstalt gaben, auf die Gruppe der gewaltlosen Vermögensdelikte entfiel und daß von den im Vollrausch begangenen Delikten etwa 15 °/o ebenfalls dieser Gruppe zuzurechnen waren. Fragt man nach dem Anteil schwerer Kriminalität und faßt man unter diesem Begriff die Deliktsgruppen Notzucht, Gewaltunzucht, Totschlag, schwere Körperverletzung {§§ 223 a - 226), schweren Diebstahl, Raub und Brandstiftung zusammen, so ergibt sich, daß auf diese Gruppe lediglich ein Anteil von 3,1 Ofo aller Anlaßtaten entfiel, wobei der schwere Diebstahl mit 2,1 Ofo, die gefährliche Körperverletzung mit 0,7 Ofo und die Körperverletzung mit Todesfolge mit 0,3 Ofo die einzigen Formen dieser schweren Kriminalität darstellten. Unter den 129 im Vollrausch begangenen Taten waren 3 schwere Diebstähle (= 2,3 Ofo), 1 Gewaltunzucht nach § 176 Abs. 1 Satz 1 (0,7 Ofo), 2 gefährliche Körperverletzungen (1,6 Ofo) und 1 einfache Brandstiftung. Zählt man diese zuletzt genannten Rauschtaten den übrigen Delikten hinzu, so ergibt sich ein Anteil von 5,6 Ofo schwerer Kriminalität an den Gesamtanlaßtaten der Probandengruppe. Sieht man statt auf die Taten auf die Täter, um zu erfahren, wieviele von ihnen anläßlich der Begehung einer Tat der schweren Deliktsgruppe in die Trinkerheilanstalt eingewiesen wurden, so ergibt sich ein etwas ungünstigeres Bild: 13 der 78 Probanden(= 16,7 Ofo) hatten eine solche Tat begangen, 6 davon im Zustand der Volltrunkenheit, bei 7 Tätern war die Tat ein schwerer Diebstahl mit unbedeutendem Sachschaden und mäßiger Beute. Auch diese noch immer geringe Zahl rechtfertigt nicht das über die gesamte Tätergruppe gesprochene Urteil der Gefährlichkeit. Plumpe Tatausführung, schnelle Entdeckung und eine fast durchweg geringe, meist rasch zusammenbrechende kriminelle Energie waren weitere Kennzeichen dieser Probandengruppe, die zur Zurückhaltung bei der Beurteilung ihrer Gefährlichkeit Anlaß geben. Auch die neben der Einweisung ausgesprochenen Strafen waren in ihrer größten Zahl von leichterer Art: nur in 3 der 78 Verfahren wurde eine Zuchthausstrafe ausgesprochen, die am häufigsten verhängte Strafe war Gefängnisstrafe (in 88,4 Ofo aller Verfahren), die jedoch wiederum in 68,1 Ofo nicht über 6 Monate, in 91,2 Ofo der Verfahren nicht über 1 Jahr hinausging. Kein wesentlich negativeres Bild ergab schließlich auch das kriminelle Vorleben der Probanden. Zwar waren bis auf 1 alle Probanden vorbestraft; knapp die Hälfte davon jedoch nicht öfter als fünfmal und nur 7 Probanden hatten mehr als 10 Vorstrafen aufzuweisen. Die Zuchthausstrafe als die schwerste Strafe d es StGB war in den insgesamt 412

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

125

vorangegangenen Verfahren nur 5mal ausgesprochen worden. 40 °/o dieser Verfahren endeten mit Geld- oder Haftstrafen, 59,8 Ofo mit Gefängnisstrafen. Über die Hälfte der Probanden war in sämtlichen Verurteilungen vor der Einweisung in die Trinkerheilanstalt insgesamt mit weniger als 1 Jahr Gefängnis belegt worden. Auch in der Art der von den Probanden bevorzugt begangenen früheren Delikte zeigten sich keine Auffälligkeiten, die auf eine Neigung der Täter zu Schwerkriminalität oder erheblicher Gewaltkriminalität hindeuteten. Bei einer aufs Ganze gesehen polytropen Kriminalität waren auch hier über die Hälfte der begangenen Taten Vermögensdelikte. Weniger als ein Zehntel aller Delikte (9,5 Ofo) fielen in die Gruppe der schweren Kriminalität, die sich auf den schweren Diebstahl (7,8 Ofo), schweren Raub (0,6 Ofo), gefährliche Körperverletzung (0,9 Ofo) und Notzucht (0,2 Ofo) verteilte 1• Nur etwa jeder dritte Proband der Untersuchungsgruppe hatte zuvor ein solches Delikt begangen. Tötungsdelikte, Brandstiftungsdelikte oder sonstige gemeingefährliche Straftaten fanden sich bei keinem der Probanden, dagegen waren kleinere Delikte wie Verkehrsübertretungen, ruhestörender Lärm, Hausfriedensbruch, leichte Körperverletzungen, Beleidigungen und Sachbeschädigungen neben den gewaltlosen Vermögensdelikten am häufigsten anzutreffen. Nur ein knappes Drittel der Probanden zeigte in seinem kriminellen Vorleben eine gewisse Konstanz in der Deliktsbegehung: bei 12 Probanden fand sich als Hauptdeliktsrichtung Diebstahl, bei 8 Probanden Betrug und bei 3 Probanden waren es Sittlichkeitsdelikte (§§ 176 Abs. 1 Satz 3, 175). Alle übrigen Probanden ließen eine breit gestreute, auf keine bestimmte Deliktsgruppe fixierte Kriminalität erkennen. Dieses Ergebnis deckt sich in wesentlichen Punkten mit Festsstellungen anderer, vor allem jüngerer Untersuchungen über das kriminelle Verhalten Trunksüchtiger2 • Wenn auch eine Vergleichbarkeit dieser Untersuchungen sowohl untereinander als auch mit der hier vorliegenden Arbeit wegen der fast durchweg unterschiedlichen Zusammensetzung des Untersuchungsmaterials, des meist andersartigen Ansatzes der einzelnen Untersuchungen und der Uneinheitlichkeit ihrer Zielsetzungen, nur in engen Grenzen möglich ist, so zeigen sich doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die eine gewisse Generalisierung der I Wobei hier allerdings die im Vollrausch begangenen Taten nicht berücksichtigt werden konnten, da die Angaben im Strafregister häufig nur den § 330 a nannten, die Rauschtat selbst jedoch nicht enthielten. Da der Anteil der Rauschtaten an der Gesamtkriminalität hier nur 9,6 Ofo betrug, dürfte sich eine wesentliche Verschiebung nicht ergeben. Wie die Feststellung zu § 330 a bei den Anlaßtaten zeigte, enthielten auch die Rauschtaten nur einen geringen Anteil schwerer Kriminalität. 2 Da das Untersuchungsmaterial zum ganz überwiegenden Teil aus Alkoholtätern besteht, ist diese Beschränkung auf Untersuchungen zur Trunksucht angebracht.

126

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

Ergebnisse ermöglichen. Während vor allem ältere Untersuchungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis etwa in die dreißiger Jahre die Anhäufung von Gewalt- und Hoheitsdelikten als typisch für die Alkoholkriminalität ansahen, den Vermögensdelikten hingegen den untersten Platz in der Rangfolge der unter Alkoholeinwirkung begangenen Delikte einräumten\ setzte sich in den neueren Untersuchungen eine wesentlich differenziertere Betrachtungsweise durch. Sie führte vor allem weg von der pauschalen Zuordnung von gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, Widerstand, Bedrohung und ähnlicher Delikte als charakteristisch für die Alkoholkriminalität; sie machte deutlich, daß "nicht der Gewaltverbrecher, sondern der kleine Dieb, der haltlose Bettler und der gehemmte Sexualneurotiker" das typische Erscheinungsbild des Alkoholtäters darstellen4 • In den meisten neueren Untersuchungen über Alkoholkriminalität treten demgemäß die Vermögensdelikte als die am häufigsten begangenen Delikte neben einer breiten Skala anderer Delikte aller Art in den Vordergrund - eine Feststellung, die mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung voll übereinstimmt. Eine weitere Erkenntnis der neueren Untersuchungen besteht in der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen dem unter akutem Alkoholeinfluß stehenden Täter und dem chronisch Trunksüchtigen im Hinblick auf die Art der Kriminalität. Bei den akuten Alkoholfolgen steht die enthemmende Wirkung des Alkohols im Vordergrund: hier finden sich Affekt- und Erregungshandlungen, die in stärkerer Häufung als beim Normaltäter zur Begehung aller Varianten einfacher bis erheblicher Gewaltdelikte führen (von leichter Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Bedrohung und Sachbeschädigung bis zur schweren Körperverletzung und gewaltsam begangenen Eigentumsund Sittlichkeitsdelikten) 5 • Beim chronisch Trunksüchtigen hingegen lassen sich vermehrt allgemeine Verwahrlosungserscheinungen, kleinere Diebstähle und Betrügereien (die fast stets zur Beschaffung der Mittel für den Erwerb von Alkohol dienen) sowie bestimmte Formen des Exhibitionismus und der Unzucht an Kindern nachweisen, während s Vgl. die Nachweise bei JahTTeiss I, a.a.O., S. 18 f. So BleuteT, a.a.O., S. 600; GeTchow, a.a.O., S. 154; JahTTeiss II, a.a.O., S. 40; Waaben, a.a.O., S.ll; WieseT, Persönlichkeit, a.a.O., S. 42. Zutreffend zieht Quensel aus den jüngsten Untersuchungen das Fazit, daß in ihnen "die Brüchigkeit der Formel, ,Alkohol sei die wesentliche Verbrechensursache', vollends offenbar wird", Alkoholmißbrauch, S. 181. Freilich ist das neuere Schrifttum nicht völlig einheitlich, worauf WieseT, Persönlichkeit, a.a.O., S. 42 m. w. N. hinweist. Vgl. ferner W. EThaTdt, a.a.O., S. 9 ff.; GöppingeT, a.a.O., S. 151 ff.; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 169; L. Schmitt, a.a.O., s. 39 ff. 5 WieseT, Persönlichkeit, S. 45 f.; KeyseTtingk, a.a.O., S. 59 ff.; JahTTeiss II, a.a.O., S. 39 f . 4

1. Abschnitt:

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

127

Gewaltdelikte nur vereinzelt vorkommen6 • In der vorliegenden Untersuchung ließ sich zwar eine genaue zahlenmäßige Verteilung der chronischen Alkoholiker, der Trinker im präalkoholischen Stadium7 und der bloßen Gelegenheitstrinker wegen der unvollständigen Angabe der entsprechenden Daten nicht ermitteln. Bei rund einem Drittel der Probanden fand sich ein ausdrücklicher Hinweis auf das Vorliegen von Trunksucht oder chronischem Alkoholismus, während als Gelegenheitstrinker lediglich 3 Probanden bezeichnet wurden. Bei den übrigen Probanden war eine eindeutige Klassifizierung nicht möglich, doch deuteten die vorliegenden Angaben darauf hin, daß der weitaus größte Teil der Probanden der präalkoholischen oder chronischen Phase des Alkoholismus zuzuordnen war und daß Gelegenheitstrinker die Ausnahme darstellten. Eindeutig bestätigt hat sich dagegen in der vorliegenden Untersuchung die Feststellung, daß die wenigen schweren Delikte des Untersuchungsmaterials und alle Arten von Gewaltdelikten von Probanden begangen wurden, die sich in einem akuten Rauschzustand befanden, wobei allerdings auch der chronische Alkoholiker in einem gewissen Gegensatz zu den Ergebnissen anderer Untersuchungen8 insoweit keine Ausnahme bildet9 • Als wichtigstes gemeinsames Ergebnis dieser und anderer Untersuchungen bleibt jedenfalls die Feststellung, daß es keine alkoholspezifische Kriminalität gibt und daß die vor allem im juristischen Schrifttum auch heute noch vielfach anzutreffende, verallgemeinernde Zuordnung von Alkoholismus und Schwerkriminalität ein Vorurteil ist, das in den meisten empirischen Erhebungen der jüngsten Zeit widerlegt wurde. Für die hier untersuchte Gruppe der gemäß § 42 c StGB a. F. in eine Trinkerheilanstalt eingewiesenen Straftäter mündet diese Erkenntnis in die bereits eingangs getroffene Feststellung, daß nur ein kleiner Teil dieser Täter nach der Art und dem Ausmaß seiner Straftaten als gefährlich angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Persönlichkeit der Alkoholtäter Bedeutung. Sie ist ein wesentlicher Faktor in der prognostischen Beurteilung des künftigen Verhaltens. Auch hier zeigt die & Wieser, Persönlichkeit, S. 48 f. m. w. N.; Händel, a.a.O., S. 156; Jahrreiss II, a.a.O., S. 40; Waaben, a.a.O., S. 10 f.

1 Dieses Stadium ist dadurch gekennzeichnet, daß eine Person nicht mehr zu den bloßen Alkoholkonsumenten aus gesellschaftlicher Konvention gehört, sondern "den ersten Schritt ins Vorfeld des chronischen Alkoholismus ..." vollzogen hat (Wieser, Persönlichkeit, S. 49 f.). s Vgl. die Angaben in Anm. 6. 9 Dieser Widerspruch mag seine wesentliche Ursache in der uneinheitlichen Terminologie der verschiedenen Untersucher haben, die vor allem beim Begriff des chronischen Alkoholismus auseinanderfällt Andererseits läßt - worauf bereits im Text hingewiesen wurde - die zahlenmäßig kleine Gruppe der hier untersuchten Probanden eine Verallgemeinerung der Ergebnisse nur in engen Grenzen zu.

128

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

vorliegende Arbeit in Übereinstimmung mit anderen Untersuchungen ein sehr differenziertes Bild, das eine Vielfalt von Persönlichkeitsstrukturen aufweist und keine Fixierung auf einen speziellen Alkoholtätertyp erkennen läßt. So fanden sich bei den Probanden nahezu alle Formen charakterlicher, geistiger oder sozialer Anomalien: der neurotisch-gehemmte Täter war ebenso vertreten wie der haltlose, gemütsarme oder geltungssüchtige Psychopath und der schwachsinnige, hirnorganisch geschädigte Alkoholiker. Eine gewisse Gleichförmigkeit der Persönlichkeitsbilder ergab sich bei den Probanden, die weiter vorgeschrittene Stadien des chronischen Alkoholismus erreicht hatten. Hier trat die flache, abgestumpfte Persönlichkeit zunehmend in den Vordergrund10 • Auffällig war ferner ein häufigeres Auftreten von Haltlosigkeit und Willensschwäche als dominante Form abnormer Charakterartung. Aus dieser Mannigfaltigkeit der Persönlichkeitsbilder generalisierende Aussagen über die kriminogene Bedeutung des Alkohols- bzw. Medikamentenabusus oder über die kriminelle Anfälligkeit der Süchtigen abzuleiten, ist kaum m öglich. Der prognostische Wert der einzelnen Faktoren ist bei dieser Tätergruppe nicht weniger fragwürdig als in anderen Fällen, in denen das Strafrecht Voraussagen über das künftige Verhalten von Rechtsbrechern zur Pflicht macht11 • Das vorliegende Material ist für eigene Aussagen über die Wechselbeziehung zwischen Alkohol, Persönlichkeit und kriminellem Verhalten schon wegen der weithin unvollständigen diagnostischen Erhebung der relevanten Fakten nicht geeignet. Andere Untersuchungen über Alkoholtäter12 zeigen jedoch - und die vorliegende Untersuchung spricht jedenfalls nicht gegen die dort gewonnenen Erkenntnisse - , daß vor allem bei den im Vorstadium des Alkoholismus befindlichen Probanden das kausale Schwergewicht für die Begehung von Straftaten in den persönlichkeitsspezifischen und individuellen Gegebenheiten dieser Täter zu suchen ist und dem Alkohol dabei - wenn überhaupt - eine Auslöser funktion zukommt. So hat sich gezeigt, daß gewisse abnorme Persönlichkeiten (leicht Erregbare, Haltlose, Willensschwache) dann in erhöhtem Maße zu Straftaten neigen, wenn sie unter dem Einfluß von Alkohol stehen. Entsprechend der Vielfalt der Primärpersönlichkeiten kommt es hier zu 10 Nach den freilich nicht als vollständig anzusehenden - Aktenangaben gehörten 7 Probanden dieser Gruppe a n. u Vgl. zum Stand der Prognoseforschung in Deutschland: Mey, Prognostische Beurteilung des Rechtsbrechers, a.a.O., S. 511 ff.; F. Meyer, MoKrim 1965, S. 225. Auf die Problematik kann hier nicht näher eingegangen werden. 12 Hier ist insbesondere Wieser, Persönlichkeit, S. 50 ff. zu nennen, der die in eigenen Untersuchungen gewonnenen Ergebnisse in einer Reihe ausländischer Arbeiten bestätigt fand. Vgl. ferner Bleuler, a.a.O., S. 600 und Jahrreiss II, a.a.O., S. 39; Weitbrecht, a .a.O., S. 154; Waaben, a.a.O., S. 8 ff.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A.l.

