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German Pages 236 Year 2018
Moritz Florin, Victoria Gutsche, Natalie Krentz (Hg.) Diversität historisch
Histoire | Band 140
Moritz Florin, Victoria Gutsche, Natalie Krentz (Hg.)
Diversität historisch Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel
Gefördert durch: Dr. German Schweiger-Stiftung Interdisziplinäres Zentrum »Gender – Differenz – Diversität« der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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Inhalt
Vorwort | 7 Diversity – Gender – Intersektionalität Überlegungen zu Begriffen und Konzepten historischer Diversitätsforschung | 9
SELBSTPOSITIONIERUNGEN UND ZUSCHREIBUNGEN Kleiderwechsel Vestimentäre Differenzierung im Roman des 17. Jahrhunderts
Victoria Gutsche | 35 „Nach der Hochzeit hätten Sie zusammen als vermeinte Eheleute gelebt, wären zusammen zu Tisch und Bett gegangen“ Sexuelle Diversität in der Frühen Neuzeit?
Eva Lehner | 55 Spuren von Diversität in französischen Selbstdokumenten des 18. Jahrhunderts
Annette Keilhauer | 79
KONSTRUKTIONEN UND KATEGORISIERUNGEN Medizinische Konstruktionen von Diversität am Beispiel der Lepra im 16. Jahrhundert
Fritz Dross | 103 Kommerz und Vielfalt Diversität in Zirkusunternehmen in den USA, Europa und Russland, 1850–1914
Moritz Florin | 121 Diversität in Berufs- und Ständebüchern um 1700
Dirk Niefanger | 143
KONSTELLATIONEN UND KONZEPTE Intersektionalität im Russischen Reich? Wechselwirkungen zwischen Kategorien sozialer Differenz im 19. Jahrhundert und der spatial turn
Julia Obertreis | 161 Islamische Konzeptionen zum Umgang mit religiöser Diversität Zarathustrier und Buddhisten
Stephan Kokew | 193 Mind the Gaps Diversity als spannungsgeladenes Zeitgeist-Dispositiv
Margrit E. Kaufmann | 211 Autorinnen und Autoren | 233
Vorwort
Die Stadt Erlangen ist nicht der schlechteste Ort, um über historische Diversität nachzudenken. Denn zu dem heutigen Selbstverständnis dieser Stadt zählt ihre Weltoffenheit und religiöse Toleranz. Die seinerzeit nicht unumstrittene Errichtung einer direkt an das alte Erlangen angrenzenden neuen Stadt für die aus Frankreich geflohenen Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts gilt heute als zweiter Gründungsmoment Erlangens. Das Narrativ der Stadtgeschichte, so wie es etwa auch im Stadtmuseum gezeigt wird, hebt darauf ab, wie sehr die Stadt wirtschaftlich von dem Zuzug der Hugenotten mit ihren speziellen Kenntnissen und Fertigkeiten profitiert habe. Bis heute ist das Erbe dieser Vergangenheit im Stadtbild sichtbar, etwa am Hugenottenplatz mit der angrenzenden evangelisch-reformierten „Hugenottenkirche“, an vielen französisch klingenden Erlanger Familiennamen oder auch an dem für eine Planstadt des 18. Jahrhunderts typischen karreeförmigen Stadtbild. Erlangen ist sicher nicht die einzige Stadt, die sich ihrer Toleranz rühmt. Die Geschichte der Hugenottenstadt verweist jedoch auf einen in der aktuellen Diskussion häufig vernachlässigten Aspekt im Umgang mit Diversität und auch Migration, nämlich auf die Tatsache, dass es sich hierbei in historischer Sicht um den Normalfall, nicht die Ausnahme handelt. Denn tatsächlich verlief die Integration der Glaubensflüchtlinge damals nicht so reibungslos und die Erlangener Stadtbevölkerung zeigte sich weitaus weniger weltoffen und tolerant, als es die heutige Selbstdarstellung der Stadt vermuten lässt. Die gegenwärtig auch in Erlangen zu beobachtende Vielfalt in ethnischer, religiöser oder auch geschlechtlicher Hinsicht und die damit verbundenen Diskurse sind insofern nicht neu. Während manche Kategorien an sozialer Wirkmächtigkeit verlieren – man denke etwa an den gesellschaftlichen Stand oder aber die christliche Konfession – treten andere in der Wahrnehmung stärker in den Vordergrund, so etwa die jeweilige Migrationsgeschichte oder Fragen der sexuellen Identität. Gesellschaftliche Differenzierungen und die damit zusammenhängenden jeweiligen Debatten sind mithin nicht nur situativ, sondern auch historisch wandelbar. Derartige Überlegungen standen auch im Zentrum der Diskussionen einer informellen Runde zum Thema „Historische Diversität“, die sich seit 2013 an der Univer-
sität Erlangen-Nürnberg regelmäßig trifft. In mancherlei Hinsicht ist die Gruppe durchaus homogen (etwa in Fragen der Hautfarbe, Herkunft oder des akademischen Werdegangs). In anderer Hinsicht kann aber durchaus von vielfältigen sozialen Differenzierungen gesprochen werden: Dass sich sowohl Männer als auch Frauen an den Diskussionen beteiligen, versteht sich beinahe von selbst. Zudem waren von Anfang an sowohl fest verbeamtete Professorinnen und Professoren als auch befristet beschäftigte wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt. Weitere relevante Differenzierungen verlaufen entlang der beteiligten Fächer mit ihren jeweiligen fachspezifischen Debatten und Traditionen, darunter die Germanistik, Romanistik, Geschichte der Frühen Neuzeit, Geschichte Osteuropas sowie zeitweise auch die Alte Geschichte, die Neueste Geschichte oder die Religionswissenschaften. Inwieweit sich die (zugegebenermaßen begrenzte) Vielfalt der Gruppe positiv auf den Inhalt des Sammelbandes ausgewirkt hat, mögen die Leser*innen selbst entscheiden. Gewiss ist jedoch, dass die durchaus kontrovers geführten Debatten uns große Freude bereitet und bereichert haben. Insbesondere auch die Diskussionen im Rahmen der Konferenz „Konstellationen historischer Diversität. Europa, Russisches Reich und islamische Welt“, die am 4. und 5. Oktober 2016 in Erlangen stattfand, belegen aus unserer Sicht das Potential einer Auseinandersetzung mit Konzepten und Konstellationen gesellschaftlicher Diversität, gleichzeitig aber auch den Bedarf nach weiterer konzeptioneller und inhaltlicher Arbeit. Der vorliegende, aus der Konferenz hervorgegangene Sammelband möchte einen Beitrag hierzu leisten. Dieser Band ist das Ergebnis nicht nur anregender Diskussionen, sondern auch vielfältiger Unterstützung von verschiedenen Seiten. Bedanken möchten wir uns insbesondere bei der Dr. German Schweiger-Stiftung, die sowohl die Drucklegung des Bandes als auch die vorangegangene Konferenz großzügig unterstützt hat. Unser Dank geht ebenso an das Interdisziplinäre Zentrum „Gender – Differenz – Diversität“ an der Universität Erlangen-Nürnberg für die Unterstützung der Drucklegung sowie an die Dr. Alfred Vinzl-Stiftung für die finanzielle Förderung der Konferenz. Jakob Rauschenbach und Thilo Gildhoff haben uns bei der Endkorrektur unterstützt. Nicht zuletzt möchten wir uns auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Erlanger Diskussionsrunde bedanken, die uns nicht nur zu dem gemeinsamen Projekt ermutigt, sondern auch die Entstehung des Sammelbandes kritisch begleitet haben. Erlangen im Juli 2018 Moritz Florin, Victoria Gutsche, Natalie Krentz
Diversity – Gender – Intersektionalität Überlegungen zu Begriffen und Konzepten historischer Diversitätsforschung
Gesellschaftliche Vielfalt ist eine Chance, kein Problem, so könnte das Credo des gegenwärtigen Umgangs mit Diversität in Politik, Wirtschaft und Kultur auf einen Punkt gebracht werden. Differenzen zwischen Geschlechtern, Ethnien und sozialen Klassen seien demnach keine Hindernisse, sondern Ressourcen und Potentiale, die es zu heben gelte. Gegenwärtige Ansätze von Diversitätsmanagement eint mit anderen Worten das Ziel, Diskriminierungen abzubauen. Indem gesellschaftliche Vielfalt bewusst anerkannt und bislang unterrepräsentierte Gruppen wertgeschätzt werden, soll zugleich auch ein höheres Maß an sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit erreicht werden. Hintergrund dieser Überlegungen ist der Umstand, dass Differenzierungen nicht nur Abbild gesellschaftlicher Ungleichheiten sind, sondern diese häufig überhaupt erst herstellen. Die Einteilung von Menschen in bestimmte Differenzierungskategorien geht jeweils mit der Diskriminierung anderer Gruppen einher. Für die Moderne sind dafür die Kategorien race, class und gender als besonders wirkmächtig identifiziert worden. Diese Trias ist noch immer zentral für soziologische Ansätze zur Analyse von Ungleichheiten, auch wenn ihre Erweiterung oder vollständige Öffnung in der Forschung häufig diskutiert wurde. Mit dem Ansatz, Diversität historisch zu untersuchen, knüpft der Sammelband an die gegenwärtige Diskussion an und bietet zugleich neue Perspektiven. Auch in der Vergangenheit bedingten und begründeten Differenzierungen gesellschaftliche Ungleichheiten, die unterschiedliche Verteilung von Ressourcen sowie den Zugang zu Machtpositionen. Diversität bezeichnet vor diesem Hintergrund ein System von Differenzierungen, das je nach historischer Konstellation in unterschiedlicher Weise wirkmächtig werden konnte. Wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, veränderten sich jedoch sowohl die relevanten Kategorien, nach denen unterschieden wurde, als auch die Praktiken des Unterscheidens erheblich. Diesen Veränderungen geht der
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Sammelband nach und untersucht damit anhand einzelner Fallbeispiele Konstellationen von Diversität in der longue dureé. Über die Rekonstruktion einzelner historischer Diversitätskonstellationen hinaus stellt sich damit die Frage, ob sich eine langfristige historische Entwicklung von Diversität beschreiben lässt. In gegenwartsbezogenen Forschungen findet sich dazu häufig die These, dass die heutige Zeit in einem ungleich stärkeren Maße von Diversität gekennzeichnet sei als frühere Epochen. Es wird also eine Entwicklung hin zu einer stets ‚diverser‘ werdenden Moderne und Postmoderne beschrieben. 1 Auf diese Wahrnehmung einer voranschreitenden Diversifizierung reagierten und reagieren gegenwärtige westliche Gesellschaften einerseits mit Angst und Ablehnung, andererseits aber auch mit einer verstärkten Bemühung um die Wertschätzung von Vielfalt im Sinne eines „diversity managements“. 2 Solche gegenwartsbezogenen Studien greifen die Vormoderne jedoch zumeist nur als Negativfolie für Beobachtungen in modernen Gesellschaften auf, ohne dass diese selbst Gegenstand der Untersuchung von Diversität wird. Mit der Thematisierung von Konstellationen von Diversität in unterschiedlichen Gesellschaften vom Mittelalter bis zur Neuzeit will der Sammelband die Dichotomie zwischen ‚statischer‘ Vormoderne und ‚diverser‘ Moderne in Frage stellen. Die Beiträge zeigen, dass auch in vormodernen Gesellschaften vielfältige Differenzierungskategorien präsent und wirkmächtig waren. Anstatt von einer Entwicklung hin zu mehr Diversität gehen wir damit von einer permanenten Konstruktion und Dekonstruktion, dem ‚doing‘ und ‚undoing‘, solcher Kategorien in der alltäglichen Praxis aus.3
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„Unsere Gesellschaft war noch nie so vielfältig wie zu Beginn des dritten Jahrtausends“, formuliert etwa Nicolai Scherle in: Kulturelle Geographien der Vielfalt. Von der Macht der Differenzen zu einer Logik der Diversität. Bielefeld 2016, S. 235. Andere verweisen auf die vermeintliche „Super-Diversität“ unserer gegenwärtigen „Einwanderungsgesellschaft“. Siehe etwa: Steven Vertovec: Super-Diversity and its Implications. In: Ethnic and Racial Studies 30 (2007), S. 1024–1054. Der Zukunftsforscher Horx bezeichnet Diversity gar als einen „Mega-Mega-Trend“, der alle anderen sozio-ökonomischen Tendenzen in sich bündele, vgl. Matthias Horx: Smart Capitalism. Das Ende der Ausbeutung. Frankfurt a.M. 2001, S. 68. Dass der Befund jedoch bei genauerer Betrachtung keineswegs so eindeutig ist, zeigt die jüngste Studie von Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart 2018.
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Gabriele Winker und Nina Degele: Intersectionality as Multi-Level-Analysis. Dealing with Social Inequality. In: European Journal of Women’s Studies 18 (2011), S. 51–66, hier S. 56.
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Der Ansatz des „doing difference“ stammt aus der Genderforschung und wurde von Candace West und Sarah Fenstermaker auf die Intersektionalitätsforschung übertragen, vgl.
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Viele der Beiträge thematisieren gesellschaftliche Umbruchssituationen, in denen etablierte gesellschaftliche Werte und Normen in Frage gestellt wurden. Solche Situationen führten häufig zu einer verstärkten Diskussion überkommener gesellschaftlicher Werte und Ordnungskategorien, die so in den Quellen erst sichtbar werden.4 Am Ende dieses Prozesses stand jeweils entweder die Bestätigung und Festigung der tradierten Ordnungskategorien oder deren Neuordnung. Für die historische Untersuchung von Diversität wird insgesamt deutlich, dass auch vormoderne Gesellschaften keineswegs statisch geordnet, sondern durch gesellschaftliche Dynamiken ebenso wie durch eine Vielzahl fluider (Binnen-)Differenzierungen geprägt waren.5 Dies gilt sowohl für die Makroebene der Repräsentationen, auf der diese Kategorien jeweils neu verhandelt wurden, als auch für die Mikroebene der individuellen Selbstverortung Einzelner in und zwischen diesen Ordnungskategorien. Diese Prozesse begreifen wir als „Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung“, wobei wir davon ausgehen, dass diese Ebenen allenfalls heuristisch voneinander zu trennen sind und sich gegenseitig bedingen. Die Perspektive auf Diversität als System von Differenzierungen macht deutlich, dass die Art und Anzahl gesellschaftlich relevanter Differenzierungskategorien weitaus vielfältiger war als von der gegenwartsbezogenen Forschung zumeist angenommen wird. Sie öffnet den Blick erstens für die Gesamtheit der Kategorien und deren sich wandelnde Konstellationen und ist zweitens offen für weitere Kategorisierungen, darunter etwa ‚Krankheit‘, ‚Behinderung‘, ‚Alter‘ oder der Grad an ‚Zivilisiertheit‘. Darüber hinaus wird so deutlich, dass auch die Bedeutung dieser Kategorien selbst keineswegs statisch, sondern einem stetigen Wandel unterworfen war, und diese in unterschiedlichen Kontexten jeweils neu konstruiert wurden. Ein weiterer Candace West und Sarah Fenstermaker: Doing Difference. In: Gender and Society 9 (1995), S. 8–37. 4
Aus der Perspektive der symbolischen Repräsentation siehe auch: Symbolik in Zeiten von Krise und gesellschaftlichem Umbruch. Darstellung und Wahrnehmung vormoderner Ordnung im Wandel. Hg. von Elizabeth Harding und Natalie Krentz. Münster 2011.
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Dies entspricht dem Stand der Forschung zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständewesen, die schon seit einigen Jahren das Bild einer statischen vormodernen Ständegesellschaft gegenüber einer differenzierten Moderne in Frage gestellt hat. Vgl. dazu grundlegend bereits Winfried Schulze: Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als ein Problem von Statik und Dynamik. In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. Hg. von Winfried Schulze. München 1988, S. 1–17. Aus transkultureller Perspektive wurde auch immer wieder die Gegenüberstellung einer sich dynamisch entwickelnden westlichen Gesellschaft und eines statischen Orient in Frage gestellt. Siehe etwa: Antje Flüchter: Handling of Diversity in Early Modern India? Perception and Evaluation in German Discourse. In: Handling Diversity. Hg. von Thomas Ertl. Neu-Delhi u.a. 2013 (Special Issue des Journal of Medieval History 16,2), S. 297–334.
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Vorteil der historischen Herangehensweise besteht darin, dass sie Wandlungsprozesse sichtbar machen kann. Es geht mithin nicht darum, bestimmte Kategorien oder Gruppen als per se als stabiler als andere zu klassifizieren, sondern darum, anhand von Fallbeispielen Prozesse der Differenzierung aufzuzeigen, die Kategorien und Zugehörigkeiten erst hervorbringen.6 Diese Prozesse können einerseits Stabilisierung und Essentialisierung, andererseits aber auch die Verflüssigung und Auflösung von Unterscheidungen zur Folge haben.
DIVERSITÄT – VIELFALT – „DIVERSITY MANAGEMENT“ Sowohl der Begriff „Diversität“, als auch die englischen und französischen Entsprechungen „diversity“ oder „diversité“ sind abgeleitet aus Lateinisch „diversitas“. Ähnlich wie auch der Begriff „differentia“ wird „diversitas“ meist als „Verschiedenheit“ oder „Unterschied“ ins Deutsche übersetzt. Während beide Begriffe die Vorsilbe di- (auseinander) enthalten, ist „Differenz“ von dem Verb ferre (tragen) abgeleitet, Diversität hingegen vom Verb vertere (drehen, wenden). Beide Verben bezeichnen Handlungen; vertere kann sich jedoch auch auf einen Vorgang beziehen. Wichtig ist jedoch vor allem, dass beide Verben eine Bewegung auseinander implizieren, das Suffix -ität (bzw. lat. -itas) die „Diversität“ jedoch paradoxerweise in einem Zustand fixiert.7 Im Deutschen handelt es sich bei dem Begriff „Diversität“ um ein Synonym für „Vielfalt“, das bis 2010 vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich verbreitet war.8 Vielfalt wiederum bezeichnet laut Duden die „Fülle von verschiedenen Arten,
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Stefan Hirschauer etwa unterscheidet eine Reihe von Modi der Humandifferenzierung voneinander, die sich je nach Entstehungsmodus voneinander unterscheiden, also etwa ‚zugeschrieben‘, ‚reklamiert‘, ‚gewählt‘, ‚erzwungen‘, ‚gewachsen‘ oder ‚gesucht‘ sein können. Zu den daraus hervorgehenden sozialen Figuren zählen ‚Exemplare‘, ‚Statusinhaber‘, ‚Miglieder‘, ‚Insassen‘, ‚Angehörige‘ und ‚Anhänger‘. Vgl.: Stefan Hirschauer: Humandifferenzierung. Modi und Grade sozialer Zugehörigkeit. In: Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Hg. von Stefan Hirschauer. Weilerswist 2017, S. 29–54, hier: S. 44.
7
Vgl. die einschlägigen Wörterbücher, sowie die Einträge zu „Diversität“ und „Vielfalt“ im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, , abgerufen am 27.03.2018.
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Dies ergibt etwa eine Recherche im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. Eine Recherche bei google books offenbart zudem, dass erst um das Jahr 2005 das Thema diversity management in deutschsprachigen Publikationen aufgegriffen wurde, etwa in einem von Gertraude Krell und Barbara Riedmüller herausgegebenen Sammelband zu den
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Formen o.Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit“.9 Etymologisch ist zudem der Verweis auf das Verb „falten“ wichtig, von dem sich auch das Verb „vervielfältigen“ ableiten lässt. Deutlich wird dabei, dass die Vielfalt aus einer Einheit hervorgeht. Es handelt sich zudem um einen expliziten Gegenbegriff zu dem älteren und zudem negativ konnotierten Begriff der „Einfalt“. Festzuhalten ist demnach, dass sowohl der Begriff der „Vielfalt“ als auch die „Diversität“ im Deutschen überaus positiv konnotiert sind: „Biodiversität“ als Grundlage des Lebens auf der Erde, „Vielfalt“ als Überwindung von Einfalt und Monotonie zugunsten von Abwechslung und Vielgestaltigkeit. „Diversität“ ist jedoch im Deutschen nicht lediglich ein Synonym für „Vielfalt“, sondern im aktuellen Sprachgebrauch auch für den Anglizismus „diversity“, der aus dem Bereich des so genannten diversity management stammt. Die diversity-management-Bewegung wiederum wird in der Literatur gelegentlich als Fortsetzung der USamerikanischen Bürger- und Frauenrechtsbewegung mit anderen Mitteln beschrieben. Dem Bild einer Herausforderung durch eine zunehmend vielfältige Belegschaft in Unternehmen setzt das diversity-management die Idee entgegen, Vielfalt könne für den Unternehmenserfolg nutzbar gemacht werden. Anstatt Unterschiede zwischen den Mitarbeitern lediglich zu tolerieren, sollen diese im Sinne einer positiven Wertschätzung besonders hervorgehoben werden. Ziel des diversity management ist es mithin, vorhandene Unterschiede als Chance für den Unternehmenserfolg zu begreifen.10 Im akademischen Bereich sind Maßnahmen gegen Diskriminierung unter dem Stichwort des diversity management bzw. Diversitätsmanagements inzwischen fest verankert. So haben sich Gleichstellungsinstitutionen in den letzten Jahren vielerorts in Büros für Gender und Diversity umbenannt – nicht immer ohne Protest der bis
„diversity studies“ oder in einem von Dieter Wagner und Bernd-Friedrich Voigt herausgegebenen Band zum „diversity management“. Vgl.: Diversity Management. Unternehmensund Personalpolitik der Vielfalt. Hg. von Manfred Becker und Alina Seidel. Stuttgart 2006; Diversity Management als Leitbild von Personalpolitik. Hg. von Dieter Wagner und BerndDietrich Voigt. Wiesbaden 2007; Diversity studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Hg. von Gertraude Krell und Barbara Riedmüller. Frankfurt a.M. 2007; Michael Schönhuth: Diversität. In: Lexikon der Globalisierung. Hg. von Sven Hartwig und Fernand Kreff. Bielefeld 2011, S. 52–56. 9
Siehe: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/Vielfalt [15.05.2018].
10 Als bahnbrechend gilt in diesem Kontext der Artikel: David A. Thomas und Robin J. Ely: Making Differences Matter. A New Paradigm for Managing Diversity. In: Harvard Business Review 74/5 (1996), S. 75–90. Für eine Übertragung des Konzepts in den deutschsprachigen Kontext siehe: Wagner/ Voigt: Diversity Management; eine Zusammenfassung des aktuellen Diskussionsstandes bietet: Scherle: Geographien der Vielfalt, S. 107–180.
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dahin ausschließlich auf Frauenförderung ausgelegten Gleichstellungsstellen.11 Erklärtes Ziel ist es nicht nur, Diskriminierungen zu überwinden, sondern auch vielfältige und damit potenziell kreativere Teams und Gruppen zusammenzustellen. 12 Im Sinne der positiven Wertschätzung wurde der Begriff zudem in praxisorientierten Sozialwissenschaften, wie insbesondere der Pädagogik, Sozialökonomie und Betriebswirtschaftslehre, aufgegriffen. Die Popularität des diversity management erklärt sich aus dem Versprechen, das richtige management werde dazu beitragen, Diskriminierungen zu überwinden. Auch weil dem Begriff des „Multikulturalismus“ das Epitheton des Scheiterns anhaftet, erweist sich Diversität/ diversity als eine populäre Alternative.13 Seit einigen Jahren werden an deutschen Universitäten Studiengänge im Bereich diversity studies angeboten.14 Ähnlich wie im Falle der gender studies handelt es sich bei den diversity studies um ein interdisziplinäres Forschungsfeld mit Anknüpfungspunkten in den Literatur- und Sprachwissenschaften, der Soziologie, den Politikwissenschaften, der Ethnologie, den Geschichtswissenschaften oder der Geographie. 15 Auffallend ist, dass neu etablierte Studiengänge einerseits mit dem Praxisbezug um Studierende werben, andererseits aber der analytische Anspruch hervorgehoben wird. Erklärtes Ziel ist es, ein besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ungleichheitsdimensionen, die mit Diskriminierung einhergehen können, zu vermitteln.16 Ähnlich wie den gender studies geht es also den diversity studies 11 Zum durchaus schwierigen Verhältnis von gender (mainstreaming) und diversity (management) vgl. einführend: Gender und Diversity – Albtraum oder Traumpaar? Interdisziplinärer Dialog zur „Modernisierung“ von Geschlechter- und Gleichstellungspolitik. Hg. von Sünne Andresen, Mechthild Koreuber und Dorothea Lüdke. Wiesbaden 2009. 12 Erwähnenswert ist in diesem Kontext die „Charta der Vielfalt“, der sich laut Website bereits 2.800 Unternehmen in Deutschland angeschlossen haben. Auch Hochschulen und Universitäten zählen zu den Unterzeichnern. Siehe: https://www.charta-der-vielfalt.de/diecharta/ueber-die-charta/ [27.03.2018]. 13 Laurence McFalls: Diversity. A Late 20th Century Genealogy. In: Spaces of Difference. Conflicts and Cohabitation. Hg. von Ursula Lehmkuhl, Hans-Jürgen Lüsebrink und Laurence McFalls. Münster, New York 2016, S. 47–60, hier S. 49. 14 Siehe den aktuellen Überblick: Nicole Auferkorte-Michaelis, Frank Linde und Christopher Großi: Forschung über Diversität und Diversitätsforschung an Hochschulen. In: Diversität lehren und lernen – ein Hochschulbuch. Hg. von Nicole Auferkorte-Michaelis und Frank Linde. Opladen, Berlin, Toronto 2018, S. 99–115. 15 Zum Selbstverständnis der diversity studies siehe etwa: Diversity Studies. Hg. von Krell u.a., sowie auf Englisch: Steven Vertovec: Introduction. In: Routledge International Handbook of Diversity Studies. Hg. von dems., New York 2015, S. 1–20. 16 In Göttingen etwa werden als mögliche Arbeitsfelder die Öffentlichkeitsarbeit, Unternehmensberatung oder eben das diversity management genannt. Siehe: Georg-August-
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um die kritische Auseinandersetzung mit Diskriminierung, gekoppelt an einen explizit emanzipatorischen Anspruch.17 Mit der Ausbreitung der diversity studies geht die Etablierung des Diversitätsbegriffs in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung einher. Auffallend ist, dass dabei der Begriff „Diversität“ denjenigen der „Vielfalt“ zunehmend ersetzt. Ein neues Lehrbuch der Ethnologie bezeichnet sich zwar als „Einführung in die Erforschung kultureller Vielfalt“, in der Einleitung werden die Begriffe „Vielfalt“ und „Diversität“ jedoch synonym verwandt: Kern der Ethnologie, ihr „Markenzeichen im Wissenschaftsbetrieb“, sei die Erforschung „kultureller Vielfalt“. „Diversität“ ins Zentrum der Ethnologie zu rücken bedeute aber auch eine deutliche Hinwendung zum Vergleich.18 In einem ähnlich unspezifischen Sinn taucht der Begriff „Diversität“ etwa in den Religionswissenschaften auf, so zum Beispiel in einem Sammelband zu „Diversität, Differenz und Dialogizität“. Unklar bleibt auch in diesem Fall, ob der Diversitätsbegriff aus Sicht der Verfasser*innen etwas Spezifischeres als „Vielfalt“ meint.19 Ähnliches ist in der Soziologie zu beobachten. Dabei hat sich die Soziologie seit jeher mit der Frage beschäftigt, wie Differenzierungsprozesse innerhalb von Gesellschaften analysiert werden können. „Diversität“ war jedoch bislang in diesem Zusammenhang kein explizit ausgewiesener Forschungsgegenstand. Anders als etwa die Begriffe „Diskurs“, „Hybridität“, „kulturelles Kapital“ oder „System“ ist die „Diversität“ nicht mit dem Namen eines bestimmten Klassikers bzw. einem bestimmten Theoriegebäude verknüpft. Diversität ist insofern bislang nicht mehr als ein „soziologisches Begriffsfeld“, das weiterer Ausdifferenzierungen bedarf.20 Ob sich dabei „Diversität“ als ein Leitbegriff durchsetzen kann, ist offen. Relevante, eng miteinander zusammenhängende Begriffsangebote kommen auch aus dem Bereich der Forschung zu Intersektionalität, Humandifferenzierung, Theorien der sozialen Identität oder Hybridität. Gemeinsam ist diesen Theoriekomplexen, dass sie sich auf das
Universität Göttingen, Institut für Diversitätsforschung, URL: https://www.uni-goettingen.de/de/445828.html [27.03.2018]. 17 Vgl. Margrit E. Kaufmann: Hype um Diversity – cui bono? Diversity in Unternehmen und an Hochschulen – aus der Perspektive intersektioneller Diversity Studies. In: Diversity trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur. Hg. von Peter C. Pohl, Hania Siebenpfeiffer und Luca Di Blasi. Berlin 2016, S. 83–104. 18 Bettina Beer und Julia Pauli: Einleitung. In: Ethnologie: Einführung in die Erforschung kultureller Vielfalt. Hg. von Bettina Beer, Hans Fischer und Julia Pauli. Berlin 2017, S. 7–14, hier S. 8. 19 Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten. Hg. von Christian Wiese, Stefan Alkier und Michael Schneider. Berlin/ Boston 2017. 20 Monika Salzbrunn: Vielfalt, Diversität. Bielefeld 2014, S. 28.
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Unterscheiden aufgrund körperbezogener und kultureller, zudem sozial konstruierter Persönlichkeitsmerkmale beziehen. Nicht zuletzt für die Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften ist gesellschaftliche „Vielfalt“ in all ihren Facetten ein zentraler Forschungsgegenstand. So sind Arbeiten zur Konstruktion und Repräsentation ethnischer, nationaler oder religiöser Gruppen, zu sozialen Klassen und Ständen, zu Fragen des Geschlechts, zu Körpergeschichte, „disability“ und „Gesundheit“, zu Fragen des Alterns und der Generation zentrale Gegenstände etwa der Sozialgeschichte, Neuen Kulturgeschichte oder Historischen Anthropologie. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Kontext auch die Forschung zum Umgang mit „Vielfalt“ in Imperien. Dies gilt insbesondere für die Osteuropäische Geschichte, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten einen regelrechten „imperial turn“ vollzogen hat. 21 In den Literaturwissenschaften sind insbesondere Geschlecht und gender schon seit langem Gegenstand der Forschung, etwa in Bezug auf die Literaturgeschichtsschreibung. 22 Im Kontext kulturwissenschaftlicher Fragestellungen werden wiederum auch andere Differenzkategorien untersucht. 23 Dabei erfreut sich der Begriff der „Diversität“ als ein Synonym für „Vielfalt“ auf allen genannten Forschungsfeldern zunehmender Beliebtheit. 24 Zu erwähnen ist zudem, dass sich auch Vertreter*innen der diversity studies darum bemühen, an die Debatten in den Literatur- und Geschichtswissenschaften anzuknüpfen. Ein neuer Sammelband mit dem vielsagenden Titel „Diversity 21 Siehe etwa: Jürgen Osterhammel: Imperien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History. Online-Ausgabe. 3 (2006), H. 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2006/id=4627, Druckausgabe: S. 4–13. Zur osteuropäischen Geschichte siehe auch den Beitrag von Julia Obertreis im vorliegenden Band. 22 Augenscheinlichster Beleg dafür sind eine Reihe von Lehrbüchern. Vgl. Sigrid Nieberle: Gender Studies und Literatur. Eine Einführung. Darmstadt 2013; Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008; Gender Studies in den romanischen Literaturen. Revisionen, Subversionen. 2 Bde. Hg. von Renate Kroll und Margarete Zimmermann. Frankfurt a.M. 1999; Metzler Lexikon Gender Studies/ Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Renate Kroll. Stuttgart, Weimar 2002. 23 Vgl. dazu einführend Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Hg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart, Weimar 2008; Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen. Hg. von Friedrich Jaeger und Jürgen Straub. Stuttgart, Weimar 2004. 24 Diversität ist etwa das Jahresthema 2017/2018 des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung. URL: http://www.zfl-berlin.org/projekt/diversitaet.htm [11.7.2018]. Hier sind weitere Untersuchungen zu erwarten. Aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft ist etwa die DFG-geförderte, deutsch-kanadische „International Research Training Group ‚Diversity‘ erwähnenswert. http://www.irtg-diversity.com/ [11.7.2018].
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Trouble“ etwa enthält auch Beiträge aus der Literaturwissenschaft.25 Das von Steven Vertovec herausgegebenen „International Handbook of Diversity Studies“ wiederum versammelt eine Reihe von Unterkapiteln unter der Überschrift „Historical Geographies of Diversity“.26 Auffallend ist dabei, dass sämtliche Autor*innen dieses historischen Abschnittes sich mit ethnischer Diversität in unterschiedlichen historischen Kontexten befassen, zum Teil erweitert um die Dimensionen der Sprache, Hautfarbe oder der Religion. Die Kategorien Körper oder Geschlecht oder auch die Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Kategorien sozialer Differenzierung spielen in diesen Aufsätzen hingegen praktisch keine Rolle. 27 „Diversity“ scheint hier vor allem als eine Art Label zu fungieren, unter dem sich Forschungen zu unterschiedlichen Aspekten gesellschaftlicher Vielfalt zusammenfassen lassen. Es lässt sich also festhalten, dass sich der Diversitätsbegriff nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den Geisteswissenschaften zunehmender Beliebtheit erfreut. Es handelt sich um ein – wie Margrit Kaufmann im vorliegenden Band formuliert – „spannungsgeladenes Zeitgeist-Dispositiv“, dessen Verbreitung auf wachsende Spannungen innerhalb westlicher Gesellschaften verweise. 28 Die Ausbreitung des Begriffs Diversität trifft jedoch keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Kritiker argumentieren etwa, dass seine Verbreitung mit einer massiven ‚Invasion‘ biologisch-naturalisierender Konzepte in die Sozialwissenschaften einhergehe.29 Tatsächlich lässt sich nachweisen, dass ein aus den Naturwissenschaften stammendes Begriffsverständnis nicht selten implizit auch auf den kulturellen und sozialen Bereich übertragen wird, etwa wenn die UNESCO kulturelle Vielfalt (auch „cultural diversity“; gelegentlich auch als „Soziodiversität“ ins Deutsche übersetzt) als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität definiert, welche für die Menschheit ebenso wichtig sei „wie die biologische Vielfalt für die Natur“.30 Auch englischsprachige Autoren kritisieren gelegentlich, dass die Ausbreitung des Konzepts der 25 Vgl.: Diversity trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur. Hg. von Peter C. Pohl, Hania Siebenpfeiffer und Luca Di Blasi. Berlin 2016. 26 Erwähnenswert sind etwa Aufsätze zu Vielfalt in (post-)imperialen Räumen, darunter das Imperium Romanum, das Osmanische Reich, das unabhängige Indien, Südafrika seit dem Ende der Apartheid oder der nachkoloniale Nahe Osten. 27 Routledge International Handbook of Diversity Studies. Hg. von Steven Vertovec. New York 2015, S. 115–200. 28 Siehe den Beitrag von Margrit E. Kaufmann in diesem Band. 29 Vgl.: McFalls: Diversity, S. 48. Siehe auch: Veronika Lipphardt: Genetische Diversität ohne Rassen. Begriffshistorische Überlegungen. In: Diversität. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Hg. von André L. Blum, Nina Zschocke, Hans-Jörg Rheinberger und Vincent Barras. Würzburg 2016, S. 159–180. 30 Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt, URL: http://www.unesco.de/infothek/dokumente/unesco-erklaerungen/erklaerung-vielfalt.html [27.03.2018].
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„cultural diversity” seit den 1990er Jahren sich implizit an die Vorstellung von „biological diversity” anlehne.31 Nicht ganz von der Hand zu weisen ist in diesem Zusammenhang, dass auch dem diversity management ursprünglich eine statische Vorstellung von Identitäten als festen, unveränderbaren Eigenschaften von Gruppen zugrunde lag. Es lässt sich dem diversity management und den daraus hervorgegangenen diversity studies jedoch keineswegs vorwerfen, diese Problematik nicht oder nicht ausreichend zu reflektieren. Vielmehr erscheint es umgekehrt so, dass die Diskussion um Diversität in der Forschung eine enge Verbindung mit den von Judith Butler angestoßenen Debatten über die soziale Konstruktion von Geschlecht eingeht. Insofern spiegelt die Ausbreitung des Diversitätsbegriffs in den Sozialwissenschaften eine produktive Auseinandersetzung mit essenzialisierenden und biologistischen Konzepten von Vielfalt wider. Diversität wird dabei zunehmend als ein Oberbegriff verstanden, unter dem sich Forderungen nach gleichen Rechten auch etwa aus den Bereichen der Frauenbewegung, Bürgerinnen- und Bürgerrechtsbewegung, LGBT-Bewegungen oder des Anti- und Postkolonialismus bündeln lassen.
THEORIEN, METHODEN UND KONZEPTE SOZIALER DIFFERENZ Forschungsgeschichtlich ist „Diversität“ demnach ein sehr junges Konzept, das sich in Auseinandersetzung sowohl mit der politischen Debatte als auch mit Konzepten der Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelt hat. Als besonders einflussreich dürfen hier die gender studies und die Intersektionalitätsforschung gelten. Diese Forschungsentwicklung gilt es im Folgenden als methodische und theoretische Grundlage für die Untersuchung von historischer Diversität im Sinne dieses Sammelbandes darzustellen. Ausgehend von der heute meist konsensuellen Annahme, dass es sich bei Differenzkategorien stets um sozial konstruierte Unterscheidungen handelt, erweisen sich die diversity studies auch als produktive Erweiterung der gender studies in all ihren Facetten,32 was (mit-)erklärt, warum gender in den Diskussionen um Diversität einen besonderen Stellenwert einnimmt. Zugleich lässt sich anhand der Kategorie gender die theoretische und methodische Ausdifferenzierung der Erforschung sozialer
31 McFalls: Diversity, S. 50. 32 Siehe etwa: Andrea D. Bührmann: Gender – a Central Dimension of Diversity. In: Vertovec: International Handbook of Diversity Studies, S. 23–32.
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Differenzierungen nachzeichnen.33 So argumentierten Vertreterinnen feministischer Theorie bis in die 1980er Jahre häufig essentialistisch, indem sie von einer grundlegenden Unterscheidung von männlich/weiblich ausgingen und zudem den Anspruch erhoben, alle Frauen zu vertreten. Dagegen wurde schon seit Ende der 1960er Jahre angemahnt, die Kategorie ‚der Frau‘ weiter auszudifferenzieren, wobei das sexuelle Begehren die Differenzlinien vorgab. Auch von Seiten Schwarzer Feministinnen wurde Einspruch gegen die vereinnahmende Kategorie erhoben, da sie sich durch weiße Feministinnen keineswegs vertreten sahen. 34 Ausgehend von dem sich entwickelnden Black Feminism und der Critical Race Theory in den 1980er Jahren wurde darauf verwiesen, dass der Bezug auf die Kategorie gender keineswegs ausreichend sei, um Macht- und Unterdrückungsverhältnisse kritisch zu analysieren, sondern diese Kategorie auf jeweils spezifische Art und Weise mit den Kategorien race und class verschränkt sei.35 Die Untersuchung dieser Verschränkungen markiert auch den Beginn der Intersektionalitätsforschung. Mit Butlers Anfang der 1990er Jahre vorgebrachten These von der Konstruiertheit von gender und sex kam es zu einer nochmaligen Ausweitung des Forschungsfeldes, da die „Anerkennung der Konstruiertheit von Geschlecht […] zur Infragestellung des Subjekts Frau in den Gender Studies“36 führte und diese sich zunehmend 33 Die folgenden Ausführungen zur Ausdifferenzierung der Kategorie Gender im Rahmen des sich ausdifferenzierenden Feminismus beziehen sich auf Susanne Schröter: Gender und Diversität. Kulturwissenschaftliche Annäherungen. In: Gender und Diversity: Albtraum oder Traumpaar? Interdisziplinärer Dialog zur „Modernisierung“ von Geschlechter- und Gleichstellungspolitik. Hg. von Sünne Andresen, Mechthild Koreuber und Dorothea Lüdke. Wiesbaden 2009, S. 79–94. Vgl. weiter auch Kira Kosnick: Gender and Diversity. In: Orte der Diversität. Formate, Arrangements und Inszenierungen. Hg. von Cristina Allemann-Ghionda und Wolf- Dietrich Bukow. Wiesbaden 2011, S. 161–169. 34 Wie auch Margrit E. Kaufmann in ihrem Beitrag folgen wir bezüglich der Groß- bzw. Kleinschreibung und Kursivierung von Schwarz und weiß dem Vorschlag von Maureen M. Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt: Konzeptionelle Überlegungen. In: Mythen. Subjekte. Masken. Kritsche Weißseinsforschung in Deutschland. Hg. von dens. Münster 2005, S. 11–13. Die Schreibung von Schwarz und weiß verweist darauf, dass es sich dabei um soziale Konstruktionen handelt, wobei Schwarz – anders als weiß – zugleich ein politischer Emanzipationsbegriff ist: „Hinsichtlich von weiß entschieden wir und statt der Großschreibung für eine Kursivsetzung, um den Konstruktcharakter markieren zu können und diese Kategorie ganz bewusst von der Bedeutungsebene des Schwarzen Widerstandspotentials, das von Schwarzen und People of Color dieser Kategorie eingeschrieben worden ist, abzugrenzen.“ (Ebd., S. 13). 35 Combahahee River Collective: Combahahee River Collective Statement. Black Feminist Organizing in the Seventies and Eighties. New York 1986. 36 Schröter: Gender und Diversität, S. 86.
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auch für Forschungen von und über Männer öffnete und somit die Pluralität nicht nur weiblicher, sondern auch männlicher Existenzweisen in den Fokus rückte.37 Im Laufe der letzten 40 Jahre wurde mithin die Kategorie gender vor dem Hintergrund einer zunehmend interdisziplinär ausgerichteten Forschung wesentlich ausdifferenziert und zugleich mit anderen Differenzkategorien verschränkt, wobei gender jedoch im Rahmen der diversity studies eine besonders wichtige Position einnimmt. Dies lässt sich nicht nur auf die Genealogien der angesprochenen Forschungsansätze zurückführen, scheint es sich doch bei gender um eine in – soweit wir wissen – allen Gesellschaften relevante Basiskategorie sozialer Differenzierung zu handeln. Dies zeigen auch die hier versammelten Beiträge, die sich zwar nicht sämtlich exklusiv mit der Kategorie auseinandersetzen, sie aber immer wieder ansprechen und miteinbeziehen. Dabei gehen die Beiträge von einem historisch wandelbaren und relationalen gender-Begriff aus. Ebenfalls mit der Untersuchung von Diversität eng verknüpft ist das in der Soziologie und immer mehr auch darüber hinaus einflussreiche Konzept der Intersektionalität. Wie schon angemerkt liegen dessen Ursprünge in den gender studies, wo Intersektionalität teilweise sogar als ein neues Forschungsparadigma bezeichnet wurde.38 Auch zahlreiche andere Forschungen haben, ebenso wie dieser Sammelband, methodische Anregungen des Konzeptes aufgenommen und Intersektionalität daher etwa als „sentisizing concept“ behandelt, das den Blick für methodologische Fragen öffnet, ohne selbst zu einem geschlossenen Theoriegebäude zu werden. 39 Da 37 Vgl. grundlegend R.W. Connell: Masculinities. Cambridge 1995. Vgl. weiter die Überblicke in: Handbook of Studies on Men & Masculinities. Hg. von Michael S. Kimmel, Jeff Hearn und Raewyn Connell. Thousand Oaks 2005; Uta Fenske: Männlichkeiten im Fokus der Geschlechterforschung. Ein Überblick. In: Ambivalente Männlichkeit(en): Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive. Hg. von Uta Fenske und Gregor Schuhen. Opladen 2012, S. 11–26. 38 Für die Bezeichnung als Paradigma argumentiert auch Katharina Walgenbach, die allerdings die Offenheit des Paradigmenbegriffs im Sinne Kuhns betont, der, ähnlich wie der Begriff des „produktive[n] Denkstil[s]“ im Sinne Ludwig Flecks, eine spezifische Perspektive auf wissenschaftliche Probleme modelliere. Vgl. Katharina Walgenbach (2012): Intersektionalität – eine Einführung. URL: www.portal-intersektionalität.de [23.7.2018] 39 Gudrun-Axeli Knapp: Über Kreuzungen. Zu Produktivität und Grenzen von „Intersektionalität als „Sensitizing Concept“. In: Geschlecht rekonstruieren. Zur methodologischen und methodischen Produktivität der Frauen- und Geschlechterforschung. Hg. von Mechthild Bereswill u.a. Münster 2013, S. 242–262. Vgl. zur Debatte insgesamt zusammenfassend Winker, Degele: Intersektionalität, S. 11–14; Susanne Schul und Mareike Böth: Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹. Vormoderne intersektional. In: Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹. Vormoderne intersektional. Hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg. Göttingen 2017, S. 9–40, hier S. 16.
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das Konzept so in der Forschung in ganz unterschiedlicher Weise Anwendung fand, wurde Intersektionalität auch als „travelling concept“ beschrieben, das zwischen disziplinären und methodischen Kontexten wandert und dabei unterschiedliche Konnotationen annimmt.40 Die Wanderung des Konzeptes ist durchaus geographisch gemeint, denn forschungsgeschichtlich ist es untrennbar mit der Analyse der Situation Schwarzer Frauen in den USA durch die Juristin Kimberlé Crenshaw verbunden. 41 Ausgehend von der Kritik an US-amerikanischen Antidiskriminierungsgesetzen machte Crenshaw deutlich, dass die Gesetze zwar häufig sowohl Frauen als auch Schwarze berücksichtigten, dies jedoch, wie sie etwa anhand der Einstellungspolitik des Konzerns „General Motors“ argumentierte, regelmäßig dazu führe, dass zwar Frauen und Schwarze, jedoch keine Schwarzen Frauen eingestellt würden.42 Die gängigen Kategorien von Sexismus und Rassismus würden so der spezifischen gesellschaftlichen Situation Schwarzer Frauen nicht gerecht, die Überkreuzung (intersection) sexistischer und rassistischer Denkmuster führe vielmehr zu einer wechselseitigen Verstärkung und zu Diskriminierungen eigener Art, für welche die üblichen Antidiskriminierungsnormen keine Antworten böten.43 Seitdem wurde Intersektionalität insbesondere in soziologischen Forschungen aufgegriffen und weiterentwickelt, da es Ansätze zur Lösung gleich mehrerer methodischer Probleme der Analyse sozialer Ungleichheiten bietet und damit auch für die historische Untersuchung von Diversität fruchtbar gemacht werden kann. So wird eine intersektionale Analyse dem Umstand gerecht, dass sich Individuen jeweils mehr als einer Kategorie sozialer Ungleichheit zuordnen lassen. Mit einer intersektionalen Analyse können Erfahrungen von Diskriminierung jeweils flexibel an der Schnittstelle oder ‚Kreuzung‘ unterschiedlicher struktureller Kategorien von 40 Vgl. Eva Blome: Erzählte Interdependenzen, S. 45–70; Gudrun-Axeli Knapp: „Intersectionality“ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von Race, Class, and Gender“. In: Im Widerstreit. Hg. von ders. Wiesbaden 2012, S. 403–427; Katrin Meyer: Theorien der Intersektionalität. Zur Einführung. Hamburg 2017. 41 Zwar werden inzwischen auch europäische Wurzeln des Konzeptes betont, die unabhängig von der US-amerikanischen Entwicklung seien, vgl. dazu Winker und Degele: Intersektionalität, S. 11–14. Doch ist gerade das Bild der „Intersektion“, das tatsächlich im Sinne einer Straßenkreuzung zu verstehen ist, eng mit dem US-amerikanischen und rechtswissenschaftlichen Entstehungskontext verknüpft, vgl. Böth und Schul: Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹, S. 16, Anm. 19. 42 Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139–167. 43 Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins. Intersectionality, Identity, Politics, and Violence against Women. Stanford Law Rewiew 43 (1991), S. 1241–1299.
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Differenz verortet werden. Eine solche gesellschaftliche Verortung individueller Diskriminierungserfahrung steht häufig im Mittelpunkt soziologischer und pädagogischer Ansätze. Noch stärkere Relevanz für die in diesem Sammelband vorgenommene historische Untersuchung von Diversität als einem System gesellschaftlicher Differenzierungen hat jedoch die auch in der Intersektionalitätsforschung vorgenommene Auseinandersetzung mit der Genese der Kategorien selbst, die unter dem Stichwort „doing difference“ aus dem „doing gender“ weiterentwickelt wurde. 44 Ausgehend von der Annahme, dass auch die Kategorien der Ungleichheit selbst nicht starr sind, sondern je nach Situation – oder historischem Kontext – in unterschiedlicher Weise gesellschaftlich wirksam werden, spricht die Forschung häufig von hybriden oder fluiden Kategorien. Insgesamt bietet das Konzept der Intersektionalität so methodische Anregungen, wie das komplexe Zusammenspiel von Repräsentationen und Praktiken, von Mikro- und Makroebene, von Handlung und Strukturen bei der Konstruktion sozialer Differenzierungen untersucht werden kann.45 Als zentrales methodisches Problem erwies sich in der Intersektionalitätsforschung schnell die Anzahl und Auswahl der Kategorien, deren Überschneidungen zu untersuchen sind. Während inzwischen weitgehende Einigkeit herrscht, dass die Trias race, class und gender zwar gegenwärtig wirkungsmächtige Kategorien beschreibt, doch die Komplexität soziokultureller Zugehörigkeiten und Diskriminierungen nur unzureichend darstellt, sind die Vorschläge zu ihrer Erweiterung oder Ablösung sehr unterschiedlich. So plädierten etwa Nina Degele und Gabriele Winker in der von ihnen vorgeschlagenen „intersektionalen Mehrebenenanalyse“ dafür, die Kategorien auf einer strukturellen Ebene auf die klassische Trias, ergänzt um die Kategorie Körper, zu beschränken, da sie letztere als gesellschaftlich und kulturell besonders relevant ansehen. Diesen Kategorien sei eine prinzipiell offene Anzahl individueller Identitäten und Repräsentationen zuzuordnen. 46 Die erziehungswissenschaftliche Studie von Helma Lutz und Norbert Wenning hingegen kommt auf insgesamt „13 bipolare hierarchische Differenzlinien“, die sich aus der Überkreuzung gesellschaftlicher, kultureller und geographischer Kategorien ergeben. 47 Während es 44 Vgl. Candace West und Sarah Fenstermaker: Doing Difference. In: Gender and Society 9 (1995), S. 8–37, hier S. 19. 45 Vgl. hierzu ausführlich Nina Degele und Gabriele Winker: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld, 2. Auflage 2010; zusammenfassend: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse (2007), S. 3, URL: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/personen/degele/dokumente-publikationen/intersektionalitaet-mehrebenen.pdf/view [21.7.2018]. 46 Degele und Winker: Intersektionalität, S. 37–59. 47 Helma Lutz und Norbert Wenning: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Hg. von dens. Opladen 2001, S. 11–24.
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auf diese Weise gelingt, strukturelle Faktoren in die Analyse von Ungleichheiten einzubeziehen, erscheinen die „Achsen“ der Ungleichheit jedoch jenseits ihrer Überkreuzungen weiterhin als statisch.48 Hingegen forderte etwa Judith Butler bereits 1991, Schlüsse aus dem aus Verlegenheit eingefügten „etc.“ am Ende der üblichen Aufzählungen von Kategorien zu ziehen und anzuerkennen, dass die Eingrenzung auf bestimmte Kategorien weder möglich noch sinnvoll sei. 49 Einen alternativen Zugriff in diesem Sinne wählten Ansätze, die unter dem Stichwort „doing difference“ zusammengefasst werden können. Als wegweisend gilt hier der von Candace West und Sarah Fenstermaker vorgeschlagene „ethnomethodologische Ansatz“. 50 Fenstermaker und West gehen davon aus, dass Differenzkategorien nicht fest sind, sondern durch handelnde Individuen immer wieder neu konstruiert und damit auf Dauer bestätigt, aber auch stets neu modifiziert werden. Auf diese Weise können auch die Kategorien der Differenz selbst als kulturell konstruiert und damit historisch wandelbar und erforschbar gelten. Innerhalb der soziologischen Debatte wurde an diesen Ansätzen, welche die soziale und kulturelle Konstruktion der Kategorien selbst in den Mittelpunkt stellen, wiederum kritisiert, dass sie sie strukturelle Faktoren sozialer Ungleichheit zu wenig berücksichtigten.51 Seitdem haben zahlreiche Studien unterschiedlicher Disziplinen auf diese Kritik reagiert und das Konzept der Intersektionalität in vielfältiger Weise weiterentwickelt. So schlägt Katharina Walgenbach vor, anstatt von „Intersektionalität“ besser von „Interdependenzen“ oder interdependenten Kategorien zu sprechen, um so die vielfältigen Dynamiken des Zusammenwirkens besser darstellen zu können, als es die starr wirkende Metapher der intersection vermag.52 Eine Weiterentwicklung findet sich auch in den wenigen historischen Ansätzen, die bislang versuchten, das Konzept der Intersektionalität nutzbar zu machen. So fordern die Historikerinnen Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger, die Kategorien der sozialen 48 So lässt sich die Kritik an diesem Ansatz zusammenfassen, vgl. auch Schul und Böth: Abenteuerliche Überkreuzungen, S. 18–21. 49 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, S. 210. 50 Vgl. West und Fenstermaker: Doing Difference, S. 19; vgl. auch die Reaktion von Fenstermaker und West auf die genannte Kritik in: Dies.: Doing Difference Revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung. In: Geschlechtersoziologie. Hg. von Bettina Heintz. Wiesbaden 2001, S. 236–249. 51 Vgl. die Kritik von Degele und Winker, Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, S. 3 an diskursanalytischen Ansätzen wie dem Judith Butlers, in denen sie eine einseitige Verkürzung auf die Repräsentationsebene sehen. Zur Reaktion auf die Kritik siehe auch: West und Fenstermaker: „Doing difference“ revisited, S. 236–249. Zur Debatte insgesamt vgl. Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie, S. 50. 52 Vgl. Walgenbach: Intersektionalität; Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie, S. 59–63.
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Differenzierung selbst zu historisieren und als relational aufeinander bezogen zu denken.53 Während Griesebner und Hehenberger damit ebenfalls den Begriff der Interdependenz vorziehen, wollen die Literaturwissenschaftlerinnen Susanne Schul und Mareike Böth am Intersektionalitätsbegriff festhalten, indem sie vorschlagen, eine „prozessuale Perspektive auf Dynamiken sozialer Positionierung“ mit der „punktuelle[n] Betrachtung strukturell verfestigter Straßenachsen“ zu kombinieren. 54 Eine historische Analyse, so argumentieren Schul und Böth damit überzeugend, könne die Untersuchung der Positionierungsprozesse um die Kategorie der Zeitlichkeit erweitern.55 Einen weiteren Versuch, die unterschiedlichen Dimensionen in ihren vielfältigen Überschneidungen und Interdependenzen konzeptionell zu fassen, unternimmt die von Stefan Hirschauer initiierte DFG-Forschergruppe zu Praktiken der Humandifferenzierung. Anknüpfend an den praxeologischen Ansatz von West und Fenstermaker untersuchen die beteiligten Wissenschaftler*innen die „Herstellung, Überlagerung und Außerkraftsetzung verschiedener kultureller Differenzierungen des gesellschaftlichen Personals“.56 Dabei erweist sich das Konzept der Humandifferenzierung für die historische Forschung insofern als besonders anschlussfähig, als es offen ist für jede Art von Differenzierungen. Stärker als Fenstermaker und West betont Hirschauer dabei die Möglichkeit des „Undoing“ von Unterscheidungen, das heißt des praktischen Nichtvollzugs von Differenzierungen bzw. der „situations- und feldspezifischen Deaktivierung von Mitgliedschaften“.57 Von Interesse ist mithin nicht nur das Anknüpfen an Unterscheidungen und damit ihre kulturelle Verfestigung, sondern die Indifferenz gegenüber Differenzen als Möglichkeit und damit ihre praktische Dekonstruktion.58 Die Geschichtswissenschaft hat in jüngster Zeit Impulse der Intersektionalitätsforschung aufgenommen, dabei jedoch andere Kategorien der Differenz in den Vordergrund gestellt als soziologische Analysen moderner Gesellschaften. Dies betrifft insbesondere die in vormodernen europäischen Gesellschaften zentralen Kategorien von Stand und Rang, zu deren Erforschung mittels des Intersektionalitätsparadigmas 53 Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaft? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen. Hg. von Vera Kallenberg, Jennifer Meyer und Johanna M. Müller. Wiesbaden 2013, S. 105–124, hier S. 111–112. 54 Schul und Böth: Abenteuerliche Überkreuzungen, S. 20. 55 Ebd. 56 Website der DFG-Forschergruppe 1939: Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, URL: https://www.blogs.uni-mainz.de/undoingdifferences/ [15.05.2018]. 57 Stefan Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43/3, 2014, S. 170–191, hier S. 182. 58 Hirschauer: Humandifferenzierung, S. 29–54.
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methodisch neue Wege eingeschlagen wurden. 59 Daneben hat insbesondere die Geschlechtergeschichte Impulse der Intersektionalitätsdebatte aufgenommen und Geschlechternormen in ihren wechselseitigen Verschränkungen mit anderen in der Vormoderne wirkmächtigen Kategorien wie etwa Stand, Dynastie oder Lebensalter untersucht.60 Hier lässt sich auch fruchtbar an Befunde der älteren Geschlechterforschung anknüpfen, die herausgestellt hat, dass das binäre Geschlechtermodell erst mit der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts seine volle gesellschaftliche Strukturierungskraft entwickelt habe.61 Gegenstand der Forschung waren dabei insbesondere Gerichtsakten, welche die Einordnung von Menschen in bestimmte Kategorien von ‚normal‘ bis ‚deviant‘ besonders deutlich werden lassen.62 Insgesamt hat die Geschichtswissenschaft aus dem soziologischen Paradigma der Intersektionalität Anregungen aufgegriffen, sich diese jedoch in einer ganz eigenen Weise angeeignet. Soziale Differenzierungen und Hierarchisierungen gehören ebenfalls zum Kernbestand der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung. Hier ist jedoch anzumerken, dass die einzelnen Studien nicht oder nicht notwendigerweise mit einer machtkritischen Perspektive operieren, wie sie etwa der Intersektionalitäts- und diversity-Forschung häufig eigen ist. Tatsächlich wird erst in jüngerer Zeit explizit mit dem Konzept der Intersektionalität operiert – Diversität spielt in den Literaturwissenschaften bisher kaum eine Rolle –, wobei dies zum einen meist Forschungen zur Gegenwartskultur betrifft.63 Zum anderen bedient sich vor allem die germanistische Mediävistik des Intersektionalitätskonzeptes. Diese geht u.a. der Frage nach, wie Differenzen narrativ konstruiert werden und bezieht dabei inhaltlich-
59 Vgl. zuletzt Verschränkte Ungleichheit. Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit. Hg. von Matthias Bähr und Florian Kühnel. Berlin 2018. Aus Sicht der Patronageforschung vgl. Birgit Emich: Normen an der Kreuzung. Intersektionalität statt Konkurrenz oder: Die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von Amt, Stand und Patronage. In: Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Hg. von Arne Karsten und Hillard von Thiessen. Berlin 2015, S. 83–100. Aus Sicht der Außereuropäischen Geschichte, auch mit vergleichenden Perspektiven Flüchter: Handling of Diversity in Early Modern India? S. 297–334. 60 Andrea Griesebner: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit. In: Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Hg. von Veronika Aegerter u.a. Zürich 1998, S. 129–137. 61 So bereits Heide Wunder: Er ist die Sonn‘, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992. 62 Griesebner, Hehenberger: Intersektionalität, S. 113–122. 63 Vgl. etwa: Intersektionalität und Kulturindustrie. Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Präsentationen. Hg. von Katharina Knüttel und Martin Seeliger. Berlin 2011.
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handlungsbezogene, formal-strukturelle sowie kulturelle Aspekte in die Analyse ein.64 Auf diese Weise kann etwa aufgezeigt werden, so Beatrice Michaelis, „wie soziale Kategorisierungsprozesse bestimmte literarische Muster generieren und wie diese wiederum an der Konstruktion sozialer Kategorisierungen partizipieren.“65 Das Potential einer solchen dezidiert literaturwissenschaftlichen und erzähltheoretisch fundierten Intersektionalitätsforschung liegt damit in der Untersuchung der spezifischen Rolle und Funktion der Literatur bei der Produktion von und Reflexion über symbolische Ordnungen und Repräsentationen.
DIVERSITÄT HISTORISCH Dieser Sammelband knüpft in verschiedener Weise methodisch an diese Konzepte an. Dies betrifft zunächst die grundlegende Annahme, dass Kategorien der Ungleichheit sozial und kulturell konstruiert und damit historischem Wandel unterworfen sind, weiterhin die Annahme, dass dieser Wandel im Sinne eines Verständnisses von „doing diversity“ in einem stetigen Zusammenspiel gesellschaftlicher Strukturen und individuellen Handelns stattfindet und dass dabei schließlich jeweils mehr als eine Kategorie sozialer Ungleichheit relevant wird. Der Sammelband wählt dabei jedoch mit der Untersuchung von „Diversität“ einen anderen Blickwinkel als die Arbeiten zu Intersektionalität, indem Diversität als ein System von Differenzierungen verstanden wird, das je nach historischer Konstellation in unterschiedlicher Weise gesellschaftlich wirksam wird. Unter dem Schlagwort „Selbstpositionierungen und Zuschreibungen“ versammelt der Band zunächst drei Beiträge von Victoria Gutsche, Eva Lehner und Annette Keilhauer, die das Individuum und dessen Selbstverortung innerhalb der Gesellschaft in den Blick nehmen. Ausgehend von sehr unterschiedlichen Quellen gehen sie der Frage nach, wie sich das Individuum bzw. die literarische Figur innerhalb des gesellschaftlichen Systems positioniert, indem die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe behauptet oder auch in Frage gestellt wird. Dementsprechend konzentrieren sich die Beiträge auf einzelne Differenzkategorien, ohne jedoch zu unterschlagen, dass sich das Individuum immer durch Mehrfachzugehörigkeiten auszeichnet: Während sich die Beiträge von Gutsche und Lehner in erster Linie die Kategorie gender
64 Vgl. z.B. Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. 65 Beatrice Michaelis: Riesiges Begehren – Zur erzählten Interdependenz von ‚race‘, ‚class‘ und ‚gender‘ im Prosa-Lancelot. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. von Christian Klein und Falko Schnicke. Trier 2014 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 9), S. 87–100, hier S. 90.
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fokussieren, nimmt der Beitrag von Keilhauer vor allem die Kategorie Stand in den Blick. Auffällig ist, dass sich alle Beiträge unterschiedlichen Formen der Grenzüberschreitung widmen, die Kategorien sichtbar machen, indem sie sie diskutieren: Victoria Gutsche analysiert in ihrem Beitrag zwei deutschsprachige Romane aus dem 17. Jahrhundert, in denen es wiederholt zu Cross-Dressing-Episoden kommt. Dabei kann sie zeigen, dass die Zuschreibung von Geschlechterrollen sich vor allem auf äußerliche Merkmale, genauer: die Kleidung, stützt, wobei Verhandlungssache ist, was als männlich/weiblich angesehen wird. Kleidung gibt jedoch nicht nur Auskunft über das Geschlecht, sondern auch über Stand, Alter oder Herkunft, sodass der Blick auf die Kleidung Aufschluss über Diversitätskonstellationen gibt, insofern sich dort verschiedene Differenzkategorien überlagern. Zu beachten ist hier freilich – dies gilt auch für die von Keilhauer untersuchten Texte –, dass es sich um ästhetisch überformte Texte handelt. Der geschlechtlichen Differenzierung in der Frühen Neuzeit widmet sich auch, nun aus praxeologischer Perspektive, Eva Lehner in ihrem Beitrag und kommt dabei zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Victoria Gutsche: Ausgehend von überlieferten Gerichtsakten zeigt sie anhand zweier historischer Fälle von Cross-Dressing aus dem frühen 18. Jahrhundert auf, dass für die gesellschaftliche Umwelt nicht das Anlegen von Männerkleidung durch eine Frau problematisch war oder das Zusammenleben von zwei Frauen, sondern vielmehr der ‚illegitime‘, da ‚widernatürliche‘ – so die zeitgenössische strafrechtliche Vorstellung – sexuelle Kontakt zwischen zwei Frauen. Dementsprechend wurden Linck und Buncke auch nicht für das Tragen von Männerkleidung zum Tode verurteilt, sondern für ‚Sodomie‘ sowie andere Delikte. Die Analyse der Fälle von Buncke und Linck verweist vor diesem Hintergrund nochmals darauf, dass Differenzkategorien konsequent zu historisieren sind: ‚Moderne‘ Vorstellungen sexueller und geschlechtlicher Vielfalt erweisen sich mit Blick auf die juristischen Quellen wie auch die erhaltenen Selbstzeugnisse als unangemessen, geht es in diesen doch nicht um die geschlechtliche oder sexuelle Identität der Personen. Verhandlungsgegenstand vor Gericht war vielmehr die Frage, ob mittels eines Instruments ‚Sodomie‘ begangen werden konnte. Auch in den Selbstzeugnissen spielt das körperliche Geschlecht keine Rolle. Annette Keilhauer liest drei französische autobiographische Zeugnisse aus dem 18. Jahrhundert unter Rückgriff auf Hirschauers Konzept der Humandifferenzierung als Orte der (Selbst-)Reflexion über gesellschaftliche Zuordnungen, die zugleich auch Zuordnungen neu- oder fortschreiben. Das Subjekt konstruiert und konstituiert sich erst im Akt des retrospektiven Schreibens und gibt damit nicht nur Aufschluss über sich selbst, sondern vor allem über die Bedingungen der Selbstkonstruktion. Dabei vollzieht sich dieser Prozess keineswegs willkürlich, sondern entlang historisch spezifischer Differenzierungslinien wie auch unter Rückgriff auf literarische Traditionen. Vor dem Hintergrund der immensen sozialen und politischen Umbrüche im Frankreich des 18. Jahrhunderts verwundert es nicht, dass sich alle drei intensiv
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mit Standesprivilegien auseinandersetzen, diese kritisch reflektieren und in Frage stellen, vor allem da insbesondere Valentin Jamerey-Duval und Jean-Jacques Rousseau als soziale Aufsteiger immer wieder mit der sozialen Wirklichkeit der Ständegesellschaft konfrontiert werden. Der sozialen Distinktion qua Besitz und äußerem Auftreten setzen die Autoren bzw. die Autorin meritokratische Distinktion entgegen, wobei gerade am Beispiel Marie-Jeanne Rolands deutlich wird, dass innerhalb der Revolutionsgesellschaft das Primat des persönlichen Verdiensts für Frauen nur eingeschränkt wirksam war. Unter dem Titel „Konstruktionen und Kategorisierungen“ lassen sich die Beiträge von Fritz Dross, Moritz Florin und Dirk Niefanger zusammenfassen. Diese nehmen jeweils eine oder mehrere Differenzkategorien in den Blick und zeigen auf, wie in unterschiedlichen historischen Situationen Kategorisierungen entstehen und so „Diversität“ generiert wird. Die Beiträge machen dabei deutlich, dass diese Praktiken zwar einerseits der Stabilisierung dieser Kategorien dienten, diese sich jedoch in der Praxis auch veränderten und weiterentwickelten. Mit der Kategorie „Krankheit“, oder hier spezifischer: „Lepra“, fokussiert Fritz Dross eine medizinische Differenzierungskategorie, die bislang in der Diversitätsforschung kaum wahrgenommen wurde, jedoch in den vielen Gesellschaften weitreichende soziale Folgen hatte. Dross zeigt zunächst, wie sich „Lepra“ von einem rituellen Begriff der Antike zu einem medizinischen Krankheitsbegriff wandelte und untersucht anschließend die Nürnberger Sondersiechenschau des 16. Jahrhundert als Praxis der Kategorisierung, welche zentral für die Konstruktion dieser Kategorie war. Die hier vorgenommene Unterscheidung von Leprosen und Nicht-Leprosen war weiterhin ebenso von kultisch-religiösen Aspekten der Reinheit wie von einem naturwissenschaftlich-medizinischen Verständnis von körperlicher Krankheit geprägt. Indes hatten sich die sozialen Folgen dieser Kategorisierung fundamental gewandelt: Diente die Feststellung des „Aussatzes“ zunächst dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, so berechtigte sie im frühneuzeitlichen Nürnberg mit der Unterbringung im Leprosium zu Versorgungsprivilegien. Auch die Darbietungen des im 19. Jahrhunderts aufkommenden Zirkusses stellten solche Praktiken des Unterscheidens von Menschen und deren Einteilung in Gruppen dar. Wie der Beitrag von Moritz Florin zeigt, war der Zirkus zwar einerseits ein Ort idealisierter Vielfalt, der zahlreiche unterschiedliche Menschen gemeinsam auftreten ließ, doch spiegelten auch die Darstellungen im Zirkus vorhandene gesellschaftliche Differenzierung und generierten ihrerseits Hierarchien. So folgten etwa die als „Völkerschauen“ bezeichneten Darstellungen bestimmter Gruppen aus fernen Ländern streng europäischen Zuschreibungen und Kategorisierungen, wie etwa „Indianer“ oder „Feuerländer“ und wurden anhand ebensolcher zugeschriebener Merkmale wie etwa „Federschmuck“ dargestellt. Auch in den Darbietungen von Frauen wurden mit der Darstellung als Objekten sexueller Begierde und einer gleichzeitigen Betonung bürgerlicher Moralvorstellungen ebenfalls bürgerliche Geschlechterrollen
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fortgeschrieben. Zugleich überschritt der Zirkus hier jedoch tradierte Rollenmuster und bot mit der Darstellung physischer weiblicher Fähigkeiten sowie der Möglichkeit, eigenständig Geld zu verdienen, Potentiale der Emanzipation. Auch innerhalb der Gesellschaft des Zirkusses wurden tradierte Differenzierungen nur teilweise überschritten: Während die Zusammenarbeit unterschiedlicher Menschen und Nationen etwa zwischen Europäer und Asiaten egalisierend wirken konnte, galt dies für Schwarze nur in Einzelfällen. Als Praxis der Differenzierung liest schließlich Dirk Niefanger Berufs- und Ständebücher der Frühen Neuzeit. Ausgehend vom Intersektionalitätskonzept argumentiert Niefanger, dass hier Kategorisierungen von Menschen nach Berufstätigkeiten jeweils mit religiösen, ethischen, habituellen, und geschlechtlichen Merkmalen verbunden worden und es so zu einer Verstärkung der Abgrenzungen gekommen sei. Insbesondere körperlich-physiologische Merkmale, wie etwa die konstatierte „Magenschwäche“ der Gelehrten, dienen dabei der Naturalisierung ständischer Unterschiede. Besonders in der Abgrenzung zu Außenseitern, wie Angehörigen der unehrlichen Berufe, ‚Zigeunern‘ oder Juden, dienten solche Argumentationsmuster der Differenzierung und damit zugleich der Stabilisierung eines Ordnungssystems. Ebenso wie Dross und Florin weist auch Niefanger auf Dynamiken und Grenzen der Differenzierungen hin: Zum einen verweise die Darstellung der Tätigkeit des Totengräbers auf eine schon zeitgenössische Vorstellung einer Gleichheit aller Menschen im Tod, zum anderen argumentierten auch die Ständebücher nach 1700 zunehmend im Sinne der Aufklärung. Mit Konzepten und Konstellationen von Diversität befassen sich die Autoren der letzten drei Beiträge des Sammelbandes. In den Aufsätzen von Julia Obertreis, Stephan Kokew und Margrit E. Kaufmann geht es nicht in erster Linie um die Konstruktion, als vielmehr um gesellschaftliche Strategien des Umgangs mit vorgefundenen Konstellationen von Vielfalt. So bezeichnet Kokew Diversität als „kontextuelle Gegebenheit“ im Entstehungsumfeld des Islams, für Obertreis ist Diversität eines der zentralen Charakteristika von Imperien. Die religiöse, soziale, ethnische und kulturelle Vielfalt sei Großreichen inhärent gewesen und habe Politik und Diskurse geformt. Margrit Kaufmann wiederum geht von der Zunahme sozio-ökonomischer Ungleichheiten in westlichen Gegenwartsgesellschaften aus. Diversity beschreibt sie als ein „Zeitgeist-Dispositiv“, das sowohl auf neue Möglichkeiten, vorherrschende Ordnungssysteme und Grenzen zu überschreiten, als auch auf neue Formen der Grenzziehung verweise. In allen drei Beiträgen geht es also um gesellschaftliche Strategien des Umgangs mit Diversität, die ihren Niederschlag in Diskursen oder Dispositiven, Kategorisierungen oder Rechtsordnungen finden. Julia Obertreis erprobt in ihrem Beitrag anhand des Beispiels des Russischen Reiches die von den Vertreter*innen des Intersektionalitätsansatzes geforderte Analyse der Überkreuzungen von unterschiedlichen Kategorien sozialer Differenzierung. Dabei konzentriert sie sich einerseits auf die in der Imperienforschung etablierten
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Kategorien der Ethnie, des Standes und der religiösen Zugehörigkeit, fügt diesen jedoch weitere hinzu, darunter etwa die Profession und die Sprache. Sie vermag zu zeigen, dass diese Kategorien nicht nur in einem Wechselverhältnis zueinander standen, sondern sich auch in den Biographien Einzelner überkreuzten und je nach sozialer oder auch räumlicher Zuordnung als mehr oder weniger sozial wirksam erwiesen. Insbesondere jedoch weist sie darauf hin, wie sich der imperiale Staat selbst darum bemühte, in die Prozesse der Selbstverortung der Bewohner des Imperiums einzugreifen und wie er damit einen Beitrag zur Verstetigung fluider Kategorien leistete. Im Bemühen, „Ethnie“, „Nationalität“, „sozialen Stand“, „Konfession“ und „sprachliche Zugehörigkeit“ eindeutig voneinander zu unterscheiden, schuf der Staatsapparat des Russischen Reichs um 1900 auch neue Möglichkeiten der strategischen Positionierung und Neudefinition von Zugehörigkeiten. Stephan Kokew untersucht in seinem Beitrag die Auseinandersetzung islamischer Gelehrter mit religiöser Vielfalt. Anhand von Textbeispielen vermag der Autor zeigen, dass religiöse Diversität bereits zum Zeitpunkt der Entstehung des Islams ein wichtiger Gegenstand der Reflexion muslimischer Gelehrter war. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Konzept der dhimma, da es eine Inklusion von Nichtmuslimen in eine sich als „islamisch“ konstituierende Gesellschaft ermöglichte. Kokew belegt insofern, wie in einer historischen Konstellation ein System normativer Differenzierungen herausbilden kann, das wiederum in einzelnen Suren des Koran seinen Niederschlag findet. Dieses Beispiel ist auch insofern von Interesse, als der im Koran beschriebene Umgang mit Vielfalt über lange Zeiträume hinweg Gültigkeit beanspruchte, dabei allerdings in immer neue historische Kontexte übersetzt werden musste. Letztendlich geht es also um die Entwicklung von Strategien und Praktiken des Umgangs mit Vielfalt sowie um Überlegungen zur Klassifizierung und Kategorisierung von religiöser Vielfalt, Vorgänge also, die sonst gemeinhin mit der Moderne assoziiert werden. Derartige Strategien waren nicht nur Instrumente der Herrschaft, sondern dienten auch der Sicherung von Friedens. Kokew wertet sie deshalb als „ein wichtiges Beispiel für eine positive Wertung von religiöser Diversität aus einer islamischen Perspektive“. Es sei dahingestellt, inwieweit dabei ein solches islamisches Dispositiv als Vorläufer des gegenwärtigen Umgangs mit Vielfalt angesehen werden kann. Die positive Bewertung der Diversität als „Chance“ oder auch „Ressource“ durchzieht jedoch vor allem die gegenwärtigen Debatten zu Diversität. Dabei vollzieht sich die Ausbreitung des Diversitätsbegriffs und damit verwandter Konzepte jedoch keineswegs immer widerspruchsfrei. So verweist Margrit E. Kaufmann in ihrem Beitrag auf „Lücken“ oder „gaps“ gegenwärtiger Strategien und Ansätze im Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt. Das Diversity-Dispositiv erfülle einerseits die strategische Funktion, sozialen Zusammenhalt zu festigen. Auch könne es bei der Überwindung diskriminierender Strukturen und Praktiken eine zentrale Rolle spielen. Doch häufig diene es auch der Verharmlosung oder Vertuschung, insbesondere auch
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im Zusammenhang mit einer ökonomisierenden Argumentation. Kaufmann geht es mithin um die kritische Reflexion auch der eigenen Rolle innerhalb der Debatte über Diversität. Die Geisteswissenschaften sieht sie dabei nicht nur in der Rolle der distanzierten Beobachterinnen, sondern durchaus auch als Mitgestalterinnen von Diversität. Die historischen Wissenschaften, so ließe sich anfügen, vermögen hierzu nicht lediglich einen Beitrag zu leisten, indem sie manche Eitelkeit der „Moderne“ hinterfragen, sondern indem sie auf die Historizität und Wandelbarkeit von Kategorien und Konzepten verweisen. Die Geschichtsschreibung verweist nicht zuletzt auf die vielfältigen Möglichkeiten, Vielfalt zu tolerieren, zu ordnen, zu gestalten, herzustellen und wieder aufzulösen. Dafür, dass dies selten konfliktfrei geschieht, ist die Vergangenheit der beste Beleg. Aufgabe der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Diversität, so ließe sich im Anschluss an Kaufmanns Beitrag anfügen, muss es sein, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist die beständige Reflexion über den Wandel im Umgang mit Diversität.
Selbstpositionierungen und Zuschreibungen
Kleiderwechsel Vestimentäre Differenzierung im Roman des 17. Jahrhunderts Victoria Gutsche
In der Forschung herrscht schon lange Konsens darüber, dass Kleidung mehr ist als eine bloße Verhüllung des Körpers, die bestimmten Moden folgt. 1 Kleidung wird nicht willkürlich gewählt, sie dient nicht nur dem Schutz vor klimatischen Einflüssen oder neugierigen Blicken, sondern sie hat prinzipiell Zeichencharakter, wird der Körper des Trägers doch erst durch sie zu einem sozialen Körper und damit im sozialen Raum verortbar: Denn zum sozialen Produkt wird der Mensch erst, wenn er seine Kleider anlegt; Bekleidetsein ist die Prämisse aller übrigen Ausdrucksformen der sozialen Identität. Wer nackt ist, kann sich nicht in der Öffentlichkeit bewegen, und wer sich nicht in der Öffentlichkeit bewegen kann, ‚bekleidet‘ keine soziale Position.2
Kleidung dient mithin der Ermöglichung sozialer Beziehungen, indem sie nicht nur den Körper verhüllt, sondern ihn vor allem einordnet: Über die Kleidung wird sowohl die Standes- und Berufszugehörigkeit als auch Alter, Familienstand, Herkunft bzw.
1
Vgl. beispielhaft Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 44,1 (1993): Zwischen Schein und Sein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft. Hg. von Neithard Bulst, Robert Jütte und Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50); Joanne Entwistle: The Fashioned Body. Fashion, Dress & Modern Social Theory. Cambridge 2015; Ulinka Rublack: Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe. Oxford 2010.
2
Bulst, Jütte und Kraß: Geschriebene Kleider, S. 23. Siehe auch: Martin Dinges: Von der „Lesbarkeit der Welt“ zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft. In: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 44,1 (1993), S. 90–112, hier S. 90f.
