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German Pages 411 Year 2010
Disputatio 1200⫺1800
Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 20
De Gruyter
Disputatio 1200⫺1800 Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur Herausgegeben von Marion Gindhart · Ursula Kundert
De Gruyter
Die gleichnamige Tagung in Kiel und die Druckvorbereitung wurden von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung unterstützt.
ISBN 978-3-11-022710-9 e-ISBN 978-3-11-022711-6 ISSN 1612-443X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Disputatio, 1200⫺1800 : Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur / edited by Marion Gindhart, Ursula Kundert. p. cm. ⫺ (Trends in medieval philology ; 20) German and English. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022710-9 (alk. paper) 1. Academic disputations ⫺ Europe ⫺ History. I. Gindhart, Marion. II. Kundert, Ursula. PN4023.D57 2010 808.513⫺dc22 2010021690
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: SATZART Christiane Sander, Bochum Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Marion Gindhart und Ursula Kundert Einleitung .............................................................................................. 1
I. Gattung und Gattungsreflexion Olga Weijers The various kinds of disputation in the faculties of arts, theology and law (c.1200–1400) ............................................. 21 Donald Felipe Ways of disputing and principia in 17th century German disputation handbooks ........................................................... 33 Hanspeter Marti Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert ....................................... 63
II. Synergien und Konkurrenz im Gattungskontext Joseph S. Freedman Published academic disputations in the context of other information formats utilized primarily in Central Europe (c.1550–c.1700) .................................................... 89 Ursula Paintner Aus der Universität auf den Markt. Die disputatio als formprägende Gattung konfessioneller Polemik im 16. Jahrhundert am Beispiel antijesuitischer Publizistik ................ 129 Renate Schulze Dissertationen im ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ Justus Henning Böhmers. Zum Entstehungsprozess eines Werks ....... 155 Gunhild Berg Sind Preisfragen die aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio? Ein Antwortversuch am Beispiel der Berliner Volksbetrugs-Frage von 1780 ........................................................................................... 167
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Inhalt
III. Mediale und soziale Verbindungen Johannes Klaus Kipf Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts ............................................................. 203 Michael Philipp Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts ................................. 231 Tanja van Hoorn Geselligkeit im Paratext, Friede im Zitierkartell? Was Heinrich Friedrich Delius zu hören bekam, als er am 31. Oktober 1743 in Halle zum Doktor promoviert wurde ................ 269
IV. Lateinische Gelehrtenkultur und literarische Adaptationen Christiane Witthöft Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben. Die christlich-jüdische Disputation der Silvesterlegende in der ›Kaiserchronik‹ ................................................ 291 Sabine Obermaier Scherz oder Ernst? Disputatio unter Tieren ......................................... 311 Anja Becker Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns ›Gregorius‹ ausgehend vom Abtsgespräch............................................ 331 Cordula Kropik Ich wil dir zwei geteiltiu geben. Der Disput um die Liebe in der ›Heidin‹ B ........................................ 363 Albrecht Dröse Dialektik im ›Ackermann‹ .................................................................. 385
Marion Gindhart und Ursula Kundert
Einleitung Die Disputation stellt in mündlicher und schriftlicher Form ein Leitmedium des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitätsbetriebes dar. Sie gestaltete von der Etablierung der scholastischen Universität bis zur methodischen und ideologischen Umformung des universitären Lehrbetriebes um 1800 Wissensvermittlung, Forschungsmethoden und nicht zuletzt Selbstdarstellung der gelehrten Welt maßgeblich mit.1 Als solches Leitmedium wurde sie insbesondere in den vergangenen Jahren von der Universitäts- und Fachgeschichte vermehrt erkannt: Ausgewählte Bestände wurden bibliografisch erschlossen, Entwicklungslinien skizziert. In ihrer Bedeutung für die Ausbildung, Etablierung und Weiterentwicklung bestimmter wissenschaftlicher Disziplinen wurde sie punktuell erforscht. Ihre Geschichte, ihre Inhalte und Ausprägungen wurden exemplarisch für einzelne Fakultäten und Universitäten untersucht. Als Quellenmaterial wurde sie für bildungs-, sozial- und personengeschichtliche Untersuchungen herangezogen. Gerade weil sie Leitmedium ist, verdient die Disputation mit ihren Paratexten jedoch nicht nur als Quelle für bestimmte Fragestellungen der Universitäts-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte ausgewertet, sondern insbesondere auch in ihrer formalen Eigenart, als literarisches Phänomen, betrachtet zu werden. Dieses Anliegen vertrat die Tagung ›Disputatio (1200–1800). Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur‹, die vom 17. bis 19. Mai 2007 in Kiel stattfand. Ihre Ergebnisse sind im vorliegenden Band versammelt.
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Zum spürbaren Rückgang der Graduierungen und Abschlussdisputationen seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts und zu möglichen Gründen für den allmählichen Verfall des Disputationswesens vgl. zusammenfassend Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit, in: Rainer A. Müller (Hg.), Hans-Christoph Liess / Rüdiger vom Bruch (Bearb.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 150–273, hier: 178–180 mit Lit.
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Die Masse erhaltener Disputationsschriften ist, nicht erst seit dem Buchdruck, erschlagend. Fast scheint es, dass gerade diese Gattung die Technik der Bibliografie nötig machte. Generationen von Buchdruckern, Buchbindern, Gelehrten, Bibliothekaren und Magazinern fanden ein lebenslanges Auskommen mit der Herstellung, Zusammenstellung und Aufbewahrung von Disputationsschriften. Als Ewald Horn um 1900 die mündliche und schriftliche Disputation des 16. bis 18. Jahrhunderts in einer großen, auch heute noch lesenswerten Synthese darstellte2 und die wichtigsten Quellen zu ihrer Geschichte für die einzelnen Themen und Universitäten mit Wilhelm Erman bibliografisch erfasste,3 schrieb er zwei längst mit der Disputation verknüpfte Praktiken weiter: die Diskussion über die Eigenschaften der Disputation sowie deren systematische Ordnung. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfuhr die bibliografische Erfassung einen neuen Schwung,4 um schließlich in jüngster Zeit durch Datenbanken und digitale Großprojekte in ganz andere Dimensionen vorzustoßen.5 Auf dieser Grundlage ist es nun möglich, grö2 3
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Ewald Horn, Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1893. Wilhelm Erman / Ewald Horn, Bibliographie der deutschen Universitäten. Systematisch geordnetes Verzeichnis der bis Ende 1899 gedruckten Bücher und Aufsätze über das deutsche Universitätswesen. 3 Teile, Leipzig / Berlin 1904–1905. Dazu Manfred Komorowski, Hundert Jahre ›Erman/Horn‹: Zur Entstehung und Resonanz einer Standardbibliographie, in: Bibliothek und Wissenschaft 37 (2004), S. 193–208. Stellvertretend für diese bibliografischen Projekte seien genannt: Manfred Komorowski, Bibliographie der Duisburger Universitätsschriften 1652–1817, St. Augustin 1984 und ders., Promotionen an der Universität Königsberg 1548–1799. Bibliographie der pro-graduDissertationen in den oberen Fakultäten und Verzeichnis der Magisterpromotionen in der Philosophischen Fakultät, München 1988. Eine von Manfred Komorowski und Hanspeter Marti erstellte Datenbank zu Königsberger Universitätsschriften von 1544 bis 1800 ist über die Homepage der Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen in Engi recherchierbar (http://www.forschungen-engi.ch/projekte/koenigsberg.htm). Sie wurde inzwischen von Manfred Komorowski um Dissertationen und Habilitationsschriften bis 1885 erweitert. Im ›Verzeichnis deutscher Drucke des 16. Jahrhunderts‹ (http://www.vd16.de) sind unter dem Titelstichwort »Disputatio« zurzeit über 1700 Drucke erfasst. – Das ›Verzeichnis deutscher Drucke des 17. Jahrhunderts‹ (http://www.vd17.de) ermöglicht unter derzeit rund 56.000 Dissertationsdrucken die gezielte Suche nach Fakultäten durch Eingabe von »Dissertation: theol.«, »Dissertation: jur.«, »Dissertation: med.« bzw. »Dissertation: phil.« in das »GAT«-Feld der »Erweiterten Suche«. – Den philosophischen Hochschulschriften (Dissertationen, Reden, Programmen) der äußerst disputierfreudigen Universität Helmstedt ist für den Zeitraum zwischen 1576 und 1810 ein Forschungs- und Erschließungsprojekt der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gewidmet. Eine Work-in-Progress-Datenbank der Dissertationen ist zugänglich unter http://uni-helmstedt.hab.de. – Das Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte erschließt seit 1998 seinen umfangreichen Bestand juristischer Dissertationen und Gelegenheitsschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts aus Uni-
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ßere wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge zu rekonstruieren6 und das eindimensionale Bild zu korrigieren, dass die Disputation tradiertes Buchwissen lediglich wiederhole und einübe. Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der Disputationen bei der Verhandlung neuer Wissenschaftsparadigmen, etwa für die Frage nach Rezeptions- und Ablösungsformen von ›altem‹ durch ›neues‹ Wissen,7 nach einer vormodernen Diskussions- und Argumentationskultur, nach der Beschränkung oder Förderung von Denkfreiräumen8 oder nach gelehrtem Ritual und Habitus in mündlich-körperlicher wie schriftlicher Form.9 Was die Berücksichtigung der Disputation für die Wissenschaftsgeschichte einzelner Fächer betrifft, ist die bisherige Forschung von mehreren Ungleichzeitigkeiten geprägt, deren epochenübergreifende und inter-
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versitäten des Alten Reichs mit digitalisierten Schlüsselseiten. Die Datenbank mit zurzeit etwa 31.500 Titeln ist recherchierbar unter: http://dlib-diss.mpier.mpg.de/. – Neben die Erschließung von Texten tritt die Sammlung und Erfassung von Bildmaterial akademischer Vergangenheiten, wie es das Projekt ›AkadBild‹ von Frank Zschaler (Archiv der Katholischen Universität Eichstätt) leistet. Zu den Erkenntnischancen, die eine breite Bildbasis gerade auch im Kontrast zur Textanalyse bietet, vgl. Wolfgang J. Smolka, Disputationsund Promotionsszenen. Gedanken zur akademischen Ikonografie als einer Disziplin der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, in: Müller, Bilder – Daten – Promotionen (wie Anm. 1), S. 11–23. Vgl. dazu programmatisch: Hanspeter Marti, Der wissenschaftsgeschichtliche Dokumentationswert alter Dissertationen, in: Nouvelles de la république des lettres 1 (1981), S. 117– 132. Marion Gindhart, Das Kometenjahr 1618. Antikes und zeitgenössisches Wissen in der frühneuzeitlichen Kometenliteratur des deutschsprachigen Raumes, Wiesbaden 2006, S. 234–243 und 249–256. Hanspeter Marti, Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jahrhunderts, in: Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 295–306. – Ders., Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation, Wiesbaden 2005, S. 317– 344. Laetitia Boehm, Der »actus publicus« im akademischen Leben. Historische Streiflichter zum Selbstverständnis und zur gesellschaftlichen Kommunikation der Universitäten, Nördlingen 1972; wieder in: Gert Melville u. a. (Hg.), Geschichtsdenken, Bildungsgeschichte, Wissenschaftsorganisation. Ausgewählte Aufsätze von Laetitia Boehm anläßlich ihres 65. Geburtstages, Berlin 1996, S. 675–694. – Hanspeter Marti, Das Bild des Gelehrten in Leipziger Philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Hanspeter Marti / Detlef Döring (Hg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780, Basel 2004, S. 55–109. – Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 149–187 und 357–366 zu Disputation und Promotion. – Ders., Ritus Promotionis. Zeremoniell und Ritual akademischer Graduierungen in der frühen Neuzeit, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, S. 411–450.
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disziplinäre Zusammenführung nicht zuletzt Anliegen dieses Bandes ist: Da die Wissenschaftsgeschichte lange der Erzählform einer ›Geschichte der Innovationen‹ folgte, erfuhr die Disputation als innovative Methode der Scholastik schon recht früh eine Beachtung, welche ihre Bedeutung für die Fragestellungen und formalen Beschränkungen scholastischer Theologie und Philosophie erkannte.10 Die entsprechende Erforschung der frühneuzeitlichen Disputation erfolgte zeitlich versetzt.11 Dass theologische Disputationen auch wichtige Aufschlüsse für die Philosophieund die Ereignisgeschichte liefern können, ist noch kaum erkannt: In den Quodlibet-Disputationen der theologischen Fakultäten etwa spiegelt sich in besonderem Maße auch das tagesaktuelle Interesse ihrer Lehrenden und Studierenden (und offenbar auch außeruniversitärer Gelehrter) wider.12 Bei diesem Disputationstyp konnte das Publikum beliebige Fragen stellen (de quolibet a quolibet). Das Themenspektrum reichte nicht nur von der Theologie im engeren Sinne über Metaphysik und Erkenntnistheorie bis zur Natur- und Moralphilosophie, es wurden auch Fragen der Seelsorge und des kanonischen Rechts verhandelt, denen ein klarer Praxisbezug eignete. Dem leitenden Magister stand es zu, an einem der folgenden Tage eine geordnete Beantwortung (determinatio) aller aufgeworfenen Fragen zu präsentieren.13 Noch wenig erforscht ist der Zusammenhang zwischen der formal strengeren akademischen theologischen Disputation und der schon in der Spätantike fassbaren,14 weit freieren Form des Religionsge-
10 Vgl. als Überblicksdarstellung: Bernardo C. Bazàn, Les questions disputées, principalement dans les facultés de théologie, in: ders. u. a., Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine, Turnhout 1985, S. 13– 149. 11 Zur Disputation bei Thomas von Aquin und Martin Luther: Uwe Gerber, Disputatio als Sprache des Glaubens. Eine Einführung in das theologische Verständnis der Sprache an Hand einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung der Disputatio und ihres Sprachvollzuges, Zürich 1970. – William A. Kelly, The theological faculty at Helmstedt. An outline of its intellectual development as mirrored in its dissertations, together with a chronological catalogue, 3 Bde., Diss. Strathclyde University 1991. – Kenneth G. Appold, Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710, Tübingen 2004. 12 John W. Wippel, Quodlibetal questions, chiefly in theology faculties, in: Bazàn u. a., Les questions disputées (wie Anm. 10), S. 151–222, hier: 165f. – Vgl. auch die umfassendere Darstellung bei: Palémon Glorieux, Le quodlibet. Sa structure. Sa valeur, in: Ders., La littérature quodlibétique de 1260 à 1320, Bd. 1, Kain 1925, S. 1–95 sowie Bd. 2 (La littérature quodlibétique), Paris 1935, 9–50. 13 Wippel, Quodlibetal questions (wie Anm. 12), S. 166–171 mit Bezug auf: Palémon Glorieux, Le Quodlibet et ses procédés rédactionnels, in: Divus Thomas (Piacenza) 42 (1939), S. 61–93. 14 Bernd Reiner Voss, Der Dialog in der frühchristlichen Literatur, München 1970.
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sprächs15 – ein Zusammenhang, der gerade für die Frage nach der Verbreitung von theologischem Wissen und von Formaten universitärer Wissenskultur in einen weiteren gesellschaftlichen Kreis und in die Literatur16 von größtem Interesse ist. Welchen Einfluss die Disputation als maßgebliche Form akademischer Auseinandersetzung auf die antijesuitische Publizistik des 16. Jahrhunderts ausübte, untersucht Ursula Paintner in diesem Band. Sie arbeitet die Präsenz und die spezifischen Funktionen disputatorischer Strukturen, Regeln und Verfahren im Rahmen konfessioneller Polemik heraus und zeigt, wie mit fortschreitender Zuspitzung des Konfessionskonfliktes Disputationen ihrerseits polemisch funktionalisiert werden konnten. In den Rechtswissenschaften ist die Disputation nicht nur für die Ausbildung in den Rechtsschulen des Mittelalters relevant, sondern auch für die Rechtspraxis. Die quaestiones disputatae konnten sowohl als Fragen zur rechtlichen Fassung eines Falls als auch zur Ermittlung des Sachverhalts gestellt werden.17 Hier ergeben sich Zusammenhänge zur kasuistischen Li-
15 Bernard Lewis / Friedrich Niewöhner (Hg.), Religionsgespräche im Mittelalter, Wiesbaden 1992. – Thomas Fuchs, Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit, Köln 1995. – Gaby Knoch-Mund, Disputationsliteratur als Instrument antijüdischer Polemik. Leben und Werk des Marcus Lombardus, eines Grenzgängers zwischen Judentum und Christentum im Zeitalter des deutschen Humanismus, Tübingen u. a. 1997. – Reiches Material liefert, ohne jedoch auf die DisputatioForm näher einzugehen: Manuela Niesner, Wer mit juden well disputiren. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts, Tübingen 2005. 16 Vgl. in diesem Band die Beiträge unter ›IV. Lateinische Gelehrtenkultur und literarische Adaptationen‹. – Vgl. auch: Elisabeth Schenkheld, Die Religionsgespräche der deutschen erzählenden Dichtung bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Borna-Leipzig 1930. – Hiram Peri, Die religiöse Disputation in der europäischen Dichtung des Mittelalters. Studie 1: Der allegorische Streit zwischen Synagoge und Kirche, Genf u. a. 1935. – Ingrid Kasten, Die Glaubensdisputation [Zu den Disputationen in der ›Kaiserchronik‹ sowie zu ›Barlaam und Josaphat‹ Rudolfs von Ems], in: Dies., Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Diss. Hamburg 1973 (Typoskript), S. 40–57. – Hans Fromm, Die Disputationen in der Faustinianlegende der Kaiserchronik. Zum literarischen Dialog im 12. Jahrhundert, in: Annegret Fiebig / Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 51–69. – David A. Wells, The Medieval Religious Disputation and the Theology of Wolfram von Eschenbach’s [sic!] ›Willehalm‹, in: Studi medievali 3a serie 41 (2000), S. 591–664. 17 Manlio Bellomo, Factum proponitur certum, sed dubium est de iure, in: Ders. (Hg.), Die Kunst der Disputation. Probleme der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung im 13. und 14. Jahrhundert, München 1997, S. 1–28, hier: 12f. und 18. – Mit umfangreichem Katalog der Leidener juristischen Disputationen von 1580 bis 1630: Margreet J. A. M. Ahsmann, Collegium und Kolleg. Der juristische Unterricht an der Universität Leiden 1575–1630 unter besonderer Berücksichtigung der Disputationen, Frankfurt am Main 2000, S. 175f. –
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teratur, etwa zu Bußsummen.18 Literarische Gegenstücke sind etwa altfranzösische Liebesfragensammlungen, die zugleich einen Liebesgerichtshof entwerfen und damit die Nachbarschaft der Disputation zur Prozessform signalisieren. An dieser ist auch die mittelhochdeutsche Literatur interessiert, ohne allerdings die Freude am spitzfindigen Fall zu teilen.19 In der frühen Neuzeit ist die Disputation eine wichtige Form rechtswissenschaftlicher Forschung (vgl. Schulze in diesem Band).20 Da sich die Medizingeschichte lange Zeit mehr für die beschriebenen Krankheiten als für die Beschreibungsformen interessierte, steht die Disputationsforschung hier noch sehr am Anfang.21 Für das deutschsprachige Gebiet liegen mittlerweile zumindest für einzelne medizinische Fakultäten Studien mit Disputationsverzeichnissen vor.22 Wie etwa die von Komorowski zusammengestellte Liste Heidelberger medizinischer Dissertationen
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Werner Kundert, Katalog der Helmstedter juristischen Disputationen, Programme und Reden 1574–1810, Wiesbaden 1984. – Vgl. auch: Hanspeter Marti, Art. ›Controversia‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 380–384. Rüdiger Schnell, Bußsummen, in: Ders., Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt am Main / New York 1998, S. 96–143, hier: 109f. Hugo Loersch, Der Process in der Mörin des Hermann von Sachsenheim, in: Drei Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Rechts. Festgruß aus Bonn an Carl Gustav Homeyer zur Feier seiner fünfzigjährigen Doctorwürde am 28. Juli 1871, Bonn 1871. – Erich Klibansky, Gerichtsszene und Prozeßform in erzählenden deutschen Dichtungen des 12.–14. Jahrhunderts, Berlin 1925 (ND Nendeln 1967). – Friedrich Wilhelm Strothmann, Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv in der deutschen Literatur des ausgehenden Mittelalters, Jena 1930 (ND Darmstadt 1969). – Ilse Nolting-Hauff, Die Stellung der Liebekasuistik im höfischen Roman, Heidelberg 1959. – Ingeborg Glier, Artes Amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971, S. 409f. – Ursula Peters, Cour d’amour – Minnehof, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 101 (1972), S. 117–133. – Rüdiger Schnell, Andreas Capellanus. Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in ›De Amore‹, München 1982. Vgl. zudem: Renate Schulze, Justus Henning Böhmer – Genius loci der Kirchenrechtswissenschaft in Halle an der Saale, in: Zeischrift für evangelisches Kirchenrecht 53 (2008), S. 408–420. Danielle Jacquart, La question disputée dans les facultés de médecine, in: Bazàn, Les questions disputées (wie Anm. 10), S. 279–315, hier: 281. Für die Zeit bis 1800 etwa: Martina Beese, Die medizinischen Promotionen in Tübingen 1750–1799, Tübingen 1977. – Sabine Mildner-Mazzei / Ulrich Tröhler, Vom Medizinstudenten zum Doktor. Die Göttinger medizinischen Promotionen im 18. Jahrhundert, Göttingen 1993. – Michaela Triebs, Die Medizinische Fakultät der Universität Helmstedt (1576–1810). Eine Studie zu ihrer Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Promotions- und Übungsdisputationen, Wiesbaden 1995. – Hans-Ulrich Müller, Die medizinischen Promotionen an der Universität Duisburg 1655–1817, Essen 2004.
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des 17. Jahrhunderts exemplarisch zeigt,23 stammen die Themen in dieser Zeit noch bevorzugt aus der Pathologie als dem Kernbereich der frühneuzeitlichen Heilkunst. Selten werden hier anatomische, physiologische oder theoretisch-methodische Themen verhandelt, ab und an stammt der Stoff aus Grenzbereichen wie der Pharmazie oder auch der Magie. Werden in deutschen medizinischen Disputationen des 16. Jahrhunderts (gerade auch vor dem Hintergrund der noch stark buchwissenschaftlich geprägten Medizin) die Meinungen antiker Autoritäten, insbesondere Galens, bevorzugt diskutiert, ist in der Folge ein verstärktes Eindringen der experientia und ein Rekurs auf zeitgenössische Autoritäten medizinischer Zentren wie Padua oder Leiden zu beobachten.24 Aber auch Forschungen ortsansässiger Präsiden können in den Disputationen präsentiert und propagiert werden. Die medizinischen Disputationen sind somit eine wichtige Quelle für den Wissenstransfer in Europa und die Entwicklung der Medizin an den Universitäten des Alten Reichs (vgl. van Hoorn in diesem Band). Für die Medizin- und Körpergeschichte noch vermehrt zu entdecken sind allerdings auch Disputationen aus den übrigen Fakultäten. Das Denken in komplementären Kategorien, das der Form der Disputation entspricht, hat etwa die Herausbildung des Zwei-Geschlechter-Modells entscheidend gefördert. Lange bevor das Modell auch in der Anatomie – und da nur zögerlich – aufgenommen wurde,25 deklinierte die akademische und literarische26 Welt in Disputationen die Frage, ob Frau oder Mann besser sei, durch alle Fachgebiete hindurch in der sogenannten Querelle des Femmes.27 Dass dabei die Antwort »Beide gleich« in keiner Hinsicht 23 Manfred Komorowski, Heidelberger Inauguraldissertationen und Promotionen des 17. Jahrhunderts, in: Müller, Bilder – Daten – Promotionen (wie Anm. 1), S. 319–377, hier 358–364. 24 Diese und viele andere Beobachtungen stellte Iolanda Ventura von der Université Catholique de Louvain auf der Kieler Tagung in ihrem Vortrag ›Le disputationes medicae nel mondo universitario tedesco del XVII e XVIII secolo. Un’immagine enciclopedica della medicina?‹ vor. – Zur Präsenz etwa der Schriften Herman Boerhaaves (1668–1738) im akademischen Unterricht in Deutschland und zu seinem prägenden Einfluss auf die europäische Medizin vgl. Thomas H. Broman, The transformation of German academic medicine 1750–1820, Cambridge 1996, S. 13–17. 25 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996 (Engl. Originalausgabe 1990). 26 Zu den formalen Implikationen literarischer Versionen: Ursula Kundert, The Polemic Trap. German ›querelle des femmes‹ and misogynous satire in the 17th century, in: Intellectual News 11/12 (2002), S. 57–63. 27 Gisela Bock und Margarete Zimmermann, Die ›Querelle des Femmes‹ in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung, in: Querelles 2 (1997), S. 9–38. – Zur Quellengeschichte einer dafür typischen quaestio: Detlef Roth, An uxor ducenda. Zur Geschichte eines Topos von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, in: Rüdiger Schnell (Hg.),
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möglich war, entspricht dem Konsensverbot, wie es in frühneuzeitlichen Universitätsstatuten für die Disputation gefordert wird.28 Leitwissenschaft der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Disputation ist ganz klar die Philosophie29, wie sie im Rahmen des Artes-Studiums gelehrt wurde, das Allgemeinbildung sowie die Grundfertigkeiten wissenschaftlichen Arbeitens vermittelte. Die philosophische Disputation als Quelle für die frühe Fachgeschichte der philologischen30 und mathematischen Wissenschaften ist dabei noch längst nicht ausgeschöpft. Da Rhetorik und Dialektik gleichermaßen zum Lehrstoff des Triviums gehörten und die Disputationen fester Bestandteil des Studiums waren, erstaunt es nicht, wenn rhetorische und dialektische Mittel der Auseinandersetzung, zumal in den literarischen Adaptationen (vgl. Dröse in diesem Band), kombiniert werden oder einander ersetzen können (vgl. Witthöft in diesem Band).31 Geradezu als literarische Schulbeispiele, wie sich dasselbe Thema (die Liebe) verschieden gestalten lässt, können die mittelhochdeutschen Minnereden gelten, die wahlweise als Werbungs-, Lehr- oder Streitgespräch gestaltet sind.32 Da die Mehrheit der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren Veranstaltungen des Artistenstudiums besucht haben dürfte, ist mit den bisher vorliegenden Arbeiten zu Disputationsmustern in der deutschen Literatur vermutlich erst die Spitze des Eisbergs gesichtet.33 Dass dabei keineswegs nur mit schematischen Anwendungen, sondern mit einer differenzierten Verbindung von Rhetorik und Dialektik zu rechnen ist, zei-
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Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998, S. 171–232. – Ausgaben von Querelles-Disputationen in Elisabeth Gössmanns Reihe ›Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung‹. Ursula Kundert, Disputation, in: Dies., Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehungen in Texten des 17. Jahrhunderts, Berlin / New York 2004, S. 107–141, hier: 109 und 115–119. Neben den oben (Anm. 5) genannten Datenbanken seien folgende gedruckten Kataloge genannt: Wilhelm Risse, Bibliographia philosophica vetus. Repertorium generale systematicum operum philosophicorum usque ad annum MDCCC typis impressorum, Tl. 8: Theses academicae [gedruckte philos. Diss. von 1465 bis 1800], Hildesheim 1998. – Hanspeter und Karin Marti, Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, München 1982. Hanspeter Marti, Die Geschichte der deutschen Literatur als Thema einer Disputation in der Barockzeit. Die wiederaufgefundene Dissertation des Schlesiers Karl Ortlob (1628– 1678), in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 20 (1993), S. 5–9. Hanna Barbara Gerl, Zum mittelalterlichen Spannungsfeld von Logik, Dialektik und Rhetorik. Die Programmatik des Metalogicon von Johannes von Salisbury, in: Studia Mediewistyczne 22 (1983), S. 37–51. Glier, Artes Amandi (wie Anm. 19), S. 402–406. Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970 (ND 2002), S. 290f., 364 und 405–407. – Manfred Beetz, Disputatorik und Argumentation in Andreas Gryphius’ Trauerspiel ›Leo Armenius‹, in: Zeitschrift für
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gen zwei Beiträge dieses Bandes: Sabine Obermaier beleuchtet das Verhältnis von Tierstreitgedicht und Disputation an lateinischen, altenglischen und mittelhochdeutschen Beispielen des 11. bis 14. Jahrhunderts. Entgegen der Vermutung, dass die Tiere durchweg zur Parodierung der Schuldisputation eingesetzt würden, entdeckt die detaillierte Analyse einen differenzierten und variantenreichen Umgang mit Anklängen an die Disputation. Auf der Suche nach dialektischen Strukturen im ›Ackermann‹ findet Albrecht Dröse zwar durchaus solche Elemente (vor allem die Behandlung des Todesthemas in utramque partem), kommt aber zum Schluss, dass die Gesamtform des Textes nicht einer idealtypischen akademischen Disputation entspricht. Vielmehr scheint sie das vorzuführen, was im 26. Kapitel des ›Ackermann‹ explizit kritisiert wird: einen Redewettkampf, bei dem den Kontrahenten mehr an der Gegensätzlichkeit ihrer Standpunkte als an der gemeinsamen Wahrheitssuche gelegen ist. Daraus ergibt sich – im Gegensatz zur lediglich differenzierenden und explizierenden Disputation – ein dynamischer Neuentwurf eines Rechts gegen den Tod. In der Artistenfakultät bildet sich die mündliche Unterrichtsform und schriftliche Gattung der Disputation im Zusammenspiel mit anderen wissensvermittelnden Formaten aus, verliert ab dem 18. Jahrhundert jedoch gegenüber etablierten Medien wie der lectio und neuen Medien wie den aufklärerischen Preisfragen zunehmend an Boden.34 Gunhild Berg betrachtet in diesem Band am Beispiel der Berliner Volksbetrugs-Frage von 1780 das Verhältnis der Preisfragenkultur zum traditionellen universitären Disputationswesen, das – so ihre These – während der Aufklärung in funktionelle Defizite gerät. Durch eine vergleichende Zusammenschau weist sie Parallelen, vor allem aber konstitutive Unterschiede der beiden Wissenschaftsformate auf, gibt einen Einblick in die zeitgenössische Kritik am Disputationswesen und zeigt, wie die Preisfragenkultur auf Medienwandel und Epistemewechsel reagiert, Mängel der Disputation kompensiert und so zu einer »aufklärerisch-öffentlichen Form der disputatio« avancieren kann.
Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), S. 178–203. – Ders., Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1980. – Kundert, Disputation (wie Anm. 28). 34 Olga Weijers, Le travail intellectuel à la faculté des Arts de Paris. Textes et maîtres (ca. 1200–1500). Bisher 7 Bde., Turnhout 1994–. – Dies., Le maniement du savoir. Pratiques intellectuelles à l’époque des premières universités (XIIIe–XIVe siècles), Turnhout 1996. – Ku-Ming (Kevin) Chang, From Oral Disputation to Written Text. The Transformation of the Dissertation in Early Modern Europe, in: History of Universities 19 (2004), S. 129– 187. – Rasche, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1).
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Die Disputation gewinnt in der Artistenfakultät ein selbstreflexives Moment, wenn in ihr über ihre eigenen Regeln diskutiert wird. Solche Disputationen sind wertvolle Zeugnisse für die Anverwandlung antiker Dialogformen und dialektischer Maximen, insbesondere des 8. Buchs der aristotelischen ›Topik‹.35 Das Streiten über die Regeln des Streitens provoziert allerdings – weil es ja an den Grundfesten der Disputationsmethode rüttelt – wiederum Regeln, worüber gerade nicht gestritten werden darf. Donald Felipe widmet sich der Gattung der Disputations-Handbücher des 17. Jahrhunderts und verwandter Traktate des 16. und 18. Jahrhunderts und stellt damit einen bisher weitgehend ungehobenen philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Quellenschatz vor. Denn diese Handbücher – so die übergreifende These seines Beitrags – reflektieren die ars disputandi und wagen sich dabei durchaus an das Fundament des Wissensgebäudes: Was muss (noch) bewiesen werden? Welche Grundsätze dürfen nicht in Zweifel gezogen werden? Die antiken Autoritäten geraten, etwa in der Diskussion über Frage-und-Antwort-Disputationen, in ein paradoxes Licht: Manche Äußerungen betonen den eigenen methodischen Fortschritt, der sich jedoch hauptsächlich auf antike Überlegungen stützt. Die Allgegenwart der Disputationskultur an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass räumlich und zeitlich ganz unterschiedliche Lösungen gefunden wurden, um ein Gleichgewicht zwischen dem Repräsentationsbedürfnis der Universität, der Stadt oder der Kirche, dem didaktischen und dem wissenschaftlichen Nutzen zu schaffen. So etablierte sich im Vergleich zum übrigen spätmittelalterlichen Europa an den Universitäten von Prag, Wien und Erfurt eine festliche Spezialform: In den mehrtägigen Disputationen De quolibet verhandelte der ganze Lehrkörper Fragen aus allen Gebieten der Artistenfakultät, wobei zur Auflockerung auch scherzhafte Fragen geistreich zu beantworten waren.36 Regionalstile der Disputation gibt es also, bei aller Ähnlichkeit der Statuten und universitären Textsor-
35 Zur Rezeption der aristotelischen Logik in den Disputationen vgl. Martin Grabmann, Die Sophismataliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts mit Textausgabe eines Sophisma des Boetius von Dacien. Ein Beitrag zur Geschichte des Einwirkens der aristotelischen Logik auf die Ausgestaltung der mittelalterlichen philosophischen Disputation, Münster 1940. 36 Olga Weijers, La ›disputatio‹ dans les facultés des arts au moyen âge, Turnhout 2002, S. 300f. – In Italien war eine Quodlibet-Disputation in Logik offenbar nur für Bologna vorgeschrieben, vgl. Alfonso Maierù, Methods of Teaching Logic during the Period of the Universities, in: Ders., University Training in Medieval Europe, Leiden u. a. 1994, S. 117– 142, hier 128.
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ten, sowohl im Spätmittelalter37 als auch in der frühen Neuzeit, zu deren Disputationswesen in den letzten Jahren Einzelstudien entstanden sind, die für die Zeit um 1600 etwa einen Vergleich ermöglichen zwischen dem Philosophieunterricht an der Universität der reformierten Stadt Basel und an der jesuitischen Universität Dillingen.38 Über alle Fakultäten hinweg ist die Disputation einerseits verbindendes formales Element akademischer Kultur, sie zeigt andererseits aber auch im Fächerkontrast erhebliche Unterschiede. Olga Weijers erstickt in ihrem Beitrag jede Vorstellung im Keim, dass es einmal, tief im Mittelalter, eine einzige Disputationsform gegeben habe: Anhand eines reichen Quellenmaterials zur Disputationspraxis französischer Artistenfakultäten, juristischer und theologischer Fakultäten des 13. und 14. Jahrhunderts zeigt sie fachliche und regionale Unterschiede sowie die funktionale Spannweite der Disputation von der obligatorischen Lehrform bis zur Forschungsmethode, die durch die mediale Entwicklung von der mündlichen zur schriftlichen Form nochmals erweitert wird um neue Zwecke wie die private Forschung oder die schriftliche Polemik.39 Dabei steht die Disputation – dies war ein wichtiges übergreifendes Ergebnis der Tagung – nicht nur in ihrer historischen Entwicklung, sondern auch im akademischen Arbeitsprozess in steter Wechselwirkung mit anderen Gattungen und Medien. Joseph S. Freedman nähert sich in seinem Beitrag der Disputation über einen kontrastierenden Vergleich mit anderen wissensvermittelnden und -einübenden Formaten an frühneuzeitlichen 37 Weijers, La ›disputatio‹ dans les facultés des arts (wie Anm. 36), S. 319–329. – Für die italienischen Universitäten auch: Alfonso Maierù, Gli Atti Scholastici nelle Università italiane, in: Luciano Gargan / Oronzo Limone (Hg.), Luoghi e metodi di insegnamento nell’Italia medioevale (secoli XII–XIV), Padua 1989, S. 249–287. (Englische Übers.: Academic Exercises in Italian Universities, in: Ders., University Training [wie Anm. 36], S. 36–71). 38 Wolfgang Rother, Die Philosophie an der Universität Basel im 17. Jahrhundert. Quellen und Analyse, 2 Bde., Diss. Zürich 1980 (Typoskript); Zusammenfassung davon unter demselben Titel gedruckt Zürich 1981. – Ursula Kundert, Enzyklopädie im Wandel. Basler philosophische Disputationen zwischen 1585 und 1650, in: Martin Schierbaum (Hg.), Enzyklopädistik 1550–1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierung des Wissens, Münster 2009, S. 379–412. – Ulrich Gottfried Leinsle, Dilinganae Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648, Regensburg 2006. – Vgl. übergreifend auch: Hanspeter Marti, Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999, S. 207–232. 39 Einen kurzen Überblick zu Formen und Funktionen von disputationes im Mittelalter bietet Olga Weijers’ Beitrag The medieval disputatio, in: Douwe D. Breimer u. a., Hora est! On dissertations, Leiden 2005, 23–27.