129

den unterschiedlichsten Straftaten, die von den Tätern auf Grund ihrer Persönlichkeitsartung möglicherweise über kurz oder lang auch in nicht alkoholisiertem Zustand begangen worden wären. Zugleich ergab sich jedoch auch, daß weder die genannten noch andere spezifische Persönlichkeitsanomalien für sich allein zum Alkoholismus disponieren oder im Zusammenwirken mit diesem zu kriminellem Verhalten führen. Alle Untersuchungen über Alkoholismus und Süchtigkeit sind sich über die Komplexität der Suchtentstehung einig und erkennen die herkömmliche Zuordnung von Trunksucht zu abnormen Persönlichkeitsstrukturen als eine im Grunde nichtssagende Simplifizierung13• Beim chronischen Alkoholtäter haben sich die ursprünglichen Persönlichkeitsmerkmale bereits stark nivelliert. Die Verödung der Affektivität, eine zunehmende Kritiklosigkeit gegenüber der eigenen Person und ein verstärkter Intelligenzabbau bilden den gleichförmigen Untergrund für die Entstehung defekthafter Verhaltensmuster. Bei dieser Gruppe scheint es noch am leichtesten, die Gefahr künftiger Straffälligkeit vorauszusagen. Die Abstumpfung gegenüber den Verhaltensnormen der Gemeinschaft auf nahezu allen Lebensbereichen (Familie, Arbeitsstelle, Bekanntenkreis) führt leicht zum Abgleiten in kriminelle Verhaltensweisen, die freilich - wie die angeführten Untersuchungen zeigten - überwiegend aus kleineren Bagatelldelikten oder nicht schwerwiegenden Vergehen bestehen. Insgesamt aber läßt sich aus fast allen Untersuchungen das für die vorliegende Arbeit entscheidende Fazit ziehen, daß die Persönlichkeitsstrukturen der Alkoholtäter zu verschiedenartig sind, als daß man etwa von einem einheitlichen Persönlichkeitstyp des Alkoholtäters sprechen oder eine generelle Disponiertheit des Alkoholikers zur Begehung strafbarer Handlungen annehmen könnte14• Um so weniger aber besteht Grund zu der Annahme, der Alkoholtäter sei - wie dies teilweise behauptet wird - aufgrund seiner Charakterartung oder sonstiger körperlich-psychisch-sozialer Gegebenheiten als ein generell "gefährlicher" Täter anzusprechen.

b) Das Ausmaß der Begünstigung Um genauer zu ermitteln, wie hoch der Anteil der durch das Vikariieren begünstigten gefährlichen Probanden der Untersuchungsgruppe 13 Vgl. etwa Bteuter, a.a.O., S. 274 ff.; Laubenthat, a.a.O., S. 13 ff., 19 ff.; Sattes, a.a.O., S. 53 f.; Weitbrecht, a.a.O., 8.152 ff.; Wieser, Alkoholismus, a.a.O., S. 199 ff. (205 f.); ders., Persönlichkeit, a.a.O., S. 50 f.; Wyss, Alkoholismus, a.a.O., S. 277 f. 14 Jahrreiss II, a.a.O., S. 39; von Keyserlingk, S. 22, 61; Quensel, Alkoholmißbrauch, S. 181; Wieser, Persönlichkeit, S. 47.

9 Marquardt

130

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

ist, wurde zunächst für alle Probanden die zeitliche Dauer des Maßregelvollzugs in der Trinkerheilanstalt ermittelt und mit der Höhe der jeweils ausgesprochenen Freiheitsstrafe verglichen. Wo die Vollzugsdauer kürzer war als die ausgesprochene Strafe, wurde sodann erneut die Frage nach der Gefährlichkeit dieser Probanden und dem Ausmaß ihrer Begünstigung gestellt. Dabei ergab sich folgendes: Bei der ganz überwiegenden Zahl der Probanden (55 von 78 = 70,5 °/o) dauerte der Vollzug der Maßregel länger als die volle VerbüBung der Strafe, bei 2 Probanden waren beide Zeiten gleich und nur bei 15 Probanden(= 19,2 °/o) ging die Strafe zeitlich über die Dauer des Maßregelvollzugs hinaus. Schon dieser zahlenmäßige Überblick zeigt, daß es bei der Frage der Begünstigung des gefährlichen Alkoholtäters unter der Geltung des Vikariierungsprinzips um ein nicht gerade bedrängendes Problem gehen kann. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, daß die zeitliche Dimension der beiden Vollzugsarten als ausschließliches oder jedenfalls entscheidendes Beurteilungskriterium geeignet, daß die Praxis des Vollzugs im übrigen in ihren wesentlichen Äußerungen gleichartig ist. Würde der Aufenthalt in einer Trinkerheilanstalt für den Betroffenen erheblich weniger einschneidende Einbußen und Beschränkungen mit sich bringen, als der Vollzug einer Strafe, so wäre eine Vergleichbarkeit beider Vollzugsformen zwar nicht unmöglich, aber noch erheblich erschwert; die zeitliche Dimension allein könnte jedenfalls als Vergleichsmaßstab nicht mehr genügen. Die vorliegende Darstellung sieht diese Gleichartigkeit in den wesentlichen Bezügen als gegeben an. Ohne den beiderseitigen Vollzugsablauf hier im einzelnen darzustellen und auf Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zu analysieren, lassen sich folgende Gründe anführen, auf die diese Beurteilung sich stützt: Alle Probanden der Untersuchungsgruppe waren in sogenannten "geschlossenen" Anstalten stationär untergebracht. Dieses Verfahren ist bei strafrichterlich angeordneten Unterbringungen die Regel. Obschon die Anstalten in der Regel nicht der Justiz-, sondern der Sozialverwaltung unterstehen und unter ärztlich-psychiatrischer Leitung geführt werden, erfordert die Behandlung Maßnahmen und Vorkehrungen, die in ihrer Wirkung auf den Betroffenen den im Vollzug einer Freiheitsstrafe auftretenden Belastungen im wesentlichen gleichzuachten sind15• Das gilt einmal für den Freiheitsentzug, der die völlige Isolierung des Untergebrachten von seiner bisherigen Umgebung bezweckt und zur Folge hat. Diese Isolierungwird erst in fortgeschrittenem 15 Vgl. zur Praxis der Behandlung Süchtiger statt vieler die Abhandlung von Panse, a.a.O., S. 332 ff., der die vorliegende Darstellung im wesentlichen folgt.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

131

Behandlungsstadium gelockert und nimmt schließlich eine in etwa dem offenen Strafvollzug vergleichbare Form der Unterbringung an. Es gilt weiter für die bestehende Arbeitspfl.icht, die zwar als therapeutische Maßnahme angesetzt ist, die dem Probanden jedoch gleichwohl als Zwang entgegentritt. Und es gilt schließlich für das spezielle Instrumentarium der Suchtbehandlung, auf die der gesamte Tagesablauf des Untergebrachten abgestimmt ist und dem er sich unterwerfen muß: es beinhaltet neben Unterricht, Gymnastik und Sport vor allem einzelund gruppentherapeutische Behandlung, die - soweit erforderlich durch heilpädagogische Maßnahmen oder durch medikamentöse Behandlung unterstützt wird. Eine streng disziplinierte Führung der Probanden während der Dauer der Unterbringung entspricht dabei der Regel. In der äußeren Form der Unterbringung allerdings unterscheidet sich die Entziehungsanstalt nicht unerheblich von einer Gefängnisanstalt bisherigen Stils; sie steht eher in der Mitte zwischen Gefängnis und Krankenanstalt. Dies zeigt sich etwa in der Art der Unterbringung, in Kleidung und Verpflegung der Untergebrachten und gilt auch für das Behandlungs- und Aufsichtspersonal. Ob sich diese Besonderheiten jedoch angesichts des umfassenden Zwangscharakters von Unterbringung und Behandlung als ins Gewicht fallende Begünstigungen in Rechnung stellen lassen, erscheint zumindest fraglich; es läßt sich demgegenüber ebensowenig von der Hand weisen, daß die Art und Intensität der Behandlung in der Entziehungsanstalt von den Probanden möglicherweise als drückender und belastender empfunden wird, als ein Strafvollzug, der sich mit einer bloßen Anpassungsleistung des Gefangenen zufriedengibt.

Für die Beantwortung der Frage einer etwaigen Begünstigung des vom Vikariieren erfaßten Täterkreises erweist sich somit die zeitliche Dimension als der von der Realität her am stärksten ins Gewicht fallende, zugleich aber auch berechenbare und dadurch einem Vergleich zugängliche Bezugspunkt. Eine Unsicherheit bleibt freilich auch bei dieser Betrachtungsweise bestehen: Die Frage, inwieweit die Tatsache der gleichzeitigen Anordnung einer Maßregel den einzelnen Richter in der Festlegung des Strafmaßes beeinfiußt hatl 6• Obschon die Urteilsgründe in keinem einzigen Falle ausdrückliche Hinweise in dieser Richtung enthalten, läßt sich doch nicht mit Sicherheit ausschließen, daß die Kumulation von Strafe und Maßregel zumindest in einzelnen Fällen strafmildernd zu Buche schlug. Andererseits aber war in einer Reihe von Beschlüssen, mit denen die Entlassung aus dem Maßregelvollzug angeordnet wurde, 16

9*

Vgl. o. S. 75 f.

132

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

die Feststellung getroffen, daß angesichts der im Strafvollzug verbrachten ,.Entwöhnungszeit" der Zweck der Unterbringung bereits nach wenigen Monaten des Maßregelvollzugs als erreicht angesehen werden könne. Wenn so die wechselseitige Durchdringung von Strafe und Maßregel bei der Sanktionsbemessung anhand der Aktenunterlagen auch nicht im einzelnen entschlüsselt werden kann, so spricht doch auch nichts dafür, daß die Praxis der Vollzugskumulation die richterliche Strafzumessung in einem Maße beeinflußt hätte, daß durch den Wegfall des kumulierenden Prinzips eine wesentliche Verschiebung in dem Verhältnis von Strafhöhe und Maßregeldauer eintreten müßte. Wenn überhaupt, so kann der von der Geltung des kumulierenden Prinzips ausgehende strafmindernde Einfluß insgesamt nur von geringer Bedeutung gewesen sein. Der Vergleich der Strafhöhe mit der zeitlichen Dauer des Maßregelvollzugs ergab, daß bei der mit Trinkerheilanstalt belegten Probandengruppe unter der Geltung des Vikariierungsprinzips in 15 Fällen eine Begünstigung eingetreten wäre. In diesen Fällen blieb die tatsächliche Dauer des Maßregelvollzugs hinter der im Strafmaß ausgewiesenen Strafdauer zurück. Das Ausmaß der Begünstigung zeigt die folgende Tabelle: TabeUe46

Maßregeldauer kürzer als Strafmaß um: 1-2 Monate 3-4 Monate 6-8 Monate 1 Jahr über 1-2 Jahre

über 2-3 Jahre 4 1/t Jahre

Anzahl der Prob.

abs. 3

3 2 2 3 1 1

Bei 6 der 15 Probanden überschritt sonach die Strafdauer die Maßregeldauer um nicht mehr als 4 Monate; lediglich bei 9 Probanden lag die Dauer des Maßregelvollzugs zwischen 6 Monaten und 4 1/2 Jahren niedriger als die ausgesprochene Freiheitsstrafe. Nimmt man als Vergleichsgrundlage nicht das im Urteil ausgesprochene Strafmaß, sondern die um Untersuchungshaft-Anrechnung17 und vorzeitige Entlassung verminderte tatsächliche Dauer der Strafverbüßung, so entfällt in weiteren 4 der 15 Fälle der zeitliche Überhang der Strafdauer 17 Die Dauer der in der U-Haft verbrachten Zeit kann hier unbedenklich in Rechnung gestellt werden, weil insoweit durch die Einführung des Vikariierungsprinzips keine Änderung eintreten dürfte: Die U-Haft wird in der Regel zusätzlich zur Maßregel vollzogen werden.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

133

gegenüber der Maßregeldauer, so daß für eine mögliche Begünstigung nur insgesamt 11 Probanden (= 14,1 °/o) übrigbleiben; bei 8 von diesen verringert sich jedoch der zeitliche Überhang bei Berücksichtigung der tatsächlich verbüßten Strafzeit. Die in der folgenden Tabelle aufgeführten Zahlenwerte geben Aufschluß über das Ausmaß der unter der Geltung des Vikariierungsprinzips möglicherweise eingetretenen Begünstigung. Tabelle47

Maßregeldauer kürzer als tatsächl. verbüßte Strafdauer 1-3 Monate 6---8 Monate über 1-2 Jahre 3 Jahre 3 Monate

Anzahl der Prob. abs. 3 3 4 1

Soweit die danach sich ergebende Differenz zwischen Strafdauer und Maßregeldauer 3 Monate nicht übersteigt, lassen sich diese Fälle als relativ belanglos aus der weiteren Betrachtung ausscheiden: Berücksichtigt man nämlich, daß die in der Strafverbüßung zugebrachte Zeit zumindest teilweise als echte "Entwöhnungszeit" die nachfolgende. Phase der Behandlung in der Entziehungsanstalt verkürzte, so kann der dann noch verbleibende Unterschied nicht mehr als gravierend angesehen werden. Für die verbleibenden 8 Fälle, in denen sich danach die im Verhältnis zum Strafvollzug kürzere Dauer des Maßregelvollzugs als Begünstigung für die Betroffenen auswirken würde, erscheinen 2 weitere Erwägungen von Bedeutung, die den insoweit bestehenden Konflikt in einem weniger krassen Licht erscheinen lassen. Zum einen ist auf die Bestimmung des § 57 StGB n. F. über die vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug hinzuweisen. In keinem der angeführten 8 Fälle wurde nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit eine Entlassung oder wenigstens eine Überführung in den Maßregelvollzug verfügt. Für eine solche Maßnahme fehlten auch die Voraussetzungen, weil, solange eine Suchtbehandlung nicht erfolgreich durchgeführt war, die Gewähr für eine geordnete Lebensführung nicht gegeben sein konnte18. Hätte in diesen Fällen eine Suchtbehandlung im Rahmen des Strafvollzugs durchgeführt werden können, so wären damit die Voraussetzungen für eine vorzeitige Entlassung gegeben 18 Verschiedentlich wurde der von den Probanden gestellte Antrag auf vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug ausdrücklich mit dieser Begründung abgelehnt.

134

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

gewesen, die reale Strafdauer hätte dann durchweg zwei Drittel der ausgesprochenen Strafzeit nicht überschritten. Diese verkürzte Strafdauer aber müßte bei der Errechnung der zeitlichen Differenz zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug unter dem Aspekt des Vikariierens in Rechnung gestellt werden und würde dann in den angeführten Konfliktsfällen zu einer weiteren Verringerung des zeitlichen Überhangs an Strafe und damit zu einer Minderung der bestehenden Spannungen führen19• Als zweites ist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache hinzuweisen, daß allein in 4 der 8 Fälle die Dauer der Maßregel nicht einmal ein Jahr erreichte. Nur in 3 Fällen wurde die im Gesetz vorgesehene Höchstfrist von 2 Jahren voll ausgeschöpft. Es erscheint naheliegend, daß gerade in den Fällen mit vorangegangenem langfristigem Strafvollzug sich die Dauer des Maßregelvollzugs unter der Geltung des Vikariierungsprinzips nicht unerheblich verlängert hätte; zumindest die Frist von einem Jahr wäre mit ziemlicher Sicherheit eingehalten worden20 • Auch dadurch ergibt sich im Hinblick auf mögliche Konfliktsfälle ein wesentlich günstigeres Bild. Nun richteten sich freilich - wie dargelegt - die gegen die Einführung des vikariierenden Systems erhobenen Bedenken nicht gegen die bloße Begünstigung einer bestimmten Gruppe von Straftätern, sondern dagegen, daß diese Begünstigung gerade den gefährlichen Tätern zuteil werde. Für die Gesamtgruppe der nach § 42 c abgeurteilten Probanden des Untersuchungsmaterials wurde diese Frage bereits beantwortet: nur wenige konnten danach als gefährliche Täter angesehen werden. Obgleich damit jene Bedenken im wesentlichen als gegenstandslos angesehen werden können, sei die Frage nach der Gefährlichkeit im Hinblick auf die 8 durch eine Vikariierungsregelung begünstigten Probanden der Untersuchungsgruppe noch einmal aufgegriffen. Anlaß der Verurteilung nach § 42 c waren hier die folgenden Delikte: In 4 Fällen einfacher Diebstahl (10 Taten) bzw. schwerer Diebstahl im Rückfall (3 Taten, davon 1 im Zustand der Volltrunkenheit), in 1 Fall versuchte Verleitung von Kindern zur Vornahme unzüchtiger Handlungen durch Exhibitionieren vor Kindern, in 1 Falle einfache Brandstiftung im Vollrausch, in 1 Falle gefährliche Körperverletzung durch 19 Auf eine Errechnung des genauen Zahlenwertes soll hier verzichtet werden. Der generelle Hinweis auf die Verringerung der angeführten Zeiten um etwa ein Drittel macht die dadurch eintretende Entlastung der bestehenden Problematik hinreichend deutlich. 2o Gerade im psychiatrischen Schrifttum wird vielfach auf die Notwendigkeit hingewiesen, über die bloße Entwöhnung hinaus zusätzlich therapeutische Maßnahmen einzusetzen, die teilweise zur "Umprägung des charakterlichen Wesens" (Bleuler) führen müssen. Vgl. u. a. Bleuler, a.a.O., S. 277; Janz, a.a.O., S. 362 ff.; Weitbrecht, a.a.O., S. 163 f.; sowie MitscherHch, a.a.O.,

s. 87 f.