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Wohnort, Geschlecht, Religion oder ethnische Zugehörigkeit sichtbar markiert. Die Kleidung wird damit durch die Sichtbarmachung unterschiedlicher Differenzzuschreibungen zum äußeren Zeichen von Diversität, das heißt einem System von Differenzierungen, das auf bestimmten normativen Vorstellungen beruht. Dem zugrunde liegt dabei die Annahme, dass das vestimentäre Zeichen die soziale Zugehörigkeit repräsentiert, dass das Äußere das Innere vertritt. Wird diese Zuordnung unterlaufen, entspricht also das Äußere nicht mehr dem Inneren, kommt es zu einer Irritation, die die zugrunde gelegte Norm sichtbar macht. Im Folgenden wird die These vertreten, dass die in literarischen Texten beschriebene Kleidung3 nicht nur Auskunft über die jeweilige Gruppenzugehörigkeit gibt, sondern – insbesondere beim Kleiderwechsel – die Differenzkategorien (Geschlecht, Stand, Alter etc.) als diskursiv hervorgebracht ausstellt. Der Fokus liegt dabei vor allem auf dem Wechsel von Geschlechterrollen durch Cross-Dressing, gleichwohl werden andere Differenzkategorien immer mitbedacht, da sich in der Kleidung stets mehrere Differenzierungen überlagern. Für das Motiv des Cross-Dressings, das heißt das Verkleiden einer Frau als Mann oder anders herum,4 finden sich in der Literatur zahlreiche Beispiele; schlagwortartig seien nur Shakespeares Merchant of Venice oder As you like it, Boccacios Decamerone, die Legende von der Päpstin Johanna, Ulrich von Liechtensteins Frauendienst, Ariosts Orlando furioso, Sidneys Arcadia oder Grimmelshausens Courasche, die als Soldat verkleidet am Krieg teilnimmt, genannt.5 Dass es sich beim Cross-Dressing freilich nicht nur um ein literarisches Motiv handelt, belegen zahlreiche Fälle ‚realen‘ Cross-Dressings; Rudolf M. Dekker und Lotte C. van de Pol können allein für das 17. und 18. Jahrhundert nur für die Niederlande 119 Fälle von Frauen, die (zeitweise) als Männer lebten, belegen.6 Eine weitere Form des Cross-Dressings findet sich im 3
Damit ist der Analysegegenstand die „geschriebene Kleidung“. Vgl. dazu Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Übers. von Horst Brühmann. Frankfurt a.M. 1985 [Système de la mode. Paris 1967], S. 13f.
4
Die Skala der Möglichkeiten reicht dabei laut Vern und Bonnie Bullough von „[…] simply wearing one or two items of clothing to a full-scale burlesque, from a comic impersonation to a serious attempt to pass as the opposite gender, from an occasional desire to experiment with gender identity to attempting to live most of one’s life as a member of the opposite sex.“ Vern L. Bullough, Bonnie Bullough: Cross Dressing, Sex, and Gender. Philadelphia 1996, S. vii.
5
Vgl. auch die Aufzählung verschiedener Romane vom Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts, in denen Frauen in Männerkleidern agieren, bei Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam, Atlanta 2001, S. 399.
6
Vgl. etwa den Fall von Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, die/der mehrere Jahre als Mann lebte und 1721 in Halberstadt wegen
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Theater, wo Männer bis ins 18. Jahrhundert selbstverständlich Frauenrollen in Dramen und Opern verkörperten und Frauen ab etwa Mitte des 18. Jahrhunderts Männerrollen spielten (die sogenannte Hosenrolle). Dabei handelte es sich jedoch nicht um ein subversives Spiel mit Geschlechterrollen, sodass diese Form des Cross-Dressings hier unberücksichtigt bleiben soll.7 Aus der Vielzahl der literarischen Belege werden im Folgenden exemplarisch zwei frühneuzeitliche Romane aus der Mitte des 17. Jahrhunderts – der satirische Roman Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und der höfisch-historische Roman Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules und der Böhmischen Königlichen Fräulein Valiska WunderGeschichte von Andreas Heinrich Bucholtz – näher beleuchtet, in denen es wiederholt zu Kleiderwechseln kommt, mit denen nicht nur die geschlechtliche Zuordnung, sondern auch die soziale Position gewechselt wird. Darüber hinaus wird immer wieder ausführlich auf Kleidung und Ausstattung der Figuren eingegangen, sodass sich beide Romane besonders eignen, die Funktion von Kleiderwechseln in Bezug auf das jeweilige System von Differenzierungen näher zu betrachten. Während nämlich die Cross-Dressing-Episoden im Herkules-Roman von Seiten der Forschung bisher nicht näher analysiert wurden, ist die Forschung den Kleiderwechseln im Simplicissimus Teutsch durchaus schon früh nachgegangen, geht doch mit jeder neuen Lebensstation von Simplicius ein Kleiderwechsel einher.8 Allerdings kamen dabei meist nur einzelne Differenzkategorien wie etwa der soziale Status in den Blick. Dass das Anlegen eines neuen Kleides aber stets auch Auswirkungen auf andere Differenzkategorien, wie etwa das Geschlecht, hat, wurde bisher nur am Rande berücksichtigt.
„Sodomiterey“ hingerichtet wurde. Vgl. dazu den Beitrag von Eva Lehner in diesem Band sowie Angela Steidele: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biografie und Dokumentation. Wien 2004. Vgl. weiter auch Rudolf M. Dekker und Lotte C. van de Pol: The Tradition of Female Transvestism in Early Modern Europe. Houndmills, London 1989. 7
Vgl. dazu einführend Barbara Becker-Cantarino: Maske und Rollenfach. Zur Hosenrolle im Theater der Frühen Neuzeit. In: Rollenfach und Drama. Hg. von Anke Detken und Anja Schonlau. Tübingen 2014 (Form Modernes Theater 42), S. 159–179.
8
Vgl. die Hinweise in Fußnote 34.
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GRIMMELSHAUSENS SIMPLICISSIMUS TEUTSCH Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen von 1668 erzählt die fiktive Biographie des Hirtenjungen Simplicissimus, der nach einem Überfall auf den Hof seiner Eltern von einem Einsiedler erzogen wird. Nach dessen Tod wird der einfältige Junge zum Narren gemacht, bevor er Soldat in kaiserlichen Diensten wird. Nach zahlreichen Wechselfällen heiratet er, hält sich eine Zeit lang in Paris auf, wird einfacher Musketier und danach Räuber. Er pilgert nach Einsiedeln und wird wieder Offizier, bevor er vorerst im Schwarzwald sesshaft wird. Weitere Abenteuer führen Simplicius schließlich nach Moskau, Korea, Japan usw. bis er sich schließlich als Einsiedler in die Wildnis zurückzieht. Im zweiten Teil des Romans – der sogenannten Continuatio – unternimmt er als Pilger wiederum weite Reisen, bevor ihn ein Schiffbruch auf eine Insel verschlägt, wo er wiederum zum Eremiten wird und seine Erlebnisse aufschreibt. Bei Simplicius’„erste[m] Sprung in die Welt“9 nach dem Tod des Einsiedels wird er mit allerlei seltsamen Erscheinungen konfrontiert. Darunter befindet sich ein Offizier, den er jedoch aufgrund seiner äußeren Erscheinung nicht einordnen kann: Jch wuste nicht/ ob er Sie oder Er wäre/ dann er trug Haar und Bart auff Frantzösisch/ zu beyden Seiten hatte er lange Zöpff herunder hangen wie Pferds-Schwäntz/ und sein Bart war so elend zugerichtet/ und verstümpelt daß zwischen Maul und Nasen nur noch etlich wenig Haar so kurtz darvon kommen/ daß man sie kaum sehen konte: Nicht weniger setzten mich seine weite Hosen/ seines Geschlechts halber in nicht geringen Zweiffel/ als welche mir vielmehr einen Weiber-Rock/ als ein paar Manns-Hosen vorstelleten. Jch gedachte bey mir selbst/ ist diß ein Mann? so solte er auch einen rechtschaffenen Bart haben/ weil der Geck nicht mehr so jung ist/ wie er sich stellet: Jsts aber ein Weib/ warumb hat die alte Hur dann so viel Stupffeln umbs Maul? Gewißlich ists ein Weib/ gedacht ich/ dann ein ehrlicher Mann wird seinen Bart wol nimmermehr so jämmerlich verketzern lassen; massen die Böcke auß grosser Schamhafftigkeit keinen Tritt unter frembde Heerden gehen/ wenn man ihnen die Bärt stutzet. Und demnach ich also im Zweiffel stunde/ und nicht wuste/ was die jetzige Mode war/ hielte ich ihn endlich vor Mann und Weib zugleich. Dieses männische Weib/ oder dieser weibische Mann/ wie er mir vorkam/ liesse mich überall besuchen/ fande aber nichts bey mir / als ein Büchlein von Bircken-Rinden/ […]/ solches nam er mir; weil ichs aber ohngern verlieren wolte/ fiel ich vor ihm nider/ faßte ihn umb beyde Knie/ und sagte: Ach mein lieber Hermaphrodit, last mir doch mein Gebetbüchlein!10
9
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt a.M. 1989, S. 67.
10 Ebd., S. 71f.
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Simplicius, selbst außerhalb der Gesellschaft stehend und deshalb nicht mit der aktuellen Mode vertraut, gelingt es nicht, den Offizier ‚korrekt‘ einzuordnen, da er das Äußere des Offiziers nicht mit seinen Vorstellungen von männlich/weiblich in Übereinstimmung bringen kann, sodass er sich – nach längerer Überlegung – für die behelfsmäßige Einordnung seines Gegenübers als ‚drittes‘ Geschlecht entscheidet. Irritierend wirkt dabei weniger der Körper selbst, als vielmehr die artifizielle Zurichtung desselben oder genauer die künstliche Veränderung dreier traditionell männlicher Merkmale – Bart, Hose und Haartracht –, die hier jedoch eher auf ein weibliches Gegenüber schließen lassen, trägt der Offizier doch „Zöpff“ und „einen Weiberrock“. Dem widerspricht jedoch der Bart, wobei aber nicht ausgeschlossen wird, dass auch eine Frau Bart tragen kann. Simplicius stört sich hier also nicht am Vorhandensein des Bartes, sondern an dessen vermeintlich ‚unmännlicher‘ Zurichtung. Laut Simplicius sieht ein ‚richtiger‘ Mann nämlich anders aus: enge Hosen, kurzes oder zumindest nicht geflochtenes Haupthaar, ordentlicher Bart; weite Kleider erscheinen hingegen als Zeichen von Weiblichkeit. Da der Offizier dieser Vorstellung nicht entspricht – und auch nicht Simplicius’ Vorstellung, wie eine Frau auszusehen hat –, erklärt er ihn zum Hermaphroditen. Der Offizier freilich würde sich wohl kaum als unmännlich, hermaphroditisch oder weiblich bezeichnen, kleidet er sich doch nach der neuesten (Männer-)Mode.11 Hier prallen mithin unterschiedliche Vorstellungen von männlichem/weiblichem Aussehen aufeinander, die sich jedoch nicht auf anatomische Unterschiede – die weite Hose verdeckt diese ja gerade12 – gründen, sondern auf künstliche Zeichen, auf die Kleidung.13 Das heißt, dass die Zuweisung des Geschlechts ein Akt der letztlich willkürlichen, gleichwohl aber normativen Setzung ist, die sich (fast ausschließlich) auf das äußere Erscheinungsbild stützt. Geschlechtliche Differenzierung wird somit wesentlich über Kleidung vorgenommen, gleiches gilt auch für Stand, Herkunft, Alter etc. Dies basiert auf einem Zeichenmodell, das von einer Kongruenz von Innen und Außen, Kleid und Bekleidetem, von einer prinzipiellen Lesbarkeit der Zeichen ausgeht. 14 Das setzt freilich voraus, dass der jeweils zugrundeliegende Code ge- und erkannt wird: Im Fall von Simplicius beruht die Fehlidentifikation ja gerade auf 11 Vgl. ebd., S. 72. Darauf verweist auch Bunia explizit: Remigius Bunia: Die Natur der Androgynie. Grimmelshausen, Goethe und Meinecke im Raster von Natur und Kultur. In: KulturPoetik 8,2 (2008), S. 153–169, hier S. 156. 12 Vgl. dazu ebd., S. 157. 13 Vgl. zu dieser Episode auch Daniela Fuhrmann: „Ach mein lieber Hermaphrodit, last mir doch mein Gebetbuechlein!“ (Simplicissimus). In: https://intersex.hypotheses.org. Männlich-weiblich-zwischen. Towards a longue durée history of ambiguously sexed bodies. / Auf dem Weg zu einer langen Geschichte geschlechtlich uneindeutiger Körper. http://intersex.hypotheses.org/3170 [Stand: 29.08.2017]. 14 Vgl. Dinges: Von der „Lesbarkeit der Welt“, S. 94.
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seiner Unkenntnis des zeitgenössischen Modediskurses.15 Zudem ist diesem Zeichenmodell die Störung inhärent, insofern die vermeintlich eindeutige Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem unterlaufen oder verkehrt werden kann, wenn das Verhüllte nicht mehr dem Sichtbaren entspricht und das Kleiden zum Verkleiden wird.16 Dies ist etwa der Fall, wenn Simplicius Frauenkleider anlegt, um sein Narrengewand loszuwerden, und einige Zeit als Magd dient.17 Der Kleiderwechsel erfolgt hier um einen sozialen Aufstieg zu erreichen, wobei betont wird, dass Simplicius eigentlich ein „altes Baurenkleid“18 haben wollte, mit dem „Weiber-Kleid“ jedoch „muste […] vor lieb nehmen“.19 Es reicht allerdings nicht aus, nur das Kleid zu wechseln, um als Frau wahrgenommen zu werden, und so muss Simplicius den Kleiderwechsel plausibilisieren, indem er seine Schritte anpasst und seine Fähigkeiten in den ‚weiblichen Künsten‘ – „kochen/ bachen [sic] und wäschen“20 unter Beweis stellt. Die Täuschung ist überaus erfolgreich: Bereits kurz nach dem Kleiderwechsel wird er von Soldaten verfolgt, die ihn vergewaltigen wollen, und auch der Rittmeister und sein Knecht stellen Simplicius nach, sodass „mich das Weiber-Kleid viel saurer zu tragen ankam/ als meine Narrn-Kapp“. 21 Schließlich entgeht Simplicius nur knapp einer Vergewaltigung durch etliche Reiterjungen, als ihm im Getümmel das Kleid zerrissen und sein männliches Geschlecht offenbar wird, sodass von einer Vergewaltigung abgesehen wird. Die Frauenkleidung fungiert vor dem Hintergrund der durch sie ausgelösten Gewaltexzesse damit nicht nur als Zeichen der Geschlechtszugehörigkeit 15 Die Episode ordnet sich darüber hinaus – gerade durch die Konfrontation des natürlichen Simplicius mit dem modischen Offizier – in die zeitgenössische Alamode-Kritik ein. Vgl. dazu Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Wien 1986 (Literatur und Leben, NF 30), S. 116–118; Thomas Strässle: „Vom Unverstand zum Verstand durchs Feuer“. Studien zu Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch“. Bern u.a. 2001 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 34), S. 50–55 und Bunia: Die Natur der Androgynie, S. 155–157. 16 Vgl. dazu Dominica Volkert: Maske oder Natürlichkeit? Aporien eines allgemeinen ModeDiskurses und ein konkretes Fallbeispiel um 1800. In: Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung. Hg. von Elfi Bettinger und Julika Funk. Berlin 1995 (Geschlechterdifferenz & Literatur 3), S. 171–193, hier S. 177f. 17 Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 205–213. Vgl. zu dieser Episode, die ein Motiv des höfisch-heroischen Romans verarbeitet, Rosmarie Zeller: Simplicius liest die Arcadia – Der „Simplicissimus Teutsch“ zwischen Pikaro-Roman und höfisch-heroischem Roman. Mit einem Anhang zu den Übersetzungen von Sidneys „Arcadia“. In: Simpliciana XXVII (2005), S. 77–101, hier S. 80–82. 18 Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 205. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 209. 21 Ebd., S. 208.
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nach außen, sondern vor allem als Zeichen für und – wenn auch im Roman nicht explizit ausgesprochenen – Kritik an einer hierarchischen heteronormativen Geschlechterordnung, in der insbesondere die sexuelle Gewalt an nicht-ehrbaren Frauen nicht geahndet wurde.22 Besonders deutlich wird dies, wenn man die Parallelstelle im Courasche-Roman heranzieht: Courasche wird durch einen Obristleutnant tagelang grausamen Vergewaltigungen preisgegeben, bevor sie schließlich durch einen Rittmeister gerettet wird. 23 Während die Gewalt bei Simplicius im Augenblick des Entdeckens der Verkleidung also stoppt, und damit auch die ‚Gefahr‘ homosexuellen Begehrens gebannt ist,24 wird Courasches nackter Körper zum Objekt „Viehische[r] Unmenschen“. 25 Im Simplicissimus – gleiches gilt für Courasche – wird demnach ein (anatomischer) Unterschied zwischen Mann und Frau behauptet, der durch einen bloßen Kleiderwechsel nicht zu überwinden ist. Beim hier vorgeführten Cross-Dressing handelt es sich mithin stets um eine Verkleidung, einen nur oberflächlichen, künstlichen Wechsel der Geschlechtsidentität,26 die zugleich aber durch den Rollenwechsel den satirisch-entlarvenden Blick ermöglicht. Simplicius ist als Frau jedoch nicht nur den Nachstellungen der Männer preisgegeben, sondern wird auch von der Rittmeisterin begehrt. Aufgegriffen wird ein im höfisch-heroischen Roman beliebtes Motiv – der Geliebte verkleidet sich als Frau, um Zutritt zum weiblichen Gemach zu erhalten27 –, allerdings in satirischer Verkehrung: So ist Simplicius der Rittmeisterin geradezu ausgeliefert, soll ‚sie‘ doch „ihren 22 Vgl. Ulrike Zeuch: Verführung als wahre Gewalt? Weibliche Macht und Ohnmacht in Grimmelshausens Courasche und Simplicissimus. In: Simpliciana XXXI (2009), S. 143– 160, hier S. 145. 23 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Courasche. Zitiert nach der Ausgabe Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Courasche/ Springinsfeld/ Wunderbarliches Vogelnest I und II/ Rathstübel Plutonis. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt a.M. 1992, S. 67–71. 24 Die ‚Unmöglichkeit‘ einer sexuellen Begegnung mit Männern wird auch durch den Erzähler, den alten Simplicissimus behauptet. Vgl. Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 207. 25 Ebd., S. 68. Vgl. zu dieser Episode auch Dirk Niefanger: Erzählweisen der Gewalt im XII. Kapitel von Grimmelshausens Courasche. In: Simpliciana XXXI (2009), S. 209–225 und Zeuch: Verführung als wahre Gewalt?, S. 143–160. 26 Dies zeigt sich auch mit Blick auf den Courasche-Roman. So wünscht zwar Courasche Hermaphrodit (S. 52) oder Mann (S. 27) zu werden und kleidet sich dementsprechend, tatsächlich bleibt sie aber – auch in Männerkleidung – Frau. Vgl. dazu Nicola Kaminski: gender-crossing:. Narrative Versuchsanordnungen zwischen Eros und Krieg in Grimmelshausens Courasche und Lohensteins Arminius. In: Simpliciana XXXI (2009), S. 227–244 sowie Klaus Haberkamm: „Sebel unter dem Schenkel“. Zur Funktion des Hermaphroditischen in Grimmelshausens „Courasche“. In: Simpliciana XXIV (2002), S. 123–140. 27 So auch Zeller: Simplicius liest die Arcadia, S. 81.
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zarten Leib […] betasten“.28 Vorgeführt (und kritisiert) wird hier nicht nur närrische, nur auf dem Äußeren beruhende Verliebtheit,29 sondern auch, dass das Begehren bzw. die Attraktivität standesgebunden ist und sich somit zuallererst auf die Kleidung richtet, an der ja die jeweilige soziale Position ablesbar ist bzw. durch die die soziale Position behauptet wird. Während Simplicius nämlich im „Weiber-Kleid“, welches er im Stall gefunden hat, zwar für „etliche Fouragierer“ gerade aufgrund der sich im „garstigen Bauren-Küttel[..]“ausdrückenden niederen sozialen Position – im Gegensatz zu den „etlichen Offiziers-Weibern“ auf der Straße – ein vermeintlich leichtes Opfer darstellt, wird er vom Rittmeister, seiner Gattin und dem Knecht noch stärker begehrt, nachdem er „wie eine Frantzösische Popp“ herausgeputzt wurde. 30 Die visuelle Angleichung an das Rittmeisterpaar durch die repräsentative und damit das Paar repräsentierende Kleidung verstärkt jedoch nicht nur die Attraktivität, sondern fungiert auch als äußeres Signum der Verfügungsgewalt des Paares über Simplicius. Dass die Kleidung jedoch nur Verkleidung und damit auch jederzeit reversibel ist, wird nicht nur durch die Wortwahl des Erzählers deutlich – Simplicius wird „wie Frantzösische Popp“31 ausgestattet –, sondern auch durch die Reaktion des Rittmeisters auf die Nichterfüllung seines Begehrens. Er gibt Simplicius als „Blut-Hur“32 dem „Lumpengesind“ 33 preis, sodass dieser wieder an den Anfang seiner versuchten Flucht aus dem Narrengewand versetzt wird. Erst die Aufdeckung der Verkleidung als solche und die ‚angemessene‘ Einkleidung in nicht närrische Kleider führen schließlich, wenn auch um den Preis der zeitweiligen Gefangennahme, zur Befreiung aus dem Narrenstand.34 28 Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 208. 29 Vgl. den Hinweis im Kommentar: Grimmelshausen: Simplicissimus, S. 866. 30 Die neue Einkleidung durch die Rittmeisterin auf Geheiß ihres Gatten erfolgt freilich auch aus Repräsentationszwecken, „damit sie sich meines garstigen Bauren-Küttels nicht schämen dörffte“. Ebd. S. 206. 31 Ebd. [Herv. V.G.]. 32 Ebd, S. 209. 33 Ebd., S. 210. 34 Dass im Simplicissimus über die hier nur knapp besprochenen Episoden hinaus das Motiv des Kleiderwechsels von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist wurde von der Forschung schon früh erkannt und wiederholt thematisiert. Vgl. beispielhaft Klaus-Detlef Müller: Die Kleidermetapher in Grimmelshausens „Simplicissimus“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 44 (1970), S. 20–46; Peter Hess: The Poetics of Masquerade. Clothing and the Construction of Social, Religious, and Gender Identity in Grimmelshausen’s Simplicissimus. In: A Companion to the Works of Grimmelshausen. Hg. von Karl F. Otto. Rochester, NY 2003, S. 299–331; Torsten Voß: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch. Bielefeld 2016, S. 127–139.
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BUCHOLTZ’ DES CHRISTLICHEN TEUTSCHEN GROSS-FÜRSTEN HERKULES UND DER BÖHMISCHEN KÖNIGLICHEN FRÄULEIN VALISKA WUNDER-GESCHICHTE (1659–1660) Der höfisch-historische Roman Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules und der Böhmischen Königlichen Fräulein Valiska Wunder-Geschichte (1659–1660) von Andreas Heinrich Bucholtz spielt im dritten Jahrhundert nach Christi. Im Mittelpunkt der Handlung steht Herkules, Sohn eines deutschen Großfürsten, der mit Valiska, Schwester des böhmischen Thronfolgers Ladisla, einem engen Freund von Herkules, verlobt ist. Da Herkules während einer Gefangenschaft zum Christentum übergetreten ist, kann er vorerst nicht in seine heidnische Heimat zurückkehren und die beiden Freunde Herkules und Ladisla durchziehen als „umschweiffende Ritter“35 Italien. Valiska macht sich aus Prag auf, Herkules zu suchen, und verkleidet sich dazu als Mann. Während ihrer Reise wird sie jedoch entführt, sodass Herkules und Ladisla sie durch den Nahen und Mittleren Osten verfolgen, bis sie schließlich nach einer großen Schlacht mit König Artabanus befreit werden kann. Verheiratet kehren beide mit ihrem Gefolge nach Böhmen zurück. Dort müssen sie wiederum zahlreiche Schlachten schlagen und können schließlich das Christentum durchsetzen. Zudem wird Klara, die Schwester von Herkules, entführt, doch kann sie – mittels zahlreicher Verkleidungsspiele – gerettet werden.36 Bereits zu Beginn des Romans kommt es zu einem ausgedehnten Cross-Dressing der weiblichen Heldin Valiska, bei der es sich um eine überaus tugendhafte, unvergleichlich schöne, mutige und fromme Heldin handelt, kurz „a superhuman being“:37
35 [Andreas Heinrich Bucholtz:] Des Christlichen Teutschen Groß=Fürsten Herkules Und Der Böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder=Geschichte […]. Teil I. Braunschweig 1659. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1659/60. Hg., eingeleitet und mit einem Personen- und Sachverzeichnis versehen von Ulrich Maché. Bern, Frankfurt a.M. 1973, S. 14. 36 Bucholtz inszeniert die christliche Erbauung in zahlreichen aneinander gereihten Tugendund Lastererzählungen, sodass die Exempelerzählungen mitunter weitgehend unverbunden nebeneinander stehen: „Entscheidender Strukturgesichtspunkt ist nicht die innere Kohärenz, sondern die rhetorisch-exemplarische Funktionalität.“ Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ‚politischer‘ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 65), S. 103 [Hervorhebung im Original]. Daher erscheint es legitim, einzelne Episoden herauszugreifen, bleiben sie doch auch ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs verständlich. 37 Helen Watanabe-O’Kelly: Beauty or Beast? The Woman Warrior in the German Imagination from the Renaissance to the Present. Oxford 2010, S. 190.
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So ist sie nicht nur außergewöhnlich schön, musikalisch, tapfer und gottesfürchtig, sondern auch überaus gelehrt; mit dreizehn unterzieht sie Ovid, Vergil, Herodot und andere antike Autoren einer kritischen Lektüre. Für die Geschlechterdifferenzierung bzw. -zuschreibung besonders auffällig ist, dass sie sich zunächst den „weiblichen Künsten/ als nähen/ sticken/ klöppeln/ Goldspinnen und dergleichen“38 verwehrt – gleichwohl ist sie später eine Meisterin in diesen Künsten –, da sie der Auffassung ist, Frauen müssten, ebenso wie Männer, fähig sein, das Vaterland zu verteidigen. Dementsprechend lässt sie sich im Bogenschießen, Jagen, Reiten und Nahkampf ausbilden und bringt es auch hier zur Meisterschaft. Dass es sich dabei um ‚männliche Künste‘ handelt, wird explizit thematisiert, etwa wenn ihre Mutter sie auf ihre Übungen anspricht: bildestu du dir ein/ liebes Kind/ durch diese Ubungen vielleicht ein Mannesbilde zu werden? Sie [Valiska] aber allemahl zur Antwort gab: sie möchte wünschen/ daß solches möglich währe/ oder doch zum wenigsten der Brauch seyn möchte/ daß das Weibliche Geschlecht den Ritterlichen Ubungen nachzöge […].39
Valiska stellt hier tradierte Rollenzuschreibungen in Frage, die ihrerseits jedoch – auch am liberalen Hof ihrer Mutter – immer noch Geltung beanspruchen, und entwirft damit implizit die Utopie eines die gender-Grenzen überschreitenden Menschen, insofern das Ausüben bestimmter Handlungen eines Menschen keinen Rückschluss mehr auf sein Geschlecht zulässt, indem – idealiter – eben nicht mehr zwischen männlichen und weiblichen „Ubungen“ unterschieden werden kann, wenn alle, also Männer und Frauen, diese ausführen können. Diesem Entwurf verleiht sie Ausdruck, indem sie sich einen Reitharnisch anfertigen lässt und somit zweideutige Kleidung trägt, ist ihre Kleidung doch insgesamt weder eindeutig männlich noch weiblich, wenn sie den männlich konnotierten Reitharnisch über dem weiblichen Kleid trägt. Allerdings trägt sie diesen Reitharnisch nur im Gemach und verschlossenen Burghof, sodass die zeitgenössisch skandalös erscheinende Uneindeutigkeit, von der ja auch die Einwände der Mutter gegenüber Valiska getragen sind, nur im geschlossenen und geschützten Raum ihren Ort hat. Dementsprechend wird Valiskas doppelgeschlechtliches Verhalten auch nicht durch die Erzählinstanz kritisiert und auch andere Figuren stoßen sich kaum an ihrem Hang zum Jagen und Kämpfen. Es kommt hier mithin zu einer Virilisierung der Heldin, sie stellt von Anfang an eine virago dar, eine „über 38 Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 187. 39 Ebd., S. 189. Vgl. auch die Erwiderung Valiskas auf Ermahnungen ihres Vaters, nachdem sie einen wilden Ochsen getötet hat: „Sie hingegen wante ein/ sie währe so wol gesinnet/ ihr Leben durch allerhand Mittel zu retten/ als ein Mann; und wer weis/ sagete sie/ ob ich nicht habe sollen ein Knabe werden/ weil meine Seele viel lieber mit männlichen als weiblichen Sachen umbgehet[…].“ Ebd., S. 191.
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allen ‚weiblichen‘ Frauen stehende ‚Mann(Jung)Frau‘, die ihre ‚weibliche‘ Schwäche überwunden hat, sich durch ‚männliche‘ Tapferkeit und Mut auszeichnet und durch ihre Tugend (virtus) ‚männlich‘ handelt“.40 Die Virilisierung wird im Übrigen auch auf sprachlicher Ebene vollzogen, wenn Valiska in Männerkleidern, sie nennt sich dann Herkuliskus, mit männlichem Personalpronomen bezeichnet wird. 41 Allerdings ist der Status als virago nicht von Dauer und von vornherein – mit Blick auf die mythische virago, bei der Jungfräulichkeit, man denke etwa an Athene oder Artemis, eine notwendige Bedingung ist42 – nur temporär gedacht, zieht sie doch aus, um den Geliebten zu finden. Nach der Heirat mit Herkules und der Geburt ihres Sohnes Herkuliskus wandelt sich Valiska dementsprechend von der jungfräulichen virago zur mütterlichen Beschützerin. Sie kämpft und tötet, um die ihr Anvertrauten zu retten und agiert als Verteidigerin des Christentums,43 sodass Valiska nun als beschützende Landesmutter figuriert.44 Darüber hinaus beteiligt sie sich noch an Turnieren, wobei sie jedoch stets die Maske einer Amazone trägt, die es ihr erlaubt, am Kampf teilzunehmen.45 Tatsächlich legitimiert erst diese Maskerade – auch im Falle der idealen Figur Valiska – die Turnierteilnahme, beschränkt sich die Rolle und Funktion der Frau doch, ausgehend von den übrigen weiblichen Figuren, auf Zusehen und Krönung der Sieger. Die Maske der Amazone ist dabei nicht zufällig gewählt, ermöglicht diese doch die Teilnahme am Kampf, da es durch den explizit mythischen Bezug nicht zu einer Verwischung der tatsächlichen Rollenzuschreibungen kommt. Es nimmt eben keine Frau am Turnier teil, sondern eine Amazone, ohne dass damit jedoch zwangsläufig 40 Jennifer Villarama: Die Amazone. Geschlecht und Herrschaft in deutschsprachigen Opernlibretti und Sprechdramen (1670–1766). Frankfurt a.M. 2015 (MeLiS. Medien – Literaturen – Sprachen 19), S. 25. Vgl. weiter auch Claudia Opitz: Hunger nach Unberührbarkeit? Jungfräulichkeitsideal und weibliche Libido im späteren Mittelalter. In: Feministische Studien 5 (1986), S. 59–75, hier S. 60. 41 Vgl. beispielhaft Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 7. 42 Vgl. Kaminski: gender-crossing, S. 230f. 43 Vgl. [Andreas Heinrich Bucholtz:] Des Christlichen Teutschen Groß=Fürsten Herkules Und Der Böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder=Geschichte […]. Teil II. Braunschweig 1660. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1659/60. Hg., eingeleitet und mit einem Personen- und Sachverzeichnis versehen von Ulrich Maché. Bern, Frankfurt a.M. 1979, S. 356, 618. 44 Valiska steht mit dem doppelgeschlechtlichen Entwurf, ihrem Selbstverständnis als kriegerische Frau, die sowohl männliche wie weibliche Eigenschaften vereint und diese zum Vorteil des Landes einsetzt, der Figur der Erato aus Lohensteins späterem Roman Großmüthiger Feldherr Arminius oder Hermann (1689/90) nahe. Vgl. zu Erato Kaminski: gender-crossing, S. 233–241. 45 Vgl. Bucholtz: Herkules und Valiska II, S. 419, 914f.
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emanzipatorische Bestrebungen einhergehen, zumal das Tragen der Amazonenmaske auf die Dauer des höfischen Turniers beschränkt ist.46 Die Transgression der Gendergrenzen durch die Virilisierung führt des Weiteren nicht dazu, dass Valiska zum Hermaphroditen, das heißt zum gemischt- oder doppelgeschlechtlichen Wesen, das zwischen Mann und Frau steht, wird, da an ihrer sich auf anatomische Unterschiede gründenden Weiblichkeit trotz ‚männlicher‘ Fähigkeiten und zeitweiser männlicher Kleidung kein Zweifel besteht. So wird zum einen die uneindeutige Kleidung nämlich nur im Burghof und Gemach getragen; wenn Valiska als Mann agiert, trägt sie eindeutig männlich konnotierte Kleidung. Zum anderen wird ein Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Anatomie behauptet, der nicht negiert wird. So etwa im Gespräch zwischen Valiska und ihrer Mutter, als Valiska vom Hof abreisen will, um Herkules zu finden: Wann du noch ein unmanbahres Fräulein währest/ hätte ich so viel weniger zubedenken; nun du aber schon ansehnlicher bist/ als dein Alter mit sich zubringen pfleget/ muß ich so viel mehr und grössere sorge vor dich tragen. Ey herzen Fr. Mutter/ sagte sie/ hindert mich sonst nichts an der Reise/ so könte ich mich leicht mit einem Manneskleide verstellen/ und euch dieser angst mit einem par Hosen benehmen. Die Königin lachete des anschlags/ und gab zur antwort: O mein Schätzgen/ meinestu dz dich iemand wegen eines par Hosen vor einen Jungling halten werde? Nein o nein! deine Zartheit/ und dz du zimlich schon gebrüstet bist/ würde dich viel zu bald verrahten. Meinen Busem/ sagte sie weiß ich wol zuvermachen; so war jensmal meines Bruder Fürst Herkules Zartheit nicht viel geringer als die meine. Seine Sitten und Geberden/ sagte die Königin/ auch die Gliedmassen/ gingen der Mannheit näher als deine. Ich will mich in solchem allen auch wol zwingen/ antwortete das Fräulein/ und ob ihr meine Haar mir vorwerffen würdet/ sol ein leichter Helm dieselben bald unsichtbar machen. 47
Die Differenz zwischen Mann und Frau wird durch die Mutter hier in erster Linie anatomisch begründet und motiviert das Cross-Dressing, das sich innerhalb der literarischen Konventionen bewegt: Um auf ihrer Reise größeren Handlungsspielraum zu haben, verkleidet sich Valiska als Mann, sodass es sich dabei funktional nicht um eine Transgression von Geschlechterzuschreibungen, sondern vielmehr um eine 46 Auch Herkules tritt im Übrigen als Amazone verkleidet bei einem Turnier auf, wobei diese Form der Verkleidung die Ausnahme bleibt. Vgl. Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 665. Mit dem Anlegen der Amazonenmaske durch Herkules geht ebenfalls keine grundsätzliche Infragestellung geschlechtlicher Differenzierung einher, verkleideten sich Männer im Rahmen von höfischen Verkleidungsdivertissements doch durchaus häufiger als Frau, wobei meist auf mythische Frauengestalten zurückgegriffen wurde. Vgl. dazu Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden: Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 53), S. 179–182. 47 Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 230.
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zweckgebundene Verkleidung und Tarnung handelt. Ihr (anatomischer) Körper wird keiner Veränderung unterzogen, er ist vielmehr sogleich als weiblicher zu erkennen, wenn das Männerkleid nicht den ganzen Körper bedeckt oder sie singt,48 sodass die Vorstellung einer klaren Unterscheidbarkeit von männlich/weiblich durch das CrossDressing von Valiska unangetastet bleibt. Valiska verunsichert insgesamt also nicht durch das Anziehen der Männerkleidung, sondern durch ihre ‚männliche Stärke‘. Gleiches gilt in umgekehrter Weise für Herkules, dessen gottgleiche Schönheit irritiert, sodass sich sein jeweiliges Gegenüber nicht immer sogleich sicher ist, ob er Mann oder Frau vor sich hat.49 Beispielhaft sei auf eine Episode zu Beginn des Romans verwiesen: Herkules und Ladisla treffen auf eine Gruppe von Räubern, die gerade drei nackte Jungfrauen schänden wollen. Der Anführer dieser Gruppe entdeckt Herkules und hält ihn für eine weitere Jungfrau, die er sich gefügig machen will. Herkules – wohlgemerkt im Harnisch und nicht als Frau verkleidet – wehrt sich erfolgreich und weist den Räuber in seine Schranken. Eine Erläuterung, wie der Räuber zu seinem Fehlschluss kommt, findet sich nicht, allerdings ist sich auch Sophia, eine der geretteten Jungfrauen, nicht sicher, wie sie Herkules einordnen soll und verweist damit natürlich auch auf die normative Notwendigkeit einer Zuordnung: Mit diesem Worte gelangeten sie bey Herkules an/ dem Frl. Sophia sehr tieffe Ehrerbietung erzeigete/ und seine Gestalt fast vor übermenschlich hielt/ so daß sie schier auff des ersten Räubers Wahn gerahten währe/ und redete ihn also an: Vortrefflicher Ritter und Herr/ wann wir die Heldentahten nicht gesehen hätten/ die euer unüberwindlicher Arm glüklich vollenbracht hat/ könten wir dem scheine nach/ anders nicht Urteilen/ als daß ihr mit uns eines Geschlechtes währet; weil aber nicht vermuhtlich ist/ daß unter einer weiblichen Brust solche Krafft und stärke wohnen solte/ müssen wir eure Manheit nicht in zweiffel ziehen […].50
Die Erläuterung Sophias offenbart die durch Herkules Erscheinung infrage gestellte Norm, wird doch Schönheit in erster Linie als weibliche 51 und körperliche Stärke, kriegerische virtus, als männliche Eigenschaft begriffen. Dass Herkules aber überhaupt für eine Frau gehalten werden kann, bedingt sich zum einen in seiner Jugend und der damit verbundenen Bartlosigkeit, die wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass er sich später als Frau verkleiden kann. Insbesondere der Bart fungiert damit – wie schon im Simplicissimus – als erstes Signum der Geschlechtsidentität: 48 Vgl. z.B. Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 606. 49 Herkules verkleidet sich im Übrigen zeitweise als Frau, um zu Valiska zu gelangen. Aber auch hier motiviert das Cross-Dressing – wie schon im Simplicissimus – keine Transgression von Geschlechtergrenzen. Vgl. ebd., S. 864–873. 50 Ebd., S. 30. 51 Vgl. z.B. ebd., S. 300, 563.
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Herkules hatte ein schön gelbes Haar/ welches ihm wie krause Locken über die Schultern hing; seine Hände wahren plüßlich und schneweiß/ mit blaulichten Adern/ das Angesicht weiß-zart/ mit rohtem vermischet/ daß wer ihn sahe/ nicht anders gedenken kunte/ er währe ein Weibesbild in Manneskleidern/ weil noch kein Häärlein an seinem Kinn erschien; die Augen stunden ihm wie den Falken/ doch voller Liebligkeit und blaulicht. Die Stirne glat/ und ein Zeichen seines auffrichtigen Herzen; die Nase etwas erhaben und gerade zu/ fast länglicher dann kurzlecht/ und strahlete aus allen seinen Blicken eine so anmuhtige Freundligkeit hervor/ daß wer ihn sahe/ zu seiner Liebe und Gewogenheit angereizet ward/ weil alle seine Geberden in sonderlicher Demuht und mannlicher freier Ernsthafftigkeit bestunden.52
Zudem wird immer wieder darauf verwiesen, dass er sich durch eine unvergleichliche „zarte Schönheit“ auszeichnet, die ihn Valiska annähert, ja sie ähneln sich bis zur Ununterscheidbarkeit. So bringt etwa die Zofe Valiskas die Ähnlichkeit in der ‚Unvergleichlichkeit‘ beider auf den Punkt: „Er [Herkules] ist der unvergleichliche/ und sie [Valiska] die unvergleichliche/ die sich/ O des Glüks! mit einander auffs allerähnlichste vergleichen werden.“53 Bei beiden wird immer wieder ihr Äußeres – unabhängig von der gewählten Verkleidung – als gottgleich und vollkommen beschrieben, sodass sich jeder – unabhängig von ihrer jeweiligen (Ver-)Kleidung – in sie verliebt.54 Mit ihrer vollkommenen Schönheit, der auch „garstige Lumpen“55 keinen Abbruch tun und die als äußeres Zeichen für innere Tugenden fungiert, verkörpern Held und Heldin gemeinsam das Ideal des gottähnlichen Menschen, der in gleicher Weise Mann und Frau ist: „Darumb / wird ein Man seinen Vater vnd seine Mutter verlassen / vnd an seinem Weibe hangen vnd sie werden sein ein Fleisch.“ (Gen 2, 24).56 Noch getrennt – „die Wiedererlangung der paradiesischen Androgynie aber [ist] erst für die Zeit nach dem Jüngsten Gericht in Aussicht gestellt“57 – erscheinen sie beide in ihrer Vollkommenheit, die eben ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ 52 Vgl. Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 427. 53 Ebd., S. 51 [Herv. V.G.]. 54 Ebd., S. 186. Das Lob von Herkules und Valiskas Schönheit wird im Roman beständig wiederholt. 55 Ebd., S. 258f. 56 Martin Luther: Biblia. Das ist: Die gantze Heilige Schrifft/ Deudsch/ Auffs new zugericht. Wittenberg 1545. Ähnlich auch Watanabe-O’Kelly, die zudem auf die Namensähnlichkeit bei Verkleidungsspielen verweist (Valiska nennt sich Herkuliskus, Herkules nennt sich Valikules), jedoch keinen Bezug zur paradiesischen Androgynie herstellt. So seien beide „two aspects of the same person, and together they make up one perfect human being“. Watanabe-O’Kelly: Beauty or Beast, S. 193. Vgl. weiter auch die Schilderung von Valiskas Jugend, die nach der Entführung von Herkules „ganz umgekehret“ ist, fehlt ihr doch ein Teil ihrer selbst. Ebd., S. 187. 57 Aurnhammer: Androgynie, S. 25.
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Eigenschaften und Merkmale gleichermaßen einschließt, für jeweils beide Geschlechter attraktiv. Damit wird die dem Roman zugrundeliegende dichotomische Geschlechterordnung ebenso wie die heterosexuelle Norm jedoch nicht aufgehoben: So werden zwar Rollenzuschreibungen vermeintlich dekonstruiert, Herkules und Valiska erweisen sich als kaum unterscheidbar und auch auf der sprachlichen Ebene scheint die Differenz zu verschwimmen, jedoch wird die anatomische Differenz weiter behauptet. Darüber hinaus betrifft die Transgression allein das Idealpaar Herkules und Valiska, alle anderen Figuren bleiben eindeutig Mann oder Frau, die sich entsprechend tradierter Zuschreibungen – etwa männliche Stärke und weibliche Schwäche – verhalten. Die Ähnlichkeit von Valiska und Herkules verweist mit dem Entwurf einer idealen Doppelgeschlechtlichkeit, die jedoch nur auf das Heldenpaar beschränkt ist und damit auf die übrigen Figuren irritierend wirkt, ex negativo auf die Notwendigkeit einer Differenzierung. Diese Differenzierung wird zuvörderst über den natürlichen Körper vorgenommen, wobei sich am Körper verschiedene Differenzierungskategorien überlagern und überkreuzen; der Körper wird so zum „Aushandlungsort intersektionaler Positionierungs- und Differenzierungsprozesse“. 58 So geben etwa das Aussehen des Körpers ebenso wie körperliche Akte, wie zum Beispiel Sprachbeherrschung und Gestik, Aufschluss über die kulturell-geographische Herkunft einer Figur, über ihr Alter, ihren Stand bzw. sozialen Status sowie charakterliche Disposition, wobei die einzelnen Differenzierungskategorien nicht nur relational, sondern vor allem prinzipiell veränderbar und damit explizit als nicht-essentialistisch gedacht werden. Insgesamt erweist sich so der Körper als komplexes Konglomerat unterschiedlicher Differenzkategorien, wobei ein einzelner Marker auf verschiedene Kategorien verweist und die Interdependenz dieser deutlich werden lässt. Zeigen lässt sich dies etwa an der Hautfarbe, die als äußerlicher Marker für die geographische Herkunft einer Figur erscheint, wobei die Zuordnung von Hautfarbe und spezifischer Herkunftsregion ausdrücklich als instabil begriffen wird, wenn darauf verwiesen wird, dass sie allein von der jeweiligen Sonneneinstrahlung abhängig sei59 und sich die Herkunft, ebenso wie der Stand, am ehesten an Sitten und Sprache ablesen lasse.60
58 Susanne Schul und Mareike Böth: Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹. Vormoderne intersektional. In: Abenteuerliche ›Überkreuzungen‹. Vormoderne intersektional. Hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg. Göttingen 2017, S. 9–39, hier S. 31. 59 Vgl. Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 579 und Bucholtz: Herkules und Valiska II, S. 49. 60 Vgl. Ebd., S. 306, 396, 443–452, 555 u.ö. Nach der geographischen Herkunft wird tatsächlich jedoch kaum differenziert, sondern vielmehr entsprechend der religiösen
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Gleichwohl gibt jedoch die Hautfarbe Aufschluss über die soziale Position sowie die charakterliche Disposition: So weisen sozial niedriger gestellte – und damit tendenziell eher untugendhafte – Figuren eine, sofern die Hautfarbe überhaupt erwähnt wird, eher dunklere Tönung auf und Herkules muss sich sein Gesicht dunkel färben, um mit seiner weißen, fast durchscheinenden und deshalb besonders schönen Haut unter Räubern nicht aufzufallen.61 Helle Haut gilt als besonders schön und da Schönheit an Tugend gebunden ist, erweisen sich die besonders tugendhaften Figuren als schön wegen ihrer hellen Haut. Der Körper trägt mithin innere Werte nach außen und repräsentiert diese, wenn – mit Abstufungen – alle positiven Figuren von ausnehmender Schönheit sind, die negativen hingegen Makel aufweisen oder ein „greuliches Gesicht […]/ an dem sie alle Abscheu hatten“;62 das Äußere entspricht mithin der in der Vorrede vorgenommenen Tugend-/Laster-Ordnung.63 Doch Schönheit ist nicht nur ein Privileg der Tugendhaften, sondern vor allem der Jungen und höheren Stände. So wird – bis auf wenige Ausnahmen – nämlich nur bei diesen das Äußere überhaupt näher beschrieben,64 sodass Schönheit stets mit (tugendhaft eingesetzter) Macht einhergeht, wobei das Maß der Schönheit dem Maß der Macht entspricht. Schönheit veranschaulicht mithin tugendhafte Macht – Tyrannen eher werden als eher hässlich dargestellt –, die zugleich an Jugend gebunden ist. Dieser Fokussierung auf die Jugend, das Neue, entspricht die im Roman entworfene teleologische Perspektive auf eine neue christliche – und deshalb, so die Logik des Romans, tugendhafte – Herrschaft, die das Überkommene, d.h. den Paganismus, ablöst und in der Durchsetzung des christlichen Katechismus mündet.65 Doch wird freilich nicht nur durch den Blick auf den Körper selbst differenziert, sondern vor allem im Betrachten der Kleidung, der artifiziellen Zurichtung des Körpers. Diese gibt nicht nur Aufschluss über das Geschlecht, sondern vornehmlich über den Stand und, damit verbunden, die Tugend, liegt dem Roman doch die Vorstellung zugrunde, dass sich insbesondere die höheren Stände durch einen besonders tugendhaften (und christlichen) Lebenswandel auszeichnen. Äußeres Zeichen dafür ist nicht nur die Schönheit des Gesichtes, sondern auch die besonders schöne und reiche Kleidung, die der körperlichen Schönheit und damit der Tugend und dem
Zugehörigkeit, wobei in Bezug auf die verschiedenen Religionen eine klare Rangfolge gemäß der ihnen zugeschriebenen Wertigkeit aufgestellt wird. Vgl. ebd., S. 684. 61 Vgl. ebd., S. 272f. 62 Ebd., S. 589. 63 Vgl. ebd. [Erinnerung an den Leser] S. 2f. 64 Eine Ausnahme bilden hier freilich die untugendhaften Charaktere, bei denen das ‚schlechte‘ Innere schon am Gesicht abzulesen ist. 65 Vgl. zur teleologischen Verfasstheit des Romans Disselkamp: Barockheroismus, S. 105f.
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Stand entsprechen muss.66 Vor diesem Hintergrund erscheint das Anlegen der falschen, das heißt der den inneren Werten bzw. der inneren Verfasstheit nicht entsprechenden Kleidung, als überaus heikel. Beispielhaft sei auf den um seine tote Tochter trauernden Vater verwiesen, der das Trauerkleid ab- und Festtagskleidung anlegt, da sein Sohn heiraten wird.67 Der Kleiderwechsel stellt für jene, die um die Umstände oder Motive des Kleiderwechsels nicht wissen, einen offensichtlichen Normbruch dar, da nun nicht mehr die eigentliche angebrachte Trauer öffentlich gemacht wird, sodass sogleich von der Königin eine Erklärung eingefordert wird. Die hier von der Königin zunächst wahrgenommene Inkongruenz von Kleidung und innerer Verfassung wird tatsächlich als wesentlich problematischer dargestellt als etwa das CrossDressing, wird doch Tugend und Stand unabhängig vom Geschlecht gedacht. Dies sei abschließend anhand einer kurzen Passage veranschaulicht: Herkules hat Valiska gerade aus den Händen des Partherkönigs Artabanus gerettet, indem Valiska sich als schlecht gekleidete Krämerin verkleidete und so aus dem Schloss entkommen konnte. Sobald Herkules und Valiska in der Herberge von Herkules angekommen sind, „reiß [sic] [Herkules] ihr die Kleider vom Leibe/ legte ihr ein Manneskleid von gutem Leder/ und einen festen Panzer an/ ein Schwert an die Seite/ Stiefeln und Sporn an die Beine/ und einen grauen Medischen Reit Rok umb den Leib.“ 68 Das Herunterreißen der Kleider ist zum einen handlungslogisch motiviert, ist doch davon auszugehen, dass das Fehlen Valiskas bald bemerkt wird und Suchtrupps nach den vermeintlichen Krämerinnen ausgesandt werden. Zum anderen aber verweist die Vehemenz, mit der Herkules Valiska umkleidet, darauf, dass eine die inneren Werte nicht repräsentierende Kleidung, das „unwirdige Kleid“69, nicht nur unangemessen, sondern buchstäblich ‚verkehrt‘ ist. Die angelegte männliche Kleidung hingegen entspricht zwar nicht der geschlechtlichen Zuordnung, sie repräsentiert aber die Qualitäten Valiskas (Tapferkeit, kriegerische virtus), sodass dieses Kleid – sofern es sich um schöne Kleidung handelt – dem eigentlichen Sein Valiskas viel eher entspricht.70 66 Vgl. die ausführlichen Beschreibungen der Kleider Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 102, 300, 431, 635f., 701 u.ö. Die angenommene Kongruenz von Innen und Außen kann natürlich auch bewusst unterlaufen werden, etwa wenn zur Tarnung „bürgerliche[..] schlechte[..] Tracht“ (Bucholtz: Herkules und Valiska II, S. 540) und „Lumpen“ (ebd, S. 560) angelegt werden, um unerkannt reisen zu können, wobei jedoch darauf zu achten ist, dass die natürliche Schönheit des Gesichts die Tarnung nicht auffliegen lässt. Vgl. ebd., S. 540f. sowie Bucholtz: Herkules und Valiska I, S. 894. 67 Vgl. ebd., S. 851f. 68 Ebd., S. 873. 69 Ebd., S. 872. 70 Die sich hier artikulierende Forderung, dass Innen und Außen einander entsprechen müssen, wird später auch von Valiska noch einmal vertreten, als sie Herkules bittet, die
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FAZIT Abschließend seien einige Folgerungen knapp thesenhaft zusammengefasst: Die Einordnung des Gegenübers vollzieht sich zuvörderst über das Äußere, über das vestimentäre Zeichen, von dem das jeweilige Geschlecht, der Stand, das Alter etc. abgeleitet wird. Dieser Schluss vom Äußeren aufs Innere bzw. die soziale Position ist jedoch äußerst störanfällig, insofern die zugrunde gelegte Kongruenz von Innen und Außen bewusst unterlaufen werden kann, etwa um eine andere gesellschaftliche Position zu erreichen, oder der Körper dem Kleid nicht entspricht; man denke an Herkules hässlich-machende Farbe, die seine Schönheit verdeckt. Zugleich sind die (äußeren) Zeichen einem beständigen Wandel unterworfen, sodass die Distinktionen, die über die Kleidung vorgenommen werden, Gegenstand eines beständigen Aushandlungsprozesses sind. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn Simplicius die modische Hose des Offiziers nicht als Hose anerkennen mag. Der Kleiderwechsel unterläuft auf den ersten Blick die über Kleidung und das Äußere insgesamt vorgenommenen Distinktionen und stellt sie als diskursiv hervorgebracht aus. Damit geht jedoch nicht notwendigerweise eine Infragestellung der Grenzziehungen einher, sondern diese kann auch bestätigt werden. Deutlich wird dieses am Beispiel des Cross-Dressings im Simplicissimus, zeigt sich doch bei näherer Betrachtung, dass an der dichotomen, heteronormativen Geschlechterordnung nicht gerüttelt wird, auch wenn die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern nicht wie in späteren modernen Texten an einer unveränderlichen anatomischen Verfasstheit festgemacht wird: So muss erstens das Cross-Dressing stets begründet werden und ist zudem nie von Dauer und zweitens wird die Vorstellung eines dritten, zwischen Mann und Frau stehenden Geschlechts mit Blick auf den Offizier verabschiedet. Gleichwohl stellt auch hier das Cross-Dressing die Geschlechterrollen als inszeniert und daher diskutabel und prinzipiell veränderbar aus. Gleiches gilt – mit Einschränkungen – für den Herkules-Roman: So wird auch hier an der dichotomen Ordnung festgehalten, wenn alle anderen Figuren eindeutig entweder als Mann oder Frau erscheinen und die Vorstellung der Transgression der Geschlechtergrenzen nur in Bezug auf das Idealpaar Herkules und Valiska zeitlich begrenzt Wirkung entfaltet,
künstliche Farbe, die ihre Gesichter hässlich macht, abzuwaschen. Die Hässlichkeit erscheint für Valiska nicht akzeptabel, will sie doch Herkules in ihrer „wahrhafften Gestalt“ gegenübertreten, die das Innere nach außen trägt (vgl. ebd., S. 885). Auf die Kongruenz von innerer Tugend und äußerer Schönheit wird zudem wiederholt verwiesen, etwa wenn Valiska – gleiches gilt selbstverständlich auch für Herkules – als „Kleinot“ bezeichnet wird, „an dem auch der allergrimmeste Menschen-Hasser und spitzfindigste Klügling nicht den geringsten Fehler oder Flecken/ so wenig an der Seele als am Leibe zu finden wuste […]“ (ebd. [Herv. V.G.]).
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wobei auch hier die geschlechtsspezifische Zuschreibung bestimmter Merkmale und Eigenschaften zur Diskussion gestellt wird. Dies vollzieht sich jedoch weniger durch das Anlegen anderer Kleidung als vielmehr durch die besonderen (auch körperlichen) Eigenschaften des Heldenpaares und hier insbesondere von Valiska. Bei Kleidung handelt es sich um ein überaus komplexes Zeichensystem, in dem sich verschiedene Differenzierungen überlagern. So gibt beispielsweise eine Hose nicht nur Aufschluss über das Geschlecht des Trägers, sondern Schnitt, Farbe, Ausstattung etc. fungieren als Zeichen für Alter, Modebewusstsein, Beruf oder Stand. Beim Cross-Dressing wird vor diesem Hintergrund durch das Anziehen einer bestimmten Hose nicht nur die geschlechtliche Zuordnung gewechselt, sondern – zumindest potentiell – immer auch die soziale Position, sodass jeweils das spezifische Verhältnis der Differenzkategorien zueinander zu bedenken ist. So kann etwa am Beispiel Valiskas gezeigt werden, dass die sich auf innere Tugenden gründende ständische Differenzierung wesentlich bedeutender erscheint als die geschlechtliche Differenzierung.
„Nach der Hochzeit hätten Sie zusammen als vermeinte Eheleute gelebt, wären zusammen zu Tisch und Bett gegangen“ Sexuelle Diversität in der Frühen Neuzeit? 1 Eva Marie Lehner
Die Frage nach sexueller Diversität in der Frühen Neuzeit – sexuelle Diversität hier zunächst einmal verstanden als Verschiedenheit und Vielfalt von sexuellen Beziehungsformen und Praktiken – lässt sich aus normativer Sicht sehr schnell und einfach beantworten: Vielfalt war nicht vorgesehen. Legitime Sexualität war auf die Ehe als monogame, dauerhaft angelegte Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann beschränkt. Auch die Bandbreite an sexuellen Praktiken war begrenzt, war doch das Zeugen von Nachkommen primäres oder wichtiges Ziel. 2 Sexualität war in der Frühen Neuzeit also keine private Angelegenheit, sondern wurde durch einen religiöskirchlichen Sittenkanon und das weltliche Strafrecht reglementiert und kontrolliert. Jegliche Form von nicht- oder außerehelicher Sexualität wurde dabei kriminalisiert und konnte mitunter strafrechtlich verfolgt werden.3 Zu den sexuellen Strafdelikten zählten Unzucht (vor- oder uneheliche Beziehungen), Bigamie (mehrfache Eheschließung), einfacher und doppelter Ehebruch
1
Ich möchte mich bei den Herausgeber/innen des Sammelbandes und vor allem bei Claudia Jarzebowski für das intensive Lesen und Diskutieren des Aufsatzes und die vielen hilfreichen Anmerkungen bedanken.
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Siehe hierzu: Sara F. Matthews Grieco: Körper, äußere Erscheinung und Sexualität. In: Frauen in der Geschichte. Frühe Neuzeit. Hg. von Arlette Farge und Natalie Zemon Davis. Frankfurt a. M., New York 1994, S. 61–101, hier S. 86.
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Siehe bspw. Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. München 2002, S. 52–74; Ulinka Rublack: The Crimes of Women in Early Modern Germany. Oxford 1999, S. 134–162.
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(außereheliche sexuelle Kontakte, bei denen entweder eine oder beide Personen verheiratet sind), Inzest (Geschlechtsverkehr mit zu nahen Verwandten, hierzu zählte auch die geistige Verwandtschaft durch Patenschaft) und Vergewaltigung (Notzucht), verstanden als sexualisierte und ehrverletzende Gewalt. Neben dieser Unterscheidung zwischen legitimen (ehelichen) und illegitimen (nicht-ehelichen) Formen von Sexualität wurde zudem zwischen natürlichen (auf Zeugung ausgelegten) und widernatürlichen (nicht auf Zeugung ausgelegten) sexuellen Praktiken und Beziehungen unterschieden. Diese sexuellen Handlungen contra naturum wurden unter dem Sammelbegriff Sodomie gefasst und beinhalteten gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen ebenso wie Masturbation oder sexuelle Kontakte mit Tieren (Bestialität), strenggenommen auch orale und anale sexuelle Handlungen, egal in welcher Konstellation.4 In dem vorliegenden Beitrag möchte ich eine Perspektive auf das Thema Sexualität und Diversität vorschlagen, die nicht von diesen normativen und damit immer auch kriminalisierenden Vorstellungen ausgeht, sondern Praktiken und konkrete Beziehungsformen in den Mittelpunkt stellt. Dabei geht es mir in erster Linie darum herauszuarbeiten, dass ein Zugang über Praktiken die Verhandelbarkeit von Sexualität in der Frühen Neuzeit sichtbar werden lässt. Diese Verhandelbarkeit von Sexualität hatte aber auch in der Praxis klare Grenzen, deren Übertreten hart und mit dem Tode bestraft werden konnte und auch wurde. Sexuelle Beziehungen zwischen Frauen stellen ein Themenfeld dar, das sowohl die Verhandelbarkeit als auch die strikten Grenzen von sexuell Erlaubtem und Möglichem in der Frühen Neuzeit aufzeigt. Auf beides, die Verhandelbarkeit und die Grenzziehung in Bezug auf Sexualität und Diversität, möchte ich im Folgenden genauer eingehen und danach fragen, welchen Mehrwert der Begriff oder das Konzept Diversität für eine Geschichte der Sexualität haben könnte. Sexuelle Beziehungen zwischen Frauen, das haben Forschungen bereits festgestellt, sind in doppelter Weise marginal und marginalisiert worden und so häufig unsichtbar geblieben. 5 Zum einen sind diese Beziehungen nach wie vor in den
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Hubertus Lutterbach: Gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten. Ein Tabu zwischen Spätantike und Früher Neuzeit? In: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 281–311, hier S. 302f.; Vern L. Bullough: The Sin against Nature and Homosexuality. In: Sexual Practices & The Medieval Church. Hg. von Vern L. Bullough und James Brundage. New York 1982, S. 55–71, hier S. 55f.
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Helmut Puff: Männergeschichten / Frauengeschichten. Über den Nutzen einer Geschichte der Homosexualitäten. In: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Hg. von Hans Medick und Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1998, S. 125–169, hier S. 136; Judith C. Brown: Lesbian Sexuality in Medieval and Early
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Forschungen zum Thema Sexualität und Homosexualität unterrepräsentiert. 6 Zum anderen wurden sexuelle Beziehungen unter Frauen von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wesentlich weniger oft dokumentiert als bspw. sexuelle Beziehungen unter Männern.7 Wenn sie dokumentiert wurden, dann meist in literarisierter oder kriminalisierter Form.8 Im historischen Material haben sich diese Beziehungen meistens erst dann niedergeschlagen, wenn es zu einer Anzeige kam und die Frauen vor Gericht standen und kriminalisiert wurden, was die Perspektive auf das Thema präfiguriert.9 Sexuelle Beziehungen zwischen Frauen konnten in der Frühen Neuzeit unter den Terminus Sodomie gefasst und damit zu den sexuellen Praktiken und Beziehungen gerechnet werden, die als widernatürlich klassifiziert wurden. Wurden diese Beziehungen angezeigt und vor Gericht verhandelt, konnten sie als gefährliches und die gesellschaftliche wie göttliche Ordnung gefährdendes Verbrechen eingestuft und die Betroffenen dafür mit dem Tode bestraft werden. Nur wenige tradierte Akten von Gerichtsprozessen zu sexuellen Beziehungen von Frauen sind für den deutschsprachigen Raum in der Vormoderne gehoben. Meines Wissen sind sechs dieser Fälle, die sexuelle Beziehungen von Frauen unter dem Label Sodomie verhandeln, zwischen dem vom 15. und 18. Jahrhundert in der Forschung dokumentiert und untersucht worden, bei allen handelt es sich um Zufallsfunde.10 Diese wenigen Beispiele Modern Europe. In: Hidden from History. Reclaiming the Gay and Lesbian Past. Hg. von Martin Duberman, Martha Vicinus und George Chauncey. London 1991, S. 67–75. 6
Siehe bspw.: Tagung „Hof und Homosexualität: Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert“, Hannover 11.10. – 13.10.2017. Es gibt Ausnahmen, wie eine der ersten umfangreichen Studien zum Thema: Judith C. Brown: Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance. Stuttgart 1988.
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Siehe hierzu z.B.: Lyndal Roper: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Frankfurt a.M. 1995, S. 217ff.
8
Claudia Jarzebowski: Art. Lesbische Liebe. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 7. Stuttgart 2008, Sp. 840–842.
9
Siehe zu den methodischen Problemen, die bei der Analyse von Gerichtsakten allgemein zu berücksichtigen sind, bspw.: David W. Sabean: Peasant Voices and Bureaucratic Texts. Narrative Structure in Early Modern German Protocols. In: Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Hg. von Peter Becker und William Clark. Ann Arbor 2001, S. 67–93; Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archives. Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth Century France. Stanford, Cal. 1987.
10 Katherina Hetzeldorfer (1477): Helmut Puff: Weibliche Sodomie. Der Prozeß gegen Katherina Hetzeldorfer und die Rhetorik des Unaussprechlichen an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. In: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 364–380; Helmut Puff: Female Sodomy. The Trial of Katherina Hetzeldorfer (1477). In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 30/1 (2000), S. 41–61. Agatha Dietzsch (1547): Arbeit – Liebe – Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags. 15. bis 18.
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von gerichtlichen Verhandlungen und Verurteilungen von sexuellen Beziehungen unter Frauen im deutschsprachigen Raum stellen selbstverständlich keine in irgendeiner Weise repräsentative Abbildung dar. Aber sie eröffnen die Möglichkeit, das Thema Sexualität und Diversität zum einen von den Rändern11 her zu denken und zum anderen aus einer Perspektive der Praktiken und Beziehungen zu beleuchten und Fragen zu entwickeln.
Jahrhundert. Hg. von Katharina Simon-Muscheid, Dorothea Rippmann und Christian Simon. Liestal 1996, S. 113–121; Margaretha Jedefrau. Hg. von Sully Roecken und Carolina Brauckmann. Freiburg 1989, S. 295–298; Anonyme Frau (1537): Heide Wunder: Geschlechtsidentitäten. Frauen und Männer im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. In: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Hg. von Heide Wunder und Karin Hausen. Frankfurt a.M., New York 1992, S. 133ff; Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600. Chicago 2003, S. 31–35. Elsbeth Hertnerin (1647): Dietegen Guggenbühl: Mit Tieren und Teufeln. Sodomiten und Hexen unter Basler Jurisdiktion in Stadt und Land 1399 bis 1799. Liestal 2002, S. 310–319 (Ich danke Claudia Jarzebowski für den Hinweis). Anna Ilsabe Buncke und Cecilia Jürgens: Mary Lindemann: Gender Tales. The Multiple Identities of Maiden Heinrich. In: Gender in Early Modern German History. Hg. von Ulinka Rublack. Cambridge 2002, S. 131–151; Mary Lindemann: Die Jungfer Heinrich. Transvestitin, Bigamistin, Lesbierin, Diebin, Mörderin. In: Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Hg. von Otto Ulbricht. Köln, Weimar, Wien 1995, S. 259–279; Jakob Michelsen: Von Kaufleuten, Waisenknaben und Frauen in Männerkleidern. In: Zeitschrift für Sexualforschung 9 (1996), S. 205–237; Catharina Margaretha Linck und Catharina Margaretha Mühlhahn: Angela Steidele: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Köln 2004. 11 Judith Butler hat hierfür den Begriff des „Verworfenen“ (the abject) eingeführt: „Das Verworfene [the abject] bezeichnet hier genau jene ‚nicht lebbaren‘ und ‚unbewohnbaren‘ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind und von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‚Nicht-Lebbaren‘ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen. Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für den Bereich des Subjekts abgeben; sie wird jenen Ort gefürchteter Identifizierung bilden, gegen den – und kraft dessen – der Bereich des Subjekts seinen eigenen Anspruch auf Autonomie und Leben eingrenzen wird. In diesem Sinn ist also das Subjekt durch die Kraft des Ausschlusses und Verwerflichmachens konstituiert, durch etwas, was dem Subjekt ein konstitutives Außen verschafft, ein verwerfliches Außen, das im Grunde genommen ‚innerhalb‘ des Subjekts liegt, als dessen eigene fundierende Zurückweisung.“ Judith Butler: Körper von Gewicht. Frankfurt a.M. 1997, S. 23.
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Die Historikerin Mary Lindemann analysierte bereits in den 1990er Jahren in einem Aufsatz zum Thema Kriminalität und Frauen die Gerichtsakten zu Anna Ilsabe Buncke.12 2002 machte Lindemann ihre Befunde in überarbeiteter Form in einem englischsprachigen Band zur Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit unter dem Titel „Gender Tales. The Multiple Identities of the Maiden Heinrich, Hamburg 1700“ einer größeren Leserschaft zugänglich. Anna Ilsabe Buncke und Cecilia Jürgens wurden 1707 in Hamburg wegen der Mitwisserschaft an einem Mord, Diebstahl, Zauberei, Unzucht und Sodomie hingerichtet. In den dazu überlieferten Gerichtsakten wird das Leben von Buncke in Männerkleidung und als Mann sowie die Ehe und die sexuelle Beziehung zwischen den beiden Frauen verhandelt. In ihrem Beitrag zeigt Lindemann sehr anschaulich, wie eine Frau im 18. Jahrhundert ihre geschlechtliche Identität wechselte. Sie interpretiert dieses Fallbeispiel, indem sie es in das frühneuzeitliche Körperverständnis einbettet. Dieses ging zum einen von einer Ähnlichkeit und nicht einem Gegensatz weiblicher und männlicher Körper aus und zum anderen von einer prinzipiellen Veränderbarkeit des körperlichen Geschlechts (der Geschlechtsorgane). Ihr richtungsweisender Beitrag greift das viel diskutierte Interesse der Geschlechtergeschichte an der Verhandelbarkeit nicht nur von sozialem Geschlecht (gender) sondern auch von körperlichem Geschlecht (sex) auf und plädiert für eine grundsätzliche und radikale Historisierung von gender und sex.13 Da der Fokus in Lindemanns Aufsatz auf Geschlecht und geschlechtlicher Identität liegt, nimmt die sexuelle und eheliche Beziehung von Buncke und Jürgens keinen allzu großen Raum ein. Auch die in Abschrift überlieferten Briefe von Buncke an ihre Ehefrau Jürgens, die im Staatsarchiv Hamburg zusammen mit den Gerichtsakten überliefert sind, wurden von Mary Lindemann nicht ausgewertet. Unter anderem die Auswertung dieses Briefbestandes möchte ich in diesem Aufsatz ergänzen. Auch Catharina Margaretha Linck wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts, 1721, allerdings in Halberstadt wegen des Tragens von Männerkleidern, religiös abweichenden Verhaltens, der Ehe mit Catharina Margaretha Mühlhahn und Sodomie zum
12 Drei Aufsätze befassen sich mit Anna Ilsabe Buncke: Lindemann: Gender Tales; Lindemann: Die Jungfer Heinrich; Michelsen: Von Kaufleuten, Waisenknaben und Frauen in Männerkleidern. Ich werde mich in Folgendem auf das Quellenkorpus beziehen, das zu Anna Ilsabe Buncke im Staatsarchiv in Hamburg aufbewahrt ist: Staatsarchiv Hamburg, 111-1 Senat, Cl. VII Lit. Mb Nr. 3 vol. 1 (Hamburgische Delinquenten Ao 1390–1734 u. Kriminalurtheile, auch gedruckte Prozeßschrifth), 249-410. Im Folgenden zitiert als: Gerichtsakte Buncke, Jürgens, Jähner und Briefe Buncke. 13 Siehe grundlegend hierzu: Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991; Joan W. Scott: Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse. In: Selbst bewusst. Frauen in den USA. Hg. von Nancy Kaiser. Leipzig 1994.
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Tode verurteilt. Auch ihre Lebensgeschichte ist mittlerweile gut bekannt.14 2004 hat die Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele diese inklusive Quellenedition herausgegeben. Steidele geht in ihrer Dokumentation unter anderem der Frage nach, wie sich Linck nach heutigen Maßstäben einschätzen lässt und wägt zwischen einer Transidentität („heterosexuell begehrender Transmann“15) und einem homosexuellen Selbstentwurf („vorzeitige Lesbe“16) für Linck ab. Damit verfolgt Steidele ein anders gelagertes Interesse, als Lindemann, indem sie gegenwärtige und sich aus der Gegenwart aufdrängende Fragen nach Sexualität, Geschlecht und Identität sowie nach Selbstentwürfen an das historische Material und die historische Person stellt. Diese beiden Ansätze, zum einen die Rückbindung an historische Vorstellungen von Geschlecht und Körper und zum anderen die aus der Gegenwart kommenden Fragen nach sexueller Identität, stellen zwei unterschiedliche und in kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Geschlecht und Sexualität gängige Ansätze dar. In Anlehnung an und in Rezeption von Lindemanns Ansatz einer Historisierung möchte ich die Lebens- und Beziehungsgeschichten von Buncke und ihrer Ehefrau Jürgens sowie Linck und ihrer Ehefrau Mühlhahn vergleichend untersuchen.17 Dabei werde ich Fragen nach Sexualität und Diversität in der Frühen Neuzeit nachgehen, wie sie sich aus den Beziehungen und Lebenswelten der historischen Akteurinnen möglicherweise ergeben haben und rekonstruieren lassen. Zunächst werde ich kurz und allgemein auf die Rahmenbedingungen und den rechtlichen Kontext zu Sodomie in der Frühen Neuzeit eingehen. Daran anschließend werde ich die Lebens14 Das Quellenkorpus zu Catharina Margaretha Linck wurde von Angela Steidele kritisch ediert und herausgegeben: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Hg. von Angela Steidele. Köln 2004. Ich beziehe mich auf die Edition von Steidele, im Folgenden zitiert als: Steidele: In Männerkleidern und ihre darin enthaltene Quellenedition auf den Seiten 169–223. Im Folgenden zitiert als: Gerichtsakte Linck (S. 181–223) und Flugblatt Linck (S. 174–180). Weitere Publikationen: Angela Steidele: Von keuschen Weibern und lüsternen Tribaden. Der Diskurs über sexuelle Handlungen zwischen Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Forum. Homosexualität und Literatur 35 (1999), S. 17–19; Angela Steidele: „Als wenn Du mein Geliebter wärst“. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750–1850. Stuttgart 2003, S. 39–43. 15 Steidele: In Männerkleidern, S. 143. 16 Ebd. 17 In einem Blogbeitrag auf Intersex.hypotheses habe ich bereits Quellenauszüge aus diesen beiden Gerichtsverhandlungen und zwei weiteren Beispielen von Frauen, die wegen Sodomie vor Gericht standen, zum Thema Geschlecht und uneindeutige Körper befragt: Eva Lehner: „Transmutatione sexus“. Frühneuzeitliche Gerichtsakten zu weiblicher Sodomie. In: Männlich-weiblich-zwischen. http://intersex.hypotheses.org/2031 [16.01.2018].
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bedingungen und Beziehungen der verurteilten Frauen vorstellen, soweit die Informationen aus den Quellen und der Forschungsliteratur dies zulassen. In einem nächsten Schritt geht es mir darum, wie diese Lebensgeschichten vor Gericht zum Straftatbestand der Sodomie gemacht wurden. Im Ausblick möchte ich anhand der beiden Beispiele die Frage nach einer historischen Perspektive auf Sexualität und Diversität auffächern.
RAHMENBEDINGUNGEN UND STRAFRECHTLICHER KONTEXT Die Eheschließung war für Männer und Frauen in der Frühen Neuzeit die Möglichkeit, ihre Beziehung zueinander zu legitimieren, einen eigenständigen Haushalt zu gründen und legitime Kinder zu haben. Die bereits aufgeführten Beispiele von Buncke und Linck zeigen auch, dass Frauen eine Beziehung zu einer anderen Frau, zumindest für einen gewissen Zeitraum, durch eine Eheschließung absichern und bewahren konnten.18 Eine der beiden Frauen kleidete sich und arbeitete dabei als Mann, sodass eine Heirat als Ehemann und Ehefrau möglich war.19 Die sich beim Lesen des Quellenmaterials aufdrängende Frage, ob diese Beziehungen möglich waren, weil sie vom sozialen Umfeld akzeptiert wurden oder die „Verkleidungen“ derart täuschend waren, dass sie als „normale“ Ehen durchgingen, lässt sich anhand des Quellenmaterials nicht befriedigend beantworten.
18 Für männlich-männliche Beziehungen war die Möglichkeit des „Cross-Dressing“ und der Eheschließung nicht im selben Maße gegeben, zumindest gibt es hierfür kaum Quellenbeispiele. Helmut Puff führt dies auf die unterschiedlichen sozialen Modi von gleichgeschlechtlichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen in der Frühen Neuzeit zurück. Siehe hierzu: Helmut Puff, Claudia Jarzebowski: Art. Homosexualität. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 5. Stuttgart 2007, Sp. 637–643. 19 Andere Möglichkeiten für Frauen, mit anderen Frauen zusammenzuleben, war das Leben in einem Frauenkloster oder in Freundschaft. Diese Beziehungen konnten, aber mussten nicht zwangsläufig erotischer oder sexueller Natur sein: Judith C. Brown: Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance. Stuttgart 1988; Lillian Federman: Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen von der Renaissance bis heute. Zürich 1990; Judith M. Bennett: Remembering Elizabeth Etchingham and Agnes Oxenbridge. In: The Lesbian Premodern. Hg. von Noreen Giffney, Michelle M. Sauer und Diane Watt. New York 2011, S. 131–143.
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Das Thema des weiblichen „Cross-Dressings“ ist in der geschichtswissenschaftlichen Forschung relativ ausführlich thematisiert worden.20 Dabei handelt es sich um ein europäisches Phänomen der Frühen Neuzeit, welches in den Quellen des 15. und vor allem 16. Jahrhunderts vermehrt auftauchte und im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wieder abnahm.21 Lotte van de Pol und Rudolf Dekker haben über 100 Beispiele von Personen im niederländischen Kontext gefunden, die ihre Geschlechterrolle oder geschlechtliche Identität mittels Kleidertausch wechselten, wobei der Wechsel von Frau zu Mann wesentlich häufiger war als der von Mann zu Frau. Begründet wird dies unter anderem damit, dass ein Wechsel von Frau zu Mann einen sozialen Statuswechsel bedeuten konnte und mit Vorteilen und Privilegien verknüpft war, wohingegen der Wechsel von Mann zu Frau einen Abstieg in der sozialen Hierarchie mit sich brachte.22 Als vorrangiger Grund für Frauen, die Rolle eines Mannes einzunehmen, ist dabei der größere gesellschaftliche Handlungsspielraum als Mann zu nennen. Viele Berufe konnten nur als Mann ergriffen werden; für manche Tätigkeiten wurde man als Mann besser entlohnt. So konnte man beispielsweise nur als Mann Soldat oder Matrose werden, auch als Landarbeiter oder im Handwerk verdienten Männer besser, beziehungsweise waren viele handwerkliche Berufe für Frauen nicht zugänglich. Auch auf Reisen konnte das Tragen von Männerkleidern Frauen vor Übergriffen schützen. Durch die häufige, meist arbeitsbedingte Migration und dem damit einhergehenden Wechsel des sozialen Umfeldes konnte das „CrossDressing“ unauffällig praktiziert werden oder wurde vom direkten Umfeld toleriert.23 Das „Cross-Dressing“ konnte auch eine Eheschließung mit einer anderen Frau ermöglichen. Damit war eine auf Dauer angelegte Beziehung möglich, innerhalb
20 Siehe hierzu den Beitrag von Sahra Lobina: Eine grosse Leichtsinnigkeit? Als Frau in Männerkleidern im Solddienst. In: Historische Anthropologie 25/2 (2017), S. 151–167; aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive: Beitrag von Victoria Gutsche in diesem Band. 21 Katharina Simon-Muscheid: Geschlecht, Identität und soziale Rolle. Weiblicher Transvestismus vor Gericht, 15./16. Jahrhundert. In: weiblich – männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz. Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken. Hg. von Rudolf Jaun und Brigitte Studer. Zürich 1995 (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 13), S. 45–57. 22 Rudolf Dekker, Lotte van de Pol: Daar was laatst een meisje loos. Nederlandse vrouwen als matrozen en soldaten – een historisch onderzoek. Baarn 1981; Rudolf Dekker, Lotte van de Pol: Vrouwen in mannenkleren. De geschiedenis van een tegendraadse traditie Europa 1500-1800. Amsterdam 1989; das zweite Buch ist auch in deutscher Übersetzung erhältlich: Rudolf Dekker, Lotte van de Pol: Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte. Berlin 1990. 23 Claudia Ulbrich: Geschlechterrollen. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 631–650, hier: Sp. 639–641.