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Universitäten im deutschen Sprachgebiet an. Er betrachtet den Stellenwert, die speziellen Leistungen sowie die Verankerung der Disputationen als exercitationes in theoretischen Abhandlungen wie auch in konkreten curricula einzelner Hoher Schulen. Er skizziert zeitgenössische Überlegungen zu den Aufgaben von Respondenten und Opponenten sowie zur Rolle der Präsiden und des Publikums und zeigt anhand konkreter Beispiele den Variantenreichtum gedruckter Disputationen auf – etwa hinsichtlich Format und Umfang, Aufbau und Textorganisation, wissenschaftlicher Breite und Multidisziplinarität, Intentionen und Funktionen. Als ebenso traditionsfestes wie wandelbares Phänomen skizziert Hanspeter Marti in seiner Studie das frühneuzeitliche Disputationswesen, das – entgegen einem oberflächlichen Eindruck – nicht nur kanonisiertes Buchwissen verteidige und einübe, sondern durchaus auch wichtiges innovatives und kritisches Potential besitze. Die mündliche Disputation und die schriftlichen Dissertationen des 18. Jahrhunderts, auf die sich sein Beitrag konzentriert, verortet Marti im Kontext des auf Redesituationen bezogenen Gelegenheitsschrifttums. Er formuliert Entwicklungslinien, überblickt die Überlieferung, Sammlung, Verzeichnung und Rezeption gedruckter Dissertationen und beleuchtet die umfassend und kontrovers geführte zeitgenössische akademische Debatte über die Disputation. In ihrer medialen Doppelgestalt40 als rituelle Form41 und als Textgattung42 verfügt die Disputation also über eine Variationsbreite, die ihre bemerkenswerte Wirkungsmacht ermöglicht. Über den Kreis der gebildeten Männer43 hinaus erreicht sie in Form von volkssprachigen Religionsgesprä40 Hanspeter Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks, in: Rainer A. Müller (Hg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne, Köln 2001, S. 1–20. 41 Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm. 9) und Ritus Promotionis (wie Anm. 9). – Kundert, Disputation (wie Anm. 28), S. 108f. 42 Für das Mittelalter: Bernardo C. Bazàn, La Quaestio Disputata, in: Les genres littéraires dans les sources théologiques et philosophiques médiévales. Définition, critique et exploitation, Louvain-la-Neuve 1982, S. 31–49. – Ders. u. a., Les questions disputées (wie Anm. 10). – Olga Weijers, La ›disputatio‹ à la Faculté des Arts de Paris (1200–1350 environ). Esquisse d’une typologie, Turnhout 1995. – Für die frühe Neuzeit: Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 866–880. – Ders., Art. ›Dissertation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 880–884. 43 Frauen blieben die Universitäten – mit einigen Ausnahmen – bis zum 19. Jahrhundert im Allgemeinen verschlossen. Vgl. dazu: Laetitia Boehm, Von den Anfängen des akademischen Frauenstudiums in Deutschland. Zugleich ein Kapitel aus der Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, in: Historisches Jahrbuch 77 (1958), S. 298–327; wieder in: Dies., Geschichtsdenken (wie Anm. 9), S. 883–908 mit Rekurs auch auf Mittelalter und Frühe Neuzeit. – Maria Rosa di Simone, Die Zulassung zur Universität, in: Walter Rüegg
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chen und Scherzdisputationen wie den Brautsuppen, welche zur Folklore frühneuzeitlicher Universitätsstädtchen gehören,44 auch Frauen und weniger gebildete Männer. Doch selbst hier bleibt die Lateinsprachigkeit als konstitutives Merkmal der Disputation45 im Hintergrund erhalten: Die Hinweise auf den weiteren Wissenskontext sind durchweg lateinisch verschlüsselt.46 Ein solches gruppenspezifisches Wissen, das die Grundlage für den akademischen Scherz und seine identitätsstiftende Wirkung bildet, aktualisieren auch verwandte universitäre Gattungen, wie der Beitrag von Johannes Klaus Kipf zeigt. Dieser widmet sich einer Textreihe, welche in einer großen Nähe zur Disputation steht: den im Druck erschienenen akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts. Kipf untersucht darin die Verankerung der mündlich vorgetragenen Scherzreden in den Universitätsstatuten, zeigt anhand der schriftlich überlieferten Exemplare deren Umgang mit verschiedenen Prätexten und (literarischen) Traditionen auf, eruiert Spuren von (zum Teil auch fingierter) Performativität, beleuchtet Überlieferungswege, -kontexte und -gemeinschaften sowie die durch die gedruckten Textexemplare ausgelöste Reihenbildung und den Einfluss der akademischen Scherzreden auf die frühneuzeitliche Literatur. Neben der Lateinsprachigkeit lassen sich zwei Merkmale nennen, welche – mit der angemahnten Vorsicht genossen – die Disputation am deutlichsten von anderen Aufführungs- und Textformen abheben: Die Vergabe von drei Sprecherrollen (Präses, Respondent, Opponent) und der formal offene Schluss. Über die Elemente, welche den Zeitgenossen als prototypisch erschienen, gibt die Untersuchung von Disputationsparodien47 und literarischen Adaptationen wichtigen Aufschluss. Umgekehrt wird die Disputation als literarisches Mittel bevorzugt dazu genutzt, um Figurenhandlung und die Reflexion darüber erzähllogisch auseinander, aber trotzdem in erzählzeitlicher Nähe zu halten und sie schließlich in verschiedenen For-
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(Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation bis zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 235–262, hier: 242f. – Andrea von Hülsen-Esch, Frauen an der Universität. Überlegungen anläßlich einer Gegenüberstellung von mittelalterlichen Bildzeugnissen und Texten, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 315–346. Vgl. zur Scherzdisputation Johannes Klaus Kipf, Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum, Stuttgart 2009, S. 505–517. – Kundert, Disputation (wie Anm. 28). – Zur Breitenwirkung der Disputationskultur allgemein: Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm. 9), S. 162. Hanspeter Marti, Lateinsprachigkeit – Ein Gattungsmerkmal der Dissertationen und seine historische Konsistenz, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 30 (1998), S. 50–63. Kundert, Disputation (wie Anm. 28), S. 119–122. Kipf, Cluoge geschichten (wie Anm. 44), S. 517–521.
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men der mise-en-abîme zu verschränken.48 Witthöft, Becker und Kropik stellen in ihren Analysen literarischer Adaptationen der Disputation übereinstimmend fest, dass in ihren Erzählungen der Wort- in den Tatbeweis umschlägt: Christiane Witthöft deutet das Stierwunder in der Silvesterlegende der ›Kaiserchronik‹ als performative determinatio der vorausgehenden ausführlichen Religionsdisputation zwischen dem Papst Silvester und seinen zwölf jüdischen Opponenten. Die scheinbar ergebnislose Disputation der Silvesterlegende, die sich trotzdem in der Überlieferung als äußerst beliebt erweist, und das Stierwunder zusammen sind – so die Hauptthese – Teile eines umfassenden Erzählkonzepts, das nach der »Sichtbarkeit von Erkenntnis« fragt und dabei theologisches und göttlich-teuflisches Kräftemessen parallelisiert und auf der Figurenebene inszeniert. Wenn Hartmanns ›Gregorius‹ im Sinne eines interpretatorischen Experiments auf der Folie der Disputation gelesen wird, dann – so Anja Beckers innovative These – erscheint nicht so sehr die Lösung der Frage nach der richtigen Lebensform, sondern vielmehr die Fragestellung selbst und der argumentative Umgang damit als lehrhafte Dimension der Erzählung. Ausgangspunkt für eine solche Lektüre ist das Abtsgespräch, bei dem Becker zeigen kann, dass nur der erste Dialog nach dem Muster einer Disputation gestaltet ist. Die quaestio wird dort im Sinne einer mise-en-abîme für den ganzen ›Gregorius‹ formuliert. Die anschließend von den Figuren ausagierten alternativen Antwortvorschläge werden schließlich durch Gottes Eingreifen einer determinatio zugeführt. Auch in der Fassung B der ›Heidin‹ wird – nach Cordula Kropiks These – nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten disputiert. Der Graf und die Heidin verhandeln eine quaestio, welche der Text (als Präses) in Handlungsmustern formuliert, nämlich das Problem höfischer Liebe überhaupt: das Verhältnis zwischen körperlicher und geistiger Liebe. Die Art und Weise, wie disputiert wird, spiegelt also diese Fragestellung. Nur auf der Disputationsfolie lässt es sich außerdem erklären, warum die Heidin die Minnewerbung des Grafen nicht für eine Dienstverpflichtung nutzt, wie dieses Muster es eigentlich erwarten ließe. In der frühen Neuzeit führen die den Disputationen beigedruckten Gratulationsgedichte von Freunden, Kommilitonen, Präsiden und anderen Universitätsangehörigen nicht selten vor, wie der Inhalt wissenschaftlicher Reflexion mit der pragmatischen Funktion der Gratulation und der dichterischen Form verbunden werden kann (vgl. van Hoorn in diesem Band). 48 Vgl. auch Ursula Kundert, Ironie der Aufrichtigkeit. Disputation und Narration einer kommunikativen Norm, in: Claudia Benthien / Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 149–162, hier: 161f.
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Die Vielzahl dieser Gelegenheitsgedichte hat – da als historische Quelle scheinbar unbrauchbar – bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden.49 An ihnen kann aber einerseits abgelesen werden, wie mit wissenschaftlichen Themen dichterisch umgegangen wurde. Andererseits sind sie Zeugnisse für die Einbindung der Disputanten in soziale Netzwerke und somit – auf pragmatischer Ebene – Mittel zur Statusdemonstration und Nachweise einer »erfolgreiche(n) akademische(n) Sozialisation«50. Von großer Relevanz für soziale, sozioökonomische, institutionen- und karrieregeschichtliche Fragestellungen sind auch andere Paratexte der Disputationen wie Widmungen und Vorreden.51 Michael Philipp untersucht in seinem Beitrag die Widmungsadressen von rund 400 Politikdisputationen der Universitäten Altdorf, Gießen, Helmstedt, Königsberg und Leipzig aus dem 17. Jahrhundert auf ihren sozial- und patronagegeschichtlichen Erkenntniswert. Er setzt die Funktionen der paratextuellen Widmungen zunächst generell mit dem Stellenwert frühneuzeitlicher disputationes politicae in Beziehung und scheidet dabei zwei grundsätzliche Motivationshintergründe der Dedikanten: zum einen die Danksagung und den Qualifikationsnachweis gegenüber Gönnern, zum anderen eine zielgerichtete Planung der zukünftigen Karriere durch die Wahl eines oder mehrerer Adressaten mit größtmöglichem Patronagepotential. Nach welchen Strategien die Widmenden vorgingen (auch in der Wahl des Disputationsthemas) und welche Adressaten(gruppen) gewählt wurden, ob und inwiefern sich die karrierepolitischen Hoffnungen sogar erfüllten, wird anhand mehrerer Beispiele gezeigt. Tanja van Hoorn widmet sich in ihrer exemplarischen Studie den Paratexten in einem bisher noch wenig untersuchten Feld, den lateinischen 49 Vgl. neu: Marion Gindhart, Ignibus haut unquam vanis micuisse cometen. Lateinische Gelegenheitsgedichte in Druckwerken zum Kometenjahr 1618, in: Ulrich Schlegelmilch / Tanja Thanner (Hg.), Die Dichter und die Sterne. Beiträge zur lateinischen und griechischen Literatur für Ludwig Braun, Würzburg 2008, 171–199 mit Lit. – Zu den frühneuzeitlichen Paratexten vgl. jetzt auch: Frieder von Ammon / Herfried Vögel (Hg.), Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen, Berlin 2008. 50 Rasche, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 162. 51 Rasche, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 162–164. Rasche betont hier zudem sowohl die karrierebefördernde Funktion der gedruckten Disputationen für die Defendenten als auch die reputationsfördernde Funktion für die Präsiden wie die Universitäten. Er erklärt dabei das Massenphänomen Disputation eher aus einem Bedürfnis nach repräsentativen gelehrten Zeugnissen als aus reinem amor scientiae. – Zum Zusammenspiel von panegyrischer Ikonografie, Widmungsadresse und Dedikationsbrief auf barocken Thesenblättern, die feierliche Disputationen (disputationes solemnes) ankündigten und zugleich dazu dienten, finanzielle wie institutionelle Patronage einzuwerben, vgl. Sibylle Appuhn-Radtke, »Domino suo clementissimo ...«. Thesenblätter als Dokumente barocken Mäzenatentums, in: Müller, Bilder – Daten – Promotionen (wie Anm. 1), S. 56–83.
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Dissertationen angehender Hallescher Ärzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Dass der Kommunikationszusammenhang zwischen Para- und Haupttext bisher zu Unrecht vernachlässigt wurde, zeigt van Hoorn am Beispiel der ›Dissertatio inauguralis medica de consensu pectoris cum infimo ventre‹ (1743) von Heinrich Friedrich Delius. Der Haupttext mit seinen lateinischen Paratexten sowie ein auf den Termin der mündlichen Disputation datiertes, selbständig überliefertes deutschsprachiges Gratulationsschreiben Christian Gottlieb Kratzensteins bieten in ihrer Zusammenschau Einblicke in die widerstreitenden Auffassungen der Halleschen Medizinschulen und lassen mögliche Einwände der Opponenten fassbar werden, welche in der Thesensammlung des Haupttextes üblicherweise nicht abgedruckt werden.52 Die Disputation ist demnach ein Medium universitärer Wissenskultur mit besonders starken pragmatischen Implikationen. Sie gehört zu denjenigen Formen schriftlichen und mündlichen sozialen Handelns, in denen der Kampf um Deutungshoheit besonders klar vor Augen tritt. Die Form selbst und die Art ihrer Anwendung sind geeignet, diskursive Macht oder gar Gewalt auszuüben. Bei aller Vorsicht lassen sich für die Zeitspanne von 1200 bis 1800 einige Tendenzen vermuten: Die Entwicklung scheint von einer mehrstimmigen Disputation zum Respondentenmonolog zu verlaufen. Das zeigt sich generell in der Verschriftlichung: Die quaestio enthält typischerweise auch Gegenargumente (die allerdings in der refutatio entkräftet werden); die frühneuzeitliche Disputationsschrift enthält in der Regel nur die Pro-Argumente mit den entsprechenden Stellen aus den Autoritäten. Außerdem weist Weijers in ihrem Beitrag darauf hin, dass im Mittelalter zumindest einzelne Schulen mehrfache determinationes kannten, was für die frühe Neuzeit nicht belegt ist. Ein ähnlich auffallender offener Schluss lässt sich beim provenzalischen Joc partit bzw. beim altfranzösischen jeu parti des 12. und 13. Jahrhunderts feststellen, den Neumeister mit einem höfischen Ideal des Ausgleichs erklärt.53 In Analogie zur Disputation argumentiert Kasten jedoch beim mittelhochdeutschen Streitgedicht, dessen Ausgang oft auch erstaunlich offen ist,54 dafür, dass hier eine 52 Eine andere, rare Möglichkeit, die Position der Opponenten zu erschließen, stellen durchschossene Disputationsschriften dar, vgl. dazu: Martin Mulsow, Der ausgescherte Opponent. Akademische Unfälle und Radikalisierung, in: Ders., Die unanständige Gelehrtenrepublik, Stuttgart u. a. 2007, S. 191–215, hier: 195f. und 199f. mit Abb. 53 Kasten, Mittelhochdeutsches Streitgedicht (wie Anm. 16), S. 232 mit Bezug auf Sebastian Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen, München 1969, S. 155. – Vgl. auch Erich Köhler, Partimen (Joc partit), in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 2,1,5, Heidelberg 1979, S. 16–32. 54 Glier, Artes amandi (wie Anm. 19), S. 406.
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explizite Darstellung des Ergebnisses deshalb überflüssig sei, weil die Diskussion im Unterschied zum Partimen einseitig verlaufe.55 In beiden Fällen zeigt sich eine Nähe zur Rangstreit-Literatur (vgl. Obermaier in diesem Band), welche als literarisches Universale in vielen Kulturen vorkommt,56 bei den mittelhochdeutschen Streitgedichten ist jedoch auch eine spezifischere Machtkonstellation ähnlich der der Disputation auszumachen. Dennoch darf die Rolle der Gegenargumente beziehungsweise der Opponenten nicht überbewertet werden. Obwohl in dieser Position die Möglichkeit gegeben ist, alternative Erklärungskonzepte vorzustellen, schränkt doch die Anlage der Disputation deren umstürzlerische Möglichkeiten stark ein: Es geht um »institutionalisierten Dissens«57. Zum einen ist die Opponentenrolle rein reaktiv: Thema, Kategorien und Argumentationsweise bestimmt in erster Linie der Respondent; der Opponent kann daran nur kritische Korrekturen vornehmen, aber keine ganz anderen Interessen und Denkmuster einführen, zumal er dazu verpflichtet ist, sich genau auf Thesen und Argumente des Respondenten zu beziehen. Hat der Respondent nur schon dadurch einen inhaltlichen und argumentationslogischen Vorsprung, so wird die Asymmetrie zwischen ihm und dem Opponenten noch dadurch verstärkt, dass der Respondent vom sitzungsleitenden und akademisch höherstehenden (sowie räumlich höher sitzenden) Präses unterstützt wird. Die universitäre Definitionsmacht steht also auf der Seite des Respondenten. Diese Anlage erklärt, weshalb der Lösung der Frage vergleichsweise geringes Gewicht zukommt: Von Anfang an ist klar, dass es nur um eine Erhärtung (allenfalls Differenzierung) der vom Respondenten aufgestellten These geht. Auch wenn Respondent und Präses sowohl im Aufführungsakt als auch in der Disputationsschrift als eine Partei erscheinen, bleiben sowohl ihre wissenschaftlichen Meinungen als auch ihr jeweiliger Arbeitsbeitrag zur Disputation oft unklar. Die Autorschaftsfrage ist dabei eines der schwierigsten Probleme der Disputationsforschung.58 Bestand die Leistung des Respondenten zunächst primär in der Verteidigung der Thesen in der 55 Kasten, Mittelhochdeutsches Streitgedicht (wie Anm. 16), S. 233–237. 56 Moritz Steinschneider, Rangstreit-Literatur. Ein Beitrag zur vergleichenden Literatur- und Kulturgeschichte, Wien 1908. – Alexandru Cizek, Art. ›Altercatio‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), Sp. 428–432. – Christian Kiening, Art. ›Streitgespräch‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 525–528. 57 Mulsow, Der ausgescherte Opponent (wie Anm. 52), S. 194. 58 Vgl. zur Historie dieses Forschungsproblems Hanspeter Marti, Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung, in: Schwinges, Examen, Titel, Promotionen (wie Anm. 9), S. 251–274, hier: 252–261. – Rasche, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 189–201.
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mündlichen Disputation, während die Verantwortung für die Thesen und die Disputationsschrift beim Präses lag (wobei von einer mehr oder weniger engen Zusammenarbeit auszugehen ist), lässt sich seit dem 18. Jahrhundert eine zunehmende Verlagerung der Autorschaft beziehungsweise des Anteils an Autorschaft und eigenständiger Leistung von den Präsiden auf die Respondenten beobachten – dies freilich mit Divergenzen an einzelnen Universitäten und Fakultäten und in Abhängigkeit von den Ambitionen der Kandidaten. Oft griffen auch bei einer formalen Verfasserschaft der Respondenten die Präsiden noch maßgeblich in die Texte ein, nicht wenige verfassten auch am Ende des 18. Jahrhunderts die Dissertationen weiterhin selbst.59 Wie Respondenten im 18. Jahrhundert mit ihrer selbständigen Dissertationsleistung Zulieferer für Schriften des Präses werden können, zeigt Renate Schulze in ihrem Beitrag: Sie führt am Beispiel zweier Dissertationen vor, wie der Hallesche Rechtsprofessor Justus Henning Böhmer solche als Vorstufen für sein fünfbändiges Hauptwerk zum protestantischen Kirchenrecht, das ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ (1714–1736), nutzte. Dabei wird ebenfalls deutlich, welche Rolle den Respondenten bei der Vorbereitung umfangreicherer Publikationen zukommen konnte. Böhmer gehört einer Generation an, in der die Produktion gedruckter Disputationen zu einem abschließenden Höhepunkt gelangt, bevor sie – so sieht es ein Bibliograf knapp hundert Jahre später – von der Publikation in Zeitschriften abgelöst wird.
59 Rasche, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 1), S. 192–201; – Marti, Von der Präseszur Respondentendissertation (wie Anm. 58), S. 262–274.
I. Gattung und Gattungsreflexion
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The various kinds of disputation in the faculties of arts, theology and law (c.1200–1400) The intention of this paper is to show that in the Medieval universities various kinds of disputation coexisted and that it is not possible to speak of »the« Medieval disputatio. The documentation used for this enquiry is limited to three of the four faculties of the medieval universities: the arts faculty and the faculties of theology and law, because I have not yet studied disputation in the faculty of medicine.1 I will describe the main types of disputation and give some examples from the 13th and 14th centuries.
I. Dialectical and scholastic disputation First, we have to make a distinction between two completely different kinds of disputation within the arts faculty: on the one hand the dialectical disputation, which was practised in the schools of the dialecticians and culminated in the genre of the obligationes, on the other hand what I will call the scholastic disputation, which developed out of the questio during lectures and which existed in all the faculties. The dialectical disputation has often been described in the treatises of the logica modernorum, but as far as I know, we do not have concrete examples of this kind of disputation before the twelfth century.2 However, the genre itself is much older and can be traced back to antiquity. In the 1
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For the arts faculty, see Olga Weijers, La ›disputatio‹ à la Faculté des arts de Paris (1200– 1350 environ), Turnhout 1995; Olga Weijers, La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge, Turnhout 2002. For the faculties of theology and law, see Olga Weijers, Queritur utrum. Recherches sur la ›disputatio‹ dans les universités médiévales, Turnhout 2009. See also Bernardo C. Bazàn / John W. Wippel / Gérard Fransen / Danielle Jacquart, Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les Facultés de théologie, de droit et de médecine, Turnhout 1985. For the logica modernorum cf. Lambertus M. de Rijk, Logica Modernorum. A Contribution to the History of Early Terminist Logic, Assen 1962–1967 (3 vols.). See also my article De la joute dialectique à la dispute scolastique, in: Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, Paris 1999, pp. 509–518.
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schools of the Greek philosophers the pupils were exercised in dialectical discussions, just as rhetorical exercises took place in the rhetorical schools. In the dialectical discussions one of the two opponents defends a thesis against the other, who tries to bring him to contradiction. These duels were not subject to official judgement, but they could be public. Protagoras seems to have been the first to organise this kind of verbal struggle.3 Apart from the description in book eight of Aristotle’s ›Topics‹ examples can be found in Cicero’s ›Tusculanae disputationes‹.4 In the Middle Ages both the dialectical and the rhetorical exercises continued to exist. We learn this from some references in contemporary literature from the ninth century onwards. During the twelfth century these exercises are very often referred to, for instance by John of Salisbury, Peter Abelard and Hervé of Bourg-Dieu as well as by some theologians who despise the mundane side of the dialectical duels, for instance: Huius insultationis timorem habeant seculares arcium disputatores, quorum est velle magis videri sapientes quam esse, humano favori studere quam communi utilitati.5 This kind of disputation mainly concerns logic and grammar, as documents preserved from the beginning of the twelfth century onwards attest.6 It functioned as a kind of dialectical exercise and developed into the specific genre of the obligationes.7 It is not certain that these kinds of exercises took place within the schools of the arts faculty. The curriculum as found in the university statutes does not mention them and seems to leave small place for other activities. It is possible that the dialectical disputation was practised only in parallel schools, where teachers of dialectic prepared students for further studies.8
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Cf. Françoise Desbordes, La rhétorique antique, Paris 1996, p. 69. The rhetorical exercises consisted of two opposing monologues instead of questions and answers and discussed a juridical casus. In the Latin world they were called controversiae. Cf. Paul Moraux, La joute dialectique d’après le huitième livre des Topiques, in: G.E.L. Owen (ed.), Aristotle on Dialectic. The Topics, Oxford 1968, pp. 305–307. Sermon preached at St. Victor, Paris, by a certain »magister Henricus«, ms. Paris, BNF lat. 16461 f° 24 (second half 12th century). For an example from the beginning of the 12th century see de Rijk, Logica Modernorum (fn. 2), II, pp. 139–146. Cf. Henk A. G. Braakhuis, Obligations in Early Thirteenth Century Paris. The Obligationes of Nicholas of Paris (?) (Ms Paris B.N. lat. 11.412), in: Vivarium 36 (1998), pp. 157–159. The discussion of sophismata during the twelfth and early thirteenth century also belongs to the dialectical exercises; their later development, at least at Paris, led to a kind of confusion with the disputed question. Cf. Henk A. G. Braakhuis, Logica Modernorum as a Discipline at the Faculty of Arts of Paris in the Thirteenth Century, in: Olga Weijers / Louis Holtz (eds.), L’enseignement
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On the contrary, the scholastic disputation is described in the university statutes. It is not a dialectical duel between two opponents but the discussion of a question, by means of dialectical tools of course, between a master and his students or between several masters and bachelors. In the context of examinations, the disputation can be conducted by a bachelor or even by a candidate-bachelor who ›determines‹ the question in place of the master. The scholastic disputation differs from the above-mentioned genre in several aspects. First, it is the disputation of a question arising at least in the beginning from the reading of texts. Often it concerns difficulties arising from the text, apparent contradictions or conflicting interpretations. Second, it aims at determining (or teaching) the truth and at finding the right answer to the question. It is a method of teaching and research that uses dialectical argumentation, especially syllogisms, only to this end. Third, the basic structure of this genre of disputation is quite different from that of the other one: after the formulation of the question arguments are given both for the affirmative and for the negative answer, after which the master gives his solution (which is usually one of the two answers discussed, though he may propose a different way by means of distinction) and refutes the arguments going against this opinion. Fourth, even at an early stage the participants in this kind of disputation are at least three: the master, who proposes the questions, presides over the discussion and gives his determination, the respondens, who gives a preliminary solution, and the opponens, who attacks the arguments given. In more important disputations several respondentes and opponentes appear.9 Moreover, the scholastic disputation has a quite different tradition. As we have seen, it developed out of the questio, the question arising from the reading of a text; the questio itself was originally part of the lectio. At first, a questio consisted of a question and a simple answer, sometimes followed by one or more objections, but gradually its structure became more complex: under the influence of dialectics arguments for both sides are introduced, and these arguments are presented in the form of syllogisms. An early stage of this development may be seen in Peter the Lombard’s ›Sentences‹. The ›Sentences‹ of Peter of Poitiers (probably written between 1167 and 1170) already represent a more sophisticated stage.10 des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIIIe – XVe siècles), Turnhout 1997, pp. 129–145. 9 For the appearance of the opponens and respondens, see Bazàn, Les questions disputées (fn. 1), pp. 39–42. 10 See for instance John Marenbon, Later Medieval Philosophy (1150–1350), London / New York 1993, p. 12. The question of the origin of the scholastic disputation (law, theology, the natural sciences?) is still open to debate.
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II. Disputations during the lectio and independent disputations, private and public Other distinctions have to be made within the scholastic disputation. First, the disputed questions of the commentaries differ from the questions disputed independently, not during the lectures but on separate occasions, generally in the afternoon. The questions of the commentaries probably were disputed originally during the lectures in the classroom, but afterwards these questions were merely read by the master. Their basic structure was simple and became the standard structure of disputed questions for many centuries. However, the solutions could be very elaborate and contain several articuli, conclusiones, suppositiones, corrolaria etc. The independent questions on the other hand were subject to real disputation by the master and his students in the private context of his school or during public occasions. In the faculties of law and theology the masters could build on a tradition of disputation already developed during the twelfth century. As for the arts faculty, the scholastic disputation both during the lectures and independent of them developed only during the thirteenth century. The disputations organised by the masters in their schools were mainly a teaching method: they were part of the regular teaching of a master, and they functioned not only in the teaching of the discipline (logic, physics, metaphysics etc.) but also in the handling of the instrument of disputation and argumentation. The students would also need to handle this skill in the higher faculties. The public disputations, which assembled all the members of the faculty and were long discussions having several active participants, were not only an obligatory part of teaching but also at a certain time (end 13th and beginning 14th centuries) perhaps foremost a method of research. According to the statutes of the arts faculty of Paris a solemn disputation took place once a week, being organised by one of the masters and held in presence of all the masters of the faculty and their students. Bachelors of the various schools performed their duty as respondens and opponens, but other masters could also intervene.11 These disputations were considered useful in finding the right solution to a difficult problem, as Radulphus Brito writes (around 1300).12 It was a kind of collective research by several 11 For examples of solemn disputations, see Weijers, La ›disputatio‹ à la Faculté des arts de Paris (fn. 1), pp. 77–85; Weijers, La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge (fn. 1), pp. 38–41. 12 Ed. Jan Pinborg, Radulphus Brito’s Sophism on Second Intentions, in: Vivarium 13 (1975), pp. 119–152.
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colleagues about real problems for which nobody had a ready answer and which were often much discussed in their time. The arguments for the position contrary to the final answer were not considered useless. On the contrary, they contributed to the discussion and showed why this position was false. Moreover, the final answer was not always presented as the definitive truth. Authors like John of Jandun (master in Paris in the very beginning of the 14th century) and Franciscus of Ferraria (master in Padova, around 1350) declared explicitly at the end of their disputed questions that their solution was a step in the direction of truth, but that they were ready to change their position if somebody else came with a better argumentation.13 Let us quote Franciscus: Et in hoc terminetur sententia huius questionis que michi magno tempore intulit multa dubia et magnas difficultates. Nunc vero animus meus claram in eisdem habet evidentiam que tamen si forte non veritatem complete ostenderit et nec invenerit, viam tamen dat utiliorem veritatem inquirendi. Siqua tamen dixerimus non verisimilia nec multum consona veritati, diligens studentium et alterorum virorum perspicax intellectus sapientia corrigat. Amen.14
In the disputed questions of the jurists similar remarks are to be found, for instance: Et hec videtur veritas salvo saniori consilio. Deo gratias. Ego Iacobus Butrigari qui predictam questionem disputavi15 and the attitude of leaving the solution open to criticism and correction almost became a standard formula in certain authors, as with Roffredus de Epiphaniis, who usually starts the solution to his questions with: In hac questione videtur mihi sine preiudicio melioris sententie.16 It is clear that we are far from simple classroom teaching.
13 For John of Jandun, see my study La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge (fn. 1), p. 40; for Franciscus of Ferraria, ibid., p. 246. 14 Ed. Marshall Clagett, Francesco of Ferrara’s Questio de proportionibus motuum, in: Annali dell’Istituto e Museo di Storia della Scienza di Firenze 3 (1978), p. 42. 15 Ed. Adriana Campitelli, Tre »quaestiones« conservate nel ms. Vat. lat. 8069, in: Giuliana D’Amelio / Adriana Campitelli / Severino Caprioli / Federico Martino (eds.), Studi sulle »quaestiones« civilistiche disputate nelle Università medievali, Catania 1980, pp. 110–111. Jacopo Bottrigari taught in Bologna in the beginning of the 14th century. The formula salvo tamen consilio saniori et me subiciens correctioni cuiuslibet sapientis also figures in other questions by the same author, cf. Manlio Bellomo, Aspetti dell’insegnamento giuridico nelle università medievali, 1. Le »quaestiones disputatae«. Saggi, Reggio Calabria 1974, p. 104, 107. 16 Roffredus de Epiphaniis, Disputationes redactae, Avignon 1500.
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III. Oral and written disputations Another general distinction valid for all the faculties is the one between reports of real disputation on the one hand and directly written treatises on the other. In the first case we may have the reportatio of the assistant of the master, but usually we have the redaction by the master himself based on such reportationes. In the beginning of the 14th century we find examples of a hybrid form: the disputed question starts with a report of the discussion, to a greater or lesser extent revised by the master, but instead of the ordinary determinatio, the reasoned solution, the master adds a real treatise, as is indicated explicitly in the case of one question of John of Jandun. After the report of the discussion he says: Hec fuerunt que in disputacione dicebantur de questione preposita. In presenti opusculo ponemus tres capitula.17 The terms opusculum and capitula clearly indicate that the author considers his text as a treatise. From the 14th century onwards many treatises are written indeed in the form of disputed questions without any signs of a real disputation having preceded the redaction. Impersonal formulas like Sed forte dubitabis are used, but no trace of oral discussion remains. Of course it is possible that the authors had organised or attended one or several disputations on the same subject, or they perhaps had read disputed questions of other masters on the theme, but their treatises seem to have been written down in their study from the beginning. Many examples can be mentioned, e.g. from the 14th century the ›Questio de velocitate‹ of Johannes of Casali and the ›Questio super universalia‹ of Johannes Sharpe, which are long treatises in the form of disputed questions. In this case, the procedure of the disputation (the basic scheme, the dialectical tools, the quotation of other opinions) was used for private research, for discussion of difficult or controversial problems and also for polemical purposes. But the polemic was now carried out by writing and could thus be much longer and much more detailed than in the oral disputations.
IV. Ordinary and quodlibetical disputations Apart from these general distinctions, some special forms of disputation have to be mentioned. First of all, in the theological faculty the well-known quodlibetical disputations were very different from the ordinary ones.18 As 17 Cf. Weijers, La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge (fn. 1), p. 40. 18 For the quodlibetical disputations, cf. Wippel, Les questions disputées (fn. 1).
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in the case of the ordinary public disputations, the session in which the master gave his determinatio was separated in time from the discussion. However, several important differences existed. First, when a master of theology organised a quodlibet, he had to answer questions that could be proposed de quolibet, about any appropriate subject, and a quolibet, by anyone present during the discussion. This resulted in a large number of questions (often twenty, sometimes more) that were relatively short and about various subjects. This demanded a drastic reorganisation of the materials, for the master was supposed to give his determinatio according to a coherent plan. The preliminary arguments pro and contra were less numerous than in the ordinary questions and sometimes they lack completely. The disputations de quolibet were solemn disputations which could only take place during two short periods of the year (in Natali and in Pascha). Finally, at least in Paris, the masters were not obliged to organise this kind of disputation, but for some of them the quodlibet was an instrument they particularly liked (for instance Henri of Gand, Godefroid of Fontaines, John Duns Scot). During the first session of a quodlibet, one or more bachelors performed the task of respondens – it was one of the obligations for a bachelor – and tried to give answers to the various questions, whereas the opponentes presented objections and refuted the arguments. Opinions diverge about the exact role of the respondent and the master. Their interventions likely varied from one disputation to another, but it seems probable that the master also intervened actively during the discussion of the first session and that he gave, following his respondents, a preliminary answer to the questions before reorganising the material for his definitive answer during the second session.19 In the arts faculty there are very few traces of the existence of quodlibetical disputations except mainly in the 15th century in Central Europe, e.g. in Erfurt, Prague and Vienna.20 But here these disputations were different from the theological quodlibet. The master organizing the disputation, the Quotlibetarius, chose the theme of the principal question well in advance, and the other masters were also charged with participation in the disputation some weeks before the event. The Quotlibetarius opened the discussion with the principal question, to which a bachelor had to answer. Then the other masters disputed the question in a fixed order. In fact, especially in Prague these disputations, which were organised once a year, were prestigious ceremonies in honour of the university. There were nu19 Cf. Wippel, Les questions disputées (fn. 1), pp. 183–185. 20 Cf. Weijers, La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge (fn. 1), pp. 298–312.
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merous participants, but these mostly had time to prepare their questions; the characteristic a quolibet de quolibet had been lost. However, in both cases, in the theological as well as in the afore-mentioned quodlibetical disputations, many more than one question was disputed. Thus they were fundamentally different from the ordinary public disputations.
V. Disputations with a double solution In the faculty of law one can also point out some differences from the usual scheme of disputation. In a collection of questions disputed at Angers, probably prior to 1280–1285, the ›Questiones Andegavenses‹, preserved in the manuscript Paris, BNF lat. 11724 and studied by Fitting,21 several questions end with a double solution. It seems that juridical questions in Angers and Orléans were not uncommonly ›determined‹ by two masters.22 Let us quote the last part of one of these questions: (1) Magister Rufinus Lumbardus terminavit istam questionem per l. ff. de pignoribus l. grege § si cum defensore, ff. mandati si fideiusor § in omnibus. (2) Dominus Gervasius de Clisant terminavit quod non possit opponere, per l. ff. de leg. I. l. si quando [… various references] Ipse autem in ista questione credidit distinguendum, quia aut illa confessio et sententie prolatio fuit facta presente adversario et eius procuratore, aut absente et eius procuratore absente. Si absente, sic non tenet […] (3) Distinguo, quia aut iudex non recitavit ore suo sententiam et sic non tenet, quia per epistulam non potest iudicari […] Si recitavit, non tenet ut sententia definitiva, quia.23
In fact, we have here three solutions: the first by Rufinus Lumbardus, the second by Gervasius of Clisant and the last by the compiler of the collection, who presents his own answer and proposes a different distinction from that of Gervasius. It is possible that the compiler has recorded in an abbreviated form a disputation in which two masters intervened and added his own comments. In several other questions of the same collec21 Hermann Fitting, Questions de droit disputées à Angers et à Paris, in: Nouvelle Revue Historique de Droit Français et Etranger 29 (1905), pp. 709–736 (ed. of the questions pp. 719–736). Cf. Manlio Bellomo, I Fatti e il Diritto. Tra le certezze e i Dubbi dei Giuristi Medievali (secoli XIII–XIV), Rome 2000, pp. 520–528. 22 Cf. Frank P. W. Soetermeer, Zur Identität des Magister Rufinus Lumbardus, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Rom. Abt. 109 (1992), pp. 539–546 (also in id., Livres et juristes au Moyen Age, Goldbad 1999), pp. 540–541. Rufinus Lumbardus is one of the masters mentioned in the questions of Angers. 23 Ed. Fitting (fn. 21).
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tion we have in any case a double determinatio, probably the result of the intervention of two masters. The fact in itself that two masters participated in a disputation is not unusual, but generally only one of them formulated the final answer, and the other was only mentioned in the report of the preceding discussion. Here we seem to have a different organisation, which was not usual in the juridical disputation except, it seems, in Angers and Orléans.
VI. Disputation in examination ceremonies Finally, the disputation had an important function in the context of examinations. First, bachelors in all the faculties had to participate not only in the ordinary disputations of their masters but also in the public disputations, in order to obtain the degree of master. At the end of their studies the final examinations and ceremonies also consisted for a large part in disputations, especially during ›inception‹ and the preliminary ›vesperies‹. In the faculty of theology complex ceremonies upon the occasion of inception included several disputations conducted not only by the candidates, but also by the masters.24 But I would like to return to the faculty of law in order to point out a special form of organisation of the principium, as the inception there was usually called. A series of questions dating from the time of Jacobus of Révigny (1270–1280), who is one of the actors in the disputations, attests to the principium in Orléans. The questions have been transmitted in the manuscript Paris, BNF lat. 4488 and studied by J. Acher.25 This scholar describes the questions as follows:26 in each of the six questions at least two jurists intervene and they are mentioned by name; after the theme, probably proposed by the master organising the disputation, and after the formulation of the question, a first jurist announces two arguments, one for the position pro and the other for the contra. Then a second jurist intervenes with the determinatio (the term is used in the text of the questions). In all the determinationes the second jurist repeats the argumentation pro and contra with new arguments, and he generally starts off by arguing for the position that had been presented by his direct predecessor in the last place. This argumentation is sometimes short, but 24 A considerable amount of information about these ceremonies at Oxford has been studied and partly edited by Andrew George Little and Franz Pelster, Oxford Theology and Theologians, c. 1282–1302, Oxford 1934. 25 Jean Acher, Six disputationes et un fragment d’une repetitio orléanaises, in: Mélanges Fitting, II, Montpellier 1908, pp. 287–373. 26 Cf. Acher, Six disputationes (fn. 25), pp. 293–299.