1. Abschnitt:

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

135

Umsichschlagen bei der polizeilichen Festnahme und in 1 Falle Körperverletzung mit Todesfolge. Alle Probanden waren zwischen zweimal und zwölfmal vorbestraft. Die meisten der dabei begangenen Delikte waren Vermögensdelikte (§§ 242, 243, 246, 263), Trunkenheitsdelikte und Verkehrsdelikte; nur bei 3 Probanden fanden sich schwerere Gewaltdelikte (je ein Delikt nach §§ 223 a, 250, 308). 1 weiterer Proband war wegen Unzucht mit Kindern einschlägig vorbestraft. Es erscheint müßig, darüber zu streiten, inwieweit ein mehrfach rückfälliger Dieb oder gar ein als Exhibitionist auftretender "Kinderschänder" als "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" 21 anzusprechen sind. Auch wenn man jedem der zuletzt genannten Täter dieses Attribut beizulegen vermag, so bleibt für das Anliegen dieser Arbeit entscheidend die Tatsache, daß schwere Gewaltkriminalität in der Gruppe der Süchtigen auch bei den wenigen durch das Vikariieren begünstigten Probanden nur in verschwindend geringem Umfang vertreten ist. Und auf der Grundlage dieser Erkenntnis läßt sich sodann die Frage beantworten, um die es vor allem geht: ob nämlich in jenen wenigen Fällen die durch das vikariierende System bewirkte Besserstellung in der Rechtswirklichkeit zu Folgerungen führt, die das System als ganzes fragwürdig erscheinen lassen oder jedenfalls nach einzelnen Richtungen hin zu kriminalpolitischen Bedenken Anlaß geben. 2. Die Gruppe der nach § 42 b StGB a. F. verurteilten Probanden

Die in den vorangehenden Seiten getroffenen Feststellungen über das Ausmaß der Begünstigung gefährlicher Täter unter der Geltung des vikariierenden Systems bezogen sich zunächst nur auf die Gruppe der nach § 42 c verurteilten Probanden. Daß das Ergebnis bei den gemäß § 42 b in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesenen Tätern der Untersuchungsgruppe kein anderes ist, wurde anfangs bereits erwähnt; es ist im folgenden noch einmal zusammenfassend zu begründen. a) Das Ausmaß der Gefährlichkeit

Was die Gefährlichkeit der Tätergruppe insgesamt betrifft, so zeigte die im empirischen Teil der Arbeit wiedergegebene Erhebung folgendes Bild: Weit an der Spitze der von den Probanden begangenen Delikte, die zur Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt führten, standen die Sittlichkeitsdelikte. Mehr als zwei Drittel davon betrafen den Tatbestand der (gewaltlosen) Unzucht mit Kindern (§ 176 Abs. 1 Satz 3 StGB a. F .). Am zweitstärksten vertreten war die Deliktsgruppe der 21 Eine Formulierung, die durch das Strafrechtsänderungsgesetz zu Recht beseitigt wurde

136

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

Vermögensdelikte. Der Anteil von Taten, die zur Gruppe der Schwerkriminalität zu zählen sind22, erwies sich als ausgesprochen gering. Insgesamt entfielen auf diese Deliktsgruppe 15,1 °/o aller Taten, wobei die Unzucht mit Abhängigen (7,6 °/o) und der schwere Diebstahl (2,4 °/o) am häufigsten begangen wurden. Die schwersten Taten waren hier 2 Fälle versuchten Mordes; in jeweils geringer Häufigkeit fanden sich ferner Notzucht, Gewaltunzucht, Brandstiftung und Fremdabtreibung. Die zuletzt genannten Delikte verteilten sich auf 18 Probanden der Untersuchungsgruppe 23, nur bei 23,1 Ofo aller Probanden war sonach eine Straftat aus dem Bereich der schweren Kriminalität Anlaß für die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt. In den meisten Fällen wurden die Täter gefaßt, ehe sie größeren Schaden anrichten konnten, weil sie bei der Tatbegehung jede Vorkehrung gegen ein späteres Entdecktwerden außer acht ließen. Auch das kriminelle Vorleben der Probanden bot nicht das Bild besonderer Gefährlichkeit. Während 15,8 Ofo aller Probanden dieser Gruppe überhaupt nicht und nur 5,2 Ofo öfter als 10mal vorbestraft waren, lagen die dabei ausgesprochenen Strafen allerdings insgesamt höher als bei der Gruppe der nach § 42 c verurteilten Probanden; so wurde in den 307 früheren Verfahren 14mal auf Zuchthausstrafe erkannt, 71,7 Ofo der Verfahren endeten mit einer Gefängnisstrafe, fast vier Fünftel aller Probanden hatten vor ihrer Einweisung in die Heilund Pflegeanstalt bereits mehr als 1 Jahr im Gefängnis zugebracht. Betrachtet man demgegenüber die Art der begangenen Delikte, so zeigt sich auch hier ein Übergewicht der gewaltlosen Vermögensdelikte, auf die mehr als die Hälfte aller früheren Taten entfielen. Die nächstgrößte Gruppe bildeten die mit keiner Gewaltanwendung verbundenen Sittlichkeitsdelikte. Nur 12,9 Ofo dieser Taten betrafen Delikte der schweren Kriminalität, davon allein 9, 7 Ofo den schweren Diebstahl; der Rest entfiel auf Fremdabtreibung (1,6 Ofo}, Notzucht (0,8 Ofo), Gewaltunzucht (0,3 Ofo), gefährliche Körperverletzung (0,3 Ofo) und schweren Raub (0,2 Ofo). Weniger als ein Viertel der Probanden (23,7 Ofo) war wegen eines solchen Delikts vorbestraft. Insgesamt war die Kriminalität der Probandengruppe in der Art der begangenen Delikte zwar breit gestreut, verlief jedoch wesentlich gleichförmiger als bei der Gruppe der nach § 42 c Verurteilten: so ließ sich bei 42 der 64 vorbestraften Probanden in der Begehung der Taten eine Hauptdeliktsrichtung erkennen, die bei 20 Probanden auf die Sittlichkeitsdelikte, bei 18 Probanden auf den (einfachen oder schweren) Diebstahl und bei 4 Probanden auf den Betrug fiel. Vgl. zum Begriff der Schwerkriminalität o. S. 124. Wobei allein 6 Probanden lediglich einen schweren Diebstahl begangen hatten, dessen Beute ebenso wie der dabei angerichtete Schaden gering war. 22

23

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

137

Nun wurde allerdings in der bisherigen Betrachtung - und dies dürfte verschiedentlich auf Widerspruch stoßen - bei der Beurteilung der Gefährlichkeit sowohl der Anlaßtaten als auch der Vortaten der verhältnismäßig hohe Anteil von Delikten der Unzucht mit Kindern (§ 176 Abs. 1 Satz 3) außer Betracht gelassen. De lege lata handelte es sich dabei immerhin um die Begehung von Verbrechen, wenngleich die primär angedrohte Zuchthausstrafe auch nur in den seltensten Fällen ausgesprochen wurde24 • Nun ist zwar der Begriff der Gefährlichkeit weder im Gesetz definiert, noch gibt es im strafrechtlichen oder im kriminologischen Schrifttum eine allgemein anerkannte Bestimmung seines Inhalts. Zweifellos aber liegt es nahe, den Begriff wenigstens dort zu verwenden, wo - wie hier - die Begehung von Verbrechen in Frage steht. Wenn dieser Grundsatz auch für den Regelfall uneingeschränkte Geltung verdient, so muß für das Delikt des § 176 Abs. 1 Satz 3 gleichwohl eine andere Auslegung Platz greifen. Anlaß dazu gibt nicht nur die grundlegende Umgestaltung des Straftatbestandes der Unzucht mit Kindern in den jüngsten Strafrechtsentwürfen, die zu einer wesentlich differenzierteren, aufs Ganze gesehen milderen Beurteilung des Unrechtsgehalts der in Betracht kommenden Taten führten25• Als bedeutsamer erweisen sich die aus empirischen Untersuchungen der jüngsten Zeit hervorgehenden Erkenntnisse über das Ausmaß möglicher psychischer oder körperlicher Schädigungen der zur Unzucht verführten Kinder. Bei allen hier noch immer bestehenden Zweifeln und Unsicherheiten ist doch die Erkenntnis im Vordringen, daß - von den schwersten Formen des Delikts abgesehen - "die psychischen Schäden ... bei einem gesunden Kind im allgemeinen nicht sonderlich gravierend sind und, - wenn die Umwelt verständnisvoll reagiert, das Kind jedenfalls nicht anhaltend aus der Bahn werfen, sofern es im Einzelfall zu solchen Schäden überhaupt kommt" 26• Schwerwiegende psychische oder auch physische Folgen sind, von äußeren Verletzungen abgesehen, mit einiger Sicherheit insbesondere dort zu erwarten, wo die Unzucht von Erziehungspersonen ausgeübt wird, wo sie mit Drohung, Gewalt oder mit rohen körperlichen Berührungen von einiger Intensität einhergeht, wo die wiederholte sexuelle Beziehung zur Gewöhnung oder zu einer verfehlten Bindung an den Täter führt und schließlich dort, wo der Beischlaf mit einem noch nicht 24 Ein Ergebnis, das keine Besonderheit der vorliegenden Untersuchung ist. Wie Sturm, Straftaten gegen die Sittlichkeit, S. 32 feststellt, wurden in den Jahren 1950---1959 weniger als 10 Ofo der nach § 176 Abs. 1 Satz 3 verurteilten Täter mit Zuchthaus bestraft. Vgl. dazu auch die Angaben bei Atbrecht, a.a.O., S. 246; Gerbener, a.a.O., S. 96 f .; Wegner, a.a.O., S. 72. 25 So sieht bsw. § 210 E 1962 als Regelstrafe Gefängnis und nur für besonders schwere Fälle Zuchthausstrafe vor. 26 So die zusammenfassende Feststellung von Hanack, a.a.O., S. A 93.

138

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

geschlechtsreifen Kind vollzogen wird27 . Im vorliegenden Untersuchungsmaterial bildeten diese zuletzt genannten Verhaltensweisen die seltenen Ausnahmen. Lediglich bei 5 Tätern waren derartige Handlungen Anlaß für die zur Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt führende Verurteilung28. Auch in ihrer Persönlichkeitsartung boten die Probanden der Untersuchungsgruppe nicht das Bild des rücksichtslosen oder enthemmten Triebverbrechers; vorherrschend waren vielmehr die infantilen, neurotisch gehemmten Täter, die Täter aus Schwäche und die durch Altersabbau geschädigten Täter. Auch darin bestätigt sich weitgehend eine Erkenntnis anderer kriminologischer Untersuchungen über die Unzucht mit Kindem29, die es rechtfertigt, jene Tätergruppe nicht pauschal als gefährlich anzusehen, sondern diese Einschätzung nur den wenigen Ausnahmen unter den Tätern des § 176 Abs. 1 Satz 3 zuteil werden zu lassen. Der Überblick über Art und Ausmaß des kriminellen Verhaltens der nach § 42 b verurteilten Probandengruppe und die daraus hergeleitete Beurteilung ihrer Gefährlichkeit sollte allerdings nicht dem Mißverständnis ausgesetzt sein, als handele es sich bei dem für eine Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt in Betracht kommenden potentiellen Täterkreis schlechthin um harmlose, eher lästige als gefährliche Kleinkriminelle. Auch sollte mit ihm keine Kritik an der Einweisungspraxis der Gerichte der 3 Untersuchungsbezirke geübt werden, für die die Annahme einer von den Eingewiesenen ausgehenden potentiellen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit das entscheidende Kriterium der Unterbringung darstellte. Wie die Erhebung zeigte, lagen bei allen Probanden erhebliche Persönlichkeitsdefekte vor, die nach allgemeinen kriminologischen Erfahrungen die Gefahr erneuter Straffälligkeit in sich 27 Nach Hanack, a.a.O., S. A 93. Im einzelnen kann auf die vielschichtige Problematik hier nicht eingegangen werden. Die neueren Erkenntnisse in den empirischen Grundlagen, die vor allem aus den Arbeiten von E. Geisler, Groffmann, Schönfelder und Wyss hervorgehen und die Hanack in seinem Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag zutreffend und mit klaren Folgerungen für die gesetzgeberische Reform wiedergegeben hat, zeigen, daß für die Frage nach der Schädigung der sexuell mißbrauchten Kinder eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielt und daß häufig die Persönlichkeit der Kinder, ihre kulturelle Prägung und die Reaktion der Umwelt den entscheidenden Ausschlag dafür gibt, ob der Vorfall ohne nachteilige Folgen verarbeitet wird. Die meisten Untersuchungen weisen auch einen hohen Anteil von Kindern auf, die sich aktiv oder herausfordernd an der Sexualhandlung beteiligten (bei Schönfelder, a.a.O., S. 30, 37 Ofo, bei Geisler, a.a.O., S. 106, 25 Ofo); bei ihnen ist die Gefahr der Entstehung von Schäden als Folge der Sexualhandlung gering. 28 Dabei handelte es sich in 5 Fällen lediglich um den Versuch des Geschlechtsverkehrs mit 5- bis 13jährigen Mädchen, in 1 Falle um eine länger dauernde homosexuelle Beziehung zu einem 10jährigen Jungen. 29 Vgl. Albrecht, a.a.O., S. 177 ff., 187 ff.; Gerbener, a.a.O., S. 59 ff.; Wegner, a.a.O., S. 26 ff.; Nass, a.a.O., S. 72 ff.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

139

trugen. Gleichwohl darf nach den hier gefundenen Ergebnissen das Ausmaß dieser Gefahr nicht überschätzt werden. In der Literatur fehlen bisher zwar vergleichbare Untersuchungen, die eine Überprüfung dieser Ergebnisse ermöglichen würden, fast völlig29a. Einzelne, vor allem in der psychiatrischen Forschung hervorgetretene Befunde. lassen sich jedoch in gewissem Umfang für einen Vergleich heranziehen. Aufschlußreich erscheint in diesem Zusammenhang eine Untersuchung von Müller-Hadamik30 an 675 Straftätern, die im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland gemäß § 42 b StGB untergebracht waren31 • Danach waren 193 dieser 675 Täter bei der vorangegangenen Verurteilung als vermindert zurechnungsfähig(§ 51 Abs. 2 StGB a. F.) bezeichnet worden. Unter den Delikten, die bei dieser (hier allein interessierenden) Gruppe zur Unterbringung geführt hatten32, standen die Sittlichkeitsdelikte weitaus im Vordergrund (bei 62,7 Ofo der Probanden)33 ; an zweiter Stelle folgten die Eigentumsdelikte (bei 29,5 Ofo der Probanden). Nur 11 Probanden (5,7 Ofo) hatten Gewalttätigkeitsdelikte begangen34 • Beide Untersuchungen zeigen sonach eine auffallende Übereinstimmung hinsichtlich des geringen Anteils von Schwerkriminalität an den zur Unterbringung führenden Straftaten34a. 29a Nach Abschluß der vorliegenden Untersuchung erschien die Dissertation von Keller über ,.Praxis und Erfolg der Unterbringung seelisch gestörter Delinquenten nach § 42 b und 42 c StGB", die zwar - infolge der andersartigen Zielsetzung und durch die Einbeziehung auch der wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochenen Täter (etwas mehr als ein Drittel des Gesamtprobandenmaterials) - einen dem hier untersuchten Täterkreis nur bedingt vergleichbaren Probandenkreis erfaßt, deren Ergebnisse jedoch für die hier angesprochene Problematik zumindest insofern aufschlußreich sind, als sich das dort gefundene Erscheinungsbild der kriminellen Aktivität der Probanden von dem hier ermittelten nicht negativ abhebt; auch im Persönlichkeitsbild der Probanden ergaben sich eine Reihe von Auffälligkeiten, die sich mit den hier ermittelten Befunden weitgehend decken; vgl. dazu die Hinweise in den folgenden Fußnoten. 30 a.a.O. 31 Nach Angaben von Müller-Hadamik (S. 67) bildet der untersuchte Personenkreis einen ausreichend repräsentativen Querschnitt der Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland. 32 Vgl. die Tab. a.a.O., S. 70. 33 Wobei über die Hälfte dieser Probanden (66) wegen Unzucht mit Kindern verurteilt worden war. Das Delikt der Gewaltunzucht war überhaupt nicht vertreten, die Notzucht hatte eine relativ geringe Bedeutung (16 Probanden waren deswegen verurteilt). Vgl. dazu die Aufstellung a.a.O., s. 71. 34 Außerdem waren 4 Probanden (2,1 Ofo) wegen Brandstiftung verurteilt worden. 34a Ähnliche Zahlen fand Keller in seinem Untersuchungsmaterial: Von den nach § 42 b eingewiesenen Probanden waren 46,2 Ofo anläßlich der Begehung eines Sittlichkeitsdelikts und 38,4 Ofo wegen eines Vermögensdelikts eingewiesen worden (a.a.O., S. 43, 164) ; auch im kriminellen Vorleben der Probanden dominierte die mittlere Kriminalität ; Schwerkriminalität war relativ selten (S. 34 ff.).