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derer das emotionale und sexuelle Begehren gelebt werden konnte. 24 Dass diese Lebensentwürfe für die Beteiligten nicht ohne Risiko waren, lag daran, dass sexuelle Beziehungen zwischen Frauen vor Gericht als Sodomie kriminalisiert werden konnten. Denn kam es zu einer Anzeige und wurden die Beziehungen der Frauen vor Gericht verhandelt, wurde in den meisten Fällen mindestens eine der Personen mit dem Tode bestraft.25 Die strafrechtliche Einordnung von sexuellem Verhalten und sexuellen Beziehungen war in der Frühen Neuzeit durch die zeitgenössische Interpretation der christlichen Religion geprägt, in der die Sexualität des Menschen auf die göttliche Schöpfung bezogen wurde.26 Demnach waren alle nicht auf Fortpflanzung ausgelegten sexuellen Handlungen und Beziehungen Sünde, ein Verstoß gegen Gott und die Natur des Menschen. Mit dem Begriff der sodomia (Sodomie) wurde diese Vorstellung im Strafrecht rezipiert. Der Begriff selbst geht auf die Interpretation der alttestamentarischen Bibelpassage zurück, laut welcher Gott Schwefel und Feuer auf die Städte Sodom und Gomorrha regnen ließ, um sie wegen ihrer beispiellosen Sittenlosigkeit zu vernichten. 27 Neben Sodomie finden sich auch die Bezeichnungen „Unkeuschheit wider die Natur“ und „Ketzerei“ im rechtlichen Kontext wieder, die ebenfalls auf diesen christlich-religiösen Interpretationsrahmen verweisen. Im 16. Jahrhundert wurde mit der Einführung der Constitutio Criminalis Carolina (1532) auch „die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.“ genannt, eine allgemein verbindliche Rechtsordnung für alle Territorien im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation festgelegt, die durch lokale Verordnungen rezipiert und ergänzt wurde. Dies ist einer der wenigen frühneuzeitlichen Rechtstexte, der explizit
24 Dekker, van de Pol: Frauen in Männerkleidern, S. 67–91, insb. S. 75–84 und S. 89–91. 25 Louis Crompton: The Myth of Lesbian Impunity. Capital Laws from 1270 to 1791. In: Journal of Homosexuality 6/1 (1980/81), S. 11–25. 26 Mit der Reformation wurde auch die Vorstellung von Sexualität reformiert, indem diese als Teil der menschlichen Natur verstanden wurde. Gleichzeitig wurde die Ehe (zwischen Mann und Frau) als einzig legitimer Ort der Sexualität gestärkt. Zentrale Aufgaben der Ehe waren demnach, die Sexualität (insb. die von Männern) zu domestizieren, die Zeugung legitimer Nachkommen und die Gründung von Familien zu regeln und zu reglementieren. Siehe hierzu bspw.: Luther on Women. A Sourcebook. Hg. von Susan C. Karant-Nunn und Merry E. Wiesner-Hanks. Cambridge/ UK, New York 2003; Merry E. Wiesner-Hanks: Christianity and Sexuality in the Early Modern World. Regulating Desire, Reforming Practice. London 2010. 27 Im 11. Jahrhundert machte Petrus Damianus mit seinem Text zur Sodomiterverfolgung den Bibelbezug auf die Stadt Sodom zum Mythos. Petrus Damianus: Book of Gomorrah. An Eleventh-Century Treatise against Clerical Homosexual Practices. Hg. von Pierre J. Payer. Waterloo, Ontario 1982, S. 29–68.
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gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten von Frauen aufführt und in gleicher Weise bestraft sehen will wie das von Männern, das ist mit dem Feuertod: § 116. Straff der vnkeusch, so wider die natur beschicht: Item so eyn mensch mit eynem vihe, mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vnd man soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt richten. 28
Damit war die rechtliche Grundlage zur strafrechtlichen Verfolgung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen von Frauen und von Männern für die gesamte Frühe Neuzeit, vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, gegeben. Gleichzeitig legen die wenigen Untersuchungen zum Straftatbestand der Sodomie und Frauen nahe, dass diese weniger oft angezeigt wurden und vor Gericht standen als dies bei Männern der Fall war. 29 Wenn es jedoch zu einer Anzeige kam und die Beziehung vor Gericht verhandelt wurde, dann konnten auch Frauen mit Bezug auf die Carolina zum Tode verurteilt werden.30 Dass es seltener als bei Männern zu einer Strafanzeige kam, lässt sich eventuell auf die unterschiedlichen Lebensumstände von Frauen zurückführen, wozu beispielsweise die Möglichkeit des „Cross-Dressings“ und der Eheschließung zu zählen wären, die von Männern nicht im selben Maße genutzt wurden oder in Frage kamen.31
28 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina). Hg. von Friedrich-Christian Schroeder. Stuttgart 2000, S. 76. 29 Siehe zu Sodomie von Männern und Frauen: Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, insb.: S. 31–35. 30 Dies gilt zumindest für einige Teile Europas (Deutschland, die Schweiz, Belgien, Italien, Frankreich, Spanien und Portugal): Puff, Jarzebowski: Art. Homosexualität; Sp. 638. Siehe für Portugal: François Soyer: The Inquisitorial Trial of a Cross-Dressing Lesbian. Reactions and Responses to Female Homosexuality in Eighteenth-Century Portugal. In: Journal of Homosexuality 61/11 (2014), S. 1529–1557. Siehe für Belgien: Marc Boone: State Power and Illicit Sexuality. The Persecution of Sodomy in late medieval Bruges. In: Journal of Medieval History 22/2 (1996), S. 135–153. In England wurden Beziehungen zwischen Frauen von der Gesetzgebung nicht im gleichen Maße kriminalisiert. Siehe hierzu: Crompton: The Myth of Lesbian Impunity; Judith C. Brown: Lesbian Sexuality in Medieval and Early Modern Europe. In: Hidden from History. Reclaiming the Gay and Lesbian Past. Hg. von Martin Duberman, Martha Vicinus und George Chauncey. London 1991, S. 67–75. Rebecca Jennings: A Lesbian History of Britain. Love and Sex between Women since 1500. Oxford 2007. 31 Das sexuelle Verhalten von Männern manifestierte sich in anderer Weise, wozu bspw. Orte männlicher Geselligkeit und andere Treffpunkte gehörten, die von verheirateten und unverheirateten Männern aufgesucht werden konnten. Vgl. hierzu: Puff, Jarzebowski: Art. Homosexualität.
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LEBENSUMSTÄNDE UND BEZIEHUNGEN Zwei dieser Lebens- und Beziehungsgeschichten von Frauen waren die Ehe von Anna Ilsabe Buncke und Marie Cecilia Jürgens und die Ehe von Catharina Margaretha Linck und Catharina Margaretha Mühlhahn, die ich beide vorstellen und deren Gemeinsamkeiten ich herausarbeiten werde. Die überlieferten Quellen zu Buncke und Jürgens erzählen eine Geschichte von zwei Frauen, die eine Liebesbeziehung führten, heirateten und zwei Jahre zusammenlebten, bevor sie sich trennten. Diese Geschichte endete tragisch, denn beide Frauen begegneten sich einige Zeit später vor Gericht in Hamburg wieder und wurden von diesem für ihre Beziehung zum Tode verurteilt und verbrannt. Andererseits ist den Quellen auch zu entnehmen, dass Buncke und Jürgens nicht nur heirateten, sondern über zwei Jahre hinweg eine Beziehung führten, bis es zu einer konfliktreichen und vermutlich leidvollen Trennung kam. Beide Frauen standen vor Gericht, weil es einen Mordfall in Hamburg gab, mit dem sie in Verbindung gebracht wurden. Der Hauptverdächtige in dem Mordfall war Friedrich Johann Jähner, ein Apotheker, für den Buncke und Jürgens arbeiteten. Die beiden Frauen wurden der Mitwisserschaft beschuldigt, ihre Ehe und ihre sexuelle Beziehung wurde erst im Laufe des Prozesses Gegenstand vor Gericht. Buncke wurde in Verden bei Bremen geboren, ein genaues Geburtsdatum lässt sich den Quellen nicht entnehmen.32 Vermutlich war sie zwischen 20 und 30 Jahre alt, als man ihr 1701/2 in Hamburg den Prozess machte. Ihre Mutter taucht in den Quellen nicht auf, ihr Vater war Reiter, sie erwähnte ihn während der Gerichtsverhandlungen und auch in ihren Briefen an Jürgens schrieb sie, dass sie Kontakt zu ihm hatte.33 Neben dem Vater erwähnte sie in den Briefen auch einen Vetter, der ebenfalls im Militärdienst war und ihr eine Stelle als Koch in der lüneburgischen Armee verschafft haben soll.34 Bunckes familiäre Beziehungen waren demnach eher lose, aber sie bestanden fort. Sie kannte das Soldatenleben und hatte Verbindungen ins soldatische Umfeld, die sie nutzen konnte. 1696 ging sie nach Bremen, wo sie „ihre weibses kleider ab und mannes kleider angeleget und seither den auch angenommenen mannes Nahmen [Heinrich] sich für eine Manns persohn hin und wieder außgegeben.“ 35 Sie selbst machte keine Angaben dazu, warum sie Männerkleidung angezogen hatte, ihr Verteidiger nannte als Gründe die besseren Verdienstmöglichkeiten als Mann sowie „die bäuersche und jugendtliche Unwißenheit der Inquisitin.“ 36
32 Siehe zu den folgenden biographischen Angaben: Lindemann: Jungfer Heinrich, S. 264f. 33 Briefe Buncke, S. 267–271. 34 Ebd. 35 Gerichtsakte Buncke, Jürgens, Jähner, S. 320–322. 36 Ebd., S. 339–344.
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Bunckes nächste Stationen waren vermutlich Rotterdam und Amsterdam. Bei Glückstadt wurde sie wegen eines Desertationsversuches als Soldat ins Gefängnis gesetzt, wo offenbar herauskam, dass sie eine Frau war. Für die versuchte Desertion oder für ihr Ausgeben als Mann wurde sie mit einem Stadtverweis bestraft.37 Zurück in Hamburg lernte sie Maria Cecilia Jürgens kennen, beide ließen sich kurz darauf in der Nähe von Hamburg trauen. Sie arbeiteten gemeinsam als Höker/innen in und um Hamburg und besorgten und verkauften unter anderem für Jähner und dessen Ehefrau, ein Apothekerpaar, Utensilien.38 Die Ehe hielt etwa zwei Jahre, bevor sich die beiden Frauen trennten. Über Jürgens ist aus den Quellen wenig zu erfahren. Neben ihrer Mitwisserschaft am Mord an der Bauersfrau und ihrer Ehe mit Buncke wurde ihr zudem Unzucht in zwei Fällen vorgeworfen: Mit Jähner und einem namentlich nicht genannten Soldaten soll Jürgens jeweils ein Kind gezeugt haben, die jedoch nicht überlebten. Buncke und Jürgens trennten sich im Frühjahr 1700. Ein Jahr später wurde in Hamburg auf dem Markt eine Frauenleiche ohne Kleider und ohne Kopf gefunden. Auf der Suche nach dem Mörder gerieten Jähner und die beiden Frauen, die für ihn gearbeitet hatten, unter Verdacht und kamen vor Gericht. 1702 wurden alle drei Personen im Zusammenhang mit dem Mord hingerichtet, die beiden Frauen wurden zuerst gerädert und anschließend ihre Leichen verbrannt. 39 Ein Flugblatt berichtete über diesen Vorfall. Neben einer Abbildung der geköpften Frauenleiche waren darauf Abschriften aus den Gerichtsakten abgedruckt, die die vielen Anklagepunkte gegen Buncke auflisteten und vermutlich der Abschreckung dienen sollten: „Fromme Christen und Kinder Gottes/zuforderst aber die liebe Jugend“ sollten „Nicht allein vor großßer/sondern auch vor den allerkleinesten Sünden“ gewarnt werden. 40 Als Sensationspresse der Frühen Neuzeit dienten diese 37 Gerichtsakte Buncke, Jürgens, Jähner, S. 320–322. Und Lindemann: Gender Tales, S. 138. 38 Lindemann: Gender Tales, S. 139. 39 Staatsarchiv Hamburg, 111-1 Senat, Cl. VII Lit. Mb Nr. 3 vol. 1 (Hamburgische Delinquenten Ao 1390–1734 u. Kriminalurtheile, auch gedruckte Prozeßschrifth): Verzeichnuße der Decolirten Persohnen so Ohren verdienten lohn nach vom leben zum Todt gebracht und Justificirt worden von Ao 1521 biß so fort […] 18 zu Zeiten paßirt ist Alhie zu Hamburg. A 1702: „Die beeden Ersten [Anna Ilsabe Buncke und Cecilia Jürgens] wurden Einmahl mit glüenden zangen gezwickt nach dem geradert u. darauff verbrandt“. 40 Der Bestraffte Mord/ Um alle fromme Christen und Kinder Gottes/ zufoderst aber die liebe Jugend/ Nicht allein vor grossen/ sonden auch vor den allerkleinesten Sünden zu warnen/ Hat man nicht undienlich befunden Derer drey Gott-vergessenen und Ertz-boßhafftigen/ verruchten und Gottlosen Mörder/Welche am 23. Januarii dieses jetzt. Lauffenenden 1702. Jahrs/in Hamburg/ bey Anschauung vieler tausend Menschen/ Durch eine solche Execution Vom leben zum Todt gebracht worden; Wie sie mit ihren bösen Thaten verdienet hatten; Ihr vor Gericht gethane Aussage und Uhr-Gicht/ Durch den Druck bekannt zu machen.
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gedruckten und oft in großer Anzahl verkauften Flugblätter auch dem Voyeurismus und der Unterhaltung. 41 Die Geschichte von Buncke und Jürgens ging sozusagen durch die frühneuzeitliche Sensationspresse. Auch die Lebensgeschichte von Catharina Margaretha Linck stieß bereits bei Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf Interesse. Ihre Geschichte wurde ebenfalls in einem Flugplatt publiziert, wo sie dem Leser als „Land- und Leute-Betrügerin“ vorgestellt wurde. In der Tat geht es in dem Text in erster Linie um Betrug, Täuschung und eine Diffamierung der Inspirierten, die „schändlich[st]en Unfläthereyen“ spielten in der Darstellung hingegen kaum eine Rolle. Von der Ehe und sexuellen Beziehung von Linck und Catharina Margaretha Mühlhahn wissen wir, weil die Mutter von Mühlhahn ihren Schwiegersohn bei Gericht angezeigt hat. Unzufrieden mit der Verbindung ihrer Tochter hatte sie deren Ehemann als Frau entlarvt und Anzeige erstattet. Die in diesem Zusammenhang angefertigten Gerichtsprotokolle geben Einblick in das Leben der beiden Frauen. Linck wurde vermutlich 1687 als uneheliches Kind von Magdalena Linck geboren, ihr Vater war ein namentlich nicht bekannter Soldat.42 Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und verbrachte ihre Kindheit als Schülerin im christlich-pietistischen Waisenhaus in Glaucha, in dem auch ihre Mutter arbeitete. Im Alter von 13 Jahren verließ sie das Waisenhaus, um als Magd in Halle zu leben und zu arbeiten. Zwei Jahre später tauschte sie zum ersten Mal ihre Frauengegen Männerkleidung. Vor Gericht danach befragt gab Linck an, sie habe sich „ümb ein keusches Leben zu führen, in Manns habit verkleydet […] und [sei,] weil Sie ein Heiliges Leben [habe] führen wollen, mit einem Troup Inspiranten […] gereist.“43 In Männerkleidung schloss sie sich demnach einer Gruppe pietistischer Inspirierter44 an und reiste mit dieser Gruppe als „Prophet“ Richtung Nürnberg und Köln. Wobey auch angefügt Die Execution Dieser Drey Mörder/ Und einer alten Diebinn; Nebst einigen Liedern/die am Tag der Execution verkaufft worden, Hamburg 1702. Zitiert nach: Lindemann: Maiden Heinrich, S. 132f. 41 Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990; Zum Thema Intermedialität und Flugblatt: Ders.: Das Flugblatt der Frühen Neuzeit als Paradigma einer Historischen Intermedialitätsforschung. In: Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Messerli und Michael Schilling. Stuttgart 2015, S. 25–45. 42 Siehe zu den folgenden biographischen Angaben: Steidele: In Männerkleidern, S. 5–103. 43 Gerichtsakte Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 187f. 44 Bei den Inspirierten handelt es sich um eine Gruppierung (Erweckungsbewegung) innerhalb des radikalen Pietismus, die seit 1714 in Deutschland zu finden war und sich vor allem durch ekstatsische und prophetische Phänomene auszeichnete. Siehe hierzu: Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann. Göttingen 1995, S. 107–197, hier S. 145–152.
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Anschließend war auch Linck, wie Buncke, als Soldat unterwegs. Und auch sie wurde beim Desertieren erwischt, war „aber ohne Straffe wieder dimittiret worden, weil Sie ihr Geschlecht offenbahret.“45 Nicht nur wurde sie nicht dafür bestraft, sich als Mann ausgegeben zu haben, sondern sie konnte als Frau sogar einer Hinrichtung als Deserteur entgehen.46 1712 kehrte sie nach Halle zurück, vor Gericht gab sie an, sie wäre in diesem Zeitraum „bald in Männlichen, bald in Weiblichen Kleydern gegangen.“ 47 Im Alter von ungefähr 30 Jahren zog sie nach Halberstadt. Hier lernte sie auch Mühlhahn kennen und heiratete diese kurze Zeit später. Mühlhahn war knapp 20 Jahre alt, als sie sich kennenlernten. Auch Linck und Mühlhahn lebten drei Jahre lang in einer Ehe zusammen. Die Ehe selbst war durch Armut, Betteln, Ortswechsel und Auseinandersetzungen mit der Mutter Mühlhahns gekennzeichnet. Die Mutter warf Linck vor, nicht genug zu verdienen, und versuchte, eine Trennung zu erwirken. 48 Nach einem Streit, bei dem die Schwiegermutter Linck nicht nur vorwarf, kein Mann zu sein, sondern ihr auch die Kleidung vom Leib riss und daraufhin ein „ledernes Instrument“ in Gestalt eines Penis vorfand, zeigte sie dies bei Gericht an.49 Als Beweis legte sie das aus Leder gefertigte Instrument vor. Das Paar wurde daraufhin vor Gericht zitiert: Linck wurde 1721 für das fälschliche Ausgeben als Mann, das mehrfache Wiederholen der Taufe50 und das Begehen von Sodomie „vermittelst eines darzu verfertigten ledernen Instruments“ zum Tode durch Enthaupten verurteilt. 51 Mühlhahn wurde wegen Unzucht mit drei Jahren Spinnhaus bestraft. Sie saß bereits im Spinnhaus, dem Arbeits- und Zuchthaus für Frauen, als ihre ehemalige Partnerin hingerichtet wurde. Nach dem Absitzen dieser Strafe heiratete Mühlhahn wieder und ließ im Februar 1737 ihr viertes Kind, Catharina Elisabeth, taufen.52 Im Taufeintrag ist folgendes vermerkt: „Catharina Margaretha Mühlhahnen des weggelaufenen Levin Peters ux [Ehefrau] sonst die Rosenstengelsche genand ihr Spuria [uneheliches Kind] ist d 3ten
45 Schneider: Der radikale Pietismus, S. 190. 46 In einem Bericht an Friedrich I. schildert General Friedrich Wilhelm von Grumbkow diesen außergewöhnlichen Fall. Abgedruckt in: Steidele: In Männerkleidern, S. 172f. 47 Gerichtsakten Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 191. 48 Ebd., S. 193f. 49 Ebd., S. 195. 50 Hierzu wird ihre Taufe als Kind in Halle gezählt und die anschließende Taufe im Erwachsenenalter. Später ließ sich Catharina Margaretha Linck in Münster erneut katholisch taufen und mit Catharina Margaretha Mühlhahn nach der katholischen Heirat noch einmal evangelisch trauen. In Helmstedt ließ sie sich lutherisch taufen. Beides tat sie, laut ihren Angaben vor Gericht, „aus Hoffnung Geld zu kriegen“. Ebd., S. 194. 51 Ebd., S. 183. 52 Siehe zum weiteren Lebensweg von Mühlhahn: Ebd., S. 135–139.
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februar getauft und benahmet Catharina Elisabeth.“53 16 Jahre nach der Hinrichtung von Linck (alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel) und trotz einer erneuten Ehe, wurden Mühlhahn und ihr Kind mit dem Zunamen ihres ersten und vermeintlichen Ehemanns, der sich später als eine Frau herausstellte, erinnert und offiziell im Kirchenbuch dokumentiert. Eine Gemeinsamkeit im Lebenslauf von Buncke und Linck ist neben dem Tragen von Männerkleidern das viele Reisen und ihre Randständigkeit. Beide Frauen kamen in jungen Jahren sehr viel herum und sahen viele verschiedene Orte. Teils vermutlich aus Reise- und Abenteuerlust, meist allerdings auf der Suche nach Arbeit verließen sie den einen Ort und blieben an einem anderen, weil sie dort eine Anstellung bei einem Bleicher, Tuchmacher oder Strumpfwirker fanden. Auch das Leben und Reisen als Soldat kennzeichnete beider Leben. Sicherlich waren dieser bewegte Lebenswandel und vor allem die Arbeitssuche als Mann einfacher zu bewerkstelligen. Durch die arbeitsbedingte Mobilität lernten sie auch ihre zukünftigen Ehefrauen kennen. Eine Heirat war der nächste logische Schritt, um diese Beziehungen zu legitimieren und zu verstetigen, was zunächst auch funktionierte. Durch die vielen Ortswechsel wird es zudem schwierig gewesen sein, tragfähige soziale Netzwerke aufzubauen, auch die familiären Beziehungen scheinen eher lose gewesen zu sein. Gleichzeitig war dies sicher auch eine Voraussetzung für die vielen Handlungsmöglichkeiten und den alternativen Lebensentwurf, da ein stark kontrollierendes familiäres und soziales Umfeld fehlte. Die Gerichtsakten zeichnen aber auch ein Bild, in dem die Lebensentscheidungen und Beziehungen in ganz unterschiedlichen sozialen Konstellationen akzeptiert waren. An dem Tragen von Männerkleidern schien bis zu den Gerichtsverhandlungen niemand groß Anstoß genommen zu haben oder die Verkleidung ermöglichte ein unauffälliges Passieren (Durchgehen im Sinne von passing) als Mann – zumindest ist nichts Gegenteiliges überliefert und das, obwohl beide Frauen angaben, zeitweise sowohl Männer- als auch Frauenkleider getragen zu haben. Erklären lässt sich diese aus heutiger Sicht oft auf Verwunderung stoßende Möglichkeit des erfolgreichen „Cross-Dressings“ damit, dass Geschlecht in der Frühen Neuzeit weniger eine biologische Konstante und vielmehr eine soziale Positionierung war. Das soziale Geschlecht wurde vor allem über Kleidung, Auftreten, über Verhalten und Handlungen (doing gender) angezeigt und hergestellt.54 Kleidung kam in der Frühen Neuzeit eine 53 Der Taufeintrag ist transkribiert in: Steidele: In Männerkleidern, S. 138. 54 Claudia Ulbrich: Art. Geschlecht. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 4. Stuttgart 2006, Sp. 622–631; Heide Wunder: Geschlechtsidentitäten. Frauen und Männer im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit. In: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Hg. von Heide Wunder und Karin Hausen. Frankfurt a.M., New York 1992, S. 131–136; Siehe zur Historisierung von Geschlecht und Körper sehr ausführlich: Lindemann: Jungfer Heinrich.
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sehr wichtige Funktion zu, um die Zugehörigkeit einer Person zu einer sozialen Gruppe zu markieren und war zentral für die Zuordnung zu einem Geschlecht. 55 Auch die Beziehungen und Ehen wurden zumindest für eine gewisse Zeitspanne toleriert. Es sind sehr spezifische Kontexte, die in beiden Fällen zur Anzeige führten: Die Ermittlungen zum Mord in Hamburg und die Verbindung der beiden Frauen zum Hauptverdächtigen Jähner. Erst dadurch geriet die bereits beendete Beziehung von Buncke und Jürgens ins Visier der Obrigkeit. Im anderen Fall war es die Schwiegermutter von Mühlhahn, die aus verschiedenen Gründen die Ehe ihrer Tochter annulliert wissen wollte und hartnäckig daran arbeitete.56 Es drängt sich die Frage auf, was ohne eine Verwicklung in den Mordfall in Hamburg geschehen wäre? Waren es nur unglückliche Umstände und wären andere Szenarien denkbar, in denen es nicht zu einer Anzeige hätte kommen müssen?
VERHANDLUNG VON SEXUALITÄT VOR GERICHT In beiden Fällen kam es zu einer Anzeige und zu einer Verhandlung vor Gericht. Dabei wurden die alternativen Lebensentscheidungen und die gelebten Beziehungen bzw. Ehen der Akteurinnen zum Sexualdelikt Sodomie. Im Folgenden möchte ich im Detail darauf eingehen, was in den beiden vorgestellten Fällen genau vor Gericht verhandelt wurde und wie dabei die Straftat Sodomie bei Frauen zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor Gericht konstruiert wurde: Wie wurde aus den Beziehungen der Frauen vor Gericht ein kriminelles Verhalten, das mit dem Tode bestraft wurde? Auffällig ist an beiden Gerichtsakten, dass neben der Sodomie das Tragen von Männerkleidern und die Eheschließung (Profanisierung der Ehe57) Teil der Anklage waren. Zudem interessierten sich die gerichtlichen Instanzen für religiöse Abweichungen in beiden Fällen. Das spirituelle Leben von Linck zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich als junge Frau oder junger Mann einer Gruppe von Inspirierten anschloss und dort, folgt man ihren Angaben vor Gericht, Erweckungserlebnisse hatte. Dieses von der religiösen Norm abweichende Leben ist es dann auch, welches in den Gerichtsakten bis zum Urteilsspruch beibehalten wurde. Auf mehreren Seiten sind ihre Berichte zu
55 Rublack, Ulinka: Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe. New York 2010. 56 Ganz ähnlich im Fall von Agatha Dietzsch aus dem 16. Jh.: In diesem Fall wandte sich die Ehefrau an die zuständige Obrigkeit, um eine Scheidung zu erwirken, weil ihr Ehemann eine Frau war. Erst nach mehrfacher Anzeige durch die Ehefrau reagiert die Obrigkeit. Agatha Dietzsch wird nicht hingerichtet, sondern der Stadt verwiesen. Simon-Muscheid, Rippmann, Simon: Arbeit – Liebe – Streit. 57 Gerichtsakten Buncke, Jürgens, Jähner, S. 249–251 und 317–319.
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den Inspirierten, der Taufe, Prophezeiungen und Geistererscheinungen in den Gerichtsakten dokumentiert.58 Auf die Erwachsenentaufe bei den Inspirierten folgten mehrfache Konfessionswechsel als Soldat, zwei weitere Taufen, eine katholische und eine evangelische, sowie zwei Eheschließungen mit Mühlhahn ebenfalls unter verschiedenen konfessionellen Vorzeichen. Neben den Vorwürfen, sich fälschlicher Weise als Mann ausgegeben und Sodomie begangen zu haben, wurde Linck auch die mehrfache Taufe unter verschiedenen konfessionellen Vorzeichen zur Last gelegt. 59 Beide Gerichtsverhandlungen können zunächst als Verhandlungen mit offenem Ausgang charakterisiert werden, denn Straftatbestand und Strafmaß waren unter Experten umstritten: Zunächst ist es interessant zu lesen, dass sich die juristischen, männlichen Experten, die zur Urteilsfindung im Fall Linck und Mühlhahn herangezogen wurden, nicht einig darüber waren, was unter Sodomie bei Frauen eigentlich genau zu verstehen sei. Vor allem die Räte des Criminal-Collegium in Berlin hatten Schwierigkeiten, den Straftatbestand überhaupt zu definieren. Ein Teil des Collegiums vertrat die Auffassung, dass sich mit einem „leblosen ledernen Instrument“ keine „würckliche Sodomiterey“ begehen ließe.60 Die Mehrheit des Berliner Criminal-Collegiums plädierte jedoch dafür, dass Linck Sodomie betrieben hätte und definierte mit Bezug auf die religiöse Verurteilung von Sodomie jede Lusterregung ohne Zeugungsabsicht als Sodomie.61 Das entsprach dem eingeholten Urteil der Duisburger Fakultät, das die Beziehung zwischen den beiden Frauen eindeutig zur Sodomie erklärte. Wie das gerichtliche Personal in Hamburg verwies auch das Urteil aus Duisburg dabei auf die Constitutio Criminalis Carolina und plädierte für die Hinrichtung mit dem Strang und ein anschließendes Verbrennen der Körper. Entgegen dieser Strafforderung sprach sich die Regierung aus Halberstadt in ihrem Brief an Friedrich Wilhelm I. für eine Milderung aus und ersuchte um die weniger unehrenhafte und weniger schmerzvolle Hinrichtungsart des Enthauptens durch das Schwert und kein Verbrennen der Leiche. Der Definition aus dem Duisburger Gutachten und der Forderung nach Strafmilderung der Halberstädter Regierung folgte nach einigem Hin und Her das letzte Urteil Friedrich Wilhelm I., in dem Linck wegen Sodomie „vermittelst eines dazu verfertigten ledernen Instruments“ verurteilt, jedoch nicht verbrannt, sondern mit dem Schwert gerichtet wurde.62 Anders als Buncke und Jürgens, deren Leichen als Zeichen der Reinigung und vollkommenen Tilgung des sündhaften Verbrechens in Hamburg verbrannt wurden.
58 Gerichtsakten Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 188–190. 59 Ebd., S. 183. 60 Ebd., S. 204f. 61 Ebd., S. 207. 62 Brief der Halberstädter Regierung an Friedrich Wilhelm I., in: Ebd., S. 183f.
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Bei Buncke und noch stärker bei Jürgens waren es magische Praktiken oder zumindest eine Nähe zur Zauberei, die sich mit dem Vorwurf der Sodomie und des Mordes in den Gerichtsakten immer wieder mischten: Jürgens wurde beschuldigt, die Frühgeburten ihrer Kinder mittels eines „Umbschlags“ bewirkt zu haben, zudem habe sie mehrfach Schadenzauber und „verschiedene abergläubische dinge und zauberkünste und zwar in des Henkers oder Teüffels nahmen getrieben“, sie habe „abergläubische worte gebraucht und dabey den Nahmen Gottes gemißbraucht.“63 Zusammen mit dem Mitangeklagten Jähner sollen die beiden Frauen Leichenteile vom Richtplatz entfernt und verkauft haben und auch der fehlende Kopf der Leiche wird mit abergläubischen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Zudem wurde Jähner, Buncke und Jürgens vorgeworfen, die Daumen von hingerichteten Dieben („Diebsdaumen“64) auf dem Richtplatz gestohlen und verkauft zu haben. Auch wurde das Anfertigen des Instrumentes, mittels welchem die Sodomie begangen wurde, mit Zauberei verknüpft. In ihrer ersten Aussage gab Buncke auf die Frage des Gerichts, wie sie zu dem Instrument gekommen sei, an, dass ihr von Prostituierten in Amsterdam männliche Geschlechtsteile angezaubert worden seien. 65 Bei der Befragung sagte sie aus, dass sie „das Instrument in gestaldt eines männlichen gliedes“, mit dem sie die Sodomie begangen haben soll, bereits vor ihrer Ehe mit Jürgens in Amsterdam bekommen habe: „Zu Amsterdam in einem hurenhause durch Zauberey ein Männliches Gliedt von huhren zugestellet und angeklebet worden.“ 66 Später nahm sie diese Aussage wieder zurück: „Die Amsterdammische affaire betreffendt der Inquisitin mutirten Sexum, wehre ein bloß erdichtetes werck.“67 Und sie bestätigt, dass Jürgens „das Instrument in gestaldt eines männlichen gliedes“ angefertigt habe und dass sie dieses Instrument zum Beischlaf verwendet hätten.68 Im Urteil gegen Jürgens wird dieser Vorwurf wieder aufgegriffen: ein Instrument in gestalt eines Männlichen Gliedes gemacht, und solches der Bunckschen zugestellet, deßen sie sich so wohl vor alß nach […] beschehener Trauung mit einnander zeit wehrender beywohnung fast 2 Jahr lang bedienet.69 63 Gerichtsakte Buncke, Jürgens, Jähner, S. 252–254. 64 Diebsdaumen wurde vor allem Glück und Wohlstand nachgesagt, was sie insbesondere für Wirte, Händler und Kartenspieler interessant gemacht haben sollte, zudem wurde ihnen im Bereich des Liebeszauber Fähigkeiten zugesprochen. Siehe hierzu: Eduard HoffmannKrayer und Hans Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 2. Berlin/Leipzig 1929/30, Sp. 239–240. 65 Gerichtsakte Buncke, Jürgens, Jähner, S. 320–322. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 333–338. 68 Ebd., S. 295–314. 69 Ebd., S. 249–251.
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Jürgens machte sich so der Sodomie schuldig, weil sie für die Herstellung des Instruments verantwortlich war. Das unterschied sie auch von Mühlhahn, der Ehefrau von Linck. Beide Ehefrauen stritten vor Gericht zunächst ab, gewusst zu haben, dass ihre Ehemänner Frauen waren, gaben bei weiteren Verhören jedoch an, es kurz vor den gerichtlichen Verhandlungen bzw. am Ende der Beziehung erfahren zu haben. Jürgens gestand, bereits vor der Eheschließung gewusst zu haben, dass ihr zukünftiger Ehemann eine Frau war. Mühlhahn wurde vom Gericht als getäuschte Ehefrau verurteilt und deshalb wegen Unzucht mit drei Jahren Zuchthaus bestraft. Sie wurde also nicht wie Jürgens der Sodomie angeklagt und zum Tode verurteilt. Wie bereits erörtert war auch in den Gerichtsverhandlungen zu Linck das Instrument Tatbestand. Die Schwiegermutter legte dieses dem Gericht vor, um eine Anzeige gegen ihren vermeintlichen Schwiegersohn zu erstatten und die gerichtlichen Autoritäten stritten sich darüber, ob mittels dieses anorganischen Instruments Sodomie begangen werden konnte. Auch hier interessierte sich die gerichtliche Obrigkeit, wie im Fall Buncke und Jürgens, für die Herstellung dieses Instruments: Sie habe ein von Leder gemachtes ausgestopfftes Männliches Glied, woran ein beütel von Schweine Blasen gemacht, und zwey ausgestopffte von Leder gemachte testiculi gehänget, mit einem ledern Riemen an ihre Schaam gebunden gehabt, und wenn Sie mit ihrer vermeinten Frau zu Bette gegangen, habe Sie derselben solch ledern Ding in den Leib gesteckt, und solcher Gestalt den bey schlaff mit ihr würcklich verrichtet.70
Inwiefern diese Instrumente tatsächlich Verwendung fanden, lässt sich aus den gerichtlichen Protokollen kaum rekonstruieren. Verhandlungsgegenstand waren in beiden Fällen nicht etwa sexuelle Handlungen, erotisches und sexuelles Begehren oder die Gleichgeschlechtlichkeit der Beziehungen, sondern das aktive Mitwirken an der Herstellung und/oder der Verwendung des Instruments und die Frage, ob mit diesem Instrument Sodomie begangen werde konnte. Das Instrument wird dabei vor Gericht zum corpus delicti des Straftatbestandes Sodomie von Frauen, die in den Akten auch als „Sodomie mittels eines Instruments“ bezeichnet wurde. Aus der Perspektive des Gerichts machte sich Jürgens der Sodomie mitschuldig, weil sie (evtl. unter Anwendung magischer Praktiken) an der Herstellung des Instrumentes beteiligt war. Buncke galt aus dieser Perspektive als schuldig, weil sie dieses Instrument zum Beischlaf verwendet haben soll. Die mysteriöse Geschichte von ihrem Besuch in einem Amsterdamer Hurenhaus, bei dem ihr ein männliches Glied angehext worden sein soll, bleibt ungelöst. Auch wenn sich die Experten im Fall Linck stritten, ob man mit Hilfe eines Instruments überhaupt Sodomie begehen konnte, setzte sich auch hier die Perspektive durch, dass sie sich der 70 Gerichtsakten Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 193.
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Sodomie schuldig gemacht habe, weil sie selbst ein solches Instrument angefertigt und dieses ebenfalls zum Beischlaf verwendet haben soll. Auffällig ist bei den Aussagen der Angeklagten, dass diese die Instrumente als nahezu organisch in ihren Funktionen beschrieben. So gab Mühlhahn vor Gericht nicht nur an, dass sie, bevor sie herausgefunden habe, dass ihr Ehemann eine Frau sei, „nicht anders gewust, als daß das lederne Ding, des Inquisiten Natürlich Männliches Glied gewesen [sei].“ Und weiter: „Er habe solches können steiff und schlap machen.“ 71 Sicherlich müssen diese und ähnliche Aussagen von Mühlhahn als Teil einer Verteidigungsstrategie gewertet werden. Aber auch Buncke beschreibt ganz ähnliche physische Erlebnisse: „doch hätte Gefangene wenn sie cohabitiren wolle, ordentliche erectiones gekriegt, im Beischlaff die gewohnliche Lust darin empfunden, die Samen daraus emittiret und wie das membrum wenn es sein Werck verrichtet, werde schlapp geworden.“72 Was macht man nun als Historikerin oder Historiker mit diesen Aussagen, die bereits von Bunckes Verteidiger als „shier unglaubliche factis“73 tituliert wurden?
71 Gerichtsakten Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 199f. 72 Zitiert nach: Lindemann: Jungfer Heinrich, S. 266. Ganz Ähnliches findet sich auch in der Aussage einer Zeugin im 15. Jahrhundert. In einer Gerichtsverhandlung zu Sodomie und Frauen gab eine der Zeuginnen an, dass sie der Angeklagten Katherina Hetzeldorfer nach ihrem Geschlechtsteil gegriffen hätte (was ebenfalls ein angefertigtes Instrument war), dieses wäre so groß wie ein halber Arm gewesen und sie hätte daraus eine Hand voll Samen ejakulieren können. Diese Quelle ist ediert und abgedruckt in: Puff: Female Sodomy, S. 57–61. 73 Gerichtsakte Buncke, Jürgens, Jähner, S. 255–259.
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SEXUALITÄT UND DIVERSITÄT Für die gerichtliche Definition des Straftatbestandes Sodomie spielte ein mögliches gleichgeschlechtliches Begehren, 74 spielten erotische und sexuelle Gefühle der Frauen keine Rolle. In den Aussagen der Protagonistinnen tauchen diese jedoch auf, wenn Buncke beispielsweise angibt, „gewohnliche Lust“ beim Beischlaf empfunden zu haben. Und auch Linck thematisierte an einigen Stellen ihr Begehren und ihre sexuellen Gefühle, die sie empfand. So hielt der Gerichtsschreiber in den Aufzeichnungen Folgendes fest: [C.M. Linck] saget auch, daß in diesem Beyschlaff und wenn Inquisitae Liebe auf dem höchsten gewesen, es ihr in den Adern, Arm und Beinen gekribbelt […] sie wäre manchmal gantze meilen nach einem schönen Weibes menschen gelauffen, und alles was Sie erworben, hätte sie daran gewand. Öffters, wenn ein Weibesbild Sie nur im geringsten angegriffen, wäre Inquisita so brünstig geworden, daß Sie nicht gewust wo Sie bleiben sollen. 75
Helmut Puff hat in einem Aufsatz zu Katherina Hetzeldorfer, einer Frau, die im 15. Jahrhundert ebenfalls wegen Sodomie in Speyer ertränkt wurde, die mehr als berechtigte Frage gestellt, wie eindeutig sexuelle Gefühle in historischen Dokumenten eigentlich ausfallen müssen, damit sie von Historikerinnen und Historikern ernst genommen werden.76 Wie arbeiten wir als Historikerinnen und Historiker mit der Thematisierung von Gefühlen in bürokratischen und obrigkeitlich geprägten Quellen? Im Fall von Buncke sind glücklicherweise nicht nur die Gerichtsakten, sondern auch Abschriften von drei Briefen überliefert, die sie an ihre Ehefrau Jürgens nach
74 Die Diskussion darum, ob moderne Begriffe wie „homosexuell“, „gleichgeschlechtlich“, „lesbisch“, „lesbische Liebe“ oder „lesbian-like“ auf vormoderne Beziehungen und Beziehungsvorstellungen sinnvoll angewandt werden können, ist fast so alt wie die Geschichtsschreibung der Homosexualität selbst. Insbesondere mit der Kritik an Identitätskategorien, die u.a. von der Queer History angestoßen wurde, wird dies diskutiert: Siehe bspw.: Valerie Traub: Thinking Sex with the Early Moderns. Philadelphia 2015; The Lesbian Premodern. Hg. von Noreen Giffney, Michelle M. Sauer und Diana Watt. New York 2011. Siehe zu dem Begriff „lesbian-like“: Judith M. Bennett: „Lesbian-Like“ and the Social History of Lesbianisms. In: Journal of the History of Sexuality 9/1/2 (2000), S. 1–24. Zu der frühen ganz grundsätzlichen Debatte zur Verwendung von modernen Kategorien und Konzepten von Sexualität in der historischen Forschung: David M. Halperin: Is There a History of Sexuality? In: History and Theory 28/3 (1989), S. 257–274. 75 Gerichtsakten Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 193. 76 Puff: Weibliche Sodomie, hier S. 378.
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der Trennung verfasst hat. 77 Damit steht der obrigkeitlichen Perspektive aus den Gerichtsakten ein Selbstzeugnis als Referenzquelle zur Verfügung. Am 24. September des Jahres 1700 bat Buncke in einem dieser Briefe ihre „hertzvielgeliebte frau“ nachdrücklich darum, sie sehen zu dürfen: Hertzliebe frau, ich kann dir nicht alles so schreiben wie ich gerne wollte und waß ich auft dem hertzen habe, darumb so wollte ich gerne sie sprechen, auf daß ich vor sie mein hertz mündtlich möchte außschütten, denn sie kommt nimmermehr auß meinem hertzen so lange ich lebe.78
Unterzeichnet hat sie den Brief mit „dein vielgeliebter Mann“. Dem Brief vom September waren im Juli bereits zwei Briefe vorangegangen, in denen Buncke ihre Frau um ein letztes Treffen gebeten hatte, weil sie plante, als Koch in der Lüneburgischen Armee mitzuziehen und deshalb Hamburg zu verlassen. Teils in verbittertem, verletztem und verletzendem Ton geht es in den Briefen um den aufgelösten gemeinsamen Hausstand, um Kleidungsstücke, die nicht zurückgegeben wurden, um Eifersucht, Treulosigkeit, die schmerzhafte Trennung und die anhaltenden Liebesgefühle von Buncke. Ihre Liebesgefühle thematisierte sie in den drei aufeinander folgenden Briefen immer expliziter und bat Jürgens mehrfach darum, sie ein letztes Mal wiedersehen zu dürfen, um sich mit ihr auszusprechen. Die geschlechtliche oder sexuelle Identität der Personen spielt in dem Selbstzeugnis keine Rolle, auch die Frage nach dem Körper und dem körperlichen Geschlecht taucht in den Briefen nicht auf. Es geht um Untreue und Eifersucht wegen anderer sexueller Beziehungen, aber nicht um das Geschlecht der Beteiligten. Wenn Buncke in ihren Briefen Gott darum bittet, er möge Jürgens bekehren und ihr ihre Sünden vergeben,79 meint sie damit eben nicht die gemeinsam begangene Sodomie, sondern den von Jürgens begangenen Ehebruch, ihre außerehelichen Beziehungen zu Jähner und einem Soldaten. Hier wird eine Sichtweise erkennbar, die sehr wohl zeitgenössische und normative Vorstellungen von Sexualität und Ehe, eben die Unterscheidung zwischen legitimer, d.h. ehelicher Sexualität und nicht-legitimer, d.h. unehelicher Sexualität rezipiert. Die Ehe und die sexuelle Beziehung, die Buncke und Jürgens hatten, werden dabei von Buncke klar als legitime Beziehung verstanden. Dies steht im starken Kontrast zur obrigkeitlich-gerichtlichen Perspektive, die in 77 Die Briefe sind in Abschrift den Gerichtsakten beigelegt: Staatsarchiv Hamburg, 111-1 Senat, Cl. VII Lit. Mb Nr. 3 vol. 1 (Hamburgische Delinquenten Ao 1390-1734 u. Kriminalurtheile, auch gedruckte Prozeßschrifth), S. 249–410, hier: Abschrift von drei Briefen von Anna Ilsabe Buncke an Maria Cecilia Jürgens, S. 267–271. Im Folgenden abgekürzt mit: Briefe Buncke. In den Gerichtsakten ist aufgeführt, dass Buncke die Briefe durch eine weitere Person hat schreiben lassen. Gerichtsakten Buncke, Jürgens, Jähner, S. 260–267. 78 Briefe Buncke. 3. Brief (24. September 1700). 79 Briefe Buncke: 2. Brief (25. Juli 1700).
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dieser Beziehung die Verhöhnung und Parodie der einzig legitimen Eheform, der zwischen Mann und Frau, sieht. Einen ähnlich selbstbewussten Umgang finden wir auch bei Linck, die am Ende der (in Teilen unter Folter durchgeführten) gerichtlichen Untersuchung alle ihr vorgeworfenen Anklagepunkte gesteht, aber sich darauf beruft, dass sie diese Vergehen in letzter Instanz vor Gott abbitten müsse (und nicht vor einem weltlichen Gericht), denn allein diesem stünde ein Urteil über sie und ihren Lebenswandel zu: Daß sie [C.M. Linck] sich in mannskleyder gesteckt, das hätten ja mehr weibsLeuthe getahn […] Imübrigen wiße Sie wohl, daß Gott verbothen hätte, daß ein Weib keine Mannskleyder anziehen solle, solches gienge aber nur die Weiber an, und keine Jungfrauen. […] Daß Sie sich mit der Coinquisitin offentlich proclamieren und copulieren laßen, das dächte Sie vor Gott schon zu verantworten. […] Daß Sie sich bey ihrer vermeinten Frau als einen Mann aufgeführet, und Sie mit dem ledernen Dinge so schändlich gequälet, das wolle Sie Gott abbitten, ihre Frau aber habe davon keine Qual gehabt.80
Die Mediävistin Karma Lochrie hat unlängst darauf hingewiesen, dass Heteronormativität sich kaum zur Leitkategorie vormoderner europäischer Gemeinschaften eignet,81 weshalb auch die davon abgeleiteten Kategorien von Sexualität (homosexuell, schwul, lesbisch, queer, bisexuell usw.) zu historisieren sind. Die jeweiligen sozialen und historischen Kontexte in der Vormoderne stellten alternative Normativitätskonzepte bereit, die es für das jeweilige Beispiel zu rekonstruieren gilt. Für die beiden hier vorgestellten Beispiele aus dem frühen 18. Jahrhundert unterscheiden die normativen Konzepte zwischen legitim und illegitim, natürlich und widernatürlich. Sowohl die gerichtliche Definition, als auch die Einschätzung der Protagonistinnen griffen auf diese normativen Konzepte zurück, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die Frauen waren verheiratet, die Ehen funktionierten in der alltäglichen Praxis sehr gut als legitime Beziehungen. Das hielt vor, bis es zur Anzeige kam. Vor Gericht hielten die Ehen als legitime Orte von Sexualität und Gefühlen nicht Stand und die Beziehungen wurden aus dieser Perspektive zu Sodomie degradiert, die mittels eines Instruments begangen wurde. Erst vor Gericht wurde das normative Konzept von natürlich versus widernatürlich angewandt und selbst dort war umstritten, ob es sich bei den Beziehungen der Frauen tatsächlich um Sodomie handelte. Aus der Perspektive der Frauen spielte dieses normative Konzept bei der Bestimmung ihrer Beziehung jedoch keine Rolle: Für Buncke stellte die Ehe mit Jürgens auch noch nach der Trennung und vor Gericht eine legitime Beziehung dar, was sich in ihren Briefen an selbige nachlesen lässt. 80 Gerichtsakte Linck, Steidele: In Männerkleidern, S. 196. 81 Karma Lochrie: Preface. In: The Lesbian Premodern. Hg. von Noreen Giffney, Michelle M. Sauer und Diana Watt. Palgrave Macimillan 2011, S. XIII–XVIII.
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Was lässt sich anhand dieser beiden Beispiele in Bezug auf die Verschiedenheit und Vielfalt sexueller Beziehungen in der Frühen Neuzeit sagen? Ein Fokus auf die Beziehungen und Praktiken zeigt, dass es entgegen der normativen Vorgaben sehr wohl unterschiedliche, von der Norm abweichende sexuelle Beziehungen gab – die verworfenen und unbewohnbaren Zonen waren auch in der Frühen Neuzeit belebt.82 Aber auch diese randständigen sexuellen und emotionalen Beziehungen waren nicht losgelöst von den zeitgenössischen normativen Vorgaben und mussten sich daran messen, bzw. wurden daran gemessen. Die frühneuzeitlichen Normativitätskonzepte bezüglich Sexualität sahen keine Diversität vor, sie legten fest, was Norm war und was nicht der Norm entsprach, was anders war. Diese Konzepte müssen jedoch strikt historisiert und kontextualisiert werden, denn auch sie waren zeitgenössische umstritten und wurden in konkreten Situationen und Konstellationen ausgehandelt. Der Mehrwert des Konzeptes Diversität für eine Geschichte der Sexualität in der Frühen Neuzeit liegt meines Erachtens darin, dieses auf Praktiken und Beziehungen anzuwenden. Mit einem Blick auf die konkreten Praktiken kann über sexuelle Diversität in der Frühen Neuzeit nachgedacht werden und im Idealfall können damit die jeweils unbewohnbaren und verworfenen Zonen in eine Geschichte der Sexualität integriert werden.
82 Butler: Körper von Gewicht, S. 23.
Spuren von Diversität in französischen Selbstdokumenten des 18. Jahrhunderts Annette Keilhauer
Mon éducation ne s’étendit guère au dela de ma nourriture; on m’éleva a peu près comme on cultive les plantes, c’est-à-dire d’une manière tout a fait végétative. Mon instruction consista a m’apprendre l’oraison dominicale, en latin et en mauvais françois, avec quelques autres prières qu’on eut soin de m’expliquer par plusieurs élégantes versions en patois. On en fit de meme a l’égard du cathéchisme et a force de m’en répéter des fragments, je parvins a scavoir confusément qu’il y avait un Dieu, une Eglise et des sacrements. J’apris ensuite qu’il y avoit un pape, chef visible de cette Eglise, des prètres et des moines, on m’enseigna a les respecter et meme a les craindre, et c’est ce que [je] fais encore, quoiqu’avec quelque restriction. Me trouvant un jour au diner de Mr notre curé, j’apercus avec étonnement qu’il mangeait du pain d’une couleur différente de celuy dont j’avois vécu jusqu’alors, cette nouveauté me frappa; je n’osay en demander, mais les divers circuits que je fis autour de la table et mes regards attentifs firent connoitre ce que je souhaittois, ma curieuse avidité fut satisfaite, j’eus le bonheur, a l’age de huit ou neuf ans, de manger du pain blanc pour la première fois.1
So erinnert sich Valentin Jamerey-Duval, ab 1748 Direktor des kaiserlichen Münzkabinetts in Wien, zu Beginn seiner zwischen 1729 und 1745 geschriebenen Memoiren an ein frühes Kindheitserlebnis in der französischen Provinz, das ihm seine Stellung in der Gesellschaft auf sehr direkte Art vor Augen führte. Er berichtet von seiner religiösen Erziehung, die vor allem in der oberflächlichen Aufnahme der Dogmen 1
Valentin Jamerey-Duval: Mémoires. Enfance et éducation d’un paysan au XVIIIe siècle, présentés par Jean Marie Goulemot. Paris 1981, S. 112. Die Rechtschreibung entspricht der Wiedergabe der Originalquelle in dieser Edition von 1981.
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des katholischen Glaubens und der Vermittlung klarer Hierarchien mithilfe einer instrumentalisierten Mehrsprachigkeit bestand. Erst der in die Erinnerung eingebrannte performative Akt des Essens konkretisiert für den kleinen Jungen aber wirklich anschaulich die zuvor abstrakt vermittelte Abgrenzung – hier wird die Differenz greifbar. Das Essen realisiert als vitale Referenzkategorie eines weitgehend ohne Erziehung aufwachsenden Bauernkindes die Einschreibung von Differenz, die durch ihre punktuelle Aufhebung noch zusätzlich bestätigt wird. Dieses Beispiel weist auf ein wichtiges Potential autobiographischer Texte für die historische Erforschung von Diversität hin: Die retrospektive Erzählung des selbst Erlebten ermöglicht ein bewusstes Wahrnehmen der performativen Einschreibung von Differenz, die dem Individuum seinen Platz in der Welt viel konkreter – und hier gewissermaßen körperlich – deutlich macht, als dies eine Belehrung könnte. Das Verstehen von Differenz und Diversität kristallisiert sich in vermeintlich alltäglichen Handlungen, die sich deutlicher in den Körper des Individuums einschreiben als auswendig gelernte Glaubenssätze oder abstrakte Regelwerke. Anders als dies die moderne Definition der Gattung der Autobiographie suggeriert, die die individuelle Entwicklung der Persönlichkeit ins Zentrum stellt, 2 reflektieren Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit immer auch deutlich den Bezug zu sozialen Gruppen, den Ein- und Ausschluss aus Gemeinschaften, der für den Lebensweg des Einzelnen zentrale Bedeutung besitzt. Die Wahrnehmung solcher Ein- und Ausschlüsse kristallisiert sich in der Erinnerung oft in performativen Akten der Differenzzuschreibung, die in autobiographischen Texten zum Thema werden. Zugleich werden diese gegebenenfalls zur Inszenierung einer bewussten Überschreitung von Zuschreibungen genutzt, die die fließende Natur von Differenzierungen verdeutlicht. Selbstbiographien können so ganz allgemein als Orte der Herstellung und Auflösung von Differenz angesehen werden, wie sie Stefan Hirschauer als soziale Praxis beschreibt. In seinem soziologischen Ansatz zu Humandifferenzierungen geht Hirschauer von einem prozesshaften Verständnis von Differenzen als Differenzierungen aus, die gesellschaftlich immer neu vollzogen und auch aufgehoben werden.3 Statische Kategorisierungen anhand von Differenzkategorien werden problematisiert und durch die Beobachtung eines im ständigen Wandel befindlichen Vollzugs der Zuordnung von Differenzen ersetzt. Autobiographische Texte, die die Perspektive auf das eigene gelebte Leben im
2
Vgl. etwa Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975, S. 14; Jacques Lecarme, Éliane Lecarme-Tabone: L’Autobiographie. Paris 2015.
3
Vgl. Stefan Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43/3 (2014), S. 170–191, hier S. 182–184; Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Hg. von Stefan Hirschauer. Weilerswist 2017.
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narrativen Nachvollzug immer neu revidieren,4 stoßen damit zugleich auch regelmäßig eine Reflexion über selbst- oder fremdzugeschriebene Humandifferenzierungen an und setzen gegebenenfalls ihrerseits Prozesse der (Neu-)Zuschreibung in Gang. Es scheint allerdings kein Zufall, dass der klassisch angesetzte Beginn der eigentlichen Gattungsgeschichte in die Zeit der Aufklärung fällt, als eine Reihe traditioneller gesellschaftlicher Differenzierungen in ihrer Legitimität in Frage gestellt werden und andere Differenzkategorien an Bedeutung gewinnen. Ausgehend von einigen allgemeinen Reflexionen zur Gattung werden im Folgenden drei Selbstbiographien des 18. Jahrhunderts auf ihr jeweils unterschiedliches Potential für eine diversitätsorientierte Lektüre hin betrachtet.
GATTUNGSGESCHICHTE UND DIVERSITÄT In der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung zum 19. bis 21. Jahrhundert hat die Einbeziehung von Differenzkriterien sowohl bei der thematischen Analyse der Texte als auch bei der Ausdifferenzierung von Untergattungen Tradition. So reflektiert jede Autobiographie durch die Darstellung der Entwicklung des Lebens auf mehr oder weniger explizite Weise das Phänomen des Alterns. 5 Ebenso bieten Krankheit und Behinderung als irreversible Brüche im Leben Anlass zu autobiographischer Reflexion, in der das erzählende Individuum dann seine mitunter schmerzhaft gefühlte Neuverortung durch die Gesellschaft verarbeiten kann. 6 Das Schreiben
4
Autobiographisches Schreiben kann verstanden werden als mimetische Praxis des eigenen Lebens, bei der im Kontext des Alterungsprozesses die Interpretation der eigenen Biographie aus dem Blickwinkel der Gegenwart des Schreibens ständig neu ajustiert wird. Vgl. Annette Keilhauer: Altern als mimetische Praxis im autobiographischen Schreiben von Frauen. In: Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs. Hg. von Heike Hartung, Dorothea Reinmuth, Christiane Streubel und Angelika Uhlmann. Bonn 2007, S. 151–173.
5
Vgl. hierzu Vieillir Féminin et écriture autobiographique. Hg. von Annette Keilhauer. Clermont-Ferrand 2007; Keilhauer: Altern als mimetische Praxis.
6
Christopher Stuart: Introduction. Gender, Race, and Disability: The Death and Resurrection of the Body in Life Writing. In: New Essays on Life Writing and the Body. Hg. von Christopher Stuart und Stephanie Todd. Newcastle upon Tyne 2009, S. 1–21; Ann Jurecic: Illness as Narrative. Pittsburgh 2012; Elmar Gräßel und Dirk Niefanger: Angehörige erzählen. Vom Umgang mit Demenz: Einige sozialmedizinische narratologische Beobachtungen. In: Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart. Hg. von Rudolf Freiburg und Dirk Kretzschmar. Würzburg 2012, S. 99–116.
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der eigenen Krankheitsgeschichte wird heute nicht nur therapeutisch genutzt, sondern ist zu einem wichtigen Teil der Selbsthilfeliteratur geworden.7 Dass Frauen lange Zeit einen anderen Bezug zu autobiographischem Schreiben hatten als Männer, ist inzwischen in zahlreichen Untersuchungen thematisiert und nachgewiesen worden.8 Die Forschung hat die historisch und symbolisch begründete Untergattung der weiblichen Autobiographie identifiziert. Diese Gattungsdifferenzierung hat der Produktion von Frauen mehr Beachtung gebracht, birgt aber zugleich die Gefahr einer neuen Ghettoisierung dieses Korpus.9 Für die Autobiographie-Forschung bleibt es wichtig, weibliche Texte in einen allgemeineren historischen und literarhistorischen Kontext zu stellen, und dies nicht zuletzt deshalb, weil andere Differenzkriterien mit der Geschlechtszugehörigkeit variabel interagieren können. Im Sinne einer Weiterentwicklung der Gender Studies hin zu intersektionalen Ansätzen10 kann so auch ein frischer Blick auf dieses Korpus geworfen werden. Auch neuere historiographische Ansätze, die für die Frühe Neuzeit die weiten Begriffe des Selbstzeugnisses und des Egodokuments ansetzen, nützen autobiographische Texte zur Rekonstruktion der Wahrnehmungen und Verhaltensdispositionen
7
Vgl. z.B. nur einen unter vielen aktuell im Buchhandel erhältlichen einschlägigen Titel: Birgit Schreiber: Schreiben zur Selbsthilfe. Worte finden, Glück erleben, gesund sein. Berlin 2017.
8
Vgl. hierzu insbesondere Women’s Autobiography. Essays in Criticism. Hg. von Estelle C. Jelinek. Bloomington 1980; The Female Autograph. Theory and Practice of Autobiography from the Tenth to the Twentieth Century. Hg. von Domna C. Stanton und Jeanine Parisier Plottel. Chicago 1987; Sidonie Smith: Constructing Truth in Lying Mouths. Truthtelling in Women’s Autobiography. In: Women and Autobiography. Hg. von Martine Watson Brownley und Allison B. Kimmich. Washington 1999, S. 33–52. Ein Überblick über die Ansätze findet sich in Maria Dibattista: Women’s Autobiographies. In: The Cambridge Companion to Autobiography. Hg. von Maria Dibattista und Emily Wittman. Cambridge 2014, S. 208–221.
9
Domna Stanton hat den Begriff der „Autogynography“ geprägt und beschreibt damit eine spezifische Schreibstrategie von Frauen, die sich von einer männlich besetzten Gattungstradition abgrenzen müssen. Vgl. Domna Stanton: Autogynography. Is the Subject Different? In: The Female Autograph. Hg. von Domna C. Stanton. Chicago 1987, S. 3–21.
10 Vgl. etwa Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. von Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Lann Hornscheidt und Kerstin Palm. Opladen 22012; Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. von Christian Klein und Falko Schnicke. Trier 2014; Intersektionalität und Forschungspraxis – Wechselseitige Herausforderungen. Hg. von Mechthild Bereswill, Folkert Degenring und Sabine Stange. Münster 2015.
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historischer Subjekte.11 Auch sie interessieren sich zunehmend für die Thematisierung gesellschaftlicher Ein-, Ab- und Ausgrenzung in Selbstthematisierungen, ebenso wie für Phänomene der Grenzüberschreitung. Gerade biographische Brüche bieten oft erst den Anlass des Schreibens über das eigene Leben, denn sie modifizieren gegebenenfalls die Zuschreibung und Selbstzuschreibung von Differenz, sei es etwa durch religiöse Konversion, gesellschaftlichen Aufstieg oder Migration. Und sie interferieren mit anderen in dieser Zeit noch ‚stabileren‘ Differenzzuschreibungen wie Geschlecht. Diese Interferenz verschiedener Dimensionen der Zuschreibung gerät mehr und mehr in den Blick der Forschung, auch wenn ihre Rekonstruktion aufgrund der Wandelbarkeit von Personen- und Gruppenkonzepten oft komplex ist.12 Die französische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts entwickelt eine besondere Dynamik solcher Brüche und dies nicht erst durch den tiefgreifenden Einschnitt der französischen Revolution. Zu den Kernanliegen der Aufklärung gehören die Hinterfragung der Privilegien der Ständegesellschaft und die Einforderung religiöser Toleranz; auch die geographische und soziale Mobilität nehmen zu. Zudem intensiviert sich die Reflexion über die Geschlechterdifferenz, die ab der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer Konjunktur des dann im 19. Jahrhundert dominanten binären Geschlechtermodells mit klarer Aufgaben- und Sphärenteilung führt. In der klassischen Autobiographieforschung markiert das Jahrhundert den Beginn der eigentlichen Gattungsgeschichte mit dem Übergang von der auf die soziale und historische Einbettung der Erzählinstanz konzentrierten Memoirenliteratur zur in besonderem Maße durch Jean-Jacques Rousseaus Confessions etablierten Inszenierung eines sich unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen entwickelnden Individuums. Neuere Forschungen betonen allerdings die Schematik solcher Grenzziehungen.13 Auch und gerade die Konzentration auf die individuelle Entwicklung greift immer wieder auf gesellschaftliche Kategorisierungen zurück, selbst wenn sie diese zurückweist – wofür Rousseau das beste Beispiel wäre. Im Folgenden soll dem Potential nachgespürt werden, das die Beobachtung von Phänomenen der Diversität bei der Analyse von Selbstzeugnissen dieser Zeit besitzt. Die drei herangezogenen Beispieltexte dokumentieren in ihrer chronologischen Reihung unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Herangehensweisen: Valentin Jamerey-Duval schreibt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine Memoiren eines 11 Claudia Ulbrich, Hans Medick und Angelika Schaser: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. In: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. Hg. von dens. Köln 2012, S. 1–20, hier S. 2. 12 Ebd., S. 12. 13 Vgl. Le Moi, l’Histoire 1789-1848. Hg. von Damien Zanone. Grenoble 2005; Le temps des femmes. Textes mémoriels des Lumières. Hg. von Anne Coudreuse und Catriona Seth. Paris 2014; Catriona Seth: La fabrique de l’intime. In: La fabrique de l’intime. Mémoires et journaux de femmes du XVIIIe siècle. Hg. von Catriona Seth. Paris 2013, S. 7–46.
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gesellschaftlichen Aufsteigers, der sich als ungebildeter Bauernsohn in den Gelehrtenstand hocharbeitet. Er entwickelt einen kritischen Blick auf die französische Gesellschaft, der seinem Text auch die Bezeichnung als „Antimemoiren“ eingebracht hat.14 Jean-Jacques Rousseau, der Jamerey-Duval zumindest teilweise gelesen hat, schreibt in den 1770er Jahren seine Confessions, die man als Anklageschrift eines gescheiterten Konvertiten und sozialen Aufsteigers mit Migrationshintergrund bezeichnen könnte. 15 Die glühende Rousseau-Anhängerin Marie-Jeanne Roland schließlich lässt 1793, als Girondistin in der Bastille inhaftiert, ihr Leben als bürgerliche Kaufmannstochter mit gelehrter Erziehung Revue passieren. 16 Drei Arten der Thematisierung von Diversität lassen sich ganz allgemein in diesen Selbstzeugnissen finden: Zum Ersten kann die Erzählinstanz eine direkte Selbstoder Fremdzuschreibung von Differenz vornehmen, die reflektiert oder auch ganz unreflektiert geschieht. Zum Zweiten können die Inszenierung und die Dynamik von Brüchen oder die Überschreitung von Grenzziehungen im Fokus des Textes stehen. Daraus entwickelt sich zum Dritten gegebenenfalls auch eine kritische Sicht auf institutionalisierte Differenzzuschreibungen, die zur bewussten Sprengung und Problematisierung des vorgegebenen Rahmens führen kann. Die Beispiele zeigen die Vielgestaltigkeit und unterschiedliche Bewertung der performativen Zuschreibungen. Sie verweisen zugleich auf die ästhetische Überformung solcher Zuschreibungen, die literarische Traditionen der Inszenierung von Diversität für die Selbststilisierung nutzen.
VALENTIN JAMEREY-DUVAL: DER SOZIALE AUFSTEIGER ALS AUFKLÄRER Die oben zitierte Passage der Memoiren von Valentin Jamerey-Duval ist ein gutes Beispiel für den Duktus, mit dem dieser seine Kindheit und Jugend erzählt. Noch vor Erscheinen von Voltaires Candide entwirft Jamerey-Duval sich selbst als Figur eines naiven jungen Burschen ohne jegliche Erziehung. Er erschließt sich die Welt voller „curiosité indiscrète“,17 indem er sehr direkt wahrnimmt und ungeschützt neugierige Fragen stellt. Der Autor greift hier auf die Erzähltradition des Schelmenromans, der
14 Vgl. den Untertitel der deutschen Ausgabe: Valentin Jamerey-Duval: Der wilde Mann am Wiener Hof. Die Anti-Memoiren des Valentin Jamerey, genannt Duval. Klagenfurt 2011. Im Folgenden zitieren wir aus der französischen Ausgabe von 1981, vgl. Anm. 1. 15 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions. Hg. von Jacques Voisine et al. Paris 2011. 16 Marie-Jeanne Roland: Mémoires de Madame Roland. Édition présentée et annotée par Paul de Roux. Paris 1966. 17 Jamerey-Duval: Mémoires, S. 121.
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Reiseliteratur und des Robinson Crusoe-Stoffes zurück,18 um sich als Entdecker einer neuen Welt zu inszenieren, deren Regeln er erst lernt. Als junger Erwachsener, der erstmals fremde Länder jenseits von Frankreich kennenlernt und seine Vorurteile hierüber revidieren muss, stilisiert er sich gar als Außerirdischer: „Je me considéray comme un homme tombé des nues, ou sorti du sein de la Terre, bien résolu de n’avoir d’autre patrie que les lieux ou régneroit l’humanité, la justice et la paix.“19 Die narrativ inszenierte, direkte und zugleich exotisierende Wahrnehmung der vermeintlich ‚kruden‘ Realität steht oft in Widerspruch zu gesellschaftlichen Regeln und Dogmen. Duval zeichnet damit – ganz der Aufklärung verpflichtet – ein durch ungerechte Standesunterschiede, Unterdrückung des Bauernstandes, allgemeine Armut und die Willkür des Gerichtswesens charakterisiertes Bild seiner Zeit. Valentin verliert im Alter von fünf Jahren seinen Vater und flüchtet mit 13 Jahren vor den Misshandlungen seines neuen Stiefvaters in die Fremde. Dort lernt er die Gefahren und Ungerechtigkeiten des sozialen Lebens kennen. Gesellschaftliche Diversität muss er erst erleben, um sie zu begreifen und dann zu hinterfragen – in ihren willkürlichen Zuschreibungsmechanismen wie in ihrer realen Performativität. Voraussetzung seiner eigenen Erfolgsgeschichte ist zunächst einmal die Neutralisierung solcher Einschreibungen: „[…] je devois essuyer tous les déagréments de la triste condition ou j’étois né.“20 Nach einem Unfall knapp dem Tod entronnen genest er in einem Altenhospiz und entdeckt so erstmals das Phänomen des Alterns und des Alters als Element gesellschaftlicher Diskriminierung und als Dimension auch seines eigenen Lebens.21 Auch die soziale Wirklichkeit der Ständegesellschaft des Ancien Régime erschließt sich ihm in konkreten Erlebnissen, etwa in der Beobachtung einer ungleichen Anwendung des Rechts je nach Standeszugehörigkeit. Als er etwa nachfragt, warum ein Adeliger, der stielt, nicht genauso bestraft wird wie ein einfacher Landarbeiter, bekommt er die überraschende Antwort: On me fit entendre qu’il n’en étoit pas tout a fait de la justice humaine comme de celle de Dieu, que celle cy étoit distribué sans nulle acception de personne, au lieu que l’autre admettoit des
18 Vgl. hierzu die überzeugende Argumentation bei Rolf Wintermeyer: „Aus den Wolken oder aus dem Schoß der neuen Erde“. Nachwort. In: Der wilde Mann am Wiener Hof. Die Anti-Memoiren des Valentin Jamerey, genannt Duval. Klagenfurt 2010, S. 438–439. Jamerey-Duval selbst hat insbesondere die Werke eines der Hauptvertreter des französischen roman comique, Alain-René Lesage, gut gekannt und als Vorlage genutzt, vgl. Correspondance de Valentin Jamerey-Duval, Bibliothécaire des ducs de Lorraine. Edition critique établie par André Courbet, T. 1. Paris 2011, S. 425, Anm. 7. 19 Jamerey-Duval: Mémoires, S. 187. 20 Ebd., S. 113. 21 Ebd., S. 119–121.
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distinctions et des égards qui aggravoient la faute plus ou moins, selon la qualité ou le crédit de celuy que l’on offencoit.22
Seine Beobachtungen eröffnen zugleich immer auch einen kritischen Blick auf die Willkür gesellschaftlicher Differenzzuschreibungen und verweisen auf Phänomene, die diese so stabil scheinende Ständegesellschaft in Frage stellen. Der Reichtum eines bürgerlichen Steuereintreibers, so wundert sich etwa der jugendliche Held, kann zur Durchbrechung der Standesgrenzen führen, wenn dieser seine Tochter an einen verarmten Aristokraten verheiratet: On prétend mème que sa fille doit épouser un duc et pair au premier jour. Un duc et pair, repris je avec chaleur. Vous vous rendez incroyable ! Y en a t’il qui ne soient ni nobles ni gentilshommes? Car il y a peu d’apparence qu’une personne d’une extraction illustre ait jamais l’ame assez basse pour prostituer son origine et se diffamer soi même en vendant la gloire de ses ancètres à un vil roturier, auteur des calamités de sa patrie. Illusion toute pure, répartit l’agriculteur. Vous ne connoissez pas encore les prodigieux effets de l’argent. 23
Später in seiner Entwicklung stellt der inzwischen belesene Held dann auch die Legitimität des Adels in Frage, indem er dessen Ursprung problematisiert. Bei seiner Rückkehr in die französische Provinz trifft Jamerey-Duval einen Adeligen, der wegen seiner ärmlichen und würdelosen Lebensweise kaum als solcher zu erkennen ist. Er hatte durch ungerechte Prozesse und Steuereintreiber seinen Besitz verloren, beharrt aber dennoch auf seiner noblen Herkunft: Pour me montrer combien elle étoit distinguée, il se fit aporter une vielle [sic] boëte de sapin qui avoit autrefois servi d’etuy a un fromage de Vosges, ce qui suppose que l’odeur que ladite boëte exhaloit n’étoit pas des plus aromatiques. Il en tira une vénérable pancarte qui contenoit les titres et les armoiries accordées a un de ses ancètres par Christine de Dannemark, duchesse de Lorraine, nièce de l’empereur Charles-Quint. Je déchifray de mon mieux une partie de ce diplôme, mais ayant peine a en suporter l’infection, on la remit dans la cassolette. Je restay confus en voyant que le mérite, les talents et toute la noblesse de ce gentilhomme consistoient en cette paperasse. Qui m’auroit dit alors, comme on a fait depuis, que plus des deux tiers de la noblesse / européenne étoient dans le meme cas, je n’aurois pas manqué de demander pourquoi on ne déchargeoit pas la terre d’un fardeau aussi nuisible qu’inutile.24
Diese Passage gibt noch einmal gut den Stil wieder, den Jamerey-Duval immer wieder nützt, wenn er gesellschaftliche Humandifferenzierungen thematisiert. Die 22 Jamerey-Duval: Mémoires, S. 132. 23 Ebd., S. 156. 24 Ebd., S. 251–252.
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ironisch überzeichnete Darstellung lässt beim Leser schnell Zweifel an der Authentizität der autobiographischen Erzählung 25 aufkommen – der Bericht scheint stark überformt von literarischen Konventionen des Schelmenromans und der Satire. Der Gestank der Käseschachtel spiegelt allzu deutlich metaphorisch die Nutzlosigkeit des Adelsstandes, der ohne ausreichende Finanzmittel seinen Status nicht halten kann. Ohne die performative Inszenierung gesellschaftlicher Distinktion durch Besitz und äußeres Auftreten bleibt damit nicht viel von seinem gesellschaftlichen Sonderstatus. In seinem autobiographischen Bericht blickt Duval auf sein eigenes Leben zurück und entwickelt zur gleichen Zeit Thesen über die Missstände der französischen Gesellschaft des Ancien Régime. Die Vita des sozialen Aufsteigers wird so zum Exempel für die Möglichkeit der Befreiung aus gesellschaftlicher wie geistiger Unmündigkeit, womit Jamerey-Duval gewissermaßen eine autobiographische Variante des conte philosophique erfindet. Dabei fehlt nie die mehr oder weniger versteckte Verbeugung vor den Förderern und Wegbereitern. Die Freiheit und der durch autodidaktische Bildung und Lektüre erreichte gesellschaftliche Aufstieg werden ihm ermöglicht durch das Verlassen des unterjochten Frankreich und durch die besondere Förderung des Herzogs von Lothringen. Die kontrastive Skizzierung von Lothringen als sozial gerechtes, reiches, prosperierendes und tolerantes Paradies gegenüber dem unterdrückenden, von Armut, Hunger und Gewalt geprägten Frankreich mündet so ganz natürlich in die Glorifizierung seines Förderers, der als aufgeklärter Fürst die Überwindung der Standesgrenzen durch Bildung und Gelehrsamkeit erst ermöglicht. Nicht umsonst ist eine der Schlüsselszenen, die der Autor als Auftakt und Incipit des zweiten Teils seines Textes inszeniert, seine Begegnung mit den jungen Prinzen von Lothringen und ihren Hauslehrern im Wald von Lunéville im Mai 1717. Valentin, damals 12-jährig, war ihnen aufgefallen, weil er als Kuhhirte in einer Mathematikabhandlung las und einen Atlas unter dem Arm trug.26 Diese Begegnung markiert den Beginn seiner offiziellen Förderung durch den Herzog und den Hauslehrer der Prinzen, den Baron von Pfütschner, und damit seinen symbolischen Eintritt in die Gelehrtenrepublik der Aufklärung.
25 Authentisch wäre der Bericht zu nennen im Sinne des Paktes, den der Autor eines autobiographischen Textes mit dem Leser abschließt, indem er postuliert, dass die von ihm in der ersten Person erzählte Biographie mit dem eigenen Lebensweg identisch ist. Vgl. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975, S. 14. 26 Vgl. hierzu André Courbet: Les illustrations des Mémoires de Valentin Jamerey-Duval, bibliothécaire des ducs de Lorraine et son ex-libris. In: La Cour de Lorraine en ses meubles. 1686–1766, découvertes inédites. Hg. von Jacques Charles-Gaffiot. Paris 2008, S. 181–209, hier S. 192.
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Zwar verfügt Jamerey-Duval selbst schon früh, dass seine Memoiren zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt werden sollen.27 Er tut dies aber weniger, um seine intimen Geständnisse für sich zu behalten, als um seine Person vor politischen Unannehmlichkeiten zu schützen, da er gegenüber Missständen und den dafür Verantwortlichen kein Blatt vor den Mund nimmt. Spätestens seit der Veröffentlichung der ersten beiden Bände seiner Korrespondenz wissen wir zudem, dass er zahlreiche Kopien von Teilen seiner Memoiren an Freunde und Briefpartner geschickt hat, die ihn zum Weiterschreiben ermunterten und Details aus ihrer eigenen Erinnerung für die Weiterführung beisteuerten.28 So erscheint in der historischen Rekonstruktion der Text fast als eine in Manuskriptform zirkulierende kumulative Veröffentlichung,29 die in Teilen über Umwege etwa auch Voltaire und Rousseau bekannt war. 30 Schließlich lässt Jamerey-Duval sogar von dem österreichischen Kupferstecher Samuel Kleiner sieben Stiche anfertigen, die die Schlüsselszenen seines Lebensweges noch einmal in Szene setzen. Dabei kommt seiner ersten Begegnung mit den jungen Prinzen von Lothringen und ihren Hauslehrern eine zentrale Bedeutung zu, da sie dem jungen Kuhhirten den Weg zum systematischen Aufbau von Bildung und zum gesellschaftlichen Aufstieg ebnet.31 Auch diese Stiche verbreitet er großzügig unter Freunden und Briefpartnern – Rousseau, der nicht mit ihm korrespondierte, soll damit gar die Wände seines Arbeitszimmers geschmückt haben32 – und lässt als passionierter Numismatiker sogar eine Gedenkmünze mit der Begegnungsszene als symbolische Grenzüberschreitung prägen.33 So wird aus dem intimen Egodokument letztlich ein aufklärerisch-didaktischer Kampftext und es verwundert nicht, dass die erst nach dem Tod seines Autors 1777 erstmals gedruckten Mémoires, nachdem sie zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten waren, im 19. Jahrhundert als vorbildlicher Bildungsgang 27 Vgl. André Courbet: Introduction. In: Correspondance de Valentin Jamerey-Duval, Bibliothécaire des ducs de Lorraine. Hg. von André Courbet. Tome II. Paris 2015, S. 29. 28 André Courbet: Introduction. In: Correspondance de Valentin Jamerey-Duval. Bibliothécaire des ducs de Lorraine. Hg. von André Courbet. Tome I. Paris 2015, S. 13 29 Zur Manuskriptzirkulation im 18. Jahrhundert vgl. De bonne main. La communication manuscrite au XVIIIe siècle. Hg. von François Moureau. Paris, Oxford 1993. 30 Courbet: Introduction, Tome I, S. 13. 31 Hierzu genauer André Courbet: Les Illustrations des Mémoires de Valentin JamereyDuval, bibliothécaire des ducs de Lorraine et son ex-libris. In: La Cour de Lorraine en ses meubles 1686–1766, découvertes inédites. Hg. von J. Charles-Gaffiot. Paris 2008, S. 190–209. In den Mémoires findet sich diese Szene zu Beginn des zweiten Teils beschrieben und programmatisch eingeleitet: „Un Berger, déja parvenu a la 21me année de son age, va se voir transféreé subitement de l’obscurité d’une foret au milieu d’une cour ou l’on ne respiroit alors que la joye et les plaisirs“. Jamerey-Duval: Mémoires, S. 267. 32 André Courbet: Introduction, Tome I, S. 13. 33 Vgl. Correspondance de Valentin Jamerey-Duval, Tome II, Abb. 15 [ohne Seitenzahl].