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it can also be rather involved. It is followed by the solution, which consists always of two parts: the proper opinion of the jurist, accompanied by more or less numerous arguments, and the refutation of one or several objections based on the laws already quoted in the previous argumentation. Finally, in four of the six questions edited by Acher somebody presents new objections to the solution of the master who determined the question and the master mostly replies. These objections were probably proposed and disputed during the oral disputation, for in the third question they are attributed to a new jurist, and in the sixth question one finds the formula tertio oppositum fuit, which seems to describe a real opposition. Let us take one of these questions as an example27 and quote just the significant parts: Primo arguit dominus Petrus Deroicus quod minutus non habeat distributiones matutinarum et hoc sic […] Quod minutus habeat distributiones matutinarum, idem Petrus arguit sic […] Sequitur determinatio facta a domino Hermanno de Blistam. Primo ostendo quod minutus habeat distributiones matutinarum […] E contra, quod minutus non habeat distributiones matutinarum probo sic […] Solutio. In questione ista ego tenui sive teneo quod minutus non habeat distributiones matutinarum et probo primo per rationem generalem, secundo per iura specialia […] Respondeo ad id quod supra dixeram, quod ille qui ex iusta causa abest, debet idem habere quod habuisset si presens fuisset. Solutio: […] Determinatio domini Hermani de Blistam. Contra me opponitur. Ego dixi quod … Contra: […] Secundo opponitur quod […] Tertio opponitur ad idem et ostenditur quod […] Solutio. Ad primum, quod dicitur, quod ubi lex fingit unum, et illud quod sequitur ad aliud, concedo. Quod postea dicitur: consuetudo fingit minutum presentem in vesperis, non est verum. Immo dico quod […] Unde dico […] Set contra istam solutionem arguitur, nam et licet sit ita quod […] Solutio. Aliud in restitutione facienda ei qui absens fuit […] Set adhuc opponitur et ostenditur quod ymo restitutio bene datur ad lucrum. Nam […] Solutio. Ad lucrum quod quis percipit iure communi […] Set adhuc opponitur, quia, ubi testator legat libertatem partui sue ancille […] Solutio. Magis facit ad oppositum, quia.
27 Acher, Six disputationes (fn. 25), pp. 322–331.
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This question contrasts in various ways from the usual model of a disputed question. First, the presentation of the arguments pro and contra is explicitly attributed to a dominus, Petrus Deroicus. Second, the determinatio of the master, Hermanus of Blistam, who is also named, starts with a new and more ample argumentation for the two possible answers, the first one being that which had been reasoned previously by Petrus Deroicus. This new argumentation of the two possible positions is an element which seems very peculiar to me. Third, because of this last element Hermanus of Blistam refutes one of the arguments which he had formulated before in favour of the affirmative answer. Finally, the discussion at the end (two and a half pages of the edition) even seems to report an oral altercation: three ›oppositions‹ address the solution, and the master starts to refute them, but then his answer to the second ›opposition‹ is attacked again, and his reply is also criticised. After his answer to this criticism, he refutes a last attack, saying that the argument used is actually in favour of the contrary position. For various reasons that I will not discuss in detail here (and in contrast to the judgement of Acher),28 we may suppose that this question, which is apparently the result of editorial intervention by the master, Hermanus of Blistam (this is evident from formulas like Contra me primo opponitur), was indeed the disputation on the occasion of the principium of Petrus Deroicus, also called dominus, since he then begins his teaching as a master. The oppositions at the end were pronounced by other masters in a discussion with Hermanus. So the questions in this collection represent a particular kind of disputation used during the ceremony of inception, and moreover they display several characteristics that differ from other disputations of the same kind. We may conclude by saying that the examples given here clearly show a variety of forms and applications in the medieval practice of disputation. It is possible that during the 15th century the disputation became a mere technique that lacks flexibility, a kind of automatism of always repeating the same argument scheme. It probably lost the element of research that was so important in the 13th and 14th centuries. Thus it could be criticised and laughed at by the humanists. However, it remained in use for a long time to come and sometimes regained the noble function of an instrument in the search for the truth.
28 See Weijers, Queritur utrum (fn. 1), pp. 198–201.
Donald Felipe
Ways of disputing and principia in 17th century German disputation handbooks The tradition of German disputation handbooks extends from the beginning of the 17th century with the resurgence of Aristotelian logic in schools and universities in central Germany in works by Cornelis Martini, professor at Helmstedt, by his student Jacobus Martini, later professor at Wittenberg, by Johann Scharf, also of Wittenberg, and many others. It continues into the early 18th century with a handful of works by professors at Halle, including Joachim Lange, Johann Schneider and Justus Böhmer, whose works fit squarely into the century-long handbook tradition despite some differences in approach between them and their early to mid-17th century predecessors.1 Overall, despite their richness and importance to a variety of issues in education, philosophy, logic and theology in the early Neuzeit and early Enlightenment, these works remain almost entirely unexplored.2 1
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Cornelis Martini, De analysi logica tractatus, Helmstedt 1619 [VD17 23:247577F]. Martini’s work is published at least seven times after 1619: in 1624, 1628, 1635, 1637, 1638, 1658 and 1659. Although perhaps best categorized as a logic textbook the text provides important commentary on many disputation rules and strategies and is frequently cited in later handbooks. Jacobus Martini, Paedia, Wittenberg 1631 [VD17 3:006832M]; Johann Scharf, Processus disputandi, Wittenberg 1635 [VD17 3:0068365]; Joachim Lange, Genuina methodus disputandi, Jena 1719; Johann Fridemann Schneider, Tractatus logicus singularis in quo processus disputandi, seu officia aeque ac vitia […] exhibentur, Halle 1718; Justus Henning Böhmer, Succincta manductio ad methodum disputandi et conscribendi disputationes juridicas, Halle 1703. The Halle handbooks will not be discussed in this study, with the exception of a few remarks on Schneider (1718). For bibliographical information on other handbooks discussed, see fn. 5. The most notable exception is the work of Hanspeter Marti, who has published several articles on topics related to 17th century disputation. Marti’s more important articles as far as the handbooks are concerned are: Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹ and ›Dissertation‹, in: Gert Ueding (Ed.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Vol. 2, Tübingen 1992, pp. 866–884; idem, Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Ed.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis 19. Jahrhundert, Basel 1999, pp. 207–232; idem, Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels, in: Ulrich Johannes Schneider (Ed.), Kultur der Kommunikation, Wiesbaden 2005, pp. 317–344. Wolfgang Rother
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The handbooks themselves, as manuals for how to conduct school disputation, are intimately related to a wide array of contextual and institutional issues, lectures, confessional disputes, teachings in logic, rhetoric and other subjects and opinions of school authorities, among other things.3 But it would be an oversimplification to view the handbooks as nothing more than simple manuals for school instruction. These works, in varying degrees of depth, complexity and originality, also offer theoretical reflection on the nature, purpose, structure and logic of disputation and on relationships between the ars disputandi and topics in theology and philosophy.4 This study will focus for the most part on topics related to the theory of the disputation as discussed in a handful of these handbooks published in the early to mid-17th century by scholars affiliated with universities in central Germany. The handbooks of primary concern are those of Jacobus Martini (1631), Johann Scharf (1635), Abraham Calov (1637), Johann Conrad Dannhauer (1629), Johann Felwinger (1659), Michael Wendeler (1650) and Jacobus Thomasius (1670).5 All of the aforementioned schol-
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also presents valuable information on disputation practices at the University of Basel in his study Zur Geschichte der Basler Universitätsphilosophie im 17. Jahrhundert, in: History of Universities 2 (1982), pp. 153–191. Ignacio Angelelli is the first historian of logic to discuss the logic of dialogue presupposed in some of the sources on disputation from this period, including the handbooks: Ignacio Angelelli, Techniques of Disputation in the History of Logic, in: Journal of Philosophy 67 (1970), pp. 800–815. See also Donald Felipe,The PostMedieval Ars Disputandi, Ph. D. Dissertation, Ann Arbor 1991, and Joseph Freedman, Disputations in Europe in the early modern period, in: Hora Est! On Dissertations, Leiden 2005, pp. 30–50. Another source that after more than a century has not outlived its usefulness is Ewald Horn, Die Disputationen und Promotionen an den Deutschen Universitäten, Leipzig 1893. The disputatio as an important mode of instruction in the schools and universities of the early Neuzeit is discussed in several sources, including Marti, Philosophieunterricht (fn. 2) and Rother, Zur Geschichte (fn. 2). Also, see Joseph S. Freedman, Philosophy and the Arts in Central Europe. 1500–1700, Aldershot 1999. For a careful account of disputation practices at the University of Leiden in legal instruction see Margreet J. A. M. Ahsman, Collegium und Kolleg, Frankfurt am Main 2000, pp. 175–237. With the exception of Angelelli (fn. 2), contemporary philosophers and logicians, even those with an interest in the history of scholastic disputation and dialogue theory, have completely neglected the early Neuzeit disputation handbooks, and in some instances it appears that authors are not even aware of their existence. See, for instance, Nicholas Rescher, Scholastic Meditations, Washington D.C. 2005; idem, Presumption and the Practices of Tentative Cognition, Cambridge 2006; and idem, Dialectics, Albany 1977. The relevance of the handbooks to contemporary dialogue theory, particularly to a field like argumentation theory, is a fertile area for research that as of today remains utterly undeveloped. Abraham Calov, De methodo docendi et disputandi, in: Idem, Scripta Philosophica, Rostock 1651 [VD17 1:064072E], first edition Rostock 1637 [VD17 1:044580S]; Johann Conrad Dannhauer, Idea boni disputatoris, Straßburg 1632 [VD17 3:605170T], first edition Straßburg 1629 [VD17 39:133429L]; Johann Felwinger, Brevis commentatio de
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ars, with the exception of J. Thomasius, were affiliated with the universities at Wittenberg or Altdorf at some point in their careers, and their works exhibit many commonalities. Hence, on occasion handbooks by these authors will be referred to as the »Wittenberg-Altdorf handbooks«. Two limited topics related to the theory of the ars disputandi will be examined. First, treatments of question-and-answer disputation will be investigated in these handbooks, in 16th century tracts, and in the work of two early Enlightenment critics of scholastic disputation, Christian Thomasius and Jean Le Clerc. An outline will be drawn of various approaches to disputation by questions during the 16th and 17th centuries. Then the study will turn to the more painstaking task of analysing the individual handbooks in order to delve more deeply into certain aspects of disputation practice and theory. The specific areas of investigation in this study are the salient structural features of what is referred to as the »modern way of disputing«, onus probandi, and the treatments of principia, that is, those propositions considered undeniable according to the rule contra negantem principia non est disputandum. The handbooks to be more closely examined in this regard are those of Felwinger (1659), Dannhauer (1629) and Calov (1637).6
I. Question-and-answer disputation in the early Neuzeit Among the many theoretical issues treated in the handbooks is the identification and evaluation of different ways or methods for carrying on a disputation. In the early 17th century this theoretical awareness manifests itself in a distinction between the way disputation is practised »nowadays« and a way of disputing by questions practised by the ancients. An early mention of this distinction among German scholastics is found in a disputation by Michael Piccart, first published in 1610 and reprinted in 1644 in the ›Philosophia Altdorphina‹.7 The distinction is tersely noted in J. Martini’s ›Paedia‹ and in many other handbooks, including those of Scharf (1635),
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disputatione, Altdorf 1659 [VD17 1:065404A]; Michael Wendeler, Breves observationes genuini disputandi processus, Wittenberg 1650 [VD17 1:0651385]; Jacobus Thomasius, Erotemata logica, Leipzig 1670 [VD17 3:308479K]. The study regretably neglects issues central to a fuller understanding of the institutional and cultural contexts of these works; the disputatio as ars docendi, the role of the Lutheran, Wittenberg-Altdorf handbooks in public confessional disputes and many other important areas will be only tangentially treated in this foray into the body of these works. Michael Piccart (Pr.) / Vitus Ludovicus (Resp.), Disputatio de problemate et propositione dialectica in genere, Altdorf 1610 [VD17 547:675307K]; Philipp Scherbe / Ernst Soner / Michael Piccart / Johann Felwinger, Philosophia Altdorphina, Nürnberg 1644 [VD17 1:044174U], pp. 233–242.
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Felwinger (1659), Wendeler (1650) and J. Thomasius (1670). One is left with the impression that the ancient way of disputing by questions is only known to these authors from ancient texts and that it is not practised in the schools. One of the more embellished characterizations of the ancient way is found in J. Thomasius (1670), who cites the Platonic dialogues and the ›Sophistical Refutations‹ as examples and identifies two traits that distinguish the ancient way from the modern way: the use of continuous little questions and the absence of syllogisms.8 It is useful to outline the modern way of disputing, as treated in the handbooks, in order to draw contrasts between it and the so-called way of the ancients. This outline in no way aims to capture all the important features of disputation as it is characterized in the handbooks. The general structure of the modern way appears to be quite similar to disputation practices in central Europe from at least the early 16th century.9 The most essential structural features are the very different roles of Respondent and Opponent. The Respondent is conceived as a defendant and is obligated to state and defend theses by solving the Opponent’s arguments, but he is not required to prove. The Opponent, on the other hand, is conceived as an arguer who must advance arguments that can be stated in syllogistic form and prove that the thesis is false. In most of the Wittenberg-Altdorf handbooks the Praeses is characterized as part of the persona of the Respondent, as the »superior« or the »head« of the Respondent, with duties of correcting and strengthening the Respondent’s responses. Other duties include moderating, teaching and aiding the Opponent in some ways. But, above all, the Praeses, the superior Respondent, is conceived as the leader of the dispute, as the school authority overseeing the proper defence of 8
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Thomasius, Erotemata (fn. 5), pp. 139–140: Porrò disputandi modus alius vetustus est, alius hodiernus. 8. Vetustum voco, qui olim Academiis Graeciae antiquissimis usurpabatur inter Sophistas ac Philosophos aevi prisci, ad quem in Elenchis Sophisticis respexit Aristoteles, & cujus simulacrum aliquod deprehendere licet in Dialogis Platonicis. 9. Hodiernum qualem in orbe Latino Christiano introduxerunt Scholastici, & ad nostram usque memoriam propagarunt […] 10. Inter vetustum ac hodiernum id maximè interest, quòd olim Graeci vix aliter, quàm continuis interrogatiunculis, quibus alterius partis responsiones elicerentur, disputarent. Nos loco talium Interrogationum Syllogismos formales substituimus, substituere certè, si accuratè disserere velimus, debemus. See also Wendeler, Breves observationes (fn. 5), p. 21, and Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 8. Jennifer Ashworth finds a method of disputation in Clichtove called disputatio doctrinalis that is similar in general structure to the modern way of disputing described in the handbooks. See Jennifer Ashworth, Renaissance Man as Logician. Josse Clichtove. 1473–1543, in: History and Philosophy of Logic 7 (1986), pp. 15–29. For contrasts between the modern way, the medieval obligatio and the medieval quaestio, see Felipe, Ars Disputandi (fn. 2), pp. 7–16.
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theses. The possible objects or questions of disputation are also limited by certain conditions, which include the requirement that theses concern a matter of doubt or controversy.10 Finally, the aims of disputation find fairly uniform treatment in the handbooks: the pedagogical value of disputation is acknowledged in its aim of providing mental exercise and training, but the investigation of truth is emphasized, either directly or indirectly, as the highest aim of disputation.11 As mentioned above, the traits said to distinguish the old, questionway of disputing are the use of continuous questions and the lack of syllogisms.12 Felwinger, along with Piccart and J. Thomasius, notes these two 10 Aristotle states at Topica 1,10 that dialectical problems concern matters of controversy and cannot be about things that are obviously true or false. This requirement for proposed topics of disputation is picked up very early in the medieval tradition and is commonplace in later scholastic sources as well. 11 The investigation of truth as an aim of disputation in the German handbooks deserves its own study. A few points may be noted here. This aim of disputation as understood by the handbook writers falls far short of scientific applications of disputation in the medieval quaestio tradition, which involves elaborate construction and evaluation of arguments pro et contra and a final determination by a school master. In the Wittenberg-Altdorf handbooks I have yet to find commentary on procedures for a determinatio analogous to medieval practices; the conditions under which a party wins a disputation are also left without direct commentary. Also, as will be shown, jurisprudential analogies are used in the early Neuzeit handbooks to frame the duties of the Opponent and Respondent as well as to characterize the status of the thesis, which, to my knowledge, are entirely foreign to medieval disputation. As Horn point outs, it is certainly doubtful that school disputation achieved much in the way of discovery of new truths: see Horn, Die Disputationen (fn. 2), pp. 4–6. The investigation of truth must be understood as an ideal that influences rules, strategies, pedagogy and the way many handbook writers generally view disputation. Certain rules such as the rule that the Opponent’s arguments must be syllogistic are justified by appealing to the ideal of truth. Practices are viewed as laudable or condemnable with this ideal in mind. Learning objectives such as the development of memory and of logical and rhetorical abilities are aligned with the grand aim of distinguishing the true from the false. Finally, values and character traits such as honesty, piety and zeal for the truth are considered essential to good disputation both as constraints on sophistry and contentious practice and as guides in an interactive, self-directed hunt for truth. 12 The requirement that the Opponent use syllogisms raises several issues central to 17th century disputation theory. These issues include objections of anti-Aristotelian theologians who, citing the lack of syllogisms in scripture, challenge whether syllogistic reasoning is adequate to capture the meaning of religious discourse. Responses to these challenges lead to debate of whether or not religion should be subjected to dispute and to theoretical reflection on the adequacy of syllogisms in reasoning about and justifying theological truth. Dispute about such questions provides the background for the appearance of a third way of disputing, in addition to syllogisms and questions, that is called disputation »by dialogues« in the later handbook of the pietist Lange at Halle: see Lange, Genuina methodus (fn. 1), p. 9. The debate about the adequacy of the syllogism in the early 17th century will also lay the groundwork for later objections by reformers like Christian Thomasius, who argues, among other things, that the disputation by syllogism is less effective than question-and-
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differences.13 Curiously, in the handbooks of Martini and Scharf the only trait said to distinguish the way of the ancients is that these always used questions.14 The origins of this distinction are difficult to trace. Humanist educational reforms in the 16th century unquestionably play some role in laying the groundwork for theoretical contrasts between modern and ancient disputation. But precisely when and under what conditions these comparisons emerge is unclear. Also, despite the distinctive traits of the ancient way and the examples noted in Piccart and J. Thomasius, clear-cut contrasts are not always easy to draw. The Opponent is allowed interrogative moves, albeit only minor ones, in the handbook of J. Martini.15 And in at least two important 16th century sources, Fonseca’s ›Institutiones dialecticae‹ and Goclenius’ disputation manual ›De ratione disputandi‹, questioning is acknowledged as a legitimate and sometimes desirable way for an Opponent to attack the Respondent’s position. An examination of how question-and-answer disputation is incorporated into the rules and strategies in Fonseca and Goclenius provides important background for the 17th century handbooks. In the brief tract in his ›Institutiones dialecticae‹ Fonseca appears close to drawing the same distinction we find in Piccart: two ›forms of conflict‹ in disputation are distinguished, one in which the Opponent offers arguments of his own making without asking questions in that he produces syllogisms, and another in which the Opponent obtains material for arguments by eliciting responses from the Respondent.16 The later ›form‹ or ›ra-
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answer disputation in developing abilities of students to solve practical problems. Finally, the Wittenberg-Altdorf handbooks are careful to distinguish between written disputations, in which the requirement that arguments are stated as syllogisms does not apply, and oral disputations. These differences between written and verbal media raise important questions regarding pedagogy and the relationships between written and oral disputation that also deserve study in their own right. Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 8: Respondens est, qui de thesibus vel à se propositis, vel ex conventione electis respondet, easque propugnat, pro viribus defendit, & adversarii objectionibus vindicat. Opponens est, qui propositas theses, & ad objectiones, datas responsiones oppugnat & excipit. Ab Aristotele vocatur Interrogans, à Veterum disputandi modo, qui à nostro haud parùm discrepat. Veteres enim non syllogismis, ut hodie fit, uti solebant, sed solùm quaestionibus agebant. Martini, Paedia (fn. 1), p. 728: Alter opponens propositas theses & sententiam praesidis ac Respondentis oppugnat, ab Aristotele vocatur Interrogans propterea, quod apud veteres usitatum fuit, ut quae quibusque oppugnarent, semper interrogarent. Scharf, Processus (fn. 1), p. 221. Martini, Paedia (fn. 1), p. 735. Pedro Fonseca, Institutiones dialecticae, Lisbon 1564 (ed. Joaquim Ferreira Gomes 1964), pp. 318–9: Duae sunt igitur, ut diximus, confligendi cum altero rationes ac formae. Altera, cum nostris sumptionibus confisi, adversarium sine ulla interrogatione invadimus: quae ut gravior
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tio‹ is said to be the only formula used by the ancients, rarely heard today, whereas the prior form of conflict ›resounds in all school disputes‹. The latter form of conflict is said to be more basic and secure (tuta), whereas the former is more burdensome and less secure. The reason arguing without questions is less secure can be gathered from the context: if the Respondent denies a premise in the Opponent’s argument, the Opponent will be required to prove, which may be difficult to do, whereas if the Opponent proceeds with questions, the Opponent can ask other questions until the appropriate admissions are obtained in order to build an argument, even if the Respondent will not concede a question.17 These kinds of comments, along with the fact that Fonseca’s entire tract is devoted to explaining strategies for arguing with questions and for responding to them, reveal a clear preference for disputing with questions and answers. The influence of Fonseca’s recommendations on disputation in the schools, both Jesuit and Protestant, deserves further investigation. As far as the German handbooks are concerned Fonseca’s emphasis on the questioning ›form of conflict‹ appears quite radical, since the handbooks generally either disregard, prohibit, or provide only very limited treatment of interrogative moves for the Opponent. On the other hand, allowing questioning as a way to secure premises, as well shall see, is not inherently inconsistent with treatments in the handbooks, as long as the arguments in their final form constitute syllogisms that allow for an evaluation of the form of the argument. Goclenius, like Fonseca, describes interrogative moves as an option available to the Opponent in order to secure premises for an argument against a thesis. However, Goclenius’ tract differs from Fonseca’s insofar as the strategies for asking questions are mentioned only briefly among many other strategies available to the Opponent.18 Goclenius also makes no comment or suggestion to the effect that proceeding using questions is in any way preferable, and he clearly articulates, in terms resembling those found in later handbooks, the Opponent’s duty to make objections in the form of syllogisms.19
est, & constantior, sic minus tuta. Altera cum ex responsione alterius elicimus argumentationis materiam: quae ratio communior est, & vulgarior, ac multo etiam tutior. Sed haec posterior, quae apud veteres sola fere habetur disputandi formula, ut apud Platonem, & Aristotelem cernere [sic!] est, hodie raro auditur, priorem scolis omnibus assidue resonantibus. 17 Fonseca, Institutiones dialecticae (fn. 16), p. 318. 18 Rudolph Goclenius, De legitima disputandi ratione, in: Rudolph Snellius, Commentarius doctissimus in dialecticam Petri Rami, Herborn 1587 [VD16 S6818], pp. 114–115. 19 Goclenius, De legitima disputandi ratione (fn. 18), p. 112: Opponentis munus est, arma sua ac [sic!] concertationem rite aptare, hoc est, objectiones formis syllogisticis illigare.
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In the ›Paedia‹ J. Martini both distinguishes the ancient way of disputing, which always uses questions, from modern disputation, and he allows the Opponent interrogative moves similar to what is provided for in the ›Institutiones dialecticae‹.20 These ways of treating question-and-answer disputation can be understood against the backdrop of Piccart’s disputation and the earlier 16th century sources. The distinction in Piccart is originally developed in accounting for Aristotle’s definition of ›dialectical proposition‹, whose genus is identified in Aristotle as HÝUYWKVLZ, ›questioning‹.21 Piccart is concerned with making a broad distinction between current dialectical practices that investigate opinions using syllogisms from the ancient way of interrogative inquiry; in this general historical distinction Piccart identifies questioning as essential to dialectical investigation in a variety of Greek and Roman sources, including Aristotle, Plato, Lucian and Seneca.22 The commentary is developed as a way of distinguishing dialectical practices in ancient sources in general from the contemporary practices. These broad historical concerns are not evident in Fonseca or Goclenius, although Fonseca does briefly refer to the historical basis of his recommendations. Still, neither Fonseca nor Goclenius is interested in the history of disputation by questioning, but instead in specific rules and strategies to be used by the Opponent. These rules and strategies are adopted directly from a single ancient source, the Aristotelian ›Topics‹. The incorporation of some interrogative moves into the repertoire of the Opponent does not entail the wholesale resurrection of the ancient way of disputing, which, according to both Fonseca and Piccart, would involve interrogations as the only means of inquiry. Thus it is not so surprising in this context that J. Martini tersely sets apart the ancient way of disputing while introducing specific interrogative strategies for the Opponent. As noted earlier, the lack of syllogisms first mentioned in Piccart appears in the handbooks of Felwinger and J. Thomasius as the essential 20 See fn. 14. Also, see Martini, Paedia (fn. 1), p. 735. 21 The relevant portion of Piccart’s disputation is reproduced here in full. See Piccart, in Philosophia Altdorphia (fn. 7), p. 235: Thesis XVIII: In qua definitione Propositionis Genus etiam est HÝUYWKVLZ. Neque enim veteres Syllogismis, sicut nos hodie, Problemata excutiebant, sed puris interrogationibus, quae tamen fundamento Syllogistico inter se connexae nitebantur: quae res mire Respondentes exercebat, ut acutissime prospicerent, quo res tandem casura esset. Unde apparet quanto melior sit disputantium hodie ratio, qui interrogationes omnes tanquam captiosas defugiunt, & syllogistice secum agi volunt. Thesis XIX: Hinc Plato in Cratylo Dialecticum definit scientem interrogare & respondere, & Seneca Syllogismos vocat Interrogationes. Lucianus etiam salse quendam irridens tractorem seu Philosophastrum, qui historiam scribere aggressus omnia Syllogismis intexuerat, aperte voce Syllogismi utitur pro interrogatione. Aristotele denique, & Interpretibus Dialectica est ars HÝUYWKPDWLNK. 22 See fn. 21.
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means of distinguishing the old from the modern ways of disputing. Felwinger’s quick dismissal of the way of the ancients certainly implies criticism. And in J. Thomasius we find some degree of argument for the superiority of the modern way of disputing revolving around the syllogism distinction. Thomasius argues that the modern way of disputing is superior because syllogisms allow for more ›accurate discourse‹.23 This claim obliquely refers to well-known justifications for the rule that the Opponent argue via syllogism that link it to the investigation of truth as one purpose of disputation. It is held that explicit syllogisms allow for a clear evaluation of inference, i.e. of the formal consequence relation between the premises and the conclusion in the Opponent’s argument. Arguments that defeat the thesis of the Respondent must have true premises, referred to as the matter of argument, and good form. Examining the matter without any consideration of form leaves the door open to fruitless disputation, since a formally invalid argument may have true premises but a false conclusion. Hence, procedurally, evaluation of form is not only necessary, but must occur before an evaluation of the truth or falsity of premises.24 The criticism J. Thomasius implies here is that question-and-answer disputation, according to the custom of the ancients, lacks procedural guarantees ensuring the validity of the Opponent’s argument and hence allows for »inaccurate« discourse. But not all commentary on the ancient way of disputing in these scholastic sources is negative. Piccart praises the ancient way for its achievement of investigating problems through pure question-and-answer disputation with an implicit »syllogistic foundation«, which wondrously (mire) tests Respondents. In later sources this text gains some recognition. It is cited in a dissertation by Treuner, published in 1688, which argues that the ancient way of interrogating should be resurrected and used in the schools.25 It is also mentioned in Schneider (1718) as an unusual admission by an earlier scholastic who, although fond of syllogisms, cannot conceal the merits of disputation by questions.26 23 See fn. 8. 24 These rules are common throughout the handbooks. Here are Martini’s comments in Paedia (fn. 1), p. 327: Neque enim materia syllogistica judicari sine forma potest; forma contra etiam neglecta materia, & plane nullo ad eam habito respectu, ac nulla de ea consideratione instituta, quit constitui, cum ex falsis praemissis verum elici & colligi multis modis posse, doceat ac demonstret noster Philosophus. 25 M. Johann Philipp Treuner (Pr.) / Johannes Chistophorus Kiesewetter (Resp.), Antiquum interrogandi modum ad mentem Platonis & Aristotelis […] commendat […] Respondens Joannes Christophorus Kiesewetter, Jena 1688 [VD17 12:145029A], § XX. 26 Schneider, Tractatus logicus singularis (fn. 1), pp. 85–86.
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This minor comment by Piccart, which receives no attention in handbooks before Schneider, is amplified in later sources for good reason. In praising the way of the ancients it focuses on the admirable outcomes achieved in the absence of theoretical knowledge of logic. From the point of view of the handbook tradition, not only does the old way lack the requisite procedural steps and theory to identify and evaluate argument form, but participants themselves lack knowledge of the rules of logic and the ability to construct and evaluate the form of syllogisms; this later trait is counted among the virtutes disputandi required of all students. Thus it should appear wondrous that Socrates, for instance, could put together complex arguments with a syllogistic foundation from responses to questions, leading interlocutors to admissions of inconsistency and ignorance, without the assistance of logical theory or the virtue of logical knowledge. This notion that the question method can have remarkable and useful outcomes even while neglecting the theory of the syllogism serves as a cornerstone in challenges to scholastic disputation by later reformers, who call for the return of the methodus Socratica. Interest in the ancients’ way of questioning intensifies and undergoes a transformation in the later 17th and early 18th centuries at the hands of Christian Thomasius. Thanks to the marvellous study of Hanspeter Marti a good deal is already known about how the younger Thomasius uses question-and-answer disputation. He takes Socrates and the Socratic method as paradigms in his efforts to reform educational practices at the University of Halle and promote a variety of Enlightenment ideals.27 A fine-grained investigation of the many important aspects of Socratic disputation in C. Thomasius noted by Marti cannot be initiated here. However, an outline of a couple of Marti’s observations considered in conjunction with Jean Le Clerc’s treatment of the Socratic method provides a useful backdrop for some general commentary on the history of question-and- answer disputation in the early Neuzeit. Marti has shown that, for C. Thomasius, structural differences between the Socratic method and traditional disputation practice serve as justification for the Socratic method as the preferred way to conduct viva voce disputations at Halle. The crucial differences concern the role of the Opponent and the aims to which disputation by questioning, conceived as a Socratic method, is suited. The elenchtic nature of Socratic dialogue aims not at the defence of theses under the auspices of the school authority and the Praeses, the superior Respondent, but at the contradiction of the asser27 See Marti, Kommunikationsnormen (fn. 2).
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tions of the Respondent. The Opponent and not the Respondent-Praeses is thereby granted the leading role in the dispute. Also, the burden on the Opponent in traditional disputation practice to produce syllogisms from acceptable premises that prove a thesis false is lifted, and the Opponent, as the elenchtic examiner of the Respondent, instead focuses on showing how the concessions of the Respondent imply contradictions. The questionand-answer structure of the dispute also carries logical and epistemological implications: the deductive, syllogistic argument required in traditional disputation is no longer emphasized as the most useful of method of inquiry. The formal logic of the syllogism, although not rejected as false, is argued to be inferior to other methods and tools of the ars ratiocinandi that aim to develop abilities of judgement, perception and practical reasoning. The Remonstrant theologian Le Clerc, who also admired John Locke, provides commentary on the Socratic method in a minor tract of eleven pages in his ›Logica sive ars ratiocinandi‹. This is cited by many later sources, including the handbook of Schneider, as an important source on Socratic disputation.28 Le Clerc, like C. Thomasius, champions the Socratic method, abstracted from the examples of Platonic dialogues, as a vehicle for refutation of scholastic doctrines. The method is said to constitute an art that aims to elucidate the truth by exposing ignorance through contradiction. The outline of the art is limited to three general rules that inform the Questioner about how to proceed and an example of a refutation of a Thomist on the efficacy of divine providence, but it gives little instruction on how to actually conduct a Socratic dialogue. The treatments of Socratic disputation in Le Clerc and C. Thomasius converge on several points: the elenchtic examination of scholastic authorities, the leading role of the Opponent or Questioner (who is the only party of concern in Le Clerc’s brief commentary on rules and strategies) and the rejection of syllogisms. These are held to be the most useful tools in question-and-answer dialogue. Both Le Clerc and C. Thomasius come to endorse an empiricist epistemology and a conceptualization of logic as ars ratiocinandi in the tradition of Port Royal.
28 Jean Le Clerc, Logica sive ars ratiocinandi, in: Opera philosophica, Vol. 1, Amsterdam 1704, pp. 231–241; Schneider, Tractatus logicus singularis (fn. 1), p. 87.
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Concluding remarks on question-and-answer disputation in the early Neuzeit With regard to the distinction between the old and the modern way of disputing drawn in the disputation by Piccart and a handful of mid-17th century handbooks, one should be mindful to distinguish between interrogative moves allowed to the Opponent in some late 16th and early 17th century sources, borrowed from Top. 8, and the broad identification of the ancient way of disputing by questions that appears in Piccart. German scholastics before C. Thomasius tend to view ancient disputation by questions as involving question-and-answer dialogue that employs interrogation as the exclusive means of inquiry but without the use of explicit syllogisms. This way of characterizing ancient disputation certainly brings to mind the Platonic dialogues and the Socratic elenchus, but Piccart and J. Thomasius do not identify this method of disputing with Socrates alone, but with prevailing dialectical customs that apply to a variety of sources. The use of Socrates and the Platonic dialogues by C. Thomasius and Le Clerc in their efforts to construct an alternative method of disputation better adapted to the logic of the ars ratiocinandi and to sceptical inquiry, i.e. the methodus Socratica, involves narrowing the focus of the conception of ancient disputation in earlier scholars.
II. Johann Felwinger, Brevis commentatio de disputatione The ›Brevis commentatio‹ is first published in 1659 in Wittenberg thirty years after the first printing of Dannhauer’s ›Idea boni disputatoris‹.29 Felwinger’s treatment of disputation presents long lists of rules and strategies very much in manual style, and it lacks some of the depth and detail of other handbooks. It is also in many respects reliant on J. Martini’s ›Paedia‹. It is nonetheless a good place to begin our inquiry, since the extensive, concise lists of rules, strategies and duties for Opponent, Respondent, Praeses and audience are ideal for introducing the modern way of disputing. Felwinger begins his account using the Aristotelian four causes, which provides a theoretical model.30 The material cause is said to be the theses 29 For a nice biographical sketch of Felwinger’s career: Gino Roncaglia, Palaestra Rationis. Discussioni su natura della copula e modalità nella filosofia ›scolastica‹ tedesca del XVII secolo, Firenze 1996, pp. 65–70. 30 The use of the four causes as a model for description appears to have been an established technique in Lutheran circles dating back to at least Melancthon. See Lowell C. Green,
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or the subject matter of dispute.31 The common requirement that the subject of disputation be doubtful or controversial is treated in this account of the material cause. The efficient causes are the personae of Opponent, Respondent and Praeses.32 The final cause is the investigation of truth, although, of course, mental training and testing are also mentioned as aims.33 The majority of Felwinger’s little book (55 out of 125 pages) is devoted to discussion of the so-called form of disputation, construed as the act of disputation itself. This dimension of disputation is treated with long lists of rules, duties and strategies; some of these are common to Respondent and Opponent, whereas others are specific to Respondent, Opponent, Praeses or audience.34 The differences between rules, strategies and duties are never stated explicitly, but each group possesses certain distinctive general traits. The common and specific strategies of Respondent and Opponent stand out as blatant, sophistic disputation techniques designed to achieve victory at almost any cost. The rules and duties, both common and specific, on the other hand, provide guidelines for how to achieve correct and »laudable« disputation. In many cases strategies conflict with duties and rules, and Felwinger does little to explain the puzzles that arise, only remarking that strategies might be used if one’s sole purpose is victory.35 For instance, common strategies include speaking quickly or in a long speech, using invalid arguments, and playing with ambiguities and equivocations in order to confuse one’s adversary, whereas general rules state that one should use clear, concise speech. As in other handbooks, Felwinger forcefully stresses the Opponent’s duty to state arguments in syllogistic form. The juxtaposition of these strategies and rules is a symptom of the wellknown conflict between what disputation should be and what it in many cases actually is. School disputation gains a well-deserved reputation for being contentious and quarrelsome.36 Felwinger himself acknowledges this problem in discussion of the final cause of disputation, where he notes that disputation about religion often degenerates into vicious shouting matches
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Melanchthon’s Relation to Scholasticism, in: Carl R. Trueman / R. S. Clark (Eds.), Protestant Scholasticism. Essays in Reassessment, Carlisle 1999, pp. 273–288. Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 8–10. Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 7–8. Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 79–81. Felwinger’s lists give students of disputation quite a number of things to digest: there are 33 praecepta and 44 strategemata common to both the Respondent and Opponent, 23 officia and 23 strategemata specific to the Opponent, 44 duties and 26 strategies for the Respondent, 14 rules and duties for the Praeses, and 9 duties for auditors. Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 23. Also see Roncaglia, Palaestra (fn. 29), pp. 32–33.
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that prompt some to say that theology should not be disputed.37 Felwinger, along with other handbook writers, including Dannhauer and Calov, explicitly mentions the aim of remedying belligerent practices by teaching and reinforcing proper norms of disputation, particularly in theological disputes. It seems, however, that given the realities of school disputation Felwinger deems it fitting to teach the norms of honourable conduct as well as to arm students with the tools of the sophist. The common rules have to do with general requirements that should be satisfied by both participants. The disputants should have certain moral and intellectual qualities like a good memory, love of piety and modesty. Certain common subject matter such as the rules of logic, topical rules, well-known arguments and views on important issues should also be known by disputants.38 Disputants should also cooperate with one another in the initial stages of dispute in order to clarify the issue of the dispute, a practice known as stating the status controversiae, and to agree on those principles held to be indisputable. Little else is said about this process, which suggests that a set of hypothetically necessary propositions may be negotiated prior to a dispute, which builds common ground between disputants. Dannhauer and Calov say more about this in their respective discussions of disputation ad personam and of principles NDWDWL; these will be treated later in the paper.39 Certain specific duties of the Opponent and Respondent constitute a procedural framework that must remain more or less intact in order to achieve a laudable disputation. The Opponent is obliged to present an invitation to the audience, Respondent and Praeses, to form objections in syllogistic form and to provide counter-arguments following responses.40 The Respondent, on the other hand, is obligated to propose theses, to »assume« the argument, which entails accurately repeating the argument and making sure that the argument is in syllogistic form, and to respond using some traditional response moves, such as concedo, nego or concedo totum argumentum, that is, using the claim that the Opponent has argued ignora37 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 77: Quod cum verum sit de omni Vero: audiendi minimè erunt illi, qui docent, in Theologicis disputari non debere, quod ex iis oriantur diversae partes, quibus diversi adhaerent, atque sic mutuis erga se pugnis stimulati, diversa judicia, odia, convitia & calumniae nascuntur, quae intestino bello nonnunquam haud exiguam praebant occasionem […]. 38 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 16–23. These sorts of character traits, skills and knowledge are sometimes referred to in the handbooks as the virtutes disputandi. 39 See Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), pp. 94–95; Calov, De methodo (fn. 5), pp. 793–794. 40 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 29–30.