140

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

Beachtung verdient in diesem Zusammenhang ferner das Hervortreten bestimmter auffälliger Persönlichkeitszüge im Probandenmaterial der vorliegenden Untersuchung. Diese gewinnen nicht allein deshalb Bedeutung, weil sie in gewissem Umfang Aufschluß geben über das Ausmaß des von den jeweiligen Probanden künftig zu erwartenden strafbaren Verhaltens; sie lenken auch den Blick auf den meist nur ungenügend bewußt gemachten Zustand der eigenen Gefährdung und Hilflosigkeit eines großen Teils der gemäß § 42 b untergebrachten Rechtsbrecher. Zwei wesentlich erscheinende Befunde seien hier besonders hervorgehoben: der hohe Anteil von Probanden mit Intelligenzstörungen und der vergleichsweise hohe Anteil von Tätern, die das 60. Lebensjahr bereits überschritten haben. Wie die Untersuchung ergab, waren etwa die Hälfte der Probanden des Untersuchungsmaterials schwachsinnig34b. Mit dem Schwachsinn verbunden waren fast durchweg ein niedriges Persönlichkeitsniveau, sowie Abnormitäten der Trieb- und Gefühlswelt. Die Kriminalität dieser Schwachsinnigen erstreckte sich vorwiegend auf Eigentums- und Sittlichkeitsdelikte, enthielt jedoch auch Brandstiftung und versuchten Mord. Die Untersuchung zeigt insoweit das forensisch bekannte Bild des schwachsinnigen Kriminellen35 • Danach stellt das schwere Delikt zwar die Ausnahme dar, doch findet sich beim Schwachsinnigen in bestimmten Situationen nicht selten eine gesteigerte Reizbarkeit, die ihn, ebenso wie seine abnorme Beeinflußbarkeit und Verführbarkeit, im Extremfall zu Taten von gefährlichem Ausmaß verleiten können36 • Gerade diese Anfälligkeit für fremde Einflüsse, das vielfach unkontrollierbare Ausgeliefertsein an Umweltreize und an die eigene Triebhaftigkeit macht auch sein~ spezifische Gefährdetheit und Schutzbedürftigkeit aus, die um so mehr Beachtung verdient, als die Fälle eigentlich schwerer Kriminalität - wie gezeigt - in der forensischen Praxis zu den seltenen Erscheinungsformen zu zählen sind. Neben den intelligenzgestörten Probanden stellen die als "Alterstäter"37 anzusprechenden Probanden mit einem Sechstel der Gesamt34b Der von Keller ermittelte Anteil an Schwachsinnigen betrug 49,0 Ofo (a.a.O., S. 19). 35 Vgl. etwa Bleuler, a.a.O., S. 595 f.; Last, NJW 1969, S. 1560; Weitbrecht, a.a.O., S. 171 f .; Göppinger, a.a .O., 8. 134 ff.; H. Kaufmann, Kriminologie I, s. 172 ff. 36 Bleuler, a.a.O., S. 596; Weitbrecht, a.a.O., S. 172. 37 Als Alterstäter ist hier nicht der sog. "Spätkriminelle" gemeint, sondern der in einer bestimmten Altersstufe (vom 60. Lebensjahr an) straffällig gewordene Täter. Vgl. zur Begriffsbildung Amelunxen, a.a.O., S. 15- (der im übrigen den Beginn der Alterskriminalität bereits auf das 55. Lebensjahr datiert), sowie Göppinger, a.a.O., S. 328.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. I.

141

probandenzahl einen zahlenmäßig beachtlichen Teil der Untergebrachten37a. Allein 11 der 13 Probanden dieser Gruppe waren wegen Unzucht mit Kindern (§ 176 Abs. 1 Satz 3) verurteilt und in die Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen worden38, 2 Probanden hatten einen einfachen Diebstahl begangen, Gewaltdelikte waren nicht vertreten. Auch dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen über die sog. Alterskriminalität39, die man vereinzelt auch als "Kriminalität der Schwäche" 40 bezeichnet hat: Taten, die Energie und Zielstrebigkeit verlangen, fehlen im Erscheinungsbild der Alterskriminalität fast völlig. Neben dem physiologischen Leistungsabfall und dem Nachlassen der Vitalität bleibt vielfach im Bereich der Sexualität eine gewisse Triebspannung erhalten, die den in der Regel impotenten Täter, der einen adäquaten Partner nicht mehr gewinnen kann, im Kind das seinen Möglichkeiten entsprechende Objekt zu sexueller Entspannung finden läßt. Stößt er dabei auf Widerstand, so gibt er sein Vorhaben in der Regel rasch wieder auf. Neben den Gruppen der Schwachsinnigen und der Altersdelinquenten fiel in der Untersuchung auch der hohe Anteil von Probanden mit hirnorganischen Schäden auf; doch lassen sich diese Probanden weder nach ihrem bisherigen kriminellen Verhalten noch in prognostischer Hinsicht zu einer einheitlichen Gruppe zusammenfassen. Vielfach fanden sich zwar mit erhöhter Reizbarkeit, affektiven Störungen und Antriebsverarmung eine Reihe von gleichartigen Persönlichkeitsmerkmalen, die dem klinischen Bild des hirnorganisch Erkrankten oder Geschädigten entsprechen oder als psychische Spätfolgen dieser Schädigungen anzusehen sind41 ; doch zeigten die einzelnen Persönlichkeitsbilder noch immer ein großes Maß an Differenziertheit. Auch im psychiatrischen Schrifttum finden sich nur sehr zurückhaltende Äußerungen über die kriminologische Bedeutung hirnorganischer Schädigungen. Übereinstimmend verweist man auf die große Bedeutung der prätraumatischen Persönlichkeit, die neben dem Lebensalter und dem gesamten sozialen Milieu auf die weitere Entwicklung des Geschädigten entscheidenden Einfluß hat42 • Soweit generalisierende Feststellungen überhaupt geS7a In der Untersuchung von KeUer waren etwa 11 Ofo aller Probanden über 60 Jahre alt (a.a.O., S. 28). 38 2 von diesen handelten im Zustand der Volltrunkenheit. se Amelunxen, a.a.O.; Bü.rger-Prinz-Lewrenz, a.a.O.; Lewrenz, HWB Krim. a.a.O.; auch Bleuler, a.a.O., S. 602 ff. 4o Amelunxen, a.a.O., S. 19; Bleuler, a.a.O., S. 602.; Göppinger, a.a.O., S. 328 ff.; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 167 41 Bleuler, a.a.O., S. 233 ff., 253 ff.; Faust, a.a.O., S. 552 ff.; Weitbrecht, a.a.O.,

s. 245 ff.

u Bleuler, a.a.O., S. 257; Faust, a.a.O., S. 605 ff.; Weitbrecht, a.a.O., Göppinger, a.a.O., S. 127 f.; H. Kaufmann, Kriminologie I, S. 151 ff.

S. 248;

142

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

troffen werden, kennzeichnen sie die Kriminalität des Hirngeschädigten als "Kriminalität aus Schwäche" 43 , wobei nicht zu übersehen ist, daß es im Einzelfall als Folge einer gesteigerten Erregbarkeit auch zu schweren Wutanfällen und explosiblen Kurzschlußreaktionen mit Gewalttätigkeit kommen kann44 • Doch gibt es keinen Erfahrungssatz, der es rechtfertigen würde, den hirnorganisch geschädigten Täter schlechthin als "gefährlichen Täter" einzustufen. Überhaupt läßt sich aus dem Untersuchungsmaterial und in Übereinstimmung mit den Erfahrungsberichten des zitierten psychiatrischen Schrifttums45 die generalisierende Feststellung treffen, daß weniger der einzelne Krankheitsbefund, als vielmehr die Persönlichkeitsstruktur und die Lebensgeschichte des Täters, aber auch die Tatsituation für die Begehung von Straftaten ausschlaggebend sind. Keiner der in der Untersuchung zutage getretenen Krankheitsbefunde prädestiniert deshalb seinen Träger zur Kriminalität überhaupt oder drängt ihn in eine bestimmte Kriminalitätsrichtung. So differenziert wie die Persönlichkeitsstrukturen der einzelnen Probanden waren, so differenziert erwies sich ihr bisheriges kriminelles Verhalten und so vielseitig dürfte auch die Art der von ihnen ausgehenden potentiellen Gefährdung anderer sein. Ausgesprochen schwere Delikte stehen nur in wenigen Fällen zu erwarten.

b) Das Ausmaß der Begünstigung Noch weniger als die vermutete Gefährlichkeit der Probandengruppe ist das für den Fall des Vikariierens angenommene Ausmaß der Begünstigung dieser Probanden als Einwand gegen den Vikariierungsgedanken geeignet. Sieht man auch hier als entscheidendes Kriterium einer Begünstigung die zeitliche Besserstellung des nur dem Maßregelvollzug ausgesetzten Täters gegenüber einem ihn treffenden Vollzug der ausgesprochenen Freiheitsstrafe46 und vergleicht man dazu das jeweilige Strafmaß mit der tatsächlichen Dauer der vollzogenen Maß43 44

Bleuler, a.a.O., S. 602. W eitbrecht, a.a.O., S. 247.

Vgl. Anm. 42. Vgl. dazu die Ausführungen o. S. 130 f . Der Übelscharakter der Unterbringung, die ebenso wie die Strafe den vollständigen Entzug der Freiheit beinhaltet und sich in der Regel über einen gewissen Zeitraum hinweg in der geschlossenen Abteilung vollzieht, kann für den Untergebrachten auch hier trotz gewisser Lockerungen und trotz der rein klinischen Ausrichtung der Behandlung nicht wesentlich geringer veranschlagt werden als derjenige des Strafvollzugs. Vielfach empfindet der Untergebrachte gerade das ihm aufgezwungene dauernde Zusammensein mit Geisteskranken der verschiedensten Art als eine im bloßen Strafvollzug nicht gegebene besondere Belastung. 45

46

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. II.

143

regel, so zeigt sich sehr rasch, daß eine solche Besserstellung bei dem der Untersuchung zugrundeliegenden Probandenmaterial im Vikariierungsfalle fast überhaupt nicht eingetreten wäre: Bei 5 Probanden dauerte zwar der Vollzug der Maßregel zur Zeit der Untersuchung noch an, ohne daß bis dahin bereits die dem Strafmaß entsprechende Vollzugsdauer erreicht war; in keinem dieser Fälle war jedoch nach den Anstaltsberichten eine vorzeitige Entlassung zu erwarten. Fünf weitere Probanden befanden sich zur Zeit der Untersuchung noch in Strafhaft; über ihre weitere Entwicklung war eine Aussage nicht möglich. Zwei Probanden wurden unmittelbar aus dem Strafvollzug in die Freiheit entlassen, da ihr Zustand eine weitere Unterbringung nicht erforderte. Ein Proband beging in der Heil- und Pflegeanstalt Selbstmord. Lediglich fünf der 78 Probanden waren kürzere Zeit in der Anstalt, wobei die Differenz zwischen Strafmaß und Maßregeldauer zwischen 3 112 und 6 1/2 Monaten betrug. Bei zwei dieser fünf Probanden lagen besondere Umstände für die Entlassung vor: ein Proband hatte sich entmannen lassen, ein weiterer wurde infolge fortgeschrittenen Altersabbaues zu einem reinen Pflegefall. In beiden Fällen läßt sich so schwerlich von einer echten "Begünstigung" sprechen. Rechnet man schließlich in den verbleibenden drei Fällen die in der Untersuchungshaft verbrachte Zeit der Dauer des Maßregelvollzugs hinzu, so entfällt auch hier die- ohnehin nur geringfügigezeitliche Besserstellung völlig. In dem gesamten Probandengut der vorliegenden Untersuchung fanden sich sonach unter 156 Fällen gleichzeitiger Anordnung von Strafe und Maßregel lediglich 8 aus der Gruppe der nach § 42 c Verurteilten, die unter der Geltung des Vikariierungsprinzips - möglicherweise47 - einen kürzeren Freiheitsentzug erhalten hätten, als dies der Dauer der ausgeworfenen Freiheitsstrafe entsprach; sie wären somit gegenüber einem nicht behandlungsbedürftigen Täter mit gleicher Schuld und entsprechender Strafe begünstigt worden. Als Argument gegen die Aufnahme des Vikariierungsprinzips in das künftige Strafrecht lassen sich diese 8 Probanden allerdings kaum ernsthaft ins Feld führen. II. Die Sorge um die Bewährung der Rechtsordnung und um das mangelnde Verständnis der Öffentlichkeit Der Aufweis der geringen quantitativen Bedeutung eventuell auftretender Divergenzfälle zwischen Strafmaß und Maßregeldauer unter 47 Zu der Frage, ob in diesen Fällen nicht gemäß § 67 Abs. 5 StGB n. F. eine Verlängerung des Maßregelvollzugs über die spezialpräventiv gebotene Zeitdauer hinaus hätte erfolgen müssen, s. u. S. 163 ff.

144

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

der Geltung des Vikariierungsprinzips macht zwei weitere Bedenken hinfällig, die in der Auseinandersetzung um die Einführung des Vikarüerungsgedankens eine Rolle spielten und die oben bereits erwähnt wurden48 : Die Sorge um die Bewährung der Rechtsordnung und um das Verständnis der Bevölkerung für einen Verzicht auf den Vollzug der ausgesprochenen Strafe. Wie die Erhebung zeigt, wäre bei einem Verzicht auf den Strafvollzug in nahezu allen untersuchten Fällen durch den Vollzug der Maßregel eine dem Strafvollzug im wesentlichen gleichkommende Reaktion auf den Rechtsbruch erfolgt. Woran immer sich das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit auch ausrichten mag: In keinem Fall hätte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen können, der Staat lasse einen Verstoß gegen die Rechtsordnung ohne angemessene Sanktion oder nehme deren Verletzung nicht ernst genug. Nichts spricht deshalb nach diesen Erfahrungen dafür, daß unter der Praxis des Vikariierens der Rechtsgehorsam der Bürger leiden würde oder daß die Allgemeinheit dieser Praxis verständnislos gegenüberstehe. Lenkt man den Blick der Allgemeinheit auf die in der Untersuchung hervorgetretene Tatsache, daß die meisten der für ein Vikariieren in Betracht kommenden Probanden nach der Schwere ihrer Taten und nach dem Ausmaß ihrer kriminellen Intensität weniger als "gefährliche Gewohnheitsverbrecher", sondern weit eher als - wenn auch häufig rückfällige - Gelegenheitstäter anzusprechen sind, daß es sich zum größten Teil um Menschen handelt, die im Leben zu kurz gekommen sind, die kaum noch familiäre oder soziale Bindungen haben, denen berufliche oder gesellschaftliche Erfolge weitgehend versagt geblieben sind, deren bestehende körperliche, geistige und charakterliche Mängel eine vollgültige Einordnung in die menschliche Gemeinschaft auch für die Zukunft weitgehend ausschließen, - lenkt man den Blick der Allgemeinheit auf den sich in all dem dokumentierenden Zustand der eigenen Gefährdetheit dieser Täter, so wird man sich um das Verständnis der Öffentlichkeit für den im Vikariieren praktizierten Verzicht auf einen (in den meisten Fällen sinnlosen) Strafvollzug zugunsten eines der Eigenart der Betroffenen weit besser gerecht werdenden Maßregelvollzugs kaum zu sorgen brauchen49 • Stellvertretend für die Gesamtprobandengruppe mag dieser Sachverhalt durch die gedrängte Wiedergabe des Lebenslaufs von 2 der Probanden noch einmal ins Bewußtsein gehoben werden: s. 0. s. 58 f. Zu Recht sieht Würtenberger in der konsequenten Verwirklichung des Resozialisierungsgedankens durch die richterliche Strafzumessung die Möglichkeit und die Aufgabe des Richters, in der Gesellschaft noch vorhandene "Vorurteile gegen eine wahrhaft soziale Strafrechtspflege . . . abzubauen", Kriminalpolitik, a.a.O., S. 188; für eine neue Denkungsart im Recht aus dem Gesichtspunkt der Sozialhilfe auch Hellmer, JZ 1963, S. 200; ders., Kriminalistik 1966, S. 338. Vgl. ferner Baumann, Streitschriften II, S. 117. 48

49

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung A. II.

145

Fall 1: Der 1921 geborene, zur Tatzeit 35 Jahre alte Proband (Pb.) wurde wegen 1 versuchten und 3 vollendeten Diebstählen im Rückfall zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt und in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen. Er hatte in 2 Fällen ein Fahrrad, in 1 Falle eine Kollegmappe entwendet und in 1 weiteren Fall versucht, ein Moped zu entwenden. Ort der Taten waren jeweils Gasthäuser, der Pb. war stets betrunken. Er wurde in allen Fällen unmittelbar nach der Tat in der Nähe des Tatortes festgenommen. Pb. ist seit seinem 26. Lebensjahr straffällig; von den 7 Vorstrafen, die er vorwiegend wegen Diebstahls und Sachbeschädigung erhielt, lauteten 4 auf Gefängnis, eine auf Zuchthaus. Aus der Lebensgeschichte ergibt sich, daß Pb. als Kind längere Zeit einnäßte. In der Volksschule blieb er viermal sitzen und wurde aus der vierten Klasse entlassen. Er hat keinen Beruf erlernt und war in wechselnden Stellungen als Arbeiter beschäftigt. Nach dem Krieg, an dem er seit 1941 teilgenommen_ hatte, fand er Anschluß an Schwarzhändler- und Schwarzbrennerkreise. Dort schloß er Bekanntschaft mit dem Alkohol; in dieser Zeit begannen seine Straftaten. Eine 1947 geschlossene Ehe wurde 1951 aus beiderseitigem Verschulden geschieden. Pb. wohnte seitdem mit einer aus der Ehe hervorgegangenen Tochter bei seinen Eltern. Soweit er sich nicht im Strafvollzug befand, lebte er von Gelegenheitsarbeiten. Über die Familie des Pb. selbst ist nichts Nachteiliges bekannt. Der Vater, früher Arbeiter, ist Rentner; einige Angehörige der mütterlichen Linie neigten zu Alkoholmißbrauch. Pb. hat eine Schwester, die unauffällig ist. In der Persönlichkeitsbegutachtung wird neben einer erheblichen intellektuellen Unterbegabung eine Retardierung der gesamten PersönlichkeitsentwickJung festgestellt. Pb. wird als "willensschwacher, gefühls-, gemüts- und affektlahmer, antriebsgestörter, infantiler, sehr labiler, ungesteuerter, planloser und sozial völlig haltloser psychopathischer Typ" bezeichnet, dem eine Loslösung vom Elternhaus nicht gelungen sei, der in den Tag hineinlebe, der keinerlei soziales Planen und keinen Lebensehrgeiz kenne. Der im Lauf der Jahre tief eingewurzelte chronische Alkoholismus des Probanden wird als sekundäre Folge seiner "unfertig-verkümmerten" Charakterartung bezeichnet. Die Prognose ist ausgesprochen ungünstig. Für die Zukunft wird die Anordnung der Sicherungsverwahrung als unumgänglich angesehen.