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Verwendung in der Kinder- und Jugendliteratur fanden.34 Die Aufdeckung der sozialen Konstruktion und auch Dekonstruktion gesellschaftlicher Diversität trifft letztlich den Kern aufklärerischen Denkens. Ihr gegenübergestellt wird eine meritokratische Distinktion durch den Motor des nie befriedigten Wissensdrangs, die zu den zentralen Glaubenssätzen nicht nur Jamerey-Duvals zählt.
JEAN-JACQUES ROUSSEAU, LES CONFESSIONS: DIE RADIKALE ANDERSHEIT DES INDIVIDUUMS Die Faszination Rousseaus für Jamerey-Duval begründet sich sicherlich vor allem in der Einzigartigkeit von dessen wechselvollem Lebensweg, der zugleich mit einem wiederkehrenden Rückzug aus der Gesellschaft verbunden war. Bei einem Eremiten beginnt der Bildungsweg des jungen Valentin und auch später zieht er sich immer wieder in die Einsamkeit zurück, ganz ähnlich wie Rousseau es tun wird. Nicht umsonst stellen drei der Vignetten vom Leben Jamerey-Duvals Eremitagen dar, die er als wichtige Stationen seines geistigen Reifeprozesses ansieht.35 Auch in Rousseaus Confessions als Schlüsseltext der französischen Gattungsgeschichte finden sich regelmäßig Fremd- und Selbstzuschreibungen von Differenz, wobei die Distanz zur bestehenden Gesellschaft und die Zurückweisung jeglicher Kategorisierung eine ungleich größere Rolle spielen. Schon der Beginn der Geständnisse postuliert programmatisch eine radikale Andersheit ihres Urhebers, die jede gesellschaftliche Gruppenzuordnung grundlegend in Frage stellt: „Je ne suis fait comme aucun de ceux que j’ai vus; j’ose croire n’être fait comme aucun de ceux qui existent.“36 Der junge, calvinistisch erzogene Jean-Jacques wächst zunächst in Genf als Sohn eines Uhrmachers auf und sein Lebensweg scheint klar vor ihm zu liegen. Mehrfach in den Confessions wird diese vermeintliche Vorbestimmung, die Rousseau eine bürgerliche Existenz als sesshafter Handwerker und Familienvater beschert hätte, evoziert und verworfen. So schreibt er am Ende des ersten Buches: J’aurais passé dans le sein de ma religion, de ma patrie, de ma famille et de mes amis, une vie paisible et douce, telle qu’il la fallait à mon caractère, dans l’uniformité d’un travail de mon
34 Jean-Marie Goulemot: Introduction. In: Valentin Jamerey-Duval: Mémoires, S. 39, 101. 35 Vgl. Courbet: Les illustrations, S. 205–208. 36 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions. Hg. von Jacques Voisine et al. Paris 2011, S. 3. Zu den Confessions vgl. insbesondere die klassische Studie von Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris 1971 sowie der neuere Band Les Confessions. Se dire, tout dire. Hg. von Jacques Berchtold und Claude Habib. Paris 2015.
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goût et d’une société selon mon cœur. J’aurais été bon chrétien, bon citoyen, bon père de famille, bon ami, bon ouvrier, bon homme en toute chose.37
Aber so soll es nicht kommen: Die Abwesenheit der Eltern führt zusammen mit widrigen Umständen seiner Erziehung und einem tyrannischen Ausbilder zu einem Mangel an Beständigkeit, der ihn schließlich im Alter von 16 Jahren dazu veranlasst, auf Wanderschaft zu gehen. Geographische Mobilität, die er sich selbst als Charaktermerkmal zuschreibt,38 bestimmt in der Folge seinen Lebensweg – eine Mobilität, die im höheren Alter mehr und mehr vom Abenteuer zur Flucht gerät. Immer wieder problematisiert Rousseau in den Confessions seine gesellschaftliche Zugehörigkeit auf unterschiedlichsten Ebenen: Er entwickelt sich vom Genfer zum Franzosen und wieder zum überzeugten Genfer, er konvertiert vom Protestantismus zum Katholizismus und macht die Konversion später wieder rückgängig. Aus dem gesellschaftlich geächteten jungen Wanderburschen, der bei seiner geliebten Madame de Warens wie in einer Luftblase jenseits gesellschaftlicher Bindungen lebt, wird ein angesehener und in höchsten Kreisen der französischen Gesellschaft verehrter Philosoph, der aber durch seine radikale Gesellschaftstheorie zugleich zunehmend ausgeschlossen wird. Vom musisch und literarisch ehrgeizigen Komponisten und Literaten, der in den Salons und am Hof reüssieren will, wird er zum verschrobenen Eremiten in fremdartiger Kostümierung, der die einsame Natur als selbstgewähltes Exil vorzieht: So inszeniert Rousseau in den Confessions seinen biographischen Weg als gezeichnet von sich wiederholenden Grenzüberschreitungen und Neuzuschreibungen hin zu einer am Ende des Lebens vermeintlich autonom gewählten Existenzweise. Aus Anlass seines Rückzugs auf die Petersinsel im Bielersee im Jahr 1765 konstatiert er gegen Ende der Confessions: „Je prenais donc en quelque sorte congé de mon siècle et de mes contemporains, et je faisais mes adieux au monde.“39 Zwei Szenen seiner Lebensbeschreibung können diese bewusste Inszenierung von Grenzüberschreitungen verdeutlichen. Der ziellos umherwandernde 16-jährige Calvinist Rousseau wird von der jungen Konvertitin Madame de Warens aufgenommen, die mit besonderem Eifer für ihre neue katholische Religion missioniert. Geblendet von der Schönheit der 26jährigen begibt sich Jean-Jacques ihr zuliebe auf die Reise in ein Turiner Katechumenenhospiz, wo er innerhalb weniger Wochen zum katholischen Glauben bekehrt werden soll. Sein Bericht über den dortigen Aufenthalt fällt dann recht kritisch aus, die Konversion erscheint als willkürliche Zwangshandlung. Die Kandidaten bestehen aus zwielichtigen Gestalten und leichten Mädchen, und werden von schlechten Lehrern unterrichtet. Es herrscht allgemeine Heuchelei, 37 Rousseau: Confessions, S. 47. 38 Ebd., S. 58: „[…] ma manie ambulante […]“; S. 195: „La vie ambulante est celle qu’il me faut.“ 39 Ebd., S. 760.
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denn viele haben sich nur für diesen Weg entschieden, um sich über einige Wochen ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen zu sichern. Rousseau selbst analysiert retrospektiv seinen vorhergehenden Zugang zum Katholizismus als einen ebenso oberflächlichen wie widersprüchlichen Kinderglauben, in dem sich eine der protestantischen Erziehung verdankte kritische Distanz mit einem gewissen Eigennutz gepaart hatte. Denn als kleines Kind war er von den katholischen Pfarrern in der Umgegend von Genf gehätschelt und mit Leckereien gefüttert worden, was in ihm erst eine gewisse Sympathie mit dem katholischen Glauben geweckt hatte: En même temps que la sonnette du viatique me faisait peur, la cloche de la messe ou de vêpres me rappelait un déjeuner, un goûter, du beurre frais, des fruits, du laitage. [...] N’envisageant le papisme que par ses liaisons avec les amusements et la gourmandise, je m’étais apprivoisé sans peine avec l’idée d’y vivre […].40
Auch in Turin winken zunächst ein bequemes Leben und eine gute Verpflegung. Seinen Aufenthalt verlängert Rousseau durch einen gewissen Widerstand gegenüber seinen Lehrern, der allerdings bricht, als klar ist, dass er ohne öffentliche Konversion kaum wieder aus diesem Gefängnis entkommen wird. Schließlich wird er sogar von einem homosexuellen Zimmernachbarn angegangen, was aber von den Priestern erstaunlicherweise nicht sanktioniert und von einem Aufseher als ganz natürlich dargestellt wird. 41 Der eigentlich schwerwiegende und lebensverändernde Schritt der Konversion wird so zu einem Akt der Oberflächlichkeit, der Heuchelei und des Aberglaubens, der aus utilitaristischen Gründen begangen wird und keinerlei innerer Läuterung entspricht. Im Gegenteil wird jetzt der Konvertit erstmals mit den moralischen Abgründen menschlicher Existenz konfrontiert. Kaum ist der Akt selbst vollzogen, findet Rousseau sich mittellos auf der Straße wieder: „On me recommanda de vivre en bon chrétien, d’être fidèle à la grâce; on me souhaita bonne fortune, on ferma sur moi la porte, et tout disparut.“42 Für Rousseau selbst bringt die als Ernüchterung erlebte Konversion vor allem Anerkennung durch Madame de Warens, seine Mentorin und spätere Geliebte. Sie wird zugleich inszeniert als problematisches religiöses Ritual der Grenzüberschreitung, das Rousseau in einen bewussten Gegensatz zu seiner persönlichen Religiosität weitab von kirchlichen Institutionen und Würdenträgern 40 Rousseau: Confessions, S. 68. 41 „Il me dit sans détour que lui-même, dans sa jeunesse, avait eu le même honneur, et qu’ayant été surpris hors d’état de faire résistance, il n’avait rien trouvé là de si cruel. Il poussa l’impudence jusqu’à se servir des propres termes, et s’imaginant que la cause de ma résistance était la crainte de la douleur, il m’assura que cette crainte était vaine, et qu’il ne fallait pas s’alarmer de rienˮ. Rousseau: Confessions, S. 73. 42 Ebd., S. 75.
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stellt, die er später in seinem Leben insbesondere in der einsamen Naturerfahrung vertieft.43 Als es zum Bruch mit Madame de Warens kommt, bricht Rousseau auf nach Paris, um sich dort mit seinem Talent in die Gesellschaft einzuführen, wobei sein sozialer Status sich zwar bessert, aber weiter prekär bleibt. In den Beschreibungen seiner Dienstvorgesetzten spielt seine unterschiedliche Behandlung eine wichtige Rolle, je nachdem, ob er als subalterner Bediensteter, als Hauslehrer oder gar als geschätzter Gesprächspartner gesehen wird, wozu ihn seine Belesenheit, Begabung und Sensibilität qualifizieren. Nach seiner Ankunft in Paris wird er durch einen Freund im Hause der Baronin de Benzenval eingeführt und spricht mit dieser über sein neu erfundenes musikalisches Notationssystem, das entgegen seinen Erwartungen nicht von der Académie preisgekrönt worden war. Der Vormittag neigt sich dem Ende zu und er wird von der Hausherrin gebeten, zum Mittagessen zu bleiben: Je ne me fis pas prier. Un quart d’heure après je compris par quelques mots que le dîner auquel elle m’invitait était celui de son office. Mme de Bezenval était une très bonne femme, mais bornée, et trop pleine de son illustre noblesse polonaise ; elle avait peu d’idées des égards qu’on doit aux talents. Elle me jugeait même en cette occasion sur mon maintien plus que sur mon équipage, qui, quoique très simple, était fort propre, et n’annonçait point du tout un homme fait pour dîner à l’office. J’en avais oublié le chemin depuis trop longtemps pour vouloir le rapprendre.44
Als Rousseau sich daraufhin zurückziehen will, korrigiert sich die Hausherrin nach Einflüsterungen ihrer Tochter und lässt ihn nun doch an ihrem eigenen Tisch platznehmen. Diese Passage zeigt deutlich die Komplexität der Abgrenzungs- und Anerkennungsmechanismen der aristokratischen Gesellschaft des zu Ende gehenden Ancien Régime. Für einen sozialen Aufsteiger wie Rousseau können Intelligenz und Talent Türen öffnen, angemessene Kleidung ist aber unabdingbar und je nach Rahmen und Gastgeber reicht auch diese Kombination nicht aus. Die kritische Leserin der Confessions findet in dieser Passage allerdings zugleich das recht gesunde Selbstbewusstsein des jungen Schweizers wieder, der zwar eine gewisse Eloquenz besitzt, aber jenseits seines wenig erfolgreichen Notationsprojektes zu diesem Zeitpunkt noch keine gesellschaftlichen Meriten errungen hat. Die Gastgeberin wird sich später dafür einsetzen, dass er eine Stelle als Sekretär erhält, was zeigt, wie die inszenierte Utopie des gleichberechtigten Austausches, die Rousseau lebenslang kultiviert, durch
43 Vgl. hierzu insbesondere: Jean-Jacques Rousseau: Les rêveries du promeneur solitaire. Paris 1997. 44 Rousseau: Confessions, S. 336.
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die Realität einer finanziell immer prekären Existenz unterlaufen wird.45 Das nicht auflösbare Spannungsverhältnis zwischen der programmatisch inszenierten Devianz des Genies und dessen Drang nach persönlicher Zuneigung und gesellschaftlicher Anerkennung charakterisiert mithin einen Großteil der autobiographischen Schriften Rousseaus. Erst die Aufgabe des Wunsches nach Anerkennung bringt dem alternden Rousseau etwas Ruhe, womit er zugleich einen wichtigen Grundpfeiler aufklärerischen Denkens, nämlich den ideellen Vorrang persönlicher Verdienste durch besondere Leistungen und Fähigkeiten gegenüber Standesprivilegien, einklammert. Rousseaus Blick auf die eigene Biographie ist geprägt von seinem philosophischanthropologischen Ansatz zum Ursprung gesellschaftlicher Ungleichheit, wie er ihn schon im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1754 entwirft.46 Die natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen führen im Naturzustand noch zu keiner sozialen Ausdifferenzierung und damit zu keiner Ungleichheit: Je conçois dans l’espèce humaine deux sortes d’inégalité; l’une que j’appelle naturelle ou physique, parce qu’elle est établie par la nature, et qui consiste dans la différence des âges, de la santé, des forces du corps, et des qualités de l’esprit, ou de l’âme, l’autre qu’on peut appeler inégalité morale, ou politique, parce qu’elle dépend d’une sorte de convention, et qu’elle est établie ou du moins autorisée par le consentement des hommes.47
Das Übel der durch gesellschaftliche Konvention erst entstandenen moralischen Ungleichheit beginnt mit der Vergesellschaftung durch die Geste der Einhegung von Land, die dessen Besitzer privilegiert. Erst aus dieser ungleichen Vergesellschaftung entwickelt sich ein Bedürfnis nach Anerkennung, das den ständigen Vergleich mit dem Anderen und die Abhängigkeit vom Urteil der Mitmenschen zur Folge hat: „Telle est, en effet, la véritable cause de toutes ces différences: le sauvage vit en luimême; l’homme sociable toujours hors de lui ne sait vivre que dans l’opinion des
45 „Dès lors j’osai compter que Mme la baronne de Bezenval et Mme la marquise de Broglie, prenant intérêt à moi, ne me laisseraient pas longtemps sans ressource, et je ne me trompai pas.ˮ Rousseau: Confessions, S. 338. 46 Zum Bezug zwischen Rousseaus Autobiographie und dem Discours sur l’origine de l’inégalité, vgl. auch Antonio Gomez Ramos: Der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft. Zweiter Diskurs, zweiter Teil (D2, 195–215). In: Jean-Jacques Rousseau: Die beiden Diskurse zur Zivilisationskritik. Hg. von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge. Berlin 2015, S. 141-158. 47 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, Discours sur l’inégalité entre les hommes. Paris 1971, S. 157.
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autres, et c’est, pour ainsi dire, de leur seul jugement qu’il tire le sentiment de sa propre existence.ˮ48 Das empfindsame Genie dagegen definiert sich durch seine radikale Opposition gegenüber jeder gesellschaftlichen Verortung und nähert sich damit wieder dem Zustand des Wilden an – eine Pose, die sich dann etwa auch bei den Protagonisten der romantischen Literatur wiederfindet.
MADAME ROLAND: MEMOIREN EINER GEBILDETEN BÜRGERIN Marie-Jeanne (genannt Manon) Roland (1754-1793) ist ein frappierendes Beispiel für die exkludierende Wirkung der literaturgeschichtlichen Kanonisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.49 Nicht nur ihr großer Verehrer Stendhal, sondern auch Sainte-Beuve, Lamartine und andere französische Autoren und Kritiker der ersten Jahrhunderthälfte verehrten sie als Lichtgestalt der französischen Revolution,50 und dies insbesondere wegen ihrer Memoiren, deren stilistische Qualität es mit Rousseaus Confessions aufnehmen kann. In einem betuchten bürgerlichen Haushalt als Tochter eines Diamanthändlers aufgewachsen, kann sie früh sehr selbstständig ihre breite Erziehung durch eine weitgreifende Lektüreerfahrung der literarischen und philosophischen Tradition vervollständigen – bis hin zu ‚gefährlichen‘ Aufklärern wie Voltaire, den sie früh entdeckt und verehrt. In ihrem rückblickenden Lebensbericht betont Marie-Jeanne Roland allerdings immer wieder, dass sie von ihren Eltern durchaus auch zu bürgerlichen Tugenden erzogen worden sei. Sie führt gewissermaßen ein gesellschaftliches Doppelleben: Einerseits besorgt ihre Mutter erlesene Stoffe für luxuriöse Kleider, die ihr am Wochenende den Zutritt zur besten Gesellschaft sichern. Andererseits besitzt sie für die Woche auch ein schlichtes Alltagsgewand, in dem sie ihre Mutter zum Einkaufen auf dem Markt begleitet. Parallel zum Studium von Grammatiken, Partituren, Philosophen und Literaten lernt sie Haus-
48 Rousseau: Discours sur l’inégalité entre les hommes, S. 234. 49 Zu Manon Roland und ihren Memoiren vgl. insbesondere Paul de Roux: Introduction. In: Marie-Jeanne Roland: Mémoires de Madame Roland. Hg. von Paul de Roux. Paris 1966, S. 9–30; Gita May: Madame Roland and the Age of Revolution. New York 1970; Gita May: Stendhal and Madame Roland. In: Romanic Review 53 (1962), S. 16–31; Anne Coudreuse: Les Mémoires de Madame Roland: être femme dans la tourmente de l’Histoire. In: Itinéraires 1 (2011), S. 29–43; Damien Zanone: Les mémoires „philosophiques“ de Mme Roland. In: Cahiers de l’association internationale des études françaises 67 (2015), S. 301–310. 50 May: Madame Roland, S. V.
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haltstätigkeiten wie Nähen und Kochen, die ihre spätere Anpassung an das Leben als bürgerliche Hausfrau garantieren sollen – ein Aspekt, mit dem sie zugleich gegenüber den radikalen Revolutionären strategisch ihre Distanz zu aristokratischen Sitten unterstreicht: Ce mélange d’études graves, d’exercices agréables et de soins domestiques ordonnés, assaisonnés par la sagesse de ma mère, m’a rendu propre à tout; il semblait prédire les vicissitudes de ma fortune et m’a aidée à les supporter. Je me suis déplacée nulle part; je saurais faire ma soupe aussi lestement que Philopœmen coupait du bois, mais personne n’imaginerait en me voyant que ce fût un soin dont il convînt de me charger.51
Nachdem sie Rousseau relativ spät zunächst durch die Lektüre seines empfindsamen Romans La Nouvelle Héloïse kennengelernt hat, wird sie zu seiner glühenden Anhängerin. Ihre 1793 während ihrer Inhaftierung in der Bastille entstandenen Memoiren wurden deshalb auch oft als Nachahmung der Confessions Rousseaus gesehen, die sie natürlich kannte und gelesen hatte.52 Literarhistoriker haben so manche Parallele zwischen den Texten entdeckt, wie etwa die prägende Lektüre von Plutarch im exakt selben Lebensalter von neun Jahren, wodurch beide nach eigener Aussage zu überzeugten Anhängern der Republik werden. 53 Im Gesamturteil sollte man allerdings wohl eher von einem weiblichen Gegenstück zu den Confessions sprechen, das bewusst einige der Themen aufgreift, diese aber auf die Spezifik einer weiblichen Existenz umlenkt. So verwundert auch nicht, dass wir eine ganz ähnliche Inszenierung von Standesunterschieden durch getrenntes Essen beobachten können wie in Rousseaus Confessions, die allerdings auf andere Art ausgestaltet und kommentiert wird. Aus einer durch die Erfahrungen der Revolution geprägten Sicht formuliert Roland vergleichsweise schärfer als Rousseau und inszeniert jetzt nicht die reale Arroganz aristokratischer Abgrenzung, sondern vielmehr die lächerliche Imitation aristokratischer Sitten durch ehrgeizige, aber ungebildete Hausangestellte. Anders als Rousseau, der mit Rückzug drohte, begegnen ihre Mutter und sie der Einladung der Madame Pénault zum Essen in ihrem „office“ mit einer Zusage. Sie setzen sich tatsächlich mit den Hausangestellten zu Tisch – und wählen damit als bürgerliche Frauen eine defensive Strategie, die im Gegensatz zur Arroganz des verkannten Genies Rousseau steht. Nicht nur haben die Hausangestellten sich mit den abgelegten Kleidern ihrer Herrschaft aufgeputzt, auch ihre Unterhaltung wirkt als schlechte Mimikry aristokratischer Salonkonversation: 51 Roland: Mémoires, S. 216. 52 Vgl. hierzu genauer die Studie von Gita May: De Jean-Jacques Rousseau à Madame Roland. Essai sur la sensibilité préromantique et révolutionnaire. Genève 1964. 53 Rousseau: Confessions, S. 9; Roland: Mémoires, S. 212, 302.
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Ce fut un spectacle nouveau pour moi que celui de ces déités du second ordre : je ne me doutais pas de ce qu’étaient des femmes de chambre jouant la grandeur […]. La conversation fut toute remplie de marquis, de comtes et de financiers, dont les titres, la fortune, les alliances paraissaient être la grandeur, la richesse et l’affaire de ceux qui s’en entretenaient. Les superfluités de la première table refluaient sur cette seconde […]. J’aperçus un nouveau monde, dans lequel je trouvais la répétition des préjugés, des vices et des sottises d’un monde qui ne valait guère mieux pour paraître d’avantage.54
Die Oberflächlichkeit der aristokratischen Gesellschaft wird im Verhalten ihrer Bediensteten direkt imitiert, der Habitus unbewusst karikiert und eigenständiges Denken und Handeln lassen sich nicht entdecken. Die Inszenierung der Distinktion unterstreicht indirekt letztlich deren rein performative Qualität. Mehrfach in ihren Memoiren stellt Roland dieser Welt des Scheins und der ererbten Privilegien eine Kultur des Verdienstes und der persönlichen Bildung entgegen, die eigentlich über den gesellschaftlichen Status der Person entscheiden sollte, hier ganz in Einklang mit Jamerey-Duval und Rousseau. Ein zentraler Moment der ambivalenten Standeszugehörigkeit der gebildeten Bürgerin, bei dem zugleich ihr Geschlecht einen ganz entscheidenden Unterschied macht, zeigt sich bei der Suche nach einem passenden Ehemann, die früh von den Eltern initiiert, aber auch immer wieder durch von außen kommende Anfragen befeuert wird. Eine sich über mehrere Seiten hinziehende Aufzählung der vor dem Vater defilierenden Prätendenten leitet Roland mit der Metapher der „levée en masse“ ein und spricht weiter unten mit ironischem Unterton von einem Geschäft, das abgeschlossen werden solle.55 Wie kann eine so außerordentlich belesene, in der antiken Philosophie wie in der französischen und englischen Literatur und Kunst bewanderte, musikalisch begabte und gebildete Frau sich mit den für ihren Stand üblichen Heiratskandidaten zufriedengeben? Dem reichen Metzger mit mehreren gut laufenden Geschäften, dem aufstrebenden Juwelier mit weitreichenden Beziehungen, dem in der Provinz praktizierenden Mediziner mit ersten Behandlungserfolgen, dem angesehenen Anwalt mit gutgehender Kanzlei und vielen mehr… Allen gemeinsam sind ein stattlicher Besitz und eine gesellschaftlich respektierte, abgesicherte bürgerliche Existenz, die ein angesehenes Leben in Reichtum und Luxus versprechen. Allen mangelt es aber an geistiger Bildung, Empfindsamkeit und intellektuellem Niveau für eine Kommunikation auf Augenhöhe mit der kultivierten jungen Frau. Der ironisch-satirische Duktus der Wiedergabe dieses jahrelangen Kampfes bleibt letztlich gefangen in einer ambivalenten Haltung der Schreiberin zwischen utilitaristischen Überlegungen und der nicht realisierbaren Utopie einer Liebesheirat mit einem ihr intellektuell gewachsenen Partner. Auf der Suche nach einem echten 54 Roland: Mémoires, S. 275. 55 Ebd., S. 287, 289.
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Seelenverwandten hätte sie aus den doppelt beschränkten Rollenvorgaben ihres Standes und Geschlechts ausbrechen müssen, und diesen Schritt ist sie nicht bereit zu gehen. Diese Ambiguität zwischen geistiger und politischer Ambition für die res publica und weiblich-bürgerlicher Selbstbeschränkung auf die Sphäre des Privaten kristallisiert sich in einer Passage, in der Roland programmatisch Rousseau Plutarch gegenüberstellt: Plutarque m’avait disposée pour devenir républicaine: il avait éveillé cette force et cette fierté qui en font le caractère; il m’avait inspiré le véritable enthousiasme des vertus publiques et de la liberté. Rousseau me montra le bonheur domestique auquel je pouvais prétendre, et les ineffables délices que j’étais capable de goûter.56
Sie bestätigt damit die Diagnose von Lieselotte Steinbrügge über den entscheidenden Einfluss der Schriften Rousseaus auf den Ausschluss der Frau aus dem öffentlichen Leben im zu Ende gehenden Ancien Régime. Rousseau schreibt der Frau die Qualität des eigentlich „moralischen“ Geschlechtes zu, da sie dem Naturzustand des Menschen vermeintlich näher ist; sie sollte sich deshalb auf den Einflussbereich der Familie beschränken, damit ihre Gefühle vor einer gesellschaftlichen Depravierung geschützt bleiben.57 An anderer Stelle weist Roland konsequent jeden Ehrgeiz weit von sich, jemals Schriftstellerin zu werden: Jamais je n’eus la plus légère tentation de devenir auteur un jour; je vis de très bonne heure qu’une femme qui gagnait ce titre perdait beaucoup plus qu’elle n’avait acquis. Les hommes ne l’aiment point et son sexe la critique ; si ses ouvrages sont mauvais, on se moque d’elle, et l’on fait bien; s’ils sont bons, on les lui ôte. Si l’on est forcé de reconnaître qu’elle en a produit la meilleure partie, on épluche tellement son caractère, ses mœurs, sa conduite et ses talents que l’on balance la réputation de son esprit par l’éclat que l’on donne à ses défauts. 58
Hier stößt die gebildete Bürgerin an die vorgegebenen Grenzen weiblicher Ambition in der durch meritokratische und politische Distinktion getriebenen Revolutionsgesellschaft: Das Primat des persönlichen Verdienstes gilt für Frauen nur im Bereich des Privaten und mit Bezug auf spezifisch weibliche Tugenden. Der Schritt in die Öffentlichkeit bleibt ein zu großes Wagnis, das ihre moralische Integrität in Frage stellt, wie es über 20 Jahre später noch die Autorin Stéphanie Félicité de Genlis in ihrer Erzählung La femme auteur mit ganz ähnlichen Worten auf den Punkt bringt: 56 Roland: Mémoires, S. 302. 57 Lieselotte Steinbrügge: Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung. Stuttgart 21992, S. 79. 58 Roland: Mémoires, S. 304.
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Si vous deveniez auteur […] vous perdriez la bienveillance des femmes, l’appui des hommes, vous sortirez de votre classe sans être admise dans la leur. Ils n’adopteront jamais une femme auteur à mérite égal […]. Ils ne nous permettront jamais de les égaler, ni dans leurs sciences, ni dans la littérature […].59
Diese öffentliche Zurückhaltung schließt nicht aus, dass Manon Roland sich immer wieder als Ghostwriter für ihren Mann Jean-Marie Roland de la Platière betätigt;60 dass er vor allem durch ihr Wirken im Hintergrund eine steile politische Karriere macht, scheint den Zeitgenossen nicht entgangen zu sein. 61 Der Inspektor für das Manufakturwesen bekleidet in der Revolution wichtige Funktionen als Vertreter der Gironde in der Nationalversammlung und zieht seine Frau so mit ins Verderben. Dass in der Revolution das Bürgertum an die Macht kommt, betrifft bekanntermaßen nur sehr bedingt dessen weiblichen Teil. Die Hinrichtung einiger engagierter Frauen, zu denen 1793 auch Manon Roland gehört, setzt für längere Zeit einen Schlusspunkt hinter die Forderung nach weiblichen Freiheiten, die ab der Mitte der 1790er Jahre stärker beschnitten werden als noch vor der Revolution.62 *** Diese Ausführungen verstehen sich als erster Versuch, Kategorien der Diversität für die analytische Durchdringung autobiographischer Texte zu nutzen und zugleich die Eignung der Gattung der Autobiographie für historische Untersuchungen von Diversität zu erkunden. Die Beobachtungen verweisen auf die programmatische Thematisierung und Problematisierung gesellschaftlicher Humandifferenzierungen in dieser Zeit, die charakteristisch für das Programm und die Entwicklung der Aufklärung ist. Das Narrativ des persönlichen Verdienstes wird in diesen Texten gesellschaftlichen Standesprivilegien gegenübergestellt, auch wenn diese weiterhin allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Religiöse Differenz wird als überwindbar inszeniert, während 59 Stéphanie Félicité de Genlis: La femme auteur. Paris 2007 [1825], S. 27–28. 60 Sie schreibt für ihren Mann insbesondere Berichte über Manufakturen, die Teil seiner administrativen Aufgaben sind, und arbeitet aktiv mit an dem von ihm herausgegebenen Dictionnaire des Manufactures, vgl. Gita May: Madame Roland and the Age of Revolution, S. 102ff. 61 ˮEveryone knew, and Brissot, Buzot and Pétion better than anyone, that Roland was a conscientious, dedicated administrator, but that without his wife’s imagination, conviction, boldness, and literary know-how, he could be rated barely higher than a superior clerk”, so die Einschätzung der Biographin von Madame Roland, Gita May, vgl. May: Madame Roland and the Age of Revolution, S. 206. 62 Vgl. Geneviève Fraisse: Muse de la raison. La démocratie exclusive et la différence des sexes. Aix-en-Provence 1989.
Spuren von Diversität in französischen Selbstdokumenten | 99
geschlechtliche Differenzierung sich gerade in der Revolutionszeit in besonderem Maße verfestigt. Dies ist an sich ein wenig überraschender Befund. Was macht aber nun das Potential der Nutzung des Diversitätskonzeptes gegenüber einem traditionellen sozialhistorischen Zugriff aus? Vor allem drei Aspekte scheinen besonders fruchtbar. Die diskutierten Beispiele weisen zunächst ganz allgemein auf die Volatilität und Dynamik der Zuschreibung von Differenz in der realen performativen Praxis der Zeit, die es noch genauer zu erkunden gilt. Jeder performative Akt kann Zuschreibungen bestätigen, aber auch verschieben und überschreiten und besitzt somit ein Moment der Prozesshaftigkeit, das auch Impuls für historische Veränderungen werden kann.63 In der in diesen Texten dokumentierten subjektiven Wahrnehmung zeigt sich zugleich immer wieder das variable Zusammenspiel verschiedener Differenzkategorien. Je nach historischer Konstellation und konkretem Kontext kann eine Differenzkategorie eher im Vordergrund stehen oder in den Hintergrund treten, durch die Interferenz mit anderen Differenzierungen verstärkt, abgeschwächt oder auch ausgeblendet werden64 – diesen Schwankungen der sozialen Praxis gilt es durch vertiefte Studien auf den Grund zu gehen. Und schließlich werden unterschiedliche Modi der literarischen Stilisierung genützt, um Differenzzuschreibungen kritisch zu beleuchten; sie verweisen ihrerseits auf ältere oder auch neu ausgebildete literarische Konventionen der Inszenierung von Diversität, die als Muster für die eigene Biographie genutzt werden. Autobiographische Texte gewinnen so eine Scharnierfunktion für die Betrachtung der Verflechtung literarischer Diskurse und sozialer Traditionen der Differenzierung. Aus historischer wie literarhistorischer Perspektive stellt sich letztlich allgemeiner die Frage nach der besonderen Schwellenfunktion des 18. Jahrhunderts und der europäischen Aufklärung für die historische Ausdifferenzierung und Dynamisierung von Diversität, die mit Bezug nicht nur auf die politischen Umbrüche, sondern auch auf die philosophische und naturwissenschaftliche Theorieentwicklung genauer zu diskutieren wäre.
63 Vgl. hierzu Hirschauer: Un/doing Differences, S. 181. 64 Hirschauer spricht von einem „Stand by Modus“, vgl. Hirschauer: Un/doing Differences, S. 183 und fordert auf S. 184: „Es braucht eine dynamischere Vorstellung vom Anschieben, Abreißen und Pausieren von Differenzierungen.“
Konstruktionen und Kategorisierungen
Medizinische Konstruktionen von Diversität am Beispiel der Lepra im 16. Jahrhundert Fritz Dross
DIVERSITÄT – MEDIZIN – GESCHICHTE Menschen sind einander ähnlich. Es fällt uns nicht schwer, Menschen von Steinen, von Pflanzen, oder von Tieren zu unterscheiden – aber bereits diese an die antike Naturkunde und ihre drei Reiche der Natur angelehnte Unterscheidung macht auch deutlich, dass die Differenzen und Differenzierungen eher kontinuierlich als abrupt verlaufen: „Doch wie man sie beschreiben muss, / Da irrt fast jeder Physikus“.1 Als aktuelleres Beispiel kann ebenso gut die Frage nach dem Übergang von pflanzlichen zu tierischen Lebensformen in der Mikrobiologie gelten, wie die Frage nach unserer Verwandtschaft mit dem ‚europäischen‘ Neandertaler und dem ‚afrikanischen‘ Homo sapiens sowie den entsprechenden Verwandtschaftsgraden zu verschiedenen Arten von Menschenaffen. Gleichwohl: abgesehen von sehr, sehr wenigen Spezialfällen, wie dem „Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, 2 gelingt die
1
Gotthold Ephraim Lessing: Die drei Reiche der Natur (1747): „Drei Reiche sinds, die in der Welt / Uns die Natur vor Augen stellt. / Die Anzahl bleibt in allen Zeiten / Bei den Gelehrten ohne Streiten. / Doch wie man sie beschreiben muß, / Da irrt fast jeder Physikus […].“ Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1743–1750. Hg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M. 1989 (Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe, Bd. 1), S. 100. Vgl. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 4. akt. u. erw. Aufl. Stuttgart 2016, S. 98 (Lit. S. 106); dies.: Rangstreit zwischen Naturwissenschaft und Dichtung? Lessings „Querelle“-Gedicht aus Mylius‘ physikalischer Wochenschrift „Der Naturforscher“. In: Zeitschrift für Germanistik NF 19 (2009), S. 77–89, S. 79 und Fn. 5.
2
Oliver W. Sacks: The Man who Mistook his Wife for a Hat and other Clinical Tales. New York 1985; in deutscher Übersetzung zuletzt: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek 322010.
104 | Fritz Dross
Identifikation von Menschen alltäglich, intuitiv und zuverlässig. Menschen erkennen einander als Ähnliche. Dass Menschen einander ähnlich sind, heißt aber eben auch, dass sie einander nicht gleichen. „Diversität“ 3 bedeutet für mich daher zuallererst, dass Menschen einander ähneln, indem sie sich voneinander unterscheiden (wenn auch weniger als von Steinen, Pflanzen und Tieren); das Vermitteln und Verhandeln des einander Ähnelns durch Unterscheiden ist Teil der conditio humana und liegt allen Vergesellschaftungen als sozialer Prozess zu Grunde. Vor einer Wertschätzung von Vielfalt steht die kulturell vermittelte Fähigkeit zu unterscheiden (latinisiert: „diskriminieren“), die unterschiedenen Teile zu bewerten und diesen Bewertungen weitergehende Konsequenzen folgen zu lassen.4 Diversität wurde und wird stets durch Unterscheidung, durch das Zur-Kenntnis-Nehmen von Differenzen konstituiert; ohne Diskriminierung keine Vielfalt. In historisch-anthropologischer Hinsicht sollte es also weniger darum gehen, ob und wer, sondern wie in bestimmten kulturellen Kontexten diskriminiert wird; auf welchen Wegen werden welche Differenzen wahrgenommen, hergestellt, verhandelt, legitimiert und delegitimiert, in und außer Wert gesetzt? Bereits ein erster und überschlägiger Blick auf diverse „diversity“-Debatten der letzten Jahrzehnte macht überdies deutlich,5 dass unter den verhandelten Differenzen von Menschen solche eine besondere Rolle spielen, die sich auf körperliche Unterschiede berufen. Ich nenne beispielhaft ‚Geschlecht‘, ‚Rasse‘ und ‚Behinderung‘. Dabei wird nicht selten unterstellt, es handele sich um die Feststellung humanbiologisch-medizinisch verifizierter Sachtatbestände. Wenn die in diesem Sinne Diversität darstellenden Diskurse und Praktiken in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive historisch untersucht werden sollen, bietet es sich mithin an, die durch die Medizin lancierten Differenzierungsangebote zu analysieren. 3
Selbst die im engeren Sinne wissenschaftliche Literatur ist inzwischen kaum mehr überschaubar; zuletzt in deutscher Sprache aus der Perspektive der Naturphilosophie: Wünschenswerte Vielheit. Diversität als Kategorie, Befund und Norm. Hg. von Thomas Kirchhoff, Kristian Köchy. Freiburg 2016; aus der Perspektive der Soziologie: Monika Salzbrunn: Vielfalt/ Diversität. Bielefeld 2014; aus der Perspektive von Wissenschaftstheorie und -geschichte: Diversität. Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Hg. von André L. Blum, Nina Zschocke, Vincent Barras und Hans-Jörg Rheinberger. Würzburg 2016, dort bereits einleitend (S. 10): „Im Verlauf des Projekts haben wir mehrfach versucht, den Begriff der Diversität zu definieren. Je mehr Elemente wir dabei in Betracht zogen, desto deutlicher wurde es, dass es zwar möglich ist, die Diversität der Diversitäten zu umschreiben, dass aber eine verbindliche Definition nicht gegeben werden kann.“
4
Etwa im Sinne von Stefan Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43/3 (2014), S. 170–191.
5
Im systematisierenden Überblick vgl. André L. Blum: Einführung. Gesellschaftliche Diversität. In: Diversität. Hg. Blum u.a. 2016, S. 125–154.
Medizinische Konstruktionen von Diversität | 105
Dies bedeutet gerade nicht, die soziale und kulturelle Konstruktion von Kategorien wie ‚Geschlecht‘ oder ‚Rasse‘ zu negieren. Im Gegenteil bedeutet es eine Erweiterung der kulturalistischen Perspektive, diese wissenschaftlichen Debatten auch in den Naturwissenschaften (und ihren Vorgängern) nicht auszuklammern, sondern ausdrücklich miteinzubeziehen. Es ist also meines Erachtens geboten, die medizinische Debatte zu analysieren, wenn es um Körperdiskurse und -praktiken und die darin angebotenen Differenzkategorien geht. Historisch stellt sich das Problem in einem diachronen sowie einem synchronen Aspekt dar: Zum einen müssen wir über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg (bei aller Ungleichheit) von einer weitreichenden Ähnlichkeit ausgehen, um vergangenes Handeln als menschliches Handeln identifizieren und untersuchen zu können. Zugleich besteht das historische Erkenntnisziel darin, die (historische) Spezifität der Differenzkategorien und der differenzierenden Praktiken einer historischen Formation zu erkennen, wobei diese den uns gegenwärtig vertrauten Kategorien, Diskursen und Praktiken ungleich werden. Zentrale Differenzkategorie der Medizin ist und war die Unterscheidung zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘. Da es nicht möglich ist, ‚Gesundheit‘ wissenschaftstheoretisch anspruchsvoll widerspruchsfrei zu definieren, wird der medizintheoretische Diskurs von der Debatte über Krankheitskonzepte und Krankheiten geprägt.6 Medizin ist daher ein gleichsam negativer Normalisierungsdiskurs – treffendes neueres Beispiel dafür ist der Wandel der Debatte über Mangelernährung und Untergewicht bei Kindern und Jugendlichen bis in die späte Mitte des 20. Jahrhunderts zur anschließenden über Magersucht und Bulimie und schließlich der rezenten über das Übergewicht und Adipositas.7 ‚Krank‘ war und ist stets die als gegenwärtig besonders herausfordernd identifizierte Abweichung von einer für ein möglichst reibungsloses gesellschaftliches Funktionieren als notwendig erachteten Körperlichkeit – insbesondere dann, wenn sich Möglichkeiten abzeichnen, diesen Zustand durch medizinische Behandlung zu bessern. Neben die soziale und kulturelle Konstruktion humanbiologischer Konstituenten wie ‚Geschlecht‘ und ‚Rasse‘ tritt diejenige pathologischer Spezies als Krankheiten; neben die humanbiologische Diversifizierung der Menschen tritt in der Medizin eine zweite, die Krankheit. 8
6
Wissenschaftstheoretische Aspekte des Krankheitsbegriffs. Hg. von Peter Hucklenbroich. Münster 2013.
7
Vgl. Eberhard Wolff: Kulturelle und gesellschaftliche Zwänge des Gesundseins – am Beispiel des neueren Übergewichtsdiskurses. In: Gesundheitszwänge. Hg. von Hans-Wolfgang Hoefert und Christoph Klotter. Lengerich 2013, S. 54–74.
8
Vgl. David Rosner: Trying Times. The Courts, the Historian, and the Contentious Struggle to Define Disease. In: Bulletin of the History of Medicine 91 (2017), Nr. 3, S. 473–493.
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(Nicht nur) Ärztinnen und Ärzte stehen, wie André Blum betont, mithin gleich „zwei Diversitäten gegenüber: jener der Menschen und jener ihrer Krankheiten.“ 9 Sie sehen einander ähnliche Menschen, die bereits als ‚Gesunde’ einander ungleich sind, die Beschreibung dieser Ungleichheiten wie etwa Hautfarbe, Körpergröße und -gewicht etc., obliegt bereits der Medizin. In der besonderen ärztlichen Situation handelt es sich aber üblicher Weise um Erkrankte, deren ‚Krankheit’ vor jeder Behandlung zu bestimmen, mithin zu diversifizieren ist. Ähnliche Körperzeichen (bspw. Hautfarbe) können in einem Fall die konstitutionelle Ungleichheit Gesunder, in einem anderen Fall eine krankhafte Abweichung bezeichnen; sie können mithin bei unterschiedlichen Personen unterschiedliche Bedeutungen im Sinne von ‚gesund’ oder ‚krank’ annehmen. Die Feststellung einer Krankheit hat sodann weitreichende soziale Folgen, indem Handlungsräume beschränkt werden, aber gleichzeitig in den meisten Kulturen auch die Erwartung auf spezielle Hilfen damit verknüpft sind. Als historisches Modell für die Diversität der Kranken und Gesunden möchte ich den Aussatz (die Lepra) im 16. Jahrhundert heranziehen. Kaum eine Erkrankung hat im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit derart weitreichende soziale Konsequenzen gehabt, wie sie sich aus der im Alten Testament (Lev 13,46) überlieferten Trennungsvorschrift für Leprose ergeben: omni tempore quo leprosus est et inmundus solus habitabit extra castra, bei Luther übersetzt als: „Vnd so lange das mal an jm ist / sol er vnrein sein / alleine wonen / vnd seine Wonung sol ausser dem Lager sein.“ 10 Die erste Frage („Übersetzungsfragen“) geht somit an die Interdependenz medizinischer und biblischer Konzepte des Aussatzes; die Frage nach den im medizinischen LepraBegriff transportierten Vorstellungen von religiös-ritueller Unreinheit und deren Einfangen in pathologische Konzepte der frühneuzeitlichen Medizin. Während der Ursprung der Differenzkategorie ‚lepra‘ auf alttestamentarisch-hebräische Konzepte der Unreinheit zurückgeht, ist der hier entscheidende Punkt deren Übersetzung in eine medizinische Konstruktion von Diversität durch die Überführung eines religiös-rituellen Begriffs in ein Krankheitskonzept. Sodann und zweitens („Schaupraktiken“) ist nach der gutachtenden ärztlichen Praktik in der Lepraschau zu fragen. Bemerkenswert genug ist die Ausrichtung der im engeren Sinne medizinischen Fachliteratur des 16. Jahrhunderts auf das zuverlässige Feststellen der ‚lepra‘, während andere Aspekte wie die Ätiologie und insbesondere die Therapie deutlich in den
9
„Ich stehe als Arzt zwei Diversitäten gegenüber: jener der Menschen und jener ihrer Krankheiten.“ André L. Blum: Menschliche Diversität aus der Sicht eines Arztes. In: Diversität. Hg. Andre L. Blum u.a. 2016, S. 181–202, S. 181.
10 Martin Luther: Biblia. Das ist: Die gantze Heilige Schrifft/ Deudsch/ Auffs new zugericht. Wittenberg 1545.
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Hintergrund treten.11 Schließlich und drittens („Aus-Setzen und Einschließen?“) ist nach Fragen von Trennung und gemeinsamen Leben von Leprosen und nicht-Leprosen zu schauen.
ÜBERSETZUNGSFRAGEN Zur Debatte steht also erst einmal das Krankheitskonzept ‚lepra‘ und seine Formation. Es kann dabei nicht um eine zeitlose ‚Krankheit‘ gehen, die in der heutigen Medizin vielleicht anders erklärt würde, aber im Kern eine vergleichbare Fehlfunktion des davon betroffenen Menschen bezeichnete. Alles Folgende geht im Gegenteil grundsätzlich davon aus, dass wir nicht wissen, und nicht einmal wissen können, was die Menschen, von denen im Folgenden die Rede sein wird, im Sinne und in den Begriffen der modernen Medizin ‚gehabt‘ haben. Es gibt keine nach Maßstäben der heutigen Medizin halbwegs sinnvolle Übersetzung des bzw. der lepra-Konzepte der Vormoderne.12 Ich gehe also erst einmal davon aus, dass die aktuelle Verwendung des Wortes ‚lepra‘ gleichsam eine (wohlmeinende) Täuschung der aktuellen medizinischen Terminologie impliziert. Sie ist dies allerdings nicht zum ersten Mal in der Begriffs- und Konzeptgeschichte der ‚lepra‘. Die ‚lepra‘ der antiken Medizin und der Tora ‚lepra‘ ist ein altgriechischer Fachterminus der antiken prä-galenischen Medizin und bezeichnete eine völlig undramatische, wenig auffällige und schmerzlose, weißlichschuppige Veränderung der Haut.13 Besonders viele Belegstellen gibt es nicht, weil
11 Renate Wittern: Die Lepra aus der Sicht des Arztes am Beginn der Neuzeit. In: Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel, Bd. 1 [Ausstellung im Dt. Museum München, 5. November 1982 – 9. Januar 1983]. Hg. von Christa Habrich. Ingolstadt 1982, S. 41–50. 12 Zum Problem der retrospektiven Diagnostik vgl. Jon Arrizabalaga: Problematizing Retrospective Diagnosis in the History of Disease. In: Asclepio 54/1 (2002), S. 51–70; KarlHeinz Leven: Krankheiten. Historische Deutung versus retrospektive Diagnose. In: Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Hg. von Norbert W. Paul und Thomas Schlich. Frankfurt a.M. 1998, S. 153–185. 13 Karl-Heinz Leven: Lepra. In: Antike Medizin. Ein Lexikon. Hg. von Karl-Heinz Leven. München 2005, S. 565–567. Vgl. Anna Maria Ieraci Bio: Elephantiasis und Leontiasis. In: Antike Medizin. Hg. von Karl-Heinz Leven, S. 249, S. 565; Fridolf Kudlien: Lepra in der Antike. In: Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. Bd. 2: Aufsätze. Hg. von Jörn Henning Wolf. Würzburg 1986, S. 39–43.
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die ‚lepra‘ der griechischen Antike zwar mit Schulung und einiger Mühe erkennbar war, aber keinerlei Gefahr darstellte und auch kein spezifisches Eingreifen erforderte. Dieses Konzept ist daher in der medizinischen Tradition nach und wohl seit Galen verwaist und spielt seitdem keine Rolle mehr. Seinen prominentesten und bis heute unermesslich wirkmächtigen Auftritt hatte dieses Lepra-Konzept, als jüdische Gelehrte im dritten vorchristlichen Jahrhundert bei dem Versuch, ihre Offenbarungsschriften aus dem Hebräischen in das Griechische zu übertragen, nach einer Übersetzung für den hebräischen Terminus ‚zaraath‘ suchten, der in den Reinheitsgeboten des 3. Buchs Mose, Leviticus, eine wichtige Rolle spielt.14 ‚zaraath‘ – und seit der Septuaginta im Griechischen dann eben ‚lepra‘ – bezeichnet eine etwas verborgene und nur durch Priester zuverlässig identifizierbare Unreinheit, die Menschen und Tiere, aber auch Häuser und Kleidung anhaften bzw. innewohnen kann. Diese Unreinheit stellt eine Gefahr für die rituelle Gemeinschaft dar und ist insbesondere in gottesdienstlichen Verrichtungen keinesfalls zu dulden. Sie ist überdies übertragbar, und daher für die Dauer ihrer Manifestation aus dem Gemeinschaftsleben zu verbannen – deren spätere (medizinische) Interpretation als ‚Infektion‘ lag damit nahe.15 In diesem hier nur holzschnittartig grob skizzierten Sinne fand die ‚lepra‘ den Weg in die griechische Tora der Septuaginta und anschließend unverändert in das Alte Testament der Christen. Die ‚lepra‘ im Neuen Testament Bereits variiert fand diese ‚lepra‘ den Weg in das Neue Testament: von Körperzeichen, anhand derer der Priester die Unreinheit erkennen möge, ist nun gar nicht mehr die Rede. Es geht ausschließlich um Menschen, die in der Folge einer erkannten Unreinheit verbannt wurden und als gleichsam Ärmste der Armen die besondere Zuwendung des Messias verdienen. Schaut man etwas genauer in die Texte, findet sich auch schnell, dass nirgendwo die Rede von Heilung (der ‚lepra‘) ist; Christus ‚reinigt‘
14 Julius Preuss: Biblisch-talmudische Medizin. Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und der Kultur überhaupt. Berlin 1911, S. 369-390 („Die çarâ'ath-Krankheit“); Otto Betz: Der Aussatz in der Bibel. In: Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel. Bd. 2: Aufsätze. Hg. von Jörn Henning Wolf. Würzburg 1986, S. 45–62. 15 Vgl. Mary Douglas: Witchcraft and Leprosy. Two Strategies for Rejection. In: Risk and Blame. Essays in Cultural Theory. Hg. von Mary Douglas. London 1996, S. 83–101, S. 83: „Infection and causing occult harm are both hidden from observation; a carrier can transmit disease to others without showing any signs of infection; a witch looks like anyone else. From their hiddenness both forms of harm afford the same kind of opportunity for accusations and exclusions.“
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die Aussätzigen und fordert sie auf, zum Priester zu gehen, damit dieser deren Reinheit verifiziert und sie wieder in die Gemeinschaft aufnimmt.16 Für die sich als christlich verstehenden Gemeinschaften der Vormoderne ergab sich daraus zweierlei: 1) der Kontakt mit den ‚unreinen‘ Leprosen ist zu vermeiden; 2) die ‚unreinen‘ Leprosen sind nicht schlichtweg zu verbannen, sondern, da die besondere Gnade Christi bei ihnen ist, zu versorgen. Dies geschah seit dem Hochmittelalter durch die Ausbildung von Expertengremien und expertisen Verfahren zur zuverlässigen Feststellung der ‚lepra‘ sowie durch deren Versorgung in Spezialhospitälern, Leprosorien, außerhalb der Städte und Dörfer, aber üblicherweise durchaus in Sichtweite und an besonders belebten Verkehrswegen. 17 Nachgalenische lepra-Konzepte Damit war die ‚lepra‘ zwar Teil der christlichen Offenbarung, im klassischen Sinne allerdings für die spätantik-mittelalterliche Medizin wertlos. In einem längeren, und medizinhistorisch-philologisch übrigens noch nicht präzise dargestellten Wandlungsprozess wurde aus ‚lepra‘ ein Überbegriff, unter dem sich recht verschiedene klassische Krankheitskonzepte vereinten, darunter etwa auch die in der Tat dramatische und zwingend tödlich verlaufende ‚elephantiasis‘ der galenischen Medizin.18 Vorerst wurde ein vier-Stadien-Konzept favorisiert, nach dem, vereinfacht gesagt, die ‚lepra‘ ganz unauffällig beginne, um schließlich mit grauenhaften Verstümmelungen und tödlich als ‚elephantiasis‘ zu enden. Im Übergang zur Neuzeit veränderte sich dies in ein vier-Spezies-Konzept, demnach die ‚lepra‘ in verschiedenen Fällen als Alopitia, Leonina, Tyria oder aber Elephantia erscheine, deren jede auf die Verunreinigung einer der vier grundlegenden Feuchtigkeiten der psycho-physischen Konstitution nach der Humoralmedizin beruhe.19 Kurz ist noch auf die deutsche Bezeichnung ‚Aussatz‘ als ‚Übersetzung‘ von ‚lepra‘ und damit als Krankheitsbezeichnung einzugehen. Während von den
16 Betz: Aussatz in der Bibel, S. 57–60. 17 Vgl. unter neueren Übersichtsarbeiten Carole Rawcliffe: Leprosy in Medieval England. Woodbridge 2006; Luke E. Demaitre: Leprosy in Premodern Medicine. A Malady of the Whole Body. Baltimore 2007; Christian Müller: Lepra in der Schweiz. Zürich 2007; Martin Uhrmacher: Lepra und Leprosorien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Trier 2011. 18 Bio: Elephantiasis, S. 249. 19 Zum Beispiel bei Hans von Gersdorff: Feldbuch der Wundartzney. Strassburg 1517, fol. 73v–74r: „Von den vier speciebus oder gestalten der Lepre oder maltzey“.
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betroffenen Menschen als ‚Aussätzigen‘ schon seit dem Mittelalter die Rede ist,20 setzte sich die sprachhistorisch einigermaßen seltsam gebildete Krankheitsbezeichnung ‚Aussatz‘ erst mit und wohl vor allem durch die Bibelübertragung Martin Luthers durch: „wenn einem menschen an der haut seines fleisches etwas aufferet, oder schebicht oder eiterweisz, als wolt ein aussatz werden“ (Lev. 13,2). Ausgerechnet an der entscheidenden Stelle Lev. 13, 46 wird bei Luther aus dem omni tempore quo leprosus est et inmundus im Deutschen: „Vnd so lange das mal an jm ist / sol er vnrein sein.“ Luther verzichtet also bewusst auf eine spezifische Krankheit als Ursache des Aussetzens, sondern verweist auf ein ‚Mal‘, ein Hautzeichen, das der Interpretation bedarf. Selbst beschränkt auf die Leviticus-Stellen im Alten Testament ergibt sich eine erhebliche Uneinheitlichkeit des Luther’schen Aussatz-Begriffs. Zur Stelle Lev. 13,4, an der unsichere Aussatz-Zeichen verhandelt werden, bemerkt der Reformator: „Hie ists offenbar / das Moses Aussatz heisst allerley grind vnd blatern oder mal / da Aussatz aus werden kan / oder dem Aussatz gleich ist.“ Unterschieden werden hier die offenbar als spezifischere Krankheitseinheiten aufgefassten ‚Grind‘ und ‚Blattern‘, aus denen sich ‚Aussatz‘ entwickeln könne, und die – verständlich nur, wenn ‚Aussatz‘ als übergeordnete Krankheitsgröße spezifischere Einteilungen erlaubt – dem Aussatz schließlich wieder gleich sein könnten. Abseits des Zusammenhangs zwischen dem ‚Aussatz‘ und den Aussätzigen im Sinne der ausgesetzten Leprosen bemerkt Luther schließlich zu Lev. 13,11 („Wenn aber der Aussatz blühet in der haut“): „Dieser Aussatz heisset rein / Denn es ist ein gesunder Leib der sich also selbs reiniget / als mit bocken / masern / vnd kretze geschicht / da durch den gantzen Leib / das böse her aus schlegt /“. Ausgesetzt wird hier unreine Materie aus dem Körperinneren an das Körperäußere – was in der Tat eine grundlegende Denkfigur der Humoralpathologie darstellt, die sich in therapeutischen Maßnahmen von der Gabe von Abführ- und Brechmitteln bis zum Aderlass wiederfindet. In diesem Sinne deutete Adelung die Bezeichnung und kehrte damit die sonst angenommene Etymologie geradezu um: „Der Nahme Aussatz, in der ersten Bedeutung, beziehet sich nicht so wohl auf die Aussetzung oder Absonderung der mit dem Aussatze behafteten von aller menschlichen Gemeinschaft, als vielmehr auf den Ausschlag, der sich dabey auf die Haut setzet.“21
20 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961 (Quellenverzeichnis Leipzig 1971), Lemma „Aussatz“ zit. n. www.woerterbuchnetz.de/DWB?bookref=1,943,33 [07.06.2017]. 21 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793–1801, Lemma „Aussatz“, zit. n. http://www.woerterbuchnetz.de/Adelung?bookref=1,630,6 [06.06.2017].
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Selbst beschränkt auf die kurze, hier einschlägige Passage in Leviticus 13 lassen sich also mindestens drei Aussatzkonzepte in der Lutherbibel feststellen: 1) Aussatz als spezifische Krankheitsbezeichnung; 2) Aussatz als Oberbegriff für eine Reihe von auf der Haut sichtbaren Erkrankungen (‚Grind‘, ‚Blattern‘, ‚Pocken‘, ‚Masern‘, ‚Krätze‘); 3) Aussatz als Vorgang des Ausscheidens krankhafter bzw. krankmachender Körpermaterie. An der üblicherweise als Anweisung zur Segregation von Leprosen verstandenen Stelle indes kommt das Wort ‚Aussatz‘ überhaupt nicht vor, sondern es wird zurückhaltend auf ein ‚Mal‘ verwiesen. Es kann also keine Rede davon sein, dass mit dem deutschen Aussatzbegriff seit dem 16. Jahrhundert ein außerhalb des medizinischen Fachdiskurses ebenso verständliches wie einheitliches Diversitätskonzept der Leprosen im Deutschen verfügbar war.
SCHAUPRAKTIKEN Wenn es auch kaum möglich war, eine einheitlich klassifizierende Ätiologie der ‚lepra‘ darzulegen, so blieb es doch Aufgabe der Medizin, nachvollziehbare und praktikable Kriterien zu entwickeln, die eine zuverlässige Unterscheidung von Aussätzigen ermöglichten. Der Pforzheimer Stadtarzt Philipp Schopff unterschied in einem 1572 erstmalig publizierten Kompendium den ‚Jüdischen‘, den ‚Griechischen‘ sowie den ihm bekannten ‚heutigen‘ Aussatz, den Schopff als ‚Elephantiasis‘ bezeichnete.22 Zum ‚jüdischen Aussatz‘, wie er im Buch Leviticus dargestellt war, hielt er überdies fest, dass dieser „mehr eyn Geystliche dann weltliche oder natürliche deutung vnd außlegung gehabt“, alle Spekulation darüber wolle er gerne den Theologen und denjenigen überlassen, „welchen wol ist auff hohe vnd seltzame Fragen fleiß zulegen.“23 Medizinische Enzyklopädien bis ins 19. Jahrhundert folgen dieser Aufteilung und ergänzen sie; insbesondere der im Alten Testament dargestellte, nun ‚jüdische‘ Aussatz, sowie der im Corpus Hippocraticum dargestellte, nun ‚griechische‘ Aussatz, konnte so weitestgehend aus der weiteren Betrachtung ausgeschlossen werden.24 Angelpunkt der medizinischen ‚lepra‘-Tradition wurde nun die galenische
22 Philipp Schopff: Kurtzer aber doch außführlicher Bericht von dem Aussatz, auch dessen ursachen, Zeychen und Curation. Straßburg 1572; hier zitiert nach der Ausgabe Philipp Schopff: Kurtzer aber doch außführlicher Bericht von dem Aussatz/ auch dessen vrsachen/ Zeychen/ vnd Curation […]. Straßburg 1582. 23 Schopff: Bericht von dem Aussatz, S. 4. 24 Zuletzt Samuel Gottlieb Vogel: Elephantiasis. In: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Bd. 10 (Dystocia–Encanthis scirrhosa). Berlin 1834, S. 556–588, S. 556f.: „Was die Araber Lepra nennen, heisst bei den Griechen Elephantiasis. Die Lepram der Griechen nennen die Araber Albaram.“
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Elephantiasis, die bei Galen nichts mit der ‚lepra‘ zu tun hatte. Sie wird seit dem 16. Jahrhundert zuweilen auch als ‚lepra arabum‘ bezeichnet. So wie Schopff zwei Dutzend klassischer (und spätklassischer) Autoren nennt, haben sich auch Nürnberger Stadtärzte im späten 16. Jahrhundert geradezu durch die vorliegende Literatur gefressen.25 Durch den Magistrat im Jahr 1572 einzeln zu Stellungnahmen darüber aufgefordert, wie die Unregelmäßigkeiten bei der jährlichen Massenschau im Rahmen des „Sondersiechenalmosens“ zu erklären seien, kamen sie zu dem erschreckenden Urteil, dass „das Examen, welches die Altten Medici in erkhandtnus des Aussatz gebraucht, von unns allerley ursach halben ordentlich nitt khan vollzogen werden“, 26 und vermerkten zurückhaltend, dass „etliche vnser scribenten selber was zwiespeldig“27 in der Sache wären. Gleichwohl wurde die Verbindung zum biblischen Aussatzgebot vorerst nicht gelöst. Stadtarzt Volcher Coiter etwa beklagte, dass die Priester des Alten Testaments ganze zwei Wochen für die Aussatzprüfung einer Person, den Nürnberger Stadtärzten hingegen nur drei Tage gegeben würden, tausende Aussätzige zu beurteilen.28 Die Verbindung von biblischer Tradition mit der ärztlichen Schau im 16. Jahrhundert stellte der Nürnberger Stadtarzt Joachim II. Camerarius (Kammermeister) überzeugend her: Der Aussatz, so argumentierte er, sei eine göttliche Strafe für das sündige Leben, könne aber eben auch auf andere, unschuldige und reine Personen übertragen werden, und erfordere daher die Absonderung der Aussätzigen. Daher sei von gelehrten Ärzten nach gründlicher Prüfung gewissenhaft zu entscheiden, damit nicht ‚Unschuldige‘ aus dem gemeinschaftlichen Leben zwangsweise entfernt würden.29 Tatsächlich aber ging es in der Nürnberger Sondersiechenschau, auf die sich diese Zeilen beziehen, keinesfalls um das Aussetzen, sondern im Gegenteil um das 25 Gründlicher ausgeführt in Fritz Dross: Seuchenpolizei und ärztliche Expertise. Das Nürnberger „Sondersiechenalmosen“ als Beispiel heilkundlichen Gutachtens. In: Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten. Hg. von Carl Christian Wahrmann, Martin Buchsteiner und Antje Strahl. Berlin 2012, S. 283–301. 26 Stadtbibliothek Nürnberg [StadtBib N], Ms. Cent V 42, fol. 140v–142r (Palma). 27 StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 151r–151v (Schenck). 28 „Dann E.E. vnnd H. als hoch verstendige können selbst erachten, dieweil den Herrn Phisicis nitt mehr dann 3 tag zu solcher schau geben, wie es müglich sein khan, das vnter souil tausent personen, alle so eben vnnd recht können besichtigett werden, oder das nitt einiger mangl jhm fall vnter so großer meng sollte zutragen, welches vnns auch deß weniger für vbel zuhaben, weil es Aaronj vnnd seinen söhnen (wie im 13 cap: Leuiticj stehett) welche die sonderliche gab vnnd erkandnus von gott gehabtt, gnugsam zu schaffen gegeben hatt. Dann ob sie schon 14 tag ein rechten Aussatz zu erkhennen gehabtt, So hatt es doch jhnen gefelhett, das welcher sich rein geschauet, nachmals baltt wider für vnrein erkennett worden.“ StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 153v–155v (Coiter). 29 StadtBib N, Ms. Cent V, 42, fol. 132r.
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Einlassen fremder Leproser. Von Kardienstagnachmittag bis Karfreitagmittag wurden im Nürnberger Sondersiechenalmosen vom frühen 15. bis ins späte 16. Jahrhundert fremde Leprose öffentlich rund um die Sebalduskirche leiblich und geistlich versorgt – daran haben im 16. Jahrhundert zwischen 1.500 und 3.500 fremde Leprose teilgenommen.30 Aus dem Aussatzgebot wurde ein Versorgungsprivileg. Die Nürnberger Ärzte hatten also mit „bosheit und betriegligkeit der leut, welche des bettlens und müssigangs gewohnt haben“ zu kämpfen, welche zum Almosen zugelassen werden wollten, und „sich zuvor mit etlichen kreutern und andern bößen stücken so meisterlich künnen zurichten und anschmiren.“31 Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts spielte das Motiv des starken und faulen Bettlers, 32 der sich als vorgetäuschter Aussätziger die Lizenz zum Betteln erschleiche, eine erhebliche Rolle. Neben der ärztlichen Literatur zur Leprosenschau warnen auch zahlreiche Bettel- und Policeyordnungen aus den verschiedensten Teilen des Reiches von „etliche[n] böse[n] Landtiebe[n] / so auß faulheit sich für aussetzige angeben“. 33
30 Mit den Hintergründen erläutert in Fritz Dross: Vom zuverlässigen Urteilen. Ärztliche Autorität, reichsstädtische Ordnung und der Verlust »armer Glieder Christi« in der Nürnberger Sondersiechenschau. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29 (2010), S. 9–46. 31 StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 134r. 32 Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000. 33 Beklagt etwa in einer Leprosenordnung Wilhelms von Cleve, „dat etzliche betlers in unsern landen gaen im schyn off so uthsettich weren und sich doch befindt nith to sein“ (Karl Sudhoff: Die Clever Leprosenordnung vom Jahre 1560. In: Archiv für Geschichte der Medizin 4 (1910/11), S. 386–388), aber auch bei Joachim Struppius [Joachim Struppe]: Nützliche Reformation, zu guter Gesundtheit, und christlicher Ordnung, sampt hierzu dienlichen Erinnerungen, waser Gestalt es an allen Örtten, wie auch allhier, zur Seelen und Leibes Wolfahrt, etc. löblichen und nützlichen zuhalten. Franckfurt am Mayn: impensis Authoris & Typographorum, Ioannis Fabricij & Martini Lechleri 1573., fol. 18r–18v: „Ja daß auch fleissiger vff etliche böse Landtiebe / so auß faulheit sich für aussetzige angeben / gestraffet werden.“ Zahlreiche weitere Belege bei Robert Jütte: Lepra-Simulanten. „De iis qui morbum simulant.“ In: Neue Wege in der Seuchengeschichte. Hg. von Martin Dinges und Thomas Schlich. Stuttgart 1995, S. 25–42. 1595 sollten Aussätzige in Bern und Luzern auch mit Bettlerjagden gesucht werden: Müller: Lepra in der Schweiz, S. 145–147. Seinen fulminanten Höhepunkt fand dies in dem Mordprozess um die „große Siechenbande“ 1712 in Düsseldorf, der zur Schließung sämtlicher Leprosorien in Jülich-Berg führte. Udo Fleck: „Diebe – Räuber – Mörder“. Studie zur kollektiven Delinquenz rheinischer Räuberbanden an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Diss. Phil. Trier 2003, S. 27–29.
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AUS-SETZEN UND EINSCHLIESSEN? Dauerhafte Sicherheit verschaffte vor allem die Versorgung in einem Leprosorium. Dies konnte aus Perspektive der Betroffenen durchaus die Versorgungsoption der Wahl sein.34 Dies ist aber nur ein Teil der Geschichte. Auf der anderen Seite gehört zur Geschichte der Versorgung Leproser auch, dass diese die Leprosorien wieder verließen, wenn sich alternative und attraktivere Versorgungsangebote fanden. 35 Besonders beeindruckend ist die Geschichte der Susanna Kirchberger, Tochter eines Wagenführers und Bürgers der Reichsstadt Nürnberg, aus dem späten 17. Jahrhundert. Sie war noch ledig in das Leprosorium St. Leonhard aufgenommen worden, und heiratete nach eineinhalb Jahren im Leprosorium, um dasselbe sofort anschließend zu verlassen.36 Recht bald danach verstarb ihr – in den Quellen namenloser – erster Ehemann. Der Lazarettschauer Albrecht Ackermann befand die Witwe „mit einer üblen Krätz s.v. behafft“, worauf sie „vermög RathsVerlaßes auß erbarmung“ 1687 in das Leprosorium St. Johannis aufgenommen wurde, wo es ihr nicht besonders gefallen zu haben scheint. Nach einem guten halben Jahr wurde sie „auf Ihr inständiges bitten“ wiederum „schön geschaut“, verließ den Siechkobel und heiratete zuvor noch in der Kapelle des Leprosoriums den Sohn eines Ziegelmachers Hans Ollmann im Aischgrund – also einen Tagesmarsch von Nürnberg entfernt. Auch diese Hausgemeinschaft wurde bald getrennt, als Susanne „wegen ständtigem betelnß in daß Zuchthauß gebracht“ wurde. Nach einem Vierteljahr ließ sie sich dort erneut schauen und wurde mit dem Befund „ErbRäud und böße Krätz“ noch im Mai 1688 nach St. Johannis gebracht. Noch im August dieses Jahres wurde sie dort „widerumb rein geschaut“ und „außgemustert“. Damit verliert sich die Spur der Susanna. Speziell für Frauen war die Heirat der häufigste Anlass, sich ‚schön‘ schauen zu lassen und aus dem Leprosorium auszuscheiden. Interessant an dem gerade geschilderten Fall ist, dass sich etwa im Zuchthaus u.U. die Gelegenheit ergreifen ließ, mittels eines ärztlichen Attestes in ein Leprosorium zu wechseln. Dies spricht dafür, dass
34 Kay Peter Jankrift: Jost Heerde. Das Schicksal eines Lepraverdächtigen in Münster. In: Die Klapper 6 (1998), S. 3–5, nach Ralf Klötzer: Kinderhaus 1648. Das Leprosenhaus der Stadt Münster in Krieg und Frieden [Ausstellung im Lepramuseum Münster-Kinderhaus zum Jubiläum 350 Jahre Westfälischer Frieden, 25. Januar bis 28. Juni 1998], Münster 1998. 35 Dazu Fritz Dross: Aussetzen und Einsperren. Zur Integration und Desintegration von Leprosen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: „Verortungen“ des Krankenhauses. Hg. von Arno Görgen und Thorsten Halling. Stuttgart 2014, S. 175–190; Fritz Dross: Das Versorgungsversprechen der vier Nürnberger Leprosorien in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Virus 16 (2017), S. 13-22. 36 Nach Stadtarchiv Nürnberg [StadtA N] D5, 7 (Insassenverzeichnis St. Johannis der Jahre 1584 bis 1729).
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die Lebensumstände dort als erheblich besser eingeschätzt wurden als im Zuchthaus. Anders herum aber stellt sich die Frage, wie eine Bewohnerin eines Nürnberger Leprosoriums einen Ziegelbrenner aus dem Aischgrund kennen lernen konnte. Waren die Leprosorien doch nicht so abgeschlossen, wie zumindest die ältere Literatur nahe zu legen scheint? Das konnten sie schlechterdings nicht sein.37 Die Aufgabe der Leprosen war es, zu betteln, und damit den Unterhalt der Leprosengemeinschaft sichern zu helfen. An festgelegten Wochentagen gingen sie – zuweilen in ihrem Auftrag ein städtischer Bettelknecht – in die Stadt, wo sie offenbar über zugewiesene Plätze verfügten, auf denen sie, deutlich durch einen Stand mit Fähnchen kenntlich gemacht, ihrem Bettelhandwerk nachgingen. Zum anderen lagen die Leprosorien grundsätzlich an gut befahrenen Verkehrswegen an den Hauptverkehrsachsen, die in die Stadt hineinbzw. hinausführten, etwa 1,5 Kilometer vor der Stadtmauer. 38 Eine Hospitalordnung des Jahres 157139 für alle vier nürnbergischen Leprosorien beargwöhnt in einem Paragraphen, dass die Leprosen auf den vorstädtischen Wegen aufgestapeltes Holz stahlen, um es „heimlicher tuckischer weiß frembden zuuerkauffen“. Die Leprosorien werden damit als Orte vorgestellt, in denen unkontrollierter Handel, wenn nicht Hehlerei, zumindest möglich waren. Dazu aber brauchte es außer den Leprosen auch hinreichend ‚Fremde‘, die zahlungsfähig und -willig waren und den Handel mit Leprosen nicht scheuten. In eine ähnliche Richtung verweist der Paragraph „Vom vberschwencklichen sauffen vnd voltrincken der armen.“40 Bemerkenswert ist die Argumentation mit ökonomischen Überlegungen. Die erbettelten Almosen seien deshalb arg zurückgegangen, weil „die Armen sich oft vnnd vielmals dermassen beweint vnd vollzecht, das sich nit allein die fürwanderten frembden personen, sondern auch das Statvolck zu Roß, wagen vnnd füeß, hart darob entsetzt vnnd befrembd, mit sunderlicher vermeldung, Es seie sund vnnd schand, das man diesen Armen etwas vmb Gottes willen geben soll.“41 Die in dieser recht ungelenken Verbindung von protestantischer Sittenzucht und altkirchlicher Almosenidee aufscheinende Problematik der Fürsorgereform des 16. Jahrhunderts soll an dieser Stelle indes weniger interessieren als das 37 Fritz Dross, Annemarie Kinzelbach: „nit mehr alls sein burger, sonder alls ein frembder“. Fremdheit und Aussatz in frühneuzeitlichen Reichsstädten. In: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 1–23. 38 Martin Uhrmacher: Die Verbreitung von Leproserien und Kriterien zu ihrer Klassifizierung unter räumlichen Aspekten – Das Beispiel der Rheinlande. In: Hôpitaux et maladreries au Moyen Âge: espace et environnement. Hg. von Pascal Montaubin. Amiens, S. 159–178; Uhrmacher: Lepra und Leprosorien. 39 StadtA N A 26 Rep. 100g Nr. 29. 40 Ebd., fol. 5f. 41 StadtA N A 26 Rep. 100g Nr. 29, fol. 5f.
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Bild der Leprosorien als vorstädtische Orte regen Verkehrs von Fremden und Einheimischen verschiedenen Standes. Zu jedem der vier Nürnberger Leprosorien gehörte nicht zuletzt ein Garten, der wiederum geteilt war. Die zitierte Hospitalordnung für die Leprosorien verbietet deren Bewohnerinnen und Bewohnern, den ‚großen Garten’ und dort insbesondere den Brunnen zu benutzen, wodurch nämlich „die andern gesundten leichtlich vervnrainiget vnnd vergift werden mochten“.42 Dies erschließt sich nur, wenn die Gärten und Brunnen der Leprosorien tatsächlich von der Stadtbevölkerung oder reisenden Fremden aufgesucht wurden. 43 Was die Stadtbevölkerung, aber auch reisende ‚Fremde‘ jedenfalls im Garten des Leprosoriums St. Peter gesucht haben könnten, lässt sich aus Zusatzbestimmungen für die Köchin eigens für dieses Haus zumindest ahnen.44 Der Köchin wird dort ausdrücklich gestattet, sonn- und feiertags bis zum Beginn der Predigt Branntwein und Lebkuchen zu verkaufen. Anschließend übernahm der Hausmeister von St. Peter, dem verboten war, Nürnbergerinnen oder Nürnbergern während der Predigt Wein oder Bier auszuschenken. Während die Köchin also vor der Predigt Branntwein und Lebkuchen verkaufte, oblag es dem Hausmeister, Wein und Bier nach der Predigt zu verkaufen, überdies auch während der Predigt „die frembden furwanderten personen“ zu bewirten. Noch im 16. Jahrhunderts aber wurde fast jeder vierte Tag des Jahres als Sonn- oder Feiertag begangen.45
42 Ebd., fol. 8f. 43 Vgl. Fritz Dross: „Ich aber will hinauß spatziern, Da ich frisch, frey und sicher bin …“. Aussatzpraktiken im frühneuzeitlichen Nürnberg. In: Extra muros: Vorstädtische Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Espaces suburbains au bas Moyen Âge et à l'époque moderne. Hg. von Guy Thewes und Martin Uhrmacher. Köln, Wien (2018, im Druck). 44 StadtA N A 26 Rep. 100g Nr. 29, fol. 10f. 45 Wolfgang Schmid: „Am Brunnen vor dem Tore …“ Zur Freizeitgestaltung der Stadtbevölkerung im 15./16. Jahrhundert. In: Die Stadt und ihr Rand. Hg. von Peter Johanek. Köln 2008, S. 19–145.