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tione elenchi.41 Again, the general procedural framework of the disputation is built upon the principle that the Opponent has the burden of proving the antithesis by producing arguments, whereas the Respondent is only obliged to solve the Opponent’s argument. In formulating rules and strategies for responding and opposing Felwinger and other sources confront a major problem in the procedural framework of disputation: the ideal of the Opponent arguing and Respondent defending is subject to mutation in practice due to shifts in the burden of proof from Opponent to Respondent. The conditions under which burden of proof may change are diverse. The Respondent may move beyond the role of responding and give a counter argument to which the Opponent has the right to respond. Also, Felwinger and other sources accept as a rule of proof affirmanti incumbit probatio, a rule borrowed from Roman law, that is sometimes strategically employed to get the Respondent to accept burden of proof; this may be achieved by an Opponent’s demand that the Respondent give a proof of an assertion. Felwinger tries to manage onus probandi by laying down certain rules for responding that minimize the risk of mutating the ideal structure of the disputation. The following general rules of thumb for responding are provided for the Respondent: a false proposition should be denied with a justification (ratio); a proposition that is not manifestly false should be denied, and a proof should be requested from the Opponent. In this case the Opponent has the burden of proof, and the Respondent needs only to deny if he wishes to proceed ›rigorously‹; an ambiguous proposition should be distinguished; the Respondent should demand that the Opponent prove any proposition that is not ›probable‹ (probabilis) or ›apparently true‹ (verisimilis) and not allow him to escape.42
41 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 44–48. 42 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 51–52: Si directe, num propositio aliqua sit falsa, an obscura, an ambigua, an probabilis, an improbabilis. (17) Si manifeste falsa, neget, subjecta negationis ratione [...]. Vel si non manifesto falsa, ejus probationem ab Opponente petat. (18) Quod si vero Opponens vel non possit vel nolit praemissas probare, si respondens rigorose agere velit, non tenetur respondere; vel suffecerit etiam officio suo si simpliciter negaverit. (19) Si obscura, petat itidem ejus vel probationem vel explicationem. (20) Si ambigua, non categorice respondeat, sed ambiguitatem evolvat, & tum distincte respondeat, vel ex Grammaticis, vel phrasi loquendi, vel illa disciplina, ad quam objectio spectat. (21) Quod si vero ambiguitas nobis non statim apparet, quod facile fieri potest, & a nobis responsum in hac significatione, quam putamus esse propriam, Opponens vero contra illam excipiat, & aliud adferat, Respondens vadimonium deserere non debet, sed dicere, se vocabulum sive rem in hac significatione accepisse, contra quam allatum argumentum directum ita esse non possit. (22) Si non probabilis, aut verisimilis urgeat respondens opponentem ut eam probet, seque nullo modo ab eo abduci sinat.
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These rules are drawn up so as to limit the liabilities of the Respondent’s burden of proof. Only when a proposition is obviously false should a Respondent attach a justification to a denial. Asserting a justification with a denial provides grounds for a shift in the burden of proof by affirmanti incumbit probatio. However, Felwinger advises attaching a justification only when the proposition is obviously false, since in such a situation the Opponent would naturally retain the burden of proving something that is obviously false. In cases where a slight doubt exists about the falsity of the Opponent’s claim, for instance if the claim is not manifestly false or apparently true, Felwinger advises the Respondent to deny and demand proof. Although this kind of behaviour may on the surface appear a bit unreasonable, particularly in cases where the Opponent’s claim is apparently true, Felwinger says that this is all that is required of a Respondent disputing ›rigorously‹.43 The introduction of affirmanti incumbit probatio complicates disputation in many ways and introduces elements of post-medieval legal theory into the theory and practice of early Neuzeit disputation. The impact of this rule on disputation practices and other relationships between disputation and post-medieval legal theory deserve a separate study. Felwinger shows concern about two particular strategies that, he claims, abuse affirmanti incumbit probatio. The Opponent, he says, may deny manifest principles in arguments or use ›negative hypotheses‹ as ploys to get the Respondent to argue or assert. In the first case the Respondent should reject the denial as a violation of contra negantem principia non est disputandum. In the latter case the Respondent should say that the denials have the force of affirmations, which can be highlighted by the Respondent if he denies obliquely with statements like, ›I do not concede your hypothesis‹ or ›Your negative hypothesis is false so prove it‹.44 Following this terse treatment of affirmanti incumbit probatio a very strict rule is given to enforce the Respondent’s privileged position: it is sufficient that the Respondent give a solution to the argument that is ›pos43 Schneider curiously rejects this rule and demands that the Respondent provide a ratio for a denial of something that is apparently true, which, of course, softens the privileges and advantages of the Respondent. See Schneider, Tractatus logicus singularis (fn. 1), p. 175. 44 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 56: Interdum Opponens abutitur regula illa vulgari: Affirmanti incumbit probatio: qui abusus contingit, quando opponens manifestissime nota & principia negat: vel quando negativam hypothesin suae argumentationis ponit, quae probatione indiget. Tum respondens urgeat opponentem, ut negationis suae rationem adferat: vel pentius [sic!] rejiciendus est, tanquam contra principia negans & disputans. Imo talis negativa positio habet tum vim affirmationis: quam oblique negare potest, ac dicere: non concedo hypothesin tuam: vel falsa est hypothesis tua negativa: probetur ergo.
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sible‹ or ›non-repugnant‹. This condition is satisfied if he shows that one of the premises in the Opponent’s argument is ›not necessarily true‹ and ›could be otherwise‹.45 The Opponent, on the other hand, in no way enjoys such a privilege but is strictly bound to prove the opposite of the Respondent’s thesis.46 These modalities are not explained further. Prima facie, the rule seems to saddle the Opponent with an excessively high standard of proof. If the Respondent proceeds rigorously and resists accepting onus probandi, the Opponent, it seems, would be required to produce an argument containing only ›necessary‹ premises, i.e. those immune to solutions that are ›possible‹ or ›non-repugnant‹, to win. But what kinds of premises cannot be otherwise? Is Felwinger referring merely to those propositions that are known to be true or also to those that are necessarily true? These questions are not clearly answered in the text. However, immediately following the statement of this strict rule Felwinger distances himself from an interpretation of the rule that allows the Respondent too much protection.47 The Respondent is obligated to contribute to the disputation in a number of traditional ways: he must concede what is true, deny what is false, distinguish what is ambiguous with legitimate distinctions, explain or demand that the Opponent explain what is obscure and remove what is impertinent. The placement of this text strongly suggests that the Respondent is obligated to concede all propositions known to be true regardless of their necessity. This is an old, traditional rule of disputation that Felwinger surely accepts. Felwinger’s strong statement of the Respondent’s obligations can be accounted for by the adversarial nature of disputation and the need for mechanisms to resolve potential deadlock in which the Opponent asserts and the Respondent denies. Even if one accepts the rule that the Respondent concede any proposition known to be true, dispute may arise about whether or not a proposition is known to be true. Felwinger’s strategy for handling situations like these in the ›Brevis commentatio‹ is merely to assert the standard rule that the Respondent concede what is true while em45 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), pp. 56–57: Sufficit etiam Respondenti ad argumenti solutionem adferre id, quod possibile est, seu, ut Aristoteles I. Top. c. I. loquitur: quod non repugnat. Sufficit nempè illi, ostendisse id, quod in argumento ponitur, necessariò verum non esse, sed aliter se habere posse, quod abundè praestat, si ostendit aliquam in argumento propositionem non necessariò veram esse, cum ex eo, quod una praemissarum aliter se habere possit, sponte sua sequatur, etiam conclusionem aliter se habere posse. 46 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 57: Hoc privilegio Opponentem nullatenus gaudere, utpotè qui conclusionem suam, quam Respondentis thesi vult oppositam, aliter se habere, tenetur ostendere. 47 Felwinger, Brevis commentatio (fn. 5), p. 57.
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phasizing the high standard of proof to which the Opponent is held. But in a few other handbooks, including those of Dannhauer and Calov, more detailed commentary provides frameworks for distinguishing claims that must be conceded by the Respondent; this commentary revolves around criteria for the identification of principia and the application of the wellknown covering rule, contra negantem principia non est disputandum.
III. Johann Conrad Dannhauer, Idea boni disputatoris Dannhauer’s handbook (see Pic. 1) appears to have been quite influential. It is cited by numerous later sources and was certainly well known to writers like Felwinger and Calov. Dannhauer himself was Felwinger’s professor for a time at Wittenberg, although the works of these two scholars differ considerably in style and approach. Felwinger’s text is terse and formulaic, and is obviously written by a thinker who is attentive to details and concerned about clearly spelling out rules for students. Dannhauer, on the other hand, writes in a more fluid style occasionally citing Cicero and post-medieval jurists. Although the handbook is clearly intended for school consumption, it also aspires to be something more, as it contains considerable theoretical commentary and reflection on a variety of topics including principia of disputation and onus probandi, which are our concerns here. Dannhauer develops analogies between legal rules and disputation to justify the Respondent’s immunity from onus probandi and to clarify the troublesome rule affirmanti incumbit probatio. Analogies are drawn between the thesis and a legal presumption as well as between the role of the Respondent and a defendant in court. The Respondent is said to be ›in some way in possession of the truth‹ and exempt from the burden of proof by presumption in the same way as the defendant in court.48 This way of characterizing the thesis and the Respondent’s role in disputation is picked up by Calov and Schneider.49 Calov says that the Respondent is in a position analogous to that of a criminal in a trail. In a criminal case the prosecution has the burden of proving more than that it merely could be that
48 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), pp. 98–99: Is tenetur probare qui non per praesumtionem ab hoc munere exemptus est, cum partes Respondentis, sicut in foro rei, semper magis sint favorabiles, & ipse quodammodo sit in possessione veritatis, nec praesumtio sit quicquam permissum fuisse ab eo defendi, quod absurdum sit aut falsum, ideo Respondens de jure nunquam tenetur probare. 49 Schneider, Tratatus logicus singularis (fn. 1), p. 57.
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the defendant is guilty; the prosecution must prove that ›it really is true‹.50 The defendant, on the other hand, need only show that the prosecution has not proved the case. The same holds true of disputation; the Opponent has burden of proof and the Respondent is merely required to solve the Opponent’s arguments showing that things ›could be otherwise‹. These legal analogies furnish a model within which the roles of Opponent and Respondent and the status of the thesis can be interpreted. The analogies also clarify somewhat the role of principia in disputation and the standard of proof to which the Opponent will be held. The Respondent’s thesis, according to Dannhauer, is to be considered in some way a presumption that must be overthrown Pic. 1: Johann Conrad Dannhauer, Idea boni disputatoris, Straßburg: Wilhelm Christian by proof. A legal presumption is Glaser 1629, title page. overcome by meeting a certain [VD17 39:133429L, Forschungsbibliothek standard of proof set by the court. Gotha: Phil 8° 150/1 (3)]. In the American legal system, for instance, although presumptions favouring the defendant are in place in both criminal and civil cases, the standard of proof differs according to context: proof beyond reasonable doubt is required in criminal cases, and proof by preponderance of the evidence in civil cases. Felwinger and Calov both articulate a standard of proof that the Opponent should satisfy: the Opponent must show that the antithesis ›cannot be otherwise‹, unless the Respondent imprudently concedes premises or does something to shift the burden of proof. As we 50 Calov, De methodo (fn. 5), p. 508: Si quis alteri crimen intentet, non sufficit, si id tantum ostendat, posse fieri, ut verum sit, cujus alterum insimulat, sed probare tenetur, reverà rem ita se habere, nec aliter fieri posse, quin verum sit. Qui vero crimen illud diluit, sufficienter respondet, si ostendat nullum documentorum allatorum id efficere, quod actor probare nititur, nec ex ullo eorum necessariò inferri crimen, quod sibi impingatur: Eadem ratio est de disputatione.
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noted in Felwinger, the intention behind this standard is to set the standard high, requiring truth without demanding necessary truth. Dannhauer further stresses that the primary foundations for proofs against theses are principles that cannot be denied in a dispute: ›every disputation proceeds from some things that have already been conceded, otherwise it would be impossible, since in every argument there is a return to a principle which the other would not concede‹.51 But in legal contexts those things that are considered fundamental to a case, such as evidence or testimony, must receive sanction from rules and conventions of the court to be admissible and obtain force. For instance, in the American judicial system whether or not a piece of evidence is admissible in a case as well as the ways in which it may be presented to a jury are determined vis-à-vis a variety of rules weighing integrity, prejudicial value, probative value and whether or not the evidence is collected in a lawful fashion. Analogously, principles of the disputatio, those items that can serve as indisputable cornerstones of an argument, in some way obtain explicit or implicit sanction by school authorities and by the accepted rules and conventions for disputation. It is, of course, impossible to list in a disputation textbook all the principles applicable to any given disputation. The best that can be done to clarify what is, and what is not, a principle is to provide a few examples and general criteria for the kinds of things that can stand as principles. This is precisely what Dannhauer and Calov do. Dannhauer distinguishes two entirely different kinds of disputation whose principles must be determined in different ways: disputation ad rem and ad personam.52 Disputation ad rem must employ arguments from genuine and true principles.53 Disputation ad personam entails employing principles accepted by a certain person or those principles supporting a particular point of view. These may be false.54 51 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), pp. 50–51: Quoniam nemo cum alio in arenam progredi potest, nisi eodem principio cum ipso, quo cum congreditur, conveniat, quod omnis disputatio ex aliquibus concessis progrediatur, secus impossibilis futura, cum in omni argumento relapsus fieret ad principium, quod alter non concessurus esset, atque sic turbidè satis ac tumultuariè disputaretur, & veritas nunquam in lucem protrahi posset. 52 This distinction originates in Topica 8,5, where Aristotle introduces the idea of having a dispute against an Opponent who holds a certain point of view. 53 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), pp. 50–51: Ideo duplex disputandi genus necessarium est ad rem unum, quo disputatur ex principio genuino ac verè tali, esto quod ab aliis pro tali non agnoscatur, sicut nostri Theologi disputare solent ex Scriptura S. in suo nativo sensu explicatâ, quamvis hujus dignitatem haeretici eludant. Aliud ad hominem, quod est ex principio ab altero quô cum disputatur concesso, esto id principium saepe falsum sit, stat tamen pro principio, quia alter hoc nunquam est negaturus. 54 See fn. 53.
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The kind of disputation to be practised and the principles applicable in a dispute are to be settled in the status controversiae. A precondition to any dispute is also that participants know formal logic and how to evaluate formal consequences in argument; this, in most cases at least, is not negotiable in the status controversiae.55 Negotiable principles, therefore, primarily concern the matter of the dispute and not the form. To properly determine this material dimension of the status controversiae the principles and hypotheses of your adversary must be understood. Dannhauer advises going through a series of questions that seem to be tailored for dispute about biblical issues: ›What precisely and in detail are the events at that time? In what time? By what cause? By what arguments has some controversy been moved and stirred?‹ 56 Presumably disputation ad personam proceeds once a Respondent’s principles and hypotheses have been understood and conceded for the sake of disputation. But in theological disputation at least Dannhauer places some constraints on the kinds of principles a Respondent can accept; parties should proceed with understanding which entails faith in the bible and commitment to proper means of interpretation in search of the bible’s meaning.57 Dannhauer begins the treatment of genuine and true principles by saying that ›whoever should want to dispute against principles strives with weakness of thinking‹. ›What is understood‹ (quae intelliguntur) are either principles which are clear per se or conclusions drawn from principles; principles therefore ›radiate their own light‹ and their denials are affronts to the ›inner logos‹.58 Sophists, Dannhauer says, try to abuse the undeniability of principles by claiming some things to be principles that in fact 55 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), pp. 92–93: Aliter ad certamen accinctum esse opportet nostrum Disputatorem, postquam enim primò judicium de controversiis formale ex logicà (quae doceri prius quàm disputari debet) hauserunt. 56 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 93: secundâ navigatione ad materiam descendendum est, illam scilicet ex qua olim disputare velis […]. Deinde tui adversarii principia & hypotheses, status item controversiae probè sunt intelligendi: Historiae itidem ad unguem sciendae sunt, quae? quo tempore? quâ causâ? & quibus argumentis controversia aliqua mota & agitata fuerit? 57 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 95: Si in Theologicâ arenâ expectare hostem velis primò tibi legenda Biblia sunt fidei principium, ac per justa interpretationis media ejus sensus vestigandi. 58 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), pp. 32–33: Ý$UUYVWLDWRLTZ[sic!] GLDQRLDZ laborare, qui contra principia disputare vellet, ea vel evertendo vel in dubium frustra vocando, famosum in Philosophiâ proverbium est. Ut enim quae visui objiciuntur, vel sunt ipse Sol fons luminis, vel corpora illius splendore induta. Ita quae intelliguntur vel principia sunt per se lucida, ac DÝQDSRGHLNWD vel conclusiones ex principiis natae. Quod si igitur principia suâ & nativâ luce radiant, negari ORJRXHÍVYnunquam possunt.
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are conclusions and objects of controversy. Hence the rule contra negantem principia non est disputandum should be understood in a reduplicative sense, which adds ›if they are principles‹.59 Concern about the abuse of principles, which is evident in Felwinger and other authors, leads Dannhauer to try to formulate two criteria for distinguishing principles from non-principles. The first criterion Dannhauer proposes is merely a paraphrase from Anal. post. 1,2, that ›a principle is a most true proposition: it is the cause of the truth for all those things following from it‹.60 But Dannhauer’s account of this criterion ends here, leaving several questions unresolved. First, the language of the criterion is best suited to a characterization of principles of the special sciences, but Dannhauer’s account of principles includes many other kinds of propositions. Thus it seems necessary to understand this criterion as a sufficient condition for a principle and not as a necessary condition. Also, the sticky problem of the precise way in which a principle is the cause of the truth of conclusions drawn from it, which requires discussion of the difference between dialectical and demonstrative reasoning, is lacking in the handbook. This would not be disconcerting if Dannhauer admitted the inadequacy of the criterion and referred us to another work on demonstrative argumentation. But he does not do this. What is presented in the text appears instead to be intended as a rough-and-ready criterion for distinguishing principles from non-principles. The second criterion is that principles are ›most known insofar as no one cannot assent to it once the terms have been comprehended.‹ 61 This 59 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 33: Verum enimverò ut veritatis velum saepe sophistica induit, ita principiorum nomine saepe gloriatur, quod hoc nomine indignum est: quo in casu principium simul ac incipit dubitabile esse non principium est, sed conclusio, de quâ controversia esse potest adeóque disputatio. Semper igitur hujus axiomatis (contra negantem principia non est disputandum) sensus reduplicativus est, & subaudiri debet, si sint principia. 60 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 33: Ut autem liquidò constet, quae hoc nomen mereantur, quae secus? Notanda sunt haec NULWKULD 1. Principium est sententia verissima: est enim omnibus ex se fluentibus veritatis causa. 61 Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 33: 2. notissima, ut penetratis ejus terminis, nemo assensum ei negare possit, quod hoc ipso nihil sit SLVWRWHURQ NDL" JQYULPYWHURQ, l. I, post. anal. cap. 2. t. 17. [Analytica Posteriora 1,2; 72b1], GHLT JD"U SHUL" DÝU[YTQ K°NHLQ SURHSLVWDPHQRXZDÝOOD"PK"DÝNRXRQWDZ]KWHLTQ, l. g Metaph. cap. 3. t. 8 [Metaphysica 3,3; 1005b4f.]. Dico autem notissimum suppositis motivis seu rationibus assentiendi: nam principium cognoscendi vel physicum est, ob quàm homo non tàm assentit, quàm assentire potest, & vult: vel Logicum sive medium syllogisticum, quod assumitur ad faciendam fidem. In philosophiâ ratio assentiendi est vel contradictionis neceßitas, quâ dilemma alicui proponitur, aut assensum praebe aut statue idem simul esse & non posse, vel 2. objecti claritas & evidentia, quâ intellectus ita cogitur ut dissentire non possit, si maximè vellet, cum in naturalibus agentibus, quale intellectus est, positis omnibus ad agendum requisitis, non possit non sequi effectus. This
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vague characterization is fleshed out with a distinction between principles of knowing that are »physical« or »logical«. A logical principle of knowing is ›a syllogistic medium which is assumed to produce belief.‹ The principle of non-contradiction is produced as an example of a logical principle that forces assent, although presumably logical principles also force assent to the validity of any inference warranted by syllogistic rules. The treatment of physical principles of knowing is quickly picked up in a discussion of philosophical psychology. These principles are propositions whose truth is known on the ›clarity and evidence of the object‹. An Aristotelian theory of perception and cognition is outlined to justify this claim. The acting intellect is said to grasp ›the idea and exemplar of a phantasm‹ which imprints intelligible species.62 Dannhauer writes that the intellect cannot dissent to such principles after all the required sensations have been provided.63 The important philosophical question of why one should observe such principles in disputation receives a terse and disappointing reply: ›because if I didn’t believe I would divest myself of humanity or because the object so compels me by its own evidence‹.64 Dannhauer distinguishes between genuine justifications based on the clarity and evidence of the object and broad appeals to experience, and he stresses that all the requisite experiences must be attended to before a claim can be considered to be beyond dispute. However, the differences between an illegitimate appeal to experience and true, infallible apprehension of an idea are not discussed. Finally, the general theological principle to be followed is, from a Lutheran scholastic, only to be expected: ›whatever is affirmed by Sacred Scripture is without doubt true‹. The principle given appears to be a rather standard Protestant defence against a sceptic, and it contrasts with the principle of papal infallibility.65 Sacred Scripture is the word of God, known through itself. In the act of hearing God himself teaches and illuminates the heart, which leads to acceptance of faith. The context of these comments, however, locates the motives of faith, i.e. the divinely inspired
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second criterion does indeed appear to be Dannhauer’s interpretation of the second condition for the knowledge of a thing DÀSOYTZ at Anal. post. 1,2; 71b9–12. Dannhauer speaks of these principles in terms of ideas or intelligible species rather than propositions that express the content of those ideas and species. Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 34: Iam positis omnibus ad sentiendum requisitis sensus aberrare nequit, […] intellectus enim agens ad ideam & exemplar phantasmatis, quod habet obtutu, speciem imprimit intelligibilem, quae expressa deinde ex asse refert phantasma. Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 34: Quando igitur quaeritur, quâ de causâ huic principio assensum praebeam? respondebitur vel quia nisi crederem, hominem exuerem, vel quia ita me objectum suâ evidentiâ cogit. Dannhauer, Idea boni disputatoris (fn. 5), p. 34: adverso autem, quia principium Theologiae pontificae, ipsa etiam assentiendi ratio dubia est […].
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response to the hearing of Scripture, under the general rubric of the movements of the ›inner logos‹, which also accounts for the grasping of ideas in abstraction. The accounts of principles in the ›Idea boni disputatoris‹ make a wide variety of theoretical presuppositions in an attempt to provide a broad common ground for school disputation. An Aristotelian theory of perception and cognition is presupposed to justify the claim that things known by the clarity and evidence of the object are principles, but Dannhauer glosses over any treatment of the principles that would address how a party to a disputation should go about determining whether or not a proposition is in fact a principle. The general theological principle, i.e. appealing to divine inspiration, and the inner logos together certainly do not present clear-cut ways of handling the potential for disputes about theological and scientific principles. The criteria for principles offered in the ›Idea boni disputatoris‹ not only do not provide effective tools for distinguishing principles from non-principles, but ironically, they even paint a complex and confused picture of the doctrines held to serve as the epistemic foundation of school disputation.
IV. Abraham Calov, De methodo docendi & disputandi This youthful work of Calov is first published in 1637 when Calov was 25 years old (see Pic. 2). Despite Calov’s youth he manages to write an engaging handbook with involved discussion on many aspects of disputation. ›De methodo docendi & disputandi‹ is of interest here due to its substantial commentary on principles of disputation and the rule contra negantem principia non est disputandum. Calov distinguishes two different kinds of things that cannot be called into doubt in disputation: those things apprehended through the senses as manifestly true and those things apprehended by the intellect as manifestly true. ›Those things apprehended through the senses as manifestly true‹ are simply those things which are clear and obvious to anyone with functioning sense faculties. »Does the sun exist?« is given as an example of a question that cannot be denied without contradicting the principle.66 66 Calov, De methodo (fn. 5), p. 792: Quae manifestè vera sunt, in dubium vocari non debent. Manifestè vera heîc [sic!] dicimus, quae vel sensibus ipsis deprehenduntur, vel intelligentiâ apprehenduntur ab omnibus. Sunt ergo duplicis generis, 1. DLÝVMKWD, quae sensibus obvia sunt, & ab omnibus depredendi [sic!] possunt. Multa quidem sensus vera esse demonstrant, quae tamen paucis obvia sunt, unde saepè in disputationem veniunt, nonnunquam etiam dubitatur de sensuali perceptione, quum variis de causis falli possint sensus nostri. Quo circà notandum, ea tan-
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In further explaining this principle Calov more or less reproduces Dannhauer’s discussion of principles known by the clarity and evidence of the object: the reason why the senses do not err in some cases is because the acting intellect grasps the ›idea or exemplar of a phantasm‹. In these cases the intellect is affected in such a way that it cannot dissent, and hence ›to dispute against the senses is to divest oneself of humanity‹.67 Calov says nothing more and, like Dannhauer, he leaves us puzzled about precisely what cannot be denied on the basis of perception. The principle »what is obvious to everyone with functioning sense faculties« could be interpreted to be more broad than »what is grasped as true by the Pic. 2: Abraham Calov, De methodo docendi et disputandi, Rostock: Johann Hallervord acting intellect after all requisite 1637, title page. sense perceptions are provided«. [VD17 1:044580S, Staatsbibliothek zu BerIn his later work ›Gnostologia‹ lin – Preußischer Kulturbesitz: A 1806]. Calov identifies the latter with the abstraction and cognition of a universal liberated from individuating conditions.68 But it is certainly plausible that something still could be obviously true to everyone without cognition of a universal. Calov himself provides an example: it is obvious to everyone that the sun exists, but this does not imply that all those who assent to this have abstracted to the universal in forming their judgment.
tum excipienda esse disputationibus, quae omnium pene sensibus obvia sunt, praesertim eorum cum quibus & coram quibus instituitur disputatio; & quidem ita ut sensus non fallantur in objecto proprio debito modo occupati […]. Ita merito ridet Galenus lib. de opt. doc. gen. Favorinum disputantem an sit Sol? […]. Prius enim nemo non deprehendit. 67 Calov, De methodo (fn. 5), p. 792: Si a. sensus non erret, nec intellectus errabit: intellectus enim agens ad ideam, & exemplar phantasmatis, quod habet in obtutu, speciem imprimit intelligibilem […]. Ut autem contra sensum disputare est hominem exuere. 68 Calov, De methodo (fn. 5), p. 12.
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The second kind of thing that cannot be denied in disputation are ›those things perceived as manifestly true by the intellect‹. These are called QRKWD and are held to be principles and proper objects of the intellect.69 A further distinction is immediately drawn between principles DÀSOYTZ and principles NDWDWL.70 Principles DÀSOYTZ seem to be the same as QRKWD, whereas principles NDWDWL are distinct from strict QRKWD. Let us begin with the former. Principles NDWDWL are said to be either common or proper. Common principles are those accepted by all parties to the dispute. A disputant is not allowed to deny such a principle by the law of non-contradiction since ›he would presume to deny what he has already accepted‹. Proper principles NDWDWL are those that the disputant, presumably the Respondent, implicitly or explicitly uses in support of the thesis. These the Respondent cannot deny, because the Respondent is already committed to these principles. Proper principles NDWDWL seem to be more or less the same principles in a disputation ad personam. These principles need not be necessarily true, i.e. QRKWD or principles DÀSOYTZ in Calov’s terms, but are considered undeniable for a Respondent for purposes of disputation. Common principles are those considered hypothetically necessary based on the agreement of both parties to the dispute. In a later passage commentary and examples are provided: Calov says some laws of disputation are necessary by hypothesis or convention. So, for instance, if disputants agree to admit Aristotelian hypotheses without contradiction, neither party can call these hypotheses into doubt without engaging in sophistry. Or, if an evangelist and a papist agree to give definitive judgment to sacred scripture, the papist ›cannot flee from the evidence of the words‹.71 But Calov, like Dannhauer, seems to place constraints on the kinds of principles that can be negotiated between disputants. One general rule of disputation is that ›nothing should be engaged or admitted which does not
69 Calov, De methodo (fn. 5), p. 793: Manifestè vera sunt quaedam QRKWD, quae intellectu percipiuntur, qualia sunt principia, proprium intellectus objectum. Nam ut sensus fallere nesciunt in proprio objecto, si adsint omnia ad sentiendum requisita; ita quoque intellectus errare nequit in objecto proprio. 70 Calov, De methodo (fn. 5), p. 793: Contra negantem principia non est disputandum. Quod ut intelligatur, distinguendum inter principia DÀSOYTZ ita dicta & NDWDWL. Hujusmodi sunt hypotheses vel communes disputantium, vel propriae alicujus partis. Communes hypotheses si negatae fuerint ab alterutro disputantium, non est, quod alter contrà eundem disputet amplius, quandoquidem is ad contradictionem adactus sit: & proinde in isto quidem puncto magis convinci nequeat, quum hypotheses quas anteà admiserat, jam negare praesumat. 71 Calov, De methodo (fn. 5), pp. 825–826.
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either serve or promote the investigation of truth‹.72 In assuming principles for disputation one should not concede principles that are obviously doubtful. Doing so would render an entire disputation that depended on those principles fruitless. Again particular sensitivity is shown in theological contexts. Papists err, Calov claims, when they dispute ›from fictitious traditions or from the supposed writings of Church Fathers or from the authority of papist conciliators, or from the definitive opinion of the Pope.‹ In these disputations the papists perpetually commit petitio principii because ›they suppose their hypothesis is conceded when it is never conceded and never should be.‹73 1RKWD are distinguished into first principles (prima) and those drawn from principles (orta).74 Calov employs Dannhauerean language in characterizing first principles as ›most known principles to which no one can deny assent after the terms have been comprehended.‹ But in the very general account of the relationships between principles we find several distinctions outlining a hierarchical deductive structure which is not found in Dannhauer. The prime example of a first principle is the principle of non-contradiction, but complementing this exemplar of first principles are principles of metaphysics, some of which also serve as first principles. From first metaphysical principles other principles are deduced mediately and immediately. The principles of the other disciplines are conclusions deduced mediately from principles of metaphysics.75 So, Calov says, any72 Calov, De methodo (fn. 5), p. 822: Regula Specialissima II. Nihil in disputatione committendum vel admittendum, quod non inserviat, aut officiat investigationi veritatis. 73 Calov, De methodo (fn. 5), p. 829: Unde errant Papistae, quando nobiscum disputant ex traditionibus fictitiis, è Patrum supposititiis scriptis, è Conciliorum Papisticorum autoritate, è Papae sententiâ definitivâ, & decretis, & consensu Ecclesiae modernae Pontificiae […]. Proinde perpetuò ferè committunt petitionem principii in disputationibus suis Papistae, quod supponant hypothesin, nunquam concessam, nunquam concedendam. 74 Calov, De methodo (fn. 5), p. 794: Principia v. simpliciter ita dicta vel prima sunt, vel orta. Prima sunt adeò notißima, ut penetratis terminis nemo iis assensum denegare poßit […]. Quale est illud. Impossibile est idem simul esse & non esse. Quod qui negat poenâ dignus non refutatione. 75 Calov, De methodo (fn. 5), p. 794: Orta principia sunt, quae è primis deducuntur principiis sive mediatè, sive immediatè, ut sunt tùm conclusiones universalissimae, tùm speciales. Istae si in dubium vocentur, non nisi è primis principiis de veritate earundem convinci poterit adversarius. Ita qui Metaphysica effata impugnat, cum eo agendum ex Habitu intelligentiae. Specialiores autem conclusiones, quia mediatè tantùm dependent è primis principiis adferi [sic!] & defendi adhuc possunt è conclusionibus universalißimis, priusquam in subsidium vocentur prima principia, quae debent esse ultimum praesidium. Proinde qui statuta Physica, Pneumatica principia, Mathematica axiomata, Regulas Practicas in dubium vocare ausit, is refutari nequit ex hisce disciplinis, sed ad tribunal superioris disciplinae sistendum est, Metaphysicae nimirum, à quâ porrò non datur appellatio, nisi ad Habitum primorum principiorum. Hinc regula. Qui negat alicujus disciplinae, is ex eâdem convinci non potest, sed è superiori convincendus est.
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one ›who dares to call the statutes of physics, pneumatic principles, mathematical axioms and practical rules into doubt cannot be refuted from those disciplines, but instead must be brought to the tribunal of the superior discipline of metaphysics.‹ Finally he adopts the view that ›he who denies [a principle] of some discipline cannot be beaten from that discipline but must be beaten from a superior one.‹ The bold advice that someone who denies a principle of a science be brought before the tribunal of metaphysics seems contrary to the caution of Felwinger, who allows the Respondent to dismiss any disputant who denies a recognized principle. If the Respondent were to deny a premise that is a principle of a science, for instance, it would seem that the Opponent at least had the option of producing a proof. However, of course, the deduction of principles of various disciplines from the principles of metaphysics in viva voce disputation seems quite implausible. Calov can generally be said to show sensitivity to the justification of the foundations for the disputatio which in his view is ultimately provided by metaphysics. This grand, systematic dimension to Calov’s ›De methodo docendi et disputandi‹ distinguishes it as an unusual disputation handbook, one that harbours the ambition of solidly grounding school disputation in theoretical philosophy. Concluding remarks The examination of treatments of rules and principles in the handbooks of Felwinger, Dannhauer and Calov seems, on the one hand, to reveal those kinds of dogmatic and limiting conditions that one would expect from 17th century scholasticism. On the other hand, these glimpses into the handbooks show that 17th century scholastics engage a range of issues in the theory of disputation and dialogue in ways not previously seen in the history of logic. Theses issues include the application of jurisprudential analogies in formulating and debating rules of proof and their application in framing a dialogical structure for reasonable evaluation of doubtful issues. Furthermore, theoretical models and principles are developed which treat various disciplines, rhetoric and dialectic (however these notions are understood), logic, moral philosophy, theology and pedagogy, as aspects of the single art of ars diputandi, an art whose aims include not merely training and mental exercise, but also the pursuit of truth in action. In addition, although some of the principles recognized by these scholars may appear rigid and restrictive to us, the keen theoretical awareness of the need to find common ground in order to achieve effective, reasonable
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dialogue that is evident in the texts is unmistakable, and devices and rules for building common ground are elaborated with some sensitivity to context. Procedural rules are put in place to clarify hypothetical principles, to enable disputation from alternative viewpoints and to safeguard consistency of reasoning with whatever set of principles are agreed upon. The ars disputandi of the early Neuzeit appears as a living, baroque artefact that is ornate, flexible and original in some respects, but rigid and limiting in others. It contains devices that both protect privileged dogma and edify and enable participants’ minds through a highly critical, rational engagement with alternative points of view on matters of controversy, even on the disputatio itself.
Hanspeter Marti
Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert Das 18. Jahrhundert ist zwar im geflügelten Wort aus Schillers ›Räubern‹ als tintenklecksendes Säkulum in die Literaturgeschichte eingegangen,1 bis jetzt aber eher beiläufig in seinem Verhältnis zur mündlichen Rede und zur Schriftlichkeit betrachtet worden. Gegenstand der Literaturwissenschaft waren und sind zum Beispiel das Rezitieren von Gedichten, das Vorlesen überhaupt, das (Konkurrenz-)Verhältnis von Lesedrama und Theaterstück oder die fortschreitende Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten.2 Immer wieder, doch oft nur am Rande, kommt die Beziehung »Mündlichkeit – Schriftlichkeit« in der kaum noch überblickbaren Literatur zur Sozietätengeschichte, eingehender in bibliotheks- und buchgeschichtlichen Untersuchungen zur Sprache, in denen der massenhafte Anstieg der Buchproduktion im Allgemeinen und die Verlagerung auf profane, schöngeistige Literatur in den Nationalsprachen herausgehoben werden. Dagegen setzen sich Wissenschafts- und Universitätshistoriker generell selten mit 1
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Friedrich Schiller, Die Räuber, Stuttgart 1980 (Reclam, Universal-Bibliothek Nr. 15), 1. Akt, zweite Szene, S. 19, wo der Plutarchleser Karl Moor die heroen- und tatenlose Gegenwart beschimpft. Joh. Nikolaus Schneider, Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800, Göttingen 2004. Ders., »Still auf dem Blatt ruhte das Lied.« Lyrische Gedichte zwischen Lesetext und Hörerlebnis, in: Wolfgang Adam / Markus Fauser (Hg.), Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 135–148. Alfred Messerli, Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz, Tübingen 2002 (zur Alphabetisierung und schulischen Ausbildung im Allgemeinen; zu »Vorlese-Akten« im Besonderen, hier S. 441–464). Martin Ottmers, Lesedrama, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin / New York 2000, S. 404–406. Aufschlussreich in unserem Zusammenhang die wertkritische Feststellung im Artikel ›Buchdrama‹ bei Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 41964: »Der Begriff »Buchdrama« ist nicht abwertend, da der poetische Wert eines Stückes nicht von der Bühnenwirksamkeit abhängt; andererseits kann blendende Aufführungskunst über gehaltliche Schwächen hinwegtäuschen.« (S. 83). Auch auf das 16. und 17. Jahrhundert bezieht sich der Sammelband von Alfred Messerli und Roger Chartier (Hg.), Scripta volant, verba manent. Schriftkulturen in Europa zwischen 1500 und 1900. Les cultures de l’écrit en Europe entre 1500 et 1900, Basel 2007.