Fall 2: Der in die Heil- und Pflegeanstalt eingewiesene 26 Jahre a lte ledige Pb. wurde wegen versuchten schweren Diebstahls im Rückfall zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Er war 2 Tage nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug in ein Gartenhaus eingestiegen, wo er laut Urteil "in der Küche mehrere Eier austrank, sowie ein Weißbrot, einen Korkenzieher, eine Flasche Rum, 10 Hefte Streichhölzer und 1,55 DM Bargeld an sich nahm". Dabei wurde er überrascht und festgenommen. Pb. begann seine kriminelle Laufbahn mit knapp 17 Jahren. Die vorliegende Verurteilung w ar die achte in einer zeitlich rasch aufeinanderfolgenden Kette von Verurteilungen. Die Taten waren überwiegend schwere Diebstähle mit geringer Beute; zwei Verurteilungen erfolgten wegen leichter Körperverletzung, Beleidigung und Nötigung. Die Rechtsfolgen gingen von der Ermahnung über die Jugendstrafe bis zur Gefängnisstrafe. Pb. entstammt geordneten häuslichen Verhältnissen. Der Vater ist mittlerer Beamter, 3 Geschwister des Pb. sind unauffällig und besuchen die 10 Marquardt

146

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

höhere Schule bzw. die Universität. Pb. selbst entwickelte sich bis zu seinem 16. Lebensjahr normal. Er besuchte 5 Jahre die Volksschule und anschließend 4 Jahre die Oberrealschule. Im Alter von 16 Jahren erlitt Pb. einen schweren Verkehrsunfall mit Schädelimpressionsfraktur und Hirnquetschung. Von diesem Zeitpunkt an beginnt sein sozialer Abstieg. Es kommt zu erheblichen Erziehungsschwierigkeiten und zu Spannungen mit dem Vater, die schließlich dazu führen, daß Pb. sein Elternhaus verläßt und ein vagabundierendes Landstreicherdasein führt. Aus der freiwilligen Fürsorgeerziehung, in die der Vater ihn wegen eines Familiendiebstahls bringt, entweicht Pb. mehrfach. Sein Lebensweg wird von da an bis zu der 10 Jahre später erfolgenden Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt zu einer Kette von meist alkoholisch überlagerten Mißerfolgen. Eine begonnene Lehre wird abgebrochen. Trotz Überempfindlichkeit gegen Akoholgenuß kommt es zu Alkoholmißbrauch und in der Folge zu Alkoholexzeßtaten und Einbrüchen in Wochenendhäusern. Alkoholentziehungskuren und eine kurzfristige Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt bringen keine Änderung. Pb. arbeitet nur noch gelegentlich, die immer häufiger auftretenden Phasen des Vagabundierens werden länger. Zwischen den Aufenthalten im Gefängnis gibt es kaum noch positive Intervalle. Das psychische Zustandsbild des Pb. ist gekennzeichnet durch eine nach dem Unfall einsetzende Entwicklungsverzögerung und durch eine Senkung des Persönlichkeitsniveaus auf eine niedrigere Stufe. Als Folge der Hirnschädigung kommt es zu Defektbildungen im Gemüts- und Gefühlsleben, zu Ausfällen im inneren Antriebsbereich und zu Störungen in der Affektsphäre. Mißtrauen, Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit prägen sein Verhältnis zur Umwelt. Mangel an Selbstvertrauen, wachsende Insuffizienzgefühle und ein nachlassendes Kritik- und Urteilsvermögen beschleunigen die durchgehende soziale Entordnung. Die Entmündigung des Pb. wird unumgänglich. Nach voller Verbüßung der achtmonatigen Gefängnisstrafe erfolgt die Unterbringung in der Heil- und Pflegeanstalt. Sie dauert zur Zeit der vorliegenden Untersuchung noch an. Die Prognose ist ungünstig.

B. Die Problematik der Schuldgrö.&enbestimmung Die soeben geschilderten Lebensläufe und Persönlichkeitsbilder bieten darüber hinaus ein anschauliches Beispiel dafür, wie problematisch sich in den meisten der unter die Vikariierungsregelung fallenden Fälle die für die Strafzumessung entscheidende Schuldgrößenbestimmung gestalten muß. Die in der Strafrechtsdogmatik vorherrschende sogenannte nonnative Schuldlehre sieht das Wesen der Schuld in der Vorwerfbarkeit des rechtswidrigen Verhaltens50 • Kern dieses Schuldvorwurfs ist die Feststellung, daß der Täter "die rechtswidrige Handlung nicht unterlassen hat, obwohl er sie unterlassen konnte" 51 , daß er sich in der Tatsituation nicht normgemäß verhalten hat, obwohl so Vgl. nur Baumann, StrafR, Allg. T., S. 346 f., 352 ff.; Maurach, StrafR, Allg. T., S. 410 ff., 415 f.; Mezger-Blei, StrafR, Allg. T., S. 156 ff.; SchönkeSchröder, RdNr. 79 vor §51; Wetzet, StrafR, S. 138 ff.; sowie BGH St 2, S.194 ff. s1 Welzel, StrafR, S. 138.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung C.

147

ihm dies bei genügender Willensanstrengung möglich gewesen wäre. Das Schuldgrößenurteil besteht im wesentlichen in dem Urteil über das Maß der Fähigkeit des Täters zum Andershandelnkönnen im Augenblick der Tat. Wie groß aber war der dem Täter verbliebene Freiheitsraum angesichts der Häufung von negativen Einflüssen biologischer, entwicklungsspezifischer, sozialer Art, denen er - verschuldet oder unverschuldet - im Ablauf seines Lebens bis hin zur Tatbegehung ausgesetzt war und die sich, wie die psychologische Forschung zeigt52 , mehr oder weniger zu Gewohnheiten, Einstellungen und Reaktionsbereitschaften verfestigt und dadurch seinen Handlungsspielraum eingeengt haben? Auch wenn man- wovon die Untersuchung ausgehtbei aller Massierung negativer Faktoren die Fähigkeit zum Andershandelnkönnen bei den Probanden des Untersuchungsmaterials generell voraussetzt53, so führt doch nichts an der praktischen Schwierigkeit vorbei, das Maß an Vorwerfbarkeit zu bestimmen, das jeder einzelne Täter dafür verdient, daß er sich im Kräftespiel jener negativen Faktoren, aus denen seine strafbare Handlung erwuchs, nicht behauptet hat. In der Untersuchung fand sich zwar kein Fall einer Strafzumessung, die unter Schuldgesichtspunkten als ausgesprochen falsch hätte angesehen werden können. Aber es fanden sich auch nur wenige Fälle, in denen der Versuch der Einfühlung in die richterliche Strafmaßbestimmung nicht die Empfindung von Zweifel und Unbehagen ausgelöst hätte. Das Institut des Vikariierens beseitigt diese Zweifel nicht, aber es macht sie erträglich, weil sie bei der Einspurigkeit des Vollzugs nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß zu Lasten des Täters gehen.

C. Der Wegfall der faktischen Doppelbestrafung In der Untersuchung ließ sich schließlich nachweisen, daß der von den Befürwortern der vikariierenden Lösung kritisierte Zustand der faktischen "Doppelbestrafung" behandlungsbedürftiger Straftäter durch eine Vollzugskumulation in der bisherigen Praxis in überaus hohem Maße gegeben war. So überschritt die Dauer des Maßregelvollzugs in 73,1 °/o aller Fälle die dem Strafmaß entsprechende Dauer des Vollzugs der neben der Maßregel ausgesprochenen Freiheitsstrafe, wobei die zeitliche Mehrbelastung vor allem in der Gruppe der nach § 42 b verurteilten Probanden zum Teil beträchtliche Ausmaße annahm. Von 52 Bresser, a.a.O., S. 20 ff.; Lückert, a.a.O., S. 198 ff.; Remplein, a.a.O., S. 388 f.; Thomae, a.a.O., S. 46 ff. 53 Die Frage der Willensfreiheit soll hier nicht angesprochen werden, obwohl sie gerade in jüngster Zeit wieder Gegenstand - zum Teil sehr heftiger - Kontroversen gewesen ist, vgl. dazu Welzel, Willensfreiheit, a.a.O., S. 91 ff. und JZ 1970, S. 174 f . sowie Danner, a.a.O.

10•

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

148

der gemäß § 456 b StPO eröffneten Möglichkeit eines Vorwegvollzugs der Maßregel wurde lediglich in 3 Fällen Gebrauch gemacht, in denen die Probanden haftunfähig waren; in einigen wenigen Fällen wurde die Strafe durch eine zuvor angeordnete vorläufige Unterbringung für verbüßt erklärt. In welchem Maße die Maßregeldauer die im Strafausspruch bestimmte zeitliche Grenze der Strafe überschritt, zeigen die folgenden Tabellen: Tabelle 48

Die nach § 42 c verurteilte Probandengruppe

Überschreitung des Strafmaßes durch den Maßregelvollzug um

bei Prob.

1- 6 Monate

über 6-12 Monate über 12 Monate

Ufo (100 Ofo

29

37,2 17,9

55

70,5

24 12

= 78)

15,4

Tabelle 49

Die nach § 42 b verurteilte Probandengruppe

Überschreitung des Strafmaßes durch den Maßregelvollzug bis über über über über über

1 1 2 3 5 10

Jahr Jahr bis 2 Jahre bis 3 Jahre bis 5 Jahre bis 10 Jahre Jahre

bei Prob.

Ufo (100 Ofo = 78)

9

11,5

8 8

10,3 10,3

59

75,6

14 18 2

17,9 23,1 2,5

Während so die Einführung des Vikariierungsprinzips nur in einer verschwindend kleinen Zahl von Fällen zu einer Diskrepanz zwischen Strafmaß und Maßregeldauer führen dürfte, bewirkt sie in der überwiegenden Anzahl der für eine zweispurige Reaktion in Betracht kommenden Fälle den Wegfall des sowohl unter kriminalpolitischen als auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten bedenklichen Zustandes einer von der Vollzugskumulation ausgehenden "Doppelbestrafung" des betroffenen Täterkreises. Die Bedenken, die im Hinblick auf die in einigen wenigen Fällen möglicherweise54 eintretende Begünstigung einzelner Täter 54 Das Ob einer solchen Begünstigung und deren Ausmaß hängen u. a. von der Handhabung des § 67 Abs. 5 in der Praxis des Vollstreckungsgerichts ab. Zur Frage der Auslegung dieser Bestimmung s. u. S. 164 ff.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung D.

149

gegen die gesetzliche Ausgestaltung des Vikariierungsprinzips entstehen konnten, verlieren angesichts dieser weitreichenden Auswirkung vollends an Bedeutung.

D. Das Vikariieren von Strafe und Sozialtherapeutischer Anstalt Das Ergebnis der Untersuchung, das die Einführung des vikariierenden Systems als einen dogmatisch und kriminalpolitisch unbedenklichen, die Rationalität und Effektivität des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems erhöhenden Reformschritt ausweist, war ausschließlich ausgerichtet auf die Maßregeln der Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt und einer Entziehungsanstalt; nur für sie bot sich die Möglichkeit einer Überprüfung der gesetzlichen Neuerung auf der Grundlage einer empirischen Erhebung. Unter die Vikariierungsregelung fällt jedoch neben den zuvor genannten Maßregeln auch die durch das zweite Strafrechtsreformgesetz neu eingeführte Maßregel der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt (§ 65 StGB n. F.). Mit ihr sollen nach der Vorstellung des Gesetzgebers vor allem solche erheblich rückfälligen Straftäter erfaßt werden, für die der gewöhnliche Strafvollzug keinen Resozialisierungserfolg verspricht, bei denen jedoch Aussicht besteht, daß sie durch eine gezielte sozialtherapeutische Behandlung (wieder) gemeinschaftsfähig werden55 • Diese Zielsetzung, die § 65 StGB n. F. in der Formulierung der einzelnen Eingriffsvoraussetzungen präzise zum Ausdruck bringt, legt die Vermutung nahe, daß der Anwendungsbereich der Bestimmung weit zu ziehen ist. Es läßt sich danach nicht ausschließen, daß ein erheblicher Teil der chronisch rückfälligen Straftäter mit schwerer Kriminalität, die nach dem geltenden Recht im normalen Strafvollzug untergebracht sind, künftig in die sozialtherapeutische Anstalt eingewiesen werden. Selbst in den Beratungen des Sonderausschusses wurde zeitweise die Befürchtung laut, durch die neue Maßregel könnte der Schwerpunkt der Behandlung der Rückfallkriminalität von der Strafe auf die sozialtherapeutische Anstalt verlagert werden56• Bei dieser Sachlage ergibt sich fast von selbst die Frage, ob nicht in der künftigen Praxis das eigentliche Feld des Vikariierens im Nebeneinander von Strafe und sozialtherapeutischer Anstalt liegt und ob die zuvor für die Maßregeln der psychiatrischen Krankenanstalt und der Entziehungsanstalt festgestellte kriminalpolitische Unbedenklichkeit der Vikariierungsregeln auch für dieses Institut gelten kann. Diese Frage läßt sich nur schwer und allenfalls annäherungsweise einer Beantwortung zuführen, weil verläßliche empirische Daten über ss Vgl. Prot. V, S. 2245 f.; 2. schriftlicher Bericht, a.a.O., S. 27 ff. 56 Prot. V, S. 2247, 2249.

150

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

den für die Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt in Betracht kommenden Täterkreis nicht vorliegen. Immerhin lassen sich eine Reihe von Anhaltspunkten finden, die einer Beantwortung näherbringen können; sie ergeben sich aus der Fassung der Gesetzesbestimmung, aus Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Vergleich mit ausländischen Vorbildern, denen der Gesetzgeber bei der Einführung der Maßregel im wesentlichen gefolgt ist. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die gegen die Einführung des vikariierenden Prinzips erhobenen kriminalpolitischen Bedenken57, so ergibt sich als erstes die Frage, inwieweit das Vikariieren von Strafe und sozialtherapeutischer Anstalt in der Praxis zu einer Begünstigung gerade der gefährlichen Rechtsbrecher führen könnte. Über den Täterkreis, der von der Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt betroffen wird, geben die §§ 65, 63 Abs. 2, 67 a StGB n. F. Aufschluß. Sie nennen, grob zusammengefaßt, 4 Hauptgruppen von Tätern, die für eine Einweisung in Betracht kommen: a) Die erwachsenen, chronischen Rückfalltäter mit schweren Persönlichkeitsstörungen, die nach Vollendung des 27. Lebensjahres wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindestens 2 Jahren verurteilt werden, wenn die Gefahr weiterer erheblicher Straffälligkeit besteht und sie therapierbar sind (§ 65 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 2). b) Die Sexualtäter, gegen die eine zeitige Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ausgesprochen wird und von denen weitere erhebliche einschlägige Taten zu befürchten sind; Therapierbarkeit ist auch hier Voraussetzung (§ 65 Abs. 1 Ziff. 2 Satz 2). c) Die mehrfach rückfälligen Jungtäter (bis zum 27. Lebensjahr}, die wegen einer Straftat eine zeitige Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr erhalten und bei denen die Gefahr besteht, daß sie sich zum Hangtäter entwickeln (§ 65 Abs. 2). d) Vermindert schuldfähige (und schuldunfähige) 58 Täter, Süchtige und Sicherungsverwahrte, für die eine Therapie in der sozialtherapeutischen Anstalt mehr Erfolg verspricht als die Unterbringung in den anderen Anstalten (§§ 63 Abs. 2, 65 Abs. 3, 67 a Abs. 1 und 2). I. Die Gefährlichkeit des Täterkreises

Mit dieser Aufstellung ist freilich unmittelbar nichts über die Art und das Ausmaß der von den Tätergruppen voraussichtlich begangenen 57 s. o. S. 57 ff.; hinsichtlich der dogmatischen Bedenken ergeben sich insoweit keine Besonderheiten. ss Die im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht interessieren.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung D. I.