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FAZIT An Nürnberger Quellen zur Geschichte des Aussatzes vorwiegend aus dem 16. Jahrhundert sollte dieser Beitrag zur Historisierung der Debatte über Diversität zugleich ‚Krankheit‘ als diversifizierende Differenzkategorie erläutern. Ein Krankheitsbegriff liegt jeder Medizin zu Grunde – Medizin setzt voraus, eine Unterscheidung zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘ zu treffen, und beginnt begrifflich dort, wo der einen idealen ‚Gesundheit‘ viele konkretisierte und benennbare ‚Krankheiten‘ entgegengesetzt und schließlich behandelt werden können. Innerhalb der Medizin handelt es sich sodann bei den Krankheiten (abhängig vom jeweiligen System der Deutung von Körper- und Geistesfunktionen) um Eigenschaften der in Unordnung geratenen Feuchtigkeiten, um (Fehl-)Funktionen bestimmter Organe, Zellen oder um eine spezifizierbare (fehlerhafte) ‚Programmierung‘ des genetischen Codes. Insofern ein solches System innermedizinisch plausibel und gesellschaftlich akzeptiert gleichsam hoheitlich die Körpervorgänge deutet, ist die durch eine Krankheitsbezeichnung gegebene Differenz außerhalb des medizinischen Fachdiskurses essentiell und vor der Hand kaum verhandelbar. Dies kommt im hier verhandelten Zusammenhang ‚Diversität‘ dort zum Vorschein, wo eine Krankheit eben nicht allein eine isolierte Körperfunktion oder -struktur bezeichnet, sondern zur Eigenschaft einer Person wird – die diese Krankheit im Deutschen dann ‚hat‘. Die Besonderheit des antiken Leprakonzeptes liegt darin, dass es bereits vorchristlich bei der Übersetzung der hebräischen Tora ins Griechische als Bezeichnung einer rituellen Unreinheit verwandt wurde, von dort in das Alte Testament der Christen übernommen wurde und schließlich den Weg auch ins christliche Evangelium fand. (Un-)Reinheit aber ist innerhalb einer Religion und innerhalb eines fixierten rituellen Kanons schlechthin essentiell, verweist auf die Möglichkeit und Fähigkeit zur Teilhabe an einer göttlichen Sphäre und prädefiniert den sozialen Status einer Person innerhalb der rituellen Gruppe. 46 Mit ‚lepra‘ war somit in der christlichen Welt für viele Jahrhunderte immer zugleich das in der Bibel in beiden Testamenten religiös-rituelle, wie das im Sinne der Vormoderne medizinisch-naturwissenschaftliche Konzept bezeichnet und gemeint; dies auch dann, als das antike medizinische Lepra-Konzept im Laufe der Spätantike seinerseits innerhalb der Medizin völlig neu definiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Übersetzung der mehrschichtigen Lepranorm in eine soziale Praxis des Aus-Setzens von erheblicher Bedeutung. Die
46 Mary Douglas: Purity and Danger. An Analysis of Concept of Pollution and Taboo. London, New York 2001 (Reprint d. 1. Aufl. 1966); in deutscher Übersetzung Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin 1985.
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zentrale und unverzichtbare Differenzierungspraxis wurde die Lepraschau, das examen leprosorum.47 Neben (akademisch ausgebildeten) Ärzten und (handwerklich ausgebildeten) Chirurgen spielten Ältestengremien der großen Leprosenhäuser für das gerichtsähnliche Verfahren die herausragende Rolle,48 im Laufe des 16. Jahrhunderts gewann die ärztliche Lepraschau aber die überragende Bedeutung – in der Reichsstadt Nürnberg ist die Lepraschau bereits im 15. Jahrhundert Aufgabe der Ärzte gewesen. Anhand medizinischer Expertise und nach von der Medizin bereitgestellten Kriterien und Prüfverfahren wurde somit über die rituell gebotene soziale Sekretionspraxis des Aus-Setzens entschieden. Die Interdependenz religiöser und medizinischer Differenzkatageorien wurde nicht zuletzt von den Ärzten durchaus betont: „Dieweil von wegen des bößen und sündlichen leben der menschen fürnemlich der aussatz ein große straf gottes ist, dadurch dann alzeit diejenigen, welche mit dieser abscheulichen und er schrecklichen seuche behaft sein gewesen, auf das die andern, wie balt gescheen kan, auch nicht durch sie verunrainigt würden, von andern leuten abgesundert sein worden,“ es käme dabei aber darauf an, „das sie zuvor durch gelärte ärzt wohl erkant und iudicirt würd, auf das die armen leut nicht also vergebens abgesondert und von einander geschaidet würden.“49 Deutlich wurde im Gegenzug aber auch, dass ein auf „unrein“ lautender gesiegelter Schaubrief das Versorgungsprivileg durch ein Lepraspital bedeutete, dass die Ärzte also gleichzeitig auch auf ‚Lepra-Simulanten‘ gefasst sein mussten. Die levitische Aussatz-Norm (solus habitabit extra castra) hatte in der Praxis ihre Bedeutung geradezu umgekehrt, indem sie ein Versorgungsprivileg umfasste.
47 Annemarie Kinzelbach: „an jetzt grasierender kranckheit sehr schwer darnider“. „Schau“ und Kontext in süddeutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. In: Seuche und Mensch, S. 269–282. 48 Irmgard Hort: Aussätzige in Melaten. Regeln zur Krankheitsdiagnose, um 1540/1580. In: Quellen zur Geschichte der Stadt Köln. Bd. 2, Spätes Mittelalter und frühe Neuzeit: 1396– 1794. Hg. von Joachim Deeters, Johannes Helmrath, Dorothee Rheker-Wunsch und Stefan Wunsch. Köln 1996, S. 168–173; Kay Peter Jankrift: Hospitäler und Leprosorien im Nordwesten des mittelalterlichen Regnum Teutonicum unter besonderer Berücksichtigung rheinisch-westfälischer Städte. In: Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit / Hospitals and Institutional Care in Medieval and Early Modern Europe. Hg. von Martin Scheutz, Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl und Alfred Stefan Weiß. Wien, München 2008, S. 295–306. 49 StadtBib N, Ms. Cent V 42, Von besichtigung der aussetzigen oder siechen leuten, p. 132r/v; Transskription bei Karl Gröschel: Des Camerarius Entwurf einer Nürnberger Medizinalordnung „Kurtzes und ordentliches Bedencken“ 1571. München 1977, S. 177.
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Unverzichtbare Voraussetzung für die Aus-Satz-Praxis waren die reichsweit hunderten und tausenden seit dem Hochmittelalter etablierten Leprosorien. 50 Für die Leitfrage nach Diversität und Ausgrenzung spielt mithin die Lebensordnung der Leprosorien eine erhebliche Rolle. Dabei konnte für Nürnberger Leprosorien gezeigt werden, dass eine strenge und vollkommene Isolation gerade nicht das Ziel dieser Einrichtungen sein durfte, die – anders als andere Hospitäler – einen ihrer finanziellen Grundpfeiler im Bettel und dem aktiven Erwerb von Almosen hatten. Tatsächlich formulieren die Nürnberger Hospitalordnungen für die Leprosorien vielfach Schnittstellen und Kontaktflächen zur urbanen Welt; „extra castra“ bedeutete, dass die Leprosorien zwar außerhalb der Stadtmauern lagen, gleichzeitig aber sehr wohl Teil der städtischen Welt blieben.51
50 Vgl. die Dokumentation von Jürgen Belker-van den Heuvel, in: Die Klapper 1 (1986) – 14 (2006) www.lepramuseum.de/mittelalterliche-leprosorien-in-deutschland/ [11.06.2017] 51 Für Köln vgl. Sebastian Felten: Mittendrin statt außen vor? Ein neuer Ort für Melaten bei Köln und der ‚Paradigmenwechsel‘ in der Leprageschichtsschreibung. In: Geschichte in Köln 57 (2010), S. 11–37.
Kommerz und Vielfalt Diversität in Zirkusunternehmen in den USA, Europa und Russland, 1850–1914 Moritz Florin
Dem kulturellen Mythos zufolge ist der Zirkus jener Ort, an dem das Gegenwartsideal von diversity als Einheit in Vielfalt bereits im 19. Jahrhundert am ehesten verwirklicht war. Der Zirkus spielt mit den Träumen der Zuschauer von einem anderen, besseren, auch authentischeren Leben, er ist divers und zugleich tolerant, eine Art idealer Ort der Mitmenschlichkeit, losgelöst von sozialen Zwängen und alltäglicher Diskriminierung aufgrund von Klasse, Geschlecht oder Abstammung.1 Der Zirkus, so E.B. White, vereint das „ursprünglich Schäbige“ zu einem Ganzen, aus „wilder Unordnung“ wird ein Gesamtkunstwerk. 2 Mit Foucault lässt sich der Zirkus als heterotopischer Raum bezeichnen, in dem „die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind.“3 Doch waren Zirkusunternehmen des 19. Jahrhunderts eben nicht nur oft idealisierte Orte der Vielfalt, sondern auch Produkte von Urbanisierung und Kommerzialisierung, mithin auch Vorläufer einer modernen Unterhaltungsindustrie. Die Kommerzialisierung, so wird zu zeigen sein, bedingte neue Differenzierungen,
1
Zum kulturellen Mythos des Zirkus siehe: Marius Kwint: Circus. In: The Cambridge Companion to Theatre History. Hg. von David Wiles. Cambridge u.a. 2013, S. 210–225. Zum Zirkus in der Literatur siehe auch: Yoram S. Carmeli: Text, Traces, and the Reification of Totality. The Case of Popular Circus Literature. In: New Literary History 25/1 (1994), S. 175; Robert Alston Jones: Art and Entertainment. German Literature and the Circus, 1890–1933. Heidelberg 1985.
2
E.B. White: The Ring of Time. In: Ders.: Points of My Compass. New York 1954, S. 52.
3
Michel Foucault: Andere Räume (1967). In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. von Karlheinz Barck; Essais. Leipzig 1990, S. 34–46, hier: S. 34.
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Hierarchien und Ausgrenzungen innerhalb der Zirkustruppe. Der Mythos vom Zirkus als Ort der positiven Vielfalt entpuppt sich so als Vorläufer des gegenwärtigen Ideals von einer Gesellschaft, die Differenzierungen nicht lediglich toleriert, sondern einem gemeinsamen Zweck zuführt. Innerhalb der Unternehmen waren ethnische, geschlechtliche oder standesmäßige Hierarchien und Stereotype damit keineswegs aufgehoben, sondern wurden ebenso oft bestärkt und in neue Formen überführt. Dabei besteht der Reiz einer Beschäftigung mit dem Zirkus als kulturellem Ort des 19. Jahrhundert – auch etwa im Vergleich zum Theater oder der Oper – in der vermeintlichen Authentizität der in der Manege repräsentierten Welt. 4 Während ein guter Schauspieler im Theater eine Rolle spielt, wird vom „Zirkusvolk“ üblicherweise erwartet, dass es in seiner Rolle aufgeht, mit ihr identisch wird. Die Differenz zwischen biologischem Körper und Bühnenfigur wird scheinbar aufgehoben. Es ist für die Publikumswirkung und damit den kommerziellen Erfolg deshalb keineswegs unerheblich, ob sich ein Clown das Gesicht schwarz anmalt oder ob ein ‚echter‘ Schwarzer den Schwarzen spielt, ob eine Frau oder ein Mann Salti vollführt oder ob ein männlicher oder weiblicher Clown Geschlechterrollen parodiert. Gerade die Frage nach der ‚wahren‘ Identität und der Authentizität der dargebotenen Vielfalt ist deshalb in der Rezeption der Zirkuskunst von entscheidender Bedeutung. 5 Vorliegender Aufsatz ist als Annäherung an den Zirkus als historischen Ort der Diversität zu verstehen. Dabei spielen Repräsentationen von ethnischer, geschlechtlicher oder auch generationeller Vielfalt in Arbeiten zur Sozial- und Kulturgeschichte des europäischen und US-amerikanischen Zirkus durchaus eine wichtige Rolle. 6 Theoretische Überlegungen zu Diversität als historisch wandelbarem Phänomen sowie zu den Überschneidungen – Intersektionalitäten oder Interdependenzen – zwischen unterschiedlichen, sozial konstruierten Diversitätskategorien wie Geschlecht,
4
Vgl.: Yoram Carmeli: Circus Play, Circus Talk, and the Nostalgia for a Total Order. In: The Journal of Popular Culture 35/3 (2001), S. 157–164, hier: S. 158. Damit ist der Zirkus den Völkerschauen recht nah, die ebenfalls das Verlangen des Publikums nach Authentizität kommerziell nutzbar machen. Vgl.: Eric Ames: Carl Hagenbeck's Empire of Entertainments. Seattle 2008, S. 75–76.
5
Zum Zirkus als kulturellem Ort, der sich zugleich innerhalb und außerhalb der umgebenden Gesellschaft befindet, siehe auch: Paul Bouissac: Circus and Culture. A Semiotic Approach. Bloomington 1976, S. 7.
6
Siehe etwa: Brenda Assael: The Circus and Victorian Society. Charlottesville 2005; Katherine H. Adams, Michael L. Keene: Women of the American Circus, 1880–1940; Gérard Noiriel: Chocolat, clown nègre. L'histoire oubliée du premier artiste noir de la scène française. Montrouge 2012; Linda Simon: The Greatest Shows on Earth. A History of the Circus. London 2014.
Diversität in Zirkusunternehmen | 123
Ethnizität oder Rasse sind jedoch bislang die Ausnahme geblieben. 7 Allgemein lässt sich festhalten, dass Forschung zur Entstehung einer kommerzialisierten Populärund Massenkultur im 19. Jahrhundert den Zirkus bislang vernachlässigt hat. 8 Auch etwa in der neueren Globalgeschichte spielt der Zirkus – im Gegensatz etwa zur Oper oder dem Theater – praktisch keine Rolle.9 Der Aufsatz bietet somit – so hoffe ich – 7
Als Ausnahme ist zu nennen: Micah Childress: Life Beyond the Big Top. African American and Female Circusfolk, 1860–1920. In: The Journal of the Gilded Age and Progressive Era 15/2 (2016), S. 176–196. Als weitere Studie, die sich allerdings nicht explizit mit dem Zirkus befasst, ist erwähnenswert: Rick DesRochers: Going on the Offensive. Ethnicity, Gender, and Class in American Stage Comedy from 1881 to 1932. Unveröff. Phil. Diss., City University of New York, 2013.
8
Gemeint ist hier weniger Populärkultur im Sinne von „Volkskultur“ (auf Englisch ebenfalls „popular culture“), als vielmehr die kommerzialisierte Massenkultur (auch Popkultur), die gemeinhin als ein Phänomen des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Insbesondere für den US-amerikanischen Fall gibt es einige Arbeiten auch zum 19. Jahrhundert, darunter Studien zum vaudeville, den music halls oder den entstehenden Themenparks. Siehe etwa: From Traveling Show to Vaudeville. Theatrical Spectacle in America, 1830–1910. Hg. von Robert M. Lewis. Baltimore, Md. 2003; J. Springhall: The Genesis of Mass Culture. Show Business Live in America, 1840 to 1940. Houndsmills, Basingstoke 2008. Wichtige Anknüpfungspunkte liefert zudem die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung zur Theater- und Opernkultur, die sich ebenfalls mit dem Gegensatz zwischen Populär- und Hochkultur befasst hat. Auch etwa die Bedeutung der Penny Press oder des Sports für den Wandel der Volks- oder Populärkultur im 19. Jahrhundert wurde untersucht. Siehe etwa exemplarisch: Isabelle Lehuu: Carnival on the Page. Popular Print Media in Antebellum America. Chapel Hill 2000; Neil Tranter: Sport, Economy, and Society in Britain, 1750– 1914. Cambridge 1998; Die Vergnügungskultur der Großstadt. Orte – Inszenierungen – Netzwerke (1880–1930). Hg. von Paul Nolte. Köln, Weimar, Wien 2016. Für die Forschung zu Populärkultur insgesamt scheint jedoch zu gelten, dass sie sich auf das 20. Jahrhundert konzentriert und die Phase des Übergangs im 19. Jahrhundert allenfalls am Rande thematisiert. Vgl. u.a. Bodo Mrozek: Popgeschichte. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, URL: http://docupedia.de/zg/Popgeschichte [27.7.2018].
9
Jürgen Osterhammel etwa, der sich durchaus auch mit Fragen der Kultur- und Musikgeschichte befasst hat, erwähnt Zirkus und Populärkultur in seinem Standardwerk zur Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht. Dabei stellt sich die Frage, ob der Übergang von „Volks“- zu „Populärkultur“ nicht ebenfalls zur „Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert“ zählt, wie etwa die Geschichte der Oper. Vgl.: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. München 2010. Ein Beispiel für transnational ausgerichtete Forschungen zur Geschichte des Theaters ist: Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich. Hg. von Philipp Ther. München 2012. Zur Oper siehe auch: Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914. Wien u.a.
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Anregungen für weitere Forschungen zu einem Thema, das gerade im Kontext einer transnational und global erweiterten Forschung zu Diversität besonders vielversprechend erscheint.
DIVERSITÄT UND KOMMERZ. DIE ENTSTEHUNG DES ZIRKUS IN EUROPA UND DEN USA Der Zirkus ist uns allen vertraut. Wir wissen, wie ein Clown, Zirkusdirektor, Dresseur oder Akrobat auszusehen und sich zu verhalten hat, welche Nummern uns erwarten und wie groß die Manege ungefähr ist. Eine Globalgeschichte des Zirkus müsste sich deshalb mit der Frage beschäftigen, wie die Kombination höchst diverser Darbietungen entstanden ist, und wie es dazu kam, dass sich bestimmte Elemente durchgesetzt und über einen langen Zeitraum mehr oder weniger unverändert erhalten haben, andere hingegen nicht. Sowohl die regionalen oder nationalen Unterschiede, als auch die transregionalen und transnationalen Gemeinsamkeiten sind hierbei von Interesse. Gerade der Zirkus als zunächst europäisches, später globales Phänomen eignet sich für die Untersuchung von Kulturtransfers und Wechselbeziehungen zwischen Regionen und Staaten im 19. und 20. Jahrhundert. Eine solche Geschichte bleibt, trotz einiger vielversprechender Ansätze, ein Desiderat der Forschung. 10
2006. Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte der Musik liefert auch: Sven Oliver Müller: Einleitung. Musik als nationale und transnationale Praxis im 19. Jahrhundert. In: Journal of Modern European History 5/1 (2007), S. 22–38. 10 Der bislang überzeugendste Versuch, eine Weltgeschichte des Zirkus zu schreiben, ist noch immer die sowjetische Arbeit von Evgenij Kuznecov. Allerdings ignorierte Kuznecov weitgehend außereuropäische Entwicklungen, auch der Zirkus in den USA spielt bei ihm eine nur untergeordnete Rolle. Zudem orientierte er sich an einem marxistischen Entwicklungs- und Fortschrittsnarrativ, das zu hinterfragen wäre. Dies gilt auch für seine Thesen zur Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse im Zirkus. Vgl.: Evgenij Michajlovič Kuznecov: Cirk. Proischoždenie. Razvitie. Perspektivy. Moskau, Leningrad 1931. Auf Deutsch auch erschienen als: Evgenij Michajlovič Kuznecov: Der Zirkus der Welt. Berlin 1970. An einer über die USA hinausgehenden Geschichte des Zirkus versucht sich etwa Linda Simon; da sie jedoch nur englischsprachige Texte auswertet, kommt die Geschichte des Zirkus im deutschsprachigen Raum, in Osteuropa, China oder Japan praktisch nicht vor. Vgl.: Simon: The Greatest Shows on Earth. Gisela Winkler wiederum versucht sich an einer Geschichte von Zirkus und Akrobatik, die sich ihrem Anspruch nach nicht auf eine nationale Tradition beschränkt, bleibt aber doch dem deutschen Kontext verhaftet und sie versäumt es, unterschiedliche Traditionen miteinander zu verknüpfen. Gisela Winkler: Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden. Band 1: Die Geschichte der Artistik und des
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Die Erfolgsgeschichte des Zirkus der Neuzeit begann Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien und Frankreich. Die ersten Zirkusdirektoren waren Kunstreiter, die ihr Handwerk bei der Kavallerie erlernt hatten. Mit der Gründung der ersten „Amphitheater“ und Zirkusse wurden sie zu Zirkusunternehmern, die darauf angewiesen waren, möglichst viel Publikum anzulocken.11 Bei diesem Publikum handelte es sich zunächst eher selten um das ‚einfache Volk‘, das sich die Eintrittskarten kaum leisten konnte, sondern viel häufiger um den Adel und das Bürgertum. Die Zirkusunternehmen richteten sich also nach dem Geschmack der wohlhabenderen, oft politisch einflussreichen Schichten.12 Der Zirkus – dies lässt sich auch an den prachtvollen Zirkusbauten ablesen, die in den europäischen Hauptstädten Paris, Wien, London oder Petersburg entstanden – grenzte sich zunächst von den Vergnügungen des einfachen Volkes, den Jahrmärkten oder Schaustellertruppen ab.13 Es entstanden immer aufwändigere so genannte „historische Pantomimen.“ In prunkvollen Inszenierungen wurden historische Ereignisse wie etwa die Geschichte der napoleonischen Kriege nachgestellt sowie historische Erzählungen, Märchen und Romane adaptiert. 14 Bei Themen aus dem Bereich der Entdeckungs- und Kolonialgeschichte, wie etwa der Pantomime der „burmesische Krieg“ in Astley’s Royal Theatre in London, kamen schon früh exotische Tiere, wie etwa Elefanten, zum Einsatz. Parallel zu den großen Zirkussen gab es jedoch kleinere Unternehmen, die dem Jahrmarkt näher waren als den Hofreitschulen. Anstatt aufwändiger Inszenierungen brachten sie kurze Zirkusnummern auf die Bühne. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen dann auch die größeren Zirkusunternehmen die vermeintlich ‚niedere‘ Kunst der Gaukler in ihr Programm aufzunehmen. Evgenij Kuznecov bezeichnet diese Entwicklung in seinem Standardwerk zur Geschichte des Zirkus auch als „Demokratisierung“ der Zirkuskunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, ein Begriff der von den meisten Zirkushistoriker*innen übernommen wurde. Gisela Winkler etwa spricht von einer „Demokratisierung“ des Zirkus unter dem Berliner Unternehmer Ernst Renz (1815–1892), Gérard Noiriel übernimmt den Begriff für den Zirkus. Gransee 2015. Vor allem fehlt den bisherigen Werken eine konsequente Verortung des Phänomens Zirkus in seiner historischen Epoche. So erscheint der Zirkus als beinahe zeitloses Phänomen, losgelöst von konkreten historischen und geographischen Umständen. Die regionalen und nationalen Unterschiede werden kaum analysiert. Dies gilt auch etwa für einige weitere, zum Teil ältere Überblicksarbeiten: Sylke Kirschnick: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus. Stuttgart 2012; George Speaight: A History of the Circus. London 1980; sowie: Dominique Jando: Histoire mondiale du cirque. Delarge 1977. 11 Vgl.: A. H. Saxon: Enter Foot and Horse. A History of Hippodrama in England and France. New Haven 1968. 12 Kuznecov: Der Zirkus der Welt, S. 17. 13 Siehe etwa die Abbildungen in: Ebd., S. 64–65. 14 Ebd., S. 53–63.
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französischen Nouveau Cirque Ende des 19. Jahrhunderts.15 Gemeint ist mit dem Begriff vor allem eine Kommerzialisierung der Zirkusunternehmen und Popularisierung der Inhalte, die sich immer häufiger an ein breites Publikum richteten.16 Doch auch wenn sich Zirkusunternehmen an jedermann und -frau, an Jung und Alt, Reiche und Arme, Adel und einfaches Volk richteten, ist mit Blick auf Konstellationen von Diversität ebenso interessant, wer dennoch ausgeschlossen blieb, also etwa Juden in einigen russischen Zirkusunternehmen oder häufig auch Schwarze in den USA. In der Literatur bislang kaum diskutiert wurde über die Frage, welche Rolle die USA für die „Demokratisierung“ des Zirkus in Europa spielten. Tatsächlich erscheint es plausibel, dass der ‚demokratische Zirkus‘ ein früher kultureller Import aus den USA war. Der bekannteste US-amerikanische Zirkusunternehmer, Phileas Taylor Barnum, begann bereits in den 1840er Jahren mit dem Aufbau eines zirkusähnlichen Unternehmens, das ganz dem Ideal des vielfältigen, demokratischen Zirkus entsprach. In diesem Zirkus wurden unter anderem gezeigt: Industrious fleas, educated dogs, jugglers, automatons, ventriloquisti, living statuary, tableaux, gypsies, albinoes, fat boys, giants, dwarfs, rope-dancers, caricatures of phrenology, and ‚live Yankees‘, pantomime, incidental music, singing and dancing in great variety (including Ethiopians), etc. Dioramas, panoramas, models of Dublin, Paris, Niagara, Jerusalem, etc., mechanical figures, fancy glass-blowing, knitting machines and other triumphs in the mechanical arts, dissolving views, American Indians, including their warlike and religious ceremonies enacted on the stage, etc., etc.17
Bemerkenswert an dieser Liste erscheint die scheinbar wahllose Zusammenstellung, gleichzeitig aber etwa die Einsortierung etwa der „Zigeuner“ in eine Reihe mit Albinos und „fat boys”. Vor allem zeigt sich hier jedoch ein neues Geschäftsmodell, das Zirkusunternehmen im Laufe des 19. Jahrhunderts weltweit übernahmen: Die zunehmende Diversifizierung der Darbietungen in der Manege. Zwar kopierten europäische Zirkusunternehmen nicht alle Innovationen aus den USA. Das Streben nach immer noch mehr, also etwa drei parallel betriebenen Manegen sowie „side-show“ und ethnographische Ausstellung, konnte sich in Europa nicht durchsetzen. Dennoch
15 Winkler: Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden, S. 92; Noiriel: Chocolat, clown nègre, S. 30. 16 Zur Kommerzialisierung des Zirkus im Großbritannien des 19. Jahrhunderts siehe auch die Arbeit: Assael: The Circus and Victorian Society. Zur Vermarktung des Fremden in Völkerschauen siehe auch: Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums. Frankfurt a.M. 2005. 17 Zitiert in: Lewis: From Traveling Show to Vaudeville, S. 7.
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wurde Barnum etwa in England bereits seit den 1850er Jahren als Vorbild genannt.18 Inwieweit auch deutsche, französische oder russische Zirkusdirektoren sich zu USamerikanischen Vorbildern äußerten, wäre zu untersuchen.19 Zirkusunternehmen waren immer häufiger überregional und transnational vernetzt. Die größeren Unternehmen besaßen mehrere feste Spielstätten, so etwa Ernst Renz in Berlin, Wien, Hamburg und Breslau oder Carl Magnus Hinné (1819–1890) in Frankfurt, Warschau, Kopenhagen und ab 1868 in St. Petersburg und Moskau. 20 Das Zirkuszelt war eine amerikanische Erfindung der 1830er Jahre, die sich erst allmählich auch in Westeuropa durchsetzte. Einzelnen Unternehmern ermöglichte das Zelt immer ausgedehntere Reisen. Der Kunstreiter Giuseppe Chiarini (1823–1897) etwa gründete 1853 einen Zirkus in Havanna, ging danach in die USA, überquerte den Pazifik und landete 1855 in Japan. 1864 reiste er nach Mexiko und unternahm eine Tour durch Chile und Argentinien. In den 1870er Jahren reiste er unter anderem nach Australien, Neuseeland, Tasmanien, Singapur, Java, Siam, Indien und Südamerika. An vielen Orten gilt Chiarini deshalb als der erste, der den Zirkus popularisierte und damit als Begründer einer eigenen Zirkustradition.21 Ein anderer global reisender Zirkusakrobat war Louis Soullier (1813–1888), der zunächst am Wiener Praterzirkus arbeitete, dann Tourneen durch Südosteuropa, in die Türkei und schließlich 1854 nach China unternahm. Bei seiner Rückkehr brachte er chinesische Akrobaten mit, die bislang in Westeuropa kaum bekannte akrobatische Kunststücke zeigten, wie etwa das Erklettern senkrechter Stäbe (Chinesischer Mast), die Diabolo-Jonglage
18 Lewis: From Traveling Show to Vaudeville, S. 15. Zu Barnum und seiner Bedeutung für die Zirkusgeschichte in den USA siehe auch: A. H. Saxon: P. T. Barnum. The Legend and the Man. New York 1989. 19 Eine interessante Studie, allerdings für einen etwas späteren Zeitraum ist Marlis Schweitzers Arbeit zur globalen Infrastruktur US-amerikanischer Unterhaltungsunternehmen. Vgl.: Marlis Schweitzer: Transatlantic Broadway. The Infrastructural Politics of Global Performance. Basingstoke 2015. 20 Zum Zirkus Renz siehe: Alwill Raeder: Der Circus Renz in Berlin. Eine Denkschrift zur Jubiläums-Saison 1896/97. Berlin 1897; Winkler: Von fliegenden Menschen und tanzenden Pferden, S. 92–97. 21 So zum Beispiel in Lateinamerika (Mexiko, Argentinien). Siehe: Juan Felipe Leal: Anales del cine en México, 1895–1911. Tercera parte. El circo y el cinematógrafo. México, DF 2009, S. 29; Beatriz Seibel: Historia del circo. Buenos Aires 2005, S. 30–31. Zu Australien: Mark St Leon: Spangles & Sawdust. The Circus in Australia. Richmond, Victoria 1983, S. 73–75. Zu den Chiarinis siehe auch: Alessandro Cervellati: Questa sera grande spettacolo. Storia del circo italiano. Mailand 1961, S. 247–248. Über das Erstaunen und die Begeisterung über den Zirkus Chiarini in China und Japan siehe: The Lamp. Hg von Thomas E. Bradley. Bd. 20–21. London 1893, S. 143–144.
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oder das Tellerdrehen.22 Die Geschichte des Zirkus war also keineswegs eine Geschichte einseitigen Kulturtransfers von Europa nach Asien. Vielmehr fand eine vielfache Aneignung unterschiedlicher Traditionen statt, die immer neu zusammengefügt wurden, bis sich eine gemeinsame Form mit regionalen Variationen herausbildete. Aus globalhistorischer Perspektive ist bemerkenswert, wie stark sich die Zirkuskunst im Laufe des 19. Jahrhunderts über Grenzen hinweg vereinheitlichte: Zumindest in Russland, Europa, den USA, Lateinamerika oder Australien hat die Arena üblicherweise einen Durchmesser von 13 Metern, die einzelnen Darbietungen sind kurz, Akrobatik, Dressur und Clownerie lösen einander ab. Das Bunte, Fremde und Furchteinflößende wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in einen bewährten und damit erwartbaren Rahmen eingefügt. Der Zirkus zeigte Vielfalt in stereotypisierten Formen; er brachte also Ordnung in die Vielfalt der Darbietungen der Wandertruppen, Gaukler und Akrobaten, die von den Jahrmärkten bekannt waren. In diesem Sinne war der Zirkus weniger ein Ort der beispielhaften „Demokratisierung“ als vielmehr der Diversifizierung: Vorgefundene Vielfalt wurde in der Arena einem gemeinsamen Zweck zugeführt, standardisiert und in eine grenzüberschreitend anschlussfähige, populäre und damit vermarktbare Formensprache überführt.
SIDESHOWS UND VÖLKERSCHAUEN Freaks und Außenseiter waren als Attraktionen auf Jahrmärkten oder auch zu Hofe im 19. Jahrhundert keineswegs neu. Doch anders als auf Jahrmärkten wurden „Fakire“, „Kraftmenschen“, „Riesen“ und Menschen mit Behinderungen im Zirkus Bestandteil eines kommerziellen Spektakels. Dabei besteht das Neue weniger in der Zurschaustellung an sich, sondern in ihrer Auswahl durch einen Zirkusunternehmer und in der Zusammenschau innerhalb eines festen Rahmens. Besondere Attraktionen waren vermeintlich einzigartige Menschen und Tiere sowie Kombinationen aus Tier und Mensch. Barnum etwa zeigte bereits in den 1850er Jahren unter anderem einen „Affenmenschen”; die „Schweizer bärtige Lady“; eine „Fidji Meerjungfrau“, halb Frau halb Fisch; Albinos („white negroes”); das „Leopardenkind mit merkwürdig pigmentierter schwarz-weißer Haut“ oder Miss Dora Dawson, die halb als Frau und als Mann gekleidet war und sowohl Sopran als auch Tenor sang. Barnum präsentierte diese ungewöhnlichen Menschen als „Launen der Natur“. Von Jojo, dem „Jungen mit dem Hundegesicht”, hieß es etwa in einem Zeitungsbericht: „Some say it is an advanced chimpanzee, others that it’s a cross
22 Duncan Wall: The Ordinary Acrobat. A Journey into the Wondrous World of the Circus Past and Present. New York 2013, S. 135–136.
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between nigger and baboon. But it seems to me clearly an idiotic negro dwarf.”23 Das Zitat zeigt einerseits, dass Jojos Existenz als Beleg für die genetische Verwandtschaft zwischen Mensch und Affen interpretiert werden konnte. Vor allem aber galt er aber offensichtlich als Sonderfall, als genetischer Ausreißer und damit als Abweichler von einer allgemein anerkannten Norm.24 In den so genannten „Freakshows“ und „side-shows“ wurden individuelle Deformationen gezeigt. Damit waren diese ungewöhnlichen Menschen als Einzelfälle von Interesse, nicht hingegen als Repräsentant*innen einer in kulturellen oder biologischen Kategorien gedachten Diversität. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der so genannten Völkerschauen in den USA und Westeuropa. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie vermeintliche ‚Naturvölker‘ oder ‚Wilde‘ ausstellten. Gerade in Deutschland standen Völkerschauen in enger Verbindung zur Reichsgründung und der Eroberung von Kolonien. Als Pionier der ethnographischen Völkerschau (oder auch des ‚menschlichen Zoos‘) in Europa gilt der Unternehmer Carl Hagenbeck, der bereits 1874 Lappländer, später dann Nubier, Kalmücken oder Singhalesen ausstellte. Ähnlich wie Barnum in den USA löste Hagenbeck die Völkerschauen aus dem Kontext der Schaubuden und machte sie damit als ethnographische Ausstellungen auch für das Bildungsbürgertum attraktiv. 25 Wie etwa Studien zu Völkerschauen in Deutschland, der Schweiz oder Großbritannien gezeigt haben, ging es eben nicht um die vorurteilsfreie Zurschaustellung der Fremden als Individuen, sondern um ihre Repräsentation innerhalb eines festen Rahmens.26 Zwar scheint es einige Grundprinzipien bei der Auswahl der Völker gegeben zu haben, darunter die visuelle Potenz, kulturelle Alterität und soziale Diversität jeder Truppe. Dennoch musste oft vor Ort improvisiert werden, um diese Kriterien zu erfüllen.27 In den Völkerschauen in Deutschland etwa mussten Indianer wie Indianer bei Karl May aussehen, also etwa einen Federschmuck tragen. Feuerländer wurden als Kannibalen präsentiert und sollten rohes Fleisch essen.28 Völkerschauen schufen klare Zuordnungen basierend auf der Vorstellung fest umgrenzter Abstammungsgemeinschaften. Die Zirkusunternehmen präsentierten die jeweilige Gruppe von ‚Berufswilden‘ als Einheit. Gleichzeitig wurde aber üblicherweise darauf geachtet, 23 Lewis: From Traveling Show to Vaudeville, S. 51. 24 Vgl. Simon: The Greatest Shows on Earth, S. 232. 25 Siehe etwa: Human Zoos. Science and Spectacle in the Age of Colonial Empires. Hg. von Pascal Blanchard. Liverpool 2008; Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870 – 1940. Frankfurt a.M. 2005. 26 Sadiah Qureshi: Peoples on Parade. Exhibitions, Empire, and Anthropology in Nineteenth Century Britain. Chicago u.a. 2011. Zu Dänemark auch: Rikke Andreassen: Human Exhibitions. Race, Gender and Sexuality in Ethnic Displays. Farnham 2015. 27 Ames: Carl Hagenbeck's Empire of Entertainments, S. 51. 28 Kirschnick: Manege frei! S. 136.
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Männer, Frauen und Kinder zu zeigen. Zudem war häufig klar, wer das Stammesoberhaupt darstellte (man denke an den Federschmuck der Häuptlinge in Wildwestshows). Innerhalb der nach außen abgeschlossenen Gruppe konnten also Differenzierungen basierend auf Geschlecht, Generation und sozialem Status gezeigt werden. Paradoxerweise befriedigte die Völkerschau also einerseits die Faszination für die Fremden – Männer, Frauen und Kinder – als Lebewesen aus Fleisch und Blut. Andererseits wurden die Fremden üblicherweise in einen festen Rahmen eingepasst. Ihre Authentizität galt nur so lange als plausibel, wie sie vorgefassten Bildern von den Fremden entsprach. Die vermeintlich ‚Primitiven‘ bewegten sich in einem showspace, dessen Rahmung sie selbst kaum beeinflussen konnten.29 Mit Blick auf den Zirkus selbst haben Untersuchungen gezeigt, dass es auch innerhalb der Zirkustruppe Hierarchien gab, die unter anderem auf ethnischen oder rassistischen Kategorien basierten. Obwohl sich die Zirkustruppen oft als eine vom Rest der Gesellschaft abgegrenzte Gemeinschaft wahrnahmen, spricht Janet M. Davis für die USA im 19. Jahrhundert von der Herausbildung einer Art „Zirkuskastensystem“, basierend auf den Kategorien race, class und gender.30 Völkerschauen waren üblicherweise nicht eigentlicher Bestandteil der Zirkusunternehmen; die Lieferanten waren Unternehmer wie der Tierparkdirektor Carl Hagenbeck, der nicht nur ein weltweites Netzwerk zum Erwerb seltener Tiere aufbaute, sondern eben auch fremde Menschen engagierte. Obwohl diese Fremden meist vertraglich gebunden waren und im Laufe der Zeit auch ein zunehmendes Maß an Professionalisierung zu erkennen war, waren sie nicht eigentlich Teil der Zirkustruppe und wurden auch nicht als gleichrangig akzeptiert.31 Für den US-amerikanischen Fall hat Micah Childress gezeigt, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwar Deutsche, Franzosen, Schweden, Türken oder auch Japaner einander oft freundschaftlich verbunden gewesen seien; dieser Grad der Gleichheit, den amerikanische Zirkusunternehmer ihren internationalen Kollegen gewährten, habe sich jedoch nicht auf Afroamerikaner oder australische Aborigines erstreckt. Während Akrobaten aus Asien überwiegend gut bezahlt und als Hauptattraktionen auf Plakaten angekündigt worden seien, seien Afroamerikaner in den Hauptakten kaum vorgekommen. Stattdessen seien sie in die sideshows
29 Roslyn Poignant: Professional Savages. Captive Lives and Western Spectacle. New Haven, Conn. 2004, S. 7–9. Siehe auch: Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, Gilles Boetsch: Zoos Humains. Aux Temps des Exhibitions Humaines. Paris 2004. 30 Janet M. Davis: The Circus Age. Culture & Society under the American Big Top. Chapel Hill 2002, S. 71–73. 31 Ames: Carl Hagenbeck’s Empire of Entertainments, S. 47. Bernth Lindfors: Early African Entertainments Abroad. From the Hottentot Venus to Africa's first Olympians. Madison 2014. Zum Begriff der “professional savages” siehe auch: Poignant: Professional Savages.
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verbannt worden, wo sie Afrikaner oder Affenmenschen verkörpern sollten, und wo sie überdies schlecht bezahlt wurden.32 Mit Blick auf derartige Differenzierungen innerhalb der Zirkusunternehmen sind auch Ausnahmen aufschlussreich. So wurden etwa Schwarze in Zirkusunternehmen sowohl in den USA als auch anderswo im 19. Jahrhundert gelegentlich selbst Teil des eigentlichen Ensembles oder gründeten gar einen eigenen Zirkus. Ein Beispiel hierfür ist William Darby (Pablo Fanque), ein Kunstreiter und Zirkusdirektor im England der Mitte des 19. Jahrhunderts. John M. Turner hat in den Quellen kaum Hinweise auf Fanques Hautfarbe gefunden. Vielmehr scheine es, als sei Fanque als gleichwertiges Mitglied der Zirkuswelt akzeptiert worden, da, so ein Zeitgenosse, im Zirkus die Fertigkeit, nicht die Hautfarbe entscheidend sei.33 Grundsätzlich scheint zu gelten, dass Schwarze es in Europa leichter hatten als etwa in den USA. Der Elefantentrainer und Afroamerikaner Eph Thompson etwa emigrierte Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa, vermutlich weil er sich dort mehr Anerkennung erhoffte. 34 Er arbeitete danach unter anderem für Hagenbeck und trat auch in Russland auf. 35 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass rassistische Klischees damit überwunden waren. Auch der dunkelhäutige Zirkusdirektor Fanque selbst integrierte in seine side-show einen Schwarzen, der als affenähnliche Attraktion beworben wurde.36 Es sind, mit anderen Worten, große Unterschiede im Umgang mit Hautfarbe und Ethnizität je nach Zirkusunternehmen und je nach gesellschaftlicher Konstellation festzustellen. Eine ganze Reihe von Faktoren spielten hierbei offensichtlich eine Rolle, darunter Prägungen durch Kolonialismus, Sklaverei sowie auch die kulturelle Distanz zwischen der Kerntruppe und den Fremden, Außenseitern und freaks.37 Auch Traditionen des Antisemitismus oder der Umgang mit religiöser Differenz konnten eine Rolle spielen.38 Dabei sind einzelne Völkerschauen, freak- und sideshows im Rahmen von Zirkusunternehmen bereits gut erforscht.39 Gezeigt wurde etwa, dass die 32 Childress: Life Beyond the Big Top, S. 178. 33 John M. Turner: Pablo Fanque, Black Circus Proprietor, in: Gretchen Gerzina: Black Victorians/ Black Victoriana. New Brunswick 2003, S. 20–38, hier: S. 38. 34 Childress: Life Beyond the Big Top, S. 192. 35 Davis: The Circus Age, S. 175. 36 Ebd. 37 Zu hinterfragen ist allerdings der oft postulierte eindeutige Zusammenhang zwischen dem Zeitalter des Imperialismus und Völkerschauen, oder auch zwischen Kolonialherrschaft und Orientalismus, zumal auch in den USA ähnliche Mechanismen funktionierten wie in Westeuropa. Vgl.: Ebd., S. xi. 38 Vgl.: Marline Otte: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933. Cambridge 2006. 39 Für einen Überblick siehe etwa: Marc Hartzman: American Sideshow. An Encyclopedia of History's Most Wondrous and Curiously Strange Performers. New York 2005.
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Völkerschauen einen festen, tierparkähnlichen Rahmen zur Präsentation von ethnischer Vielfalt schufen. Damit nahmen sie dem Fremden das Bedrohliche, machten aber gleichzeitig kulturell weit entfernte Räume und Menschen verfügbar, schufen also eine physische Kopräsenz zwischen Zuschauern und Fremden. 40 Die Frage, ob Völkerschauen etwa auch außerhalb Westeuropas und den USA eine Rolle spielten (etwa im Russischen Reich oder auf Zirkustourneen in Asien), ist bislang jedoch kaum erforscht. Wenig bekannt ist bislang auch über die Handlungsspielräume der Fremden selbst. Die Zirkusarena war eben kein Zoo, sondern ein Ort, an dem auch besondere Fertigkeiten zur Schau gestellt werden konnten. Reitkünste etwa der Kaukasusvölker (die so genannte „Dschigitenreiterei“) oder der Indianer in so genannten „Wildwestshows“ spielten eine wichtige Rolle in Zirkusaufführungen des späten 19. Jahrhunderts.41 Auf welche Weise die ‚Fremden‘ dabei zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten in die Zirkusunternehmen integriert wurden und welche kulturellen Hierarchien und Stereotype dabei zum Tragen kamen, ist eine spannende, bislang allenfalls ansatzweise erforschte Frage. 42
GESCHLECHTERROLLEN UND DIVERSITÄT IM ZIRKUS Zirkusunternehmer des 19. Jahrhunderts inszenierten sich meist als bürgerliche Familienoberhäupter, ihre Ehefrauen wurden deshalb auf Fotografien meist als Mütter und Hausfrauen gezeigt. Gleichzeitig spielten Frauen jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts eine immer wichtigere Rolle in der Manege vor allem als Akrobatinnen und Kunstreiterinnen. Statistiken zum Anteil von Frauen in Zirkusunternehmen sind rar. Die ersten Zirkusunternehmen, hervorgegangen aus der militärischen Kavallerie, beschäftigen ausschließlich Männer. Der Frauenanteil blieb noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts gering: Im Falle der USA etwa spricht Adams von einem Gesamtanteil von 2 % noch im Jahr 1880. Bis 1910 stieg dieser Anteil jedoch schnell an und lag 1910 bei circa einem Drittel.43 Für den britischen Fall hat Brenda Assael gezeigt, dass bereits in den 1870er Jahren in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung vorherrschte, es gebe insgesamt mehr Artistinnen als Artisten. Als Grund hierfür nannte die Presse unter anderem, dass Frauen einfacher zu unterweisen und günstiger im Unterhalt
40 Ames: Carl Hagenbeck's Empire of Entertainments, S. 13–17. 41 Zu den Dschigiten siehe etwa: S. Makarov: Iskusstvo cirka v Rossii. Ot Imperatorskogo cirka do cirka bratʹev Nikitinych. Moskau 2013. Zu Wild-West Shows siehe: Louis S. Warren: Buffalo Bill's America. William Cody and the Wild West Show. New York 2005. 42 Als Ausnahme zu nennen ist allenfalls: Lester G. Moses: Wild West Shows and the Images of American Indians. 1883–1933. Albuquerque 1996. 43 Adams et al.: Women of the American Circus, 1880–1940, S. 14.
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seien. Zudem, und dies war der vielleicht entscheidende Grund, galten Artistinnen als beim Publikum besonders populär.44 Die Zirkusforschung hat zudem gezeigt, dass Zirkusunternehmen in den USA und Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vehement gegen den Ruf ankämpften, ein Hort von Prostitution und damit familienungeeignet zu sein. Strenge Regeln zum Kontakt von Zirkusfrauen mit der Lokalbevölkerung und dem Publikum wurden erlassen, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Auch wurden Zirkusartistinnen der Presse gegenüber als ehrbare Hausfrauen und Mütter präsentiert, um so trotz ‚atypischer Beschäftigung‘ gesellschaftlichen Normen so weit als möglich zu entsprechen.45 In den USA entstand Ende des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Wettbewerb darum, welches der großen Zirkusunternehmen – Barnums, Ringlings oder Forepaugh – das moralisch aufrechteste sei.46 Auch die Direktoren der europäischen Zirkusse wie Ernst Renz, Carl Magnus Hinné oder die russischen Nikitins inszenierten sich als ehrbare Familienoberhäupter. Die Rede von „Zirkusdynastien“ verweist dabei auf adelige und bürgerliche Vorbilder. 47 Gleichzeitig bewarben Zirkusunternehmen Frauen nicht selten als Objekte sexueller Begierde. Ein aufschlussreiches Beispiel sind etwa die Auftritte der Kunstreiterin Adah Menken, die mit ihren Auftritten als Mazeppa in dem gleichnamigen Hippodrama bekannt wurde. Das auf einem Gedicht Byrons basierende Stück handelt von den Jugendjahren des späteren Kosakenhetmans Ivan Mazepa. Als Page am polnischen Hofe hat er eine Affäre mit der verheirateten Herzogin Theresa. Als Theresas Ehemann davon erfährt, lässt er Mazepa zur Strafe nackt auf ein Pferd fesseln und das Pferd anschließend verjagen. Das Gedicht Byrons endet mit Mazepas Erwachen aus einer tiefen Ohnmacht. Er findet sich in seiner Heimat, dem Land der Kosaken (oder auch der „Tartarei“), wieder. In der Zirkuspantomime wurde die Handlung üblicherweise fortgesetzt und endete mit dem Rachefeldzug Mazepas gegen seine polnischen Peiniger. Die Handlung eignete sich hervorragend, um Kunstreiter in Szene zu setzen.48 Noch populärer als mit männlichen Hauptdarstellern war das Stück jedoch mit Adah Menken in der Hauptrolle. Als Reiterin in hautengen Seidenkleidern, die den Eindruck von Nacktheit erweckten, provozierte sie einen Skandal. Adah Menkens „Mazepa“ wurde in zahlreichen Städten, darunter New York, New Orleans, 44 Assael: The Circus and Victorian Society, S. 108–121. 45 Childress: Life Beyond the Big Top, S. 188. 46 Simon: The Greatest Shows on Earth, S. 88–89. Für Beispiele siehe auch: Adams et al.: Women of the American Circus, 1880–1940, S. 75. 47 Zum Zirkus Hinné: Anders Enevig: Cirkus Hinné. Det sejlende cirkus. Odense 1992. Zum Zirkus Busch siehe: Gisela Winkler: Circus Busch. Geschichte einer Manege in Berlin. Berlin-Brandenburg 1998. 48 Michael Diamond: Victorian Sensation. Or, the Spectacular, the Shocking and the Scandalous in Nineteenth-Century Britain. London 2003, S. 268–271.
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San Franzisko, London, Paris oder Wien gezeigt. Das kommerzielle Potential von Frauen auf dem Pferd, so Linda Simon, sei damit unübersehbar geworden. 49 Ein weiteres interessantes Beispiel für die Kommerzialisierung von Geschlechterdifferenzen ist der oder die Kunstreiter*in Omar Kingsley, der/ die seit seiner frühen Kindheit im Zirkus als Mädchen, später als Frau auftrat und sein/ihr vermeintlich ‚wahres‘ Geschlecht verbarg. Inwieweit Omar selbst sich entschied, als Mädchen aufzutreten, bleibt unklar: Denkbar ist auch, dass sein Entdecker, der Kunstreiter Spencer Q. Stokes, sich die Rolle für Kingsley ausdachte. Je älter Omar jedoch wurde, desto mehr verlor die Inszenierung als Frau an Überzeugungskraft. Nach seinem Debüt in New York deckten zwei New Yorker Zeitungen die vermeintlich ‚wahre‘ Identität auf. Obwohl einige Zuschauer sich betrogen fühlten, sorgte die Enthüllung doch auch für Neugierde. Kingsley trat weiterhin als Frau auf und die Zuschauer interessierten sich nunmehr auch aufgrund der Ambivalenz für die Aufführungen.50 Auch hier zeigt sich einerseits das grundsätzliche Verlangen nach Authentizität, andererseits aber das kommerzielle Potential von Transgressionen. Der Zirkus war offensichtlich in der Lage, auch diese Grauzonen auszuleuchten, ohne damit jedoch das binäre Geschlechterbild notwendigerweise zu erschüttern. Gerade ungeklärte Geschlechteridentitäten galten als Faszinosum. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang etwa Madame Josephine Boisdechene Clofullia, die in London und Paris als die „bärtige Dame aus Genf“ bekannt war und ab 1953 im Zirkus Barnum in den USA auftrat. Barnum selbst meinte dazu: Her bust was feminine and remarkably full. Several certificates, which had been written and signed by physicians who were present at her accouchement, were hung up in the hall of exhibition. These were to convince the spectators that Madame was indeed a woman, and no man, as many foolish persons might have been inclined to suppose. One blockhead summoned both me and the Whiskered Woman before the Police Court, swearing that she was a man, and that I had swindled him out of a quarter! The matter was soon settled in my favor – in what manner, I do not choose to explain.51
Das Beispiel zeigt, dass die Ausstellung von Abweichungen keineswegs dazu diente, die Norm in Frage zu stellen. Vielmehr stand am Ende von Barnums Wette ein eindeutiges Ergebnis offensichtlich basierend auf vermeintlich eindeutigen körperlichen Merkmalen. Trotz Irritation führten Clofullias Auftritte nicht notwendigerweise zur Erschütterung des binären Geschlechterschemas. 49 Simon: The Greatest Shows on Earth, S. 40–41. 50 Shauna Vey: The Master and the Mademoiselle. Gender Secrets in Plain Sight in Non-Text Based Antebellum Performance. In: Querying Difference in Theatre History. Hg. von Ann Haugo und Scott Magellsen. Newcastle upon Tyne 2007, S. 53–60, hier: S. 53. 51 Lewis: From Traveling Show to Vaudeville, S. 50.
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Während es bereits einige Arbeiten zu Artistinnen im Zirkus gibt, hat sich die Forschung bislang kaum mit der Rolle von Männern bzw. von Männlichkeit im Zirkus auseinandergesetzt. Dabei gibt es zahlreiche Beispiele, die von einem ausgesprochenen Männlichkeitskult zeugen. Zirkusunternehmen spielten etwa mit Klischees von der Wildheit und männlichen Unbeherrschtheit fremder Völker, so etwa in der Dschigitenreiterei oder den Wildwestnummern. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind auch die impliziten Geschlechterbilder in so genannten Tscherkessinnennummern, deren kommerzielle Anziehungskraft auf rassistischen Reinheitsphantasien beruhte. Die Tscherkessinnen galten der rassistischen Theorie vom Ursprung der Menschheit im Kaukasus entsprechend als besonders reine Schönheiten mit außergewöhnlich weißer Haut. In der Türkei würden diese weißen Frauen zu einem Leben in Harems gezwungen und vergewaltigt, erst Barnum habe sie befreit. 52 In diesem Zusammenhang waren es fremde, „orientalische“ Männer, denen ein besonders verwerflicher Umgang mit Frauen nachgesagt wurde. Während die Männlichkeit der Fremden in den Tscherkessinnennummern als Bedrohung präsentiert wurde, galt sie doch in den Wildwest- und Dschigitennummern auch als ein Merkmal von Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Inwieweit damit auch eine Kritik am vermeintlich zivilisierten, aber verweichlichten Mann verbunden war, wäre näher zu untersuchen. Einige Historiker*innen haben die emanzipatorische Funktion weiblicher Zirkusakte hervorgehoben. Micah Childress etwa hat argumentiert, dass Zirkusartistinnen dazu beitrugen, die Vorstellung von der physischen Unterlegenheit (oder gar Behinderung) von Frauen zu untergraben.53 In Zirkusunternehmen verdienten Frauen oft mehr als ihre männlichen Kollegen und sie stellten nicht selten den Hauptakt einer Zirkusperformance. In den USA wurden einige Zirkusfrauen Ende des 19. Jahrhunderts politisch aktiv und gründeten die „Barnum and Bailey’s Circus Women’s Equal Rights Society“.54 Der Auftritt von Frauen im Zirkus wird deshalb auch als eine Form von Ermächtigung angesehen. Nicola Haxell schreibt in einer Untersuchung zu Kunstreiterinnen in der bildenden Kunst: „Her dominance over the horse (or horses) in her charge extended to the men in the audience: she returned their gaze – not as reciprocal statement of desire, but as an acknowledgement that she, too, had power.“ 55 Im Zirkus erscheint die Forderung nach Gleichberechtigung demnach
52 Adams et al.: Women of the American Circus, 1880–1940, S. 142. 53 Childress: Life Beyond the Big Top, S. 186. 54 Ebd., S. 188. 55 Nicola A. Haxell: Ces Dame du Cirque. A Taxonomy of Male Desire in Nineteenth-Century French Literature and Art. In: Modern Language Notes XXV (2000) 4, S. 783–800, hier: S. 795.
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legitim. Zirkusunternehmen wurden – ähnlich wie im übrigen Theater – Orte, in denen Frauen gleichzeitig Akteure und Symbole des gesellschaftlichen Wandels im Umgang mit geschlechtlicher Differenz sein konnten.56
CLOWNS UND DAS SPIEL MIT VIELFALT Die anthropologische Literatur geht davon aus, dass Clownsfiguren (bzw. Narren oder jester) ein universelles Phänomen sind.57 Zwar, so Beatrice Otto, gibt es Narren nicht notwendigerweise zu allen Zeiten und an allen Orten. Die Krux sei aber, dass der Narr kein Produkt einer bestimmten Zeit oder eines bestimmten Orts sei.58 Insofern ist auch der Zirkusclown lediglich eine Neuinterpretation unterschiedlicher Traditionen, eine Kombination aus Harlequinade, Commedia dell‘arte, indianischen trickstern, jestern, Narretei, Zanni oder den russischen skomorochi. Diesen Clownsfiguren war gemein, dass sie dem Publikum vertraute soziale Typen parodierten.59 Die anthropologische Forschung hat gezeigt, dass Narren oder Clownsfiguren in vielen Kulturen gleichzeitig Autoritäten kritisieren und unterhalten. Margaret Mead etwa hat anhand des Beispiels eines jester dance in Samoa argumentiert, dass der Narr die Autoritäten paradoxerweise ehrt, indem er sie verspottet. 60 Die Überzeichnung dient hier weniger der Kritik, als vielmehr der Bestätigung bestehender sozialer Ordnungen. Dennoch eignen sich Clownsfiguren auch dazu, bestehende soziale Verhältnisse nicht nur zu parodieren, sondern auch zu kritisieren. Die sowjetische (bzw. russische) Zirkusforschung etwa hat die sozialkritische Rolle von Clowns im späten 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts hervorgehoben. Legendär sind die Nummern des russischen Clowns Anatolij L. Durov. Anstatt wilder Tiere dressierte Durov Haustiere: Hunde, Hähne, Ziegen und Schweine. Auf Gastspiel in Berlin legte er eine Pickelhaube in die Manege und fragte sein Schwein: „Was willst Du?“, woraufhin er das Schwein
56 Vgl.: Žene & Cirkus. Hg. von Ivan Kralj. Zagreb 2011. Zum Theater siehe auch: Susan Glenn: Female Spectacle. The Theatrical Roots of Modern Feminism. Cambridge, Mass. 2000. 57 C. Todd White: The Anthropology of Fools. In: Fools and Jesters in Literature, Art, and History. A Bio-Bibliographical Sourcebook. Hg. von Vicki K. Janik. Westport Conn. 1998, S. 33–40. 58 Beatrice K. Otto: Fools are Everywhere. The Court Jester around the World. Chicago u.a 2001, S. xvii 59 Ebd., S. xvii. 60 Margaret Mead: Coming of Age in Samoa. A Psychological Study of Primitive Youth for Western Civilisation. New York 2016, S. 115.
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sprechen ließ „Ich Will Helm“. Das Schwein apportierte darauf Wilhelms Pickelhaube und Durov landete im Arrest. In Odessa malte er ein Schwein grün an, was unmittelbar als Anspielung auf den antisemitischen Gouverneur der Stadt verstanden wurde, der mit Nachnamen „Zelenyj“ (Grün) hieß. Durov nutzte seine Nummern also, um auf politische Missstände und Diskriminierung aufmerksam zu machen. 61 Clowns im Zirkus des 19. Jahrhunderts waren überwiegend weiße Männer. Nicht selten schlüpften diese weißen Männer jedoch in Frauenrollen, etwa in Parodien auf das Eheleben (z.B. die Gebrüder Konstantin in Russland). Mit dem cross-dressing (auch „drag act“) konnten Formen von Weiblichkeit durch das Prisma des „wissenden“ Mannes parodiert werden. 62 Auch rassistische Vorstellungen konnten hinterfragt werden, etwa wenn weiße Männer in den so genannten „minstrel shows“ ihre Gesichter schwarz anmalten (blackface). Die frühen „minstrel shows“ nutzten rassistische Klischees, um auf soziale Missstände unter Hafenarbeitern in den USA aufmerksam zu machen. Die Hafenarbeiter wurden als Schwarze gezeigt, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie wie Schwarze behandelt wurden.63 Obwohl insbesondere die frühen minstrel-shows damit als implizite Kritik am Umgang mit Afroamerikanern gelesen werden können, reproduzierten sie doch gleichzeitig Stereotype über Schwarze als faul, abergläubisch, schwer von Begriff und unbekümmert. 64 Für den britischen Fall hat Michael Pickering argumentiert, dass minstrels durch ihre Maske eine Antithese des Englischen repräsentierten; die Engländer des viktorianischen Zeitalters konnten sich das Fremde so aus strategischer Distanz aneignen. 65 Unmissverständlich war dabei, dass Clowns und clownsähnliche Charaktere unterschiedliche Rollen spielten, also Schauspieler waren, die Differenzen lediglich thematisierten, nicht aber selbst verkörperten. Die Darstellung basierte also unter anderem auf der wahrgenommenen Differenz zwischen dem weißen Mann und seiner Rolle. Umso interessanter sind diejenigen Fälle, bei denen die sonst nur repräsentierten anderen auch selbst auftreten konnten, also etwa Afroamerikaner oder Frauen in Clownsrollen. Bekannt ist etwa, dass in den minstrel shows ab den 1870er Jahren Schwarze immer häufiger Teil der show waren.66 Besonders gut erforscht ist das Beispiel Rafael Padillas, alias „Chocolat“, eines schwarzen Clowns im Paris des fin de siècle. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Auftritte Chocolats eine kulturelle Sensation und zwar nicht nur aufgrund der Hautfarbe, sondern auch, weil er als 61 Makarov: Iskusstvo cirka v Rossii, S. 255–269. 62 Vgl.: Andrew Stott: Comedy. New York 2005, S. 139. 63 Lewis: From Traveling Show to Vaudeville, S. 67. 64 Robert Nowatzki: Representing African Americans in Transatlantic Abolitionism and Blackface Minstrelsy. Baton Rouge 2010. 65 Michael Pickering: The Blackface Clown. In: Black Victorians/ Black Victoriana. Hg. von Gretchen Gerzina. New Brunswick 2003, S. 159–174, hier: S. 160. 66 Lewis: From Traveling Show to Vaudeville, S. 68.
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hervorragender Clown galt. Wie Gérard Noiriel gezeigt hat, war der ursprünglich aus Kuba stammende Padilla nicht lediglich Opfer, sondern auch Herr der eigenen Rolle. Dies ist sicher auch einer der Gründe dafür, dass Chocolat zum Anlass von Debatten über Rassismus und Kolonialismus innerhalb des liberalen französischen Bürgertums wurde. Padilla entkam den Klischeevorstellungen jedoch nie gänzlich. Chocolat, so Noiriel, verinnerlichte das Stereotyp vom verschreckten Schwarzen so perfekt, dass Journalisten von „poses à la Chocolat“ sprachen, um eine vor Angst zitternde Person zu bezeichnen.67 Auf Plakaten und in der bildenden Kunst wurden immer wieder die vermeintlich affenähnlichen Züge Padillas hervorgehoben. In Kombination mit dem Weißclown Foottit spielte Padilla einen einfältigen Schwarzen, wobei die Rollenverteilung letztlich derjenigen zwischen Kolonialherren und Kolonisiertem entsprach. 68 Auch als Clown, so Noiriel, sei Chocolat also nie gänzlich der von außen zugewiesenen sozialen Rolle entkommen. Weniger als über schwarze Clowns und minstrels ist über Frauen in Clownsrollen bekannt. Eine Clownin, die es zu ähnlicher Berühmtheit gebracht hätte wie Chocolat, scheint es nicht gegeben zu haben. Zwar war und ist die Differenz der Geschlechter eines der komödiantischen Basisthemen. Dennoch waren es überwiegend Männer, die in die Rolle des anderen Geschlechts schlüpften. Die wenigen Clowninnen, die sich doch auf die Bühne wagten, galten oft als unlustig. Einem Journalisten aus Boston zufolge war das einzig Lustige an dem Auftritt einer Clownin bei Barnums in den USA der Versuch einer Frau, lustig zu sein. „She didn’t try hard enough or tried too hard, or tried wrong, and she was not a bit funny.“ 69 Bevor allerdings weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden, ist auch noch Grundlagenforschung zu leisten. Unklar ist etwa, wie viele weibliche Clowns es gab, wann und wo sie auftraten und welche Rollen sie spielten. Im Falle von britischen music halls Anfang des 20. Jahrhunderts sind jedenfalls David Huxley und David James auf weitaus mehr Komödiantinnen gestoßen als erwartet. 70 Auch im amerikanischen vaudeville waren männlich-weibliche Clowns-Teams populär. 71 Weiterhin gab es weibliche „blackfaces“ in amerikanischen variety shows.72 Nicht zuletzt zeigte etwa Barnum & Bailey ab 1895/96 eine eigene Arena mit „neuen Frauen“ („New Women“), in der nur 67 Noiriel: Chocolat, clown nègre, S. 80. 68 Ebd., S. 247–258. 69 Zit. in Childress: Life Beyond the Big Top, S. 187. 70 David Huxley, James David: No Other Excuse. Race, Class and Gender in British Music Hall Comedic Performance, 1914–1949. In: Comedy Studies 3/1 (2012), S. 17–28; David Huxley, James David: Women Used to be Funny. Music Hall and the Threat of Cinema, 1911–49. In: Early Popular Visual Culture 11/3 (2013), S. 191–204. 71 Shirley Staples: Male-Female Comedy Teams in American Vaudeville. 1865 – 1932. Ann Arbor, Mich. 1984. 72 Glenn: Female Spectacle, S. 49–56.
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Frauen, d.h. auch Clowninnen, auftraten.73 Der genaue Ablauf der Clownsnummern in diesem Kontext ist bislang jedoch kaum erforscht. Aus der Perspektive der Diversitätsforschung stellt sich nicht zuletzt die Frage, welche Rolle speziell der Zirkus des 19. Jahrhunderts bei der Verfestigung männlicher Dominanz in humoristischen Darbietungen spielte. Die oft anzutreffende Annahme einer anthropologischen Konstante hilft hier aus historischer Sicht nicht weiter. Wahrscheinlich scheint, dass Clowns vor allem deshalb weiße Männer sind, weil sie in ihren Rollen gesellschaftliche Machtverhältnisse parodieren. Solange politische und gesellschaftliche Autorität vor allem durch weiße Männer ausgeübt wird, bleibt demzufolge auch die Rolle des Clowns weiß und männlich besetzt. Die Frau als Komödiantin oder der Schwarze als Clown wären so gesehen eine Gefahr für die etablierte Ordnung.74 Die Parodie des anderen Geschlechts, die Reproduktion von rassistischen Stereotypen, aber auch die Kritik an sozialen Missständen blieb und bleibt bis heute, so könnte argumentiert werden, dementsprechend meist (weißen) Männern vorbehalten.
73 Adams et al.: Women of the American Circus, 1880–1940, S. 15. 74 Zum Schweigen der Subalternen vgl.: Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien 2011. Allgemein zu Frauen als Comedians siehe auch: Morwenna Banks, Amanda Swift: The Joke‘s on us. Women in Comedy from Music Hall to the Present Day. London 1987.
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FAZIT Zirkus, so der sowjetische Zirkushistoriker Evgenij Kuznecov, ist „Einheit in Vielfalt”. Er fügt Darbietungen, die sich in Entstehung, Form, Charakter und Inhalt unterscheiden, zu einem Ganzen zusammen: Akrobatik und Clownerie, Reitkunst und Tierdressur, technische Attraktionen und Pantomimen. Doch nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt der Darbietungen ist vielfältig: Zirkusunternehmen stellen die Vielfalt des Fremden, Ungewöhnlichen, Außeralltäglichen oder Furchteinflößenden zur Schau. Sie bringen Ordnung in historische Konstellationen von Diversität, zelebrieren Vielfalt einerseits, hegen sie andererseits aber ein. In dieser Hinsicht sind Zirkusse Paralleluniversen zu einer Umwelt, in der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht oder Klasse zum Alltag gehört. Zirkusunternehmen stellten Vielfalt jedoch nicht nur zur Schau, sondern verkauften diese. Dabei ging es nicht notwendigerweise im Sinne der „modernen” Vorstellung von Diversität um die Vielfalt von Ethnien, Klassen oder Geschlechtern, sondern vielmehr um die Vielfalt individueller Fähigkeiten, Fertigkeiten und Praktiken. Die Faszination des Zirkus bestand in der Zusammenschau von Individuen mit oft extremen Begabungen, erlernten Kunststücken, gelegentlich aber auch außergewöhnlichen Verkleidungen und furchteinflößenden Physiognomien. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Zirkusse zu kommerziellen Unternehmen, die alles aufsogen, was geeignet schien, das Publikum an die Kassen zu locken. Im Zirkus wurden Differenzen also gleichermaßen zelebriert und kommerzialisiert. Zirkusunternehmen reagieren auf das Publikumsinteresse. Dabei ist für das 19. Jahrhundert eine zunehmende Vielfalt der Darbietungen festzustellen: Stand zu Beginn noch die Reitakrobatik im Mittelpunkt, spielten im Laufe der Zeit die Clownskomödien, die Dressur wilder Tiere, die Hochseilakrobatik sowie nicht zuletzt auch Völkerschauen und Freakshows eine immer wichtigere Rolle. Bestand die Zirkustruppe zu Beginn des Jahrhunderts in Europa und den USA überwiegend aus Männern, so kamen im Laufe der Zeit immer mehr Frauen hinzu. Auch als ‚fremd‘ wahrgenommene, vermeintlich ‚primitive‘ oder aus rassistischer Sicht ‚unterlegene‘ Menschen spielten eine durchaus eigenständige Rolle und ließen sich nicht immer in die für sie vorgesehenen Schemata einfügen. Hier lediglich von einer „Demokratisierung“ der Zirkuskunst zu sprechen, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Vielmehr ging es um eine Diversifizierung, die oft mit einer (Selbst-)Disziplinierung einherging. So sehr die Unternehmen auch mit dem Image der Unberechenbarkeit, Freiheit und Fremdheit spielten, waren sie doch auch um eine ständige Anpassung an bürgerliche Normen bemüht. Sie bedienten also auch Erwartungen des Publikums an das Fremde, das es zu kontrollieren galt.
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Auch wenn der Autor des vorliegenden Aufsatzes darum bemüht war, eine transnationale Perspektive auf die Geschichte des Zirkus einzunehmen, so ist doch auch noch viel Grundlagenarbeit zu leisten. Bislang gibt es nur wenige kritische Arbeiten zu einzelnen Zirkusunternehmen. Auch zu einzelnen Themenbereichen wie der Geschlechtergeschichte, der Körpergeschichte oder auch allgemeiner zum Umgang mit kultureller Diversität innerhalb der Zirkustruppen gibt es bislang kaum Forschungen. Zu fragen wäre auch danach, inwieweit sich im Zirkus die Entstehung moderner Kategorien zur Beschreibung von Diversität – also etwa Ethnizität, „disability“, „gender“ usw. – im 19. und 20. Jahrhundert nachvollziehen lässt. Studien mit explizit vergleichender Ausrichtung erscheinen vielversprechend, auch um Unterschiede und Gemeinsamkeiten genauer herauszuarbeiten, als es im Rahmen dieses Aufsatzes möglich war. Obwohl es sich bei Zirkussen um transnationale, hochmobile Unternehmen handelte, bleibt die Forschung doch oft in einzelnen nationalen Kontexten verhaftet. Nicht zuletzt eine Globalgeschichte des Zirkus als Ort der Diversität bleibt deshalb ein Desiderat der Forschung.
Diversität in Berufs- und Ständebüchern um 1700 Dirk Niefanger
Schon ein erster Blick in einschlägige Berufs- und Ständebücher zeigt, dass die Vorstellungen von handwerklicher bzw. beruflicher Tätigkeit und Aufgabe in der Frühen Neuzeit eine andere war als heute. So sind diese Bücher in der Regel nach einer vorgeblich göttlich gewollten und hoheitlich verbrieften Ordnung angelegt und legen schon deshalb entsprechende Diversitätsvorstellungen der Zeit offen, die meist essentiell konzeptualisiert sind. Unterschiede zwischen Handwerken und Berufen werden gezeigt und auf verschiedenen Ebenen (ständisch, religiös, zünftig, tätigkeitsspezifisch usw.) begründet; einige Berufspositionen werden – etwa als ‚Berufung‘ – herausgehoben, andere Tätigkeitsfelder der Bevölkerung werden aus dem Ständesystem ausgegrenzt (Totengräber, Schauspieler, Hausierer usw.) oder abgewertet und deshalb in den Büchern entsprechend dargestellt oder verschwiegen. Prominente Beispiele der hier untersuchten Quellen im deutschen Sprachraum sind: Eygentliche Beschreibung Aller Stände auff Erden (1568) von Hans Sachs, Thomas Garzonis Piazza Universale in deutscher Übersetzung (1619), Timotheus Polusʼ Lustiger Schawplatz, da allerley Personen, Aempter, Stände, Künste, Händel, Gewerbe und Handwercke […] bey einander sind (1651), Christoph Weigels Abbildung und Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände (1698) und Abraham a Sancta Claras Etwas für Alle (1699) mit zwei weiteren Bänden (1711), deren Verfasserschaft umstritten ist. Nun sind Diversitätsvorstellungen im Berufsfeld an sich nicht sonderlich aufregend; sie gibt es heute wie in der Frühen Neuzeit, wenn auch auf andere Weise. Aufschlussreich für die Konstruktion sozialer Differenz werden sie, wenn es zu historisch distinkten intersektionalen1 Überschneidungen kommt, wo Berufs- oder Handwerks1
Vgl. etwa Andrea Griesebner, Susanne Hehenberger: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaft? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven auf alte Fragen. Hg. von Vera Kallenberg, Jennifer Meyer und Johanna M. Müller. Wiesbaden 2013, S. 105–124; Falko Schnicke: Terminologie, Erkenntnisinteresse,
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tätigkeit auf religiöse, ethnische, medizinische, habituelle und genderspezifische Argumentationen bezogen werden, und etwa Stereotypen oder Vorstellungen angeblicher anthropologischer Unterschiedlichkeit anzeigen bzw. verstärken. Mein Anliegen ist es, Formen der Intersektionalität vor diesem Hintergrund exemplarisch anhand einiger Berufs- und Ständebücher um 1700, also in der neuzeitlichen Konstituierungsphase zwischen ‚Barock‘ und ‚Aufklärung‘,2 anzuzeigen. Berufs- und Ständebücher ermöglichen eine Mustererkennung auf unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern und Verhaltensweisen, die durch Differenzwahrnehmungen auf unterschiedlichen Ebenen die eigene Position im sozialen Feld stärken. Sie versuchen insofern nicht nur einen gesellschaftlich differenzierenden Überblick über das Berufsleben,3 Handwerkstraditionen und den konkreten Broterwerb der Bevölkerung anhand typologisierender, lexikonartiger und meist mit umfangreichen Quellenangaben versehener Einzelartikel zu erstellen, sondern tragen darüber hinaus insgesamt zu sozialer Stabilität bei. Zwar soll möglichst umfassend berichtet werden, doch je nach Interesse der Bücher erscheinen die Artikel unterschiedlich fokussiert. So rücken gezielt auch theologische oder medizinische Fragen ins Zentrum der Darstellungen. Die einzelnen Artikel eines Kompendiums sind meist analog aufgebaut, zum Teil bebildert und eröffnen so oft einen recht genauen und vergleichenden Einblick in die konkreten Handwerke, Arbeitsabläufe, Tätigkeiten, Dienstleistungen, Gefahren, den Nutzen und die Geschichte des Handwerks bzw. der beruflichen Tätigkeit und diskutieren auch unterschiedliche berufsethische oder religiöse Vorgaben, die nicht selten mit allgemeingültigem Anspruch ausgedeutet werden. Für die ReihenMethode und Kategorien – Grundfragen intersektionaler Forschung. In: Intersektionalität und Narratologie. Methoden – Konzepte – Analysen. Hg. von Christian Klein und Falko Schnicke. Trier 2014, S. 1–33; Birgit Emich: Intersektionalität statt Konkurrenz oder: Die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von Amt, Stand und Patronage. In: Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Hg. von Hillard von Thiessen. Berlin 2015, S. 83–100 und Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional. Hg. von Michael Mecklenburg und Susanne Schul. Göttingen 2017. 2
Vgl. Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche. Tübingen 2004; Um 1700: Die Formierung der europäischen Aufklärung. Zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung. Hg. von Daniel Fulda und Jörn Steigerwald. Berlin, Boston 2016.
3
Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Gut vor Ehre oder Ehre vor Gut? Zur sozialen Distinktion zwischen Adels- und Kaufmannsstand in der Ständeliteratur der Frühen Neuzeit. In: Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. Hg. von Johannes Burkhardt. Berlin 1996, S. 31–45; Thomas Sokoll: Art. Beruf. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger u. a., Bd. 2. Stuttgart, Weimar 2005, S. 43–50; Norbert H. Ott: Art. Ständeliteratur. In: Lexikon des Mittelalters. Hg. von Robert-Henri Bautier u.a. München 1997, Tl. 8, Sp. 54–55.
Diversität in Berufs- und Ständebüchern | 145
folge und auch für die Auswahl der Artikel erscheint in der Regel die von Gott als gegeben vorausgesetzte Ständeordnung maßgebend; erschlossen sind die Bücher zusätzlich fast immer durch ein alphabethisches Register der behandelten Berufe, sodass gewisser Maßen neben der Ständeordnung auch das kontingente Nebeneinander von Berufen in einer Gesellschaft abgebildet wird. Das ausnahmsweise alphabethisch und nicht ständisch geordnete Berufsbuch von Timotheus Polus (1599–1642) – Lustiger Schawplatz, da allerley Personen, Aempter, Stände, Künste, Händel, Gewerbe und Handwercke […] bey einander sind (1651) – bringt als zweiten Artikel, nach etwas absonderlichen Ausführungen zu „Abgöttische[n] Leuten oder Götzendiener[n]“4 eine Beschreibung seiner eigenen Zunft, den Akademikern, insbesondere auch jenen die – wie er – an einem „Lycéum“5 tätig sind. Der Sachse Polus bekleidete in Tallin nämlich das Amt eines Gymnasialprofessors für Poetik und betätigte sich zum Teil innerhalb einer literarischen Gemeinschaft als Gelegenheitsdichter in lateinischer, deutscher und estnischer Sprache. Er hatte Kontakte zu bekannten Barockdichtern wie Martin Opitz und Paul Fleming und soll geholfen haben, das Estnische zur Literatursprache zu reformieren. Der Akademiker-Artikel, der mit den Artikeln zu „Hochschulen“6 und Gelehrten korrespondiert, gibt Polus Anlass, die von Gustav II. Adolph gegründete Universität von Dorpat / Tartu (Academia Gustaviana) herauszuheben und seine eigene Berufstätigkeit vorteilhaft zu präsentieren: „Die Academici / welche fleissig studiren vnd ein Erbahr Leben führen / werden billich geliebet und hochgehalten.“7 Zu diesem Lob passt folgende Anekdote aus dem Artikel über ‚Gelehrte‘: Philippus König in Macedonia fragete ein mal / welches das gröste ding in der welt were: Darauff antwortete einer und sprach: Nichts ist höheres / nichts edleres und nichts grösseres oder würdigeres als ein gelehrter Mann: Denn derselbige herrschet gleichsam über den Himmel und das Gestirn.8
Fragt man einen Gelehrten nach den Gelehrten wird er diese vermutlich meist loben. Doch das hier vorgebrachte Lob wirkt ambivalent. Denn die Pointe der Anekdote verbirgt sich im ‚jenseitigen‘ und daher nicht vollständig wissenschaftlich erschließbaren Herrschaftsgebiet des gelehrten Mannes im offensichtlichen Gegensatz zum beherrschbaren Land des militärisch ambitionierten makedonischen ‚Hegemon‘. Der 4
Timotheus Polus: Lustiger Schawplatz, da allerley Personen, Aempter, Stände, Künste, Händel, Gewerbe und Handwercke […] bey einander sind. Lübeck 1651, S. 8.
5
Ebd., S. 8.
6
Ebd., S. 11 und 201.
7
Ebd., S. 11.
8
Ebd., S. 165.