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dem angesprochenen Thema auseinander,3 obwohl es von ihnen, denkt man an die wechselvolle Geschichte von Vorlesung und Disputation sowie anderer Unterrichtsformen im 18. Jahrhundert, eingehend behandelt werden müsste. Auch aus einer disziplinübergreifenden Perspektive ist es von der Geschichtsschreibung zum 18. Jahrhundert bis jetzt kaum bearbeitet worden. Das mündliche Wort hat eine sehr kurze Lebensdauer, außer es werde, mit dem Risiko der Verzerrung, in das Medium der Schrift übersetzt oder in der unmittelbaren Ausdrucksform, dank dem Einsatz technischer Hilfsmittel, bewahrt. In der Regel kann das Verhältnis von Wort und Text, vor allem wenn eine lange Zeitspanne zwischen Rede und schriftlicher »Objektivation« liegt, nur aufgrund von Quellentexten, die diese Beziehung thematisieren, untersucht werden. Seitdem Dissertationen als Textvorlagen im Hinblick auf die disputatio gedruckt wurden, und dies war bereits einige Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks der Fall, nahm der Disputationsakt unter den veränderten Bedingungen der ihn begleitenden Textproduktion und -rezeption die Form eines komplexen Mit- und Nebeneinanders von Wort, Manuskript und/oder gedrucktem Text an. Das Zusammenspiel dieser drei Komponenten schlug sich in der frühneuzeitlichen disputatio in ganz verschiedenen Formen nieder. Die historisch markanteste Zäsur war, wie angedeutet, das Aufkommen gedruckter Dissertationen, eine weitere das Einsetzen der Reflexion auf das Verhältnis von Dissertation und Disputation im ausgehenden 17. Jahrhundert. Auch traditionsfeste Textsorten wie die akademischen Dissertationen unterliegen historischem Wandel. Es verändert sich die Struktur und, in unserem Fall, die Bedeutung der Texte als Bestandteile eines von mündlicher Rede geprägten Rituals. Mit dem Ritual ist der Disputationsakt gemeint,4 das akademische Streitgespräch als institutionalisierte Unterrichts- und Prüfungsform, in dem gewöhnlich unter dem Vorsitz des Prä3
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Ku-ming (Kevin) Chang, From Oral Disputation to Written Text: the Transformation of the Dissertation in Early Modern Europe, in: History of Universities XIX/2 (2004), S. 129–187. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 132, bezeichnet, in der Unterscheidung vom Zeremoniell, als Ritual »nur diejenigen durch symbolische Markierung dem Alltag enthobenen kommunikativen Handlungssequenzen, von denen eine spezifische soziale Transformationsleistung ausgeht.« Er denkt dabei an »Übergangsriten, die eine erhebliche gesellschaftliche Statusveränderung bewirken.« (ebd.). Ich fasse hier den Begriff weiter, sodass alle Schuldisputationen unter diesen fallen, nicht nur die Inaugural- sowie die Proloco-Disputationen, mit denen in der Regel tatsächlich eine Änderung des sozialen Status verbunden war. Hieraus ergeben sich fließende Übergänge zum Zeremoniell.
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ses der Respondent bestimmte Thesen gegen die Einwände von Opponenten, sei es im Kreis der Kommilitonen privatim, sei es öffentlich vor einem offiziell eingeladenen akademischen Publikum, zu verteidigen hatte.5 Die Disputationsteilnehmer übernahmen zu einem festgesetzten Zeitpunkt an einem herkömmlichen Ort eine bestimmte Rolle, die sie, Schauspielern ähnlich, am Ende des Anlasses, der sie zusammengeführt hatte, wieder ablegten. Die Dissertation war, wie andere frühneuzeitliche Textgattungen, primär eine Gelegenheitsschrift, in der, wie in einer Perioche, die Einladung zur Teilnahme an einer Veranstaltung ausgesprochen wurde. Dies geht schon aus den Titelblättern vor allem der Erstauflagen klar hervor.6 Die Ausrichtung der Dissertationen auf ein räumlich und zeitlich begrenztes Geschehen schien ihnen wie den anderen akademischen Kleinschriften, den Programmata, Reden und Vorlesungsverzeichnissen, nur eine kurze Aktualität zu garantieren. Doch deckte sich die okkasionelle Verwendung dieser Gebrauchstexte keineswegs mit der Erwartung der Autoren, zeitlose, gesicherte Wahrheiten zu vertreten, obwohl sie damit rechnen mussten, dass Wahrscheinlichkeitsargumente durch Einwände der Opponenten widerlegt, Historizität und Vergänglichkeit des Meinungswissens vielleicht unerwartet rasch aufgedeckt würden. In der Regel ging es in der disputatio aber um die Verteidigung ohnehin als feststehend erachteter, von allen oder den meisten gelehrten Personen anerkannter und daher aus einem Wissensfundus »abrufbarer« Wahrheiten. Deshalb gewinnt man in der Retrospektive oft genug den Eindruck, als hätten die frühneuzeitlichen Disputationen nur Erinnerungswissen vergegenwärtigt, gefestigt, kultiviert und konserviert. Anderseits ist das kritische und innovative Potenzial frühneuzeitlicher Dissertationen nicht zu unterschätzen,7 auch weil 5
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Zum Überblick und zur Einführung in das frühneuzeitliche Disputationswesen, außer Chang, From Oral Disputation (wie Anm. 3), Hanspeter Marti, Disputation, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 866–880; ders., Dissertation, ebd., Sp. 880–884. Ders., Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti, München u. a. 1982, Einleitung, insbes. S. 13–26. Ders., Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999, S. 207–232. In späteren Auflagen von Dissertationen fehlen oft die Einladungsdaten, manchmal auch die Respondentennamen. Kenneth G. Appold, Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710, Tübingen 2004, S. 140: »Zahlreiche eigene Interessen, Ansätze und Experimente kamen zur Sprache. Die wesentliche Eigenart der Disputation, sich ›disputable‹ Gegenstände vorzunehmen, sorgte stets dafür, dass immer neue Sachverhalte und immer neue Verbindungen zwischen alten Sachverhalten in den geistigen Austausch der Akademie hineingebracht wurden.«
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sie einen Meinungsstreit buchstäblich inszenierten8 und weil unter dem Schein der Fiktion unkonventionelle Meinungen vorgebracht und verteidigt werden konnten. Auch wurden bisweilen unter dem Vorsitz desselben Präses in kurz nacheinander folgenden Disputationen gegenteilige Auffassungen zum selben Thema verteidigt, wo also der Respondent in der späteren Dissertation die Position der Opponenten der früheren Disputation übernahm. Manch provokative Behauptung, vor allem in den oft in einem Anhang erscheinenden Corollaria, schlüpfte unbehelligt durch die nicht immer und überall gleich wachsame Zensur. Bisweilen bekämpften die Universitäten selbst, nicht selten die Theologen, tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen die richtige Lehre mit der Konfiskation der gedruckten Dissertationen oder mit einem Druckverbot.9 Die eben vorgelegte Skizze des Disputationswesens stellt einige sich gegenseitig relativierende Merkmale vor und sucht der Vielfalt des Gegenstands Rechnung zu tragen sowie einen ersten Eindruck von den Besonderheiten und der historischen Anpassungsfähigkeit der frühneuzeitlichen disputatio zu vermitteln. Alle Dissertationen, nicht nur die theologischen, in denen es den Autoren um die Verteidigung des wahren Glaubens ging, meldeten einen überzeitlichen Wahrheitsanspruch an, angesichts dessen Okkasionalität und personaler Bezug zur Lebenswelt zurücktraten. Trotzdem zählen die meisten akademischen Kleinschriften zum Kasualschrifttum, das in den letzten Jahrzehnten infolge des erweiterten Gattungs- und Autorenkanons der Germanistik auch literaturwissenschaftlich vermehrt Beachtung fand. Erinnert sei an das ›Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums‹, das zwar vor der Fülle des Materials kapitulieren musste und die in den frühneuzeitlichen Dissertationen enthaltenen Gratulationsadressen, meist
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Der Disputationsakt wird sogar einer Theateraufführung gleichgesetzt von Hartmann Möring, Palaestra disputandi architectonica, Minden: Johann Piler 1680 [VD17 7:644643G], cap. VI., de functione auditorum, § 1, S. 46f.: Relativè quod est Spectator in Scenicis, id est Auditor in Disputatoriis, Arbiter Actionis, cognitor veri, Diribitor brabeorum integerrimus, & persona Disputationis objectiva, ac secundaria, sic ut superiores sunt subjectivae, & magis primariae. (IIX). Für Jakob Wilhelm Feuerlein, Regulae praecipuae bonae disputationis academicae, Göttingen: Johann Wilhelm Schmid 1747 [Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 4 TH MISC 152/32: ANGEB, 14], cap. I., praecognita de disputatione, V., S. 5, ist der Simulations- resp. Übungscharakter das Hauptmerkmal der Schuldisputation. Auf das Rollenspiel, das in ihr ablief, auf die simulatio-Thematik sowie die Implikationen des Rollenbegriffs kann hier nicht genauer eingegangen werden. Hanspeter Marti, Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jahrhunderts. Theodor Ludwig Laus Scheitern an der juristischen Fakultät der Universität Königsberg, in: Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 295–306.
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Gedichte, bibliografisch nicht erschließt,10 oder an die von anderer Seite vorangetriebene Verzeichnung der Leichenpredigten.11 Das Gattungsspektrum der Casualia ist, was Form und Inhalt angeht, sehr breit. Es umfasst (lyrische) Texte zu allen erdenklichen Anlässen von der Geburt bis zum Tod ebenso wie Prosagattungen wissenschaftlich-gelehrter Argumentation.12 In Widmungen und Gratulationsgedichten frühneuzeitlicher Dissertationen werden persönliche Motive, Ziele und Abhängigkeiten, zweckgerichtetpragmatische Entstehungsgründe der Arbeit, bald panegyrisch überhöht, bald unverblümt ohne poetische Verschleierung bekannt gegeben. So fordern zum Beispiel Stipendiaten unverhohlen weiteren Lohn für den eben mit einer Dissertation nachgewiesenen Studienfleiß ein,13 oder Absolventen der juristischen Fakultät bewerben sich mit ihr um Stellen und Karrieren bei städtischen und fürstlichen Obrigkeiten.14 Damit wird der Zweckbezug, welcher der Dissertation als anlassbezogenem Genre ohnehin innewohnt, akzentuiert und diese als heterogenes, daher vielfach verwendbares Textensemble ausgewiesen. Die Verortung der frühneuzeitlichen Dissertation im Feld des auf Redesituationen bezogenen akademischen Kasualschrifttums kann mit Blick auf die Gattungsentwicklung im 18. Jahrhundert disputationsgeschichtlich nutzbar gemacht werden. Dieses war eine Schlüsselepo10 Klaus Garber (Hg.), Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück. 26 Bde. Hildesheim u. a. 2001–2009 (wird fortgesetzt). 11 Wolfgang Ribbe, Leichenpredigten, in: Wolfgang Ribbe / Eckart Henning, Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, Neustadt a. d. Aisch 122001, S. 136–140, hier vor allem die von Rudolf Lenz (Marburg) und seinem Team herausgegebenen Kataloge. 12 Unter dem Oberbegriff der Casualia resp. des Kasualschrifttums werden sämtliche im Hinblick auf einen privaten oder öffentlichen Anlass verfassten Texte subsumiert. Die mit der vorliegenden Ausdehnung des obersten Gattungsbegriffs verbundene Problematik kann hier nicht ausdiskutiert werden. Allen unter die Casualia im weitesten Sinn gezählten Untergattungen und Texten sind die Merkmale der zweckgebundenen Verwendung sowie der Beziehung auf einen oder mehrere konkrete Anlässe gemeinsam. Cordula Kropik, Jena, und Sabine Obermaier, Mainz, danke ich für den wertvollen Gedankenaustausch. 13 Ewald Horn, Die Disputationen und Promotionen an den Deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1893, S. 22–25, insbesondere S. 22 (»Bettelschriften«). Ähnlich schon über die Widmungen: Siegmund Jakob Apin, Unvorgreiffliche Gedancken / wie man so wohl Alte als Neue Dissertationes academicas mit Nutzen sammlen / und einen guten Indicem darüber halten soll, Nürnberg / Altdorf: Johann Taubers Erben 1719 [Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: 6 A 10], S. 43. Vgl. zu den dedicationes auch den Beitrag von Michael Philipp in diesem Band. 14 Vgl. Hanspeter Marti, Frühneuzeitliche Dissertationen der Universität Königsberg. Erschließung und historiographische Bedeutung eines vernachlässigten Quellencorpus, in: Bernhart Jähnig (Hg.), 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit, Marburg 2008, S. 271–302.
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che in der Geschichte der frühneuzeitlichen Dissertation, obwohl sichtbare Veränderungen in der Textstruktur, in der Konstellation der Protagonisten sowie hinsichtlich der gesellschaftlichen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen erst im 19. Jahrhundert, nach der humboldtschen Universitätsreform, eintraten. Mit dem Aufschwung der Litterärgeschichte und der gelehrten Zeitschriften im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts kamen erstmals Grundsatzfragen über Art, Aneignung, Weitergabe und Verwaltung gelehrten Wissens zur Sprache.15 Von dieser Diskussion, die weit über die stets verbreitete Anprangerung von Missständen im Unterrichtsalltag hinausging, wurde die Disputation nicht ausgenommen. Zwar hatte es grundsätzliche Einwände gegen das Disputationswesen auch früher schon gegeben.16 Für manche Humanisten verkörperte die disputatio die mittelalterliche Scholastik in Reinform, und der radikale Flügel der Reformation stellte der mit Sünde befleckten Weltweisheit streitsüchtiger Gelehrter das von den Gnadengaben des Heiligen Geistes erfüllte Gotteskind gegenüber. Ähnliche Überlegungen kehren, zum Teil mit ausdrücklichem Bezug auf die Vorgänger des 16. und 17. Jahrhunderts, sowohl in der Scholastikkritik der Frühaufklärer als auch in der Ablehnung der Gelehrsamkeit durch radikale Pietisten wieder. Im Folgenden geht es aber um einige im 18. Jahrhundert erstmals auftretende Aspekte, die freilich nicht immer leicht von traditionellen zu scheiden sind. Trotz der zusätzlichen Beschränkung auf deutsche Hohe Schulen ist der Gegenstand uferlos. Deshalb sei versucht, durch vereinfachende Benennung auffälliger Trends dem weitläufigen Thema einigermaßen gerecht zu werden. Die Geschichte der frühneuzeitlichen disputatio lässt sich zwar nicht einfach als Prozess zunehmender Verschriftlichung beschreiben, aber seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts wird die Literalisierung der Schuldisputation zunehmend als solche erkannt und daher kontrovers diskutiert. Die Kritik am Streitgespräch gipfelt bereits im Artikel ›Disputirkunst‹ von Zedlers Universal-Lexikon, in dem die angeblich von Affekten beherrschte Disputation verunglimpft, die Dissertation dagegen als taugliches Mittel vernunftgeleiteter Wahrheitserkenntnis und besonnenen Nachdenkens gepriesen wird: Eine Rede, wobey viel unverhofftes und vorhero nicht bedachtes vorkömmt, kann nicht so ordentlich eingerichtet werden, als wenn wir bey jeder Zeile in dem Schreiben stille stehen, auch hernachmahls ferner nachden-
15 Dazu: Frank Grunert / Friedrich Vollhardt (Hg.), Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007. 16 Belege im historischen Abriss meines Handbuchartikels ›Disputation‹ (wie Anm. 5), Sp. 877.
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cken und uns bey Gelegenheit ändern können.17 Der Zedlerartikel grenzt den Disputanten scharf vom Redner ab, dem Abschweifungen erlaubt sind.18 Diesem lexikalischen Statement, das ein verhältnismäßig breites Publikum erreichte, kommt, historisch gesehen, Signalcharakter zu.19 Zahlreiche Aufklärer gingen zur Rhetorik, zu Redeschmuck und Okkasionalität, auf Distanz.20 Dem Philosophen komme es auf die Sache, nicht wie dem Grammatiker, auf bloße Worte an, da die Wahrheit in den angeführten Gründen liege.21 Die schriftliche Form schütze vor den schlimmen Folgen voreiligen Denkens und Handelns.22 Im Streitgespräch sah man sich den die Verständigung erschwerenden Kontingenzen der Redesituation ausgeliefert. Einen Rückzug in die private Einsamkeit forderte schon der von Descartes abhängige und als Begründer des Okkasionalismus bekannt gewordene Leidener Philosophieprofessor Arnold Geulincx (1624–1669).23 Für den Basler Theologen und Cartesianer Samuel Werenfels (1657–1740) 17 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 7, Graz 1994 (Nachdruck der Ausg. Halle / Leipzig 1734), Disputir-Kunst, Sp. 1059. 18 Zedler, Universal-Lexikon (wie Anm. 17), Sp. 1062. 19 Chang, From Oral Disputation (wie Anm. 3), S. 167: »This essay in the Universal-Lexicon seems to be the eighteenth-century document that most clearly identifies the advantages of the textual dissertation over its oral counterpart.«. Chang dokumentiert mit der lexikalischen Belegstelle aber einen chronologisch nicht genauer lokalisierten, doch linear-historisch gesehenen Verschriftlichungstrend, nicht die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts im Hinblick auf die disputatio vermehrt erfolgte Problematisierung von mündlichem und schriftlichem Diskurs. Zum Plädoyer des Zedlerartikels für die Dissertation bereits Manfred Beetz, Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1980, S. 105. 20 Beetz, Rhetorische Logik (wie Anm. 19), S. 106. 21 Johann Rudolf Brachvogel (Pr.) / Georg Niklaus Grosch (Resp.), Dissertatio logica de usu et abusu disputandi, Erfurt: Johann Heinrich Grosch 1713 [Greifswald, Universitätsbibliothek: 536/Disp.phil. 29,1]: Philosophi enim est, ut rebus, & doctrinae satisfaciat, & mentem potius componat quam dictionem, curetque ne quid aberret ratio, non oratio, nec in lingua sed in rationibus sedes est veritatis. Merito igitur prudens Philosophiae disputator talem adversarium, nil nisi verba crepantem, cum Domino Conrectore ex scholis Philosophorum ad scholam Grammaticorum remittere potest. (cap. III, de abusu, § XXVIII, Bl. [D4v]). 22 Johann Jakob Lehmann (Pr.) / Johann Wilhelm Ludolff (Resp.), De certaminibus eruditorum rite instituendis, Jena: Johann Adolph Müller 1710 [Jena, Thüringer Universitätsund Landesbibliothek: 4 Diss.philos. 54(38)], wägt die Vor- und Nachteile von mündlicher Rede und Text sorgfältig ab (Uterque modus sua habet commoda, sua quoque habet incommoda, § XVIII, S. 25), sieht aber, im Anschluss an die Logik von Johann Franz Buddeus, die Gefahr, im mündlichen Disput Opfer des praeiudicium praecipitantiae zu werden. 23 Arnold Geulincx, Saturnalia, seu quaestiones quodlibeticae in utramque partem disputatae, Leiden: Heinrich Verbiest 1665 [Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek: Misc. oct. 943], Quaestio IX., An deceat fervidas & clamosas in Academiis esse disputationes?, S. 213–218: Denique ipsum Veritatis Numen, cujus nos Sacerdotes sumus, mite pacatumque est, & à turbis semotum: Non reperitur inter efferatos belli tumultus, procul est à forensi fumo & strepitu: comes ei & amica solitudo, nocturno gaudet, & matutino silentio […]. (S. 218).
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sollte sich das Nachdenken (meditatio) innerhalb der eigenen vier Wände abspielen. Dennoch wollte oder konnte er sich vorerst nicht aus der Öffentlichkeit zurückziehen, wie die vielen unter seinem Vorsitz verteidigten Dissertationen zeigen.24 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war dagegen der Nutzen der disputatio für die extemporale Rede ausdrücklich hervorgehoben worden.25 An der Wende zum 18. Jahrhundert lagen aus Universitäten fast aller Länder Mittel-, West- und Nordeuropas Tausende von Dissertationen aller Fakultäten vor, die in den Gelehrtenbibliotheken, oft in dicken Bänden, bald nach Sachgebieten, bald nach personellen oder geografischen Kriterien zusammengebunden, gesammelt, in Spezialverzeichnissen aufgelistet, von den Präsides in Sammeleditionen unter ihrem Namen herausgebracht, in den gelehrten Journalen rezensiert, als Informationsquellen in die Lexika und Litterärgeschichten aufgenommen wurden und oft die Funktion von enzyklopädischen Wissensspeichern übernahmen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen dann noch einmal Tausende weiterer Dissertationen, ferner Übersetzungen von Dissertationen in die deutsche Sprache und sogar Gelehrtenzeitschriften hinzu, die einzig und allein der Ankündigung und der Publikation von Dissertationen gewidmet waren.26 Nicht selten wurden die Spuren des Disputationsakts, zu dem die Thesentexte einluden, verwischt oder getilgt, am häufigsten in den von den Präsides herausgegebenen Sammlungen der unter ihrem Vorsitz verteidigten Dissertationen. Die Präsentation der Dissertationen in Auktionskatalogen und vor allem in Litterärgeschichten trug wesentlich dazu bei, dass der Terminus disputatio zum literarischen Gattungsbegriff und dessen Position im Kanon der Gelehrtenliteratur gefestigt wurde. Öfter als zuvor begegnet in Lehrbüchern
24 Samuel Werenfels, Dissertationum volumina duo, quorum prius de logomachiis eruditorum & de meteoris orationis, posterius dissertationes varii argumenti continet, Amsterdam: Rudolf und Gerhard Wettstein 1716 [Basel, Universitätsbibliothek: Fa VIII 20], dissertationis de logomachiis eruditorum caput VI, § 6, S. 174f. – Zu Werenfels siehe Wolfgang Rother, Gelehrsamkeitskritik in der frühen Neuzeit. Samuel Werenfels’ Dissertatio de logomachiis eruditorum und Idee d’un philosophe, in: Theologische Zeitschrift 59 (2003), S. 137–159. 25 Johann Affelmann, Programma publicum de utilitate disputationum (1. Januar 1620), in: Ders., Syntagma exercitationum academicarum in duas partes distributum, pars 1, Leipzig: Timotheus Ritzsch 1674 [Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: 111.4 Theol], S. 1101– 1106, hier S. 1104. 26 Zur Bedeutung der Dissertationen in der frühneuzeitlichen Wissenschaft und im Unterricht der Hohen Schulen: Hanspeter Marti, Der wissenschaftsgeschichtliche Dokumentationswert alter Dissertationen. Erschließung und Auswertung einer vernachlässigten Quellengattung der Philosophiegeschichte – Eine Zwischenbilanz, in: Nouvelles de la République des Lettres 1981–1, S. 117–132, sowie ders., Philosophieunterricht (wie Anm. 5).
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die klare Unterscheidung von »Disputation« und »Disputationsschrift«27 und häufiger der Begriff der Dissertation, besonders auffallend im Titel einer detaillierten Anleitung mit Hinweisen, wie man ein gutes Register über gesammelte Dissertationen anfertigen könne.28 Hier verliert die okkasionelle Zweckgebundenheit als Gattungsmerkmal an inhaltlicher Bestimmungskraft oder büßt diese vollends ein, weil der Text, losgelöst vom Anlass, auf den er bezogen, und von den Personen, an die er gerichtet war, im Hinblick auf die Qualität seiner Aussage über die thematisierte Sache erfasst und aufbewahrt wurde. Von den Präsides herausgegebene Dissertationensammlungen waren sehr geschätzt, die der anerkanntesten Professoren wurden, in Verzeichnissen aufgelistet, den Gelehrten empfohlen.29 Wenn in der disputatio lohnende Themen aufgegriffen werden, können aus kurzen Abhandlungen dicke Bücher entstehen, wie an anderer Stelle in einem allgemeinen Lob der Dissertationen vermerkt wird.30 Aus einem weiteren Grund findet man in diesen neue Erkenntnisse: Dann viele Gelährten kommen bey Untersuchung der Warheit auf neue Gedancken, wollen aber deswegen nicht gleich gantze Bücher und Tractate schreiben, sondern geben ihre neue Meinung in forma Disputationis heraus.31 Diese zu optimistische Einschätzung bestätigt immerhin, in welch hohem Ansehen die Dissertationen als wissenschaftliche Sammelobjekte im frühen 18. Jahrhundert hier und dort in Gelehrtenkreisen standen. Aus didaktischen Gründen wurde die Abfassung einer Dissertation durch den Respondenten zwar befürwortet, doch, konsequent, die durch Amplifikation bewirkte Rhetorisierung der dispu-
27 Belege: Marti, Philosophische Dissertationen (wie Anm. 5), S. 16f. (›Disputation und Dissertation‹). 28 Apin, Unvorgreiffliche Gedancken (wie Anm. 13). 29 Gottfried Wegner, Specimen quaestionum exegeticarum, in hexaemeron creationis genes. cap. I. Cum praefatione de speciminibus & exercitiis academicis, Frankfurt a. d. Oder: Hermann Pettenberg 1689 [VD17 12:142026Q]: […] haec exercitia deamant, atque Disputationes solidè magnaque industria elaboratas edunt, dignas profectò, quae colligantur, &, juxta Methodum Hottingerianam, digerantur. (Bl. [*4r]). Der Zürcher Theologe Johann Heinrich Hottinger (1620–1667) riet, Dissertationen zu sammeln (Bibliothecarius quadripartitus, Zürich: Melchior Stauffacher 1664 [VD17 1:001323P], S. 95). Apin, Unvorgreiffliche Gedancken (wie Anm. 13), S. 49–53 (Liste der wichtigsten Präsides in der Abfolge der Hierarchie der Fakultäten). 30 Carl Ferdinand Hommel, Litteratura iuris, Leipzig: Kaspar Fritsch 1779 [München, Bayerische Staatsbibliothek: 8° Jur.Is.85d], S. 158f.: Breves vero et tersae disputationes magnis non raro libris anteponendae, multumque ad rem litterarum communem faciunt, non solum, quod singularia, nec in magnis commentariis ad amussim pertractata, excutiunt tractantque diligentius, verum etiam, quod experientia docuit, levissimas dissertatiunculas ex se libros magnos et utilissimos procreasse. 31 Apin, Unvorgreiffliche Gedancken (wie Anm. 13), S. 24 Anm. c).
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tatio abgelehnt.32 Ab und zu machte sich Verdruss über den akademischen Disputationszwang bemerkbar. Theologen hofften, dass exegetische Dissertationen immerhin als Bibelkommentare Nutzen stiften könnten.33 Zunehmend wurde die von nonverbalen Elementen geprägte Disputation in Anekdoten lächerlich gemacht. So hatte ein gewisser Professor in voriger Zeit […] die Gewohnheit allezeit mit der rechten Hand über die ledernen Hosen hinab zufahren, so offt er sagte distinguo, explico, applico. Daher pflegte man von ihm zu sagen, er habe Distinctionen auf seine Hosen geschmiret.34 Das Kleidungsstück, das der Dozent als imaginäre Schreibfläche benutzte, war als Aufbewahrungsort der vorgenommenen Distinktionen so wenig geeignet wie diese in der Sicht der Spötter es wert waren, der Nachwelt überliefert zu werden. Vor 1680 war dagegen die Priorität der Disputation unbestritten, auch wenn Dissertationen in den Gelehrtenbibliotheken bereits früher unter dem literarischen Gattungskriterium gesammelt und bisweilen in Katalogen mehr oder weniger genau verzeichnet wurden. Der Ingolstädter Theologieprofessor Albert Hunger (1545–1604) brachte in einer der seltenen frühen Gegenüberstellungen von Streitgespräch und Streitschrift den interkonfessionellen Konsens über den Vorrang der Mündlichkeit zum Ausdruck.35 In den Disputationshandbüchern und Logiken war von den Dissertationen gar nicht oder nur ganz beiläufig die Rede, geschweige denn, dass dort lange Anleitungen gegeben worden wären, wie eine Dissertati32 Johann Christian Hebenstreit, Dissertatio logica de praeside disputationis, Leipzig: Christoph Zunkel 1717 [Leipzig, Universitätsbibliothek: 82-4-1:8], Bl. Bv, § VIII: Erit ergo fideli Praesidis manu adducendus Respondens, ut & hac nobilissima parte suae eruditioni consulat, ne voce saltim in cathedra mascule decertet, sed & calamo munus suum expleat, nec in rubro saltim, sed & re ipsa Autor & Respondens compareat. Der Präses hat dafür zu sorgen, dass die Disputation ohne oratorische Einlagen vonstatten geht (ebd., Bl. B3r, § XI). 33 Wegner, Specimen (wie Anm. 29): Cum mihi juxta statuta disputandum esset, aliisq; placeret meo praesidio uti, dissertationes ad exemplar aliorum elaboravi, & loca quaedam Scripturae illustravi, ita quidem, ut quae ab Interpretibus adducta, vel alibi observata, plenissimè comportata sint, ut vice Commentarioli esse queant. (Bl. **2r). 34 Gründliche Auszüge aus denen Neuesten Theologisch=Philosophisch= und Philologischen Disputationibus welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden. Erstes Stück, 1742, Leipzig: Friedrich Matthias Friesen [Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek: Zs 9741], Bl. A5r. 35 Albert Hunger, Orationes, tomus 3, Ingolstadt: Elisabeth Angermaier 1615 [Erfurt / Gotha, Universitäts- und Forschungsbibliothek: 664780X], Oratio XII, de disputationis jucunditate, utilitate, modo, S. 178–194: Procul dubio enim viva disputatio, ubi vivas contingit audire ac reddere voces, non modo promptiorem memoriam postulat, sed & maiorem animis motum, rebus momentum adiicit, multoque validior est, quam disputatio illa muta in scriptis. (S. 183). Zur Person Hungers siehe Laetitia Böhm, Hunger Albert, in: Laetitia Böhm u. a. (Hg.), Biographisches Lexikon der Ludwig-Maximilians-Universität München, Teil I: IngolstadtLandshut 1472–1826, Berlin 1998, S. 196f.
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on abzufassen sei. Ein Werk des Wittenberger Theologen Johann Scharf (1595–1660), das ausführliche Hinweise dieser Art enthält, ist wohl die wichtigste Ausnahme.36 Mit der fortschreitenden Sammeltätigkeit bekam das thesaurierte Textmaterial augenfällig mehr Gewicht.37 Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts machten sich Universitätsreformer, allen voran Christian Thomasius, über die Wiederaufwertung des processus disputandi, der in der disputatio mündlich vermittelten Erkenntnis, Gedanken.38 Überhaupt beargwöhnte man das Vordringen der Schriftlichkeit in die eigentlich der mündlichen Rede vorbehaltene disputatio.39 Später legte man mit Nachdruck Wert darauf, dass der Respondent in einer öffentlichen Veranstaltung vor Publikum seine Argumentationskompetenz persönlich und für alle Beteiligten überprüfbar unter mehr oder weniger kontingenten Bedingungen unter Beweis stelle.40 Einige Jahrzehnte darauf beklagte sich der Göttinger Theologe Johann David Michaelis (1717–1791) über die, wie er unzutreffend annahm, erst in letzter Zeit eingerissene üble Sitte von Respondenten 36 Johann Scharf, Processus disputandi de requisitis, moribus, et principiis disputantium, cumprimis de officio opponentis, & respondentis, in usum disputantium conscriptus, Wittenberg: Christoph Wusth, Johann Röhner 1635 [VD17 3:006836S], cap. III, de ordine thesium, sive de conscribendis thesibus, S. 86–218 [recte 118]. 37 Dazu Hanspeter Marti: Die Disputationsschriften – Speicher logifizierten Wissens (im Druck). 38 Gertrud Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 1970, Anhang: Christian Thomasius, Dissertatio XXI, Quaestionum promiscuarum historico-philosophico-iuridicarum dodecas (1693), Programma invitatorium: Nostri iuvenes longe maiora et fortiora scientiae ac doctrinae argumenta suppeditant, dum auctores fiunt disputationum elegantissimarum de selectis iuris materiis, qua theoreticis, qua practicis, saepius in iusti tractatus formam excrescentium. Sed ni fallor, aberravimus a scopo maiorum nostrorum. Illi specimen eruditionis non quaerebant in disputationis elaboratione, aut collectione thesium, sed in earundem defensione. (S. 109). Ob sich mit der zunehmenden Verschriftlichung das Disputationsprozedere zum Besseren oder Schlechteren gewandelt habe, lässt Thomasius allerdings offen (ebd.). 39 Johann Philipp Treuner (Pr.) / Johann Christoph Kiesewetter (Resp.), Antiquum interrogandi modum ad mentem Platonis & Aristotelis, Juni 1688, Jena: Georg Heinrich Müller [Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek: Philos. Diss 1561]: Nostra autem aetate Respondentem Opponenti ante Disputationis actum theses, quas defendere paret, scriptas, vel praelo excusas exhibere iisque mentem suam antagonistae satis exponere, ut adeò quaerere adhuc hodie velle, nihil aliud sit, quàm actum operose agendum denuò suscipere […], § IX, Bl. [A5v]. 40 Peter Ahlwardt, Discursus de utilitate ex publicis exercitiis disputatoriis capienda, Greifswald: Hieronymus Johann Struck [ca. 1750] [München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° Diss. 1772(16]: Uti vero nimia diffidentia in erudito majorque timiditas ipsum quam maxime ineptum facit ad veritates cum aliis communicandas, illasque demonstrandas & defendendas, ex quo & ipsi & veritatibus maximum enascitur detrimentum; ita certe non melius & aptius juvenes ab illo vitio liberandi potest excogitari medium: quam si ipsis libertas concedatur de propositionibus dubiis publice in conspectu multorum, qui de actionibus illorum valent judicare, disserendi easque aut impugnandi aut defendendi. (§ 9, S. 9).
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und Opponenten, sich abzusprechen oder gar, während der Disputation, schriftlich abgefasste Voten vorzulesen. So werde die mündliche Argumentation paralysiert und die disputatio, bei der es auf die rasche Auffassungsgabe und die Schlagfertigkeit der Teilnehmer ankomme, verliere ihre Substanz.41 In einer Zeit der Dissertationsfabriken und der Promotionen in absentia war die Dissertation ohnehin kein zuverlässiger Leistungsnachweis mehr.42 Es wurde verlangt, dass, wer sich […] bey Vertheidigung der Dissertation vor dem urtheilen wollenden Publico als einen Unwissenden zeiget […],43 nicht promoviert werden soll. Daher befanden sich vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Disputationstheoretiker in einem Konflikt. Einerseits wollte man den Nachteilen und Missbräuchen ausufernder Schriftlichkeit begegnen und den mündlichen Disput aufwerten und retten, anderseits befürchtete man, dass dieser die Erkenntniserwartungen in qualitativer Hinsicht nicht erfüllen würde. Die Lösungsvorschläge zur Behebung der Krise gingen dementsprechend weit auseinander. Doch niemand wollte die Schuldisputationen abschaffen. Vor der Wende zum 18. Jahrhundert setzte nicht nur, wie gezeigt, die Kritik an der Verschriftlichung ein, die sich auf die Tradition der im Mittelalter und danach herrschenden Oralität der disputatio berufen konnte, sondern verstärkt auch der Abscheu vor der (mittelalterlichen) Scholastik und deren Begrifflichkeit. Die Grenzen der traditionellen Kritik an den Missbräuchen des Disputierens überschritt der schon erwähnte Samuel Werenfels in den zwischen 1688 und 1692 unter seinem Vorsitz ver-
41 Johann David Michaelis, Räsonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland. Teil 4. Neudruck der Ausgabe Frankfurt a. M. und Leipzig 1776, Aalen 1973, S. 52, 58f.: Der Vorwurf richtet sich vor allem gegen die ohne Präses Disputierenden. 42 Ders., S. 79–84 (ausführlich über Dissertationsfabriken), S. 128 (Plädoyer für gewaltige Einschränkungen bei den promotiones in absentia). Zu den Promotionen in absentia und zu den gesellschaftspolitischen Hintergründen vgl. Ulrich Rasche, Geschichte der Promotion in absentia. Eine Studie zum Modernisierungsprozess der deutschen Universitäten im 18. und 19. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, S. 275–351. Zahlenangaben zu den Promotionen in absentia liegen über die juristische Fakultät der im Jahr 1743 gegründeten Universität Erlangen vor: Roswitha Poll, Zur Geschichte der juristischen Promotion an der Erlanger Universität, in: Dieter Schug (Hg.), Der Bibliothekar zwischen Praxis und Wissenschaft. Bernhard Sinogowitz zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1986, S. 168–210. In den Jahren 1743–1749 fanden von insgesamt 27 Promotionen deren vier in absentia statt, in dreizehn Fällen war der Kandidat von der schriftlichen Dissertation befreit; in der Zeitspanne von 1780–1790 lag der Prozentsatz der in-absentia-Promotionen bei einem Drittel (5 von 15), und nur noch in zwei Ausnahmefällen erfolgte die Promotion ohne Dissertation (ebd., S. 199). 43 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 129.
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teidigten Dissertationen über die Logomachie,44 in denen er den Nutzen der disputatio von einem sprachkritisch-hermeneutischen Blickwinkel her grundsätzlich in Zweifel zog. Doch setzte der Basler Professor ausgerechnet die Disputation als Instrument seiner Disputationskritik ein und schlug Maßnahmen (remedia) zur Beseitigung der diagnostizierten Übel vor (Sprachreinigung durch Abkehr von der scholastischen Tradition,45 normative Vorgaben der Begriffsverwendung in Lexika, Sachbezug in der Disputation, Abwendung von Allgemeinbegriffen).46 Werenfels’ Kritik, streckenweise mit zynischer Ironie durchmischt, richtete sich vornehmlich gegen das Disputieren über logische und metaphysische Begriffe, das heißt gegen den Streit um Worte47 und das hieraus resultierende pseudowissenschaftliche Geschwätz: Damit du gelehrt scheinst, ist es nötig, dass du sprichst, es ist nicht immer notwendig, dass du auch etwas sagst.48 Die Attacke richtete sich aber nicht nur gegen die großen semantischen Höfe des begriffsblinden Worts, sondern auch gegen ganze Themenfelder, die damals in die Zuständigkeit der philosophischen Fakultät fielen, auch wenn früher schon über das Verhältnis der Metaphysik zur Theologie gestritten worden war.49 Der radikale Pietist Gottfried Arnold hatte zum Beispiel noch im Jahre 1687 in Wittenberg als Magister der Philosophie über die Sprache der Engel disputiert,50 und es wimmelte im 17. Jahrhundert, nicht nur an der Leucorea, von philosophischen Dissertationen über ähnliche Themen, die zugunsten von solchen zur praktischen Philosophie zurückgingen, nachdem die Grenzen zwischen Vernunft und Offenbarung auch unter dem Einfluss 44 Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24). 45 Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24), cap. VI, § 7, S. 153f. 46 Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24), cap. IX, S. 218–254 (De remediis hujus morbi). 47 Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24), cap. VIII, § 8, S. 208: Pleraeque disputationes de definitionibus & divisionibus Logomachiae sunt. 48 Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24), cap. VI, § 3, S. 146: Loquendum, etsi nihil, quod dicas, habeas: Ut doctus videaris, necesse est, ut loquaris, non semper necesse est, ut aliquid dicas. 49 Vgl. dazu Markus Friedrich, Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004, sowie Appold, Orthodoxie (wie Anm. 7). Vor einer Überschätzung der Leistung der Metaphysik warnen noch Theophil Vertraugott Hellwig (Pr.) / Karl Gottfried Werner (Resp.), Dissertatio philosophica de arena disputatoria insitae suae dignitati restituenda, 2. April 1760, Frankfurt a. d. Oder [Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: 19 in: Ah 8486]: Misere hinc impingunt, qui in Methaphysicis [sic!] Theologiam universam adeoque Trinitatis et incarnationis mysterium disputando evincere conantur. (§ VIII, S. 10). 50 Hanspeter Marti, Gottfried Arnold – Magister der Philosophie in Wittenberg. Seine Dissertation über die Engelsprache: erstmals ediert und vorläufig kommentiert, in: Linguistica Biblica 52 (1982), S. 41–70.