151

Kriminalität und deren Gefährlichkeit ausgesagt. Doch lassen sich zumindest folgende Schlußfolgerungen ziehen: Ein Teil der in der Gruppe 1 aufgeführten Täter, sowie die meisten Täter der Gruppe 4, rekrutieren sich aus dem Kreis von Tätern, die nach dem gegenwärtigen Rechtszustand teils in der Heil- und Pflegeanstalt und teils in der Sicherungsverwahrung untergebracht sind, weil die an sich gebotene Unterbringung in einer- der sozialtherapeutischen Anstalt entsprechenden - besonderen Anstalt bisher nicht möglich wars9 • Auf diese Täter treffen die Feststellungen der hier vorgelegten Untersuchung und die aus Untersuchungen an Sicherungsverwahrten gewonnenen Ergebnisse zu: die meisten sind nicht gefährliche, sondern eher lästige Kleinkriminelle, sozial hilflose Personen60 • Dieser Befund dürfte auch auf eine nicht geringe Zahl der chronischen Rückfallverbrecher zutreffen, die sich derzeit noch in den Strafanstalten befinden, künftig jedoch in die sozialtherapeutische Anstalt eingewiesen werden: wie die kriminologische Forschung zeigt, besteht der Großteil der Rückfallverbrecher (auf die § 65 Abs. 1 Satz 1 zugeschnitten ist) aus haltlosen, asozialen Kleinkriminellen61 • Allenfalls ein kleiner Rest der chronischen Kriminellen, die voraussichtlich in die sozialtherapeutische Anstalt eingewiesen werden, dürfte demnach zu den eigentlichen Schwerkriminellen zu zählen sein. Wenn sich ihr zahlenmäßiger Umfang auch nicht umreißen läßt, so spricht doch nach den zuvor angestellten Erwägungen nichts dafür, daß es sich um eine besonders gewichtige Gruppe handeln 59 Für die Maßregeln der Heil- und Pflegeanstalt und der Trinkerheilanstalt fand sich im vorliegenden Material (insbesondere in den Anstaltsberichten) eine Reihe von Hinweisen, in denen die Notwendigkeit der Schaffung besonderer Anstalten für die Therapierbarkeit untergebrachter Pb. dargelegt wurde. Für die Sicherungsverwahrung ergibt sich dies aus der Zielsetzung des Gesetzes, nach der die Sozialtherapeutische Anstalt als letzter Versuch zur Resozialisierung vor allem dort zur Anwendung kommen soll, wo bisherige Vollzugsmaßnahmen nicht ausreichten, und deshalb ein nicht geringer Teil von chronischen Rückfalltätern in die Sicherungsverwahrung eingewiesen werden mußte. Auch in der gesamten Reformdiskussion war die Notwendigkeit einer Entlastung des überkommenen Maßregelvollzugs durch Schaffung einer besonderen Anstalt nahezu unbestritten (wenn dabei auch unterschiedliche Erwägungen eine Rolle spielten). Vgl. dazu Prot. V, S. 2245, 2252, 2274 f., 3187; ferner Ehrhardt, H., Reform, a.a.O., S. 668 ff.; Müller-Hadamik, a.a.O., S. 73 ff.; sowie die Stellungnahmen der Vertreter der medizinischen Gesellschaften zu Fragen der Strafrechtsreform, hrsg. v. Bundesministerium der Justiz, Bonn 1958 und dort insbes. Ziehen, S. 29 ff.; Villinger-Ehrhardt, S. 48 ff.; Mitscherlich, S. 86 f. so Vgl. die Ausführungen o. S. 124 ff. und zur Gefährlichkeit der in Sicherungsverwahrung Untergebrachten, insbes. Hellmer, der wohl als erster und immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen hat (vgl. etwa Gewohnheitsverbrecher, S. 26 f.; MoKrim 1960, S. 136 ff.; ZStW 73, S. 451 f., 456 f.; JZ 1963, S. 200; Kriminalistik 1966, S. 338); s. ferner W. Geisler, a.a.O., S. 86 ff., 93. 61 Vgl. Hellmer, ZStW 73, S. 451 f., 456 m. w . N.

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3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

wird, die aus diesem Grunde zu Bedenken gegen das Vikariieren Anlaß geben könnte. Die zweite Gruppe von Tätern, für die eine Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt zu erwarten ist, erfaßt unter dem Oberbegriff des Sexualtäters hauptsächlich die Gruppe der Pädophilen; sie dürfte das größte Kontingent der eingewiesenen Sexualtäter darstellen. Daneben werden einzelne sexuell-aggressive Täter treten (wegen Notzucht oder Gewaltunzucht verurteilte), sowie ein geringer Prozentsatz von Exhibitionisten62 • Auch bei dieser Gruppe dürfte sonach die Begehung schwerer und gefährlicher Taten die Ausnahme darstellen63 • Auch bei der Gruppe der Jungtäter, die in Gefahr stehen, sich zum Hangtäter zu entwickeln, dürfte nach den vorliegenden kriminologischen Erfahrungen das Auftreten von Schwerkriminalität nur in einer kleinen Zahl von Fällen gegeben sein. Zum einen folgt dies aus der Erkenntnis, daß die meisten der jugendlichen Neigungstäter64 (aus denen sich das Hangverbrecherturn überwiegend entwickelt65) "(asoziale) Kleinbetrüger und Kleindiebe (sind), die ständig rückfällig werden, jedoch stets nur ... geringwertige Gegenstände erbeuten" 66 • Zum anderen folgt dies auch aus dem Zweck der gesetzlichen Bestimmung, der darauf gerichtet ist, dem Rückfallverbrecher möglichst frühzeitig und vor der Zeitspanne, in der seine verbrecherische Energie am größten ist, entgegenzutreten. Der gefährliche Jungtäter, der schwere Straftaten begeht, dürfte sonach unter den Probanden der sozialtherapeutischen Anstalt die seltene Ausnahme sein. Wenn sonach sichere Angaben über den voraussichtlichen Probandenkreis der sozialtherapeutischen Anstalt auch nicht möglich sind und die zuvor getroffenen Feststellungen einen Rest von Zweifeln offenlassen müssen, so ergibt sich aus ihnen jedenfalls mit hinreichender Sicherheit, daß die Befürchtung, die sozialtherapeutische Anstalt könne zu einem Sammelbecken gerade des gefährlichen Teils der Rechtsbrecher werden, nicht gerechtfertigt ist. Diese Feststellung findet eine gewisse Stütze auch in den vorliegenden Berichten über die Zusammensetzung des Täterkreises in den holländischen und dänischen Anstalten, die dem deutschen Gesetzgeber bekanntlich als Vorbild für die Schaffung der sozialtherapeutischen Anstalt dienten67 • Zwar 62

Quensel, Kriminologisches Journal 2, (1970) Nr. 1, S. 7.

Zur Problematik der Gefährlichkeit der Pädophilie s.o. S. 137 f. Von diesem Begriff geht § 17 Abs. 2 JGG aus. 65 Hellmer, Jugendkriminalität, S. 62; vgl. zum Zusammenhang von Gewohnheitsverbrechertum und Frühkriminalität Frey, Rückfallsverbrecher, S. 96 f.; Schaffstein, a.a.O., S. 12 f. m. w. N. 66 Hellmer, Jugendkriminalität, S. 63. 67 2. Schrift!. Bericht, a.a.O., S. 27. 63

64

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung D. li.

153

deckt sich der Probandenkreis dieser Anstalt nicht völlig mit dem voraussichtlichen Probandenkreis der deutschen Anstalten, weil die Einweisungsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind68 ; doch dürfte der Kern der Untergebrachten sich im wesentlichen gleichen und kann so als ein- wenn auch grober- Vergleichsmaßstab herangezogen werden. Danach ergibt sich folgendes Bild: In der dänischen Anstalt Herstedvester setzen sich nach Angaben ihres Leiters (Stürup) die Insassen wie folgt zusammen: Es sind vielfach Rückfällige, die zu 60 Ofo Eigentums-, zu 25 bis 30 Ofo Sexual- und zu 10 Ofo Aggressionsdelikte begingen69 • Für die zweite dänische Anstalt, Horsens, nennt Widmer folgende zahlenmäßige Zusammensetzung der Insassen: "Zwei Drittel sind Diebe oder Betrüger, etwa 15 Ofo sind Sexualdelinquenten - vom Exhibitionisten bis zum Notzuchtstäter. Nur etwa 3 bis 4 Probanden (s. c.: von etwa 200 bis 250 Untergebrachten) sind wegen Totschlags verurteilt" 70 • Etwas ungünstiger ist das Bild bei den Insassen der Van der Hoeven-Kliniek in Holland: Danach sank in den letzten Jahren die Zahl der Eigentumsverbrecher von 70 Ofo auf unter 50 Ofo, die Zahl der Gewaltverbrecher stieg von zunächst 5 Ofo auf etwa 25 Ofo; daneben steht auch hier eine (wachsende) Anzahl von Sexualdelinquenten71.

II. Die Begünstigung des Täterkreises durch das Vikariieren Neben die Frage der Gefährlichkeit des von der Einweisung in die sozialtherapeutische Anstalt betroffenen Täterkreises tritt auch hier die Frage ihrer voraussichtlichen Begünstigung durch den Verzicht auf den Vollzug der ausgesprochenen Strafe und durch die möglicherweise erfolgende Aussetzung eines nach Anrechnung verbliebenen Strafrestes. Eine derartige Begünstigung wäre nach den früheren Darlegungen insbesondere dann anzunehmen, wenn die voraussichtliche Dauer der Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt wesentlich hinter der im Strafausspruch ausgewiesenen Strafzeit zurückbleiben würde72 • Inwieweit dies der Fall sein wird, läßt sich, wie 68 Vgl. § 17 Abs.l des dänischen StGB; Artikel 37 ff. des niederländischen StGB. 69 Stürup, Treating the Untreatable, S. 5. Hoeck-Gradenwitz gibt für Herstedvester folgende Zahlen: im Mai 1963 waren unter den Internierten 60 °/o Betrüger und Diebe, 2 Ofo Räuber, 21 % Sittlichkeitsverbrecher, 7 Ofo Brandstifter, 8 Ofo mit Körperverletzung, Totschlag und Totschlagsversuch (a.a.O., S. 338). 10 MoKrim 1963, S. 149, 151. 71 Roosenburg, a.a.O., S. 98. 12 Daß der Übelsgehalt der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt hinter der des Strafvollzugs kaum zurückbleiben dürfte, ist gemessen an den Vollzugsformen der ausländischen Vorbilder- ohne jeden

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3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

schon die Frage nach der Gefährlichkeit, nur andeutungsweise beantworten. Nach dem Gesetz darf die Höchstdauer der Unterbringung in der sozialtherapeutischen Anstalt 5 Jahre nicht überschreiten (§ 67 Abs. 1 Satz 1, 2. Alternative); diese Höchstfrist verlängert sich im Falle des Vikariierens um die Dauer der angerechneten Freiheitsstrafe (§ 67 d Abs. 1 Satz 2), so daß, wenn die Fünfjahresfrist für eine Resozialisierung nicht ausreicht, der Täter eine (je nach der Strafhöhe) erheblich längere Zeit in der sozialtherapeutischen Anstalt festgehalten werden kann. Die tatsächliche Behandlungsdauer dürfte von Fall zu Fall verschieden sein, doch kann man unter Heranziehung ausländischer und vereinzelt auch deutscher73 Erfahrungen von einer durchschnittlichen Unterbringungsdauer von 3 Jahren ausgehen74 • Berücksichtigt man, daß der im Normalstrafvollzug befindliche Täter, sofern spezialpräventive Erfordernisse nicht entgegenstehen, nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe entlassen werden kann, so bleiben für eine Begünstigung bei der Entlassung aus der sozialtherapeutischen Anstalt - legt man die durchschnittliche Unterbringungsdauer von 3 Jahren zugrunde - lediglich solche Täter übrig, die mit einer längeren als fünfjährigen Freiheitsstrafe belegt werden. Zwar ist deren voraussichtliche Zahl nicht bekannt; doch zeigt die Verurteilungsstatistik, daß die Zahl der zu einer längeren als fünfjährigen Freiheitsstrafe Verurteilten überhaupt relativ gering ist: So erhielten etwa im Jahre 1966 von den wegen Verbrechen und Vergehen zu zeitiger Zuchthausstrafe verurteilten erwachsenen Tätern lediglich 12,4 Ofo eine höhere als fünfjährige Strafe, unter den mit mehr als 2 Jahren Gefängnis belegten Tätern waren lediglich 1,7 Ofo, deren Strafe höher als 5 Jahre war75 • Da nicht anzunehmen ist, daß gerade die zu besonders langen Freiheitsstrafen verurteilten Täter das Gros der Insassen der sozialtherapeutischen Anstalt darstellen werden76, läßt sich aus den angeführten Zahlenwerten ohne weiteres der Schluß ziehen, daß eine aus der Unterbringungsdauer sich ergebende zeitliche Besserstellung gegenüber einem sonst stattfindenden Strafvollzug nur bei einer kleinen Zahl von Untergebrachten erfolgen wird. Zweifel anzunehmen. Vgl. dazu Prot. V, S. 2272; v. Rechenberg, a.a.O., S. 72;

Mauch, Sozialtherapie, a.a.O., S. 102 ff., 115 ff.

73 Eine sog. Psychopathen-Abteilung befindet sich bereits seit 1954 im Zentralkrankenhaus für den Baden-Württembergischen Strafvollzug in Hohenasperg; s. dazu Mauch, Sozialtherapie, a.a.O., S. 88. 74 Horstkotte, Prot. V, S. 2253, 2297; Mauch, Prot. V, S. 2293; NoH, Empfehlung, a.a.O., S. 34. 75 Die Zahlenwerte sind aus den Angaben der vom Statistischen Bundesamt Wiesbaden herausgegebenen Strafverfolgungsstatistik (Reihe 9 der Fachserie A, Bevölkerung und Kultur 1966), S. 71, errechnet. 76 Wie zuvor dargelegt, wird sich der wohl größte Teil der Untergebrachten aus kleinkriminellen Rückfalltätern zusammensetzen.

1. Abschnitt: Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung D. III.

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Nicht zuletzt wird es in Fällen schwerer Kriminalität häufig auch aus therapeutischen Gründen angebracht sein, die Zeit des Maßregelvollzugs so zu bemessen, daß sie in einer gewissen Relation zur Schwere der Tat steht und der Untergebrachte nicht das Gefühl hat, gegenüber anderen wesentlich bevorzugt zu werden77 • Hinzuweisen bleibt schließlich im vorliegenden Zusammenhang auf die Bestimmung des § 67 d Abs. 2 Satz 2, die im Falle einer vor Ablauf der Höchstfrist erfolgenden Entlassung aus der Anstalt neben der Aussetzung des Maßregelrestes den Eintritt von Führungsaufsicht zwingend vorsieht. Der Untergebrachte bleibt somit nach seiner Entlassung für eine weitere Zeitspanne78 unter der besonderen Aufsicht einer staatlichen Stelle und erlangt erst danach seine volle Freiheit zurück. Auch dieser Umstand verdient bei der Frage nach einer möglichen Begünstigung der im Maßregelvollzug Untergebrachten gegenüber dem bloßen, durch vorzeitige Entlassung beendeten, Vollzug einer Strafe durchaus Beachtung. 111. Das Ergebnis

Steht sonach zu erwarten, daß das Vikariieren von Strafe und sozialtherapeutischer Anstalt nur in einer geringen Zahl von Fällen zu einer Besserstellung der in die Anstalt eingewiesenen und zugleich als gefährlich zu kennzeichnenden Straftäter führen wird, so bleibt damit auch für diesen Bereich des Vikariierens kaum noch Raum für die Befürchtung, unter der Geltung des Vikariierungsprinzips könnte die Rechtstreue der Bevölkerung ins Wanken geraten, weil es ihr an Verständnis für diese Art der Sanktionsgestaltung fehlen würde. Dies um so weniger, als nach den vorliegenden Schätzungen nur etwa 8 bis 10 Dfo aller derzeit in den Strafanstalten einsitzenden Täter die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt erfüllen dürften79 , der Strafvollzug somit in dem ganz überwiegenden Teil seines bisherigen Anwendungsbereichs seine dominierende Stellung behält und eine Verlagerung des Schwerpunktes der Verbrechensbekämpfung von der Strafe auf die Maßregel in keiner Weise stattfindet80• Im Gesamtbild der jährlichen Verurteilungen zu 77 So zutreffend Horstkotte, Prot. V, S . 2328; vgl. dazu auch Stürup in NS 4, S. 199 f. aus der dänischen und Roosenburg, a.a.O., S. 98 aus der holländischen Praxis. 78 Gemäߧ 68 c StGB n. F. i. d. R. 2-5 Jahre. 79 Vgl. Mauch, Sozialtherapie, a.a.O., S. 167 und die für das Land Nordrhein-Westfalen erstellte Berechnung von Hon, Prot. V, S. 3182. so Auch nicht bei der Rückfallkriminalität, wie die Berechnungen von Noll, Empfehlung, a.a.O., S. 32 f. zeigen, die zudem auf der wesentlich weitergehenden Vorschrift des § 69 AE beruhen.

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3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

Freiheitsstrafe dürften jene Täter, die durch das Vikariieren von Strafe und sozialtherapeutischer Anstalt bessergestellt sein werden als beim bloßen Vollzug von Strafe, allenfalls als verschwindend kleine Gruppe in Erscheinung treten. Daß sie für das Rechtsempfinden der Allgemeinheit eine ins Gewicht fallende Belastung darstellen, läßt sich mit rationalen Argumenten kaum begründen81 •

s1 Die Einwände sind hier im Grunde dieselben, wie sie gegen die Ausdehnung der Strafaussetzung zur Bewährung ins Feld geführt wurden; daß die dort befürchtete "Schwächung der Strafrechtspflege" in der kriminologischen Erfahrung keine Stütze findet, hat H. Kaufmann u. a. durch einen Vergleich mit der englischen Praxis überzeugend dargelegt (s. Strafaussetzung, a.a.O., S. 61 ff.). Auch im Bereich des Vikariierens erscheinen jene Befürchtungen mehr der Sphäre der gefühlsbestimmten Spekulation als der Ebene rationaler, an kriminologischen Fakten orientierter Argumentation zu entstammen. Von jenen Ländern, in denen sozialtherapeutische Anstalten seit langem bestehen, sind negative Reaktionen aus der Bevölkerung jedenfalls nicht bekannt geworden (so für Holland ausdrücklich Roosenburg in einer Mitteilung an den Sonderausschuß; vgl. Prot. V, S. 2273).