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geistige Hegemonialanspruch des Gelehrten entspricht natürlich kaum seiner tatsächlich marginalen Bedeutung auf Erden, konkret im antiken Makedonien. Kontrastiv zur Stellung der Akademiker erscheinen bei Polus die Berufe, die anstrengende körperliche Arbeit erfordern. Von der sozialen Härte des frühneuzeitlichen Ständesystems gibt uns etwa der wenige Seiten später folgende Artikel „Arbeitskerl. Tagelöhner“ Auskunft. Die Arbeitskerl oder Tagelöhner / ob sie zwar geringe gehalten werden / verdienen sie doch auch jhr Lob / mit jhren guten und bequemen Diensten / die sie vmb geringe Belohnung einem jeden gerne leisten. Sind gemeiniglich einfältige Leute / vnd werden in den Küffen 9 geboren / in welchen sie als wilde Vögelein erzogen vnd hernach ausgelassen werden / auff daß sie einem jeglichen in fürfallenden Geschäfften wie die Esel dienen. 10
Von einer naturrechtlichen Gleichstellung kann 1651 noch kaum eine Rede sein.11 Polus unterscheidet daher deutlich zwischen Menschen, die geboren wurden zu dienen und solchen, die befugt sind, diese Dienste anzuweisen. Die Taglöhner werden als nützlich, aber von Geburt an und von der Erstsozialisation her als einfältig und uneigenständig beschrieben. Eine gewisse Einschränkung der Einschätzung wird in dem Epitheton ‚gemeiniglich‘ deutlich, das immerhin nahe legt, es gäbe auch ausnahmsweise nicht „einfältige Leute“ unter den „Arbeitskerl[en]“ und „Tagelöhner[n]“. Eine etwas skurrile Kompetenz diese Berufsgruppe im hier diskutierten Zusammenhang sei noch nachgetragen, die den meisten anderen Gruppen abgeht, wie Polus berichtet: Wenn du gut Bier kauffen wilt / so frage diese Gesellen vmb Rath: Denn sie wissen alle Gelegenheit in allen Bierhäusern vnd Kellern / vnd sagen jhre Meynung von jeglichen Biere / es sey frisch oder alt.12
Solche Berufscharakteristiken sind von stereotypen Gendervorstellungen geprägt, die auch heute nicht unbekannt sind. Soziale und geschlechertypische Vorbehalte – schlecht gebildete Männer konsumieren gerne Bier – verstärken sich dabei gegenseitig. Vermutlich dienen solche Stereotypen auch in der Frühneuzeit zu einem nicht geringen Grad der Unterhaltung des eher gebildeten Publikums, das sich dadurch gleichzeitig von Verhaltensweisen des ‚einfachen Volkes‘ absetzen kann. Diesen Effekt kennt man – freilich zugespitzt – von den Genrebildern der niederländischen 9
Küffe, Kufe = Trog, flacher Bottich, Kübel.
10 Polus: Lustiger Schawplatz, S. 28. 11 Vgl. aber Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999. 12 Polus: Lustiger Schawplatz, S. 28.
Diversität in Berufs- und Ständebüchern | 147
Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts (etwa bei Adriaen Brouwer: Wirtshausszene, 1624/25; Dorfszene mit Trinkern, 1631/35; Zechende Bauern in einem Gasthaus, o.J.; Trinkende und rauchende Bauern, 1635 usw.). Als typisch angesehene Handlungen, die innerhalb des Wertekanons der ökonomisch und ständisch besser gestellten Betrachter aber kritisch gesehen werden, sind in solchen Gemälden drastisch und mit symbolischem Impetus ausstaffiert. Zu den historisch bedeutsamsten Exempeln der Textsorte zählt mit Sicherheit Bernardino Ramazzinis stupendes Kompendium De Morbis Artificum von 1711, in Deutsch schon 1718 als Untersuchungen von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker in Leipzig erschienen. Es gilt heute als das erste Handbuch über Berufskrankheiten und schärft damit erstmals umfassend den Blick für arbeitsmedizinische Fragen. Geordnet ist De Morbis Artificum wie die anderen Berufsbücher nach einzelnen Berufen, Handwerken und Ständen. Die eigene wissenschaftliche Tätigkeit legt es nahe, einmal den Artikel „Von den Kranckheiten der Gelehrten“ aufzuschlagen; 13 hier scheint von vornherein fest zu stehen: Allein das Studieren ziehet auch seinen Liebhabern viel und grosses Ubel häuffig über den Hals / ob es schon grosses Reichthum und Ehre zu wege bringet.14
Einige der Übel teilen sie mit anderen Berufen; etwa jene, die durch das übermäßige Sitzen zustande kommen. Andere erscheinen Ramazzini spezifisch: So seien „alle Gelehrte durchgehends mit Schwachheit des Magens angefochten.“15 Die Begründung hierfür beruht auf humoralphysiologischen Vorstellungen, die heute nicht mehr ganz einleuchten: Denn indem das Gehirne das mit grosser Begierde erlernte verdauet / kann der Magen die zu sich genommene Speisen nicht anders als übel verdauen / dieweil nemlich die Geisterlein zerstreuet / und beym Verstande beschäfftiget sind / oder nicht so gar häuffig / als es wohl seyn solte / wegen der grossen Aufmercksamkeit in höhern Studiis der nervichten Zäferlein und aller Nerven zu dem Magen gebracht werden. 16
13 Bernardino Ramazzini: De Morbis Artificum […]. Wien 1713; zitiert wird die deutsche Ausgabe: Untersuchungen von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker. Leipzig 1718, hier S. 395. 14 Ebd., S. 397. 15 Ebd., S. 398. 16 Ebd., S. 399.
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‚Nervichte Zäferlein‘ sind Fasern, die bestimmte Impulse – „Geisterlein“ – durch den Körper senden.17 Die Verdauungsstörungen der Gelehrten würden dazu führen, sagt Ramazzini, dass sie „gantz schlanck und dünne“ würden.18 Noch mehr: Dahero entstehen demnach Rohigkeiten / sehr viel Winde / bleiche Farbe und Abnehmen des gantzen Leibes / wenn die Glieder ihres Nahrungs=Safftes beraubet sind / mit einem Worte / alle Schädlichkeit / welche auff übles Dauen erfolget.19
Der Beruf zeichnet sich insofern recht heftig in den Körper des Gelehrten als unterscheidbares Zeichen ein. Nach Bernardino Ramazzini kann man physiognomisch – mehr oder weniger eindeutig – erkennen, welchen Beruf er ausübt. Er glaubt, dass Gelehrte mit der Zeit „saturninische und melancholische Köpffe“ 20 werden und sich das dadurch verändernde Verhältnis der Körperflüssigkeiten auf ihre Erscheinung, ihren Habitus und ihre Befindlichkeit auswirken; hinzu komme noch, dass durch die gebückte Arbeitshaltung der „natürliche Bau der Eingeweide zerrüttet wird“ 21 und durch die Anstrengung des Lesens sich die Augen rapide verschlechtern und vieles mehr. [U]nd solchergestalt siehet man / daß die rechten Gelehrten hager von Leibe / schwartzgelbe / bleyfarbig und mürrisch aussehen / auch allzeit der Einsamkeit begierig sind. 22
So zeigt sich eine gewiss stereotype Vorstellung des Gelehrten in der Frühen Neuzeit. Die Adjektivverwendung gerade im zusammenfassenden letzten Zitat lässt vermuten, dass die Beschreibung auch verfasst wurde, um ‚curiöse‘ Interessen zu wecken. Die Verbindung von beruflicher Tätigkeit und körperlicher Erscheinung ist zwar wesentlich der arbeitsmedizinischen Intention des Berufsbuchs geschuldet, konstruiert aber weit über die medizinischen Interessen hinaus grundsätzliche und vor allem sichtbare Unterschiede zwischen Ständen und Berufen. In einem Fall betrifft dies sogar religiöse bzw. ethnische Differenzierungen, nämlich im Kapitel „Von den Kranckheiten der Juden“ (S. 307ff.). Ethnische, habituelle und berufsbedingte Sonderheiten, die hier konstatiert werden, bedingen ein besonders fatales medizinisches Brevier. 17 Vgl. Theodorus Andreas Hellwig: Der Curöse Patiente Oder Erörterung Derjenigen Sachen / welche ein Krancker offtmahls zu wissen begehret […]. Leipzig 1702, S. 123. 18 Ramazzini: Untersuchungen von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker, S. 399. 19 Ebd., S. 399. 20 Ebd., S. 400. 21 Ebd., S. 403. 22 Ebd., S. 401.
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Die Juden / denen kein Volck in der Welt zu vergleichen / als welche keine ständige Wohnung haben / und überall leben; die zugleich müßig und geschäfftig sind […] / werden nicht so wohl wegen des Geschlechts […] / oder wegen übler Nahrung / die sie genüssen/ als auch wegen der Handthierungen / die sie treiben / von unterschiedlichen Kranckheiten angefochten. 23
Die einzigartigen Juden24 – ihr Auserwähltsein wird hier antijudaistisch umgedreht – sind aufgrund ihrer anthropologischen Besonderheit, ihrer Ernährungsweise und ihrer beruflichen Tätigkeit besonders gefährdet.25 Trotz der unübersehbaren Stereotypen, die der Text an sehr vielen Stellen enthält, sind auch Differenzierungen und Richtigstellungen bemerkbar, die den Vorurteilen gegenüber den Juden ein wenig entgegenarbeiten – etwa wenn gesagt wird, der „Gestanck“ der Juden sei nicht angeboren, sondern habe ernährungsbedingte, soziale (zu enge Wohnungen, Armut) und medizinische Gründe. Dass mit den olfaktorischen Hinweisen herabsetzende Vorurteile gleichzeitig aufgefrischt werden, sei damit nicht bestritten. Bemerkenswert ist zudem, dass auf besondere berufsaffine Talente der Juden (wie das Nähen) verwiesen wird. Auch wenn manche Formulierungen verallgemeinernd wirken, differenziert der Text immer wieder zwischen armen Juden, die alle möglichen Krankheiten und ein ‚abscheuliches‘ Aussehen hätten, und reichen Juden, die nicht von den schlimmen Arbeits- und Wohnbedingungen betroffen seien. Letztere dienen als Nachweis falscher bzw. übereilter Urteile: Den Juden sei etwa nicht an sich der Aussatz angeboren, sondern dieser sei Folge beengter Lebensverhältnisse und Resultat von zu geringer Frischluft.26 Die Beschreibung der mannigfache Krankheiten hervorbringenden niedrigen, teils Ekel erregenden Arbeiten der jüdischen Unterschicht, die im Artikel in krassen Worten beschrieben werden, erzeugt auch bei Menschen, die selbst keinen leichten Beruf haben, vermutlich vor allem Bestürzung, dann eine gewisse Anteilnahme, vor allem aber das Bedürfnis, sich abzusetzen. Angesichts dieses Elends, wird der zeitgenössische Leser denken, geht es mir doch recht gut. Dass aus medizinischer Sicht hier Veränderungen herbeigeführt werden müssten, betont Ramazzini immerhin:
23 Ramazzini: Untersuchungen von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker, S. 307. 24 Zum Kontext vgl. Victoria Luise Gutsche: Zwischen Angrenzung und Annäherung. Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2014. 25 Vgl. hierzu auch: Johann Jakob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten. Vorstellende Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten […] mit denen in alle IV. Theile der Welt […] zerstreueten Juden zugetragen. […]. Bd. 1. Frankfurt a.M./Leipzig 1714, S. 350. Den Hinweis verdanke ich Victoria Gutsche. 26 Vgl. Ramazzini: Untersuchungen von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker, S. 309f.
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Derohalben muß man auch zusehn / wie diesen Leuten möge hülffliche Hand geboten werden / damit sie nicht so viel Ubels von ihrer Handthierung ausstehen müssen. 27
Solche Sätze wirken – für die Frühneuzeit – nachgerade human. Christoph Weigels Abbildung und Beschreibung der gemein-nützlichen Hauptstände (1698),28 das bekannteste deutschsprachige Exempel der Textsorte, gilt bis heute als wichtige Quelle für Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der Frühen Neuzeit.29 Gleich nach seinem Erscheinen wird es in Wilhelm Ernst Tentzels Monatlichen Unterredungen einiger guten Freunde positiv besprochen und empfohlen.30 Der Essener Historiker Paul Münch konstatiert, das Buch gebe von einer „gewandelten Situation“ der Berufsverhältnisse im 17. Jahrhundert ein „Zeugnis“, insofern als den handwerklichen Spezialberufen und dem produzierenden Gewerbe eine gegenüber dem 15. und 16. Jahrhundert zunehmend größere Bedeutung in der Gesellschaft zugemessen werde.31 Ein Beruf hat nach Weigel nicht nur die Funktion einer individuellen Versorgung mit Lebensgütern, sondern erfüllt darüber hinaus Aufgaben von gesellschaftlicher Bedeutung. Diese begründen sich aus einer als göttlich und insofern unverrückbar angesehenen Ständeordnung. Die Diversität der menschlichen Gattung wird explizit gleich zu Anfang der Vorrede hervorgehoben. Der Schöpfer „habe die Menschen nicht auf einerley Art geschaffen“, sondern – so die genutzte Allegorie – durch die Beimischung unterschiedlicher Edelmetalle in ihrer Wertigkeit und Nützlichkeit unterschieden. Insbesondere die „dreyerley Haupt=Stände“ seien zu unterscheiden. Sie differenzieren sich also nicht nur aus ihren Tätigkeiten oder der sozialen Verantwortung. Vielmehr habe Gott
27 Ramazzini: Untersuchungen von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker, S. 313. 28 Zum Folgenden vgl. meinen Beitrag: Vaganten in Berufs- und Ständebüchern der Frühen Neuzeit. In: Lose Leute – Figuren, Schauplätze und Künste des Vaganten in der Frühen Neuzeit. Hg. von Jörg Wesche, Julia Amslinger und Franz Fromholzer. Paderborn [erscheint 2018]. 29 Christoph Weigel: Abbildung und Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände […]. Regensburg 1698. Vgl. auch Michael Bauer: Einführung. In: Christoph Weigel: Abbildung und Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Regensburg 1698 […]. Nördlingen 1987, S. 5–25. 30 Vgl. Wilhelm Ernst Tentzel (Hg.): Monatliche Unterredungen einiger guten Freunde von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten. Allen Liebhabern der Curiositäten zur Ergetzlichkeit und Nachsinnen herausgegeben. Leipzig 1698. 31 Paul Münch: Lebensformen der Frühen Neuzeit. Berlin 1998, S. 63.
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selbst im Schöpfungsakt den „Regier= Lehr und Nehr=Stand“32 differenziert. Daher sei es nicht statthaft, „daß jener sich über diesen erhebe noch dieser jenen ihren Vorzug mißgönne / sondern vielmehr ein jeder mit seinem Stand sich vergnüge.“ 33 Die göttliche Ordnung manifestiert, im Sinne Weigels, die Diversität menschlicher Tätigkeit als anthropologische Konstante. Als Ziel beruflicher Tätigkeit erscheint daher nicht die persönliche Karriere, der Aufstieg in immer bessere berufliche Positionen oder eine damit einhergehende Verbesserung des sozialen Ansehens, sondern die möglichst angemessene und vollkommene Ausübung der durch Gott zugewiesenen Standes- und Berufstätigkeit. Für unser Thema erscheint der Artikel über den Totengräber aufschlussreich, da er einen Ausblick auf die Aufhebung der göttlichen Ständeordnung auf Erden anzeigt. Er findet sich ganz am Ende des Buches, ausgelagert in einer Sonderabteilung am Rande des Ständesystems, die „von denen Allen / in allen Ständen / die letzte Ehre erweisenden I. Leichenbitter und II. Todtengräber“ handelt.34 Auch wenn sich im Grunde alle Berufe in irgendeiner Weise auf alle Stände auswirken können, ist beim Totengräber – anders als in den anderen Abteilungen – der Wirkungsbereich offensiv markiert. Hier geht es um Tätigkeiten, die ausdrücklich allen Ständen zukommen, offenbar in bestimmten Aspekten in gleicher Weise. Zuerst einmal betont Weigel die Unterschiede menschlicher Bestattung, erstens in Bezug auf die Liquidität der Auftraggeber – vom ‚gemeinen Sandgrab‘35 bis zu luxuriösen Eisenkonstruktionen – und zweitens in ethnischer Hinsicht. Überraschenderweise betont Weigel die Rationalität moderner mitteleuropäischer Bestattung, die er von älteren und regional entfernteren Riten absetzt. Ethnisch-religiöse Abgrenzungen überlagern hier die Konzentration auf den zu beschreibenden Beruf des Totengräbers: Sehr wunderlich sind theils Völcker mit den entseelten Cörpern ihrer abgelebten Landsleute und Anverwandten umbgegangen / daß man sich billig darüber verwundern muß / wie mit einer gesunden Vernunfft begabte Menschen auf solche aller Vernunfft zu wider lauffende Gedancken und Gebräuche gerathen / und noch dabey sich einbilden können / daran sehr wohl und klug zu thun.36
Es folgt eine numeratio dieser curiösen Gebräuche. Im Sinne des aufkommenden Naturrechts um 1700 argumentiert Weigel, alle Menschen seien im Prinzip 32 Weigel: Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände, [Vorrede an den Leser], Bl. 1r. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 665. 35 Ebd., S. 672. 36 Ebd., S. 665.
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gleichermaßen vernunftbegabt; eine solche frühaufklärerische Position ist am Ende des 17. Jahrhunderts zwar nicht überraschend,37 in diesem argumentativen Kontext aber ungewöhnlich. Selbst die ‚primitiven Völker‘ seien mit Vernunft ausgestattet, obwohl sich deren scheinbare Unvernunft in absonderlichen Begräbnisriten zeigen würden. Die Vielfalt unterschiedlicher ethnischer Bestattungen wertet Weigel deutlich negativ; von aufgeklärter Toleranz kann hier keine Rede sein. Die Abwehr des Fremden erscheint unübersehbar, auch wenn als Argument zuerst die Vernunft und später christliche Dogmatik herhalten muss: Sinnvoll wäre es – so Weigel und das müsse doch jeder einsehen – die Menschen, da sie aus Erde geschaffen seien, auch in Erde zu begraben.38 Erwartbar ist am Ende der Hinweis auf die Aufhebung ständischer Ordnung im Tode, die trotz unterschiedlicher Begräbnisriten und sozial differenzierender Grablegung unumstößlich ist. Die göttliche Ständeordnung wird obsolet, wenn der „Todtengraber“ seine Arbeit verrichtet hat und Gott seine Schäfchen zu sich ruft. Die VanitasAllegorisierung des Titelkupfers gibt Weigel am Ende des Artikels Anlass zu eschatologischer Reflexion in hamletscher Manier. Damit setzt er auch den Schlussstein seines Buches. Zu Anfang des Kapitels finden sich folgende Verse unter „Der Todtengräber“: Wer Lebens=Klugheit lernen will, der stehe bey den Todten still und schaue, wie das Spiel sich wende. Was saget dann der Staub und Sand! Das Wol und Weh hangt an dem Ende. 39
37 Zum Kontext vgl. Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht und Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktische Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001. 38 Vgl. Weigel: Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände, S. 667. 39 Ebd., S. nach 672.
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Abb. 1: Christoph Weigel: Abbildung und Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände […]. Regensburg 1698, nach S. 672. Die Störche im Hintergrund des Bildes und das Mädchen unter Baum deuten den Lebenskreislauf an, der sich mit dem Begräbnis und dem Verräumen der Totenschädel schließt. Der Tätigkeitsort des Totengräbers erscheint heterotopisch außerhalb der Siedlung.
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Indeme ich aber die die Abbildung und Kupfer=Figur des Todtengrabers in diesem Werck ansehe / finde ich / daß er einen Todtenkopf in der Hand hält / und selbigen sehr wohl betrachtet / zweiffels frey zu sehen / ob daran erkänntlich seye / von was vor einen Stand er gewesen? anzuzeigen / daß wir im Tod alle gleich / und gewißlich Eitelkeit seye / wann wir uns um die nichtige Kappe des Ehrgeitzes reißen.40
Am Ende heißt es, „der Tod“ mache „unter allen Ständen die beste Gleichheit“ und enthöbe uns, darüber zu rechten, welcher Stand oder Beruf der wichtigere sei. 41 Bemerkenswert ist der Hinweis, die Gleichheit im Tode mache den Ehrgeiz auf Erden sinnlos. Nun kann man das als Trost lesen, mit dem das Leiden an der Diversität gemildert werden soll, oder man kann es als Warnung sehen im beruflichen Erfolg einen Vorteil im Eigentlichen, nämlich dem Leben nach dem Tode, zu sehen. Auch dann hat der Hinweis auf die Gleichheit nach dem Tode eine stabilisierende oder beruhigende Funktion bei der Darstellung von Diversität. Nicht verschwiegen werden soll, welche Berufe oder Erwerbstätigkeiten erst gar nicht in Weigels Kompendium aufgenommen wurden, obwohl entsprechende Kupfer, Lemmata und Epigramme schon vorlagen. Zu nennen sind etwa die vaganten Berufe: Komödianten, Artisten, Gaukler oder Seiltänzer, solche Menschengruppen, die aus persönlicher Schuld oder aus Unglück aus dem ehrlichen Berufsleben ausgeschieden sind, wie die Zuchthäusler, die Bettler oder Sklaven, offensichtliche berufliche Nebentätigkeiten, wie die des Poeten, Spielers oder Voglers, Berufe mit unlauteren Absichten wie der Taschenspieler, der Beutelschneider, „Alchemist oder Goldmacher“ sowie die „Wahrsager und Zigeiner“42 und schließlich auch Spezialberufe, an denen die Gesellschaft nicht sonderlich viel Interesse hat wie der Knopfpresser, Heringfänger, Garnwinder, Torftreter oder Blasebalgmacher. Einen Teil der in seiner Abbildung und Beschreibung der gemein-nützlichen Hauptstände nicht genutzten Kupfer verwendet der Verleger Weigel in anderen Berufsbüchern erneut, insbesondere im dreibändigen Etwas für Alle. Das ist Eine kurtze Beschreibung allerley Stands- Amts- Bewerbs-Persohnen des Augustinerpredigers Abraham a Sancta Clara. Die Berufe werden hier zwar auch in ihren Eigenarten vorgestellt, aber theologisch gedeutet im Hinblick auf die vorgestellten Tätigkeiten und als Allegorien für das alltägliche Leben aller Menschen. Während der erste Band noch aus der Feder des Paters stammt, scheinen die beiden letzten Bände eher das Werk eines „Compilator[s]“ und Abschreibers zu sein.43 40 Weigel: Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände, S. 674. 41 Ebd. 42 Weigel: Beschreibung der Gemein=Nützlichen Haupt=Stände (Neudruck von 1987), Bildtafeln im unpag. Anhang. 43 Ambros Horber: Echtheitsfragen bei Abraham a Sancta Clara. Weimar 1929, S. 41. Vgl. auch: Franz M. Eybl: Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tübingen
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In unserem Zusammenhang lässt das Kapitel „Der Ziegeuner“ im dritten, also einem verlegerisch kompilierten Band ergiebige Diversitätsmarkierungen erwarten. 44 Diese Gruppe erscheint durch eine Art Erbsünde stigmatisiert, die an das AhasverMotiv erinnert. Ihr Umherirren begründet der – einem berühmten katholischen Prediger zugewiesene – Text durch eine pseudo-biblische Erweiterung der Weihnachtsgeschichte: Die Ziegeuner / warum sie herum ziehen müssen / ist dieses / weil ihre Vor= Eltern / die heilige Jungfrau mit ihrem Kindlein JEsu nicht hatten beherbergen wollen / so wären sie von GOtt gestraffet worden / ein solches herumwanderndes Leben zu führen. 45
Trotz dieser theologischen Begründung eines oder des zentralen Unterscheidungsmerkmals scheinen die „Ziegeuner“ weitestgehend durch ihre offenbar historisch belegbaren, lange überdauernden Lebensumstände klassifiziert: Im Jahr 1417. liessen sich schon am ersten in Teutschland garstige schwartze / von der Sonne verbrannte Leute sehen / in schmutzigen Kleidern / die auch sonst mit garstigen Sachen umgiengen / und vor allen sich aufs Stehlen legten / worinnen sie Meisterin sind / als die Weiber / indem die Männer sich von der Weiber Diebstahl nehreten […].46
Neben der Disposition zu unlauterem Verhalten, markiert der Text weitere Differenzierungen im Sozialverhalten (häufiger Aufenthalt im Freien, Reinlichkeit, Kleidung, berufliche Tätigkeit) und im Geschlechterverhältnis (Frauen stehlen für die Männer). Etwas später wird mehrfach betont, die beschriebene Menschengruppe zeichne sich durch ihr Vagantentum aus. Von Anfang an hätten die „Leute“ begonnen, „durch das Land zu ziehen“.47 Die historische und theologische Verankerung der angezeigten 1992, S. 350ff. und Dirk Niefanger: Zu Gast bei Pater Abraham. Das Wirtshaus und seine Betreiber in Etwas für Alle von Abraham a Sancta Clara. In: Unterhaltender Prediger und gelehrter Stofflieferant. Abraham a Sancta Clara (1644–1709). Beiträge eines Symposions anlässlich seines 300. Todestages. Hg. von Anton Knittel. Eggingen 2012, S. 185–203. 44 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin 2011, außerdem: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Halle, Leipzig 1731– 1754. Bd. 62, Sp. 520–543 sowie Jacob Thomasius: Dissertatio Philosophica De Cingaris. Leipzig 1652 (21671, 31677). 45 Abraham a Sancta Clara, Etwas für alle, Dritter und letzter Theil, S. 965. 46 Abraham a Sancta Clara: Etwas für alle. Das ist Eine kurtze Beschreibung allerley StandsAmbts- Bewerbs=Persohnen Mit beygedruckter Sittlicher Lehre und Biblischen Concepten. Dritter und letzter Theil. Würzburg 1711, S. 963 [fälschlich: 263]. 47 Ebd., S. 964.
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Differenz suggeriert, die so genannten Zigeuner hätten sich schon immer in ihrer bedrohlichen Andersartigkeit gezeigt. Diese angeblich historisch belegbare und theologisch begründbare Andersartigkeit der ganzen Gruppe wird mit der lebensgeschichtlichen des Einzelnen parallelisiert. Sie wird durch Cervantes sogar explizit belegt: Es scheinet [/] spricht er / daß Ziegeuner / Ziegeunerin bloß auf die Welt gebohren werden / Diebe zu sein. Von diebischen Eltern werden sie gezeuget / bey Dieben ernehret / in der Diebs=Schul gelehret / und endlich reisen sie aus / Dieb zu werden / stehlen und die Lust am Stehlen / sind an ihnen / als unzertrennliche Eigenschafften / welche sie nicht ehe / als mit dem Tod verlassen.48
Der Beruf, besser die Berufung des so genannten Zigeuners sei – neben dem Wahrsagen, das später im Artikel behandelt wird – das Stehlen, für das sie geboren seien und das durch eine entsprechende Sozialisation gefördert werde. Eine Integration dieser Gruppe in die ‚christliche Gemeinschaft‘ erscheint von vornherein erfolglos und widersinnig. Ausgrenzung erscheint als angemessenes Rezept. Insofern erscheint es der legitim, den so genannten Zigeunern keine Bleibe zu geben; ihre Ausgrenzung scheint theologisch angemessen, ‚polizeylich‘ opportun und diene, wie der Schluss des Artikels mit einigen Exempeln deutlich macht, dem Schutz der christlichen Gemeinschaft vor Diebstahl und Betrügerei. Auf die Ausgegrenzten warte – so der Text sehr einfach argumentierend – nach dem Jüngsten Gericht die Hölle.
Ein kurzes Fazit (1) Die Stände- und Berufsdiversität denkt man als gottgewolltes und für das Gemeinwesen sinnvolles Ordnungssystem, das es zu stabilisieren gilt. Zur Stabilisierung erscheint die Ausgrenzung von Personen- und Erwerbsgruppen notwendig. (2) Ungeklärt bleibt die Frage, ob die ausgegrenzten Gruppen außerhalb der von Gott vorgesehen Ordnung stehen oder als Teil des göttlichen Plans erscheinen. Die Behandlung von Juden und/oder so genannten Zigeunern in manchen Berufs- und Ständebüchern sowie die Anfertigung der Weigelʼschen Stiche zu prekären Gruppen zeigen, dass ein Umgang mit ihnen gefordert ist und man sich über eine gewisse Zugehörigkeit zum ‚System‘ doch einig ist. Ein Bedürfnis wird sichtbar, diese deutlich erkennbare Diversität durch die Kompendien einzuhegen und die Unterschiedlichkeit damit bearbeitbar zu machen (medizinische Behandlung der Juden, Schutz vor den so genannten Zigeunern usw.).
48 Abraham a Sancta Clara: Etwas für alle, Bd. 3, S. 964.
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(3) Die in den Stände- und Berufsbüchern gezeigte Diversität wird theologisch, anthropologisch, medizinisch, habituell und genderspezifisch begründet, wobei sich die verschiedenen Differenzierungen überlagern. Diversitätseffekte werden dadurch hier in der Regel verstärkt: ‚Juden‘ haben nicht nur andere Berufstätigkeiten, sie sehen auch anders aus, ernähren sich anders und verhalten sich anders. ‚Zigeuner‘ haben unehrliche Berufe, sehen anders aus, leben vagant und haben andere genderVorstellungen. (4) In Ansätzen ist um 1700 eine aufklärerische Intention in den Berufsbüchern spürbar. Bei Weigel zeigen sich eine abschließende und damit ausgrenzende Beschreibung des Berufssystems und Ansätze naturrechtlichen Denkens. Ramazzini argumentiert naturwissenschaftlich und hat die möglichst optimale Versorgung des menschlichen Leibes prinzipiell unabhängig von Beruf und Stand im Blick. Die vorgeschlagene Behandlung indes orientiert sich an den im Kompendium bestimmten Berufskrankheiten. Beim kompilierten Pseudo-Abraham finden sich – seiner theologischen Ausrichtung geschuldet – die wenigsten aufklärerischen Ansätze. Immerhin behandelt er aber Außenseiter wie die so genannten Zigeuner.
Konstellationen und Konzepte
Intersektionalität im Russischen Reich? Wechselwirkungen zwischen Kategorien sozialer Differenz im 19. Jahrhundert und der spatial turn Julia Obertreis
Diversität bzw. diversity ist in aller Munde und heutzutage – außer bei der politischen Rechten – in der Regel sehr positiv konnotiert. Als Orientierungsprinzip für Arbeitskollektive, ganze Unternehmen oder auch Universitäten wird die bunte Vielfalt von Mitarbeiter*innen oder Studierenden angepriesen, und vielerorts haben die Gleichstellungsinstitutionen sich in Stellen für Gender (oder nach wie vor Gleichstellung) und Diversity umbenannt.1 Die Vielfalt hat aber auch immer eine dunkle Seite; so erzeugt jedes, auch das positiv konnotierte Konstruieren und Benennen von Differenzkriterien (wie ethnische Herkunft oder Geschlecht) nicht nur Pluralität, sondern auch Marginalisierung und Ausschluss. „Diversität“ wird im Folgenden nicht per se positiv aufgefasst, sondern neutraler als Forschungsperspektive verstanden,2 als eine Art Überschrift für sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung, die Differenzierungen und Differenzen untersucht. Diese Forschung beschäftigt sich – teils als Reaktion auf den gesellschaftlichen Boom von „Diversität“ und „Diversity“ – mit der Konstruktion und Dekonstruktion von Differenzkategorien und deren vielfältiger, oft komplexer Wirkung auf und in Individuen, Gruppen und Gesellschaften. 3 Neben „Vielfalt“ und „Diversität“ sind
1
Schwerpunkt „Diversität“. In: Forschung & Lehre 25, 3 (2018), S. 198–213. Zum Bildungsbereich: Anne Sliwka: Soziale Ungleichheit – Diversity – Inklusion, auf: Kulturelle Bildung online, 2013/2012, https://www.kubi-online.de/artikel/soziale-ungleichheit-diversity-inklusion [14.03.2018]. Siehe auch weitere Artikel auf dieser Plattform.
2
Im Deutschen kommt neben der Etymologie der beiden Begriffe die neuere Tradition der Übersetzung von „diversity“ mit „Diversität“ hinzu. Siehe die Einleitung zu diesem Band.
3
Zur Gemengelage von emanzipatorischem Potential, Machtstrategien, Identitätspolitik, Diskriminierung und Essentialismus als Falle hinsichtlich des Multikulturalismus: Agathe
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Konzepte bzw. Begriffe wie Heterogenität, Intersektionalität und Interdependenzen in der Diskussion.4 In diesem Feld ist Intersektionalität ein Forschungsansatz, der aus der feministischen Genderforschung erwachsen ist. Er wurde von Sozialwissenschaftlerinnen in den USA und Europa entwickelt, um die Verwobenheit von Ungleichheitskategorien und daraus resultierende Diskriminierungsmechanismen in Gegenwartsgesellschaften zu untersuchen und sichtbar zu machen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den Ansatz der Intersektionalität auf historische Gesellschaften und insbesondere auf das Russische Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anzuwenden. Dazu erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit einem ausgewählten Intersektionalitätsmodell aus der sozialwissenschaftlichen Forschung unter Einbeziehung der daran geäußerten Kritik. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit und mit welchen Modifikationen es für die historiographische Forschung angewendet werden kann. Die folgenden Abschnitte sind der Analyse von Differenzkategorien im Russischen Reich gewidmet und untersuchen exemplarisch Wechselwirkungen zwischen ihnen. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Russischen Reich haben die Kategorien Konfession, Stand, Ethnizität und Nationalität besonders viel Aufmerksamkeit erfahren, daher können die folgenden Ausführungen hier auf eine relativ breite Basis an Sekundärliteratur rekurrieren.5 Sprache wird im vorliegenden Aufsatz als weiteres Differenzmerkmal vorgestellt, das in der administrativen Praxis vor Ort häufig herangezogen wurde. In der Sekundärliteratur wird Sprache zwar häufig thematisiert, aber kaum systematisch als Differenzkategorie untersucht. Mit „Ethnizität“ und „Nationalität“ ist nur ein Spektrum von Differenzkategorien umrissen, das zeitgenössisch besonders stark im Wandel und umstritten war. Für ethnische Zugehörigkeit wurde eine ganze Bandbreite von Begriffen verwendet, die jeweils häufig charakteristisch waren für die politische Verortung der Akteure. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde etwa der Begriff plemja (Stamm) gern von russischen Nationalisten benutzt, um die Gemeinschaft des großrussischen Stammes zu markieren, bestehend aus Russen, Ukrainern und Belorussen. Der Begriff nacional’nost’ (Nationalität) war mit den politischen Forderungen von nationalen BeweBienfait: Im Gehäuse der Zugehörigkeit. Eine kritische Bestandsaufnahme des Mainstream-Multikulturalismus. Wiesbaden 2006, besonders S. 123–143. 4
Vgl. die Aufzählung bei: Gabriele Dietze, Lann Hornscheidt, Kerstin Palm, Katharina Walgenbach: Einleitung. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. von Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt und Kerstin Palm. Opladen, Farmington Hills 2007, S. 7–22, S. 8f.
5
Angesichts der Breite des Themas kann diese hier allerdings nur ausschnitthaft ausgewertet werden.
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gungen verknüpft und stand für die zeitgenössisch moderne Erfassung durch die zentrale Statistik.6 Der russische Nationalismus, der sich immer in Auseinandersetzung und engem Verwandtschaftsverhältnis mit einem imperialen Patriotismus befand, erfuhr nach dem Januaraufstand von 1863/64 eine Politisierung. Auch wenn er „kein oppositionelles und selten nur ein ausformuliertes politisches Programm“ hatte, so ist doch zu konstatieren, dass der Nationalismus der Slawophilen mit dem offiziellen, staatlichen Nationalismus überlappte. Weitgehender Konsens war in den politischen Eliten in der Folge, ein modernes Russland müsse eine einheitliche Verwaltung, Rechtsprechung und russische Staatssprache haben. 7 Es kam zu einer Welle an Russifizierungsmaßnahmen bezüglich nichtrussischer Ethnien. Die Nationalbewegungen anderer Völker (etwa der Ukrainer oder der Tataren) entwickelten sich seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts trotz und entgegen den Versuchen der Zentralregierung, diese einzuschränken.8 Aus dem Interesse an nationalen Fragen heraus hat die historiographische Forschung zum Russischen Reich bisher nicht selten einen Fokus auf klar voneinander abzugrenzende, einzelne Nationalitäten gelegt und Phänomene wie Multiethnizität und Mehrsprachigkeit vernachlässigt.9 Daher lohnt es sich in diesem thematischen Bereich besonders, auf die Konstruktion, aber auch die Schwierigkeiten der Verwendung und Implementierung von Differenzkategorien einzugehen. Im Zuge vielfältiger Modernisierungsprozesse ist zudem die fortschreitende Professionalisierung zu berücksichtigen, etwa bei Ingenieuren.10 Experten und Experten-
6
Juliette Cadiot: Searching for Nationality. Statistics and National Categories at the End of the Russian Empire (1897–1917). In: The Russian Review 64 (2005), S. 440–455, hier S. 452.
7
Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich, 1855–1875. Köln, Weimar, Wien 2000, Zitat S. 376f.
8
Als Überblick immer noch: Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall. München 2001. Zum muslimischen Nationalismus: Christian Noack: Muslimischer Nationalismus im russischen Reich. Nationsbildung und Nationalbewegung bei Tataren und Baschkiren, 1861 – 1917. Stuttgart 2000.
9
Vgl. dazu die Kritik an der deutschsprachigen Forschung bezüglich ihrer Ignoranz gegenüber der „Multiethnizität als Normalfall“: Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914. Göttingen 2006, S. 12f. Der folgend genannte, im Detail sehr instruktive Forschungsüberblick befestigt die Konzentration auf das Nationale: Theodore R. Weeks: Nationality, Empire, and Politics in the Russian Empire and USSR. An Overview of Recent Publications. In: H-SozKult, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1134 (29.10.2012) [24.8.2018].
10 Zu den Ingenieuren: Alfred J. Rieber. The Rise of Engineers in Russia. In: Cahiers du Monde russe et soviétique 31,4 (1990), S. 539–568; Susanne Schattenberg: Stalins
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gruppen profilierten sich unter anderem, indem sie sich an verschiedenen, teils entlegenen Orten des Russischen Reiches einsetzen ließen. Generell war geographische Mobilität ein wirkmächtiger Faktor, wenn es um soziale Differenzen geht. In den folgenden Ausführungen werden auch Forschungsperspektiven des spatial turn einbezogen, der in der Osteuropäischen Geschichte große Resonanz gefunden hat. Einschlägige Arbeiten zur russischen und sowjetischen Geschichte haben mental maps untersucht, Großräume wie Sibirien oder verschieden skalierte städtische Räume.11 Die Schnittstelle zwischen Professionalität und Raum liegt dort, wo soziale Mobilität möglich oder befördert wurde, die wiederum die althergebrachten Differenzkategorien unterlaufen konnte. Andere in der allgemeinen Diversitätsforschung thematisierte Differenzen wie Körperlichkeit sind dagegen in der Forschung zum Russischen Reich weit weniger betrachtet worden und können hier nicht berücksichtigt werden. Die Basiskategorie Gender kann aus Kapazitätsgründen ebenfalls kaum einbezogen werden, da sie üblicherweise in einer anderen Linie der Forschung verhandelt wird als die hier ins Zentrum gestellten Differenzkategorien. 12 Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie „Klasse“: während ältere Forschung, zum Teil unter marxistischem Einfluss, ihr viel
Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. München 2002, S. 49–60. Literatur zu weiteren Expertengruppen siehe unten. 11 Frithjof Benjamin Schenk: Mental maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung: Literaturbericht. In: Geschichte und Gesellschaft 28,3 (2002), S. 493–514; Space, Place, and Power in Modern Russia. Essays in the New Spatial History. Hg. von Mark Bassin, Christopher Ely und Melissa K. Stockdale. DeKalb. Ill. 2010; Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Hg. von Karl Schlögel, Frithjof Benjamin Schenk und Markus Ackeret. Frankfurt a.M., New York 2007; Monica Rüthers: Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag. Köln, Weimar, Wien 2007. 12 Siehe zur Geschichte der Frauen im Russischen Reich etwa die Publikationen von Barbara Alpern Engel, darunter: Barbara Alpern Engel: Women in Russia, 1700–2000. Cambridge 2004. Als neueste Publikation, die allerdings auf die Sowjetunion konzentriert ist: The Palgrave Handbook of Women and Gender in Twentieth-Century Russia and the Soviet Union. Hg. von Melanie Ilič. London 2018. Zu Zentralasien in der frühen sowjetischen Zeit hat es eine ganze Reihe von Publikationen gegeben, die Geschlecht bzw. Gender und weitere Differenzkategorien wie Ethnizität und Religionszugehörigkeit thematisieren. Siehe exemplarisch: Shoshana Keller: Trapped Between State and Society. Women’s Liberation and Islam in Soviet Uzbekistan, 1926–1941. In: Journal of Women’s History 10,1 (1998), S. 20–44. Douglas Northrop: Veiled Empire. Gender & Power in Stalinist Central Asia. Ithaca, NY 2004. Marianne Kamp: The New Woman in Uzbekistan. Islam, Modernity, and Unveiling Under Communism. Seattle 2006.
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Aufmerksamkeit schenkte, hat die „new imperial history“ sie etwas vernachlässigt. 13 Dabei bleibt das Verhältnis von Geschlecht und Klasse, das im letzten Abschnitt der vorliegenden Ausführungen thematisiert wird, durchaus (weiterhin) wichtig. Möglicherweise werden Geschlecht und Klasse durch eine erneute Hinwendung zur Sozialgeschichte wieder mehr Aufmerksamkeit erfahren. Im ersten Teil des Aufsatzes, der sich Konfession, Stand, Ethnizität, Sprache und Nationalität widmet, wird es vor allem um administrativ hergestellte bzw. praktizierte Differenzen und die politischen Diskussionen darum gehen. Wie der Soziologe Stefan Hirschauer, der auf die Spezifika einzelner Differenzen hinweist, vermerkt, zielen Ethnizität, Nationalität und Religion auf die Herstellung von Kollektiven. 14 Möglichst homogene Kollektive zu entwerfen, war für die imperiale Verwaltung – wie für wohl jede Verwaltung – erstrebenswert. Im zweiten Teil zu Profession und geographischer Mobilität stehen tendenziell eher Individuen im Vordergrund, und anstelle von administrativen, offiziösen Quellen stützen sich die Beobachtungen auf (auto-)biographisches Material und Selbstzeugnisse. So kann die rein administrative Perspektive sinnvoll ergänzt werden. Die hier in den Blick genommene längere Phase seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts und bis zum Niedergang des Imperiums 1917 zeichnet sich dadurch aus, dass die zentralen Kategorien der staatlichen, behördlichen Erfassung einerseits erstaunlich konstant blieben, andererseits aber durch Reformprogramme und Modernisierungsprozesse massiv unterlaufen wurden. Die daraus erwachsende Spannung ist kennzeichnend für die Konstruktion und Wirksamkeit von Differenzkategorien im Russischen Reich in dieser Zeit.
13 Für Literatur zur new imperial history bzw. zum imperial turn siehe unten. 14 Stefan Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. In: Zeitschrift für Soziologie 43,3 (2014), S. 170–191, hier S. 171.
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EIN INTERSEKTIONALITÄTSMODELL Es gibt eine Reihe von Intersektionalitätsmodellen.15 Das im Folgenden vorgestellte, das Nina Degele und Gabriele Winker erarbeitet haben, wurde ausgewählt, da es besonders elaboriert ist und damit besonders viele Anknüpfungspunkte für die historische Forschung bietet. Die beiden Sozialwissenschaftlerinnen haben einen fundierten Vorschlag unterbreitet, wie Intersektionalität „als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung“ untersucht werden kann. 16 Aus den Queer Studies und Gender Studies kommend zielen sie darauf, mit der Intersektionalitätsanalyse „Ansatzpunkte für politisches Handeln“ zu erarbeiten, denn Ziel sei und bleibe „der queer-feministische Anspruch auf gesellschaftliche Erneuerung“. 17 Degele und Winker schlagen ein Modell vor, das aus vier zentralen Ungleichheitskategorien und drei Ebenen der Untersuchung besteht. Die ausgewählten Kategorien sind Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper(lichkeit), die jeweils mit spezifischen Diskriminierungsmechanismen einhergehen, welche von den Autorinnen nur im Plural benannt werden: Klassismen, Heteronormativismen (unter Einschluss sexueller Orientierung und Identität), Rassismen und Bodyismen (letzteres definiert als „Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschengruppen aufgrund körperlicher Merkmale wie Alter, Attraktivität, Generativität und gesundheitliche Verfasstheit“). Die Autorinnen setzen ihr Modell von einer Ungleichheitsforschung ab, die Klasse in den Mittelpunkt stellt und Geschlecht sowie Rasse/Ethnizität lediglich als nachgeordnete Klassifikationen sieht.18 Die besonders in den USA etablierte und inzwischen bereits klassische Triade Class – Gender – Race (wobei Race in Deutschland aus historisch-politischen Gründen sowie angesichts gesellschaftlicher Gegebenheiten häufig durch Ethnizität ersetzt wird) ergänzen sie um die Kategorie der Körper-
15 Vgl. Avtar Brah und Ann Phoenix: Ain’t I a Woman? Revisiting Intersectionality. In: Journal of International Women’s Studies 5 (2004), S. 75–86. Eingeführt hat den Begriff der Intersektionalität die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw, die Gerichtsfälle auf die Diskriminierungspraxis von Firmen bezüglich der Überkreuzung von „Rasse“ und „Geschlecht“ hin untersuchte. Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 4,1 (1989), S. 139–167. 16 Nina Degele und Gabriele Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung. In: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), S. 69–90. 17 Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, Vorwort, S. 8. 18 Degele und Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung, S. 74.
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lichkeit, da Diskriminierungen aufgrund von Alter, Gesundheitszustand usw. nicht von der Diskriminierung aufgrund der anderen genannten Kategorien zu trennen seien.19 Alle vier Kategorien sind in ihren Wechselbeziehungen zueinander zu untersuchen, und das Modell vermeidet, eine einzelne als dominierend hervorzuheben. Winker und Degele betonen, dass es nicht um eine Addition von Ungleichheitskategorien gehe, sondern um die Wechselwirkungen zwischen ihnen.20 Das Modell geht von einer gegenwärtigen und vor allem kapitalistisch organisierten Gesellschaft aus, und die Analyse ist auf diese Umstände ausgerichtet. Es geht um Ungleichheit und Herrschaftsverhältnisse, wobei länder- und regionenspezifische Unterschiede innerhalb des Kapitalismus offenbar keine Rolle spielen. „Allen vier Strukturkategorien […] und den damit verbundenen Herrschaftsverhältnissen ist gemeinsam, dass sie in einem kapitalistischen System auch zur möglichst kostengünstigen Verwertung der Ware Arbeitskraft beitragen.“ Das System Kapitalismus strebt dabei danach, die „Ware Arbeitskraft“ zu verbilligen und Diskriminierungen zu stabilisieren.21 Gemäß der Bedeutung von Erwerbsarbeit im Kapitalismus sehen die Autorinnen im Zugang zum Arbeitsmarkt (der beispielsweise Migrant*innen verwehrt bleibe) einen entscheidenden Faktor. Eine ungleiche Ressourcenverteilung wird durch „Ein- und Ausschlüsse in und aus dem Arbeitsmarkt entlang der genannten vier Strukturkategorien […] aufrechterhalten.“22 Wie die vier genannten Kategorien der Ungleichheit ineinanderwirken, ist im Einzelfall zu ermitteln. Noch völlig offen ist, wie die Überschneidung bzw. Wechselwirkung der Kategorien theoretisch vorzustellen ist.23 Winker und Degele verfolgen einen praxeologischen Ansatz und gehen zudem mit Bezug auf Pierre Bourdieu und Anthony Giddens davon aus, dass Struktur und agency in Wechselbeziehung stehen. „Denn […] die AkteurInnen sind es, die gesellschaftliche Strukturen beständig herstellen und reproduzieren.“24 Diesem Ansatz fügen die Autorinnen die Ebene der Repräsentationen hinzu.25 Die drei Ebenen, die also in den Blick genommen werden, sind (mit dem Vokabular der Autorinnen) 1. die Makro- und Mesoebene der Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen, die als gesellschaftlich gegeben (aber nicht per se unveränderbar) gesehen werden, 2. die Mikroebene der 19 Degele und Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung, S. 76. Winker und Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, S. 14. 20 Ebd., S. 14. 21 Degele und Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung, S. 76. 22 Ebd., S. 77. 23 Winker und Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, S. 18. 24 Ebd., S. 69. 25 Ebd., S. 70.
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sozial konstruierten Identitäten, bei der inspiriert von der Debatte um doing gender davon ausgegangen wird, dass sowohl die Ungleichheitskategorien wie Geschlecht als auch die damit korrespondierenden Identitäten sozial hergestellt werden, und 3. die Ebene der symbolischen Repräsentationen, die die soziale Ordnung stabilisieren. Dazu gehören kollektive Werte und Überzeugungen, Vorstellungen, Bilder und Wissenselemente. 26 Ein konkretes Beispiel in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft ist etwa Leistungsorientierung. Leistung zu bringen und damit dem Leistungsprinzip zu entsprechen, sei ein sehr wichtiges Element einer „kapitalismuskompatiblen Identitätskonstruktion.“27 Bei der Vorstellung des methodischen Vorgehens und der Ergebnisse einer Studie zu Erwerbslosen zeigt sich noch einmal, dass Degele und Winker bei ihrer Konzeption von Intersektionalität von Diskriminierung ausgehen. Die 13 untersuchten Erwerbslosen werden in vier Gruppen eingeteilt, wobei die Selbstbeschreibungen und Repräsentationen der Akteure zu dieser Themen- bzw. Gruppenbildung beitragen. Typische Methoden der Untersuchung sind Interviews, Beobachtungen und Gruppendiskussionen.28 Von den Identitätskonstruktionen der Einzelnen ausgehend werden die Ebenen aufwärts analysiert. Bei einer alleinerziehenden Mutter und Alkoholikerin mündet die Betrachtung beispielsweise in der Feststellung, dass in ihrem Fall „diskriminierende Körper-, Klassen- und Geschlechterverhältnisse“ zusammenwirken.29 Die Autorinnen analysieren demnach verschiedenartig formierte Diskriminierungen, für die der Ausweg nur in politischem Handeln auf höheren Ebenen zu liegen scheint. Sie leiten Forderungen nach konkreten politischen Maßnahmen ab, etwa „Erwerbsarbeitsplätze für Leistungsgeminderte mit existenzsicherndem Lohn“ zu schaffen.30 Das Intersektionalitätskonzept (nicht nur das hier vorgestellte von Degele/ Winker) ist mit einiger Berechtigung kritisiert worden. Von verschiedener Seite wurde bemängelt, dass eine Beschränkung auf ausgewählte Kategorien zu vieles unbeleuchtet lasse und dass die hervorgehobenen Kategorien, v.a. Geschlecht und Rasse, oder Class – Gender – Race, als distinkt vorausgesetzt würden.31 Das Konzept gehe von 26 Winker und Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, S. 19–21. 27 Ebd., S. 144. 28 Degele und Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung, S. 80. 29 Winker und Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, S. 116. 30 Degele und Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung, S. 82f. 31 Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? In: Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Hg. von Vera Kallenberg, Jennifer Meyer und Johanna M. Müller. Wiesbaden 2013, S. 105–124, hier S. 107.
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„vorab in ihrer Relevanz geschützten Kategorien“ aus, so Hirschauer, 32 dabei geht es ihm ja gerade um die Frage: „Welche Differenz ist wann (ir)relevant?“33 Bei dem von ihm geprägten Ansatz des Un/doing Differences spielt die soziale Relevanz von Differenz, die zu- und abnehmen und sogar gänzlich verschwinden kann, eine wichtige Rolle.34 Das Bild der Intersektion, der Kreuzung, sei „empirisch unterkomplex“, da es nur vier Richtungen kenne. Begebe man sich näher an die Empirie, so erkenne man statt der Kreuzung zweier großer Boulevards letztlich einen vieldimensionalen Raum und statt der großen alten, moralisch aufgeladenen Unterdrückungskategorien „viele Mittelmächte sozialer Ungleichheit und – quer dazu – sachliche Differenzierungen der Gesellschaft in ein Dutzend relevanter Teilsysteme.“ 35 Statt von Intersektionen auszugehen ruft Hirschauer dazu auf, „eine stetige Bewegung multipler Kategorisierungen“ zu untersuchen.36 Die Historikerinnen Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger sowie einige Wissenschaftlerinnen um Katharina Walgenbach kritisieren ebenfalls, dass die Kategorien beim Intersektionalitätsansatz zu statisch gedacht werden. So werde die Fiktion von Gleichheit innerhalb einer Schnittmengengruppe, die aus der Überlappung zweier Differenzkategorien entstehe, beibehalten.37 Griesebner/Hehenberger monieren, Intersektionalität könne die Gewichtung von einzelnen Differenzkategorien nicht erklären. Sie lehnen den Identitätsbegriff, mit dem auch Degele/Winker operieren, rundweg ab und sprechen stattdessen von Identifikationen. Zudem kritisieren sie, dass von den Vertreterinnen der feministischen Intersektionsanalysen weder die Kritik am Identitäts- noch am Erfahrungsbegriff ausreichend berücksichtigt worden sei.38 Walgenbach et alii schlagen statt Intersektionalität den Begriff Interdependenzen vor und exemplifizieren dies an der Kategorie Gender. „Mit dem Begriff Interdependenzen werden […] nicht mehr wechselseitige Interaktionen zwischen Kategorien gefasst, vielmehr werden soziale Kategorien selbst als interdependent konzeptualisiert.“39 Daran schließen auch die Historikerinnen Griesebner/Hehenberger an. Ihnen geht es darum, „die Kategorien selbst zu historisieren und sie als relational, das heißt in wechselseitiger Weise aufeinander bezogen zu denken.” Dagegen gehe der 32 Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, S. 176. 33 Ebd., S. 173. 34 Ebd., S. 172. 35 Ebd., S. 176. 36 Ebd., S. 181. 37 Griesebner und Hehenberger: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? S. 108. 38 Ebd., S. 109–111. 39 Dietze et al.: Einleitung, S. 9.
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Intersektionalitätsansatz letztlich von „substantialistischen“ und „ahistorischen“ Kategorien aus.40 Diese Kritik an der Konzeption der Kategorien ist ernst zu nehmen, und man mag zustimmen, dass die Kategorien selbst als von der Wechselwirkung zwischen ihnen abhängig zu sehen sind. Es zeigt sich jedoch das Problem, dass weder Hirschauer noch die zitierten Autorinnen die Art und Weise der Intersektion, Interdependenz oder Begegnung von Differenzkategorien typologisieren oder näher konzeptualisieren. 41 Hirschauer zeichnet allerdings eingängig ein Spektrum von Möglichkeiten: „Manche Differenzierungen kommen sich ‚in die Quere‘, andere begegnen sich folgenlos, manche verstärken sich gegenseitig, andere neutralisieren sich, viele kreuzen sich im Sinne einer gegenseitigen Brechung. Sie gehen unterschiedliche Beziehungen zueinander ein, was von ihrer Spezifik abhängt.“42 Bei der Auswertung der hier vorgestellten Ansätze der Diversitätsforschung zeigen sich auch für die historiographische Forschung wichtige Aspekte. Dies sind die Relevanz von Kategorien und deren Wirksamkeit. Hirschauer spricht in diesem Zusammenhang von „Gradualitäten von Mitgliedschaften, Relevanzen und Institutionalisierungen“.43 Griesebner/Hehenberger konstatieren, dass beispielsweise in der Frühen Neuzeit die Wirksamkeit der Geschlechtszugehörigkeit u.a. nach Lebensalter und sozialer Schicht „gestuft“ war.44 Generell stellt sich die Frage, inwieweit ein an einer gegenwärtigen Gesellschaft entwickeltes Intersektionalitätsmodell für die Geschichtswissenschaften fruchtbar gemacht werden kann. In der Forschung zu länger zurückliegenden Epochen kann es nicht darum gehen, Diskriminierungsmechanismen herauszuarbeiten, um daraus politische Forderungen abzuleiten. Es geht vielmehr darum, zu eruieren, welche Ungleichheitskategorien zeitgenössisch relevant waren, wie sie aufeinander bezogen waren, wie sie gesellschaftlich und politisch gestaltet wurden, welche Wirkungen sie entfalteten, welche Ein- und Ausschlussmechanismen mit ihnen einhergingen und welchem Wandel diese Prozesse unterlagen. Differenzierung kann dabei mit 40 Griesebner und Hehenberger: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? S. 111. Die beiden Autorinnen unterscheiden mit Bezug auf Rogers Brubaker und Frederick Cooper relationale und kategoriale Identifikationen. Ebd., S. 121. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob diese beiden Arten von Identifikationen empirisch klar voneinander unterschieden werden können. 41 Vgl. auch die Reaktion von Degele und Winker auf die Kritik: Winker und Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, S. 13. 42 Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, S. 185. 43 Ebd., S. 188. 44 Sie beziehen sich hier auf die Ergebnisse einer Studie von Heike Wunder von 1992. Griesebner und Hehenberger: Intersektionalität. Ein brauchbares Konzept für die Geschichtswissenschaften? S. 114.
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Diskriminierung im heutigen Verständnis einhergehen oder sie zur Folge haben, muss es aber nicht. Birgit Emich hat in einem 2015 erschienenen Aufsatz Intersektionalität auf die historische Epoche der Frühen Neuzeit angewendet, anhand eines Beispiels aus Ferrara im frühen 17. Jahrhundert.45 Hervorgegangen ist der Beitrag aus einer Tagung zu Normenkonkurrenz, und in Abwandlung des Konzeptes der Herausgeber des daraus entstandenen Bandes weist sie mit Hilfe der Intersektionalität darauf hin, dass Normensysteme nicht nur akut miteinander in Konflikt geraten, sondern auch dauerhaft in Wechselwirkung miteinander stehen. Emich untersucht die in diesem Fall relevanten „Basiskategorien sozialer Differenzierung“ Stand, Amt und Patronage, die im Falle der Ferrareser Ratsherren deutlich miteinander interagierten. Der Stand befähigte zum Amt und wurde gleichzeitig durch dieses bekräftigt, und die nach Rom führenden Patronagebeziehungen gingen aus Amt und Stand hervor und unterminierten letztlich das Amt. Ob man Amt und Patronage, die als Phänomene vor allem den Eliten zuzurechnen sind, als „Basiskategorien“ bezeichnen kann, könnte man durchaus diskutieren. Aber dass sie, wie Emich argumentiert, auf die soziale Differenzierung (in den Eliten) großen Einfluss haben können, wird man wiederum nicht in Frage stellen wollen. Besonders wichtig für eine historische Anwendbarkeit des Konzeptes von Intersektionalität scheint nun, dass die Untersuchung dieses Beispiels „nicht auf Diskriminierung und Abwertung zielt, sondern im Gegenteil auf Status und Anerkennung“. Methodisch sei dieser Unterschied nicht relevant, denn soziale Abgrenzung wirke „immer zugleich nach oben und unten“. Egal, ob man Race, Class, Gender oder Amt, Stand und Patronage untersuche, sei die methodische Kernfrage, wie man das „Zusammenwirken solcher Kategorien“ in historischen Akteuren untersuchen kann.46 Aus dem Beitrag Emichs geht demnach hervor, dass die Auswahl der Differenzkategorien historisch angepasst werden kann. Durch Anwendung des Intersektionalitätsmodells kann nicht nur Diskriminierung von Personen niedrigen Status, sondern auch die Befestigung von hohem Status deutlich(er) gemacht werden. Da wir als Historiker*innen bei der Analyse von Differenzkategorien, der Betrachtung ihrer historisch wandelbaren Konstellation und Relevanz auf auffindbare Quellenkorpora angewiesen sind, die nicht selten zum Zwecke der Festschreibung oder Infragestellung bestimmter Kategorien verfasst wurden, bietet sich die Beschränkung auf ausgewählte Kategorien der Differenzierung an, und eine gewisse Essentialisierung der Kategorien ist dabei nicht zu vermeiden. Der 45 Birgit Emich: Normen an der Kreuzung. Intersektionalität statt Konkurrenz oder: Die unaufhebbare Gleichzeitigkeit von Amt, Stand und Patronage. In: Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Hg. von Arne Karsten und Hillard von Thiessen. Berlin 2015, S. 83–100. 46 Ebd., S. 86.
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Intersektionalitätsansatz bietet hierfür trotz der oben genannten Kritik einen guten Ausgangspunkt. Dabei sollte jedoch vor allem die Kritik an der mangelnden Komplexität der Vorstellung von der Kreuzung ernst genommen werden: statt um eine einfache Straßenkreuzung mit vier Ecken handelt es sich um ein komplexes, dreidimensionales Gebilde, eine Art Knotenpunkt, in dem sich verschieden stark ausgeprägte Linien der Differenz überlagern, überkreuzen oder nebeneinander her verlaufen. Die Wirkmächtigkeit und Relevanz bzw. Irrelevanz einzelner Kategorien kann und muss tatsächlich historisch kontextualisiert werden. Dabei sind die von Hirschauer oben benannten Teilsysteme der Gesellschaft und verschiedene „Felder“ der sozialen Interaktion, wie Politik, Recht oder Kultur, zu berücksichtigen. 47
INTERSEKTIONALITÄT IM RUSSISCHEN REICH? Der imperial turn hat in der Osteuropäischen Geschichte bzw. der Historiographie zu Russland nicht nur dazu geführt, dass die Geschichte Russlands nicht länger nur als eine Geschichte der Russen erzählt wird, sondern hat auch die Ebene des Imperienvergleichs eingeführt, das Funktionieren des Imperiums anstelle dessen Niedergangs in den Vordergrund gestellt und die Herausforderung durch nationalisierende Tendenzen thematisiert.48 Historische Imperien sind allgemein dafür bekannt, über eine besonders heterogene Bevölkerung zu verfügen, vor allem in religiöser und ethnischer Hinsicht. Ethnische, religiöse und auch soziale Unterschiedlichkeit ist für Imperien sogar konstitutiv, wie aus einer wohldurchdachten Definition von Jürgen Osterhammel hervorgeht. Demnach ist ein Imperium ein:
47 Zu den „Feldern“ und „Ebenen“ (Letztere sind soziale Strukturen, Institutionen, soziale Praktiken u.a.), auf denen „strukturelle Dominanz“ produziert und reproduziert wird, siehe: Katharina Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. von Katharina Walgenbach, Gabriele Dietze, Antje Hornscheidt und Kerstin Palm. Opladen, Farmington Hills 2007, S. 23–64, hier S. 56. 48 Eine Auswahl: Michael David-Fox, Peter Holquist und Alexander M. Martin: The Imperial Turn. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 7,4 (2006), S. 705–712. Ricarda Vulpius: Das Imperium als Thema der Russischen Geschichte. In: zeitenblicke 6,2 (2007), http://www.zeitenblicke.de/2007/2/vulpius (24.12.2007) [24.07.2018]; Kerstin S. Jobst, Julia Obertreis und Ricarda Vulpius: Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte. Die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion. In: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 18,2 (2008), S. 27–56.
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großräumiger, hierarchisch geordneter Herrschaftsverband polyethnischen und multireligiösen Charakters, dessen Kohärenz durch Gewaltandrohung, Verwaltung, indigene Kollaboration sowie die universalistische Programmatik und Symbolik einer imperialen Elite (zumeist mit monarchischer Spitze) gewährleistet wird, nicht aber durch gesellschaftliche und politische Homogenisierung und die Idee allgemeiner Staatsbürgerschaft.49
Obwohl dem Autor dieser Definition übermäßige Pauschalisierung fernliegt, könnte daraus doch der Eindruck entstehen, dass das Imperium allein auf Heterogenität gebaut sei, während der Nationalstaat – auf den der letzte Halbsatz des Zitats gemünzt scheint – auf Homogenität zielt und diese hervorbringt. Bei genauerem Hinsehen kann der Nationalstaat aber zum einen dem Imperium nicht diametral entgegengestellt werden, denn beide weisen Züge des jeweils anderen auf.50 Zum anderen trägt die Annahme nicht, dass der Nationalstaat Gleichheit seiner Bürger produziere, während das Imperium Differenz zwischen den Untertanen hervorbringe. Letztlich spielt Differenz in jedem System eine große Rolle, es handelt sich nur um verschiedene Arten von Differenz.51 Dennoch bleibt festzustellen, dass das „Managing diversity“ für die Herrschaft in Imperien eine auch zeitgenössisch immer wieder reflektierte, große Herausforderung war. Dies kommt in dem berühmten Zitat von Katharina II. von 1767 zum Ausdruck. In Kazan hatte sie „zwanzig verschiedene Völker“ gesehen, „die sich überhaupt nicht ähnlich sind. Und doch muss man ihnen ein Kleid schneidern, das für alle passt“, so schrieb sie an Voltaire. 52 Gleichzeitig war die religiöse,
49 Hervorhebung durch die Verfasserin. Jürgen Osterhammel: Europamodelle und imperiale Kontexte. In: Journal of Modern European History 2,2 (2004), S. 157–182, hier S. 172. 50 Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen 2009 (FRIAS Rote Reihe 1); Nationalizing Empires. Hg. von Stefan Berger und Alexei Miller. Budapest, New York 2015. 51 Mit Bezug auf Rogers Brubaker: Ilya Gerasimov et al.: New Imperial History and the Challenges of Empire. In: Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire. Hg von Ilya Gerasimov, Jan Kusber und Alexander Semyonov. Leiden, Boston 2009, S. 3–32, hier S. 19. 52 Katharina an Voltaire aus Kazan, 29.05./09.06.1767, zitiert nach: Jan Kusber: „Ein Kleid schneidern, das für alle passt“? Katharina II. und die Religionen des Russländischen Imperiums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa. Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag. Hg. von Martina Thomsen. Stuttgart 2017, S. 187–198, hier S. 187. Kusber betont hier den „aufgeklärten Pragmatismus“ in der Politik Katharinas II. Bezogen auf das heutige Russland und mit Perspektiven auf imperiale Kontinuitätslinien: Managing Ethnic Diversity in Russia. Hg. von Oleh Protsyk und Benedikt Harzl. London. New York 2013.
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soziale, ethnische und kulturelle Vielfalt der Bevölkerung des Reiches eine Quelle des Selbstbewusstseins und Stolzes für imperiale Eliten. 53 Im Folgenden konzentriere ich mich auf das späte Russische Reich seit etwa den 1830er Jahren bis zum Revolutionsjahr 1917. Im Unterschied zur Intersektionalitätsanalyse von Degele und Winker ist die Strukturfolie, vor der Kategorien sozialer Differenzierung sinnvoll beleuchtet werden können, nicht ein ausgebildetes kapitalistisches Gesellschaftssystem – der Grad, zu dem Russland im frühen 20. Jahrhundert bereits kapitalistisch durchdrungen war, war bekanntermaßen bereits unter den frühen Sozialisten umstritten –, sondern ein sich modernisierendes und sich nationalisierendes Imperium. Dabei blieben Konfession und Stand im langen 19. Jahrhundert, was die Erfassung der Bevölkerung des riesigen Reiches durch staatliche und konfessionelle Institutionen angeht, maßgeblich und relativ konstant, wurden aber durch Ethnizität und Nationalität in Frage gestellt. Konfession und Nationalität: die Nordwestregion Einer der prominentesten Vertreter einer produktiven Forschungsrichtung, die Religionszugehörigkeit und Religiosität im Russischen Reich in den Fokus genommen hat, Paul W. Werth, betont, dass vor allem religiöse Kriterien die kulturelle Diversität von Imperien im eurasischen Raum ordneten und institutionalisierten. 54 Das betraf die Wahrnehmungen und Vorstellungswelten der imperialen Beamten und Eliten, aber auch ganz praktisch das Führen von Kirchenbüchern durch die orthodoxen Gemeinden. Die Orthodoxie versah diese Aufgabe seit Längerem und hatte als staatsnahe Religion ohnehin eine zentrale Stellung. Vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1830er Jahre schuf die zarische Autokratie zudem eine Reihe von Institutionen und Statuten für die Administrierung der übrigen Konfessionen wie den Katholizismus. Dabei kreierte sie jeweils eine eigene Geistlichkeit im administrativen Sinne und fügte sie in das vorhandene Standeswesen ein. Dadurch stärkten die entsprechenden Gesetze immer wieder die Konfessionen, wie etwa den Buddhismus in Ostsibirien. In einigen Fällen allerdings blieben religiöse Gruppen ohne offizielle Institutionen oder Anerkennung von Geistlichen, etwa die Anglikaner oder die Muslime in Zentralasien und
53 Vgl. Jane Burbank und Mark von Hagen: Coming into the Territory. Uncertainty and Empire. In: Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930. Hg. von Jane Burbank, Mark von Hagen und Anatolyi Remnev. Bloomington, Indianapolis 2007, S. 1–29, hier S. 7f. 54 Paul Werth: Imperiology and Religion. Some Thoughts on a Research Agenda. In: Imperiology. From Empiricial Knowledge to Discussing the Russian Empire. Hg. von Kimitaka Matsuzato. Sapporo 2007, S. 51–67, hier S. 51.
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im Nordkaukasus.55 Eine Hierarchie der Konfessionen wurde durch die Einrichtung staatlicher Institutionen und die Schaffung eines Geistlichenstandes nach orthodoxem Vorbild bestärkt. Im spezifischen Kontext der Migration innerhalb des Imperiums fand die Spalte „Nationalität“ zwar Eingang in amtliche Formulare. 56 Doch dies war, was die amtliche Praxis betraf, eher ein Sonderfall. Die Betrachtung der zentralen Personenstandsdokumente im Reich zeigt, dass während die von den Gemeinden geführten Geburtsregister von der konfessionellen Zugehörigkeit ausgingen und die Inlandspässe vom Stand, in beiden Fällen bis 1917 Nationalität nicht aufgenommen wurde. 57 Auch bei der berühmten Volkszählung von 1897, der ersten und einzigen umfassenden im Russischen Reich, wurde Nationalität letztlich nicht als Kategorie der Abfrage aufgenommen. Die Kategorien lehnten sich an die Empfehlungen des Internationalen Statistischen Kongresses an. Auch hier, wie im Habsburgerreich, wurde nach Sprache (rodnoj jazyk) gefragt und nicht nach Nationalität mit der Begründung, dies sei zu subjektiv. Hintergrund waren kontroverse Diskussionen auf dem internationalen Parkett, etwa bereits auf dem Internationalen Statistischen Kongress 1860 in London darüber, ob „Nationalität“ ein Kriterium moderner Volkszählungen sein sollte. Briten und Franzosen wollten damit nur die Staatsangehörigkeit erfassen, während deutsche, österreichische und russische Statistiker Nationalität als Merkmal ethnischer Zugehörigkeit verstanden wissen wollten. 1872 einigte man sich in St. Petersburg darauf, dass die Umgangssprache (spoken language) ein sinnvolles Kriterium sei, der Gebrauch wurde aber freigestellt. Nationalität hingegen sei in seiner Bedeutung zu verschiedenartig, um als Kriterium brauchbar zu sein. 58 Als 1897 dann 150.000 Volkszähler (Lehrer, Priester, niedere Beamte) ausschwärmten, um das Volk zu erfassen, das mit rund 129 Mio. Menschen beziffert wurde59, wurde nicht nach Ethnie bzw. Nationalität gefragt, jedenfalls nicht direkt. Stattdessen zielte die Kategorie Sprache darauf, Information über „Völker und Stämme“ des Imperiums zu erhalten.60 55 Werth: Imperiology and Religion, S. 52–54. 56 Charles Steinwedel: Making Social Groups, One Person at a Time. The Identification of Individuals by Estate, Religious Confession, and Ethnicity in Late Imperial Russia. In: Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World. Hg. von Jane Caplan und John Torpe. Princeton 2001, S. 67–82, S. 79. 57 Seit den 1820er/1830er Jahren sollten auch per zarischem Dekret Priester, Imame, Pastoren und Rabbis Kirchenbücher führen. Ebd., passim und S. 70. 58 Leonhard und Von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, S. 56–58. 59 Cadiot: Searching for Nationality, hier S. 442. 60 Wegen des hohen Prozentsatzes an Analphabeten mussten die Befrager über die Hälfte der Bögen selbst ausfüllen. Leonhard/ Von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, S. 62.
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Generell wurde allerdings die Kategorie Nationalität immer relevanter in der Statistik, was u.a. mit den Wahlen zur Duma zusammenhing. Es hatte viel Kritik von lokalen Behörden und Intellektuellen an der Frage der Volkszählung nach Sprache gegeben und verschiedene Seiten forderten für eine weitere, künftige Zählung die Kategorie Nationalität ein, die, obwohl sie nicht in den Zensus aufgenommen worden war, durch diesen in ihrer Relevanz verstärkt wurde. 61 Generell ist es unbestritten, dass Ethnizität bzw. Nationalität als Ungleichheitskategorie im Laufe des 19. Jahrhunderts stark an Bedeutung zunahm, und zwar für Elitendiskurse sowie für die Vorstellungswelten, die für staatliche Institutionen charakteristisch waren. 62 Nationalität verdrängte Konfession aber nicht einfach, sondern die beiden Kategorien interagierten in komplexer Weise. Bei der Betrachtung des Prozesses, wie nationale Gemeinschaften vorgestellt und konstruiert wurden und die ethnische Kategorie sich immer stärker etablierte, muss die konfessionelle Zugehörigkeit immer wieder herangezogen werden.63 Aus Sicht eines Teils der Beamten, die mit von den Slawophilen vertretenen Überzeugungen konform gingen und von diesen beeinflusst waren, wurde bereits im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts die Orthodoxie zum wichtigsten, gelegentlich sogar erschöpfenden Wesensmerkmal der russischen Nation stilisiert, und die religiöse Definition des Russischseins wurde wichtiger als andere, auch als die kulturell-sprachliche. Während die Orthodoxie zuweilen als „Zarenglaube“ (carskaja vera) bezeichnet wurde, verwendeten imperiale Beamte im Nordwesten des Reiches für alle anderen Konfessionen den Begriff „fremder Glaube“ (čužaja vera). Dieser konnte nun leicht zur Projektionsfläche für Feinddiskurse werden. Michail Dolbilov zufolge symbolisierte der „fremde Glaube“ nicht nur die Nichtloyalität der geistlichen Elite einer bestimmten Gemeinschaft zum Monarchen, sondern auch „kulturelle Rückständigkeit, soziale Laster (poroki) und zivilbürgerliche Minderwertigkeit (uščerbnost‘), die jetzt als Charakteristiken der Religionsausübung (und manchmal auch einer beträchtlichen Masse an Gläubigen) angesehen wurden.“64 Dies kam im Falle der Unierten Kirche zum Tragen, als diese Ende der 1830er Jahre endgültig aufgelöst wurde und ihre Mitglieder in die orthodoxe Kirche eingegliedert wurden.65 Die Abfolge von der Herstellung von Differenz bis zur Ausgrenzung wird hier gut sichtbar: in der Verwaltung verwendete, aber nicht juristisch 61 Cadiot: Searching for Nationality, S. 449f. 62 Charles Steinwedel: To Make a Difference. The Category of Ethnicity in Late Imperial Russian Politics, 1861–1917. In: Russian Modernity. Politics, Knowledge and Practices. Hg. von David L. Hoffmann und Yanni Kotsonis. Basingstoke u.a. 2000, S. 67–86. 63 Werth: Imperiology and Religion, S. 55, 58. 64 Das Misstrauen gegenüber den ehemaligen Unierten hielt noch lange danach an. Michail Dolbilov: Russkij kraj, čužaja vera. Ėtnokonfessional’naja politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II. Moskau 2010, S. 750. 65 Ebd.
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definierte Begriffe signalisierten Nähe und Ferne zu politischer und kultureller Macht und wurden mit verschiedenartigen Negativattributen aufgeladen. Darauf baute eine Feindrhetorik auf, und schließlich erfolgte die politisch-administrative Ausgrenzung. Von der Staatsideologie wurde Russe-Sein mit Orthodox-Sein gleichgesetzt – eine Gleichsetzung, die spätestens dann auch offiziell eigentlich nicht mehr tragbar war, als der Baptismus in Russland aufkam und 1905 die Konversion zum Baptismus erlaubt wurde.66 Die diskriminierenden Wirkungen der Herabsetzung des „fremden“ Glaubens und die Koppelung von Ethnie und Konfession sind besonders gut für die sogenannte Nordwestregion (Severo-Zapadnyj Kraj) erforscht, die auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen bestand und von Wilna (Vilnius) aus regiert wurde. Vor allem nach dem Januaraufstand von 1863/64, der eine allgemeine Zäsur in der Vielvölkerpolitik markierte, wurde hier eine rigorose, wenn auch nicht einheitliche Russifizierungspolitik verfolgt, und diese orientierte sich an konfessioneller Zugehörigkeit. Besonders die Katholische Kirche war Repressionen ausgesetzt, und dies sowohl von Seiten der Zentralregierung als auch von Seiten des Generalgouverneurs von Vilnius. Dolbilov spricht gar von „Katholikophobie“ in Teilen des Behördenapparats in der Nordwestregion. Eine spezielle Kommission beim Generalgouverneur versuchte beispielsweise die Autonomie der Kirche bezüglich der Rekrutierung von Geistlichen, religiöser Bildung und der Seelsorge stark einzuschränken. 67 Zu den repressiven Maßnahmen, die in mehreren Konjunkturen zum Tragen kamen, gehörten die Einführung russischsprachigen Religionsunterrichts und das Verbot, in den verschiedenen nicht-russischen Sprachen zu publizieren. 68 Sprachen waren in dieser Phase besonders umkämpft. Durch die Unterdrückung einzelner Sprachen versuchte staatliche Politik, Loyalität zu erzeugen und nationale und konfessionelle Partikularismen zu schwächen. In den russischen politischen Eliten war man der Ansicht, dass die Polen, denen kollektiv und einseitig die Schuld an dem blutig niedergeschlagenen Aufstand gegeben wurden, „Rebellen“ seien und alle bestraft werden müssten. Die Gleichsetzung von Pole und Katholik war dabei anhaltend und folgenreich. Noch 1903 bekam der Gouverneur von Vilnius vom Zentralen Statistischen Komitee die Auskunft, Orthodoxe seien Russen, Katholiken seien Polen oder Litauer und Protestanten seien Deutsche.69 Die Konfession wurde also von der Nationalität abgeleitet, aber auch umgekehrt: Da sie mehrheitlich katholisch waren, und sicher auch wegen der historischen Verbindung von Polen und Litauern in der Adelsrepublik, wurden Litauer im politischen Sinne als Polen oder auch als „potentielle Polen“ gesehen und waren damit
66 Letzteres: Werth: Imperiology and Religion, S. 58. 67 Dolbilov: Russkij kraj, čužaja vera, S. 752. 68 Im Überblick: Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 208–211. 69 Cadiot: Searching for Nationality, S. 444.
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ebenso diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt.70 Dagegen sah man etwa die Protestanten, unabhängig welcher ethnischer Herkunft, als „stille Feinde“ des Reiches und nicht wie die Polen als „offene Rebellen“, so der zuständige Generalgouverneur von Wilna N.M. Murav’ev.71 Die Russifizierungspolitik und Bekämpfung des „Lateinertums“ (latinstvo) wurde vor allem in den Behörden und von denjenigen Beamten betrieben, die für Bildung und religiöse Fragen zuständig waren, und konnte sehr unterschiedliche Ausprägungen und Ziele haben.72 Die Obrigkeiten übersetzten etwa katholische und jüdische Gebete ins Russische, was als politisches Projekt betrachtet wurde. Das katholische Gebet „Pro Rege“ korrigierte man dabei mit dem Ziel, die Loyalität der einfachen Gläubigen gegenüber Alexander II. zu stärken. 73 Nicht nur die Verwendung verschiedener Sprachen, sondern auch unterschiedlicher Alphabete spielte eine große Rolle. Verschiedene Beamte des Reiches stellten eine enge Verbindung zwischen Alphabet und religiöser Denomination her: Das lateinische Alphabet wurde mit dem Katholizismus assoziiert, das gotische mit dem Protestantismus, und das kyrillische mit der Orthodoxie. Ein Wechsel des Alphabets wurde daher oft als Vorbereitung auf einen Konfessionswechsel angesehen. Die Einführung des Kyrillischen in säkularer und geistlicher Literatur hatte verschiedene Ziele. In polnischen Büchern etwa sollte es der Akkulturierung der Polen und der Depolitisierung ihres Nationalbewusstseins dienen; bei den Litauern der Depolonisierung und der Assimilierung.74 Das geschriebene Belarussisch und Ukrainisch sollten dagegen vollständig verdrängt werden. Je mehr eine ethnische Gruppe als den Russen ethnisch-kulturell nahe stehend betrachtet wurde, so Darius Staliūnas in seiner Studie zur Russifizierung in
70 Darius Staliūnas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863. Amsterdam, New York 2007, S. 297. 71 Ebd. 72 Dolbilov schildert einen extremen Fall von „Katholikophobie“ in Gestalt von Aleksandr Viktorovič Račinskij (1826–1877), der nach einer bezeichnenden Vorgeschichte und Kontakten mit Slawophilen 1865 Sonderbevollmächtigter des Generalgouverneurs der Nordwestregion wurde. Er bezeichnete im gleichen Jahr die Katholische Kirche als einziges Hindernis zwischen „gleichstämmigen Russen und Polen“ und als „Zecke“ (čužejadka) am „gesunden slawischen Körper“. Dolbilov: Russkij kraj, čužaja vera, S. 297–308, Zitat S. 301. 73 Dolbilov: Russkij kraj, čužaja vera, S. 754. 74 Zur Einführung des Kyrillischen in Bezug auf das Litauische mit dem Ziel der Assimilierung: Staliūnas: Making Russians, S. 260–269. Bei diesem Vorgehen war Nikolaj Novikov (1828–1898) eine treibende Kraft, der Inspekteur des Bildungswesens im Kreis Vilnius war.