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des modernen Naturrechts schärfer gezogen worden waren.51 Von wichtigen Ausnahmen wie Kant abgesehen, der im Disputieren das staatlich verordnete Pflichtpensum absolvierte,52 wollte man aber, im Ganzen gesehen, die disputatio keineswegs preisgeben, sondern, im Gegenteil, sie mit allen Mitteln vor einem schleichenden Zerfall retten. Tatsächlich aber ist das 18. Jahrhundert, wiederum hauptsächlich in der Nachfolge des Christian Thomasius, die Zeit der von den Respondenten verfassten und von ihnen verantworteten Inauguraldissertationen, auch wenn die Präsesdissertation und die Disputation, wie das Beispiel Tübingens zeigt, da und dort die humboldtsche Universitätsreform ohne Schaden überstanden.53 Eine andere Quelle des Unbehagens war die untergeordnete Rolle der Opponenten in der Disputationspraxis, die mit der Dominanz des Präses und des zumeist mit ihm übereinstimmenden Respondenten zusammenhing. Deshalb unterbreiteten die Reformer Vorschläge, wie die schwache Position der Opponenten gestärkt, die Disputation dadurch belebt und aufgewertet werden könnte.54 Es sollten außerordentliche Opponenten auftreten, der Hauptopponent am Anfang und nicht am Schluss, unter
51 Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre. Mit einem Vorwort von Werner Schneiders, Hildesheim 1968 (Nachdruck der Ausg. Halle [1691]), 5. Hauptstück, Von der Geschickligkeit anderer Jrrthümer zu widerlegen, § 53, S. 294, zählt die […] meisten Fragen von Geschmack / von der Güte der Dinge / von der Sprache der Engel / u.s.w. zu den Gegenständen, an denen man die […] gelehrte Unwissenheit mit einer thörigten Wissenschafft beschauen […] will. 52 Reglement, daß sowol die Profeßores als andere, welche auf Universitäten Collegia lesen, zu Aufmunterung derer Studenten eine gewiße Anzahl Disputationen halten sollen; desgleichen, daß bey jeder Facultät zwey Aßeßores bestellet werden sollen, die sich in der Arbeit, doch ohne voto decisivo habilitiren. De dato Berlin den 24. Dec. 1749, in: Daniel Heinrich Arnoldt, Zusätze zu seiner Historie der Königsbergschen Universität, nebst einigen Verbesserungen derselben, auch zweyhundert und funfzig Lebensbeschreibungen Preußischer Gelehrten, Königsberg: Johann Heinrich Hartungs Witwe 1756 (Faksimile-Ndr. Aalen 1994), Beylagen zu den Zusätzen zur Historie der Königsbergschen Universität, No. 1, S. 222–224. 53 Hanspeter Marti, Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung, in: Examen, Titel, Promotionen (wie Anm. 42), S. 251–274. Vgl. auch die verdienstvolle Studie von Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit, in: Rainer A. Müller (Hg.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Bearbeitet von HansChristoph Liess und Rüdiger vom Bruch, Stuttgart 2007, S. 150–273, hier S. 189–201. Rasche weist nach, dass das humboldtsche Universitätsmodell sich im 19. Jahrhundert ganz allgemein nur sehr zögerlich durchsetzen konnte. 54 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 59, spricht von einer […] unerträglichen Schläfrichkeit der Disputationen.
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Zeitdruck, das Wort ergreifen.55 Ferner würde die Disputation den Charakter eines Scheingefechts verlieren, wenn man die Einwände der Opponenten ernst nähme.56 Gegebenenfalls sollten auch die Opponenten Recht bekommen können.57 Oder man wies, um der befürchteten Paralyse des mündlichen Diskurses vorzubeugen, die Verfasser der Dissertationen an, die Thesen nicht durch schriftlich vorweggenommene Einwände und Distinktionen zu entkräften.58 In dieselbe Richtung hatte die schon von Christian Thomasius vorgebrachte und von anderen aufgenommene Anregung gewiesen, sich in der Dissertation mit Kurzthesen zu begnügen, oder der Vorschlag, im Nachhinein einen Traktat zu verfassen und die Ergebnisse der schon stattgefundenen disputatio einzuarbeiten.59 Statt die schriftliche gegen die mündliche Rede auszuspielen, erblickten andere in der Disputation eine Trainingsveranstaltung zur Abfassung von Streitschriften und stellten so die Oralität der Disputation in den Dienst der schriftlichen Kontroverse.60 Bisweilen betonte man den Nutzen der Lektüre von
55 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 56, 64 (außerordentliche Opponenten), S. 58 (Absprache zwischen Respondent und Opponent), S. 65 (Hauptopponent an erster Stelle). 56 Vgl. Feuerlein, Regulae praecipuae (Stellennachweis in Anm. 8). 57 Brachvogel, de usu et abusu (wie Anm. 21): […] cum non statuamus, semper veritatem stare ab eorum partibus, qui respondentes sunt; & thesin aliquam aut dissertationem proponunt: quin quandoque opponentem veram sententiam habere, asserimus. (cap. II, disputatio quid sit & ejus usus?, § 12, Bl. Cv). Zur kreativen Rolle von Opponenten im akademischen Diskurs siehe Martin Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart / Weimar 2007, S. 191–215 (Der ausgescherte Opponent). 58 Georg Bernhard Bilfinger, Praecepta logica, Jena: Marggraf 1742 [Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Nl 20556], § 420, S. 230: Denique in integris dissertationibus conscribendis consuluero, ut non quidem explicite obiectiones interserantur et solvantur, aut distinctiones omnes prolixe enumerentur, ne sc. opponendi materia omnis praescindatur […]. 59 Wegner, Specimen (wie Anm. 29; Bl. **2r), der (neben der Abhandlung) Kurzthesen empfiehlt: […] vel breviter thesibus sive aphorismis includant ventilanda, quorum vel duo, vel tres, si controversa sunt, sufficere possunt ad bonam, eamque longè satis protrahendam, disputationem. Johann Peter Ludwig, Gesamte Kleine Teutsche Schrifften, Halle: Renger 1705 [Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek: HB 6121], § 12, S. 65f., setzte sich für die Thesendissertation und den aus der disputatio hervorgehenden Traktat ein. 60 Ernst Friedrich Neubauer (Pr.) / Friedrich Wilhelm Zierold (Resp.), Dissertatio logica de exercitiis disputandi frequentius in academiis instituendis, variis observationibus illustrata, Halle: Christian Henckel 1730 [München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° Diss. 537(26], § XXIII, S. 16: Quae cuncta, quum frequentibus disputandi exercitiis adsequi possumus, omnino iis ad scriptiones polemicas praeparamur. Dissertationen können Vorstufen von Traktaten (§ XXXIV, S. 23) sein und Bücher den sogenannten Zirkulardisputationen zugrunde liegen (§ XXXVII, S. 24). Über diese an verschiedenen Universitäten (vor allem Altdorf, Frankfurt a. d. Oder, Jena und Rostock) so bezeichnete Disputationsform und ihre Varianten gehe ich an anderer Stelle genauer ein. Zu ihr bereits Horn, Die Disputationen (wie
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fremden Dissertationen als Disputationsvorbereitung,61 während mindestens für die Hauptprotagonisten einer Disputation die genaue Kenntnis der vorgängig publizierten Thesen ohnehin erforderlich war und daher vor allem den Opponenten immer wieder empfohlen wurde.62 Ausnahmsweise wurde der Gebrauchswert der Dissertation für die Zuhörer hervorgehoben, die dank der schriftlichen Vorlage dem Gang der Disputation leichter folgen könnten.63 Die Gefahr, dass der schriftlich vorliegende Text das Publikum vom Gesprächsverlauf ablenken könnte, zog der Autor nicht in Betracht. Ihm ging es um die harmonische Abstimmung der Funktionen von Wort und Schrift, nicht um das von anderen thematisierte Konkurrenzverhältnis. Im 18. Jahrhundert bewegte sich, wie man sieht, der Diskurs über den Anteil der Literalität in der disputatio nicht nur in ganz unterschiedliche Richtungen, sondern wurde sogar widersprüchlich. Den Wiederbelebungsversuchen des Streit-Gesprächs stand mit der allmählichen Verabschiedung des elenchus, wiederum seit Christian Thomasius, die Pazifizierung selbst kontroverstheologischer Diskurse unter dem Vorzeichen der Mäßigung resp. Mäßigkeit oder Bescheidenheit (modestia) entgegen.64 Wer wird nicht, meinte im Jahr 1712 aus juristischer Sicht der Hallenser Thomasiusanhänger Jakob Friedrich Ludovici (1671–1723), diese unblutigen Duelle verurteilen, die manchmal ›außer Worten auch Hiebe‹ – die deutsche Überset-
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Anm. 13), S. 31–38, hier S. 31, der Hinweis auf die Begriffsbestimmung bei Neubauer und die nicht ganz korrekte Wiedergabe des Zitats. Der Vollständigkeit halber seien noch die Bücher erwähnt, die aus Disputations- resp. Dissertationsreihen hervorgingen. Feuerlein, Regulae praecipuae (Anm. 8), cap. II., regulae respondentis et opponentis communes, maxime praeparantes, XIX., S. 9: Aliorum disputationes & scripta Eristica cum applicatione regularum bonae disputationis audiant & legant, ut habeant, quod imitentur, & quod devitent. Johann Ludwig Engel, De disputatione rite instituenda, Rostock: Adler s.a. [München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° Diss. 805(51], cap. IV, de praecipua ante conflictum praeparatione, S. 10, § XXVII (Respondent), § XXVIII (Opponent); Zedler, Universal-Lexikon (wie Anm. 17), Sp. 1062. Johann Bernhard Pötker (Pr.) / Georg Heinrich Stolmann (Resp.), Religio cathedralis succincte per aphorismos insequentes exemplis maximam partem historicis demonstrata, Rostock: Johann Weppling 1700 [München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° Diss. 513(36)], cap. IV., de religione, auditoribus servanda, Bl. Cv. Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre (wie Anm. 51), 5. Hauptstück, Von der Geschickligkeit anderer Jrrthümer zu widerlegen, § 19, S. 274f. Der Mäßigkeit in der disputatio widmeten Friedrich Friese (Pr.) / Christian Weise (Resp.) die ›Dissertatio moralis de adhibenda in disputando modestia‹ (Leipzig: Christian Scholvien 1691; [VD17 14:676827D]) mit dem Fazit: Capistro affectibus ita imposito superest, ut OMNES CORPORIS GESTUS ITA TEMPEREMUS, quo externi quasi sint testes, nos internas possidere passiones; non ab iisdem possideri. (pars III., de mediis perveniendi ad modestiam disputatoriam, § VII, Bl. C2r).
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zung kann das lateinische Wortspiel nicht wiedergeben – hervorbrächten?65 Höflichkeitsbezeugungen übernahmen oder behielten in der disputatio, trotz aller Skepsis gegen übertriebene Komplimente, eine friedensstiftende oder zumindest friedensbewahrende Aufgabe. Das decorum, für den Aufklärer ein notwendiges Übel, war ein, allerdings fragwürdiger, Ersatz für den beim Sündenfall eingehandelten Verlust der (nackten) Wahrheit.66 Doch fast zwanzig Jahre nach Ludovici bezeichnete ein anderer Hallenser das eristische Disputieren immer noch als unentbehrliche Vorschule für den Erfolg im nach wie vor anhaltenden Streit der Konfessionen um den wahren Glauben.67 Die Meinungsverschiedenheiten der Hallenser über die Formen der Abwicklung und den Zweck der disputatio haben deren Erhaltung an der jungen Universität nie gefährdet. Der elenchus konnte sich an zahlreichen theologischen Fakultäten des Alten Reichs bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, zum Teil in friedlicherer Gestalt als im vorhergehenden sogenannten saeculum bellicosum halten. Den Disput über Sinn und Zweck der Disputation entfachten im 18. Jahrhundert weitere umstrittene Grundsatzfragen. 1753 wurde erstmals in einer in Deutsch verfassten Dissertation, die eigens der Sprache der disputatio gewidmet war, das Latein als Medium elitärer gelehrter Wissensvermittlung provozierend infrage gestellt: Man disputire z. B. von denen sittlichen Pflichten der Menschen, von gewissen Oeconomischen Vortheilen, von dem Wolanständigen und andern dergleichen Dingen. Dürfen und sollen denn diejenigen, welche in der Lateinischen Sprache eben nicht gesetzet sind, hievon gar nichts wissen? 68 Allerdings wollte der Autor den Studenten nur in den privaten Disputationsübungen die Wahl zwischen Deutsch und Latein gestatten.69 Inauguraldissertationen waren in der Regel noch bis ins
65 Jakob Friedrich Ludovici, Programma de scopo et utilitate disputationum academicarum, occasione collegii cujusdam juris feudalis disputatorii publici propositum, in: Ders., Collegium juris feudalis, Halle: Christoph Andreas Zeitler 1712 [München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° Diss. 3376 (25]: […] imo nonnunquam praeter verba etiam verbera. (Bl. a3v). Christian Thomasius (Ausübung, wie Anm. 51, S. 272) zählt bereits Schmähungen und Beleidigungen zu den Ausdrucksformen tätlicher Gewalt. 66 Milos Vec, Juristische Normen des Anstands. Zur Ausdifferenzierung und Konvergenz von Recht und Sitte bei Christian Thomasius, in: Reiner Schulze (Hg.), Rechtssymbolik und Wertevermittlung, Berlin 2004, S. 69–100, hier S. 95. 67 Neubauer (wie Anm. 60). 68 Peter Ahlwardt (Pr.) / Karl Heinrich Spitt der Jüngere (Resp.), Der vorzügliche Nutzen der in Teutscher Sprache angestellten Akademischen Streithandlungen, Greifswald: Hieronymus Johann Struck 1753 [Greifswald, Universitätsbibliothek: 536/Disp.phil. 38, 19], § 27, S. 26. 69 Ahlwardt, Der vorzügliche Nutzen (wie Anm. 68), § 28, S. 28.
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19. Jahrhundert hinein in lateinischer Sprache abgefasst.70 Die vom innovationsfreudigen Greifswalder Professor Ahlwardt aufgestellte Behauptung, Wahrheitserkenntnis sei nicht an eine bestimmte Sprache gebunden,71 vertiefte noch die von anderen Aufklärern aufgerissene Kluft zwischen res und verba, die den der Sache und dem iudicium verpflichteten Philosophen-Gelehrten von dem mit dem Odium der Pedanterie behafteten Philologen trennte.72 Die Kritik am Lateinobligatorium traf, wie der Verschriftlichungstrend, den Lebensnerv der disputatio, die ihr Daseinsrecht in der Vergangenheit zu einem wesentlichen Teil sprachpädagogisch vom humanistisch-überkonfessionellen Bildungsideal, der sapiens atque eloquens pietas, hergeleitet hatte. Nicht von ungefähr forderte der Reformer Johann David Michaelis in seinem nov-antiken Plädoyer für das Latein als Disputationssprache bessere Lateinkenntnisse der Studienanfänger und daher den Ausbau der propädeutischen Lateinschulen.73 Ebenso fiel die traditionelle Wertschätzung des Lateins als Disputationssprache bei seinem Zeitgenossen Theophil Vertraugott Hellwig mit dem Lobpreis der mündlichen disputatio zusammen.74 Auch auf die mündliche Argumentation als solche konnte sich die schon angesprochene Kontroverse beziehen, in der es um die Rolle der Affekte in der disputatio ging und die in Anbetracht der aufklärerischen Vorbehalte gegen das rhetorische movere, vielleicht wider Erwarten, im 18. Jahrhundert keinen ausschließlich affektkritischen Ausgang nahm. Natürlich fehlte es nicht an Äußerungen, welche die Affekte aus der Disputation verbannen wollten;75 von der Mehrheit der Autoren wurden sie aber, abgesehen vom Zorn, in gemilderter Form als diskursbelebende Momen-
70 Hanspeter Marti, Lateinsprachigkeit – ein Gattungsmerkmal der Dissertationen und seine historische Konsistenz, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 30/1 (1998), S. 50– 63. 71 Ahlwardt, Der vorzügliche Nutzen (wie Anm. 68), § 21, S. 19. 72 Ahlwardt, Der vorzügliche Nutzen (wie Anm. 68), § 21, S. 19: Die Erkenntniß vieler Sprachen verlanget nur eine Anwendung der bloßen Vorstellungskraft und Gedächtnisses; dahingegen eine gründliche Erkenntniß der Wahrheiten den Gebrauch der Vernunft und aller oberen Kräfte der Seelen nothwendig erfordert. Ahlwardt steht hier unter dem gemäßigten Einfluss der seit der Frühaufklärung weitverbreiteten Pedantismuskritik (vgl. Anm. 21). 73 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 54: Die Verwendung der lateinischen Sprache beuge Beleidigungen vor und […] hilft einen gewissen gesitteten Ernst erhalten. (S. 56). 74 Hellwig, Arena disputatoria (wie Anm. 49), § VI., S. 8 (Propaganda für Latein), § III., S. 5 (Lobpreis der Mündlichkeit). 75 Deutlich Johann Georg Walch, Philosophisches Lexikon, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch 1740 [Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: 8 PHIL I, 616], Artikel ›Disputir=Kunst‹, Sp. 525–542, hier Sp. 528f.
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te toleriert oder, wie die Wahrheitsliebe (amor veritatis), sogar gefordert.76 Auch die von Christian Wolff und seinen Anhängern propagierte mathematische Methode, die für manche in der disputatio unanwendbar schien, stellte übrigens für deren Überleben keine Gefahr dar.77 Seit dem Ende des 76 Lehmann, De certaminibus (wie Anm. 22), § IX, S. 10, missbilligt Vorurteile und Affekte im selben Satz und attestiert der Disputation: […] purum & simplicem erga veritatem fovet amorem. Die schlichte Identifikation von Affekten und Vorurteilen findet sich bei Christian Thomasius, Ausübung (wie Anm. 51), 4. Hauptstück, Von der Geschickligkeit von anderer Meinungen zu urtheilen / ob sie wahr oder irrig sind, S. 257. Zur Wahrheits- resp. Nächstenliebe auch Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24), der auf der Grundlage einer christlichen Affektenlehre, zu der Mäßigkeit, Mitleid und Barmherzigkeit (commiseratio) gehören, eine Disputationsethik entwirft (cap. IX, § 8, S. 235; cap. X, § 4, S. 265, […] amor veritatis, ut reliquos omnes in nobis affectus superet). Verwahrung gegen den Zorn bei Feuerlein, Regulae praecipuae (wie Anm. 8), cap. II., XVI., S. 8, der aber zu bedenken gibt: Simulata tamen vehementia attentionem magis excitabit, quam nimia lenitas. Hellwig, Arena disputatoria (wie Anm. 49), § XVI, S. 19, unterstreicht, dass die Wahrheit weder die Tochter der Vorurteile noch der (schädlichen) Affekte sei. Mit der Pazifizierungsthese steht er in der Nachfolge von Christian Thomasius: Disputationes sint placidae, sedatae, quietae, benevolae non difficiles, non iracundae. (ebd.). ›Der meditirende und inventieuse Eclecticus‹ (Fünffter Theil, Jena: Johann Michael Gollner 1714 [Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: 4 in: Bibl. Diez oct. 9822]) weiß, dass […] das Geblüth in eine ausserordentliche Bewegung gebracht und mithin der Verstand in seinen Operationen verhindert […] werden kann (Die X. Meditation. Von der Kunst zu disputiren, § 22, S. 370). Den Umschlag von nüchterner Sachlichkeit in eine affektgeladene Ausdrucksweise beobachtete in Dissertationen des 17. Jahrhunderts Ernst Koch, Passion und Affekte in der lutherischen Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, Wiesbaden 2005, S. 509–518: Der Wechsel des Aussagemodus wird hier mit dem lutherischen Theologieverständnis erklärt, »[…] das das Herz an der Diskussion von Fragen des Glaubens beteiligt sehen wollte.« (ebd., S. 516). Auf die unterschiedliche Rolle, welche den Affekten in der frühneuzeitlichen Disputationstheorie und -praxis zugesprochen wurde, insbesondere auf die differenzierte Affektkritik seit der Frühaufklärung, komme ich an anderer Stelle zurück. 77 Für Werenfels, Dissertationum volumina (wie Anm. 24), cap. X, § 2, S. 259, bringt das demonstrative Beweisverfahren die Studierenden einer Sache näher und erfüllt auch im Hinblick auf die disputatio, obwohl es da nicht anwendbar sei, eine propädeutische Funktion. Christian Wolff hält, wie seine den Unterricht stark beeinflussenden Anhänger, darunter Friedrich Christian Baumeister (1709–1785) und Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750), in den Logiklehrbüchern an der disputatio und am Syllogismus fest (vgl. Christian Wolff, Von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche, hg. Hans Werner Arndt, Hildesheim / New York 1978, 15. Capitel, Wie man disputiren soll, S. 241– 243, hier S. 243, § 8). Hin und wieder wurde die demonstrative Methode von der Irenik beansprucht; negative Auswirkungen der mathematischen Demonstration auf die disputatio werden nicht befürchtet, im Gegenteil: Est igitur perspicuum, quare Methodus Mathematica ad sopiendas lites commendari, & Mathematicis solida eruditio tribui possit. (Georg Heinrich Ribovius (Pr.) / Johannes Weise (Resp.), Dissertatio philosophica de controversiis eruditorum generatim consideratis, 7. Juni 1727, Helmstedt: Paul Dietrich Schnorr [Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: Yx 149.8° Helmst], § LXII, S. 26). Feuerlein, Regulae praecipuae (wie Anm. 8), cap. III., regulae opponentis, XXVI., S. 11, hält die methodus
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17. Jahrhunderts sei, so eine verbreitete Meinung, den Dissertationen und der disputatio in den gelehrten Journalen eine Konkurrenz erwachsen, doch machten, was ebenfalls zu beachten ist, die Rezensionszeitschriften universitäre Kleinschriften bekannt, deren Distribution zudem, wie erwähnt, auch eigens für sie vorgesehene Periodika übernahmen. Anderseits richtete sich das Bestreben von Michaelis, die Disputation und die Bewährung der Examenskandidaten vor öffentlichem Publikum zu einer Hauptanforderung der Promotion zu machen,78 ausdrücklich gegen den angeblich von der anonymen Verfasserschaft gedeckten Grobianismus der Zeitschriftenartikel.79 Ihnen stellte er die Verfahrenstransparenz der disputatio und das Urteil der versammelten akademischen Augenzeugen gegenüber: Nicht die Zeitschriften und die Journalisten, sondern die Disputanten sind für die kritische Aufklärungsarbeit zuständig und für deren Gelingen verantwortlich. Michaelis’ Attacke gegen die Journale sowie die Instrumentalisierung der disputatio für die Aufklärung der heranwachsenden Gelehrtenelite stellen wohl dennoch Reaktionen auf das zwischen den beiden Informationsträgern festgestellte Konkurrenzverhältnis dar. Um die ihnen moralisch anrüchig erscheinende simulatio zu vermeiden, setzten sich, wie angedeutet, die Aufklärer gegen alle theatralischen Effekte zur Wehr und gleichzeitig bedingungslos für die offene und ehrliche Vertretung des eigenen Standpunkts in Disputationen und Dissertationen ein.80 Die moralische Verpflichtung, für die verfochtene Wahrheit persönlich einzustehen, und die Tatsache, dass Verfahrensaufwand und Kosten des häufigen Disputierens manchmal Anstoß erregten, führten zum allmählichen Aussterben der früher so zahlreichen öffentlichen Übungsdisputationen.81
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mathematica bestenfalls für eine schriftliche Beweisführung, nicht aber für die Disputation geeignet: […] methodus Mathematica est nimis prolixa, &, ubi locum habet, magis scriptioni quam vivae voci, convenit. Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 129f. (Disputation als öffentliches Examen). Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 67–69. Christian Thomasius, Ausübung (wie Anm. 51), 5. Hauptstück, S. 274. An Beispielen statistisch dokumentiert bei Hanspeter Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten im deutschen Sprachraum. Versuch eines skizzenhaften Überblicks, in: Rainer A. Müller (Hg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne, Köln 2001, S. 1–20, hier S. 5–8. Heinrich Philipp Konrad Hencke, Instituti disputatorii a se stabiliti rationem reddit, Helmstedt: Maria Elisabeth Schnorr 1777 [Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: H.Yx 51.8° Helmst.(6)], der den Niedergang der Übungsdisputationen bedauerte, sich in später Zeit noch für deren Erhaltung stark machte und Teilnehmer für die angekündigte Disputationsübung suchte: Magnus olim honor habitus est in Academiis huic exercitationis generi, quod hodie propemodum obsolevit, et parum abest, quin contemnatur et derideatur; adeo mutabilis est sors et existimatio eiusdem rei per vices temporum. (S. 6).
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Am Ende des 18. Jahrhunderts fielen dann, unter dem Einfluss des Josephinismus, auch in katholischen deutschen Ländern das akademische Zeremoniell und die inszenierte Meinungsbildung noch weiter in Ungnade. Man sah Gemeinsamkeiten zwischen dem Disputationszeremoniell und den im Gottesdienst praktizierten, nun aber verpönten Riten: Also das Disputiren war mit religiösen Wesen, mit Meßehören, mit Glaubensbekenntnißen und Eidschwüren vereint? 82 Schon Michaelis hatte das akademische Zeremoniell trotzdem retten wollen und nach einem zeitgemäßen Wortlaut für die seiner Ansicht nach längst veralteten Doktoreide gesucht.83 Vor allem die feierliche Inauguraldisputation wurde von der aufklärerischen Kritik stark getroffen.84 Lange bevor Michaelis die disputatio vom Pomp der Komplimente befreien wollte,85 hatte ihnen schon Christian Thomasius den Kampf angesagt und in den unter seinem Vorsitz verteidigten Dissertationen den Garaus gemacht. Walch nahm, von Thomasius abhängig, die Kritik am Komplimentierwesen in sein Lexikon auf.86 Die Frage, wie Glückwunschadressen in Dissertationen abzufassen seien, war für ihn kein Thema mehr, wohl aber noch Jahrzehnte früher für den Zisterzienser Johann Caramuel y Lobkowitz (1606–1682).87 Tatsächlich wurden nach 1750 Glückwunschadressen in Dissertationen weit rarer, verschwanden aber, ebenso wie lange persönliche Widmungen, nicht vollständig.
82 Almanach für Aerzte und Nichtaerzte auf das Jahr 1786, hg. von Christian Gottfried Gruner, Jena: Christ. Heinrich Cunos Erben 1786, Mikrofiche-Ausgabe, Hildesheim 1997, Warum disputiren die Aerzte auf den Oesterreichischen Akademien nicht mehr?, S. 239–241, Zitat S. 241. 83 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 145–163 (zeitgemäße Eide). 84 J. B., Gedanken eines akademischen Bürgers über öffentliche akademische Disputationen, und die damit verbundene Licentiaten- oder Doctorwürde, in: Siegmund Freiherr von Bibra (Hg.), Journal von und für Deutschland. Siebenter Jahrgang. Siebentes bis zwölftes Stück, Frankfurt a. M.: Hermann 1790 [München, Bayerische Staatsbibliothek: 4° Per.11], S. 480–489. Zur Krise des Promotionszeremoniells am Ende des 18. Jahrhunderts: Barbara Stollberg-Rilinger, Von der sozialen Magie der Promotion. Ritual- und Ritualkritik in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, in: Paragrana 12 (2003), S. 273–296, und Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm. 4), insbesondere S. 357–366 und 403–406 (S. 364 ist der hier nachgewiesene Journaltext ebenfalls herangezogen worden). Vgl. auch Marian Füssel, Ritus Promotionis. Zeremoniell und Ritual akademischer Graduierungen in der frühen Neuzeit, in: Examen, Titel, Promotionen (wie Anm. 42), S. 411–450. 85 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 47–49 (mit einer Aufzählung der einzelnen Komplimente). 86 Walch, Philosophisches Lexikon (wie Anm. 75), Sp. 529. 87 Johann Caramuel y Lobkowitz, Metalogica, disputationes de logicae essentia, proprietatibus, et operationibus continens, Frankfurt a. M.: Johann Gottfried Schönwetter 1654 [VD 17 1:074880T], liber X, De severa argumentandi methodo, pars prima theorica, disputatio VIII. De dedicatoria; prologo; & gratiarum actione, S. 41–46.
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Die akademische Debatte, die über die Disputation im 18. Jahrhundert so grundsätzlich und umfassend wie noch nie zuvor geführt wurde, hinterließ ihre Spuren auch im Erscheinungsbild der Dissertationen. Sie wurden von okkasionellen Paratexten und deren lebensweltlichen Bezügen gereinigt; von der früheren Vielfalt der Dissertationsformen blieb im 19. Jahrhundert nur noch die vom Doktoranden verfasste Inauguraldissertation übrig. Die neuen Dissertationen unterscheiden sich daher von den sogenannten alten durch die Autorschaft des Promovenden sowie durch das völlige oder weitgehende Fehlen der auf den Anlass der Disputation bezogenen Merkmale. Hinzu kommen die ebenfalls im 18. Jahrhundert vermehrt infrage gestellten und dann fallen gelassenen traditionellen Argumentationsverfahren der Topik, der Typologie der Ursachen (genera causarum) und, schließlich, einige Zeit später, das syllogistische Prozedere, an dem Michaelis in der zweiten Jahrhunderthälfte noch ohne Wenn und Aber festhielt.88 An der im Jahre 1770 gegründeten Hohen Karlsschule in Stuttgart wurden noch 1782, im Jahr ihrer Erhebung zur Universität, philosophische Disputierübungen angeboten, obwohl hier vornehmlich Offiziere ausgebildet, Fächer wie Deutsch, moderne Fremdsprachen, Ökonomie sowie Handelskunde unterrichtet wurden und die Studenten in den Techniklektionen auch Werkstätten von Künstlern und Handwerkern besuchten.89 Friedrich Schiller verfasste und verteidigte bekanntlich seine an der Karlsschule unterbreitete medizinische Dissertation über die körperlich-geistige Doppelnatur des Menschen immerhin in deutscher Sprache.90 Die handschriftlich eingereichte Version war weit ausführlicher als die gedruckte, die zur öffentlichen Prüfung einlud und dieser als Verteidigungsschrift zugrunde lag.91 Ob man, wie oft, Druckkosten sparen wollte? Literarische Gattungsbestimmungen drohen den Horizont des Historikers auf Textsorten und Ideengeschichte einzuengen; ausgeklammert bleiben dann gesellschafts- und bildungspolitische Veränderungen, der Wandel beruflicher Anforderungsprofile, wissenschaftlicher Kommunika88 Michaelis, Räsonnement (wie Anm. 41), S. 42 (Syllogismus verhindert Redundanz und Geschwätz). 89 Verzeichnis der Vorlesungen, welche in dem Jahr 1782, sowohl von sämtlichen Professoren als übrigen Lehrern der Herzoglichen Carl=Universität zu Stuttgard gehalten werden, Stuttgart: Christoph Friedrich Cotta [Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: Az 15164], S. 6 (Werkstattbesuche), S. 9 (Disputierübungen). 90 Friedrich Schiller, Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, Stuttgart: Christoph Friedrich Cotta [1780], in: Benno von Wiese (Hg.), Schillers Werke, Nationalausgabe, 21. Band, Erster Teil, Weimar 1962, S. 37–75 (Text); Zweiter Teil, Weimar 1963, S. 124–132 (Kommentar). 91 Schiller, Nationalausgabe (wie Anm. 90), Kommentar, S. 125.
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tionsformen und Institutionen, die Rolle des Staats und der Finanzen. Die zunehmende Spezialisierung von Lehre und Forschung veränderte, zumal in den Naturwissenschaften, die Standards der Ausbildung. Auf all diese Vorgänge konnte hier nicht eingegangen werden, obwohl sie die Entwicklung des Disputations- und Promotionswesens vor allem im 19. Jahrhundert entscheidend beeinflussten.92 Die im 18. Jahrhundert eröffnete Grundsatzdebatte über die disputatio kann als Indikator für die genannten langfristigen historischen Veränderungen interpretiert werden, obwohl es schwerfallen dürfte, Kausalitäten zwischen ihnen und der veränderten literarischen Gattungsnorm exakt nachzuweisen.
92 Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten (wie Anm. 53), bringt die Entwicklung des frühneuzeitlichen Promotionswesens mit sozioökonomischen Vorgängen und mit den sie begleitenden Prozessen von Rationalisierung und Modernisierung in Verbindung.