Zweiter Abschnitt

Die voraussichtliche Bewährung der Vikariierungsregeln in der richterlichen Praxis Bereits an früherer Stelle wurde auf eine Reihe offener Fragen hingewiesen, die sich aus der Einzelausgestaltung des Vikariierungsgrundsatzes in den Absätzen 2-5 des § 67 für die richterliche Praxis ergeben82. Von der Lösung dieser Fragen wird es weitgehend abhängen, ob sich das neue Institut in der Rechtswirklichkeit bewährt. Die im folgenden zu diesem Fragenbereich angestellten Erwägungen sollen keine erschöpfende Erörterung des Gegenstandes darstellen; sie sollen lediglich den Weg aufzeigen, auf dem eine für die Praxis brauchbare Lösung möglich erscheint.

A. Die Entscheidung über das Vikariieren im Erkenntnisverfahren I. Das Problem der Strafzumessung Schon nach dem bisherigen Recht ergab sich in den Fällen einer zweispurigen Verurteilung für die Bestimmung der Strafhöhe die Frage, inwieweit die Tatsache der gleichzeitigen Anordnung von Strafe und Maßregel im Strafmaß Berücksichtigung finden durfte oder sogar mußte. Schrifttum83 und Rechtsprechung84 ließen eine solche Möglichkeit zwar im allgemeinen zu, setzten sich mit ihr jedoch nicht näher auseinander und gaben dafür auch keine dogmatisch fundierte Begründung. Meist blieb es bei einem allgemeinen Hinweis auf den der Strafe innewohnenden Präventionszweck einerseits und die "faktische Straf-Sühne-Wirkung" 85 der Maßregeln andererseits. Auch Bruns, der 82 s. o. s. 59. 83 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 252 ff.; Schönke-Schröder, § 13 RdNr. 62, 63; Zipf, a.a.O., S. 132 f. 84 Vgl. RGHRR 1940, Nr. 571; RGSt 68, S. 294 (jeweils zu § 42 b StGB); einschränkend neuerdings BGH NJW 1971, S. 61 f. In der neueren Rechtsprechung wurde die Wechselwirkung von Strafe und Maßregel häufiger im Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 42 m) angesprochen; vgl. etwa BayObLG NJW 1957, S. 511 und 1966, S. 678, sowie OLG Hamm NJW 1957, S. 808. ss Bruns, a.a.O., S. 255.

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3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

sich, soweit ersichtlich, bisher als einziger eingehender mit der hier auftretenden Problematik auseinandergesetzt hat, läßt ausdrücklich offen, wie dieses "praktisch . . . einleuchtende Ergebnis (sc., daß die individuelle Strafwirkung der Maßregel bei der Bemessung der Strafe in Rechnung zu stellen sei) dogmatisch sauber zu begründen" ist86• Eine solche "dogmatisch saubere" Begründung ist auch von der vorliegenden Untersuchung nicht zu erwarten; sie müßte, um auch nur einigermaßen fundiert zu sein, zu tief in die allgemeine Dogmatik der Strafzumessungslehre eindringen, als dies von der Aufgabenstellung der Arbeit her möglich ist. Die aus der Wechselwirkung von Strafe und Maßregel sich ergebende Problematik für die Strafzumessung ist ja keine Folge des Vikariierungsprinzips; sie hat ihren Grund bereits in der dualistischen Struktur des geltenden Strafrechts. Im folgenden soll deshalb lediglich der eigene Standpunkt kurz skizziert und danach gefragt werden, welche Folgen sich aus dem Vikariieren für die Praxis der Strafzumessung ergeben. Als Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage bietet sich die Strafzumessungsregel des § 46 Abs. 1 StGB n. F. an. Sie enthält den im ersten Teil der Arbeit näher dargelegten87 Grundsatz, daß die Schuld als "Grundlage der Strafzumessung" zwar die Strafe in ihrer Höhe begrenzt, daß sie jedoch nicht dazu zwingt, den durch sie gezogenen Rahmen in jedem Falle auszuschöpfen; insbesondere aus Abs. 1 Satz 2 folgt die Möglichkeit, das an der Schuldhöhe ausgerichtete Strafmaß zu unterschreiten, wenn spezialpräventive Erwägungen dies nahelegen. Eine Untergrenze der Strafe läßt sich aus § 46 StGB nicht unmittelbar ableiten. Eine solche ergibt sich - wie früher gezeigt - auch nicht aus dem Schuldprinzip; vielmehr sind es generalpräventive Zweckerwägungen, die jene grenzsetzende Funktion wahrnehmen88• Für die Strafzumessung lassen sich die aus diesem allgemeinen Grundsatz abzuleitenden Folgerungen zunächst weiter dahin konkretisieren, daß die der Schuld entsprechende Strafe in der Regel als diejenige angesehen werden kann, die der generalpräventiven Aufgabe des Strafrechts in dem positiven Sinne einer Bewährung der Rechtsordnung und einer Festigung der Rechtstreue der Bevölkerung am ehesten gerecht wird, weil sie durch eine gleichmäßige und konsequente Strafzumessungspraxis die Geltung der Rechtsordnung in der Gemeinschaft a.a.O., S. 255. s. 0. s. 22 ff. 88 s. dazu die Ausführungen o. S. 25 ff. sowie das dort zit. Schrifttum; vgl. speziell zur grenzsetzenden Funktion der Generalprävention bei der Strafzumessung HenkeL, a.a.O., S. 46 ff.; Horstkotte, JZ 1970, S.124 f.; GrünwaLd, ZStW 80, S. 94 ff.; krit. GaUas, ZStW 80, S. 5; Jescheck, ZStW 80, S. 61; Lackner, JZ 1967, S. 515 f. 86

87

2. Abschnitt: Bewährung der Vikariierungsregeln in der Praxis A. I. 159 am eindrucksvollsten dokumentiert. Zugleich folgt daraus jedoch weiter, daß dort, wo das der Schuldgröße entsprechende Strafmaß in seiner Höhe mit spezialpräventiven Erfordernissen kollidiert, diese Erfordernisse jedenfalls insoweit strafeinschränkend zur Geltung gebracht werden können, als dadurch die Interessen der Generalprävention in dem zuvor genannten Sinne nicht beeinträchtigt werden89 • Damit ist dem Richter zwar für die Lösung einer im konkreten Fall auftretenden Antinomie der Strafzwecke nur ein sehr allgemeiner Anhaltspunkt gegeben; zugleich ist mit ihm jedoch der Rahmen abgesteckt, in dem sich die Betätigung des richterlichen Ermessens bei der Festlegung der endgültigen Strafhöhe zu bewegen hat. Die Situation der Strafzumessung verändert sich im Falle einer zweispurigen Reaktion grundlegend dadurch, daß, wenn nicht der gesamte, so doch ein sehr wesentlicher Teil der spezialpräventiven Zwecksetzung der Strafe durch die Maßregel übernommen wird. Im Hinblick auf das Ziel, den süchtigen oder kranken Täter zu resozialisieren, hat die Strafe gegenüber der Maßregel kaum noch eine Funktion. Die Ersetzung des Strafvollzugs durch den Vollzug der Maßregel im vikariierenden System zieht die unumgängliche Folgerung aus dieser Erkenntnis. Teilen sich sonach bei der zweispurigen Reaktion Strafe und Maßregel gemeinsam in die sonst von der Strafe allein verfolgten Zwecksetzungen, so ergibt sich von selbst die Frage, ob und inwieweit diese Funktionsteilung in der Bemessung der Strafhöhe zu berücksichtigen ist. Unter der Geltung des Grundsatzes des kumulativen Vollzugs beider Sanktionsmittel hatten Schrifttum und Rechtsprechung, wie gezeigt, vereinzelt eine strafmindernde Berücksichtigung zugelassen. Das Strafmaß war hier im wesentlichen gleichbedeutend mit der Dauer des Strafvollzugs, der durch die Unzulänglichkeit seiner spezialpräven·· tiven Möglichkeiten w eithin als sinnlos gelten und zu einem Mittel reiner Repression w erden mußte. Zugleich ergab sich durch den Vollzug der Maßregel eine zusätzliche - faktische - Straf-Sühne-Wirkung und damit ein erhöhter repressiver Gehalt der gesamten Sanktionsentscheidung. Dem Richter bot sich bei dieser Sachlage durch eine Herabsetzung der an sich schuldangemessenen Strafe der Ausweg, die aus dem kumulativen Vollzug von Strafe und Maßregel sich ergebende faktische Doppelbestrafung des behandlungsbedürftigen Straftäters wenigstens geringfügig zu mildern. Auf die Schwierigkeit, dieses Vorgehen dogmatisch richtig zu begründen, braucht hier nicht eingegangen zu werden. 89 Gegen eine generelle Ermächtigung des Richters zur Unterschreitung des schuldangemessenen Strafmaßes neuerdings mit beachtlichen Argumenten Henkel, a.a.O., S. 46 ff.

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3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

Unter der Geltung des Vikariierungsprinzips entfällt mit der Ersetzung des Strafvollzugs durch den Vollzug der Maßregel einmal der zusätzliche Übelsgehalt des kumulativen Vollzugs; zum anderen geht der normalerweise im Strafvollzug sich realisierende Strafzweck der Spezialprävention nunmehr faktisch fast völlig in der Maßregel auf90 • Die Strafe wird in ihrer Funktion weitgehend reduziert auf den formalen Ausgleich der verletzten Rechtsordnung und auf die- im Strafmaß zum Ausdruck zu bringende - sozialethische Mißbilligung des Täters. Für die Strafzumessung bietet sich hier die Möglichkeit, die Antinomie der Strafzwecke in nahezu idealer Weise zu lösen: durch die strikte Ausrichtung der Strafhöhe an der Schuldgröße wird die generalpräventive Zweckbestimmung der Strafe, ihre Ausgleichs- und wenn man so will, ihre Sühnefunktion in optimaler Weise verwirklicht, ohne mit dem spezialpräventiven Anliegen zu kollidieren. Anders als im Falle einer bloß strafenden Reaktion kann sich hier die Strafhöhe nicht nachteilig auf die Resozialisierung des Täters auswirken: die Ersetzung des Strafvollzugs durch den Maßregelvollzug und dessen strikte Ausrichtung auf die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft macht den Resozialisierungsvorgang von der Strafhöhe unabhängig und befreit ihn damit zugleich von deren möglichen negativen Einwirkungen. Für die Strafzumessung ergibt sich sonach in den Fällen einer zweispurigen Reaktion unter der Geltung des Vikariierungsprinzips lediglich die Aufgabe, die dem Schuldmaß entsprechende Strafhöhe festzusetzen. Eine Notwendigkeit, zu erwägen, ob das auf diese Weise ermittelte Strafmaß aus Resozialisierungsgründen unterschritten werden kann, besteht nicht91 • II. Die Möglichkeit der Durchbrechung des Vikariierungsgrundsatzes (§ 67 Abs. 2) Als einzige Möglichkeit einer Durchbrechung des Vikariierungsgrundsatzes hat der Gesetzgeber den Fall vorgesehen, daß der Zweck 9o Die spezialpräventive Bedeutung des Strafausspruchs wird damit freilich nicht in Abrede gestellt. 9t Die hier aufgezeigte Problematik besteht in ähnlicher Weise bei der Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. dazu Henkel, a.a.O., S. 49 Anm. 91 und Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 31); sie ergibt sich aber auch in den Fällen, in denen ein Resozialisierungsbedürfnis überhaupt nicht besteht. In diesen letzteren Fällen bliebe zwar die auch für die Fälle der zweispurigen Reaktion denkbare Möglichkeit, lediglich die im Gesetz vorgesehene Mindeststrafe zu verhängen, doch wird diese Möglichkeit im Schrifttum bisher mit Recht nicht ernsthaft vertreten. Vielmehr wird gerade hierzu im jüngsten Schrifttum eine Lösung angeboten, die der im Text vertretenen Auffassung nahekommt Vgl. Henkel, a.a.O., S. 46 ff.; Horstkotte, JZ 1970, S.l24 f.; Grünwald, ZStW 80, S. 94 ff.; im Grundsatz ebenso Jescheck, StrafR, Allg. T., S. 562 (vgl. jedoch ZStW 80, S. 61).

2. Abschnitt: Bewährung der Vikariierungsregeln in der Praxis A. II. 161

der Maßregel, die "Besserung" des Täters, durch einen dem Maßregelvollzug vorausgehenden Vollzug der Strafe leichter erreicht wird. Wie die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, hatte der Gesetzgeber dabei vor allem den Fall im Auge, daß bei einem Täter nicht der für eine erfolgreiche Maßregelbehandlung teilweise für erforderlich erachtete "Leidensdruck" vorhanden sei; dieser solle durch den Strafvollzug erzeugt werden92• Auch bei einem "psychisch-labilen Täter" könne es angebracht sein, ihn "den ganzen Ernst der Strafe" spüren zu lassen, um eine anhaltende Besserung zu erzielen93. Auch im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform war man sich darüber einig, daß diese Ausnahmeregelung "keine sehr große Bedeutung haben" 94 und allenfalls bei einem "kleinen Prozentsatz" von Tätern zur Anwendung kommen dürfte 9~;. Andere als die im Sonderausschuß genannten Fälle lassen sich ohnehin kaum denken; der zunächst ebenfalls ins Auge gefaßte, im Gesetzgebungsvorschlag ausdrücklich genannte Fall, daß dort, wo es nach Ablauf des Maßregelvollzugs noch zu einem Vollzug von Strafe komme, weil die Voraussetzungen einer Aussetzung des Strafrestes nicht gegeben seien, die Strafe zuerst vollzogen werden müsse, um den durch die Maßregel erzielten Resozialisierungserfolg nicht zu gefährden96, wurde später aus der Vorschrift wieder herausgenommen. Der Richter wäre überfordert, würde man ihm im Strafverfahren eine Entscheidung darüber aufbürden, inwieweit nach dem Vollzug der Maßregel die Voraussetzungen einer Aussetzung des Strafrestes gegeben sein werden. Wird so die Ausnahmeregelung des § 67 Abs. 2 nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch kaum praktische Bedeutung erlangen, so muß die Weite ihrer Formulierung doch Bedenken erregen. Sie eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, vom Vikarüerungsgrundsatz abzugehen, ohne den damit eröffneten Ermessensspielraum eindeutig zu umgrenzen oder dem Richter wenigstens durch eine beispielhafte Aufzählung möglicher Fallkonstellationen brauchbare Richtlinien für die Handhabung der Vorschrift an die Hand zu geben. Die Gefahr, daß die Entscheidung über den ausnahmsweisen Vorwegvollzug der Strafe in weitem Umfange von subjektiven Erwägungen des einzelnen Richters beeinflußt wird, ist nicht gering. Auch im Sonderausschuß und namentlich unter den dort gehörten psychiatrischen Sachverständigen waren die Auffassungen über die Notwendigkeit und die Geeignetheit des Strafvollzugs als Voraussetzung für einen erfolgreichen Maßregel92 93 94 95 96

Prot. V, S. 2294; 2. schriftl. Bericht, a.a.O., S. 31. Prot. V, S. 332, 361, 363. Prot. V, s. 339; 2318. Prot. V, S. 340. Vgl. Prot. V, S. 332, 379.

11 Marquardt

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3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

vollzug durchaus kontrovers97 ; wissenschaftlich abgesicherte und dadurch überzeugende Gründe für einen aus Resozialisierungsgründen erforderlichen Vorwegvollzug der Strafe wurden nicht genannt. Um so bedenklicher erscheint es, dieser Unsicherheit in einer generalklauselartigen Formulierung für die Rechtsanwendung Raum zu geben. Soll hier nicht das vikariierende Prinzip praktisch aus den Angeln gehoben werden, so kann dies nur durch eine äußerst restriktive Auslegung der Ausnahmeregel erreicht werden: Nur wenn eindeutig feststeht, daß auch im Maßregelvollzug ein für erforderlich gehaltener Leidensdruck (etwa durch die Unsicherheit der Vollzugsdauer oder durch die Isolierung von den übrigen Anstaltsinsassen) nicht erzeugt werden kann, oder daß sich der unter therapeutischen Gesichtspunkten notwendige Ernst der ausgesprochenen Strafe im Maßregelvollzug nicht vermitteln läßt, und wenn zugleich ebenso eindeutig feststeht, daß diese Zielsetzungen durch den vorherigen Vollzug der Strafe erfüllt werden können, ist ein Abgehen von dem in Absatz 1 enthaltenen Grundsatz des Vikariierens für zulässig zu erachten. Für eine solche Auslegung sprechen nicht nur Sinn und Zweck des § 67, demzufolge der Vollzug der Maßregel das für die Resozialisierung der betroffenen Tätergruppen am besten geeignete Mittel ist. Auch praktische Erwägungen legen ein solches Vorgehen nahe: Ob der Zweck der Maßregel durch deren alleinigen Vollzug erreicht werden kann, wird sich außerhalb ihres Vollzugs kaum jemals sicher entscheiden lassen. Stets wird es auf einen entsprechenden Versuch ankommen. Sollte sich nachträglich herausstellen, daß der Vollzug der Strafe aus Resozialisierungsgründen erforderlich ist, so kann der Vollstreckungsrichter die entsprechende Entscheidung nach § 67 Abs. 3 ohne weiteres erlassen. Von der Möglichkeit des § 67 Abs. 2, für deren gesetzgeberische Regelung ein praktisches Bedürfnis nur schwerlich anerkannt werden kann, sollte demnach in der Praxis, wenn überhaupt, nur in seltenen Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden.