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Litauen und Belarus, desto weniger Spielraum für kulturelle Entfaltung hatte sie. Das habe vor allem die Belarussen und Ukrainer betroffen.75 Von viel Erfolg waren Russifizierungs- und Depolonisierungspolitik jedenfalls nicht gekrönt, und sie hatten nicht selten unerwünschte Ergebnisse. So stärkten etwa die Versuche, das Russische in katholische Andachten einzuführen, die Verbindung zwischen Katholizismus und Polnischsein, was angesichts der Verdrängung des Litauischen aus der Öffentlichkeit zur Polonisierung der katholischen Bauern führte.76 Die Ablehnung sowohl durch die Bauern als auch durch Vertreter gebildeterer Schichten war vor allem darauf zurückzuführen, dass man bei der Überführung in das kyrillische Alphabet auch den Inhalt religiöser Texte änderte. So wurde etwa anstelle des katholischen die orthodoxe Art des Kreuzschlagens in Publikationen eingefügt. Als Alternative zu solcherart manipulierten Publikationen wurden während des Sprachverbots zwischen 1864 und 1904 zahlreiche litauische Bücher aus Ostpreußen sowie aus den USA eingeschmuggelt. 77 Das Beispiel der Religions- und Russifizierungspolitik im Nordwesten des Reiches zeigt sehr gut die Interdependenzen zweier Kategorien: Pole-Sein wurde von den imperialen Behörden, selbst von der zentralen statistischen Behörde, über die Konfession definiert, und die Konfession über die Nationalität. Gleichzeitig wird an diesem Beispiel auch die Relevanz des oben vorgestellten Intersektionalitätsmodells deutlich: durch die feste, pauschalisierende Verschränkung zweier Differenzkategorien miteinander (ethnisch: polnisch, religiös: katholisch) verstärkte sich institutionelle Diskriminierung. Stand und Außer-Stand (inorodcy) Bis 1917, als die ständischen Privilegien radikal abgeschafft wurden, war die Ständestruktur für das Russische Reich prägend und blieb formal und rechtlich in vielem bestehen. Gleichzeitig wurde das Ständekorsett der Gesellschaft aber deutlich zu eng. Die Nichtübereinstimmung zwischen Stand (soslovie) und gesellschaftlicher Realität zeigte sich vor allem in den Städten, da hier die neue Großgruppe der Arbeiter sowie eine breitere Angestelltenschicht und damit soziale Klassen entstanden. In der Folge wurden die städtischen Mittel- und Unterschichten noch stärker als zuvor zu vom Ständesystem kaum erfassten, aber gesellschaftlich sehr bedeutsamen Größen. 78
75 Staliūnas: Making Russians, S. 298, 303f. 76 Ebd., S. 304f. 77 Ebd., S. 269. 78 Unter Betonung der anhaltenden Bedeutung des Ständesystems: Gregory L. Freeze: The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History. In: The American Historical Review 91,1 (1986), S. 11–36. Als Überblick über die entstehenden neuen sozialen
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Zwischen Stand und ethnischer Zugehörigkeit existierten unterschiedliche und nicht immer einfache Wechselwirkungen. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass auch Nicht-Russen Zugang zum Adel hatten – traditionell war der Adel sogar multikulturell –, allerdings nicht alle im gleichen Maße. Auch hier sind wieder die Polen ein extremes und besonders bekanntes Beispiel. Nach den drei bzw. vier Teilungen Polens wurde ein absolut und prozentual gesehen sehr großer Anteil von Adeligen in den Reichsadel kooptiert. Noch 1897 als Ergebnis der Volkszählung war unter den Polen ein weit überdurchschnittlicher Adelsanteil festzustellen (über 5%, mehr gab es nur unter den Georgiern mit über 6 %). Während christliche, nicht-orthodoxe Ethnien gemäß des Zensus zum Teil recht große Adelsanteile hatten, waren diese unter den vorwiegend muslimischen ethnischen Gruppen (mit Ausnahme der Tataren und Aserbaidschaner) und den Buddhisten (Kalmücken) sehr gering, häufig unter 0,1%.79 Während die traditionelle Ständestruktur also durchaus ethnisch und religiös gegliedert war, so gab es zudem eine interessante und noch nicht hinreichend erforschte Sonderkategorie: Die im 17. und 18. Jahrhundert gängige Kategorie inovercy, „Fremdgläubige“, wandelte sich zu inorodcy, „Fremdstämmige“, und einige meist nicht-christliche Ethnien wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts pauschal als inorodcy eingestuft.80 Diese waren juristisch und formal gesehen ein eigener Stand, gleichzeitig aber politisch gesehen eine Art Außer-Stand, bei dem die (imaginierte) ethnische und religiöse Zugehörigkeit den sozialen Stand gewissermaßen ersetzte. Dass die Übersetzung ins Deutsche das Adjektiv „fremd“ beinhaltet, ist bezeichnend, denn es ging tatsächlich zunächst darum, das radikal „Andere“ (russ.: ino-) zu markieren.81 Der Begriff etablierte sich durch das berühmt gewordene Statut über die inorodcy in Sibirien von 1822, wobei er alle nicht-russischen Bewohner Sibiriens umfasste und deren Fremdheit hervorhob. Dies betraf die vielen relativ kleinen Völker wie die mandschurischsprachigen Tungusen oder die turksprachigen Jakuten. 82 Die Konfigurationen in den großen Städten: Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München 2013, S. 78–86. 79 Zum Vergleich: Bei den als „Russen“ geführten lag der Adelsanteil bei rund 0,8%. Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, Tabelle 6, S. 333. 80 Vgl. Michael Khodarkovsky: „Ignoble Savages and Unfaithful Subjects“. Constructing Non-Christian Identities in Early Modern Russia. In: Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917. Hg. von Daniel Brower und Edward Lazzerini. Bloomington 1997, S. 9–26. 81 John W. Slocum: Who, and When, Were the Inorodtsy? The Evolution of the Category of “Aliens” in Imperial Russia. In: The Russian Review 57 (April 1998), S. 173–190, hier S. 189f. 82 Zu den einheimischen Völkern Sibiriens: Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 36–38, siehe auch die Tabellen 1-3 im Anhang, S. 326–330.
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Konfession der Einheimischen war bei dieser Kategorisierung nicht relevant. Das Statut enthielt dagegen noch die seit dem 18. Jahrhundert gängige Einteilung in „Sesshafte“, „Nomaden“ und „Jäger und Sammler“. Während man zuvor davon ausgegangen war, dass die Einheimischen durch die Taufe erlöst werden konnten, sah man sie nun zunehmend als naturgemäß und dauerhaft außerhalb des regulären staatlichen Taxonomiesystems stehend.83 Aus der Sicht der sowjetischen Geschichtsschreibung waren die imperiale Nationalitätenpolitik und der inorodcy-Status ein Ausdruck standesmäßiger NichtGleichberechtigung (soslovnaja nepolnopravnost‘) und verbunden mit administrativer Unterdrückung (administrativnyi gnet) und „halbfeudaler steuerlicher Ausbeutung“ (polufeodal’naja nalogovaja ėkspluataсija).84 Dabei umfasste der inorodcyStatus neben den Pflichten wie dem traditionellen Leisten des Jasak in Pelzen oder Geld auch Privilegien, vor allem das der Freistellung von der Rekrutenpflicht, aber auch Glaubens-, Handels und Gewerbefreiheit.85 Von den Einheimischen in Sibirien ausgehend wurde der Begriff „inorodcy“ im Laufe des weiteren 19. und des frühen 20. Jahrhunderts auf einige weitere, teils zahlenmäßig große Gruppen, ausgeweitet, darunter auf die einheimische Bevölkerung der neu eroberten Gebiete Zentralasiens. Besonders durch die Eroberung der südlichen zentralasiatischen Gebiete entwickelten die Eliten eine neue Form der Zivilisierungsmission in Bezug auf die Völker des „Ostens“ (bzw. Orients), orientiert an und in Rivalität zu den zeitgenössischen europäischen Kolonialmächten, in deren Kreis Russland sich einzureihen strebte.86 Damit ging ein neues koloniales Bewusstsein einher. Es ging hierbei, zumindest in der Reformära der 1860er und frühen 1870er Jahre, noch (nicht) um endgültige Abgrenzungen auf der Basis ethnischer Klassifizierung, sondern darum, zu markieren, wer für Assimilierung geeignet war und am Prozess der nationalen Integration teilhaben konnte und wer nicht. Die Einheimischen Zentralasiens gehörten zu letzterer Kategorie und wurden nicht in das Ständesystem einbezogen.87 Hier war stattdessen ein koloniales Differenzsystem in Kraft, das unter anderem durch eine starke Segregation von „Einheimischen“ und 83 Letzteres am Beispiel der kleinen Völker Sibiriens: Yuri Slezkine: Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North. Ithaca 1994, S. 53. 84 L. M. Damešek: Sibirskie „inorodcy“ v imperskoj strategii vlasti (XVIII – nač. XX v.). Irkutsk 2007, S. 297. 85 Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 141. 86 Jüngst dazu: Ulrich Hofmeister: Die Bürde des Weißen Zaren. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien. Dissertation an der Universität Wien 2014, erscheint demnächst im Steiner-Verlag Stuttgart in der Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa“. 87 Paul W. Werth: At the Margins of Orthodoxy. Mission, Governance, and Confessional Politics in Russia’s Volga-Kama Region, 1827-1905. Ithaca, London 2002, S. 134–139.
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„Russen“ sowie durch die Betonung der Differenz in der Lebensweise (sesshaft versus nomadisch) geprägt war. 88 Der inorodcy-Status wurde in verschiedenen administrativen und politischen Kontexten zudem seit 1835 auch auf die Juden im Reich bezogen, seit den 1860ern auf die Völker der Wolgaregion und letztlich, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wenn auch hauptsächlich im Zuge politischer Polemik, auf alle nicht-russischen Gruppen im Reich.89 Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1897 waren fast 99% der Ethnien Zentralasiens als inorodcy verzeichnet, über 95% der Ethnien Sibiriens und 83% der Kalmücken, aber nur rund 5-6% der Tataren oder der Bewohner des Nordkaukasus.90 Nicht alle Muslime waren pauschal inorodcy, aber unter den Muslimen und Buddhisten des Ostens finden sich sehr hohe Prozentzahlen. Dies bedeutet zum einen, dass eine Korrelation dieses besonderen Standes nicht nur mit ethnischer und regionaler Herkunft, sondern auch mit Konfession vorliegt. Es zeigt sich zudem, dass es nicht-christliche Großgruppen mit höherem Status im Reich gab, wie die Muslime der Wolga-Ural-Region, und andere, wie die Muslime Zentralasiens, mit relativ niedrigem.91 Gleichzeitig aber zeigte die Verwendung der Kategorie inorodcy, wie oben angedeutet, einen umfassenden Wandel von Konfessionszugehörigkeit als Marker hin zu ethnischer (und sozialer) Herkunft an. Als Beispiel dafür bietet sich das Beispiel der Taxonomie in der Wolga-Kama-Region an. Hier hatte es im 18. Jahrhundert eine dreiteilige Klassifizierung gegeben, die orthodoxe Christen (Russen), „Neugetaufte“ (novokreščennye) und „Andersgläubige“ (inovercy) unterschied. Dabei diente „Neugetaufte“ als eine Sammelkategorie für alle Konvertiten und ihre Nachkommen, und zwar noch für Jahrzehnte nach der Konversion. Die „Neugetauften“ konnten innerhalb der Orthodoxie nur eine Randposition einnehmen.92 In den 1860er Jahren ergab sich – nach Vorläufern – ein deutlicher Wandel, und der Begriff inorodcy wurde nun häufig verwendet. Diejenigen, die vorher als „Neugetaufte“ bezeichnet worden waren, erschienen nun einfach als „Bauern“ oder als „getaufte inorodcy“. Auch einige andere soziale Kategorien verwandelten sich nun, in der Reformzeit, einfach in „Bauern“, darunter unterschiedliche Kategorien von Bauern und zu einem gewissen
88 Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent, 1865 – 1923. Bloomington 2007. 89 Slocum: Who, and When, Were the Inorodtsy? S. 182–189. 90 Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, Tabelle 6, S. 333. 91 Im Falle der Muslime der Wolga-Ural-Region spielen hierbei unter anderem die länger währende Geschichte ihrer Integration ins Russische Reich, der Bildungsgrad sowie die Kaufmannschaft eine Rolle. Zu diesen und weiteren Aspekten siehe: Mustafa Tuna: Imperial Russia‘s Muslims. Islam, Empire, and European Modernity, 1788–1914, Cambridge 2015, sowie: Noack: Muslimischer Nationalismus im russischen Reich. 92 Werth: At the Margins of Orthodoxy, S. 126.
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Grad die Baschkiren und Teptjaren, nichtrussische Jasakpflichtige, die in das Gebiet der Baschkiren am mittleren und südlichen Ural eingewandert waren. 93 Die Großen Reformen der 1860er und 1870er Jahre unter Alexander II. hatten Einfluss auf die bestehenden Klassifizierungssysteme und hoben manche Partikularkategorien auf. Auch bezüglich der inorodcy Sibiriens trat ihre Behandlung als Bauern in den Vordergrund: die Bauernbefreiungsgesetzgebung wurde auf sie ausgeweitet, und man führte zum Zwecke der besseren Kontrolle Bauernvorstände (krest’janskie načal’niki) ein. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts griffen Maßnahmen zum Abbau der oben erwähnten Dreiteilung nach Lebensform und die Volost- und Dorfverwaltung wurde eingeführt, nach der Auflösung der Zweiten Staatsduma am 3. Juni 1907 auch mit Gewalt. Damit wurde die standesmäßige Separierung der einheimischen Ethnien in Sibirien reduziert, aber nicht gänzlich abgeschafft.94 Im allgemeinen Wandel der Differenzkategorien und vor dem Hintergrund der Großen Reformen kam es somit zu einer Wechselwirkung und Konkurrenz von Standeskategorien und der Sammelbezeichnung inorodcy. Während der Volkszählung von 1897 wurde deutlich, dass die Standesangabe für die Befragten vielerlei Funktionen erfüllen konnte. Im nördlichen Sibirien etwa bezeichneten sich die „alten Siedler“ (starožily) in Ust‘ Olensk, die ursprünglich nicht den indigenen Völkern angehörten, aber oft lokale Sprachen beherrschten, als „Bauern“. Sie nutzten zur Abgrenzung von Nachbargemeinschaften also die Standesangabe, obwohl sie ihren Lebensunterhalt auf die gleiche Weise verdienten wie jene. Eine vor Ort relevante Differenzkategorie war dagegen der Bezug auf das Dorf, aus dem man stammte. 95 Die Behörden wiederum beanstandeten Fälle, in denen bestimmte Ethnien, etwa die Samojeden, bei der Volkszählung entweder als Bauern oder als inorodcy eingetragen worden waren. Sie verlangten homogene Gruppen und einen möglichst konsistenten Zusammenhang zwischen ethnischer Zugehörigkeit (soweit diese erfasst werden konnte) und Stand.96 Nicht nur die ethnische, auch die religiöse Zugehörigkeit korrelierte mit der Standeszugehörigkeit. Die orthodoxe Geistlichkeit war ein eigener Stand, und dies galt auch für die armenische apostolische Kirche. Bei den Katholiken und Protestanten im Reich war es komplizierter. So konnten katholische Geistliche, die adeliger Herkunft waren, weiterhin dem Adel angehören, während alle protestantischen Geistlichen dem persönlichen (nicht erblichen) Adel angehörten, solange sie als Pastoren tätig waren.97 Bei den nicht-christlichen Konfessionen wurde eine Geistlichkeit im 93 Werth: At the Margins of Orthodoxy, S. 129–131. Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich, S. 43f. 94 Damešek: Sibirskie „inorodcy“, S. 295f. 95 Slezkine: Arctic Mirrors, S. 97f. 96 Cadiot: Searching for Nationality, S. 443. 97 Werth: Imperiology and Religion, S. 66.
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Sinne der staatlichen Verwaltung erst durch staatliche Intervention geschaffen und legitimiert, auch wenn dabei unklar blieb, wer genau in jedem Fall zur „Geistlichkeit“ zählte und welche Rechte und Privilegien damit verbunden waren. Der Staat verweigerte jedenfalls explizit, nicht-christliche Kultdiener als eigenen Stand anzuerkennen.98 Wiederum kam es also zu einer Ungleichbehandlung zwischen christlichen und nicht-christlichen Konfessionen. Der Blick auf das Russische Reich mit dem Ansatz der Intersektionalität zeigt, dass vielfältige Wechselwirkungen zwischen den großen, klassischen Differenzkategorien Konfession, Stand und Ethnie bzw. Nationalität bestanden. Wenn es zu festen Verschränkungen zweier Kategorien von Seiten staatlicher Politik kam, wie bei Pole/Katholik, konnte dies zu deutlicher Diskriminierung führen, die auch auf weitere Gruppen (wie im Fall der Litauer, die mit den Polen assoziiert wurden) ausstrahlen konnte, wobei politische Ziele des imperialen Staates wie im Falle der Russifizierungspolitik mit der Konstruktion von Feinbildern Hand in Hand gingen. Zwischen den großen Konfessionen sind Unterschiede sowohl hinsichtlich der Korrelation mit Ethnie als auch mit Stand deutlich geworden. Dabei war die Orthodoxie, innerhalb derer ethnische bzw. regionale Herkunft bedeutsam sein konnte, wie das Beispiel der Neugetauften im Wolgagebiet zeigt, und mit Ausnahme der Altgläubigen, klar privilegiert. Ihr folgten in der Hierarchie, die durch staatliche Politik und Verwaltung etabliert wurde, die anderen christlichen Konfessionen und erst dann die nicht-christlichen. Die zudem betrachtete Kategorie Sprache erwies sich als langlebig angesichts ihrer Alltagsrelevanz. Sprache wurde von imperialen Beamten und Statistikern bemüht, um ethnische Zugehörigkeit zu ermitteln, genauer: Zugehörigkeit abseits von Stand und Konfession. Angesichts von Mehrsprachigkeiten und sprachlichen Übernahmen (wie im Falle Nordsibiriens) konnte dies nur begrenzten Erfolg haben. Wie das Beispiel des Zensus zeigt, erwies sich managing diversity, verstanden als administrative Bemühungen, Differenzkategorien zu klären und zu einem gewissen Grad historischem Wandel anzupassen sowie Bevölkerung in diese einzupassen, als durchaus schwieriges Unterfangen. Die Kategorien der Differenzierung und (potentiellen) Benachteiligung waren auf verschiedenen Ebenen umstritten und sehr im Fluss. Ethnische Zugehörigkeit wurde vom Zensus nur indirekt erfasst, doch als eine seiner Folgen gewann die Kategorie Nationalität an Bedeutung.
98 Ebd., S. 65.
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DER SPATIAL TURN, MOBILITÄT UND EXPERTENGRUPPEN Es hat in der Osteuropäischen Geschichte in den letzten Jahren nicht nur einen imperial turn gegeben, sondern auch den spatial turn, der vielleicht angesichts der Weiten des Russischen Reiches besonders einleuchtet. Es geht dabei um die (Wieder-)Verortung der Geschichte im Raum, für die besonders prominent Karl Schlögel argumentiert hat.99 Die Untersuchungseinheit kann dabei relativ klein sein, wie etwa bei einer viel zitierten Studie zum Heumarkt in St. Petersburg.100 In der noch unveröffentlichten Habilitationsschrift von Hans-Christian Petersen zu St. Petersburg ist unter anderem auf die Rolle der Höfe verwiesen worden: Die hier anhand eines seltenen Selbstzeugnisses untersuchte Weißnäherin Matrjona Ključeva fand auf dem Hof bei dem Atelier, in dem sie arbeitete und auf dem Händler verschiedener ethnischer Herkunft Speisen anboten und täglich der Leierkastenmann spielte, einen „Mikrokosmos des Imperiums“, der ihre Lebenswelt erweiterte. 101 Nun hat, um zum Intersektionalitätsmodell von Degele/Winker zurückzukommen, dieses die Räumlichkeit von sozialem Handeln nicht im Blick, obwohl es sicher für die untersuchten Erwerbslosen einen Unterschied macht, ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben, wie ihre Möglichkeiten für geographische Mobilität sind, etc. Um ein vollständigeres Bild von Statusoptionen und -realitäten im Russischen Reich zu erhalten, ist die Einbeziehung der Komponenten Raum und Mobilität unumgänglich. Hinzu kommt der Aufstieg des Professionellen, der das Ständesystem unterlief. Gerade die Verknüpfung von Beruf und Mobilität konnte, wie im Folgenden gezeigt werden soll, bestehende Beschränkungen aufgrund staatlicher Differenzpolitik umgehen helfen und alle oben diskutierten Ungleichheitskategorien aushebeln. Dabei wird in diesem Fall nicht von Diskriminierung, sondern von Aufstiegsoptionen her argumentiert. Die folgenden Ausführungen schließen an Erkenntnisse aus der jüngeren Imperienforschung an, die die imperiale Erfahrung (konkreter Akteure) und auch die Erfahrung von Ungleichheit in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und einen eher situativen Ansatz gewählt hat 102 oder mit autobiographischen und
99 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003. 100 Hubertus F. Jahn: Der St. Petersburger Heumarkt im 19. Jahrhundert. Metamorphosen eines Stadtviertels. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 162–177. 101 Hans-Christian Petersen: An den Rändern der Stadt? Soziale Räume der Armen in einer Metropole der Moderne – St. Petersburg (1850–1914). Unveröffentlichte Habilitationsschrift. Universität Mainz 2015, S. 68. 102 Gerasimov et al.: New Imperial History and the Challenges of Empire, S. 17f.
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biographischen Zugängen das Russische Reich (wie auch die benachbarten Imperien) als „Ermöglichungsraum autobiographischer Entfaltung“ charakterisiert und eine Wechselwirkung „von bestehenden imperialen Ordnungsmustern und deren Ausdeutungen durch die Akteure“ konstatiert hat.103 Die Stellung des Adels war auch um 1900 weiterhin herausragend, sowohl in der Politik als auch in Verwaltung und Militär. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden neue Gruppen von Experten, die häufig nicht-adeligen Kreisen entstammten und bürgerlich geprägt waren. Die daraus entstehende Rivalität „brachte neue Mechanismen der Vergemeinschaftung, aber auch der Abgrenzung und Beharrung“ zwischen Adel und bürgerlichen Kreisen hervor.104 Es kam vielfach zum Konflikt zwischen dem Aufstieg von Berufs- und Expertengruppen und der Verteidigung von Ständeprivilegien. Einen deutlichen Professionalisierungsschub erfuhr beispielsweise die Armee des Russischen Reiches, besonders durch die umfassenden Reformen des Kriegsministers Dmitrij Alekseevič Miljutin (im Amt 1861-1881) im Kontext der Großen Reformen. Nachdem sich Miljutin einen publizistischen Schlagabtausch mit seinen Kritikern geliefert hatte, die sich unter anderem dagegen stemmten, auch den Adel der Allgemeinen Wehrpflicht zu unterziehen, und obwohl die Bewahrung der Adelsprivilegien „ein wichtiges und zeitloses Moment der Reformgegner“ blieb, konnte Miljutin sich mit seinen Reformvorhaben durchsetzen.105 Die höheren Ränge in der Armee wurden nun für Männer aus allen sozialen Gruppen geöffnet. So fanden sich gegen Ende des Bestehens des Reiches im Offizierskorps nicht wenige, die aus nicht-adeligen Familien stammten, darunter auch raznočincy (wörtlich: Leute verschiedenen Standes; nicht-adelige Bildungsschicht, Vertreter freier Berufe).106 Gleichzeitig ist aber zu konstatieren, dass Standesprivilegien fortbestanden. Ein Hort der Adelsprivilegien war die Kaiserliche Garde, die Peter I. geschaffen hatte. Sie wuchs bis 1917 auf eine größere Zahl an Regimentern an, welche in der regulären Armee eingesetzt wurden. Die Offiziere in diesen 103 Tim Buchen und Malte Rolf: Eliten und ihre imperialen Biographien. Zur Einführung. In: Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918) / Imperial Biographies in Russia and Austria-Hungary (1850–1918). Hg. von Tim Buchen und Malte Rolf. Berlin, Boston 2015, S. 3–31, hier S. 4f. Siehe auch: Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Martin Aust und Frithjof Benjamin Schenk. Köln, Weimar, Wien 2015. 104 Buchen und Rolf: Eliten und ihre imperialen Biographien. Zur Einführung, S. 11f. 105 Werner Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874–1914. Paderborn u.a. 2006, S. 39–47, Zitat S. 46. 106 John W. Steinberg: All the Tsar’s Men. Russia’s General Staff and the Fate of the Empire, 1898–1914. Washington, D.C., Baltimore 2010, S. 26.
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Regimentern waren seit dem frühen 18. Jahrhundert aufgrund ihrer adeligen Herkunft aufgenommen worden und hatten von einem mit dem Hof verbundenen Beziehungsnetzwerk profitiert. Während des 19. Jahrhunderts widersetzten sich die Gardeoffiziere mit Unterstützung des Zaren dem Aufstieg von Soldaten mit einfacher Herkunft in die Kommandoebenen der Armee.107 Der Autor einer Geschichte des Generalstabs, John W. Steinberg, spricht von dem Kampf einer „tief verwurzelten Kaste traditionell gesinnter militärischer Eliten“ um den Erhalt ihres Status. Er ist sogar der Ansicht, dass sich, neben weiteren Faktoren, die ungelösten sozialen Gegensätze äußerst nachteilig auf die Planungs- und Einsatzfähigkeit der Armee auswirkten.108 Dass in der Armee neben der Ausbildung auch die geographische Mobilität eine Voraussetzung für eine steile Karriere war, verwundert nicht. Ein Beispiel dafür ist Aleksej Nikolaevič Kuropatkin, der zwar aus einer adeligen Familie stammte, seinen Aufstieg aber nicht adeligen Beziehungsnetzen verdankte, sondern der Typus eines sehr professionellen Offiziers war. Sein Einsatz bei den Eroberungsfeldzügen in Zentralasien verhalf ihm letztlich zum Posten des Kriegsministers, den er von 1898 bis 1904 innehatte.109 Die Bereitschaft zur weiträumigen Mobilität schuf auch für die neuen Berufsgruppen die Voraussetzung für Aufstieg. Das gilt etwa auch für die polnischen Militärärzte im Russischen Reich, die Ruth Leiserowitz als „mobile Experten“ charakterisiert hat. Sie stellten sich in den Dienst des Russischen Reiches und kamen an den entlegensten Orten des Reiches zum Einsatz. Zahlreiche ausgebildete Mediziner nahmen eine Tätigkeit in verschiedenen Gebieten des Reiches auf, u.a. da im Königreich Polen nach 1880 ein Ärzteüberschuss zu verzeichnen war. Die Zugehörigkeit zur imperialen Elite konnte über Positionen als Hochschulprofessoren oder Klinikleiter, Ordinarien an Militärkrankenhäusern, als leitende Ärzte militärischer Einheiten oder vom Innenministerium bestelle Amtsärzte erreicht werden. Dabei wurden zwar einerseits die Karriere im Dienst des Imperiums in der polnischen Gesellschaft angesichts des weit verbreiteten Empfindens der russischen Herrschaft als Fremdherrschaft und Besatzung nicht unbedingt gern gesehen und die imperialen Karrieren
107 Steinberg: All the Tsar’s Men, S. 16. 108 Ebd., S. 19f., 26f., 36, Zitat S. 19. Zu einem anderen, wenn auch ebenso kritischen Urteil gelangt Werner Benecke in seiner Studie zur Allgemeinen Wehrpflicht im Russischen Reich. Er konstatiert: „Die Armee und die sie umgebende nicht militärische Welt griffen nicht ineinander. […] In der sich wandelnden Gesellschaft des Reiches war die Armee in vielen entscheidenden Punkten ein Fremdkörper geblieben.“ Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft, S. 405. 109 Steinberg: All the Tsar’s Men, S. 40–42.
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daher häufig nicht in den Kanon der polnischen Historiographie aufgenommen.110 Andererseits aber galt für die Polen nach 1864 vielfach die Devise ‚Wo mich die Karriere hinführt, dort liegt das Vaterland‘, und man sah pragmatisch die Möglichkeit, den polnischen wissenschaftlichen Ruhm in der Welt zu mehren, und sei es im Dienst des Besatzers. Die Ärzte, die sich auf längere Sicht auf wissenschaftlichem Gebiet hervortaten, wurden in der Regel entweder nach dem Studium an einen weit entfernten Ort zum Einsatz geschickt und entdeckten dort ihre Begeisterung für eine wissenschaftliche Tätigkeit, oder sie ließen sich dienstverpflichten, um die Weiten und Möglichkeiten des Reiches für sich nutzen und eigene Forschungen vorantreiben zu können. Dabei war der Dienst im Osten finanziell besonders attraktiv, u.a. da alle fünf Jahre ein Viertel der erworbenen Pensionsansprüche als Zulage gewährt wurde.111 Die polnischen Militärärzte konnten an vielen Orten und in verschiedenen Kontexten institutionell und wissenschaftlich Neuland erschließen. So wurde etwa Julian Talko-Hryncewicz (1850–1936) 1899 nach Urga in der Mongolei, das heutige UlanBator, geschickt, wo sich zu der Zeit die Pest ausbreitete. Er stellte bei seinen dortigen Forschungen fest, dass die Übertragung der Krankheit in dem betroffenen Gebiet hauptsächlich über Murmeltiere stattfand. Kazimierz Bentkowski (1849–1890) gründete 1888 eine erste Klinik in Taschkent, um nur zwei von zahlreichen Beispielen zu nennen. Die Tätigkeiten in Diensten des Imperiums ließen vielfach Freiräume für eigene Forschungen. So forschte und publizierte Talko-Hryncewicz in den Jahren 1892 bis 1908 zu den Burjaten und begründete die Sektion „Amurgebiet“ der renommierten Russischen Geographischen Gesellschaft, für die er zahlreiche Veranstaltungen durchführte, ein Museum mit einer großen Bibliothek einrichtete und ein Dutzend Bände veröffentlichte.112 Nicht nur für Talko-Hryncewicz, sondern im Allgemeinen gilt für polnische Mediziner, die in Sibirien forschten, dass sie sich zwischen dem Eigenen, Polnischen, und zwei Arten von Fremdheit positionierten: dem Russischen und dem Fremden der einheimischen, nicht-christlichen Völker Sibiriens.113 Die Erweiterung des Horizonts der Militärärzte durch den Einsatz an verschiedenen Orten im Russischen Reich ließ sie zu „Experten des Fremden und imperialer Heterogenität“ werden. Gleichzeitig trugen sie aber auch, besonders durch ihre
110 Ruth Leiserowitz: Polnische Militärärzte im zarischen Imperium. Räume und Spannungsfelder zwischen Warschau und Port Artur. In: Eliten im Vielvölkerreich. Hg. von Buchen und Rolf, S. 223–239, hier S. 224. 111 Ebd., S. 225, 228–231. 112 Ebd., S. 233f. 113 Maria Rhode: Zivilisierungsmissionen und Wissenschaft. Polen kolonial? In: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 5–34.
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Publikationen, „zur mentalen Verdichtung des imperialen Raums zwischen Warschau und Port Artur“ bei.114 Für den Zusammenhang von professioneller Expertise und Mobilität innerhalb des großflächigen Reiches lassen sich weitere Beispiele anführen. Es sind etwa auch die Ingenieure zu nennen, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als größere Berufsgruppe fest etablierten. Georgij Konstantinovič Rizenkampf (18861943) war in Jerewan in Armenien aufgewachsen (Mutter Georgierin, Vater Ukrainer) und von dort nach St. Petersburg gekommen, wo er eine Ingenieursausbildung erhielt. Nach praktischer Erfahrung im Kaukasus kehrte er in die Hauptstadt zurück. Von 1912 bis 1914 leitete er eine Expedition des Agrarministeriums in die Hungersteppe in Turkestan. Er konnte hier schnell zum bekanntesten Wasserbauspezialisten für die Hungersteppe und den Unterlauf des Syr Darja werden und wurde mit technischer Projektplanung für die Region betraut. Nach der Oktoberrevolution stieg er in verschiedene hohe Posten auf und wurde unter anderem 1921 Gründungsdirektor eines Instituts für Wasserbau in Petrograd/Leningrad.115 Er konnte sich als Wasserbauspezialist im wissenschaftlichen Zentrum der Sowjetunion und im Rahmen der neu geschaffenen Institutionen etablieren – jedenfalls bis zu seiner ersten Verhaftung 1929.116 Allein seine Bereitschaft, sich auf Zentralasien einzulassen, verhalf ihm zu dieser Karriere. Dieses Beispiel deutet noch einmal auf Zentralasien als aus Sicht des Zentrums weit entfernte und exotisch-verlockende Provinz hin, die in vielen Bereichen Aufstiegsmöglichkeiten bot. Es verweist zudem auf die Kontinuitäten bei den Karrieren von Vertretern der neuen Expertengruppen in die sowjetische Zeit hinein. Aus nahe liegenden Gründen verfügen wir über ein Vielfaches mehr an Quellen und Forschungen zu den Eliten des Reiches als zu den unteren Schichten. Doch auch für die soziale Mobilität in den unteren Schichten war geographische Mobilität häufig Voraussetzung, und hier ist an erster Stelle die Land-Stadt-Migration zu nennen. Spiridon Drožžin kam als elfjähriger Bauernjunge 1860 aus dem Dorf Nizovka im Gouvernement Tver‘ nach St. Petersburg und erlebte hier eine abenteuerliche „Karriere“ mit vielen Höhen und Tiefen. Der Tiefpunkt war erreicht, als er für eine Zeitlang obdachlos wurde. Als er in die Stadt kam, konnte er lesen und etwas schreiben. Sein Bildungshunger, sein Einarbeiten in den klassischen Kanon der russischsprachigen Literatur und nicht zuletzt die offene Publikumspolitik der Publička, der von Katharina II. gegründeten Öffentlichen Bibliothek, die ihm den Zugang zu Literatur ermöglichte und ihm in Zeiten der Obdachlosigkeit zum schützenden Dach über dem 114 Leiserowitz: Polnische Militärärzte, S. 239. 115 Russisches Staatliches Archiv für Ökonomie (RGAĖ), Moskau, f. 282, op. 1, d. 4b, ll. 40, 46, 50. 116 Julia Obertreis: Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, 1860–1991. Göttingen 2017, S. 172f.
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Kopf wurde, retteten ihn aber. Auch durch die Unterstützung von Bekannten und Freunden, darunter Literaten, wurde er schließlich zu einem recht bekannten „Bauerndichter“, der ein Zimmer und ein Auskommen hatte und in Literatenkreisen verkehrte. Dabei wechselte er zwischen Nizovka und Petersburg, gewissermaßen als eine spezifische, individuelle Form des otchodničestvo, ein Begriff, der sowohl die Migration in die Stadt umfasst als auch das Leben zwischen Dorf und Stadt. 117 Faszinierend sind auch die Selbstzeugnisse der oben erwähnten Weißnäherin Ključeva, die Einblicke in Lebenswelten von Arbeiterinnen in Petersburg geben. Sie war in der Hauptstadt aufgewachsen und blieb dort. Im Vergleich zu Drožžin hatte sie einen eher begrenzten geographischen Horizont. An ihrem Alltag wird jedoch deutlich, dass die städtischen Räume geschlechterspezifisch waren. Bestes Beispiel sind die traktiry, die Kneipen, zu denen de facto nur Männer Zugang hatten. In der Kneipe gegenüber dem Atelier, in dem sie arbeitete, erhielten sie und ihre Kolleginnen zwar heiße Getränke, konnten sich aber nur auf den steinernen Stufen zum Eingang niederlassen. Wie an der Nichtzugänglichkeit von in sozialer Hinsicht zentralen städtischen Räumen sichtbar wird, war Ključeva als Frau und als Arbeiterin – mithin ein klassischer Fall der Korrelation von Geschlecht und Klasse – bezüglich gesellschaftlicher Teilhabe deutlich eingeschränkt und diskriminiert.118 Der Zusammenhang zwischen geographischer Mobilität, räumlicher Sozialstruktur und sozialem Status geht aus diesen Beispielen klar hervor und müsste Berücksichtigung finden, wenn es um Kategorien sozialer Differenzierung geht, die durch Mobilität bedeutend verändert werden konnten. Beschränkungen konnten aufgehoben werden, wie z.B. die grundsätzlich eingeschränkte Mobilität für Bauern durch Drožžins Weggang in die Stadt oder die Bildungsbeschränkungen für Polen durch die Schließung der Universitäten im Königreich. Sich im Imperium auf den Weg zu machen, konnte große Möglichkeiten eröffnen. Es wäre weiter zu untersuchen, ob die oben beleuchteten Differenzkategorien, auch in ihrer Wechselwirkung, nicht außerhalb der Herkunftsregion eines Individuums oder einer Gruppe anders wirkten, inwieweit also beispielweise ein zentralasiatischer inorodec außerhalb Zentralasiens noch als solcher galt oder ob ein lettischer Bauer außerhalb des Nordwestens des Reiches noch als Katholik eingestuft und als solcher diskriminiert wurde.
117 Petersen: An den Rändern der Stadt? S. 52–59, 62. 118 Ebd., S. 49–52. Der Autor spricht von einer “doppelten Marginalisierung“. Ebd., S. 50.
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FAZIT Auch wenn wir mit unseren Akteurinnen und Akteuren leider keine Gruppendiskussionen organisieren können, kann doch die Anwendung des Intersektionalitätsmodells auf die Imperiengeschichte durchaus bereichernd sein. Zur Betrachtung der Herstellung und Wirkmächtigkeit von Differenz in einem historischen Kontext ist die Intersektionalität als Ansatz m.E. in modifizierter Form geeignet. Die Modifizierung erfolgte hier zum einen in Bezug auf die Nichtstabilität und Nichtabgeschlossenheit von Kategorien, die, wie gezeigt wurde, historischem Wandel unterlagen, sich überlappten, substituierten oder gegenseitig bedingten. Eine weitere Modifizierung erfolgte in der Hinsicht, dass nicht allein von Diskriminierung ausgegangen wurde. Stattdessen wurde diese als eine mögliche Folge der Erzeugung von Differenz gesehen. Bestimmte Aufstiegsmechanismen kamen in den Blick, besonders geographische Mobilität, die potentiell benachteiligende andere Differenzkategorien in den Hintergrund treten lassen konnten. Zwar werden bestimmte Ungleichheitskategorien in der Forschung zum Russischen Reich schon lange beachtet, v.a. Stand, Ethnie, Nationalität und religiöse Zugehörigkeit. Doch als Historiker*innen können wir von der Intersektionalität lernen, Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Kategorien systematischer zu analysieren und genauer zu charakterisieren. Dabei sollte es der Anspruch sein, Relevanz und Wirksamkeit von Differenzkategorien sowohl auf der politisch-administrativen als auch auf der Ebene der sozialen Praktiken, Lebenswelten und Alltagskommunikation zu bestimmen. Dieser Anspruch ist häufig aufgrund der Quellenlage nicht einfach umzusetzen; daher scheint eine Kombination von seriellen Quellen und Einzelfallanalysen (unter Einbeziehung von Selbstzeugnissen, wo möglich) vielversprechend. Während hier weitgehend die soziostrukturelle Ebene betrachtet wurde, wäre künftig eine stärkere Verknüpfung mit den Ebenen der Identitäten und der Repräsentationen wünschenswert. Dringend erforderlich ist auch eine systematische Reflexion über die Interrelationen zwischen Geschlecht und den hier beleuchteten Ungleichheitskategorien. Zudem verdienen es die Differenzierungen aufgrund von Sprache und Lebensweise, stärker als in bisheriger Forschung als eigenständige, von der Nationalität zunächst unabhängige Kategorien gesehen zu werden. Um den zeitgenössischen Realitäten gerechter zu werden, sollte auch die Kategorie Profession in ihren Wechselwirkungen zu den oben genannten, eher klassischen Differenzkategorien mehr Beachtung finden. Das „Machen“ von Status geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern an konkreten geographischen und imaginierten Orten. Eine räumliche Verortung von Einund Ausschlussmechanismen und der Wirkung von Differenzfaktoren eröffnet gerade für die Imperiengeschichte faszinierende Betätigungsfelder.
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Kennzeichnend für das Russische Reich im hier betrachteten Zeitraum ist, dass zentrale Kategorien wie Stand und Nationalität instabil waren, ob wie im Falle des Standes durch Modernisierungsprozesse unterlaufen oder wie im Falle der Nationalität im Zuschnitt kontrovers diskutiert und von verschiedenen Seiten gefordert, aber auf staatlicher Verwaltungsebene bis 1917 kaum durchgesetzt. Dabei strebte die imperiale Verwaltung auf verschiedenen Ebenen nach möglichst eindeutiger Kategorisierung. Gerade das zeitgenössische Verhandeln dieser Klassifizierungen, ob auf internationaler Ebene beim Statistischen Kongress oder durch den kreativen Umgang damit durch Befragte bei der Volkszählung, ist wohl charakteristisch nicht nur für das Russische Reich um 1900, sondern auch für andere Imperien der Zeit und belegt einmal mehr, welchen Herausforderungen sie sich ausgesetzt sahen.
Islamische Konzeptionen zum Umgang mit religiöser Diversität Zarathustrier und Buddhisten Stephan Kokew
Wenn man den Diversitätsbegriff, wie im vorliegende Beitrag der Fall, im Sinne religiöser Diversität/Vielfalt auffasst, dann lässt sich konstatieren, dass das Themenfeld „Islam und Diversität“ bisher überwiegend mit Bezug auf das Verhältnis von Muslimen zu Nichtmuslimen sowie mit Blick auf innermuslimische Toleranzkonzeptionen abgehandelt worden ist.1 Obgleich neuere Studien die „Diversitätsfrage“ auf den religiös-rechtlichen Umgang gegenüber sexueller Diversität ausgeweitet haben,2
1
Vgl. hierzu stellvertretend Rudi Paret: Toleranz und Intoleranz im Islam. In: Saeculum 21 (1970), S. 344–365; Albrecht Noth: Möglichkeiten und Grenzen islamischer Toleranz. In: Saeculum 29 (1987), S. 190–204; Adel Théodor Khoury: Toleranz im Islam. München 1980 (Entwicklung und Frieden 22); Reinhard Schulze: Toleranzkonzepte in islamischer Tradition. In: Kulturthema Toleranz. Zur Grundlegung einer interdisziplinären und interkulturellen Toleranzforschung. Hg. von Alois Wierlacher. München 1996, S. 495–513; Yohanan Friedmann: Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition. Cambridge 2003 (Cambridge Studies in Islamic Civilization); Katajun Amirpur: Gegenwärtige islamische Konzeptionen von religiöser Toleranz. Das Beispiel Iran. In: Religiöse Toleranz heute – und gestern. Hg. von Myriam Bienenstock und Pierre Bühler. Freiburg i. Br., München 2011, S. 169–191; Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011; Stephan Kokew: Annäherung an Toleranz. Ausgangspunkte, Kontexte und zeitgenössische Interpretationen des Toleranzbegriffs aus dem schiitischen Islam. Würzburg 2014 (Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften 30).
2
Siehe hierzu Hans-Peter Pökel: Der unmännliche Mann. Zur Figuration des Eunuchen im Werk von al-Ǧāḥiẓ (gest. 869). Würzburg 2014 (Mitteilungen zur Sozial-und Kulturgeschichte der islamischen Welt 36); Thomas Bauer: Islam und „Homosexualität“. In:
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lehnen sich die folgenden Ausführungen ebenfalls an der bereits oft gestellten Frage nach dem Umgang des Islams gegenüber Nichtmuslimen an. Damit rückt auch der Schutzbefohlenen-Status (dhimma) in den Fokus: Zum einen, weil anhand dieses Status bestimmte Gruppen von Nichtmuslimen in die islamische Gesellschaftsordnung integriert wurden. Zum anderen, weil dieser Rechtsstatus in den folgenden Ausführungen als ein wandelbares Konzept von Differenzierung verstanden wird, da er auch auf Religionsgemeinschaften ausgeweitet wurde, die im Koran nicht ausdrücklich als „Schriftbesitzer“ (ahl al-kitāb) kategorisiert sind. Die Dynamik dieses Umgangs mit religiöser Diversität soll im Folgenden am Beispiel der Kategorisierung von Zarathustriern und Buddhisten als Schutzbefohlene (ahl adh-dhimma) in frühislamischer Zeit verdeutlicht werden. Anhand der Beschreibung dieser beiden Religionsgemeinschaften in dem Buch der Religionen und Weltanschauungen3 (Kitāb al-milal wa-n-niḥal) des muslimischen Gelehrten Muḥammad ibn ʻAbd al-Karīm ash-Shahrastānī (gest. 1153) 4 soll schließlich ermittelt werden, inwieweit diese Darstellung als eine positive Wahrnehmung von religiöser Diversität im mittelalterlich-islamischen Kontext gewertet werden kann.
RELIGIÖSE DIVERSITÄT ALS KONTEXTUELLE GEGEBENHEIT Religiöse Diversität kann mit Blick auf das Entstehungsumfeld des Islam als eine kontextuelle Gegebenheit bezeichnet werden. Mekka, die Geburtsstadt und erste bedeutende Wirkungsstätte des Propheten Muḥammad, war ein Zentrum des altarabischen Polytheismus. Hier befand sich die Kaʻba, die als zentrale Kultstätte den Mittelpunkt einer sich jährlich vollziehenden Wallfahrt der polytheistischen arabischen Stämme bildete. In Yathrib, dem späteren Medina, wohin Muḥammad im Jahr 622 emigrieren sollte, bildeten jüdische Stämme die Bevölkerungsmehrheit und auch an anderen Orten der Arabischen Halbinsel existierten jüdische Gemeinschaften. Präsent war unter den vorislamischen Arabern zudem das Christentum in seinen unterschiedlichen Denominationen, insbesondere in den Grenzgebieten zu Byzanz und
Religion und Homosexualität. Aktuelle Positionen. Hg. von Thomas Bauer u. a. Göttingen 2013 (Hirschfeld-Lectures 3), S. 71–100. 3
Ich lehne mich bei der Übersetzung des Titels an Josef van Ess an. Vgl. hierzu Josef van Ess: Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten. Bd. 2. Berlin, New York 2011 (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients 23), S. 860.
4
Muḥammad ibn ʻAbd al-Karīm ash-Shahrastānī: Kitāb al-milal wa-n-niḥal. Book of Religious and Philosophical Sects. Part I u. II. Hg. von William Cureton. London 1842.
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dem persischen Sassanidenreich. Schließlich war im Osten der Arabischen Halbinsel, in Baḥrain, auch der Zarathustrismus vertreten. Deren Anhänger werden im Koran nur ein einziges Mal in Sure 22,17 als majūs erwähnt,5 und dabei in einem Zug mit den als Schriftbesitzern kategorisierten Juden, Christen und Sabiern genannt: „Siehe, diejenigen, die glauben, die Juden sind, die Sabier, die Christen, die Zoroastrier und die beigesellen – siehe, Gott entscheidet zwischen ihnen am Tag der Auferstehung. Siehe, Gott ist Zeuge über alles.“ Nicht zuletzt zeugt der Koran von der Interaktion Muḥammads mit seinem multireligiösen Umfeld. Hier finden sich Verse, die auf das Phänomen der Vielfalt unter den Menschen eingehen und auf religiösen Pluralismus im Besonderen. Zu letzteren zählen u. a. Sure 2,148 und 5,48 sowie der berühmte Vers „Kein Zwang ist in der Religion“ (Sure 2,256).6 Auf eine Auseinandersetzung mit Diversität, in der Art, als dass man sich mit seinem Gegenüber befassen soll, scheint Sure 49,13 anzuspielen: „Ihr Menschen! Siehe, wir erschufen euch als Mann und Frau und machten euch zu Völkern und zu Stämmen, damit ihr einander kennenlernt.“ Das hier verwendete Wort für „kennenlernen“ (taʻārafū) besitzt im Arabischen die gleiche etymologische Ausgangswurzel wie das Wort „Anerkennung“ (i‘tirāf); eine Verbindung, die nicht zuletzt von gegenwärtigen Muslimen hervorgehoben wird. 7 Neben diesen Aussagen, die eine positive Anerkennung von Diversität implizieren, rufen andere Verse zu einer Bekämpfung der Anhänger des altarabischen Polytheismus (mushrikūn) auf, gegen deren Glauben sich die Botschaft des Islam unmittelbar wendet. Gleichzeitig werden die Muslime im Koran jedoch auch zu formaler Toleranz (Duldung) gegenüber den Polytheisten aufgerufen, so in Sure 9,7, wo diese als Vertragspartner akzeptiert werden und mit ihnen geschlossene Verträge als einzuhalten gelten. Diese Aussagen des Korans können als Form einer pragmatisch angelegten Koexistenz-Toleranz 8 gewertet werden, die fest definierten Grenzen 5
Elsaid M. Badawi, Muhammad Abdel Haleem: Art. ʼal-Majus. In: Dictionary of Qurʾanic Usage. Link http://dx.doi.org/10.1163/1875-3922_dqu_SIM_001578 [22.09.2017].
6
Die Koranzitate folgen der Koranübersetzung von Hartmut Bobzin: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. München 2012.
7
Vgl. Mualla Selçuk: A Qur᾿anic Approach to the Concept of ‘Living Together’. Ta’aruf. In: International Handbook of the Religious, Moral and Spiritual Dimensions in Education. Hg. von Marian de Souza u. a. Bd. 2. Dordrecht 2006 (International Handbooks of Religion and Education 1), S. 1141–1148; Asma Afsaruddin: Finding Common Ground. “Mutual Knowing,” Moderation, and the Fostering of Religious Pluralism. In: Learned Ignorance: Intellectual Humility among Jews, Christians and Muslims. Hg. von James L. Heft, Reuven Firestone und Omid Safi. New York, Oxford 2011, S. 67–86.
8
Zum Begriff siehe Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a.M. 2003, S. 44–45.
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unterliegt. Sie endet stets mit dem Auslaufen oder der Aufkündigung des jeweiligen Vertrages oder Bündnisses, wobei ein Bruch desselben vonseiten der Muslimen in Sure 9,12–15 in erster Linie als gebotene Reaktion gegenüber einem Vertragsbruch der gegnerischen Seite gerechtfertigt wird. In diesem Kontext eines reziprok angelegten Vertragsverhältnisses, das noch ganz den kriegsrechtlichen Bestimmungen des altarabischen Stammesrechts folgt – in der gesamten Sure 9 sind es dem Koran zufolge die Polytheisten, die vertragsbrüchig geworden sind und die Muslime angegriffen haben – lässt sich schließlich auch Sure 9,5, der berühmt-berüchtigte „Schwertvers“, lesen.9 Gewalt gegenüber Andersgläubigen erscheint hier als Strafe gegenüber Vertragsbrüchigkeit und damit auf einen bestimmten Sachverhalt hin kontextualisiert; religiöse Vielfalt, Sure 2,148 zufolge, dagegen sogar als gottgewollt: „Es hat ein jeder eine Richtung, nach welcher er sich wendet. Wetteifert daher um das Gute! Wo immer ihr auch sein mögt, Gott wird euch alle sammeln. Und siehe, Gott ist aller Dinge mächtig.“
ZUM SCHUTZBEFOHLENEN-STATUS (DHIMMA) Das interreligiöse Zusammenleben wurde auf islamischen Territorium (dār al-islām) durch ein Vertragsverhältnis zwischen muslimischer Herrschaft und den als schutzwürdig anerkannten nichtmuslimischen Untertanen (dhimmīs) geregelt. Der Vertragscharakter dieses Status ist wohl am ehesten mit Blick auf die Tradition altarabischer Schutzabkommen zu verstehen. Hier hat der Begriff dhimma seinen Ursprung. Der Entstehungskontext des Islam zunächst in der Peripherie und dessen historische Entwicklung schließlich inmitten außerarabischer antiker Rechtstraditionen, wie etwa der römisch-byzantinischen und der persisch-sassanidischen, lässt deren Einflüsse auf die Ausprägung dieser Schutzinstitution, wie auch auf das islamische Recht generell, sehr wahrscheinlich erscheinen. 10 Zumindest was dessen altarabische Einflüsse angeht gilt hier das dhimma-Konzept als eine Fortführung des altarabischen jiwār-Schutzprinzips. 11 Schutzgewährung konnte hierbei aus
9
Sure 9,5: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus dem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, dann lasst sie laufen! Siehe, Gott ist bereit zu vergeben, barmherzig.“
10 Vgl. hierzu Bertram Turner: Asyl und Konflikt von der Antike bis heute. Rechtsethnologische Untersuchungen. München 2004, S. 477–484. 11 Willi Heffening: Das islamische Fremdenrecht bis zu den islamisch-fränkischen Staatsverträgen. Eine rechtshistorische Studie zum Fiqh. Neudruck der Ausgabe Hannover 1925.
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unterschiedlichen Gründen geschehen, veranlasst etwa aus einer existenziellen Notlage des Schutzsuchenden heraus, wenn dieser beispielsweise aus der eigenen Stammesgemeinschaft verstoßen wurde.12 Jedoch waren auch einfache Reisende generell schutzbedürftig.13 Denn ohne den Schutz eines Stammes galt der Betroffene rechtlich gesehen als „vogelfrei“.14 Den Schützling gleichberechtigt gegenüber den anderen Stammesmitgliedern zu behandeln, kann hier als das mitunter entscheidendste Element der Eingliederung von Außenstehenden in die Stammesgemeinschaft angesehen werden.15 Hierbei repräsentierte die Einhaltung des Schutzverhältnisses eine der höchsten tribalen Ehrvorstellungen. In einer Versstelle, die aus einer der berühmtesten Sammlungen altarabischer Dichtung, der Ḥamāsa des Abū Tammām (gest. 845) stammt, heißt es: „Wer meinem Schützling Wunden schlägt, ich fühle selbst die Wunde; mein Eingeweide regt sich, und es bellen meine Hunde.“16 Aufgrund dieser Ausgangslage verwundert es nicht, dass der Begriff dhimma unter islamischen Vorzeichen gleichbedeutend mit „Vertrag/Abkommen“ wurde, und mit dem Gedanken der Unversehrtheit einer vertraglichen Schutzgarantie verbunden war. 17 Der Terminus besitzt auch im modernen Arabisch Konnotationen, die von „Schutz“, „Sicherheit“, „Garantie“ über „Ehre“ und „Verantwortlichkeit“ reichen. 18 In der Bedeutung eines reziprok einzuhaltenden Schutzverhältnisses taucht dhimma schließlich auch im Koran in Sure 9,8 auf. Hier wird auf die Vertragsbrüchigkeit der heidnischen Polytheisten gegenüber den Muslimen angespielt: „Wie? Und wenn sie über euch siegen und weder Vertrag noch Schutzverhältnis euch gegenüber beachten? Sie stellen euch mit ihrer Rede zufrieden, doch ihre Herzen lehnen ab. Die meisten von ihnen sind ruchlos.“
Osnabrück 1975 (Beiträge zum Rechts- und Wirtschaftsleben des islamischen Orients 1), S. 11. 12 Arafat Madi Shoukri: Refugee Status in Islam. Concepts of Protection in Islamic Tradition and International Law. London 2011 (International Library of Migration Studies 7), S. 7. 13 William Montgomery Watt: Art. Idjāra. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Link http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_3483 [14.10.2017]. 14 Heffening: Fremdenrecht, S. 87. 15 Watt: Idjāra. 16 Abū Tammām Ḥabīb ibn Aus: Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder. Übers. von Friedrich Rückert. 2 Bände in 1 Band. Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1846. Hildesheim u. a. 2004 (Documenta Arabica Teil 2: Ethnologie – Literatur – Kulturgeschichte), S. 119. Siehe ebenso Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Bd. I. Halle 1888, S. 13–14. 17 Muḥammad ibn Mukarram ibn Manẓūr: Lisān al-ʻArab. Bd. 5. Beirut 1993, S. 59–60. 18 Hans Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch– Deutsch. 5. Auflage. Wiesbaden 1985, S. 431-432.
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Gemäß ihrer koranischen Kategorisierung als „Schriftbesitzer“ avancierten zunächst Juden und Christen zu „Schutzbefohlenen“ der Muslime. Das aus Sure 2,256 „Kein Zwang ist in der Religion“ schon früh abgeleitete Verbot von Zwangsbekehrungen zum Islam19 sollte hier die Ausgangsgrundlage für die Gewährung von grundlegenden Rechten im Rahmen des dhimma-Status liefern. Diese umfassten, neben der Zusage weiterhin die eigene Religion beibehalten zu dürfen, den Schutz von Leben und Eigentum sowie die Gewährung religiöser Selbstverwaltung, zu der auch eine eigene Gerichtsbarkeit zählte. Als Gegenleistung für den von den Muslimen erhaltenen „Schutz“ mussten alle männlichen Mitglieder unter den Schutzbefohlenen die jizya-Kopfsteuer an die muslimische Obrigkeit entrichten. Diese ist vermutlich dem sassanidischen Steuerrecht entlehnt worden20 und wird im Koran nicht näher bestimmt, wodurch sich ein weiter Spielraum bei der Höhe ihrer Festsetzung ergab.21 In einer der frühesten theoretischen Abhandlungen über die jizya, dem „Buch der Steuern“ (Kitāb al-kharāj) des Bagdader Oberrichters Abū Yūsuf (gest. 798) aus dem 8. Jahrhundert, gelten neben Frauen und Kindern Geisteskranke, Arme, Greise und Mönche von der Zahlung der jizya als ausgenommen.22 Das dhimma-Schutzverhältnis basierte zudem auf einem asymmetrischen Grundsatz von Herrschenden (Muslime) und Beherrschten (Nichtmuslime). So wurde die jizya-Kopfsteuer mal als reiner Tribut, mal als Ausgleichszahlung für den (theoretischen) Ausschluss der Schutzbefohlenen aus dem Militärdienst gewertet. 23 Aus Sure 9,29 wurde deren Zahlung gar mit dem Aspekt der Erniedrigung verbunden: „Kämpft gegen die, die nicht an Gott glauben und auch nicht an den Jüngsten Tag, die das, was Gott und sein Gesandter verboten haben, nicht verbieten und die nicht der Religion der Wahrheit angehören – unter den Buchbesitzern –, bis sie erniedrigt den Tribut aus der Hand entrichten.“ Nicht zuletzt hat dieser Vers einigen muslimischen Gelehrten über Jahrhunderte hinweg als scheinbar nie versiegende Legitimationsquelle gedient, die jizya in erster Linie als eine bloße Strafzahlung gegenüber Schutzbefohlenen aufzufassen und deren 19 Friedmann: Tolerance, S. 104. 20 Vera Moreen: Art. Jezya. In: Encyclopædia Iranica. Link http://www.iranicaonline.org/articles/jezya [16.05.2017]. 21 Albrecht Noth: Von der medinensischen „Umma“ zu einer muslimischen Ökumene. In: Der islamische Orient – Grundzüge seiner Geschichte. Hg. von Albrecht Noth und Jürgen Paul. Würzburg 1998 (Mitteilungen zur Sozial-und Kulturgeschichte der islamischen Welt 1), S. 81–132. 22 Abū Yūsuf Yaʻqūb ibn Ibrāhīm: Le livre de l’impôt foncier. Übers. von Edmond Fagnan. Paris 1921 (Bibliothèque archéologique et historique 1), S. 188. 23 Paul Heck: Art. Poll Tax. In: Encyclopaedia of the Qurʼān. Link http://dx.doi.org/ 10.1163/1875-3922_q3_EQSIM_00333 [29.08.2017].
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rechtliche Ungleichbehandlung gegenüber den Muslimen zu legitimieren.24 Zudem vermochten auf Diskriminierung und Abgrenzung abzielende Regelungen, wie sie die „Bestimmungen des ʻUmars“ (shurūṭ al-ʻumarīya) repräsentieren, ein nach außen hin sichtbares Zeichen islamischer Vorherrschaft zu setzen.25 Darin werden neben den privat- und ritualrechtlichen Garantien für dhimmīs u. a. bestimmte Kleidungsvorschriften erwähnt, durch die sich die Schutzbefohlenen von den Muslimen nach außen hin unterscheiden sollen, wie etwa durch das Tragen spezieller Abzeichen an ihrer Kleidung. Ferner wird es in dem Gesetzeswerk dhimmīs verboten, auf Pferden zu reiten, Waffen zu tragen, Kriegsgefangene der Muslime käuflich zu erwerben und zu missionieren. Obgleich die historische Authentizität dieser „Bestimmungen“ aus heutiger Sicht als umstritten gilt 26 sind sie neben dem sunnitischen 27 auch im zwölferschiitischen28 und ismaʻilitischen Recht29 rezipiert worden. Albrecht Noth gehört zu denjenigen, die sich äußerst intensiv mit den „Bestimmungen des ʻUmars“ befasst haben. Seine Herangehensweise, das Abkommen eher im Sinne von „Abgrenzung“ denn als Indiz für eine gezielte „Diskriminierung“ zu deuten, hat der Forschung zur Minderheitenpolitik im Islam wertvolle Anschübe gegeben. Noth zufolge würden die meisten der in dem ‘Umar-Abkommen genannten Bestimmungen in erster Linie auf ein Wohlbefinden der Muslime abzielen und eine abgrenzende Unterscheidung im Sinne einer „scharfen Trennung der Lebenssphären“30 von Muslimen und nichtmuslimischen Schutzbefohlenen anstreben. Entscheidend für die Tragweite dieser These ist dabei die Tatsache, dass die Muslime in den von ihnen eroberten Territorien über lange Zeit eine Minderheit innerhalb der dort vorgefundenen Gesellschaften repräsentierten. In diesem Sinne lassen sich auch das Reitverbot und das Verbot des Waffentragens als Ausdruck einer politisch 24 Rainer Brunner: „Kein Zwang in der Religion“ oder immer noch „demütig aus der Hand“? Diskussionen über die Kopfsteuer für Nichtmuslime im modernen Islam. In: Zeitgenössische islamische Positionen zu Koexistenz und Gewalt. Hg. von Tilman Seidensticker. Wiesbaden 2011, S. 1–21. 25 Siehe hierzu Albrecht Noth: Abgrenzungsprobleme zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Die „Bedingungen ʻUmars (aš-šurūṭ al-ʻumariyya)“ unter einem anderen Aspekt gelesen. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 9 (1987), S. 290–315; Mark Cohen: What was the Pact of ʻUmar? A Literary-Historical Study. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam 23 (1999), S. 100–157. 26 Cohen: Pact of ʻUmar, S. 128. 27 Khoury: Toleranz, S. 82–84. 28 Kokew: Annäherung, S. 65–66. 29 Jens Scheiner: Al-Hākim, die Šurūṭ al-ʻUmarīya und die Ahl al-Kitāb. In: Differenz und Dynamik im Islam. Festschrift für Heinz Halm zum 70. Geburtstag. Hg. von Hinrich Biesterfeld und Verena Klemm. Würzburg 2012, S. 37–54. 30 Noth: Abgrenzungsprobleme, S. 307.
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kalkulierten Vorsichtsmaßnahme der Muslime deuten, nicht aber zwingend als Indiz für eine willkürliche Despotie. Die nichtmuslimische Mehrheit, so die Schlussfolgerung Noths, sollte in ihren Handlungen eingeschränkt werden, und zwar zum Schutz der muslimischen Minderheit. Die Toleranz endete dort, wo die Unterworfenen sich widersetzten oder sich die Besiegten mit den Siegern zu vermischen drohten. 31
DHIMMA GEGENÜBER ZARATHUSTRIERN UND BUDDHISTEN Mit den Siegen in Qādisīya (636) und Nehāwand (642) war der Weg frei für die arabisch-muslimische Eroberung des persischen Sassanidenreiches, in dem der Zarathustrismus als Staatsreligion fungierte und auch der Buddhismus verbreitet war. Unter dem dritten Kalifen ʻUthmān (reg.: 644–656) wurde der östliche Iran mit der Region Chorāsān dem Kalifat einverleibt. Die Eroberung von Balkh (709) markierte den Beginn der islamischen Herrschaft über das Gebiet des heutigen Afghanistans. 32 Im Jahr 711 standen arabische Einheiten schließlich erstmals im Südindus-Gebiet und ein Jahr später in Transoxanien.33 Auch wenn Zerstörungen von zarathustrischen und buddhistischen Sakralbauten belegt sind,34 verschwanden beide Glaubensgemeinschaften nicht aus diesen Regionen. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die monumentalen Buddha-Statuen von Bāmiyān in Afghanistan bekanntlich erst 2001 von Taliban-Milizen zerstört wurden. Wie in anderen eroberten Gebieten war die Islamisierung auf dem Land und in den Städten auch im Osten des Kalifats eine Angelegenheit, die sich womöglich über mehrere Generationen hinzog.35 Dabei ist für die islamische Geistesgeschichte bemerkenswert, dass sich gerade die ostiranische Provinz Chorāsān zu einem führenden Zentrum islamischer Gelehrsamkeit entwickeln sollte. Denn auch hier, wie in vielen anderen Regionen des neu entstandenen islamischen Imperiums auch, konnten die
31 Kokew: Annäherung, S. 68. 32 Arezou Azad: The Beginnings of Islam in Afghanistan. Conquest, Acculturation and Islamization. In: Afghanistanʼs Islam. From Conversion to the Taliban. Hg. von Nile Green. Oakland 2017, S. 41–55. 33 Albrecht Noth: Früher Islam. In: Geschichte der arabischen Welt. Hg. von Ulrich Haarmann. München 1987, S. 13–100. 34 Vgl. hierzu Patricia Crone: The Nativist Prophets of Early Islamic Iran. Rural Revolt and Local Zoroastrianism. Cambridge 2012, S. 3–5; S. M. Yusuf: The Early Contacts between Islam and Buddhism. In: University of Ceylon Review 13 (1955), S. 1–28. 35 Jürgen Paul: Art. Balkh. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Link http://dx.doi.org /10.1163/1573-3912_ei3_COM_23449 [10.11.2017].
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neuen Herrscher auf einer bereits bestehenden vorislamischen Wissenskultur aufbauen. Dass eine der wichtigsten Persönlichkeiten der islamischen Religionsgeschichte, der Hadithsammler Muḥammad ibn Ismāʻīl al-Bukhārī (gest. 870), auf zarathustrische Vorfahren verweisen konnte,36 ist nur eine der vielschichtigen Facetten dieser interreligiösen Koexistenz. Gegenüber den Zarathustriern soll die Erteilung des Schutzbefohlenen-Status noch zu Lebzeiten Muḥammads stattgefunden haben. Es handelt sich hier also um eine Angelegenheit, die der Prophet noch selbst geregelt haben soll; eine Tatsache, die mit Blick auf die normative Relevanz seiner Entscheidung, die zum Präzedenzfall avancierte, ausschlaggebend wurde. Die Episode spielt am östlichen Rand der Arabischen Halbinsel in der Ortschaft Hajar in Baḥrain und ist in dem Korankommentar des Muqātil ibn Sulaimān (gest. 767) sowie in einem der frühesten Werke der islamischen Geschichtsüberlieferung, der „Eroberungen der Länder“ (Futūḥ al-buldān)1 des Aḥmad ibn Yaḥyā ibn Jābir alBalādhurī (gest. 892) überliefert. 37 Darin wird berichtet, wie Muḥammad in einem Schreiben die dort ansässigen Zarathustrier gemeinsam mit den Juden dazu auffordert, entweder den Islam anzunehmen oder die jizya zu zahlen. In einer anderen Überlieferung, die auf dieses Ereignis anspielt, werden die Muslime angewiesen, gegenüber Zarathustriern „in der Art und Weise zu verfahren wie gegenüber den ahl alkitāb“.38 Bei Balādhurī lesen wir zudem, wie sich einige von den arabischen ʻHeuchlernʼ (munāfiqūn) innerhalb der Gefolgschaft Muḥammads über dieses Arrangement des Propheten, eine nicht explizit als Buchreligion klassifizierte Religionsgemeinschaft unter den Schutz der Muslime zu stellen, empören: The Magians and Jews, however, refused Islām and preferred the payment of poll-tax. Upon this, the hypocrites among the Arabs remarked, ‘The Prophet pretended that he would accept poll-tax from none outside the ʻPeople of the Bookʼ, but, here he is accepting it from the Magians of Hajar who are not ʻPeople of the Book.ʼ On this occasion the text was revealed – ‘O ye that have believed! take heed to yourselves. He who erreth shall not hurt you when ye have the guidance.’39 36 Carl Brockelmann: Art. al-Buk̲h̲ārī. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Link http://dx.doi.org/10.1163/2214-871X_ei1_SIM_1592 [15.09.2017]. 37 Muqātil ibn Sulaimān: Tafsīr. Bd. 1. Beirut 2002, S. 213; Aḥmad ibn Yaḥyā ibn Jābir al-Balādhurī: Futūḥ al-buldān. Liber expugnationis regionum, auctore Imámo Ahmed ibn Jahja ibn Djábir al-Beládsorí. Hg. von Michael Jan de Goeje. Leiden 1866, S. 79. Für die englische Übersetzung siehe Aḥmad ibn Yaḥyā ibn Jābir al-Balādhurī: Kitab Futuh AlBuldan. The Origins of the Islamic State. Übers. von Philip Khūri Ḥitti. Vol. I. New York 1916 (Studies in History, Economics and Public Law 68), S. 121. 38 Friedmann: Tolerance, S. 73. 39 Balādhurī: Origins, S. 121; Balādhurī: Futūḥ, S. 79.
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Die Entscheidung, auch den Zarathustriern den Stellenwert von Schutzbefohlenen zu erteilen, ist, wie man an diesem Beispiel sehen kann, zu Beginn eine höchst umstrittene Angelegenheit gewesen. Denn abgesehen von deren koranischer Erwähnung, verfügten sie weder über eine von muslimischer Seite anerkannte Offenbarungsschrift, noch über einen anerkannten Propheten, weshalb sie von der Mehrheit der islamischen Rechtsschulen nicht als ahl al-kitāb betrachtet wurden.40 Äußerst negativ scheinen auch die religiösen Elemente des Zarathustrismus empfunden worden zu sein, insbesondere der hohe Stellenwert des Feuers als Symbol der Verbindung zwischen Mensch und Gott, was die abwertende Fremdbezeichnung der Zarathustrier als „Feueranbeter“ belegt.41 Im Gegensatz zum Zarathustrismus war der Buddhismus weit außerhalb der Arabischen Halbinsel und damit jenseits des Entstehungsumfeldes des Islam angesiedelt. Anders als bei Juden, Christen, Sabiern und Zarathustriern konnte somit auch weder eine relevante Terminologie noch eine gebotene Ethik ihm gegenüber aus den beiden religiösen Hauptquellen abgeleitet werden. Für die islamisch-rechtlich definierte Behandlung von Buddhisten (und Hindus) war stattdessen die Tatsache entscheidend, dass zur Zeit der ersten Kontaktaufnahmen mit diesen beiden Religionsgemeinschaften das islamische Recht noch nicht ausformuliert, sondern im Entstehen begriffen war.42 Eine Beschäftigung mit dem Buddhismus lässt sich bereits in umaiyadischer Zeit feststellen, zumindest was die muslimische Wahrnehmung von buddhistischen Sakralbauten und Ritualen angeht.43 In diesem zeitlichen Kontext ist eine Darstellung des muslimischen Chronisten ʻUmar ibn al-Azraq al-Kirmānī eingebettet. Dieser vergleicht die großen buddhistischen Sakralanlagen von Nou-Bahār im afghanischen Balkh mit der Kaʻba in Mekka und zieht bei seiner Beschreibung der dortigen buddhistischen Praktiken Analogien zu den polytheistischen Kulten der vorislamischen Araber.44 40 Yohanan Friedmann: Art. Dhimma. In: Encyclopaedia of Islam, Three. Link http://dx. doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_26005 [01.06.2017]. 41 Jamsheed K. Choksy: Art. Zoroastrianism ii. Historical Review: From the Arab Conquest to Modern Times. In: Encyclopædia Iranica. Link http://www.iranicaonline.org/articles/zoroastrianism-02-arab-conquest-to-modern [16.05.2017]. 42 Noth: Möglichkeiten, S. 197. 43 Alexander Berzin: Historical Survey of the Buddhist and Muslim Worlds’ Knowledge of Each Other’s Customs and Teachings. In: The Muslim World 100, 2–3 (2010), S. 187–203. 44 Diese interessante Analogie ist in dem berühmten „Lexikon der Länder“ (Muʻjam albuldān) des abbasidischen Chronisten Yāqūt ar-Rūmī (gest. 1229) überliefert. Vgl. hierzu Yāqūt ar-Rūmī: Muʻjam al-buldān. Bd. 5. Beirut 1977, S. 307. Siehe ebenso Asadullah Souren Melikian-Chirvani: Art. Buddhism ii. In Islamic Times. In: Encyclopædia Iranica. Link http://www.iranicaonline.org/articles/buddhism-ii [16.05.2017].
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Eine kontinuierliche inhaltliche Auseinandersetzung mit buddhistischen Lehren und Praktiken sollte sich aber erst im Zuge der Rezeption indischen Gedankenguts unter den Abbasiden (750–1258) einstellen.45 Denn mit der Erschließung indischer Texte wurden neben Medizin, Mathematik und Literatur nun auch Kenntnisse über die „indischen Religionen“ vermittelt. Erste Anhaltspunkte hierzu liefern spezifische Termini zur Bezeichnung von Gläubigen und Heiligtümern. So taucht in der frühen islamischen Literatur der mannigfach verwendete Begriff budd auf: Als Bezeichnung für Buddha selbst, wie auch als Sammelbegriff für buddhistische Tempel und Pagoden und gar als Synonym für „Götze“.46 Der Terminus but parast („Götzenanbeter“) ist dabei die persische Entsprechung dieser negativen Variante. 47 Bei Goldziher findet sich der Hinweis, dass bereits im 8. Jahrhundert ins Arabische übertragene Werke des Buddhismus belegbar sind, die beispielweise den Titel Kitāb al-budd führen.48 Und in seinem wertvollen Aufsatz über die arabisch-muslimische Eroberung Indiens hat Francesco Gabrieli erläutert, dass die Bezeichnung budd in frühislamischer Zeit gleichermaßen auf Buddhisten und Hindus Anwendung fand, da hier noch nicht tiefergehend zwischen beiden Religionen unterschieden worden sei.49 Aufgrund dieses Fehlens genauer definierter religiös-rechtlicher Terminologien eröffnete die Kategorisierung von Buddhisten und Hindus eine Problemlage, zu deren Bewältigung schon die frühen muslimischen Rechtsgelehrten unterschiedliche Meinungen vertraten. Muḥammad ibn Idrīs ash-Shāfiʻī (gest. 820) etwa betonte, dass der koranische Terminus mushrikūn nicht nur auf die altarabischen Polytheisten, sondern auch auf sämtliche polytheistischen Kulte jenseits der Arabischen Halbinsel anzuwenden sei. Ihnen gegenüber sah er folglich nur eine Option vor, nämlich entweder, dass sie den Islam annehmen oder getötet werden müssten. 50 Weiter gefasst war dagegen die Meinung des Rechtsschulenbegründers Abū Ḥanīfa (gest. 767).51 Sie basierte auf dem Grundsatz, dass in der Frage nach dem Umgang mit Polytheisten zwischen der ethnischen Herkunft, also zwischen Arabern und Nichtarabern, unterschieden werden müsse. Mit Polytheisten außerhalb der
45 Berzin: Historical Survey, S. 189. 46 Bernard Carra de Vaux: Art. Budd. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Link http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_1489 [16.05.2017]. 47 David Scott: Buddhism and Islam: Past to Present Encounters and Interfaith Lessons. In: Numen 42, 2 (1995), S. 141–155. 48 Ignaz Goldziher: Vorlesungen über den Islam. Heidelberg 1910, S. 161. 49 Francesco Gabrieli: Muḥammad ibn al-Qāsim ath-Thaqafī and the Arab Conquest of Sind. In: East and West, 15, 3–4 (1965), S. 281–295. 50 Friedmann: Tolerance, S. 77. 51 Ebd., S. 80.
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Arabischen Halbinsel sollte demzufolge genauso verfahren werden wie mit Zarathustriern: Erteilung des Schutzbefohlenen-Status gegen Zahlung der jizya.52 Diese pragmatisch orientierte Haltung sollte sich schließlich als juristische Mehrheitsmeinung durchsetzen, wozu kein Geringerer als der noch junge und in theologischen, wie auch rechtlichen Fragen kaum versierte arabische Heerführer, Muḥammad ibn al-Qāsim (gest. 715), mit wohl einer einzigen Entscheidung erheblich beitrug. Als dieser im Jahr 712 im Zuge seines Indienfeldzuges die indische Stadt Rūr einnahm, soll es dort zur folgenden Gegebenheit gekommen sein: He besieged its inhabitants some months, but finally reduced the city by capitulation, the terms being that he should not put anyone to death, nor interfere with their temples [budd]. He said, ‘The budd are like the churches of the Christians, the synagogues of the Jews, and the fire-temples of the Magians.’ He imposed the Kharâj upon them in ar-Rûr and built a mosque.53
Qāsim verwendet hier den Begriff budd womöglich in seiner üblichen Form als Sammelbegriff für die Heiligtümer beider Religionen, also sowohl buddhistische als auch hinduistische.54 Aus dem Grundsatz, diese nicht zu zerstören, ergab sich schließlich die Regelung, die heimische Bevölkerung, egal ob diese nun Hindus oder Buddhisten seien, wie Juden, Christen und Zarathustrier als Schutzbefohlene zu behandeln und von ihnen die Kopfsteuer zu nehmen.55 Es ist gut möglich, dass die hier von Qāsim so simpel formulierte Verordnung spontan „aus dem Bauch heraus“ entstand; eine Eigenschaft, die für einen auf schnelle Entscheidungen angewiesenen Heerführer nicht ungewöhnlich erscheint. Qāsims Vorgehen ist in diesem Fall jedoch nicht neu; wie Gabrieli bemerkt soll er schon bei der Einnahme einer anderen indischen Stadt in gleicher Weise verfahren sein: „Having asked Ḥaggāg for instructions, the Arab general granted freedom of religion to the population and subdivided them into three classes, assimilating by this way the Indians as dhimmī to Jews, Christians and Zoroastrians.“ 56 Letztlich ist diese Entscheidung Qāsims ein wichtiger Beleg dafür, wie pragmatisch das Spannungsverhältnis von religiöser Diversität und ordnungspolitischer Kontinuität in frühislamischer Zeit reguliert werden konnte. Das Prinzip des Staatserhalts war hier entscheidend, wie Yohanan Friedmann in seiner Kommentierung zu Qāsims Entscheidung schlussfolgert: 52 Friedmann: Tolerance, S. 79–80. 53 Balādhurī: Origins, Vol. 2, S. 221; Balādhurī: Futūḥ, S. 439. 54 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Übersetzungen dieser Stelle bei Gabrieli, der budd allgemeiner mit „Indian temples“ übersetzt und bei Noth, der von einem „Buddha-Tempel“ spricht. Gabrieli: Muḥammad ibn Qāsim, S. 287; Noth: Früher Islam, S. 66. 55 Gabrieli: Muḥammad ibn Qāsim, S. 288. 56 Ebd., S. 287.