II. Synergien und Konkurrenz im Gattungskontext
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Published academic disputations in the context of other information formats utilized primarily in Central Europe (c.1550–c.1700) What is – or: what can be understood to fall under the umbrella of – an academic disputation? An answer to this question can be approached by placing such disputations within the context of other information formats – which could also be referred to in this context as instructional media – that were utilized in academic instruction (held primarily in the German language area of Europe) during the period between 1550 and 1700.1 1
Library / archive locations and call numbers are given for all materials – appearing in print or manuscript form – prior to the year 1800 cited in this article. The following abbreviations are utilized for this purpose: BSB = Bayerische Staatsbibliothek (München); HAB = Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel); UA = Universitätsarchiv; UB = Universitätsbibliothek; ULB = Universitäts- und Landesbibliothek; Univ. of Illinois = University of Illinois, The Rare Book and Manuscript Library (Urbana-Champaign, USA); UStB = Universitäts- und Stadtbibliothek. 1547 is the earliest publication date of any disputation that could be located in the course of research done for this study (and previous studies by this author). Manuscript records of such disputations from the early sixteenth century do exist; two such manuscript collections can be mentioned. Disputations held at the University of Leipzig in partial fulfilment of the Master of Arts degree from 1512 through 1553 are extant at Leipzig UA: Urkundliche Quellen B 066 (1512–1527), B 067 (1527–1539), B 068 (1540–1553). A collection of public and private disputations held at the University of Heidelberg Faculty of Arts during the years 1537 and 1538 is extant in manuscript form: Bibliotheca Apostolica Vaticana (Vatican Library, Vatican City) Pat. Lat. 201; a film of this collection is available at Saint Louis (Missouri / USA), Vatican Film Library: Film Roll 3638. One may ask why there do not appear to be any (or: hardly any) published disputations prior to this date. It could be argued that opposition to intricately organized (i.e., »scholastic«) disputations by some (»humanist«) authors active in the late fifteenth and early sixteenth centuries (e.g., Desiderius Erasmus, Juan Luis Vives) served as a factor here, cf. the relevant discussion given in Ku-ming (Kevin) Chang, From Oral Disputation to Written Text. The Transformation of the Dissertation in Early Modern Europe, in: History of Universities 19 (2004), pp. 129–187 (159–161, 184). The earliest examples of published disputations found here were published in connection with instruction at the University of Königsberg in the late 1540s (see the first title cited within fn. 36 as well as A. in Table 13). It could also be argued that Jesuit academic institutions played a leading role holding published
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When comparing disputations to other information formats / instructional media the following two general questions arise: 1. What is meant by – and what is included within the context of – information formats / instructional media? 2. To what extent can and/or should disputations be considered to include (a) published disputations as well as (b) disputations that were held orally but concerning the content of which we have relatively little – or no – written information? The constituent parts of academic instruction during this period can be placed within two broad categories: 1. the presentation of accepted knowledge and doctrines falling within subject-matters belonging to the academic curriculum and 2. academic exercises intended to provide students with basic skills pertaining to that curriculum. Accepted knowledge and doctrines normally were orally delivered to students in the form of lectures. Many of these lectures have survived in written form, either as unpublished manuscripts (as lecture manuscripts and as notes taken by students) or in published form (usually as textbooks).2 Also extant – both in published and unpublished form – are collections of commonplaces, encyclopaedias, lexicons and other book-length writings generally intended to supplement lectures and published textbooks.3 During the period between 1550 and 1700 general discussions of academic exercises appear to have been rare; classifications of academic exercises given within two such general discussions are outlined in Tables 1 and 2.4 Zepper’s discussion of academic exercises (Table 1) focuses on
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disputations during the second half of the sixteenth century, cf. the following publications: Ulrich G. Leinsle, Dilinganae disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648, Regensburg 2006; Gerhard Stalla, Bibliographie der Ingolstädter Drucker des 16. Jahrhunderts, Baden-Baden ²1977. Refer to the following article: Ann Blair, Note-Taking as an Art of Transmission, in: Critical Inquiry 31 (2004), pp. 85–107. Refer to the following publications (monograph, article, and bibliography): Ann Moss, Printed Commonplace-Books and the Structuring of Renaissance Thought, Oxford 1996; reviewed by Joseph S. Freedman in Scientia poetica 2 (1998), pp. 222–242; Joseph S. Freedman, Encyclopedic Philosophical Writings in Central Europe during the High and Late Renaissance (c. 1500 – c. 1700), in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), pp. 212– 256 as reprinted in Joseph S. Freedman, Philosophy and the Arts in Central Europe, 1500– 1700. Teaching and Texts at European Schools and Universities during the High and Late Renaissance, Aldershot / Brookfield 1999, VI; Giorgio Tonelli, A short-title list of subject dictionaries of the sixteenth, seventeenth, and eighteenth centuries as aids to the history of ideas, London 1971, exp. ed., rev. and annot. by Eugenio Canone, Firenze 2006. G[eorg](G)[umpelzhaimer], Gymnasma. De exercitiis academicorum (Argentinae: Sumpt. Eberhardi Zetzneri bibliop. 1621) [Wolfenbüttel HAB: 577.1 Quod. (1)] (after page 65, second pagination); Wilhelmus Zepperus, De politia ecclesiastica sive forma, ac ratio administrandi, et gubernandi regni Christi, quod est ecclesia in his terris (Herbornae: Ex
Academic disputations and information formats (1550 –1700)
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theology students, while Gumpelzhaimer apparently directs his discussion (Table 2) towards a more general audience.5 One point must be emphasized here: disputations – which are mentioned in both of these discussions – appear to have been the only genre of these academic exercises published in substantial quantities during this period.6 Also extant from this period are significant numbers of curriculum plans for individual Central European schools and universities.7 Normally these curriculum plans included discussion of academic exercises. Six such curricular discussions of academic exercises are summarized in Tables 3, 4, 5, 6, 7 and 8. The school in Bremen (Tables 4 and 8) was Reformed Protestant while the school in Goldberg (Table 6) was Lutheran. The remaining three curricula – in Münster / Westphalia (Table 3), Freiburg im Breisgau (Table 5) and Cologne (Table 7) – were written by Roman Catholics, one of which (Cologne) was prepared by Jesuits.8 Disputations
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officina Christophori Corvini 1595), fol. c3r, pp. 45–47 [Wiesbaden, Hessische Landesbibliothek: Herb. 595zp]. Refer to the following additional published example: Jodocus Jungman, Trium logicarum artium praxis, hoc est: de exercitatione liber grammaticae, rhetoricae, dialecticae praxin et usum ex Petri Rami instituto et methodo … demonstrans (Cassellis: Excudebat Wilhelmus Wesselius 1598) [Gotha, Forschungsbibliothek: Ph. 8° 140/5 (1–2)]. The latter’s extensive presentation of academic exercises falling roughly within the scope of military and physical education is not reflected within most sixteenth- and seventeenthcentury curriculum plans. Such exercises clearly took place in academies for nobles during the early modern period; refer to the following study: Klaus Bleeck, Adelserziehung auf deutschen Ritterakademien. Die Lüneburger Adelsschulen 1655–1850, 2 vols., Frankfurt a. M. et al. 1977. Some dramatic works that arose in academic contexts were also published during this same period; refer to the following studies pertaining to Jesuit drama: Jean-Marie Valentin, Les jésuites et le théâtre (1554–1680): contribution à l‘histoire culturelle du monde catholique dans le Saint-Empire romain germanique, Paris 2001; Johannes Müller, Das Jesuitendrama in den Ländern deutscher Zunge vom Anfang (1555) bis zum Hochbarock (1665), 2 vols., Augsburg 1930. Additional relevant writings are cited in fn. 10. Refer to the many examples of such curriculum plans cited within Freedman, Philosophy and the Arts (see fn. 3). [Münster / Westphalia (1551)]: Königliches Paulinisches Gymnasium zu Münster. Festschrift zur Feier der Einweihung des neuen Gymnasialgebäudes am 27. April 1898, Münster 1898, pp. 139–143; [Bremen (1568)]; Brevis artium et lectionum index, quibus Deo praeside, aestate veniente anni 1568 in Schola Bremensi naviter intendemus [Bremen UB: Brem. b. 446 (nr. 10)]; [Freiburg / Breisgau (1593)]: Synopsis ordo et catalogus praelectionum, et exercitationum faculta[tis] artium, et classium eidem coniunctarum; una cum indice Professorum, & auctorum, qui hoc anno M.D. XCIII. in eadem Faculta[te] artium & classibus Archigymnasii Friburgensis Breisgo[iae] docebuntur (Friburgi Brisgoiae: Apud Martinum Becklerum 1593) [Freiburg/Br. UB: B 8980]; [Goldberg / Silesia (1620]: Gustav Bauch, Valentin Trozendorf und die Goldberger Schule, Berlin 1921, p. 470 (Exercitiorum Per Classes haberi consuetorum universim haec esto synopsis, 1620); [Cologne (1641– 1642)]: Elenchum librorum, quos Coloniae Agrippinae in Gymnasio trium Coronarum
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and declamations are mentioned within all six of these curricular discussions. Disputations – as will be discussed shortly – fell principally within the realm of logic, while declamations were rhetorical exercises. Generally speaking, rhetorical and grammatical exercises – including style exercises (exercitium styli), grammar, reading, and writing exercises, letter writing and poem writing – appear to have been prominent (if not dominant) components of these academic exercises.9 Repetition, recitation, translation and pronunciation exercises as well as religious exercises (primarily involving the use of catechisms and biblical texts) and music are also often mentioned. Additional subject matters (e.g., drama and physical exercises) sometimes appear as well.10 The curricula of the Cathedral School in Münster / Westphalia from the year 1551 (Table 3) and of the Bremen School from the year 1568 (Table 4) are both missing the grade level 1 (i.e., the highest grade); the grade level 1 curricula at both schools presumably consisted of academic travel (apodemica) during which students often would visit universities in some region(s) of Europe.11 Both of these curricula also briefly discuss how Professores e Societate Jesu exeunte anno 1641 in sequentem annum 1642 suis auditoribus sunt praelecturi [Köln, Historisches Archiv: Univ Abt. 1048]; reprinted in Josef Kuckhoff, Die Geschichte des Gymnasium Tricoronatum, Köln 1931, pp. 344–345; [Bremen (1688)]: Index lectionum et exercitationum in illustri schola Bremensi ... hac hieme anni 1688 habendarum ... Progressione classium d. 25. Octob. (Bremae: Typis Hermanni Braueri illustris scholae typographi 1688) [Bremen, Staatsarchiv: 2- ad T.5. a.1.a.Nr. 6 (O.26)]. 9 This also can be documented on the basis of additional curriculum plans cited in Freedman, Philosophy and the Arts (see fn. 3). 10 Concerning drama and physical exercises refer to fns. 5 and 6 above; both are mentioned in the curriculum plan of the Goldberg school from the year 1620 (see Table 6). Comedies and tragedies are mentioned in a curriculum plan written for a Lutheran school in Regensburg from the year 1567: Hieronymus Osius, Scriptum continens ceu oeconomiam quandam lectionum, et exercitiorum, quae publice ac privatim adolescentiae literariae in Gymnasio Ratisponensi proponuntur (Ratisponae: Excudebat Henricus Geisler 1567), fol. L3v–L4r [Chicago, Newberry Library: Case I 7.73]. Also refer to the following publication containing two plays that were apparently written for performance at Jesuit academic institutions: Franciscus Bencius SJ, Carminorum libri quatuor eiusdem Ergatus et Philotimus, dramata. Editio tertia auctior (Ingolstadii: Excudebat Adam Sartorius 1599), pp. 213–274, 285–342 [Chicago, Newberry Library: Case Y 682 .B428 (2)]. 11 Some writings on the subject-matter of academic travel (apodemica) were published during this period. Refer to the following examples: Theod[orus] Zwingerus, Methodus apodemica in eorum gratiam, qui ... peregrinari cupiunt (Basileae: Eusebii Episcopii opera atque impensa 1577) [Köln UStB: P 1/16]; Matthias Berneggerus (Pr.) / Daniel Gruberus (Resp.), Discursus historico-politicus de peregrinatione studiosorum (Argentorati: Typis Johannis Reppii 1618) [München BSB: 4° Diss. 3232 (18)]; Matthias Steuchius (Pr.) / Johannes Vallenius (Resp.), Dissertatio academica de eruditorum peregrinatione ... ad d. 19. Maij 1680 (Upsaliae: Excudit Henricus Curio) [München BSB: 4° Diss. 523 (23)].
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disputations were to be conducted; in each one, the roles of the opponent and the respondent are discussed. In the Münster curriculum it is also noted that gymnasiarcha or the conrector – that is, the two lead teachers at the school – function as the moderator (i.e., as the presider) in such disputations.12 During the period between 1550 and 1700 many authors discussed the subject matter of disputations in writings specifically devoted to that subject-matter and in texts on logic that included discussion thereof.13 12 Discussions of the role of the presider within the curriculum prepared for schools in Duisburg (1561), Regensburg (1567) and Soest (1618) are quoted here: De disputatione. In disputationibus tractandis solennis mos esse solet, ut decerptis ex auctore praelecto thesibus, discipuli ordine partiti quaestiones, oppugnantibus ceteris responderent. ... Quamobrem quoties instabunt exercitiorum periodi, singuli putent fore, ut vel oppugnatores vel defensores constituantur. Idem non incommode observetur in examinationibus, idem in declamationibus. Utrancunque demum contingent cuiquam imponi personam, si vel ad interrogandum, vel ad respondendum venerit imparatus, ipse mulctetur, cedenti succedet ad eandem fortunam alius. Consumptis utrimque argumentis praeses suam interponat sententiam. ... Absint in congressu clamores, convitia, superbae contentiones, contumax silentium, quibus veritas aut amittitur aut obruitur. Penes praesidem esto prorogare sermonem disserentium, abrogare, substituere, pro ut putabit ad bonam disciplinam, elegantemque contendendi vigorem requiri. Henricus C. Geldorphius, De optimo genere interpretandae philosophiae, in quo explicatur simul ratio atque ordo Scholae Dusburgensis (sine loco: 1561), fol. H1v–H2r [Leiden UB: 20643 F 16]; De Disputationibus. ... proponuntur, quae praesentibus scholae praefectis, & alijs huius Reipubl. viris doctis, disputabuntur, respondente uno ex alijs huius Reipubl. viris doctis, disputabuntur, respondente uno ex adultionibus, & praesidente scholae Rectore ... publicae disputationes fient. Privatas huius Gymnasij disputationes voco eas, quae non nisi in supremo auditorio, & tantum praesente Rectore inter scholasticos fient ... . Osius, Scriptum Gymnasio Ratisponensi (see fn. 10), fol. L3r–L3v; Praeses, praemissis precibus brevique prooemio primum scholarchas, pastores aliosque praestantes viros, disputationis amore praesentes, postmodum discipulos ordine ac honeste ad conflictum provocato, plebeias rixas & ambages evitato, tandem prece & gratiarum actione finito. ... Disputationes ex omnibus lectionibus instituto. ... Modus autem disputandi sit huiusmodi. 1. Opponens suae objectionis cuiuslibet rationes ipse perspectas habeat, ut Respondentem errantem corrigere queat. 2. Respondens objectionem repetitam secundum praecepta examinet, hoc modo: ... . Didascalia Susatensis exhibens ... normam et formam docendi ac discendi ... usurpandum (Susati: Officina typographica Joannis Zeisenii 1618), fol. a1r–c4r (A3v, c3r) [Soest, Wissenschaftliche Stadtbibliothek: Ss 1018 (Rara)], republished in Jahresbericht über das Archigymnasium zu Soest ... von Ostern 1884 bis dahin 1885, Soest 1885, pp. 21–34 (24, 33). Concerning the role of the presider refer to the comments by Timpler (1612) cited in the following footnote. 13 The earliest published discussion of disputation theory that could be located here is in the following work: Johannes Spangenberg, Trivii erotemata. Hoc est, grammaticae, dialecticae, rhetoricae. Quaestiones (Vitebergae: Impressum apud Georgium Rhau 1542), fol. 148v– 152v [Wolfenbüttel HAB: H: P 901.8° Helmst.]. I wish to thank Ulrich Kopp (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) for his help in verifying this reference. Disputations are also discussed on fol. 133v–136r of a later edition thereof (Excusum Moguntiae: 1545) [Mainz, Bibliothek des Gutenberg Museums: Ink.a.12]. Refer to the following additional examples of writings on the subject-matter of disputation theory: David Chytraeus, De
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Table 9 presents one such discussion given in the year 1552 as published in a textbook on logic by Augustinus Hunnaeus.14 In defining the disputation (A. in Table 9) he notes that it either [1] is used to search for truth or [2] is held for practice purposes. He also notes (E. and F.) the importance of repetition within the framework of disputations. But especially worthy of mention are the following two points. First, when discussing the duties of the two required participating parties in the disputation – the defendant (defendens) and the opponent (oppugnans) – the author refers to them (D.) as the authors (auctores) of the disputation.15 ratione discendi, et ordine studiorum in singulis artibus recte instituendo (Witebergae: Johannes Schwertelius excudebat 1567), fol. D6v–D7v (Disputationes); Wolfgangus Heiderus (Pr.) / Martinus Jacobus (Resp.), Theses de ratione disputandi ... ad diem IX. Aprilis loco & tempore consueto (Jenae: Typis Tobiae Steinmanni 1597) [München BSB: 4° Diss. 1875 (10)]; Christophorus Butelius, Enchiridion philosophicum, compendiose continens fere omnes philosophiae Aristotelicae disciplinas & praecipuas controversias (Lubecae: Typis Johannis Albini impensis Samuelis Jauchii Civis & Bibliop. 1609), fol. )(2r–)(6r [Berlin, Staatsbibliothek: Ni 7284]; Johannes-Henricus Alstedius, Philosophia digne restituta (Herbornae Nassoviorum: 1612), pp. 454–455 (De disputatione) [Marburg UB: XIV C 136]; Clemens Timplerus, Logicae systema methodicum libris V. comprehensum (Hanoviae: Typis haeredum Guilielmi Antonii 1612), pp. 850 (nos. 36–38, 870–871) [Köln UStB: P 5/56]; J[acobus] Crucius, Medulla logicae (Delphis: Ex officina Johannis Petri Waelpot 1625), second pagination, pp. 1–9 (Appendix. De usu artis logicae in disputando.) [Berlin, Staatsbibliothek: Nl 11439]; Johannes Conradus Dannhauerus, Idea boni disputatoris et malitiosi sophistae ... editio tertia (Argentorati: Typis Joh. Philippi Mülbii 1648) [Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek: Phil. T 4/35]; Petrus Godartus, Totius philosophiae summa (Parisiis: Apud Aegidium Alliot 1666) [Rostock UB: Eb 3163]; Jacobus Thomasius, Erotemata logica pro incipientibus. Accessit pro adultis processus disputandi (Lipsiae: Sumptibus Georgii Heinrici Frommanni literia Johannis Coleri 1678) [Wolfenbüttel HAB: Xb 2011 (2)]; Joh. Philippus Treiber, Processus disputandi per dichotomias delineatus (Jenae: Apud Heinr. Christoph. Cröckerum, bibliop. 1699) [München BSB: 2° Diss. 8 (127)]. Also refer to the following study: Donald L. Felipe, The Post-Medieval Ars Disputandi, Ph. D. Dissertation, University of Texas-Austin 1991. The following treatise on disputation theory – published in 1658 and republished in the year 1664 – is the earliest (and only) such treatise by a Jesuit author that could be located when researching this article: Henricus Marcellius SJ, Ars disputandi ex optimis Academicarum legibus concinnata (Coloniae Agrippinae: Apud Jodocum Kalcovium 1658) [München UB: 8° Philos. 638]; Henricus Marcellius SJ, Pars secunda reginae scientiarum sive ars disputandi ... Item principia generalia scientiarum ... Nunc inde compendio sesumpta et seorsim in gratiam Academicae iuventutis secundo edita (Tremoniae: Apud Jodocum Kalcovium 1664) [München UB: 8° Philos. 608 (1/2)] On the other hand, Jesuit academic institutions appeared to take a leading role in introducing published disputations during the late sixteenth century (see fn. 1). 14 Augustinus Hunnaeus, Prodidagmata de dialecticis vocum affectionibus et proprietatibus (Antwerpiae: Ex officina Christophori Plantini 1584), pp. 87–116 (Augustini Hunnaei Erotemata de disputatione, dialectice recteque instituenda, variis exemplis nunc demum locupletata. ... 1552) [München BSB: L.eleg.g. 276m] 15 Quot ad disputationem sunt necessarij? Duo[:] Oppugnans & Defendens. Hunnaeus, Prodidagmata (see fn. 14), p. 92; on fol. H2v (= p. 116) of this same work, Hunnaeus notes that
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Second, examples of arguments (to be) given by the defendant and by the opponent are presented (G.). Table 10 presents a discussion of the common duties of respondents and opponents during disputations as published within a disputation (in which Georgius Andreas Fabricius acted as the presider and Justus von Minnigerode acted as the respondent) from the year 1624.16 Disputations are regarded as exercises falling within the domain of logic and to which grammar and rhetoric also pertain.17 The disputation is defined in terms of the search for truth and as an exercise held for purposes of practice.18 Elsewhere within this disputation, Fabricius and von Minnigerode mention the role of repetition within disputations.19 It is noted that the two parties required for a disputation are the proponent (proponens) and the opponent (opponens). The role of the proponent here does not differ from that of the defendant as discussed by Hunnaeus (Table 9). In this context the following five points can be noted. First, both of these two discussions (Tables 9 and 10) explore the role of the opponent in detail; on the other hand, opponents are almost never mentioned within disputations published during the late sixteenth and the seventeenth centuries.20 Second, the term »respondent« (respondens) normally has the
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the authors (auctores) of the disputation are the opponent (oppugnans) and the defendant (defendens). Georgius Andreas Fabricius, Thesaurus philosophicus, sive tabulae totius philosophiae systema ... complectentes (Brunsvigae: Typis et sumptibus Andreae Dunckeri 1624), pp. 104– 130 (Georg(ius) Andreas Fabricius (Pr.) / Justus a Minnigeroda (Resp.), Disputatoria), pp. 105–107 [Tübingen UB: Aa 6 20]; this encyclopaedia is cited in full in G. of Table 13. In this classification, arts (artes) are only divided into the two sub-categories of general (generales) and special (speciales); a detailed classification of the parts of philosophy (which is used synonymously with the arts) is provided elsewhere in Fabricius’s encyclopaedia. The general philosophical disciplines are logic, grammar and rhetoric; three arts are mentioned that serve as practice of these general philosophical disciplines: oratory, poetica and disputation theory (disputatoria). Special philosophical disciplines mentioned in this classification are metaphysics, physics, arithmetic, music, optics, astronomy, geography, ethics, politics, family life (oeconomica) and history; refer to Fabricius, Thesaurus philosophicus (1624), p. 2. Disputation theory was generally discussed within the context of writings on logic, which could include 1. textbooks on logic; 2. encyclopaedias as well as other multi-disciplinary and general works containing a section on logic; 3. treatises on education; 4. treatises and disputations specifically on the subject-matter of logic; disputation theory was sometimes also discussed within curricular documents. Refer to the examples cited in fns. 12, 13, 15 and 16. Fabricius (Pr.) / a Minnigeroda (Resp.), Disputatoria (see fn. 16), p. 107. Fabricius (Pr.) / a Minnigeroda (Resp.), Disputatoria (see fn. 16), p. 110. Refer to the disputation published in 1614 as cited in F. of Table 13. The names of seven opponents (oppugnabunt ... eiusdem philosophiae candidati) are given in Anastasius Schreiter (Pr.) / Gratianus Landolt (Resp.) / Justus Zinck (Resp.), Quaestiones philosophicae, ad men-
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same meaning as »defendant« (defendens) and »proponent« (proponens); opponens, oppugnans, quaerens and argumentans are terms used to refer to the opponent.21 In at least some cases, however, the term proponens is used to denote the presider of a disputation.22 Third, the presider is normally mentioned on the title page of disputations published during the late sixteenth and the seventeenth centuries.23 Yet during this same period, some discussions on disputation theory (e.g., Fabricius and von Minnigerode) discuss the role of the presider while others (e.g., Hunnaeus) do not.24 In those cases when the presider is discussed he is given greater or lesser degrees of authority. In some these discussions
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tem Doctoris Angelici in antiquissimo coenobio B. Virg. Mariae assumptae, ad Favarienses (Lucernae: Typis Davidis Hautt 1640), fol. A1v [Zürich, Zentralbibliothek: RRm 181 (1)]; a list of seven opponents (Primi oppugnabunt egregij adolescentes, sic sorte locati) is given in Andreas Convenentius (Pr.) / Leonardus Holzhalbius (Resp.), Theses philosophicae cum disputatione metaph. 2. de ente possibili. Quas ... sub praesidio … Andreae Convenentij. doct. medic. & philosophiae professoris in Auraicensi Academia tueri conabitur Leonardus Holzhalbius. Disp. in Aula Philosophica die 3. Aug. 1661 (Avenione: Ex typographia I. Piot & P. Offray 1661) [München BSB: 4° Diss. 5431 (20)]; a list of respondents and opponents is given within the following collection of disputations published in Stockholm: Petrus Hoffwenius, Synopsis physica, disputationibus aliquot academicis comprehensa (Holmiae: Excudebat Henricus Keyser 1678) [Stockholm, Royal Library: Sv. Saml. Disputationer Uppsala: P. Hoffwenius 1. 1662–1698 Octavo]. These are the only mentions of opponents – found within disputations published prior to the year 1701 – that I have located to date. The following synopsis of the curriculum of a school in Güstrow presents (fol. A3v and A4v) the titles of disputations (to be) held there together with the names of those students listed as presiders, respondents and opponents therein: Index lectionum et exercitationum, in illustris Athenei Gustroviensis Auditorio majori, anni spatio absolutorum, (Gustrovii: Typis Christiani Scheippelii 1671 mense April.) [Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek: Ant. Graec. 85, misc. 9]. Refer to E. in Table 9, [4.] in Table 10, and C., E., F. and J. in Table 13. In L. and N. of Table 13, the term dirigens appears to be used for the term praeses; in Table 13, the term proponens is used for this same purpose. Heiderus and Jacobus (1597) refer (fol. C3r) to the opponent as the quaerens while Godartus (1666) does the same (p. 224) with the term argumentans; see the writings by Heiderus and Jacobus and by Godartus cited in fn. 13 above. Fabricius and von Minnigerode (1624) use the term proponens to comprise the presider as well as the respondent (see Table 10); Timpler (1612) uses the term respondens to refer to the presider (respondens superior) and the respondent (respondens inferior); see Timpler, Logicae systema methodicum (see fn. 13), pp. 848 (no. 32, 33), 849 (no. 36). For example, refer to M. in Table 13 as well as the following: Johannes Lippius (Pr.) / Sebastianus Carolus (Resp.), Themata musica ... pro loco in ... facultate Jenensi proponit M. Johannes Lippius ... Respondente Sebastiano Carolo ... 22. Decembr. ... (Jenae: Typis Johannis Weidneri 1610) [München BSB: 4° Diss. 2968 (2)]. Here reference is made to disputations that are longer than a single sheet. The role of the presider is discussed by Alstedius (1612), Timpler (1612), Crucius (1625), Thomasius (1678) and Treiber (1699) and is not discussed by Spangenberg (1542 / 1545), Chytraeus (1567), Heiderus and Jacobus (1597), Butelius (1609) or Godartus (1666); refer to the writings cited in fn. 13.
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of disputation theory it is noted that it is in fact not always essential for a disputation even to have a presider.25 Fourth, some writings on disputation theory also discuss the role of the audience, i.e., the role of those additional individuals present at oral disputations but not serving as respondents or opponents.26 And fifth, the respondent and opponent appear to have been regarded as essential roles in virtually all extant discussions of disputation theory as well as in almost all curricular documents pertaining to disputation theory extant in published or manuscript form.27 While style exercises (exercitium styli) are frequently discussed in extant curricular documents from the late sixteenth and seventeenth centuries, detailed discussions of such exercises are rare prior to the latter part of the 25 Timpler (1612) comments as follows concerning the duties of the presider: 36. Officia propria Respondentis superioris seu Praesidis consistunt, partim in moderamine disputationis; partim in subsidio seu auxilio Respondenti praestando. 37. Moderamen disputationis recte a Praeside instituetur. 1. si diligenter attendat, utrum Opponens & Respondens inferior officio suo recte fungatur. 2. si utrumque ab officio suo recedentem admoneat sui muneris, & intra limites disputationis contineat, ne extra oleas, quod dicitur, vagari videatur. 38. Subsidium a Praeside recte praestabitur Respondenti. 1. si solutionem eius veram approbet & commendet: obscuram illustret: imperfectam perficiat: falsam corrigat. 2. si eum argumentis opponentis constrictum exsolvat, omnibusque modis licitis defendat. Timpler, Logicae systema methodicum (see fn. 13), p. 850 (nos. 36–38). Fabricius and von Minnigerode (1624) refer to the presider simply as the disputationis arbiter (see Table 10); Treiber (1699) comments as follows: Controversiam dirimente, seu Praeside; quibus personis praescribitur ratio disputandi per Praecepta & regulas. Treiber, Processus disputandi (see fn. 13), fol. A2r. Timpler (1612) and Crucius (1625) comment concerning the necessity of the presider as follows: Etsi in disputatione qualibet publica, quae in Scholis instituitur ordinarie requiratur Praeses ... tamen extraordinarie fieri interdum solet, ut quis Respondentis officio sine alterius praesidio fungatur. Similiter quotiens disputatio mere privata inter personas quasdam instituitur, non opus est, ut semper Praeses aliquis adsit. Timpler, Logicae systema methodicum (see fn. 13), p. 870; Causae efficientes disputationis sunt duae: Opponens & Respondens, quibus frequenter Praeses aliquis ut honorarius arbiter accedit. Crucius, Medulla logicae (see fn. 13), second pagination, p. 1. 26 Refer to the discussions of persons in the audience (auditores) given in two writings cited in fn. 13 above: Heiderus and Jacobus (1597), fol. D2v (nos. 139–142) and Alstedius (1612), p. 455; the audience (Auscultantibus, seu Auditoribus) is also mentioned in Treiber, Processus disputandi (see fn. 13), fol. A4r. 27 Refer to the writings cited in fns. 12 and 13. The role of the opponent also is mentioned within disputations held in the Philosophy Faculty of the University of Lund during the years 1682 and 1683. Narrative from these disputations – which most probably were held orally at the University of Lund during those two years – is recorded in the minutes of the Lund Philosophy Faculty; there the viewpoints of both respondents and opponents are presented with regard to selected points of doctrine. Refer to the following: Lund (Sweden), Arkivcentrum Syd: Lunds Universitet, Filosofiska Fakultetens: Lund Arkiv, Ser A1, No. 1: Protokoll 1682/3/2 1697 = Protocollum Facultatis Philosophicae post Carolinam restauratam continens Folia, 1682 – 3 Feb 1697, pp. 1–4, 10–12, 26–29, 32–39, 53–59, 107, 113, 121–122. In the case of the Regensburg school curriculum from the year 1567, however, the presider and the respondent are both mentioned while the opponent(s) are not (see fns. 10 and 12).
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seventeenth century.28 Table 11 presents an outline of what can be considered to be an exceptionally well organized and valuable discussion of style and style exercises published as a short monograph by Johann Starcke in the year 1621.29 Important in the present context is the fact that Starcke clearly places style and style exercises within the context of what he refers to as disputations (disputationes) and dissertations (dissertationes; dissertationes scholasticae; dissertatiunculae).30 28 See the following examples of such works published during the late seventeenth century: Joannes Schefferus, De stylo exercitiisque ... ejusdem gymnasium styli, seu de vario scribendi exercitio. Nunc primum in Germania prodeunt (Jenae: Impensis Johannis Bielkii bibliop. typis Johannis Wertheri 1670) [Halle ULB Sachsen-Anhalt: Cb 3571]; Fridericus Redtelius, Collegium styli (Francofurti et Lipsiae: Sumptibus Johannis Adami Pleneri 1685) [Univ. of Ill.: Baldwin 2244]; also see the title cited in fn. 32. Also refer to the sources cited and utilized in Barbara Bauer [Mahlmann-Bauer], Jesuitische ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt a. M. et al. 1986. However, descriptions of style exercises did appear within curriculum plans during the late sixteenth and early seventeenth centuries (see fn. 7) and can be extracted from other sources; see Gerhard Streckenbach, Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel der humanistischen Schülergespräche, Göttingen 1979; Wolfgang Ax (ed.), Von Eleganz und Barbarei. Lateinische Grammatik und Stilistik in Renaissance und Barock, Wiesbaden 2001. Also refer to the following brief discussion of style exercises: Johannes Petrus Pascutius, Artis metricae tractatus ... eiusdem de componenda epistola perutilis tractatus ... eiusdem de styli inventione (Impressum Venetiis: Per Augustinum Mediolanen. 1544), fol. D4r–D8r [Chicago, Newberry Library: Case 4 / 9867 .9313 (2)]. 29 Johannes Starckius, Institutio philologica et rhetorica de stilo, primario philologiae, fine et fructu, optimoque dicendi artifice recte formando (Hamburgi: Ex bibliopolio Frobeniano 1621) [Wolfenbüttel HAB: 494 Hist. (2)] Independent treatises and disputations were written on some of the topics discussed therein; for example, see the following: Pascutius, Artis metricae tractatus (see fn. 28), C4v–C8r; Oratio Toscanella, I modi piu communi con che ha scritto Cicerone le sue epistole secondo i generi di quelle, con altre cose (In Vinegia: Appresso Bolognino Zaltieri 1559) [Chicago, Newberry Library: Case Y 672 .C77948]; Rochus Perusinus, De epistola componenda liber. Editio tertia (Dilingae: Excudebat Joannes Mayer 1588) [Heidelberg UB: G 349 (B)]; Antonius Burchardus, Progymnasmatum eloquentiae partes tres (Stetini: Typis Kelnerianis impensis Johannis E[i]chornij 1612) [Wittenberg, Bibliothek des evangelischen Predigerseminars: UB 4° SW 289/1-3]; Christophorus Schraderus, Dispositiones epistolicae eloquentiae studiosis in Academia Julia traditae (Helmestadii: Typis & sumtibus Henningi Mulleri 1654) [Univ. of Ill.: 881 A 8rh. sc. 95]. Especially valuable are the following: Wolfgangus Schönsleder SJ, Apparatus eloquentiae ... cum praefatione Christophori Cellarii, editio novissima (Lipsiae: Apud haeredes M. G. Weidmanni literis Christ. Scholvini 1698) [Wittenberg, Bibliothek des evangelischen Predigerseminars: UB 8° SW 1081]; Bohuslaus Aloysius Balbinus SJ, Verisimilia humaniorum disciplinarum (Pragae: Typis Universitatis Carolo Ferdinandeae in Collegio Soc. Jesu ad S. Clementem 1666) [München BSB: L. eleg. g. 21]. 30 Starckius, Institutio de stilo (see fn. 29), pp. 10, 124, 125. It is very difficult – if at all possible – to clearly distinguish between a disputation and a dissertation prior to the eighteenth century and these terms cannot be assumed to have been utilized in a uniform manner at individual academic institutions. At the University of Leiden’s Philosophy Faculty, the disputation held in connection with academic degrees in philosophy was referred to as the
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Dialogue was sometimes used within academic writings published during much of sixteenth century; writings concerning the holding and characteristics of dialogues, however, appear to be rare.31 Table 12 presents brief comments pertaining to dialogue excerpted from a treatise on style and dialogue published in the year 1678.32 Here the following points can be mentioned: 1. Dialogue is considered to pertain primarily to teaching (doctrina). 2. Imitation (imitatio) pertains to dialogues. 3. A dialogue can take the form of a colloquium (colloquium) where learned individuals discuss contrary views. 4. A distinguishing but positive characteristic of dialogue is its variety.33 The question of whether such a colloquium can be equated with a disputation will be returned to shortly.34 The variety held to characterize dialogue (in Table 12) can also be regarded as a fundamental component of disputation. The fourteen examples of published disputations presented
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disputatio until the 1720s, when it became known as the dissertatio. Refer to the discussion given in Joseph S. Freedman, Disputations in Europe in the early modern period, in: Universiteitsbibliotheek Leiden (ed.), Hora est! On Dissertations, Leiden 2005, pp. 30–50 (30, 45 [fn. 9]); on page 44 (fn. 7) of that same article, definitions of »Disputation« und »Dissertation« – as presented by Hanspeter Marti in Gert Ueding (ed.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, vol. 2, Tübingen 1994, pp. 866–884 – are quoted in full. For example, Josephus Valdanus, De mistione dialogi duo, Item. Procli de motu libri ab eodem conversi (Basileae: Apud Petrum Pernam 1562) [Univ. of Ill.: Stonehill 30]; Johan. Bernardus Gualandus, De optimo principe dialogus. Authore Ioan. Bernardo Gualando Florentino. Eiusdem de liberali institutione dialogus (Florentiae: Apud Laurentiam Torrentinum 1561) [Chicago, Newberry Library: Case B 67.376]; also refer to the publication cited in fn. 73. The following may have been one of the best known treatises on dialogue published during the sixteenth century: Carolus Sigonius, De dialogo liber (Venetiis: Apud Jordanum Ziletum 1562) [Wolfenbüttel HAB: 200 Quod. (3)]; also see Johannes Jessenius, Caroli Sigonii de dialogo liber ... opera luci redditus ([Francofurti ad Moenum]: Impensis Henrici Osthausij 1592) [München BSB: 8° A. gr. b. 3226]. A short but very informative discussion of dialogue theory can be found in Oratio Toscanella, Quadrivio (Florentiae: Apud Laurentiam Torrentinum 1561), fol. H7r–I3v (In materia dello scrivere dialoghi.) [Chicago, Newberry Library: Case Y 712 .T634]. Dialogue is also briefly mentioned in Starckius, Institutio de stilo (see fn. 29), pp. 8, 10. Petrus Sfortia Pallavicinus SJ / Jacobus Boschius SJ, Tractatus de stylo et dialogo ... Eum ex Italico Latinum fecit Jacobus Boschius (Monachii: typis & impensis Johannis Jaecklini 1678) [München UB: 8° Philol. 337]. Pallavicinius / Boschius (see fn. 32), pp. 318 (A. in Table 12), 321 (B. in Table 12), 351 (C. in Table 12) as well as pp. 347–348. Timpler (1612) appears to link dialogue and colloquium with the disputation as follows: 1. Hactenus explicata est didascalicia, quae est prima pars Logicae specialis: Sequitur dialogistica, quae est altera pars Logicae specialis modum bene disputandi tradens. 2. (Disputatio quid sit.) Est autem disputatio colloquium mutuum opponentis & respondentis, de themate aliquo veritatis cognoscendae gratia institutum. Timpler, Logicae systema methodicum (see fn. 13), pp. 842–843 (nos. 1–2). Also refer to fn. 73 as well as to the corresponding passage in the text of this article.
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in Table 13 serve to illustrate much of this variety. The earliest published disputation that could be located for purposes of this study appeared in the year 1547.35 A., B. and C. in Table 13 are disputations – all published as broadsheets – that were held in the years 1547, 1566 and 1598, respectively.36 Disputation A. in Table 13 is devoted to the subject matter of academic life (de scholastico vitae genere) and consists of 17 theses presented without commentary or other accompanying text. It is noted that this disputation was (to be) held on August 19, 1547.37 The name of the then-current dean of the faculty of arts at the (Lutheran) University of Königsberg is given (i.e., Ioannes Sciurus); however, the actual participants in the disputation are not mentioned in this broadsheet.38 Disputation B. in Table 13 documents an examination – which was to take the form of an oral disputation – given for eight candidates for the Master of Arts degree at the University of Ingolstadt on January 19, 1566.39 The names of these eight candidates as well as the names of six examiners are given on this broadsheet. The five theses that were (to be) examined – taken from the five principal subject-areas (metaphysics, physics, mathematics, ethics and logic) constituting the philosophy curriculum – are also mentioned.40 Disputation C. is the published version of a disputation – apparently not held in connection with an academic degree – in which Bartholomäus Keckermann and Johannes Jodocus Lutz served in the roles of presider 35 Refer back to the discussion given within fn. 1. 36 Some disputations published during the sixteenth century were longer than a single sheet; for example, refer to the following: (Joannes Placotomus), Disputationes quaedam philosophicae in Academia Regiomontana propositae. Item aliquot medicae a superioribus non alienae (Vitebergae: In officina typographica Georgii Rhavi 1548) [Wolfenbüttel HAB: 527.68 Quod. (3)]; Joachimus Camerarius, Capita proposita ad disputandum publice, ea explicantia atque distinguentia quibus studium sapientiae, quae est philosophia, continetur (Lipsiae: XI. Cal. Maii 1564) [Erlangen UB: Phs. IIII 23 (8)]. 37 The words »to be« are put in parentheses here – and elsewhere in this article – because while it normally can be assumed that disputations were made available in printed form prior to being held orally, it cannot be documented that this was always done in actual fact. 38 This is assuming here that the Dean of the Königsberg Arts Faculty did not directly participate in this disputation (orally or in written form). 39 During the course of the early modern period, the Master of Arts degree gradually began (also) to be referred to as a doctoral degree; see the following excellent study of the pre-history and early history of the Doctor of Philosophy degree at the University of Vienna: Richard Meister, Geschichte des Doktorates der Philosophie an der Universität Wien, Wien 1958. 40 Concerning the content of this curriculum in 1560/1561 and 1571 see the following footnote.
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(praeses) and respondent (respondens), respectively. This disputation was (to be) held on November 18, 1598. It consists of 26 theses concerning the location of natural bodies followed by a set of ten theses ((3,0(75$) on this same subject-matter. D. in Table 13 is ostensibly a disputation held by Johannes Krafft upon completion of his three-year philosophy course at the University of Ingolstadt.41 The date in July of 1598 on which this disputation was held – July 3 – is handwritten in a designated blank space on the title page (of this copy). The front side of title page is followed by 12 lines of verse, a letter of dedication (written by Krafft to Anton and Philipp Fugger), the text of Krafft’s disputation (consisting of 50 theses that are devoted to metaphysics, natural philosophy, the soul and logic), statements of approval from the philosophy and theology faculties at the University of Ingolstadt and by two verse selections, at least one of which was written by a fellow student. One of these verse selections refers to Krafft as the respondent; no presider (or opponent) is mentioned anywhere in this disputation.42 However, a separate treatise is appended to (and bound with) Krafft’s disputation. It contains four »sections« which focus on theology, on astronomy, on physics and on mankind. As published here it has no title page. An undated statement placed at the end of its text indicates that it was printed in Padua.43 It is not clear whether Krafft or some other person authored this treatise or why it is appended to the ostensible »body« of this disputation. The form and content of the former differ distinctly from the form and content of the latter.44 Disputation E. was (to be) held at the Academy (Gymnasium illustre Arnoldinum) in Steinfurt on February 2, 1613 with Clemens Timpler serving as presider and Johann Heinrich Wirtz as defendant (i.e., as respondent).45 The dedication, written by the defendant, is followed by 101 »sections« 41 Refer to the extant documents concerning the arts / philosophy curriculum at the University of Ingolstadt in the years 1560/1561, 1571 and 1590 which are excerpted in Arno Seifert, Die Universität Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert. Texte und Regesten, Berlin 1973, pp. 200–203, 259, 266–269, 413, 423–425; this is stated to be a three-year curriculum in the Ingolstadt curricular documents for the years 1571 (p. 267) and 1590 (p. 423). Mastery of the philosophy curriculum at the University of Salzburg was supposed to require two (as opposed to three) years of study; see N. in Table 13 as well as fn. 54. 42 See Krafftius (6. in D. of Table 13), p. 12. 43 Refer to Krafftius (7. in D. of Table 13), second foliation, fol. 46r. 44 The former and the latter also are printed using distinctly different type fonts. 45 Concerning Clemens Timpler as well as the institutional context for this disputation refer to Joseph S. Freedman, European Academic Philosophy in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries. The Life, Significance, and Philosophy of Clemens Timpler, 1563/64–1624, 2 vols., Hildesheim et al. 1988.