B. Die Entscheidung über das Vikariieren im Vollstreckungsverfahren I. Die Regelung des § 67 Abs. 3 und 5 im allgemeinen Durch die Absätze 3 und 5 des § 67 wird ein wesentlicher Teil der Entscheidung über die praktische Verwirklichung des Vikariierungs97 Vgl. etwa Beyer, Prot. IV, S . 806 ff., 813 einerseits, Mauch, Prot. V, S. 2291, 2293 f. andererseits und die jeweils anschließend erfolgten Meinungsäußerungen der einzelnen Ausschußmitglieder (v. a. Prot. V, S . 2293 ff., 2318 ff.).

2. Abschnitt: Bewährung der Vikariierungsregeln in der Praxis B. li. 163

grundsatzes in die Hand des Vollstreckungsrichters gelegt. Er hat mit der Möglichkeit, die Reihenfolge des Vollzugs zu bestimmen, nicht nur dieselbe Machtfülle wie der Spruchrichter; er bestimmt darüber hinaus durch die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes und über die Vollzugsform, in der ein nicht ausgesetzter Strafrest zu vollziehen ist, weitgehend auch den tatsächlichen Umfang des Vikariierens. Die gesetzliche Regelung ist auch hier gekennzeichnet durch die Gewährung eines sehr weitgehenden Ermessensspielraums für alle dem Vollstreckungsrichter obliegenden Entscheidungen. Sie sind bis auf die obligatorische Anrechnung des Maßregelvollzugs auf die Strafe98 fakultativ und in ihrem Inhalt im wesentlichen davon abhängig, ob "Umstände in der Person des Verurteilten" eine bestimmte Art des Vorgehens "angezeigt erscheinen lassen" (Abs. 3, Abs. 5). Diese Weite des Ermessensspielraums erscheint hier freilich nicht in dem Maße bedenklich, wie dies für die Bestimmung des Abs. 2 anzunehmen war. Anders als der Spruchrichter hat der Vollstreckungsrichter die Möglichkeit, die im Vollzug zutage getretene Eigenart des jeweiligen Probanden, ganz besonders jedoch die Wirkung des Vollzugs selbst zu berücksichtigen und so eine von subjektiven Momenten freie, an sachlichen Kriterien orientierte Entscheidung zu treffen. Es spricht von der Sache her vieles dafür, daß sich in der künftigen Praxis hier sehr rasch eine über den Einzelfall hinausführende Kasuistik bildet und daß das Gesetz auf dieS€ Weise die für eine sichere und gleichmäßige Handhabung erwünschte Konkretisierung erfährt. Darüber hinaus dürfte eine entsprechende Konkretisierung auch durch das künftige Vollzugsgesetz herbeigeführt werden.

II. Einzelne Zweifelsfragen Eine Reihe weiterer Zweifelsfragen, die der Wortlaut der Vorschrift offenläßt, lassen sich im Wege der Auslegung beheben: a) Eine erste derartige Frage ergibt sich bei der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts über die Reihenfolge des Vollzugs (§ 67 Abs. 3). Hier bleibt nach dem Wortlaut unklar, ob ein zur Änderung der Vollzugsform berechtigender "Umstand in der Person des Verurteilten" auch darin zu sehen ist, daß ein Proband sich im Vollzug als renitent erweist und dadurch seine eigene Behandlung verhindert oder den Gesamtvollzug belastet oder erschwert. Erhebliche Bedeutung kommt dieser Frage vor allem für die Möglichkeit einer Rückverweisung aus dem Maßregelvollzug in den Strafvollzug zu. Geht man von der in 98 Sie erfolgt automatisch und bedarf keiner besonderen Anordnung durch das Vollstreckungsgericht Vgl. 2. schriftl. Bericht, a.a.O., S. 32.

11*

164

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

§ 67 Abs. 1 enthaltenen Grundentscheidung des Gesetzgebers aus, daß die Resozialisierung des behandlungsbedürftigen Straftäters den Vorrang vor allen anderen Sanktionszwecken haben soll, so ergibt sich daraus auch für den Vollzug die Notwendigkeit einer konsequenten Ausrichtung auf dieses Ziel. Widersetzt sich ein Täter der für ihn erforderlichen Behandlung, so kann dieser Umstand allein nicht zu einer Rückverweisung in den Strafvollzug führen. Nur für den Fall, daß der Vollzug der Strafe (oder einer anderen Maßregel) für die Resozialisierung des Täters besser geeignet erscheint, ist eine Überweisung in den entsprechenden Vollzug zulässig. Etwas anderes gilt lediglich für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: stellt sich hier bei einem Probanden nachträglich heraus, daß eine Entziehungskur aussichtslos ist, so kann er in den Strafvollzug überwiesen werden. Zu diesem Ergebnis führt eine entsprechende Anwendung der Vorschrift des § 64 Abs. 2 StGB n. F., die bestimmt, daß eine Maßregelanordnung unterbleibt, wenn sie von vornherein aussichtslos erscheint. Zeigt sich die Aussichtslosigkeit erst später, so kann dem durch eine Vollzugsänderung Rechnung getragen werden.

b) Eine weitere Frage ergibt sich im Hinblick auf die Aussetzung des durch die Anrechnung der Maßregeldauer nicht getilgten Strafrestes. Das Gesetz läßt eine solche Aussetzung unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 auch dann zu, wenn durch die Anrechnung erst weniger als zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Da §57 jedoch, wie sich aus Abs. 2 ergibt, eine Aussetzung in jedem Falle erst nach Verbüßung von mindestens der Hälfte der Strafe vorsieht, erhebt sich die Frage, ob diese Grenze auch für die Aussetzung des Strafrestes nach § 67 Abs. 5 Satz 1 einzuhalten ist. Diese Frage ist zu verneinen. Der Zweck der Regelung des § 67 Abs. 5 Satz 1 geht - wie sich vor allem aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt99 - eindeutig dahin, auch die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes nach spezialpräventiven Erfordernissen zu treffen. Die Höhe des nicht erledigten Strafrestes allein sollte eine solche Aussetzung deshalb in keinem Falle verhindern. Dementsprechend wurde eine im Alternativentwurf vorgeschlagene Lösung, die eine Entlassung des Verurteilten aus dem Maßregelvollzug grundsätzlich erst nach Tilgung der Hälfte der Strafe zulassen wollte, im Sonderausschuß unter Hinweis auf ihren Widerspruch zum Resozialisierungsgrundsatz abgelehntl 00 • Eine andere, bisher nicht beantwortete Frage ist es allerdings, ob bei der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes auch die 99 Vgl. Prot. V, S. 2445 f., 3247 ff. und 2. schriftl. Bericht, a.a.O., S. 32; ferner Horstkotte, JZ 1970, S. 123. 1oo Prot. V, s. 3248 f.

2. Abschnitt: Bewährung der Vikariierungsregeln in der Praxis B. II. 165 Schwere der begangenen Straftat bzw. das Ausmaß der Schuld des Täters eine Rolle spielen darf oder ob auch insoweit allein spezialpräventive Gesichtspunkte den Ausschlag geben sollen. Ließe man eine Berücksichtigung von Tatschwere und Schuldgröße zu, so wäre damit für die wenigen Konfliktsfälle, in denen die Strafhöhe erheblich über der angerechneten Maßregeldauer liegt, ein befriedigender Ausgleich gefunden. Ein derartiges Vorgehen läßt sich jedoch schwerlich mit dem bereits mehrfach zitierten Zweck der Vorschrift vereinbaren; dieser ist auf die möglichst kompromißlose Durchsetzung der spezialpräventiven Erfordernisse des Einzelfalles ausgerichtet. Hätte der Gesetzgeber hier von dieser Grundentscheidung abgehen wollen, so hätte er dies durch eine entsprechende Formulierung zweifelsfrei zum Ausdruck bringen müssen. Zwar ist die Aussetzung des Strafrestes nach § 67 Abs. 5 im Gegensatz zu § 57 Abs. 1 Satz 1 nicht obligatorisch vorgeschrieben; auch sieht §57 Abs. 1 Satz 2 vor, daß bei der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe die "Umstände der Tat" zu berücksichtigen sind. Durch diese letztere Formulierung sollte jedoch nicht etwa Erwägungen generalpräventiver Art oder Sühnegesichtspunkten für die Entscheidung Raum gegeben werden, vielmehr sollte der Richter durch sie darauf verwiesen werden, daß für die von ihm zu treffende Prognoseentscheidung auch die Umstände der Tat von Bedeutung sein können. Soweit im Schrifttum bereits Stellungnahmen zu der Neufassung des ursprünglichen § 26 StGB (= §57 n. F.) vorliegen, wird überwiegend die rein spezialpräventive Ausrichtung dieser Vorschrift hervorgehoben101 • Ergibt sich sonach aus dem Verweis auf §57 Abs. 1 nicht die Zulässigkeit einer Berücksichtigung von Schuldgröße oder Tatschwere, so muß mangels ausdrücklicher gegenteiliger Bestimmung in .§ 67 Abs. 5 auch für die nach dieser Vorschrift zu treffende Ermessensentscheidung davon ausgegangen werden, daß andere als spezialpräventive Erwägungen eine Aussetzung des durch die Maßregelanrechnung nicht erledigten Strafrestes nicht hindern können102 • Nur eine solche Auslegung wird der in § 67 zum Ausdruck gekommenen spezialpräventiven Grundentscheidung des Gesetzgebers gerecht. 1o1 So von Schwarz-Dreher, § 26 Anm. 4 Schönke-Schröder, StGB, § 26, RdNr. 19.

A; Sturm, JZ 1970, S. 87. a. A.

1o2 Aus den Erörterungen des Sonderausschusses läßt sich allerdings entnehmen, daß man insoweit von einem gegenteiligen Standpunkt ausging (vgl. etwa die Ausführungen von Müller-Emmert in Prot. V, S. 3248; nicht eindeutig insoweit 2. schriftl. Bericht, a.a.O., S. 32). Dieser Standpunkt kommt jedoch im Wortlaut der Vorschrift nicht zum Ausdruck. Da es sich insoweit um eine Ausnahme von der generellen Entscheidung des Gesetzgebers für den absoluten Vorrang spezialpräventiver Gesichtspunkte handelt, hätte dies im Gesetz selbst ausdrücklich bestimmt werden müssen.

166

3. Teil: Das Untersuchungsergebnis

Obwohl die soeben behandelte Frage nach den Ergebnissen der empirischen Erhebung nur in wenigen Ausnahmefällen zur Entscheidung kommen dürfte, empfiehlt sich wegen der grundsätzlichen Bedeutung doch eine ausdrückliche Klarstellung in dem in Aussicht genommenen Vollzugsgesetz103 • c) Offengelassen ist in § 67 Abs. 5 Satz 2 schließlich die Frage, wonach sich im Falle der Nichtaussetzung eines Strafrestes die spätere Entlassung des Verurteilten aus dem Vollzug bestimmt. Soll hier die Regelung des §57 StGB n. F. eingreifen oder soll es auch insoweit bei dem in § 67 Abs. 5 Satz 1 vorgesehenen Verfahren verbleiben? Diese Frage ist vor allem deshalb von erheblicher Bedeutung, weil im ersten Falle eine Aussetzung regelmäßig erst nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe erfolgen könnte, während diese Zeitgrenze im Verfahren nach § 67 Abs. 5 Satz 1 keine Rolle spielt. Eine strikte Bindung der Entlassung an die Vorschrift des § 57 würde hier zu dem wenig überzeugenden Ergebnis führen, daß zwar nach § 67 Abs. 5 Satz 1 für die Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe ebenso wie für die Auswahl der Vollzugsart im Falle der Nichtaussetzung nach § 67 Abs. 5 Satz 2, 2. Halbsatz, ausschließlich spezialpräventive Erwägungen ("Gründe in der Person des Verurteilten") maßgebend sein können, daß jedoch der Zeitpunkt der Entlassung von generalpräventiven Rücksichten (oder Sühnegesichtspunkten) bestimmt würde. Dieser Widerspruch kann nur dadurch vermieden werden, daß die in § 67 Abs. 5 Satz 1 erfolgte Befreiung des Vollstreckungsrichters von der Zeitgrenze des §57 auf alle die Vollstreckung der Reststrafe betreffenden Entscheidungen ausgedehnt wird. § 67 Abs. 5 läßt eine solche Auslegung seines Inhalts ohne weiteres zu. Auch hier empfiehlt sich jedoch eine ergänzende Regelung im künftigen Vollzugsgesetz.

C. Zusammenfassendes Ergebnis Die eingangs gestellte Frage nach der voraussichtlichen Bewährung der Vikariierungsregeln in der richterlichen Praxis läßt sich danach abschließend wie folgt beantworten: 1. Der durch § 67 Abs. 1 im Grundsatz zwingend vorgeschriebene Vorwegvollzug der Maßregel vor der Strafe verdient Zustimmung. Er gewährleistet im Hauptanwendungsbereich der Vorschrift deren to3 In diesem ließe sich evtl. auch eine von der hier vertretenen Auffassung abweichende Regelung treffen, die für bestimmte Fälle auch andere als spezialpräventive Erwägungen zuläßt.

2. Abschnitt: Bewährung der Vikariierungsregeln in der Praxis C.

167

gleichmäßige, von subjektiven Einflüssen des urteilenden Richters unabhängige Handhabung und führt durchweg zu klaren und gerechten Ergebnissen. 2. Für die Durchbrechung dieses obligatorischen Grundsatzes in § 67 Abs. 2 ist ein praktisches Bedürfnis nicht anzuerkennen. Hier wäre die strikte Bindung des erkennenden Gerichts an die in § 67 Abs. 1 bestimmte Regelung die konsequentere und praktikablere Lösung gewesen. Bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Bestimmung sind von dieser Durchbrechung jedoch keine der spezialpräventiven Grundentscheidung des Vikariierungsprinzips zuwiderlaufenden Entscheidungen zu befürchten. 3. Der dem Vollstreckungsrichter durch § 67 Abs. 3 und 5 eingeräumte weite Ermessensspielraum für die von ihm zu treffenden Entscheidungen ist im Grundsatz als unbedenklich anzusehen. Er gibt der Vorschrift die für diesen Bereich erforderliche Elastizität und ermöglicht dadurch dem Gericht eine den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung tragende Entscheidung. Für eine Reihe von Zweifelsfragen empfiehlt sich hier jedoch eine klarstellende Regelung im Rahmen des künftigen Vollzugsgesetzes.

Schlußwort Die Einführung des Vikariierungsprinzips im Bereich des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems stellt keine revolutionäre Neuerung dar. Sie ist eine Kompromißlösung, die dem einen zu wenig gebracht hat, dem anderen schon zu weit geht. Sie ist ein Schritt in Richtung auf ein menschlicheres Strafrecht, ein Stück Abkehr von dem Gedanken der Vergeltung um jeden Preis. Darum ging es der vorliegenden Arbeit: zu zeigen, daß abseits von der lauten Diskussion um weitreichende kriminalpolitische Reformprogramme die kriminologischen Fakten die Entwicklung des Strafrechts in diesem Punkt zumindest unterstützen, wenn nicht nahelegen. Es war zu zeigen, daß und warum die Besonderheit des beschriebenen Täterkreises in psychischer und sozialer Hinsicht jene Differenzierung im Anwendungsbereich von Strafe und Maßregel, die vom Vikariieren ausgeht, unumgänglich macht: durch sie erreicht die strafrechtliche Sanktion dem einzelnen gegenüber ein höheres Maß an Effektivität, sie entspricht eher dem Gerechtigkeitspostulat, und sie bleibt auch frei von der Befürchtung nachteiliger Wirkungen auf die Öffentlichkeit. Es war ferner darzulegen, daß das Vikariierungsprinzip nicht nur kriminalpolitisch sinnvoll, sondern daß es innerhalb des überkommenen Strafrechtssystems auch dogmatisch vollziehbar ist. Zwar läßt sich nicht übersehen, daß mit der grundsätzlichen Ersetzbarkeit des Strafvollzugs durch den Maßregelvollzug das System der Rechtsfolgen durchlässiger geworden ist, und dies mag durchaus ein Schritt sein auf dem Wege zur Anerkennung einer generellen Austauschbarkeit von Strafe und Maßregel für bestimmte Tätergruppen. Gleichwohl läßt sich daraus kein Argument herleiten für die so oft beschworene Gefahr eines Dammbruchs: es geht- auch dies sollte durch die vorliegende Untersuchung verdeutlicht werden - nicht stets um ein Programm der Abschaffung des Strafrechts als Institution, wenn der Anwendungsbereich der Strafe eingeengt wird, wo die kriminologische Erkenntnis dies nahelegt. Je mehr Einblick in die psychischen und sozialen Zusammenhänge der Verbrechensentstehung die Kriminologie vermittelt, desto mehr wird sich auch das System der Rechtsfolgen dem Druck einer Wandlung ausgesetzt sehen. Das Institut des Vikariierens ist aus dieser Sicht lediglich ein Punkt in einer noch nicht abzusehenden Entwicklung.

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