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The only way in which a small Muslim garrison could govern an area inhabited by a nonMuslim and idolatrous population was to allow that population to retain its traditions and interfere as little as possible in its affairs. There was no way to implement in India the policy applied to the idolaters of the Arabian peninsula.57
ANERKENNENDE ASPEKTE IN SHAHRASTĀNĪS DARSTELLUNG DES ZARATHUSTRISMUS UND BUDDHISMUS Als Shahrastānī sein Buch der Religionen und Weltanschauungen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfasste war die Eroberungszeit bereits längst Geschichte. Den Zarathustrismus und den Buddhismus gab es aber weiterhin, genauso wie viele andere nichtmuslimische Religionsgemeinschaften auch. Diese waren, ebenso wie der Islam, nicht monolithisch verfasst, sondern manifestierten sich in ihren unterschiedlichen Denominationen. Es ist dies nicht zuletzt die Ausgangslage für Shahrastānīs umfangreiches Unterfangen, das zu seinen Lebzeiten vorhandene Wissen über die verschiedenen Strömungen des Islam und die den Muslimen bekannten nichtmuslimischen Religionen und philosophischen Richtungen abzubilden. Auf das Zarathustriertum geht Shahrastānī im ersten Teil der Religionen und Weltanschauungen ein. Die Darstellung des Buddhismus findet sich im zweiten Teil, gleich nach der Abhandlung über den altarabischen Polytheismus als Teil des Kapitels über die „Ansichten der Inder“ (Ārāʼ l-hind). Aus dem Blickwinkel des heutigen Lesers ist die von Shahrastānī zu Beginn seines Werkes formulierte Methodik bemerkenswert, stellt er hier doch den Anspruch, sich mit den Lehren der von ihm untersuchten Religionen (milal) und Weltanschauungen (niḥal) so objektiv wie möglich zu befassen; nämlich so, wie er deren Auffassungen „in ihren Büchern gefunden habe“, „ohne Gunst für die Einen und Entfremdung gegen die Anderen.“ Die einzige Freiheit, die er sich dabei nimmt, bestünde darin, wie er schreibt, die „wahren“ und „falschen“ Aspekte, die er in diesen Lehren zu erkennen meint, zu benennen. 58 Diesem Anspruch ist Shahrastānī mit Blick auf die Rezeption seines Kitāb almilal wa-n-niḥal gerecht geworden. Schließlich hat man es als einen ersten Beitrag einer objektiven vergleichenden Religionswissenschaft gewertet 59 und es wurde in
57 Friedmann: Tolerance, S. 85. 58 Muḥammad ibn ʻAbd al-Karīm ash-Shahrastānī: Religionspartheien und Philosophenschulen. Übers. von Theodor Haarbrücker. Bd. I. Halle 1850, S. 7–8. 59 Josef van Ess: Der Eine und das Andere, Bd. 2, S. 900.
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mehrere Sprachen übersetzt.60 Dabei muss Shahrastānī als Theologe, Philosoph und Koranexeget eher ein Einzelgänger gewesen sein, der sich abseits des Gelehrtenmainstreams seiner Zeit bewegte.61 Geboren wurde er in der ostiranischen Ortschaft Shahristān in der Provinz Chorāsān. Nicht weit von seiner Heimatstadt entfernt, in Neyshābūr, eine der bedeutendsten Stätten islamischer Gelehrsamkeit des Mittelalters, erfuhr er seine theologische und rechtliche Ausbildung.62 Hier befand sich eine von den Seldschuken gegründete Niẓāmīya-Medrese, eine sunnitisch-islamische Lehranstalt, in der bereits einflussreiche sunnitische Gelehrte wie der berühmte Abū Ḥamid al-Ghazālī (gest. 1111) gewirkt hatten. Shahrastānī muss bereits in dieser Zeit über einen gewissen Ruf verfügt haben, da er nach der Rückkehr von einer Pilgerreise nach Mekka eine Stelle an der ebenfalls renommierten Niẓāmīya von Bagdad erhielt, die er drei Jahre lang innehatte.63 Seine Karriere ging weiter, als er in ein Amt im höheren Staatsdienst des in Merw residierenden Seldschukensultans Sanjar (reg. 1117–1157) berufen wurde. Während dieser Zeit, nach eigenen Angaben um das Jahr 1127/28 herum,64 verfasste er sein Buch der Religionen und Weltanschauungen. Shahrastānīs Denken war von der aschʻaritischen Theologie sowie der Philosophie Ibn Sīnas (Avicenna) und nicht zuletzt auch von ismaʻilitischem Gedankengut beeinflusst gewesen.65 Der objektive Grundtenor der „Religionen und Weltanschauungen“ soll dabei vor allem letzterem Einfluss geschuldet sein.66 Bisweilen ist auch diskutiert worden, ob Shahrastānī nicht selbst sogar ein Ismaʻilit gewesen sei, und damit ein Anhänger jener schiitischen Strömung, die unter den Seldschuken als staatsfeindlich galt.67 Einem solchen Vorwurf hatte sich schon der bereits erwähnte Ghazālī ausgesetzt gesehen, der sich mit polemischen Angriffen auf die Anhänger der Ismāʻīlīya dieser Anschuldigung zu entledigen versuchte.
60 Ein Überblick über sämtliche Übersetzungen und Editionen findet sich bei David Thomas: Al-Shahrastānī. In: Christian-Muslim Relations. A Bibliographical History. Vol. 3 (1050– 1200). Hg. von David Thomas und Alex Mallet. Leiden 2011, S. 549–554. 61 Ebd., S. 860. 62 Guy Monnot: Art. al-Shahrastānī. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Link http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_6769 [15.08.2017]. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Vgl. hierzu Diana Steigerwald: Al-Shahrastānīʼs Contribution to Medieval Islamic Thought. In: Reason and Inspiration in Islam. Hg. von Todd Lawson. London 2005, S. 262–273. 66 Van Ess: Der Eine und das Andere, Bd. 2, S. 900. 67 Ebd., S. 264.
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Auch gegenüber Shahrastānī ist ein solcher Vorwurf ebenfalls schon zu dessen Lebzeiten erhoben worden.68 Jedenfalls sollten ihm die politischen Umstände seiner Zeit ein unstetes Leben bereiten. Denn wohl aufgrund von für ihn unvorteilhaften Konstellationen am Hof von Merv zog es ihn 1131 nach Termez, von wo er rund zehn Jahre später, angesichts des Einfalls zentralasiatischer Nomadenheere, wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte. Hier widmete er sich bis zu seinem Tod dem Verfassen eines Korankommentars. Bruce Lawrence hat vermutet, dass Shahrastānī sein Wissen über den Buddhismus mit großer Wahrscheinlichkeit auf der Grundlage von arabischen Texten aus dem 9. Jahrhundert und anderen Sekundärquellen gewonnen hat. 69 Bei seiner Darstellung des Zarathustrismus ist dabei bemerkenswert, dass er die Lehre Zarathustras (Zarādashtīya) nicht als Unglauben abstempelt, da sie auf dem Glauben an einen einzigen Gott, Ahurā Mazdā, fuße.70 Somit handele es sich, Shahrastānī zufolge, auch beim Zarathustriertum um eine monotheistische Religion, denn auch hier ist Gott „einzig und ohne Teilhaber“ (wa-huwa wāḥid lā sharīka lahu wa-lā ḍidd).71 Dass die hier von Shahrastānī gewählte Formulierung ausgerechnet wie das islamische Glaubensbekenntnis klingt, unterstreicht nicht zuletzt seine positive Wertung der Lehre Zarathustras als einen reinen Monotheismus. Auch die Darstellung des Buddhismus ist in Shahrastānīs Hauptwerk respektvoll und in keiner Weise polemisch ausgerichtet. Er fasst diesen zwar als Teil der polytheistischen „Ansichten der Inder“ auf, die er mit dem Polytheismus der vorislamischen Araber in Zusammenhang bringt.72 Doch es lassen sich auch hier Aspekte einer klaren Differenzierung ermitteln. So wird das Kapitel über die „Ansichten der Inder“ mit der Feststellung eröffnet, dass die Inder eine starke Gemeinde und große Religionsgemeinschaft bilden, ihre Ansichten aber verschieden seien.73 Dieser Differenzierung folgend werden die Buddhisten als eine Untergruppe der Brahmanen aufgeführt. Lawrence hat in seiner Analyse über die Darstellung der indischen Religionen bei Shahrastānī zudem auf dessen bemerkenswerte terminologische Unterscheidungen 68 Dieser findet sich in der monumentalen Gelehrtenchronik des Tāj ad-Dīn as-Subkī: Ṭabaqāt al-shāfiʻīya l-kubrā, Bd. 3. Hg. von Muṣṭafā ʻAbd al-Qādir Aḥmad ʻAṭā. Beirut 1999, S. 377. Vgl. ebenso Steigerwald: Al-Sharhrastānīʼs Contribution, S. 264–265. 69 Bruce B. Lawrence: Shahrastānī on Indian Idol Worship. In: Studia Islamica 38 (1973), S. 61–73. 70 Johann Christoph Bürgel: Zoroastrianism as Viewed in Medieval Islamic Sources. In: Muslim Perceptions of Other Religions. A Historical Survey. Hg. von Jaques Waardenburg. New York, Oxford 1999, S. 202–212. 71 Shahrastānī: Kitāb al-milal, S. 186. 72 Muḥammad ibn ʻAbd al-Karīm ash-Shahrastānī: Religionspartheien und Philosophenschulen. Übers. von Theodor Haarbrücker. Bd. II. Halle 1851, S. 333. 73 Ebd., S. 354.
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hingewiesen. Denn Shahrastānī verwendet hier das Wort budd weder als einen bloßen Sammelbegriff noch als Bezeichnung für Inkarnationen des Buddhas oder gar für ein bloßes Götzenbildnis, sondern bezieht es ausschließlich auf den Buddha selbst. Und für „Buddhisten“ hat Shahrastānī wohl erstmals in der islamischen Literatur die eigenständige Bezeichnung „Gefolgsleute der Buddhas“ (aṣḥāb al-bidada) verwendet.74 Bemerkenswert ist ebenso seine Definition des Begriffs „Bodhisattva“, im Buddhismus die Bezeichnung für einen Menschen, der sich in der Vorstufe zur BuddhaWerdung befindet und nach Erleuchtung strebt. Shahrastānī führt hier nicht nur erstmals eine sorgfältige Unterscheidung gegenüber dem Begriff budd ein, sondern definiert diesen zudem in einer positiven Art und Weise als einen Menschen, „welcher den Weg der Wahrheit sucht“.75 Daran schließt seine Darstellung der buddhistischen Ethik an, dargestellt anhand einer genauen Aufzählung verschiedener buddhistischer Tugenden, zu denen u.a. Geduld, das Geben von Almosen, Abstinenz von irdischen Genüssen und Mitleid mit allen Lebewesen zählen. Schließlich zählt er zehn Dinge auf, die von einem Bodhisattva vermieden, und zehn Tugenden, die von ihm ausgeübt werden müssten.76 Shahrastānī mag sich auch hier der Tatsache bewusst gewesen sein, dass viele dieser Vorschriften unweigerlich Analogien zu den ethischen Geboten des Islam ermöglichen, wie etwa zu der obligatorischen Zahlung der Pflichtabgabe (zakāt) und dem Geben von Almosen (Sg. ṣadaqa). Seine Wiedergabe ist, wie Lawrence festgestellt hat, mit Blick auf die buddhistische Lehre nicht frei von Ungenauigkeiten, was teilweise auch der zeitgenössischen Quellenlage über den Buddhismus geschuldet ist, auf die Shahrastānī seine Betrachtungen bestimmt stützte. 77 Für die damalige wie auch gegenwärtige Beurteilung seiner Analyse war und ist es der sich durch seine Beschreibungen ziehende objektive Grundtenor, der bis heute das Potenzial besitzt, den Anderen nicht allzu fremd erscheinen zu lassen und vielleicht sogar seine Auffassungen als anschlussfähig anzuerkennen. Dies wird vor allem am Ende seiner Ausführungen zum Buddhismus deutlich, wenn er hier konkret den Bogen zum Islam spannt, indem er Buddha mit der islamischen Heilsgestalt Khiḍr vergleicht: „Buddha gleicht aber nach dem, wie sie ihn beschreiben, wenn sie Wahrheit dabei sprechen, nur al-Chidhr (Elias), welchen das Volk des Islâm annimmt.“ 78
74 Bruce B. Lawrence: Shahrastānī on the Indian Religions. Den Haag, Paris 1976 (Religion and Society 4), S. 108; Lawrence: Indian Idol, S. 710. 75 Shahrastānī: Religionspartheien II, S. 358. 76 Ebd. 77 Lawrence: Indian Religions, S. 108. 78 Shahrastānī: Religionspartheien II, S. 360.
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FAZIT Die Frage, ob Shahrastānī der Erste gewesen ist, der diesen Vergleich von Buddha mit Khiḍr angeführt hat, oder er hier eine bereits bestehende Meinung wiedergibt, kann an dieser Stelle nicht näher rekonstruiert werden. Festgehalten werden kann jedoch, dass seine Analogie zu jener islamischen Figur, die im Koran erwähnt wird und in der islamischen Mystik einen bedeutenden Stellenwert besitzt, einen bemerkenswerten Brückenschlag repräsentiert, indem er die Andersartigkeit religiöser Diversität anschlussfähig an die Glaubenslehre des Islam erscheinen lässt. Mit Blick auf die Frage, wie eine Koexistenz von Islam und religiöser Vielfalt unter islamischer Herrschaft bewerkstelligt wurde, war das dhimma-Konzept von zentraler Bedeutung, da es eine Inklusion von Nichtmuslimen in eine sich als „islamisch“ konstituierende Gesellschaft ermöglichte. Diese Inklusion besaß auf rechtlicher und theologischer Ebene eine eigene Dynamik, wie die Beispiele der bereits früh vollzogenen Ausweitung des dhimma-Status auf Zarathustrier und Buddhisten (und gleichzeitig auch auf Hindus) sowie die Diskussionen um die Kategorisierung der Zarathustrier als ahl al-kitāb belegen. Der Schutzbefohlenen-Status war in dieser Hinsicht ein wichtiges Instrumentarium für die Integration von religiöser Diversität in das vormoderne islamische Staatswesen. Denn neben der nicht zu unterschätzenden finanziellen Komponente – die Kopfsteuereinnahmen bildeten oftmals die wichtigsten Einnahmequellen überhaupt – versprach seine Anwendung innerhalb einer multireligiös verfassten Gesellschaft vor allem eins: Konfliktverhütung und damit innenpolitische Stabilität. Eine Kontinuität in Diversität, die mal gezielt abgrenzende, mal bewusst kooperative Züge annehmen konnte, war hier nicht zuletzt von einem staatserhaltenden Interesse. Vor diesem Hintergrund, kann Shahrastānīs Darstellung von Zarathustriern und Buddhisten als eine Weiterentwicklung der bloßen dhimma-Rechtskategorie angesehen werden, da sie, allen Anschein nach auch erstmalig, eine systematische Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten nichtmuslimischer Gemeinschaften beinhaltet. Hier steht ein ganz anderer Anspruch im Mittelpunkt, nämlich religiöse Diversität nicht nur bloß zu kategorisieren, sondern auch inhaltlich auf eine objektive und unpolemische Art und Weise zu erschließen. Shahrastānīs Buch der Religionen und Weltanschauungen kann somit nicht nur als ein bloßes Abbild der religiösen Vielfalt des 12. Jahrhundert gewertet werden, sondern auch als ein wichtiges Beispiel für eine positive Wertung von religiöser Diversität aus einer islamischen Perspektive.
Mind the Gaps Diversity als spannungsgeladenes Zeitgeist-Dispositiv1 Margrit E. Kaufmann
„[...] diversity as a term is in the air.“2
Diversity ist bekanntermaßen sowohl in Unternehmen als auch in der Wissenschaft und Zivilgesellschaft in den Mainstream und in Mode gekommen. Unter dem Begriff werden, wie erläutert werden soll, je nach Bereich nicht nur differente, sondern durchaus widersprüchliche Themenfelder, Konzepte und Praktiken verhandelt. Der Aufruf „Mind the Gaps“ – wobei sich Gap mit Lücke, Abstand, Spalte, Loch, Kluft, Riss, offene Stellen übersetzen lässt – ist als Hinweis und Anstoß gedacht, um darüber nachzudenken, was unter Diversity verstanden, gemanaged, exkludiert oder empowered wird. Wie ich zeigen möchte, gehen die Divergenzen weit über den am häufigsten thematisierten Gap zwischen der Anwendung von Diversity-Strategien als Business oder Equity Case hinaus. In diesem Sinne zeichnet dieser Text Brüche und Gegenläufigkeiten nach, die unter dem Begriff und dem aktuellen „Hype um Diversity“ 3 verhandelt werden. Darüber hinaus werden insbesondere Spannungsfelder
1
Diesen Text zu schreiben fiel mir nicht leicht, viele verschiedene Stränge sollten Berücksichtigung und eine Form der Ordnung finden. Das Schreiben verdeutlichte mir, in welch widersprüchlichen Feldern ich mich arbeitsmäßig bewege, die ich zwar (mit-)gestalten kann, die sich aber auch sprachlich und gedanklich auf mich abfärben. An dieser Stelle möchte ich mich bei Ayla Satilmis, Andreas Müller, Maike Koschorreck und Laura Otto für die Diskussionen und die konstruktiv-kritischen Kommentare beim Erstellen dieses Textes herzlich bedanken.
2
Arjun Appadurai: Interview with Arjun Appadurai (New York), conducted by Tam Ngo 2009, www.mmg.mpg.de/en/diversity-interviews/appadurai/ [18.2.2018].
3
Margrit E. Kaufmann: Hype um Diversity – cui bono? Diversity in Unternehmen und an Hochschulen – aus der Perspektive intersektioneller Diversity Studies. In: Diversity
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zwischen wissenschaftlichen Konzepten, Management-Tools und Antidiskriminierungspraxen thematisiert und das Überdenken jeweiliger Verständnisse und Verwendungen des Begriffs angeregt. Laut dem Ethnologen Appadurai ist mit Diversity ein zentraler anthropologischer und soziologischer Begriff, der Fragen der kulturellen Differenz und der Komplexität sozialer Dynamiken betrifft, zum Zeitgeistwort geworden. Appadurai zufolge bezeichnet er sowohl ein grundlegendes Charakteristikum menschlicher Gesellschaften als auch deren Umgang mit Differenzen und Fragen der Toleranz und wurde erst kürzlich zum unternehmerischen Schlagwort. 4 Doch nun scheinen die Bedarfe aus der Praxis der wissenschaftlichen Fundierung vorauszueilen, was ein generelles Problem von Modethemen sein mag. Auch tendiert die Praxis zu schnellen Lösungen und im Falle des Managements zu Lippenbekenntnissen. Aus einer machtkritischen, intersektionellen Forschungs- und Praxisperspektive betrachtet ist das Verhältnis zwischen Diversity, Antidiskriminierung und Gerechtigkeit zentral. Theoretisch verortet sich dieser Ansatz dementsprechend in den Critical Diversity Studies im Austausch mit der Critical Diversity Practice.5 Forschung und Praxis stützen sich v.a. auf Verbindungen von Postcolonial Studies, Feminist Studies und kritischer Rassismus- und Migrationsforschung aus kulturwissenschaftlichethnologischer Perspektive. In der Praxis geht es aus dieser Perspektive, wie gezeigt werden soll, normativ um Prozesse der Dekolonisierung und Öffnung für soziale Diversität einschließlich der Reflexion der eigenen Positionierungen; doch stellt sich die Frage nach deren faktischer Relevanz. Hintergrund dieses Textes zur aktuellen konzeptionellen Verständigung über Diversity und Diversität sind Beobachtungen, Erfahrungen und Analysen aus den verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Feldern, in denen ich als wissenschaftliche Expertin für Diversity tätig bin. Das sind neben der universitären Lehre und Forschung in Verbindung mit Projekten zu Diversität und zum Forschenden Lernen,6 Organisationskulturforschungen in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)7 sowie die Konzeption, Vermittlung, Beratung und Trouble. Vielfalt der Geschlechterforschung – Geschlechterforschung und Vielfalt. Hg. von Peter Pohl und Hania Siebenpfeiffer. Berlin 2016, S. 83–101. 4
Appadurai: Interview.
5
Margrit E. Kaufmann: Diversifizierung von Kultur. Intersektionelle Diversity Studies als Herausforderung. In: Transformationen des Kulturellen. Hg. von Andreas Hepp und Andreas Lehmann-Wermser. Wiesbaden 2013, S. 19–31; Kaufmann: Hype um Diversity – cui bono? S. 83–101.
6
Forschendes Lernen in den Geisteswissenschaften. Konzepte, Praktiken und Perspektiven hermeneutischer Fächer. Hg. von Margrit E. Kaufmann, Ayla Satilmis und Harald A. Mieg. Wiesbaden 2018.
7
Kaufmann: Diversifizierung von Kultur; dies.: Hype um Diversity – cui bono? Dies.: Diversity nicht ohne Intersektionalität. „Intersektionelle Diversity Studies“ für die Gestal-
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Prozessgestaltung und -begleitung, sowohl in der eigenen Institution als auch an anderen Hochschulen und in Praxisfeldern.8 Dieser multiperspektivischen und transdisziplinären Ausrichtung entsprechend wird der Text auf vielfältige aktuelle Diskursfelder Bezug nehmen, um dadurch Diversity als Dispositiv,9 seine Historizität, Strittigkeit, Funktion und Popularität als Zeitgeist-Phänomen, begreifen zu können. Als „Dispositiv“ bezeichnet Foucault: [...] erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich mit dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. [...] Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können. Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion“ [Hervorhebungen im Original].10
Als These hierzu möchte ich formulieren, dass Diversity auf die wachsenden Spannungen innerhalb der westlichen Gesellschaften reagiert, insbesondere durch die zunehmende Diversifizierung und sozio-ökonomische Ungleichheit. So verweist bspw. die Zunahme hybrider, synkretistischer sowie queerer Identifizierungen und Diversifizierungen sowohl auf neue Möglichkeiten, vorherrschende Ordnungssysteme und Grenzen zu überschreiten, als auch auf neue Formen der Grenzziehung und tung der Diversity Prozesse an Hochschulen. In: Handbuch Diversity Kompetenz. Bd. 1: Perspektiven und Anwendungsfelder. Hg. von Petia Genkova und Tobias Ringeisen. Wiesbaden 2016, S. 819–837. 8
Bspw. über die berufsbegleitende Fortbildung Managing Diversity. Potenziale der Vielfalt entdecken und gestalten (2004–2013) und das Kooperationsprojekt BremerForum: Diversity (2008–2012), http://www.kultur.uni-bremen.de/fileadmin/redak_kuwi/ PDFs/ BremerForum_Diversity.pdf [30.5.2018].
9
Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978; vgl. auch Gudrun-Axeli Knapp: ‚Diversity’ and Beyond. Vom praktischen Nutzen feministischer Theorie. In: Diversity ent-decken. Reichweiten und Grenzen von Diversity Policies an Hochschulen. Hg. von Saskia Fee Bender, Marianne Schmidbaur und Anja Wolde. Weinheim, Basel 2013, S. 32–60.
10 Foucault: Dispositive der Macht, S. 119–120.
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Normativität. Dies lässt sich beispielsweise am Prozess der Europäisierung nachvollziehen, mit den Grenzziehungen nach außen, den Angleichungen hinsichtlich der Rechte und Pflichten sowie der Währung, und gleichzeitig neuen Diversifizierungsund Spaltungsprozessen nach innen. So häufen sich, wie Vertovec 11 betont, neue Problemstellungen hinsichtlich Migrationsbewegungen und Grenzziehungen/Aufnahmeregelungen wie bspw. Fragen nach der Länge der Aufenthaltsberechtigung einer Person, nach dem Grad ihrer Autonomie auch gegenüber ihrem*r Arbeitgeber*in, ihren Möglichkeiten der Familienzusammenführung oder in welchem Umfang Personen Zugang zu Transferleistungen, Bildung, Gesundheit und Recht haben. Solche „neuen“ Variablen, welche das Zusammenleben bestimmen, fasst Vertovec 12 mit Bezug auf Hollinger13 unter dem Terminus „diversification of diversity“ zusammen und fügt hinzu, dass diese Prozesse in der sozialwissenschaftlichen Betrachtung und in politischen Entscheidungsorganen nach wie vor kaum Beachtung finden. Bezüglich einer Diversifizierung von Diversität besteht eine zentrale strategische Funktion des Diversity-Dispositivs, so führe ich meine These weiter aus, im Festigen des sozialen Zusammenhalts durch mehr Möglichkeiten, Formen der Diskriminierung einzuklagen und Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit mit entsprechenden Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen und Praktiken einzufordern. Zugleich jedoch funktioniert das Dispositiv als Strategie der Verharmlosung und Vertuschung von Ungleichheit, insbesondere durch die Zusammenführung von Antidiskriminierung und Profit. Und gerade die Unschärfe und Bedeutungsvielfalt, die „elusive multivalence“ von „diversity“, 14 bestätigt diese tückische Emulsion von Widersprüchen. Mit dem Thematisieren von gaps möchte ich bezogen auf historische und aktuelle Diskursstränge im Netz des Dispositivs solche Spannungsfelder und deren strategische Funktionen genauer erkunden. Die Ausführungen beginnen mit Annäherungen an die Begriffe Diversity bzw. Diversität und deren Begriffs- und Bedeutungsfelder – Diversität in Abgrenzung zu Differenz und Ungleichheit, zu Diskriminierung und Heterogenität. Zum tiefergehenden Verständnis des Dispositivs werden im Anschluss daran die Entstehungskontexte von Diversity-Konzepten und deren Ziele näher erläutert. Danach werden machtkritische, intersektionelle Perspektiven auf Diversität vorgestellt und daraus konzeptionelle Denkanstöße für den Umgang mit Diversität gefolgert. Im Schlussteil
11 Steven Vertovec: Super-Diversity and its Implications. In: Ethnic and Racial Studies 30 (2007), S. 1024–1054, hier: S. 1040. 12 Ebd., S. 1025. 13 David. A. Hollinger: Postethnic America. Beyond Multiculturalism. New York 1995. 14 Routledge International Handbook of Diversity Studies. Hg. von Steven Vertovec. London, New York 2015, S. 2.
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geht es um Konsequenzen des Beschriebenen für Aushandlungspraxen. Hier wird nach der Verbindung von Wissenschaft und Praxis gefragt und nach konkreten Umsetzungen des Gerechtigkeitsansatzes.
BEGRIFF DIVERSITY – MIND THE GAPS! Was wird unter dem Begriff Diversity verstanden, gemanaged, exkludiert oder empowered? Diversity als Zeitgeist- und buzz-word ist ein aktuelles Diskussions- und Aktionsfeld komplexer Verhandlungspraxen. Wie bereits mit dem Titel angedeutet beinhaltet eine Verständigung über den jeweils verwendeten Begriff zuallererst, sich die zahlreichen gaps hinsichtlich der Bedeutungsgebungen von Diversity im jeweiligen Kontext bewusst(er) zu machen. Als Anregung für eine weiterführende Diskussion werden im Folgenden eine Reihe von zentralen gaps vorgestellt und diskutiert. Die gaps werden hier, angelehnt an den Gender Gap als Lücke, durch das Zeichen _ symbolisiert. Doch während der Gender Gap bei den Geschlechterzuschreibungen darauf hinweist, diese nicht als Entweder-Oder-Verhältnis zu denken – also auf Trans und Queer als bedeutungsöffnende Zwischen-, Möglichkeits- und Aushandlungsräume von Gender –, möchten die gaps in diesem Text ein Stolpern beim Lesen erwirken und damit den Raum öffnen, um über Brüche und Widersprüchlichkeiten dessen, was mit Diversity benannt wird, nachzudenken. diversity/Diversität als Phänomen _ Diversity als Konzept Zunächst lässt sich differenzieren zwischen einem Begriff von „diversity“ als Phänomen, zu übersetzen mit Diversität, oftmals synonym verwendet mit Vielfalt, Pluralität, Unterschiedenes, und „Diversity“ als Konzept der Diversity Studies oder der Diversity Management Strategien; dementsprechend wird das Wort im Englischen zum einen klein-, zum anderen großgeschrieben.15 Analog dazu lässt sich im Deutschen begrifflich unterscheiden zwischen Diversität (diversity) als Phänomen, das zugeschriebene Formen von Vielfalt bezeichnet und sich somit auf der deskriptiven Ebene bewegt, und Diversity in Verbindung mit Management, Policies und Studies. Kritische wissenschaftliche Ansätze behandeln den Begriff als Analysekategorie und
15 Michael Stuber: Diversity. Das Potential von Vielfalt nutzen – den Erfolg durch Offenheit steigern. München 2004.
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setzen sich sowohl mit Diversität als Phänomen als auch mit Diversity als Konzept auseinander.16 Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff Diversity zuerst in Verbindung mit Management verwendet und ist darüber „in Mode gekommen – allerdings auch ins Gerede“.17 Diversity Management, auch DiM, reagiert auf die gesellschaftlichen und kulturellen Transformationen durch Strategien und Maßnahmen zum „produktiven Umgang mit Vielfalt“ im Rahmen von Organisationen und bezieht sich auf die personale Diversität der Mitglieder oder Bezugsgruppen und die organisationale Diversität.18 Damit rückt DiM von der defizitorientierten Perspektive ab und fokussiert das Zusammenleben bzw. -arbeiten in Organisationen, Gemeinschaften oder auch Staaten und dabei sowohl Differenzen als auch Gemeinsamkeiten von Personen und Gruppen. Der Ansatz bezieht sich also auf alle Mitglieder von Gesellschaften und Organisationen und nicht nur auf die zu ‚Anderen’ Gemachten (wie z.B. der Integrationsdiskurs vornehmlich). Diversity-Strategien als Management-Konzepte und politische Regulierungs- und Steuerungsinstrumente im Umgang mit Diversität – Diversity Management und Diversity Policies als organisationale Leitlinien und Umsetzungen – stützen sich sowohl auf juristische und politische Vorgaben, wie die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien, als auch auf Profitinteressen, z.B. durch entsprechende Außendarstellungen und erhoffte Wettbewerbsvorteile durch das Ausnutzen von Diversität. Wenn in Deutschland gemeinhin von Diversity die Rede ist, sind meist nur die sechs im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 verankerten Kategorien gemeint: „Rasse“/„ethnische Herkunft“, „Geschlecht“, „Religion“/„Weltanschauung“, „Behinderung“, „Alter“ und „sexuelle Identität“. Hervorzuheben ist hierzu, dass der Einbezug von ökonomischer und (rechts)statusmäßiger Ungleichheit im AGG fehlt. „Gleichbehandlung“ wird hier nicht mit Verteilungsgerechtigkeit verbunden und beschränkt sich auf die sechs festgelegten Kategorien.
16 Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Hg. von Gertraude Krell, Barbara Riedmüller, Barbara Sieben und Dagmar Vinz. Frankfurt a.M. 2007; Mark Terkessidis: Integration ist von gestern, „Diversity“ für morgen – Ein Vorschlag für eine gemeinsame Zukunft. In: Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. Hg. von Wolf-Dietrich Bukow, Gerda Heck, Erika Schulze und Erol Yildiz. Wiesbaden 2011, S. 189–205; Margrit E. Kaufmann: Was sind intersektionelle Diversity Studies? In: Diversity @ Uni Bremen Dokumentation. Hg. von ders. u.a. Bremen 2015, S. 12–13. 17 Auf derartige Problemlagen verweisen etwa Krell und Riedmüller in: Diversity Studies, S. 9. 18 Ebd.
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Beachtete _ erwünschte _ unerwünschte Diversität An die Aufzählung der im AGG aufgeführten Kategorien, oder Dimensionen, wie diese in der Diversity Management-Literatur eher benannt werden,19 schließen sowohl in der Theorie als auch in Empirie und Praxis die immer wieder gestellten Fragen, welche Kategorien denn nun zuerst zu beachten und welche demgegenüber nachrangig seien und wer oder was darüber entscheidet. Diversity-Ansätze, die den Anspruch haben, auf mehrere Kategorien Bezug zu nehmen und dabei nicht allen gleichermaßen gerecht werden können, werden als Konkurrenz zu bestehenden Programmen zu Einzelkategorien wahrgenommen, z.B. gegenüber der Gender Gleichstellungspolitik. 20 Die damit einhergehende Vernachlässigung bzw. Dethematisierung von Kategorien ist durchaus problematisch; darauf verweisen Bezeichnungen wie „Gender und Diversity“21; das Bemühen also, Gender als elementare DiversityKategorie explizit hervorzuheben. Schauen wir genauer, auf welche Weise von Diversität in verschiedenen Kontexten die Rede ist, wird deutlich, dass die Begriffe Vielfalt und Pluralität zunächst positiv belegt scheinen. In der Konsumwelt, z.B. der Mode- oder Lebensmittelbranche, wird Vielfalt als Bereicherung erlebt. Auch die internationalen Organisationen stimmen ein in das „Lob der Diversität“22, wie etwa in der „Universal Declaration of Cultural Diversity“ der UNESCO von 2001. 23 Hier, wie auch beim Diversity Management der Global Player, wird diversity des Öfteren auf kulturelle Vielfalt reduziert. Als positiv gilt Vielfalt, dem Feiern und Nutzen von „Multikulti“ vergleichbar, zum einen, im Bereich der Fest- und Popkultur,24 wenn sie belanglos und konsumierbar ist, zum anderen, wie im Fall der UNESCO-Deklaration, wenn es darum geht, kulturelle Vielfalt analog der Artenvielfalt zu erhalten (dies angesichts ihrer fortgeschrittenen Zerstörung). Geht es hingegen um das Teilen von Privilegien, wie im Fall der Aufnahme von Geflüchteten, oder um das multireligiöse
19 Bspw. Lee Gardenswatz und Anita Rowe: Managing Diversity. A Complete Desk Reference and Planning Guide. New York 1989. 20 Gender und Diversity – Albtraum oder Traumpaar? Interdisziplinärer Dialog zur „Modernisierung“ von Geschlechter- und Gleichstellungspolitik. Hg. von Sünne Andresen, Mechthild Koreuber und Dorothea Lüdke. Wiesbaden 2009. 21 Ebd. 22 Cristina Allemann-Ghionda: Orte und Worte der Diversität – gestern und heute. In: Orte der Diversität. Hg. von ders. und W.-D. Bukow. Wiesbaden 2011, S. 28. 23 Ebd. 24 Mark Terkessidis: Globale Kultur in Deutschland. In: Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. Hg. von Andreas Hepp und Rainer Winter. Wiesbaden 2006, S. 311–325.
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Zusammenleben, verdeutlichen die heraufbeschworenen Bedrohungsszenarien die janusköpfige Kehrseite des Lobs. Exemplarisch für den ambivalenten aktuellen Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt möchte ich mich auf die mich empörenden Illustrationen samt Untertitelungen der Wikipedia-Einträge für „Diversity Management“ und für „Flüchtlingskrise in Europa ab 2015“ beziehen (s. Abb. 1 und 2). Mir ist dabei bewusst, dass ich, indem ich diese Beispiele entkontextualisiere und ihnen hier nicht ausreichend Raum gebe, selbst gerade das tue, was ich der Verwendung von Bildern vorwerfe. Mit diesem Bezug möchte ich jedoch darauf hinweisen, wie wichtig es beim Thema des Umgangs mit Diversität ist, auf unsere Bildsprachen zu achten.
Abbildung 1: „Diversity Management“ 25 Untertitelt mit „farbliche Vielfalt“ dienen bunte Ostereier zur Illustration von Diversity Management. Dies wirkt, wie „Multikulti“, auf den ersten Blick fröhlich, belanglos und beliebig, lässt sich aber auch als Verharmlosungsstrategie rassistisch
25 https://de.wikipedia.org/wiki/Diversity_Management [15.02.2017]. Das Bild wurde in der Zwischenzeit auf Wikipedia gelöscht, ist aber weiterhin verfügbar unter https://www.lifepersona.com/index.php/workplace-diversity-in-organizations-how-to-work-better [30.7.2018].
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motivierter Hautfarben-Markierungen lesen, wie bei zahlreichen Illustrationen,26 die Diversität durch Farbenvielfalt visualisieren und dabei vielfach auf Hautfarben anspielen. Das Ostereier-Bild wurde inzwischen aus dem Wikipedia-Eintrag entfernt.
Abbildung 2: „Flüchtlingskrise“ 27
Offenkundig werden die janusköpfigen Interpretationen sozialer Vielfalt samt deren abweisenden, vernichtenden Folgen am Beispiel des Umgangs mit geflüchteten Menschen. Beim Eintrag für „Flüchtlingskrise“ ist das Bild einer Hilfsaktion im Mittelmeer aufgeführt mit der Legende „Seenotrettung auf dem Mittelmeer im Rahmen der Operation Triton“. „Operation“ ist mit chirurgischem oder militärischem Eingriff konnotiert; für diese Operation tragen die Rettenden auch Schutzkleidung, allerdings
26 Bspw.
https://blog.trueaccord.com/2017/08/diversity-builds-successful-teams-tech/
[10.4.2018];
http://www.worqer.org/w/diversity-its-a-complicated-word/
[10.4.2018];
http://www.hrreview.co.uk/analysis/oliver-watson-diversity-holds-key-organisationsroi/96010 [10.4.2018]. 27 https://de.wikipedia.org/wiki/Flüchtlingskrise_in_Europa_ab_2015
[10.4.2018].
CC BY 2.0. (Siehe auch: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:LE_Eithne_Operation_Triton.jpg [25.7.2018].
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um sich selbst und nicht um die Geflüchteten zu schützen. Das Beispiel verdeutlicht Bukows These, dass „Vielfalt“ auch zu deren Einschränkung postuliert und zur Legitimation gouvernementaler Interventionen benutzt wird. 28 Inkludierte _ exkludierte Diversität Den Diversity-Strategien und -Konzepten haftet das Dilemma an, dass sie, indem sie bestimmte Identitäts- und Differenzkategorien wie im AGG festschreiben und anerkennen, eben damit zugleich diese Zuschreibungen und Diskriminierungen (re)produzieren. Indem wir bestimmte Formen von Diversität, wie bspw. LSBTTIQ, also Gender und Desire als lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell bzw. queer, wahrnehmen und anerkennen, schreiben wir Menschen(Gruppen) bestimmte Identitäts- und Differenzkategorien zu. Diese Bezeichnungspraxen, die sich von den Selbstzuschreibungen unterscheiden können, verbunden mit der Forderung nach Anerkennung der Vielfalt von Unterschieden, aktivieren bestehende diskriminierungsrelevante Unterscheidungen und schaffen neue. 29 Unterscheidungen sind grundlegend für die Gruppenbildung und Formen der Zugehörigkeit, dienen aber auch zur Ausgrenzung und Verweisung. Hinsichtlich der Diversity-Praxis unterscheiden z.B. sogenannte proaktive Maßnahmen zwischen den von einem Programm oder Projekt Geförderten und den Nichtgeförderten. Wen schließt bspw. der Nachteilsausgleich im Studium im Rahmen von Inklusionsprojekten bevorzugend ein und wer fällt aus diesem Rahmen heraus, wird also durch den Nachteilsausgleich der einen benachteiligt oder gar durch Inklusionsmaßnahmen exkludiert? Und wer entscheidet darüber und zieht die Grenzlinien? Welche Formen von Diskriminierung werden durch das AGG und entsprechende Diversity-Maßnahmen als solche anerkannt und wer oder was bleibt unbeachtet beziehungsweise ungeschützt? 30 Diesen Fragen widmen sich die intersektionellen Perspektiven, die im vierten Teil des Beitrags vorgestellt werden. Sie versuchen die Reflexion dazu anzuregen, dass wir, selbst in den kritischen Forschungen, jene Kategorien voraussetzen, die wir später dekonstruieren, und je nach Forschungsrichtung einzelne Kategorien priorisieren (müssen) und
28 Wolf-Dietrich Bukow: Zur alltäglichen Vielfalt von Vielfalt – postmoderne Arrangements und Inszenierungen. In: Orte der Diversität. Hg. von dems. und Cristina AllemannGhionda. Wiesbaden 2011, S. 35–54, hier: S. 43. 29 Ulrike Hormel: Diversity und Diskriminierung. In: Sozial Extra 32/11-12 (2008), S. 20– 23, hier: S. 22. 30 Margrit E. Kaufmann und Ayla Satilmis: Hochschulöffnung intersektionell?! Konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung von diversitäts- und ungleichheitssensiblen Lehr- und Lernräumen. In: Öffnung von Hochschulen. Impulse für die Weiterentwicklung von Studienangeboten. Hg. von Imke Buß u.a. Wiesbaden 2018, S. 215–232.
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dadurch Komplexität reduzieren, um theoretisch zu fokussieren und überhaupt Aussagen treffen zu können. Jede Forschung priorisiert entsprechend; Kulturforschungen bspw. beziehen sich meist vorrangig auf „Cultural Diversity“.31 Diversität _ Differenz _ Ungleichheit _ Diskriminierung Kulturwissenschaftlich betrachtet gehört Diversität zum Begriffsfeld von Differenz/en und Identität/en und damit verbundenen Differenz- und Identitätspolitiken sowie Ungleichheit/en und Ungleichbehandlung durch moralisch-ethische Nichtanerkennung, direkte, indirekte und strukturelle Diskriminierung und ökonomische Ausbeutung. Die Ungleichheitsforschung, der sich die Critical Diversity Studies zuordnen, untersucht die (Re-)Produktion von Unterschieden. Differenz und Alterität hingegen beinhalten, dass etwas anders sein kann, ohne gleich auch unterschieden, also hierarchisch geschichtet, zu sein. Differenz32 betont das Auseinandergehen, Entzweien als Grundmodus sozialer Denk- und Handlungsprozesse.33 Differenzierungen sind grundlegend für Kategorisierungen und nehmen zugleich allem, was wir sagen, die Eindeutigkeit. Denn Identität bleibt unabgeschlossen und die Kategorien überlagern und durchkreuzen sich wechselseitig (ebd.). Diversität/ diversity34 wird zwar mit ambivalenten, aber dennoch meist positiv belegten Bedeutungsfeldern assoziiert und benennt Verschiedenheiten, die durch Prozesse des Auseinandergehens und Vervielfältigens, des Divergierens und Diversifizierens, entstehen.35 Diese Verschiedenheiten werden alltäglich sowohl interaktiv als auch über Repräsentationsformen und Strukturen (re-)produziert und sind keine feststehenden Wesensmerkmale. Die aktuell als zunehmend wahrgenommene soziale Diversifizierung steht in Verbindung mit Prozessen der Vereinheitlichung durch Globalisierung und Monopolkapitalisierung sowie neuer Verbindungen und Mischungen durch Transkulturalisierung, Hybridi
31 Ulf Hannerz: Anthropology’s World. Life in a Twenty-First-Century Discipline. New York 2010. 32 Vgl. lat. differre, u. a. als auseinander tragen, verbreiten, verzögern, scheiden, verschieden sein. S. Karl Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Hannover 1972, S. 2146. 33 Martin Fuchs: Diversity und Differenz – Konzeptionelle Überlegungen. In: Diversity Studies. Hg. von Krell und Riedmüller, S. 17–35, hier: S. 18. 34 Vgl. lat. divertere, als auseinandergehen, weggehen, scheiden, sich trennen, verschieden sein, voneinander abweichen, ablenken, widersetzen. Vgl.: Georges: Handwörterbuch, S. 2248. 35 Vgl. exemplarisch Kaufmann: Diversifizierung von Kultur, S. 19–31.
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sierung und Pluralisierung sowie mit Fragen der Anerkennung des Anderen. Diskriminierung36, ein mit Diversifizierung verwandtes Wort, ist deutlicher auf Benachteiligung durch Unterscheidung ausgerichtet und negativ konnotiert. Diversität _ Heterogenität Diversität beinhaltet auch nicht dasselbe wie Heterogenität. Da die Begriffe insbesondere im Bildungsdiskurs meist synonym verwendet werden, soll hier kurz exemplarisch auf diesen Bezug genommen werden. Im Bereich der Schulbildung wurde Heterogenität zeitlich vor Diversity zum Thema. Der Begriff und damit verbundene Konzepte wurden dann relevant, als in den schul- und bildungspolitischen Debatten damit begonnen wurde, strukturelle Chancen(un)gleichheiten zu problematisieren und das vorherrschende Bild homogener Lerngruppen infrage zu stellen – das heißt seit Beginn der Öffnung des Schulsystems in den 1960er Jahren und vermehrt wieder infolge des Pisa-Schocks seit den 2000er Jahren. Im Hochschulbereich wird Heterogenität hingegen erst seit wenigen Jahren thematisiert. Im Zuge der ersten DiversityMaßnahmen an den Hochschulen, die sich am (internationalen) Wettbewerb und an Zukunftsfragen orientierten, geriet v.a. die Diversität unter den Studierenden ins Blickfeld – und weniger die Diversität der Lehrenden, der Lehr- und Studienformen etc.37 Heterogenität38 setzt sich ab von einer vielfach unhinterfragt als Norm gedachten Homogenität und gilt im Bildungsdiskurs noch immer eher als Störfaktor. So richten sich Studienpläne und Curricula nach wie vor meist nach der Vorstellung von Normstudenten aus, auch wenn männliche, weiße39, christliche, bildungsbürgerliche, ökonomisch abgesicherte, deutschsprachige, gesunde, junge Studenten in der Minderheit sind. 40 Falls nun vermehrt Heterogenität thematisiert wird, adressiert dies
36 Vgl. lat. discriminare, als trennen, absondern, (unter)scheiden, ebd., S. 2203. 37 Kaufmann und Satilmis: Hochschulöffnung intersektionell?! S. 215–232. 38 Vgl. griech. héteros als anders, verschieden, und gr. génos, als „Klasse, Art“, verwandt mit Geschlecht, siehe Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York 1989, S. 307. 39 „Schwarz“ und „weiß“ werden als soziale und politische Begriffe verstanden und um dies zu betonen sprachlich markiert. Zur kritischen Rassismus- und Weißseinsforschung vgl. Susan Arndt, Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche: Konzeptionelle Überlegungen. In: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Hg. von dens. Münster 2009, S. 13. 40 Kaufmann und Satilmis: Hochschulöffnung intersektionell?! Vgl. auch Margrit E. Kaufmann: „Rein in die Wissenschaft!“ Diversity Prozesse und die Öffnung von Lehre und Forschung. In: Handbuch interkulturelle Öffnung. Hg. von Claude-Hélène Mayer und Elisabeth Vanderheiden. Göttingen 2014, S. 271–281.
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über den Leistungsbezug hinaus v.a. persönliche Merkmale und Markierungen. Bezogen auf Bildungsprozesse geht es jedoch auch um unterschiedliche Zugänge, Ziele, Einstellungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten der Lernenden. Die Ideen der Sensibilisierung und Binnendifferenzierung reichen nicht aus bzw. beziehen sich meist immer noch auf ein homogenes Leistungsideal und -ziel. „Heterogenitätssensibilität als solche verhindert noch nicht, dass Lehrkräfte ‚qualitative Differenz’ mit negativen Wertungsoptionen und Selektionsentscheidungen verbinden“.41 Weiterhin verfälscht die ausschließliche Fokussierung auf die Studierenden die mit Heterogenität verbundenen Problemlagen unter den Lehrenden, Verwaltenden, Leitenden und struktureller Ungleichheit in meist monokulturellen, auf Homogenität ausgerichteten Organisationsstrukturen. Die bildungsbezogene Berücksichtigung von Heterogenität kann somit, ebenso wie der aktuelle Bezug auf Diversität, sowohl die Individualisierung von Ungleichheitsstrukturen fördern, z.B. durch Lerngruppendifferenzierung mit ausschließlichem Leistungsbezug, als auch der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das homogenisierende Bildungssystem widersprechen, z.B. durch das Aufdecken von Selektionsmechanismen.42 Hieran zeigt sich, wie wichtig es ist, von einem Begriff von Vielfalt auszugehen, der diese als Norm und nicht als Abweichung setzt. Der Begriff der Heterogenität ist dahingehend in seiner Verwendung zu hinterfragen, wo er, als Gegensatz zu Homogenität gesetzt, mit Abweichung konnotiert wird.
WIDERSPRÜCHLICHE ENTSTEHUNGSKONTEXTE UND ZIELE Diversity kann als „Travelling Concepts in the Humanities“ 43 aufgefasst werden. Gemeint sind nicht nur Theoriekomplexe, die im internationalen Raum von einer Disziplin zu anderen übergehen, worauf sich Baal vornehmlich bezieht, sondern ein migrierendes Wechselverhältnis zwischen sozialer und politischer Praxis, Theorie, Empirie und organisationaler Praxis, das sich vom US-amerikanischen Kontext ausgehend global verbreitet.
41 Ulrike Hormel und Marcus Emmerich: Heterogenität – Diversity – Intersektionalität. Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken sozialer Differenz. Wiesbaden 2013, S. 181. 42 Annette Rein und Christine Riegel: Heterogenität, Diversität, Intersektionalität. Probleme der Vermittlung und Perspektiven der Kritik. In: Vermitteln. Eine Aufgabe von Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Hg. von Mirjana Zipperle, Petra Bauer, Barbara Stauber und Rainer Treptow. Wiesbaden 2016, S. 67–84. 43 Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto 2002.
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Entstehungskontext des Gerechtigkeitsansatzes Historisch verorten lässt sich der Ansatz Diversity as Equity Case in den sozialen und politischen Bewegungen der 1960er Jahre und den entsprechenden wissenschaftlichen Konzepten zu sozialer Ungleichheit und Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit, die sich über Identitätspolitiken konstituierten. 44 Damals forderten die US-amerikanischen Bürger*innenrechtsbewegungen Affirmative Action als Bottomup-Ansatz zur Unterstützung und Inklusion von rassistisch und/oder sexistisch diskriminierten Gruppen in gesellschaftlichen Institutionen. Diesbezügliche Maßnahmen zielen auf proaktive Regelungen, die sich über die Sanktionierung von Rechtsverstößen hinausgehend auf positive Verpflichtungen ausrichten, mit dem Ziel historisch gewachsene Diskriminierung und Ungleichheit abzumildern und mehr Chancengleichheit zu ermöglichen. Damit adressiert dieser Ansatz ebenso wie der nachfolgend beschriebene Wirtschaftlichkeitsansatz Personen, die aufgrund ihrer institutionellen Stellung in der Lage sind, strukturelle Benachteiligung und Ungleichmachung zu beeinflussen; er strebt organisationsbezogene Veränderungen und kollektive Prozesse an und verbindet sich mit Steuerungsinstrumenten.45 Zielt der Gerechtigkeitsansatz auf das Anerkennen von Differenzen sowie die gesellschaftliche Partizipation aller Menschen durch die Möglichkeit zur materiellen, sozialen, kulturellen und institutionellen Teilhabe,46 versucht er dies über Antidiskriminierungsmaßnahmen und Awareness Trainings zu erreichen, z.B. durch Critical Whiteness- und Empowerment-Workshops. Entstehungskontext des Wirtschaftlichkeitsansatzes In Verbindung mit Management steht Diversity primär für Strategien, Programme und Maßnahmen,47 die Vielfalt als erfolgversprechenden, profitablen Wettbewerbsfaktor einsetzen. Diese übertrugen sich in den 1990er Jahren infolge der Globalisierung von den USA nach Westeuropa, vor allem durch die Global Player, die Wert legen auf Cultural Diversity.48 Der Diversity as Business Case, als Top-down-Strategie, verwendet Vielfalt als Tool zur Effizienz- und Absatzsteigerung. Diversität gilt
44 Nancy Fraser: Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung. In: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Hg. von ders. und Axel Honneth. Frankfurt a.M. 2003, S. 13–128. 45 Bspw. Andreas Klose: Mehr Verbindlichkeit wagen – Positive Pflichten zu Positiven Maßnahmen. In: Positive Maßnahmen. Hg. von der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2010, S. 43. 46 Iris Marion Young: Justice and the Politics of Difference. Oxford 1990. 47 Krell u.a.: Einführung Diversity Studies, S. 9. 48 Vgl. https://www.charta-der-vielfalt.de/startseite.html [10.4.2018].
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entsprechend als Ressource und Potential. Dieser Ansatz betont die Wirtschaftlichkeit, ist aber in der Regel auch mit Maßnahmen für mehr Chancengleichheit verbunden.49 Tools zur Umsetzung sind hier vor allem die sogenannten positiven Maßnahmen, d.h. Fördermaßnahmen, die sich an Personen richten – z.B. zum Nachteilsausgleich bei Behinderung oder zur Frauenförderung. In der Praxis werden diese oftmals auf bloße Quotenregelungen reduziert. Durch die „Differenzkonsummaschine“50 des Business Ansatzes werden Differenzen und Unterschiede vom Management für den internationalen Markt und Innovationen genutzt, gemischte Teams z.B. für das Entwickeln kreativer Ideen und die Erweiterung der Kund*innengruppen, die Werbung für Differenzgruppen wie Autotypen für Homosexuelle oder Beeinträchtigung, Bodyism und Altersdiskriminierung als Gewinnfaktoren durch die Erweiterung des Waren- und Dienstleistungsangebots der Gesundheits- und anderer Industrien. Was polarisierend als gap zwischen Equity- und Business-Ansatz dargestellt wird, ist durchaus komplexer zu denken, denn was nützlich ist, kann auch der Teilhabe dienen und auch soziale und Bildungsorganisationen unterstehen wirtschaftlichen Bedingungen.51 Es lässt sich kaum eine Organisation entweder nur dem einen oder dem anderen Ansatz zuordnen, auch die angewandten Tools ähneln sich. Im deutschsprachigen Kontext ging infolge der Europäisierungsprozesse das Gender Mainstreaming, kurz GM, dem Diversity Management voraus und ist deshalb tendenziell mit der ethisch-politischen Gerechtigkeitsperspektive verbunden. Ethnizität hingegen wurde über die Internationalisierungsprozesse vor allem mit Wirtschaftlichkeit verbunden. Doch geht es beim GM auch um den Nutzen von Vereinbarkeitslösungen hinsichtlich des Mangels an (weiblichen) Führungskräften sowie beim DiM zum Teil um die Arbeitsmarktintegration von als anders markierten Menschen. Diversitätsforschungen Auch die Diversitätsforschungen bzw. Diversity Studies zeichnen sich durch eine Vielfalt an Zugängen und Konzepten aus – durch affirmative, normative, additive, essentialistische sowie machtkritische Ansätze. Krell et al. beschreiben die Diversity Studies als „integrierende Forschungsrichtung“ 52 und Forschungsprogramm im Sinne eines Dachs verschiedener Disziplinen wie Betriebswirtschaftslehre, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie
49 Vgl. Charta der Vielfalt. 50 Terkessidis: Globale Kultur in Deutschland, S. 316. 51 Kaufmann: Hype um Diversity, S. 83–101. 52 Krell u.a.: Diversity Studies, S. 7.
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und Medizin. Auch Benshop et al. erachten diese als „Umbrella Concept“.53 In der „Deutschsprachigen Diversitätsforschung“, die zu einem Netzwerk zusammengeschlossen ist, überwiegen die Organisationsforschungen.54 „Diversity Studies“ als Konzepte im Umgang mit historischen und gegenwärtigen sozialen Differenzen und den sie betreffenden gesellschaftlichen und politischen Dynamiken führt Vertovec55 in dem von ihm herausgegebenen Handbuch zusammen. Unter „Diversity Trouble“ thematisieren Pohl und Siebenpfeiffer56 in dem von ihnen herausgegebenen Band das Verhältnis von Gender und Diversity in der Gegenwartskultur. In der Tradition des Gerechtigkeitsansatzes versuchen sich machtkritische Forschungsperspektiven einer Beliebigkeit im Umgang mit Diversität zu widersetzen bzw. die Politiken kritisch zu hinterfragen und Diversity zu dekonstruieren.57 Solche Perspektiven kritisieren u.a. die Praktiken des Aneinanderreihens und Essentialisierens von Diversity-Kategorien, damit sie managebar und handhabbar werden, insbesondere einsetzbar für Repräsentationspolitiken. Um der Komplexität und Prozesshaftigkeit dessen, was unter Diversity be- und verhandelt oder auch empowered wird, gerechter zu werden, nehmen Critical Diversity Studies, wie im Folgenden veranschaulicht wird, eine intersektionelle Perspektive ein.
CRITICAL INTERSECTIONAL DIVERSITY STUDIES & PRACTICE Machtkritischer, intersektioneller Ansatz Schönredenden, soziale Ungleichheit verschleiernden Verwendungen von Diversity und einer Beliebigkeit in der Konzeptionierung von Diversitätsforschungen und Diversity Management versuchen machtkritische, intersektionelle Annäherungen
53 Yvonne Benshop u.a.: Unpacking Diversity, Grasping Inequality. Rethinking Difference Through Critical Perspectives. In: Organization 17/1 (2009), S. 9–29. 54 Bspw. Regine Bendl und Edeltraud Hanappi-Egger: Diversität, Diversifizierung und (Ent)Solidarisierung. Eine Standortbestimmung der Diversitätsforschung im deutschen Sprachraum. Wiesbaden 2015. 55 Handbook of Diversity Studies. Hg. von Vertovec. 56 Diversity Trouble. Hg. von Pohl und Siebenpfeiffer. 57 Bspw. Sara Ahmed: You end up doing the document rather than doing the doing. Diversity, Race Equality und Dokumentationspolitiken. In: Soziale Ungerechtigkeit. Kritische Perspektiven auf Diversity, Intersektionalität und Antidiskriminierung. Hg. von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan. Berlin 2011, S. 118–137; Eggers: Konzeptionelle Überlegungen; Kaufmann: Diversifizierung von Kultur.
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entgegenzuwirken. Diese entwickeln Diversity Studies als ein transdisziplinäres Forschungsprogramm zur Beschreibung und Analyse komplexer gesellschaftlicher Diversifizierungs- und Ungleichmachungsprozesse und begreifen Diversity als herrschafts- und machtdurchdrungenes Netz diskursiver und nichtdiskursiver Elemente. 58 Kritisch setzen sich die Studies mit dem aktuellen Dispositiv auseinander, indem sie sich an den subalternen Perspektiven orientieren und mittels dieser z.B. auch die Managementstrategien analysieren. Critical Intersectional Diversity Studies basieren auf den Gender/Queer x (Trans-)Cultural, Decolonization x Critical Whiteness/Racism x Age/Ageism x Classism x Dis/Ability x Bodyism x ... Studies, beziehen sich auf die damit verbundenen Identitäts- und Differenzkonstruktionen und hinterfragen und dekonstruieren diese. Das auf die Intersektionalität verweisende „x“59 symbolisiert, die Komplexität verkürzend, dass diese Studies weder als getrennt noch aneinandergereiht, addiert oder hierarchisiert gedacht werden sollen, sondern als sich gegenseitig durchdringend und wechselseitig beeinflussend. Machtkritisch sind solche Studies insofern, als dass sie Diversität nicht als gegeben annehmen, sondern die sie beinhaltenden Formen der Ungleichmachung und Bemächtigungsstrategien aufzeigen und analysieren. Sie zeigen im praxeologischen Sinne, wie Diversität als Identitäts- und Repräsentionsformen alltäglich interaktiv, medial und über die Gesellschaftsstrukturen (re)produziert wird, als Un/Doing Diversity. Auch unter dem Konzept der Intersektionalität versammelt sich eine Vielfalt von kritischen bis methodisch-formalistischen Ansätzen. Den Intersektionalitätsbegriff führte die Rechtswissenschaftlerin Crenshaw ein, indem sie aus dem Kontext der USamerikanischen Black Feminist Studies heraus nach dem fragt, was aus dem Rahmen von Antidiskriminierungsrechten herausfällt, hier die Schwarzen Frauen, die aufgrund multipler Betroffenheit weder durch die Frauenrechte noch durch Gesetze gegen rassistische Diskriminierung ausreichend anerkannt, geschweige denn geschützt sind.60 Wer eingehend nach den Entstehungsbedingungen marginalisierter, subalterner Subjektpositionen fragt, beschäftigt sich unweigerlich auch mit den machtvollen herrschenden Subjektpositionen, wie z.B. den unhinterfragten weißen Privilegien und institutionell verankerten Formen von Ungleichmachung. Verwobenheiten von Heterosexismus, Rassismus und Klassenherrschaft thematisierten exemplarisch aus Schwarzer Perspektive in den 1970er Jahren das
58 Bspw. Kaufmann: Diversity nicht ohne Intersektionalität, S. 825; in Anlehnung an Foucault: Dispositive der Macht. 59 Kaufmann: Hype um Diversity; Kaufmann: Diversity nicht ohne Intersektionalität. 60 Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139–167.
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Combahee River Collective61 und Davis62, aus weißer Perspektive der zweiten Welle der Frauenbewegung Meulenbelt63; in der Folge kam es teilweise auch zur kritischfeministischen Zusammenarbeit zwischen Schwarzen und weißen Forscher*innen.64 Aus den Verbindungen der feministischen, marxistischen und antikolonialen Ethnologie ergaben sich schon frühzeitig intersektionelle, wissenschaftskritische Forschungsperspektiven, die Partei ergriffen für Marginalisierte und Unterdrückte. 65 Gerade auch die ethnologische Genderforschung zeigt auf, dass Geschlecht immer im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten ist und als verwoben mit weiteren Identitätsund Differenzkategorien.66 Ethnographische Annäherungen versuchen Subjektivierungs- und Ungleichmachungsprozesse in sozialen Interaktionen, kulturellen Repräsentationen und Gesellschafts- bzw. Organisationsstrukturen nachzuzeichnen. Konzeptionelle Denkanstöße für Diversitäts-Ansätze Bei den empirischen Erkundungen verdeutlicht sich die Komplexität der Diversitätsund Ungleichheitskonzepte und -praxen. Hierbei stellen sich Fragen wie die folgenden: Ist es möglich, zu Migrationserfahrungen zu forschen ohne Othering zu betreiben, also ohne dabei unter asymmetrischen Bedingungen Menschen als Andere zu konstruieren? Lässt sich von sozialen Kategorien ausgehen, d.h. lassen sich Menschen-(Gruppen) vereigenschaftlichen, ohne sie dadurch gleichzeitig zu diskriminieren? Lässt sich andererseits gegen Diskriminierung vorgehen ohne Gruppierungen vorzunehmen? Zur Vereinfachung der Komplexität und Widersprüchlichkeiten lässt sich differenzieren zwischen vier verschiedenen Forschungs- und Praxiszugängen zu Diversität,67 die sich jeweils paarweise kontrastieren:
61 Combahee River Collective: A Black Feminist Statement. In: Capitalist Patriarchy and the Case for Social Feminism. Hg. Von Zillah R. Eisenstein. New York 1978. 62 Angela Davis: Women, Race and Class. New York 1981. 63 Anja Meulenbelt: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus (ndl. Orig.). Reinbek 1988. 64 Bspw. Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung. Hg. von Ika Hügel. Berlin 1993. 65 Margrit E. Kaufmann: KulturPolitik – KörperPolitik – Gebären. Opladen 2002. 66 Margrit E. Kaufmann: Geschlecht thematisieren. Feministische Ansätze in der Ethnologie. In: journal-ethnologie.de. Schwerpunktthema 2004. www.journal-ethnologie.de/Deutsch/ Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2004/Ethnologische_Geschlechterforschung/ Geschlecht_thematisieren/index.phtml [20.09.2017]. 67 In Übertragung der Konzepte von Leslie McCall: The Complexity of Intersectionality, in: SIGNS: Journal of Women in Culture and Society 30,3, S. 1771–1800; sowie Kaufmann:
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kategorial _ antikategorial •
•
Der kategoriale, konstruktive Ansatz (meist bezogen auf die Kategorien des AGG) zielt in der Praxis auf das Anerkennen von Pluralität und das Verhindern von Diskriminierungen. Der antikategoriale, dekonstruktive Ansatz zielt auf das Überschreiten und Infragestellen von Kategorisierungen, indem er diese theoretisch de-konstruiert; er lehnt die damit verbundenen Essentialisierungen und Stereotypisierungen ab.
intrakategorial _ interkategorial • •
Der intrakategoriale Ansatz widmet sich den Ungleichheiten und dadurch bedingten Benachteiligungen innerhalb einer Kategorie. Der interkategoriale Ansatz analysiert die Verwobenheit und wechselseitige Bedingtheit der Kategorien und zielt auf die Aufhebung von Exklusion und Diskriminierung.
Diese konzeptionellen Zugänge, die in Praxisfeldern mal mehr, mal weniger mitschwingen, dienen zur Klärung der jeweiligen Positionierung und Perspektive sowie zur Strukturierung der Forschung. Zum Vermeiden der (Re-)Produktion von präkonstruierten Kategorien schlägt bspw. Pierre Bourdieu vor, die gesellschaftliche Konstruktion des präkonstruierten Objekts zum (Forschungs-)Objekt zu machen. Er bezieht sich dabei auch auf das Problem, dass Forschende soziale Differenzierung in Form von Gruppen denken und in Form von Antagonismen zwischen diesen und weniger „in Form eines Raums von Relationen“68. Ein sich kollaborativ entwickelndes, induktives, exploratives ethnographisches Vorgehen bspw. versucht zu vermeiden, dass bestimmte Vorstellungen von Diversität und deren Bedeutungen an die Forschungspartner*innen herangetragen oder diesen gar übergestülpt werden; d.h. der analytische Anspruch, die gelebte Diversität in ihrer Komplexität, die Ungleichmachung sowie die strukturellen Problemlagen zu erkunden, bestimmen aus machtkritischer Perspektive über die jeweilige Bedeutung von Kategorien. Eine solche Forschungsperspektive verbindet sich mit dem ethisch-politischen Ziel der Anerkennung, Gleichstellung und Verteilungsgerechtigkeit.
Diversifizierung von Kultur. siehe auch: Kaufmann und Satilmis: Hochschulöffnung intersektionell?! 68 Pierre Bourdieu: Die Praxis der reflexiven Anthropologie (franz. Orig.). In. Reflexive Anthropologie. Hg. von dems. und Loïc J. D. Waquant. Frankfurt a.M. 1996, S. 262–263.
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Unsere ethnographischen Organisationskulturforschungen zu Diversity in KMU und an Hochschulen 69 erfolgen mittels teilnehmender Beobachtungen, informeller Gespräche und leitfadengestützter Interviews mit Leitenden und Mitarbeitenden bzw. Studierenden sowie Dokumenten- und Medienanalysen. Forschungserfahrungen und -ergebnisse können als Theorie-Praxis-Transfer in die Diversity-Prozessbegleitungen und -Beratungen einfließen und umgekehrt (z.B. direkt in die Umsetzung von DiM in Unternehmen oder an den Hochschulen). Dennoch stellt sich die Frage, ob die machtkritischen Forschungsperspektiven bei den Leitenden Gehör finden. Denn die intersektionellen Ausrichtungen auf die Subalternen und die Frage, wer oder was aus dem Rahmen herausfällt und geschützt bzw. unterstützt werden sollte, werden bei Organisationsforschungen aufgrund der Forschungszugänge über die Leitenden durch deren Auflagen erschwert. In Unternehmen lässt sich teilweise leichter mit den Privilegierten forschen, mit Sicht auf das Nicht-Gesprochene, wodurch sich Einblicke ergeben, über die sich wiederum Rückschlüsse auf die Unterprivilegierten ziehen lassen. An den Hochschulen wiederum zeigt sich, dass die Zugänge zu den Studierenden einfacher sind als die zu den Leitenden. Hier fällt es auch den Studierenden leicht, andere Studierende(ngruppen) zu begleiten und sich mit ihnen auszutauschen.70 Durch das induktive Vorgehen erschließen sich, wenn möglich kollaborativ mit den Beteiligten, Diversitätsthemen und -problemlagen, die diese beschäftigen, die sie verändern oder verändert haben möchten und bei denen sie Unterstützung brauchen. Dadurch bieten sich die Diversitätsforschungen in Organisationen zum Wissenschafts-Praxis-Transfer an. Doch stellt sich dabei die Frage, inwiefern Organisationsleitungen den kritischen Diversitätsforschungen und -praxen Gewicht geben.
AUSBLICK: WAS BEDEUTET DIES FÜR AUSHANDLUNGSPRAXEN? Die Herleitungen verweisen auf die Fragen, auf welchen gesellschaftlichen Notstand das Diversity-Dispositiv reagiert und mit welchen strategischen Funktionen: Diversity kann einerseits als Gerechtigkeitsansatz interpretiert und praktisch umzusetzen versucht werden. Andererseits kann Diversity auch als verbale Beschwichtigungs-
69 Bspw. Kaufmann: Diversifizierung von Kultur; Kaufmann: „Wir haben selbst neue Wissenszusammenhänge geschaffen!“ Forschendes Lernen zu Diversity in einer Großveranstaltung zur Methodenlehre im BA-Studiengang Kulturwissenschaft. In: Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Hg. von Ludwig Huber, Margot Kröger und Heidi Schelhowe. Bielefeld 2013, S. 123–142; Kaufmann: Hype um Diversity. 70 Kaufmann: „Wir haben selbst neue Wissenszusammenhänge geschaffen!“.
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strategie gegenüber zunehmender sozialer und ökonomischer Ungerechtigkeit nutzbar gemacht werden. Das Thematisieren der gaps in diesem Beitrag hatte zum Ziel, die Spannungsverhältnisse und Widersprüche, die das Diversity-Dispositiv impliziert, möglichst bewusst zu machen und sie nicht zu glätten. Auch innerhalb der Diversity Studies gibt es wie gezeigt viele unterschiedliche Konzepte und Ausrichtungen, die sich sicherlich weiter ausdifferenzieren werden. Eine zentrale Kluft ist das Verhältnis Theorie _ Repräsentationsformen _ Praktiken; doch ist dies eng gekoppelt an die Frage „Hype um Diversity – cui bono?“71: Geht es um Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit und/oder Profite durch Diversifizierung? Diesbezüglich lassen sich auch die kritischen Studies gemäß dem Projekt Social Justice72 an ihrer Praxisrelevanz messen, d.h. an der Ausrichtung auf Antidiskriminierung und Solidarität durch das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und sozialen Bewegungen. Diesem Anliegen, den Gerechtigkeitsansatz in konkrete Praxis zu überführen, verpflichtet sich auch meine Diversity-Expertise mit entsprechend positionierter, engagierter Forschungsperspektive.73 Hierzu stellen sich wiederum Fragen nach der Erwünschtheit der kritischen Ansätze für die Praxis sowie nach der praktischen Vermittlung komplexer Theorien. Selbst an Diversity-Tagungen und in nachfolgenden Veröffentlichungen wird ein misslingendes Verhältnis Theorie _ Praxis eher forciert, wobei ich mich mit beiden Seiten identifizieren kann. Der Hauptkritikpunkt gegenüber der Praxis bezieht sich in diesem Kontext darauf, dass wir uns die Hände schmutzig machen, indem wir uns beim Handeln in Widersprüchlichkeiten verstricken und dem Zwang zum Labelling und zu Dokumentationspolitiken auf dem Leim gehen, statt konkrete Veränderungen erwirken zu können.74 Kritiken an der Theorie lauten, dass wir uns im Elfenbeinturm abschirmen, dass unsere kritischen Ansätze nicht umsetzbar sind und dass diese selbst Teil der weißen Dominanzkultur sind, die Theorien aus marginalisierten Positionen vereinnahmt. Allen genannten Kritikpunkten lässt sich m.E. sowohl zustimmen als auch entgegenhalten: Lassen sich Ergebnisse machtkritischer Forschungsansätze nicht doch in die Praxis übertragen, und wo stößt dies an Grenzen? Werden Privilegien konkret im Sinne einer Dekolonisierung auf- bzw. abgegeben? Auf der Subjektebene beinhaltet dies zum einen die Selbstbemächtigung und Selbstbestimmung derjenigen, die kolonialisiert und rassialisiert wurden/ werden. Zum anderen bedingt der Ansatz der Dekolonisierung das Reflektieren und Aufgeben von Privilegien derjenigen, die strukturell von den kolonialen Verhältnissen
71 Kaufmann: Hype um Diversity. 72 Young: Justice and the Politics of Difference. 73 Im Sinne von Public Anthropology, bspw. Luke Eric Lassiter: Collaborative Ethnography and Public Anthropology. In: Current Anthropology 46,1 (2005), S. 83–106. 74 Vgl. bspw. Ahmed: You end up doing the document rather than doing the doing.
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profitieren, auch wenn sie sich kritisch dagegen wenden.75 Wie verbindet sich Dekolonisierung auf Subjektebene mit strukturellen Veränderungen? – Bezogen auf das Bildungswesen geht es bspw. sowohl um das individuelle Öffnen von Lehr-LernRäumen als Machtverhältnisse verrückende Aushandlungsräume im Sinne von Third Space76 als auch um die Dekolonisierung der Wissensordnungen. Diese fängt auf Repräsentationsebene bei der Dekonstruktion weißer Perspektiven in den Schulbüchern bzw. Theoriewerken an, umschließt auf der Subjektebene die Öffnung von Professuren und Mitarbeiter*innenstellen entsprechend der vorhandenen gesellschaftlichen Diversität und auf der strukturellen Ebene das Erkennen und Aufheben von Formen institutioneller Diskriminierung. Konkrete Diversity-Öffnungen von Bildungsinstitutionen, Unternehmen und Verwaltungsorganisationen verlaufen über die Sensibilisierung aller Beteiligter, Ermöglichung von Partizipation und Selbstrepräsentation und die Schaffung von diversitätsgerechteren Strukturen. Die Ausführungen zu „Mind the Gaps“ hatten zum Ziel unterschiedliche, widersprüchliche Konzepte und Praktiken, die mit diversity/ Diversität (als Phänomen) und Diversity (als Konzept und Strategie) verbunden werden, im Sinne eines Dispositivs aufzuzeigen, um diese weiter in die Aushandlung zu bringen, dabei auch über eigene Positionierungen nachzudenken und entsprechend je nach Status und Ressourcen Veränderungen zu erwirken. Dies setzt die Bereitschaft voraus, die eigenen Positionen und Positionierungen wahrzunehmen und zu verändern, also auch unsere Rollen und Aufgaben als Geisteswissenschaftler*innen und unsere Möglichkeiten des (Mit-)Gestaltens: If anything, it adds significance, because people with a lot of power, a lot of resources, and a lot of interest are going to make use of this word. For that reason alone, we should be paying even more attention to the currency of the term ‘diversity’. What follows from the ubiquity of the idea of diversity in corporate, governmental, media and popular discourses, is that social scientists need to take a position on the relationship between politics and policy in this area.77
75 Margrit E. Kaufmann und Ayla Satilmis: (Selbst)Reflexion zu Rassismus und Dekolonisierung im Alltag. In: Rassismuskritik. Hg. von Milena Detzner, Ansgar Drücker und Sebastian Seng. Düsseldorf 2016, S. 107–110, mit Bezug auf Grada Kilomba: Plantation Memories. Episodes of Every Day Racism. Münster 2008. 76 Ebd. mit Bezug auf Homi K. Bhabha interviewt von John Rutherford: The Third Space. In: Identity, Community, Culture, Difference. Hg. von John Rutherford. London 1990, S. 207–221. 77 Appadurai: Interview.
Autorinnen und Autoren
Fritz Dross ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Lepra und der Umgang mit Aussätzigen, die Hospital- und Krankenhausgeschichte sowie die Geschichte städtischer Gesundheit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Moritz Florin ist akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er promovierte mit einer Arbeit zum sowjetischen Zentralasien und forscht u.a. zu Populärkulturen sowie ethnischer und religiöser Vielfalt im Russischen Reich und der Sowjetunion. Victoria Gutsche ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Germanistik und Komparatistik der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Literaturwissenschaftlerin promovierte mit einer Arbeit zu Konstruktionen des Jüdischen in der Frühen Neuzeit. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben der deutsch-jüdischen Literatur und der Literatur der Frühen Neuzeit, weibliche Autorschaft im 18. Jahrhundert sowie Romantrilogien im 20. Jahrhundert. Margrit E. Kaufmann ist Senior Researcher im Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kritische Diversity Studies, Gender und Postcolonial Studies, Migrations-, Organisationskultur- und Hochschulforschungen. Als Wissenschaftliche Expertin für Diversity, Intersektionalität und Forschendes Lernen berät und begleitet die Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin Diversity Prozesse an der Universität Bremen und darüber hinaus. Annette Keilhauer ist Professorin für französische und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt erschien der in Zusammenarbeit mit Andrea Pagni herausgegebene Band „Réfractions. Traduction et genre dans les littératures romanes
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(2017)“. Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehören Fragen des Kulturtransfers und der Übersetzung in den romanischen Literaturen und Kulturen, weibliche Autorschaft und autobiographisches Schreiben im 18. und 19. Jahrhundert sowie Musik-TextInteraktionen. Stephan Kokew ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Orientalische Philologie und Islamwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die islamische Geistesgeschichte, das islamische Recht sowie islamische Konzeptionen von Toleranz und Pluralität. Natalie Krentz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Dissertation über die Frühe Reformation aus ritualgeschichtlicher Perspektive erschien 2014 unter dem Titel „Ritualwandel und Deutungshoheit. Die Frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500-1533)“. Wichtige Forschungsschwerpunkte sind die Reformationsgeschichte, Rituale in der vormodernen Stadt und die Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit. Eva Lehner ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen angestellt und arbeitet dort in einem Forschungsprojekt zu Verzeichnungspraktiken in frühneuzeitlichen Tauf-, Ehe- und Sterberegistern. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf historisch-anthropologischen Fragen zur Geschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere der Geschlechter- und Körpergeschichte, der Geschichte der Sexualität(en) sowie der neuen Verwaltungsgeschichte. Dirk Niefanger ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Department Germanistik und Komparatistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt erschienen seine Studie zu Lessings ‚Schrifften‘ (2015) und seine Edition des ‚Simplicissimus‘ (2017). Sein wichtigster Forschungsschwerpunkt ist die Kultur der Frühen Neuzeit, insbesondere die Barockliteratur. Julia Obertreis ist Professorin für Neueste und Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie hat zur Alltags-, Kulturund Stadtgeschichte Petrograds/Leningrads promoviert und sich mit einer Arbeit zu Baumwollanbau und Bewässerungssystemen im südlichen Zentralasien im Kontext imperialer und kolonialer Politik des Russischen Reiches und der Sowjetunion habilitiert. Ihre Forschungsinteressen umfassen u.a. Infrastrukturgeschichte mit einem Schwerpunkt auf Wasserinfrastrukturen, Umweltgeschichte, Oral History sowie die globale Geschichte des Rauchens und Nicht-Rauchens im 20. Jahrhundert.
Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)
Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)
Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
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Geschichtswissenschaft Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
Manfred E.A. Schmutzer
Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 € (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2
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