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and thereafter by two appendices. While only 14 of these sections (3, 19, 20, 33, 34, 41, 45, 48, 51, 59, 60, 64, 72 and 88) consist of more than a single sentence, many of the remaining »single« sentences are lengthy and consist of two or more parts. In section 94, for example, four distinct differences – numbered 1, 2, 3 and 4 – are given between divine intellect and human intellect.46 The first appendix in Disputation E. consists of 14 statements labelled as ››principal errors‹‹ pertaining to the human intellect that are contained in a textbook on physics by Bartholomäus Keckermann. This textbook was first published in the year 1610, one year following Keckermann’s death.47 The second appendix consists of ten problems (problemata) that also focus on the human intellect. Disputation F. was (to be) held at a school in Brieg (Silesia). This disputation apparently was intended to serve as commentary on the logic of Philipp Melanchthon.48 Its text covers both sides of a single leaf and consists of twelve problems (problemata). Each of them contains a thesis question that is answered either »Yes« or »No«. Only two of these twelve problems include commentary. Additional handwritten commentary accompanies portions of the text in this copy.49 Especially noteworthy here is the fact that not only the presider and a respondent, but also three opponents are named on the title page; the names of opponents apparently were
46 See Timplerus (Pr.) / Wirtzius (Resp.) (2. in E. of Table 13), fol. B1v (no. 94). 47 Bartholomaeus Keckermannus, Systema physicum, septem libris adornatum, et anno 1607 publice propositum in Gymnasio Dantiscano (Hanoviae: Apud Guilielmum Antonium 1610) [Braunschweig, Stadtbibliothek: C 1490.8°]; this textbook also was reprinted in 1617 and again in 1623; see Joseph S. Freedman, The Career and Writings of Bartholomew Keckermann (d. 1609), in: Proceedings of the American Philosophical Society 141.3 (1997), pp. 305–364 (346) as reprinted in Freedman, Philosophy and the Arts (see fn. 3), VIII. Keckermann apparently participated in academic instruction given by Timpler at the University of Heidelberg and also highly praised Timpler; criticism of Keckermann in this disputation by Timpler and Wirtzius stands in contradistinction to that praise; refer to the discussion given in Freedman, European Academic Philosophy (see fn. 45), pp. 32–33, 81–82, 122–124, 142, 156, 472–474, 515, 561–562, 576, 740. 48 Concerning editions of and commentaries on Melanchthon’s writings on logic refer to the following literature: Joseph S. Freedman, Melanchthon’s Opinion of Ramus and the Utilization of their Writings in Central Europe, in: Mordechai Feingold / Joseph S. Freedman / Wolfgang Rother (eds.), The Influence of Petrus Ramus, Basel 2001, pp. 68–91; Wilhelm Hammer, Die Melanchthonforschung im Wandel der Jahrhunderte, 3 vols., Gütersloh 1967–1981. 49 This copy – held by the Ratsschulbibliothek Zwickau (call number: 5.3.30 (41) – is the only extant copy known.
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mentioned only very rarely in disputations published prior to the eighteenth century.50 G. in Table 13 presents the title page and a summary of an encyclopaedia of philosophy that consists almost entirely of individual disputations. These individual disputations – almost all of which separately list the name of a respondent – address individual philosophical disciplines, sub-categories thereof (including disputation theory) and related subjectmatters.51 The rector of a school in Göttingen, Georg Andreas Fabricius, appears to have been responsible for conceiving and organizing the component parts of this encyclopaedia. Disputation H. was (to be) held during the month of July 1645 at the University of Salzburg with Sympert Vischer and Bonifacius Schmidt, respectively, in the roles of presider and respondent. This disputation contains an illustrated title page, a letter of dedication written by the respondent, a preface, an introduction to the text, the text itself, an appendix, a statement of approbation from the university and a poem addressed to the respondent by a student. The text serves basically as a short, well-organized synopsis of the subject-matter of moral philosophy, which (in the introduction to the text) is said to consist of ethics, politics and family life (oeconomica).52 The appendix (which, however, is not labelled as such) consists of five unnumbered sections, designated by headers, discussing the classification of mathematical disciplines (Philosophiae mathematicae schema parergicon), geometry, arithmetic, music, astronomy and optics. The title of disputation I. in Table 13 indicates that it consists of 100 theses taken from the broad scope of philosophy and that these same theses were discussed by Emanuel Sustman in partial fulfilment of the requirements for the master of philosophy degree at the University of Heidelberg on December 3, 1663.53 The first 99 theses are devoted to philosophy (in 50 To date I have located only three disputations – as well as one collection of disputations – published prior to the year 1700 in which the names of opponents are given; refer back to fn. 20. 51 The disputation in this encyclopaedia of philosophy, which focuses on the subject matter of disputation theory, is cited in fn. 16, and Table 10 of this article presents excerpts from it. 52 Concerning oeconomica refer to Joseph S. Freedman, Philosophical Writings on the Family in Sixteenth- and Seventeenth-Century Europe, in: Journal of Family History 27.3 (2002), pp. 292–342. 53 While in most cases disputations can be assumed to have been published in the same year that they were held, it is difficult to postulate this with any degree of certainty unless the date of publication is specifically given. Published disputations listing candidates for academic degrees were common during the late sixteenth and the seventeenth centuries (e.g., B. in Table 13). While it can generally be concluded that such candidates did – considering the expense involved in publishing disputations – in fact receive those degrees, this was
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general), to philosophers (i.e., to all humans), to logic, metaphysics, the soul and ethics, to the general origin of languages and to the Hebrew language in particular. Thesis 100, however, serves to introduce a HebrewLatin and Arabic-Latin word list that constitutes the bulk of this disputation. While J. in Table 13 is ostensibly a disputation, the first two words in its title page (Manuale philosophicum) indicate that it also served as a short philosophy textbook. Its text almost entirely consists of systematic and summarily comprehensive discussion of the three principal philosophical disciplines taught at the University of Salzburg (and generally at other Central European, Roman Catholic academic institutions during the 17th century): logic, physics and metaphysics.54 This text, however, also includes 15 thesis questions. It is possible that some or all of these might have been presented orally.55 The final three thesis questions pertain to ethics and menot the case in every instance and at every academic institution. For example, refer to the following published disputation: Antonius Trutius (Pr.) / Petrus Pilius (Resp.), Disputatio physica de cometis (Lugduni Batavorum: Ex officina Joannis Patii 1598) [Leiden UB (Manuscripts Dept.): A354 A, Band 1 (18)]; at the bottom of the title page of this copy the following words are written in what appears to be (then-) contemporary handwriting: disputavit & non est admissus ad gradum Magisterij. 54 In the case of Salzburg, the apparent dominance of these three subject-matters – together with what could be considered a subsidiary emphasis on ethics and mathematics – during the seventeenth century (and beyond) is evident, for example, from the titles and content of extent disputations held at Salzburg as well as from the content of extant curriculum broadsheets; see Salzburg UA: bA153 and bA154. The late Dr. Richard Apfelauer (Universitätsarchiv Salzburg) was very helpful in assisting me in locating these materials. Also very useful is the bibliography of published writings that is appended (pp. 765–862) to Emmanuel J. Bauer, Thomistische Metaphysik an der alten Benediktineruniversität Salzburg. Darstellung und Interpretation einer philosophischen Schule des 17. und 18. Jahrhunderts, Innsbruck / Wien 1996. With regard to other Roman Catholic academic institutions, refer to sources cited in Freedman, Philosophy and the Arts (see fn. 3); for a detailed examination of the philosophy curriculum at the Jesuit University of Dillingen during the late sixteenth and the early seventeenth centuries see Leinsle, Dilinganae disputationes (see fn. 1). However, it would appear that some Roman Catholic philosophy manuals could have a broader focus than the five subject-matters mentioned above; for example, refer to the following work discussing logic, physics, mathematics, the soul (anima) ethics, politics and metaphysics: Georgius Weis SJ (Pr.) / Georgius Antonius Umbertus Bechenie De Lazian (Resp.), Aristoteles ex euripo emersus, seu ex genuina Aristotelis philosophia theses ... in universitate Carolo-Ferdinandea Pragensi pro suprema laurea defensae (Pragae: Typis Universitatis Carolo Ferdinandeae in Collegio Soc. Iesu apud S. Clementem 1672) [München BSB: Diss. 1347]. 55 One could pose the question of why this ›Manuale philosophicum‹ was published in the form of a textbook. One possible answer is the following: A textbook would provide students with the material that they would need in order to hold public disputations using one or more of the thesis questions posed within that given textbook. In a letter written in the year 1543 (1542) Philipp Melanchthon indicated that he hastily publishes material because
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chanics, i.e., to subject-matters that are peripheral to the principal ones discussed in this disputation. K. in Table 13 is a disputation pertaining principally to the subjectmatter of optics – in the domains of both physics and mechanics – that was (to be) held at the University of Heidelberg on October 27, 1670. The mathematical formulas in its text and in its fold-out diagram indicate that recent advances in the realms of mathematics and natural science were known and discussed at that university. It could be argued that – especially from about the year 1670 onwards – disputations could serve as an instructional format useful for discussing interdisciplinary and/or innovative subject-matters that did not clearly fit into textbooks written on individual academic disciplines or sub-disciplines.56 Disputation L. in Table 13 is printed on a very large broadsheet. According to the first three words at the top of this broadsheet (Theatrum logicale apertum) and to the subsequent text, it was considered the first act in a performance of a ››logical theatre‹‹.57 The content of these six sections (which are labelled as ››scenes‹‹) constituting this ››first act‹‹ appears to serve as a prolegomenon to the subject-matter of logic. This disputation apparently was intended as the first in a series of disputations in broadsheet format on the subject of logic.58 The subject of disputation M. in Table 13 was constancy and inconstancy. It was (to be) held at the University of Halle on September 2, 1692. students need it in order to prepare for disputations; refer to the discussion given in Joseph S. Freedman, The Melanchthonian Encyclopedia. Judicia florentis scholae Melanchthonis (1592) / CRISEIS Melanchthonianae (1597) of Gregor Richter (1560–1624), in: Fragmenta Melanchthoniana 3 (2007), pp. 105–141 (115). 56 Included within the framework of this novel subject-matter were disputations on the subject of women; refer to Joseph S. Freedman, Academic Philosophical and Philological Writings on the Subject-Matter of Women, c. 1670 – c. 1700, in: Gisela Engel / Friederike Hassauer / Brita Rang / Heide Wunder (eds.), Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne, Königstein/Ts. 2004, pp. 228–244. The value of interdisciplinarity for the development of innovative concepts is noted in Henry H. Bauer, Scientific Literacy and the Myth of the Scientific Method, Urbana / London 1992, p. 101. 57 The term theatrum was utilized in the titles of some academic writings during this period; for example, see the following: Hieronymus Praetorius, Theatrum ethicum et politicum (Jenae: Typis viduae Weidnerianae sumptibus Johannis Reiffernbergeri 1634) [Hannover, Niedersächsische Landesbibliothek: P-A 80 (2)]; Carolus Grueber (Pr.) / Joannes Georgius Lautter (Resp.) / Joannes Richardus Mayr (Resp.), Theatrum naturae ex octo libris physicis generaliter explicatum ... publicae disputationi expositum ... 1672 die 5. Julij (Salisburgi: Typis Joannis Baptistae Mayr aulici & academici) [Eichstätt UB: C 697]. Also refer to the following monograph: Ann Blair, The Theater of Nature: Jean Bodin and Renaissance Science, Princeton 1997. 58 This is the only known extant copy of this disputation, and no further published »acts« in this (intended) series of disputations have been located to date.
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The dedication contained in this published disputation is presented as a two-page illustration – with accompanying text – in the form of an epitaph. A letter to the reader by the presider, Christian Thomasius, is followed by two letters – both written in French – on the subject-matter of inconstancy.59 Next are 43 theses, each with accompanying narrative, and three corollaries. Unusual is the one-page content summary of theses 1 through 43 placed at the conclusion of this published disputation. While the bulk of the disputations published during this period served specific purposes – for example, (1) to provide practical experience for one or more participants, (2) to debate specific issues, (3) to fulfil a requirement for the awarding of an academic degree or (4) to provide a student with other evidence of academic performance – there were also some published disputations that were either 1. intended partially in jest (joco-seria) or were 2. meant as practical jokes or meant to mock the academic practice of holding disputations.60 Disputation N. in Table 13 serves as an example of a published disputation – that was sanctioned by the philosophy and theology faculties at the University of Salzburg – where its content is partially serious yet largely light-hearted. The title page of this disputation is preceded by a full page frontispiece illustration showing a ship on a stormy sea – an allusion to the difficult, two-year journey required in order to complete the study of philosophy at the University of Salzburg.61 It is evident that many information formats and instructional media were utilized in connection with academic instruction during the late sixteenth and the early seventeenth centuries. The same holds true today. In our present century, information formats and instructional media utilized by academic researchers and students include printed books, government 59 Concerning Thomasius, refer to Heiner Luck (ed.), Christian Thomasius (1655–1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung. Rechtswissenschaftliches Symposium zu seinem 350. Geburtstag an der Juristischen Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, Hildesheim et al. 2006. 60 The following example can be given here: Discursus Methodicus De Peditu, Eiusque Speciebus, Crepitu & Visio. In Theses digestus / Quas Praeside Clariss. Viro Bombardo Stevarzio Clarefortensi, Pro virili defendere conabitur Buldrianus Sclopetarius Blesensis (Clareforti[i] Apud Stancarum Cepollam: sub signo Divi Blasii 1626) [Wolfenbüttel HAB: 240.8 Quod. (20)]. Also refer to the following bibliographical resources: Wilhelm Erman / Ewald Horn, Bibliographie der deutschen Universitäten, Erster allgemeiner Teil, Leipzig / Berlin 1904, pp. 17–21 (Verzeichnis der Spottdisputationen); Sigismund Jacob Apin, Unvorgreiffliche Gedancken / wie man so wohl alte als neue Dissertationes academicas mit Nutzen sammlen / und einen guten indicem darüber halten soll (Nürnberg und Altdorff: Bey Johann Daniel Taubers Sel. Erben 1719), pp. 55–57 (Catalogum Jocosarum Dissertationen [!]) [Jena, Thüringer ULB: 4° Diss. med. 39 9(1)]. 61 Refer to the primary sources and literature pertaining to the University of Salzburg cited in fn. 54.
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documents, doctoral dissertations, audio-visual materials, unique historical materials and serials.62 »Serials« is a generic term for those publications that appear in successive parts bearing numerical or chronological designations and that are intended to be continued indefinitely. Serials include journals (usually having a more scholarly focus), magazines (usually more popular in their focus), newspapers, newsletters, annuals (e.g., yearbooks) and indices. Government documents are produced at international, national, regional and local levels. Microforms (microfiches, microfilms and microcards), films, videos and CD-ROMs are among the formats included with the category of audiovisual materials. Unique historical materials include manuscript materials, typescripts, photographs and three-dimensional objects. Here the following points can be made: virtually all of the information contained in these formats can be reproduced and made accessible using the Internet. Analogously, academic disputations – those held orally as well as those accessible to us in manuscript and printed formats – were a media in which virtually all information of formats and instructional media utilized during the late sixteenth and the seventeenth centuries could have a presence.63 The generic inclusiveness of the disputation at that period suggests that it could be compared to the inclusiveness of the Internet today.64
62 For example, online catalogs are normally used to search for books (including series and multi-volume works) and audio-visual materials; serial articles (including articles in journals, newspapers etc.) are normally searched in databases that are fee-based (i.e., at a charge that is paid by a government, by some other corporate entity or by individual users); online library catalogs, on the other hand, are normally accessible at no charge to users. 63 Information concerning an additional instructional format is given within the following broadsheet: Joh[annes] Georgius Grossius, De collegiis privatis consilium. Ut de conventissima privatorum hujusmodi collegiorum methodo, aliquid hic juris publici bono faciam animo, recte forsan fecerit ingenuus eorundem moderator & praeses, siquidem in singulis congressibus, singula simul, ordine tamen, observet sequentia exercitationis piae capita: quorum quidem duplex est genus, unum theologicis inserviens collegiis: philosophicis alterum (Basileae: Typis Johannis Schroeteri 1622) [Basel UB: F. P. X 9 (5)]; this broadsheet provides a short but useful discussion of private group instruction. Its brief discussion of privately held disputations is quoted here in full: De collegiis theologicis. I. ... Cuncta nervose fiant, breviter, nec sine judicio. Mox e vestigio singulos interroget auditores, ut scrupulum sibi, controversias circa dictatas, injectum, seu excipiendo aperiant, seu replicando, ut is-ipse ipsis statim ab ipso eximatur Praeside. Id quod erit utiliter recteque privatim disputare. disputationibus publicis mos vulgo notus relinquitur suus. It can be surmised that many – if not most – such private disputations were held orally but remained unpublished. 64 When this article was delivered – in lecture format – at the University of Kiel in May of 2007, the disputation was also compared (due to its multifunctionality) with the ›IVAR‹ shelving system developed by IKEA home furnishings; refer to http://www.ikea.com.
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The examples of the published disputations given in Table 13 provide ample evidence for much of this inclusiveness. Disputations could be as short as a broadsheet, could be published as short pamphlets, or could be as long as a textbook or an encyclopaedia; they could have dimensions as small as an eight folio set of leaves or as large as an oversized broadsheet.65 They could be held as examinations or for purposes of practice.66 Their discussions could be serious or intended to provide some greater or lesser amount of humor and/or satire. The texts of published disputations could consist (1) of a simple set of theses, (2) of a set of theses with commentary, (3) of systematically organized and arranged narrative or (4) of some combination of (1) and/or (2) and/or (3). The subject-scope of disputations could either be very narrow or very broad. The text of a disputation could focus on one or more individual points of doctrine that either fell strictly within a single academic discipline or could be too broad and/or multifaceted and/or novel to do so.67 A disputation might contain a shorter or longer synopsis on one or more academic disciplines while also including one or more appendices devoted to some unrelated academic discipline(s) or to a broad, interdisciplinary array of topics.68 Disputations could be held on virtually any subject-matter; this could include discussion of disputations themselves as well as of other academic exercises.69 65 In the German language area of Europe, the quarto format was normally used for published disputations; the octavo format was sometimes used for this purpose in Scandinavia, as was the case with the following disputation: Petrus Laurbecchius (Pr.) / Magnus Wallenius (Resp.), Hexiologiae philosophicae brevis delineatio, in regia academia Aboënsi ... ad d. 12 Feb. ... 1676 in auditorio maximo (Aboae: Excusa a Petro Hansonio) [Helsinki, National Library: P. Laurbeccius–M. Wallenius, Diss. 1676]; also refer to the collection of disputations published in Stockholm in 1678 that is cited in fn. 20. 66 A published disputation containing the name of a participating student could also be utilized as a form of proof of academic accomplishment, especially in those academic institutions that were not authorized to grant academic degrees (e.g., the Reformed Academy in Herborn, the Lutheran Gymnasium in Lauingen and the Jesuit Collegium in Luzern) during the late 16th and the 17th centuries. The two disputations cited in fn. 72 might have been held (at least in part) as evidence of student proficiency in Italian and French. 67 Refer to the narrower foci of disputations C. and L. in Table 13 on the one hand as opposed to the broader foci of disputations G. and I. in Table 13 (and of the disputation cited in fn. 76) on the other. 68 H. and J. in Table 13 serve as two examples of such disputations. 69 A few examples of disputations on the subject-matter of disputation theory are given in fns. 13 and 16. Refer to the following disputations on the subject matters of memory and note-taking: Godofredus Cremerus (Pr.) / Martinus Christophorus Frenstoffius (Resp.), Disputatio Philosophica de Memoria Intellectus ... consentiente ... facultate philosophica .. Habita Publice Francofurti Ad Oderam ... d. __ Jul. 1661 ([Francofurti Ad Oderam]: Typis Eichornianis) [Halle ULB Sachsen-Anhalt: 05 A 983]; Erdmannus Uhseus (Pr.) /
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Style exercises are also represented in published disputations. Dedications and poems contained therein – insofar as they were written by students – can be considered exercises in the writing of prose and poetry.70 Dedications and letters to the reader could also serve as student exercises in letter writing.71 The text of published disputations could contain correspondence, scientific or technical diagrams, and word lists that could be multi-lingual dictionaries. As they were academic in character, almost all disputations published during the late sixteenth and the seventeenth centuries were written in Latin. However, they also occasionally contained passages in vernacular languages; published disputations could provide a written record of a student’s oration for practice and/or to show proficiency in a vernacular language.72 Insofar as they were held orally, disputations also accommodated additional formats not clearly found in published texts. Dialogue is represented in the oral exchange between the respondent (the defendant or proponent) and the opponent(s).73 As is evident from B. in Table 12 as well from L. and N. in Table 13 such dialogue could be considered to comprise at least some components of drama. And various additional exercises – e.g., repetition and progymnasmata – fit within the framework of such oral disputations. The very dichotomy between published and unpublished disputations can be used as a context for briefly addressing the »authorship« question with regard to disputations. Discussions of this question appear to have
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Johan. Balthasar Schubert (Autor et Resp.), Sciagraphiam de studio excerpendi amplissimae facultatis philosophicae benevolo indultu ... die 6. Septembris ... 1699 (Lipsiae: Literis Joh. Andreae Zschauens) [München BSB: Res 4° Diss. 273 C27]. A disputation on music from the year 1610 is cited in fn. 22. Refer to the examples given in D. (5.), E. (1.), G. (1.), H. (1.) and N. (1.) of Table 13. Refer to the examples of treatises on letter writing cited in fn. 29 as well as to D. (1.), E. (1.), G. (1.), H. (1.), J. (1.) and N. (1.) in Table 13. The following two works serve as examples: Carolus Caffa (Pr.) / Salomon Braun (Resp.), Collegii novi publici Italici, super opusculum Stephani Guazzi ... De civili conversatione, disputatio I. De fructibus, qui ex conversatione percipiuntur ... in illustri Salana ... Italice respondente Salomone Braun ... Ad Italicae linguae exercitium publice proposita in auditorio philosophico ad diem __ Decemb. (Jenae: Typis Johannis Jacobi Bauhoferi 1663) [Leipzig UB: Ges. W 72-i/5 (13)]; Carolus Caffa (Pr.) / Christophorus Abraham a Crackau (Resp.), Collegii novi publici Gallici, super opusculum Stephani Guazzi ... De civili conversatione disputatio I. De fructibus, qui ex conversatione percipiuntur ... in illustri Salana ... Gallice respondente Christophorus Abrahamus a Crackau ... Ad Gallicae linguae exercitium publice proposita in auditorio philosophico ad diem __ Decemb. (Jenae: Typis Johannis Jacobi Bauhoferi 1663) [Leipzig UB: Ges. W 72-i/5 (12)]. The text of the following work consists of dialogues that also can be considered as disputations: Joannes Sylvius, Puerorum privatae collocutiones (Dilingae: Apud Sebaldum Mayer 1563), p. 31 (Puerorum disputantium. [6 names given]) [München UB: 8° Philos. pr. 882].
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begun in earnest towards the end of the nineteenth century in publications by librarians concerning whether the presider or the respondent in published disputations should be regarded as their author.74 At present no definitive answer to this question has been reached. In the case of many – if not most – published disputations, it may not be possible to make such a determination.75 This question of authorship appears to be far less relevant to orally held disputations, many of which were apparently never published.76 Discus74 Refer to the literature cited in Wolfgang Rother, Die Philosophie an der Universität Basel im 17. Jahrhundert. Quellen und Analyse, Diss. phil., Universität Zürich 1980, pp. 326, 450. 75 Refer to the following discussions: Chang, From oral disputation to written text (see fn. 1); Rother, Philosophie an der Universität Basel (see fn. 74), pp. 326–330, 450–451; Hanspeter Marti, Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung, in: Rainer Christoph Schwinges (ed.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, pp. 251–274; Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft, in: Rainer A. Müller (ed.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen der frühen Neuzeit. Bearb. v. Hans-Christoph Liess / Rüdiger vom Bruch, Stuttgart 2007, pp. 150–273 (189–201: 4. Zur Autorschaft alter Dissertationen). Also see the publications cited in fn. 30. In some cases, it is stated on the title page of these disputations who the author is. For example, refer to the following (as well as the example given in fn. 69 above): Aegidius Strauchius (Auctor et Pr.), Physica specialis duodecim disputationum aphorismis comprehensa, et in inclyta Witebergensi academia examinata et discusa (Witebergae: Typis Cratonianis per Joh. Gorman 1606) [Wolfenbüttel HAB: 202.64 Quod. (2)]; Johannes Bartholdus Niemeierus (Pr.) / Johannes Backmeister (Autor et Resp.), Disputatio ethica de gradibus virtutum moralium, quam in ... Academia Julia ... ad d. 5. Februarii ... 1676 publico eruditorum examini submittet Johannes Backmeister Rostochiensis (Helmestadii: Typis Henrici Davidis Mulleri Acad. Typ. 1676) [Wolfenbüttel HAB: Yx 29.8° Helmst. (25)]. It can be postulated here that 1. one can assume that these »authorship« claims are valid unless substantial evidence to the contrary can be produced and that 2. it is very difficult – if at all possible – assign authorship when such is not specified. 76 In this connection, refer to the following disputation: Christophorus Butelius (Pr.) / Joannes Chemnitius (Resp.), 3$*.5$7,21 sive 352%/+0$7$ nobiliora & foecunda, ex faecundo WKTZ VRILDZ campo solerter selecta / in illustri /8.(,9 Pomeranorum Ad dissertationem publicam excutienda proposita. Praesidente M. Christophoro Butelio Rectore. Respondente Joanne Chemnitio Berl. Marchico, 14. Septembris probabiliorem partem, 21. Eiusdem, contrariam opinionem ... in auditorio magno horis solitis, propugnabimus (Stetini: Typis Rhetianis 1605) [Berlin, Staatsbibliothek: Nh 388R (36)]. This disputation – the text of which (fol. A2r–B4r) consists of a set of questions (problemata) – was apparently designed as a vehicle for the discussion of a wide range of philosophical and non-philosophical issues, many of which apparently did not fit well within more focused disputations. Highly unusual is the fact that these questions are not answered affirmatively or negatively, but instead the affirmative or negative position is considered to be probable (probabilior). The following examples of questions can be given here: (fol. A2r): 3. An novi in artibus fingendi termini & vocabula? (fol. A2r); 15. An in plantis maris & faemellae discrimen? (fol.
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sions (1) of disputation theory in published writings examining logic as well as discussions (2) of the proper manner of holding disputations given within curricular documents together indicate that respondents and opponents were virtually always considered as the necessary participants in such disputations.77 It has already been noted that when discussing the proper conduct of disputations, Augustinus Hunnaeus refers to both the respondent and the opponent as its authors (autores). It might in fact be reasonable to regard all participants of an orally held disputation, insofar as one can at least partially place them within the category of interactive instructional exercises, as authors.78 It would be very difficult to find clear criteria by which one could determine that one or more participants in such interactive instruction were authors while one or more other participants were not.79 On the basis of the multitude and possible combinations of formats found within disputations it is difficult – if not impossible – to provide a comprehensive definition or even a satisfactory general description what a disputation is.80 The following four additional factors should be taken into account as well. First, while academic disputations apparently first begin to be published in the late 1540s, they do not begin to be published in large
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78 79
80
A3r–A3v); 28. An sit quaedam Astrologorum certitudo? (fol. A4v); 29. An vis quaedam anni Climacterici? (fol. A4v); 41. An lupanaria quandoque sint toleranda? (fol. B2r); 53. An uxor teneatur sequi maritum vagabundum? (fol. B3r). It would appear that the presider and/or the respondent is responsible for the disputation text – containing »probable« answers to these questions – that is published here (and which was apparently held on September 14, 1605). It also appears – on the basis of information on the title page of this disputation – that contrary opinions (opiniones contrariae) with regard to each question were presented by the opponent(s) on September 21, 1605; it can be surmised here that those contrary positions probably were not published. Refer to the literature cited and the passages quoted in fns. 12 and 25. However, the roles of the presider and the respondent – but not of the opponent – are mentioned in a curriculum plan for the Regensburg school from the year 1567 (see fns. 10 and 12). It is conceivable the persons in the audience at the presentation of oral disputations also may under some circumstances have participated in them (see fn. 26). Similar problems would arise if one wished to decide who the »authors« are in interactive, discussion-based instructional formats (some of which involve the use of the Internet) that are sometimes utilized in our day. This is not to say that definitions of disputations – those given during the late sixteenth and the seventeenth centuries as well as those given in recent scholarship – are not helpful; refer to the definitions given in Tables 9 and 10 as well as those given by Hanspeter Marti (see fn. 30). Assigning definitions to concepts generally was regarded as a complex undertaking to the sixteenth and seventeenth centuries; during this period, definition theory was a constituent part of the discipline of logic; refer to Joseph S. Freedman, The Study of Sixteenth- and Seventeenth Century Writings on Academic Philosophy. Some Methodological Considerations, in: Freedman, Philosophy and the Arts (see fn. 3), I, pp. 1–40 (2–7).
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quantities until the final years of the sixteenth century in Central Europe, the Netherlands and Scandinavia.81 Only a minor portion of these disputations have been read or even seen by anyone beyond the immediate year(s) in which they were published.82 The 14 examples of disputations given in Table 13 do not encompass all their possible variants.83 Second, any attempt to give a precise definition or description of disputations could be called into question due to the relatively idiosyncratic cultures of the academic institutions at which disputations were held during the late sixteenth and the seventeenth centuries. They generally were conducted in accordance with norms or customs established at those same institutions.84 At individual institutions these disputations might be held during semesters or during vacations and could serve a variety of purposes.85 Third, the teachers who taught at these academic institutions – like their counterparts in our day – most likely used diverse teaching styles and methods reflecting a variety of pedagogical assumptions. When considered with regard to disputations, one professor or teacher might be inclined – for example, within disputations that he himself organized (usually in the role of presider) – to grant considerable latitude to some or all of his re81 Disputations apparently were published in far smaller quantities in England, Scotland, Italy, Spain and Eastern Europe than in the German language area of Europe during the late sixteenth and the seventeenth centuries. 82 A large number of philosophical disputations published in the German language area of Europe during the last four decades of the seventeenth century are bibliographically accessible in Hanspeter Marti, Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660– 1750. Eine Auswahlbibliographie. Unter Mitarb. v. Karin Marti, München 1982. No such bibliography exists for Scandinavian disputations (which were published in large quantities during the seventeenth century and beyond). 83 The disputations cited in fns. 72 and 76 serve as examples of additional variants. To give one additional example, a complex »geography game« was published in the form of a disputation and apparently was held (or perhaps more appropriately stated: played) in August of 1659: Matthias Kirchoffer (Pr.) / Wolffgangus Engelbertus ab Auersperg (Resp.), Orbis lusus pars prima seu lusus geographicus, defensus et demonstratus ... 1659 mense Augusto (Graecii: Typis Francisci Widmanstadii) [Paris, Bibliothèque Nationale: G 3422; Princeton (New Jersey), University Library: 1007.134]; I wish to thank Jernej Sekolec (Vienna) for bringing this geography game to my attention. 84 Some of these variations are evident in extant curriculum plans designed for individual academic institutions. 85 For example it is noted at the beginning of the following disputation (on page 3) that it was held during a vacation period, since it was devoted to a topic that would not normally be discussed during regularly scheduled academic instruction: Georg Schulz (Pr.) / Johann Henricus Stöckhart (Resp.), De blanda mulierum rhetorica, occasione Axiomatis Richteriani ... exposita (Lipsiae: Literis Johannis Georgii prostat apud Johann Fuhrman 1678) [Halle ULB Sachsen-Anhalt: 99 A 6930 (8)].
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spondents, with the result that some of them might be encouraged to write (or consider writing) portions of a disputation or even its entire text; on the other hand, a different professor might prefer to strictly limit the role(s) of students within oral presentations.86 And fourth, many orally-held disputations were most likely never published, and our knowledge concerning these oral disputations is very limited. This is not to say that the study of academic disputations should be discontinued; they provide us with a wealth of information, much of which is not available elsewhere.87 But the fact that disputations appear in so many diverse formats, incorporate so many diverse constituent parts, and are subject to so many other variations may put any comprehensive and all embracing understanding of them beyond our reach. Disputations were closely tied to the idiosyncratic academic institutions where they were held and/or published; this contributes to the wide – and perhaps not completely fathomable – diversity that appears to be a basic property of these same disputations. But it is precisely this diversity – combined with their usefulness in so many contexts as well as for so many purposes – that makes them worthy of our further scholarly consideration.
86 One indication of this diversity among teachers / professors in this regard are differences (within discussions of disputation theory) of opinion concerning the proper role of the presider within disputations; refer to the passages quoted within fn. 25. 87 This is emphasized in Hanspeter Marti, Der wissenschaftsgeschichtliche Dokumentationswert alter Dissertationen, in: Nouvelles de la République des Lettres 1 (1981), pp. 117– 132.
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Table 1: Academic exercises according to Wilhelm Zepper (1595) the writing of sermons and their repetition at the pre-university level (in scholis trivialibus et classicis)
style exercises (styli exercitia); they should be held in Latin, in the vernacular and in Greek examinations
Exercises disputations
at the university level (in scholis publicis et academicis)
declamations public and private sermons given by theology students
Table 2: Academic exercises according to Georg Gumpelzhaimer (1621) vocal the ears: music (cultivates): the eyes: visual representations (pictura) mind
conversation productive (pertaining to the):
other aspects of life (reliqua vita)
body [see page 115]
Bacchus counterproductive (contraria) Venus
instrumental muted letters (literarum) pictures (imaginum) conversation proper (conversatio in specie sic dicta) knowledge of languages
(those which are useful for):
Academic exercises
clear
academic travel (peregrinatio) disputations and orations
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Table 2 (continued): Academic exercises according to Georg Gumpelzhaimer (1621) war: fortification building; artillery
body (pertaining to):
both peace and war: horseback riding; gymnastics (ars palaestrica); archery; swimming; running; the thrusting of spears peace: hunting; dancing; hiking; the holding of well-mannered feasts; staging plays (comedies); games (ball games; chess etc.); useful arts (architecture; anatomy; botany; destilling beverages; the mechanical arts)
Table 3: Academic exercises at the Cathedral School in Münster / Westphalia (1551) [Grade Levels 2 through 8] exercitia publica [Grade Levels: 2, 3, 4, 5, inferiores classes]: 2.
declamationes, disputationes (ex Naturali aut ex Morali philosophia)
3.
disputationes (aut ex officiis aut praeceptis dialecticis)
2., 3., 4., 5.: carmina et epistolas eiusdem argumenti suis praeceptoribus examinandas et emendandas ... exhibebunt inferiores classes
sub singulis praeceptoribus in regulis grammatices librisque praeceptis conflictu scholastico concertantes disputabunt ... elementa pure pronunciare, articulatim colligere, perfecte legere easdemque scite pingere consuescant ...
[Conduct of Disputations]: ... ipsius rei propositae veritatem disceptationibus modestis in auditorio publico alternatim, nunc sub Gymnasiarcha, nunc sub Conrectore, inquirent ... . Huic disputationi literarum et eruditionis cupidis interesse licet. Opponentis munus erit non multitudine verborum respondentem obruere, sed in certam argumentationis formam, more Dialecticorum, inventum argumentum coniicere et si respondens forte exegerit, sedem argumenti, ex qua depromptum sit, adiicere.
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Table 4: Academic exercises at the Schola Bremensis (1568) [Grade Levels 2 through 6] 2.
Haec Classis praeter orationem solutam & carmen, tentabit etiam Graece scribere, atque ubi paulo plus roboris collegerit, redibimus ad veterem consuetudinem declamandi. Hic quoque die Saturni ab hora 6. ad 8. fient perpetuae disputationes, Thesibus, ante propositis iuxta ordinem praeceptorum Dialecticae exercitationis. Et quo magis animetur iuventus, aderit respondenti Rector: opponentium industriam iuvabunt reliqui Praeceptores, sine sophismatis, aut odiosa contentione.
3.
... praeter caetera exercebuntur nuper audita praecepta Prosodiae, & carminis faciendi.
4.
Vesperi exactior repetitio praecipuorum capitum Etymologiae, cum elegantiis G. Fabricii, ut in his Grammatica diligenter exerceatur. Epistolas a Vernaculo Latinas facient singulis Septimanis, aut e Latino Vernaculas.
5.
Meridie perpetuus usus declinandi, comparandi, coniugandique.
6.
Qui sunt infra Classem hanc, legendo, scribendo, supputandoque paulatim assurgent.
De Cantu: Ad cantum quod attinet, nunquam eius legitimum usum damnavimus, aut coetu nostro excludere conati sumus. ... [a] Discent hanc artem Classis 3, 4, 5; [b] Inferiores [= Classis 6], ut immaturae, scriptionem interea exercebunt. [c] In secunda [= Classis 2] si qui volent discere: liberum esto. Fiet hoc quotidie a duodecima usque ad primam. Excipe quod die Lunae a 12. ad. 2. Arithmeticae rudimenta tradentur.
Table 5: Academic exercises in the arts faculty at the University of Freiburg im Breisgau (1593) [13 teaching areas] A. curriculum philosophicum: 1. Organicus; 2. Physicus; 3. Metaphysicus; 4. Mathematicus B. linguarum, Eloquentiae & Ethicae 1. Graecorum literarum; 2. Hebraicarum literarum; 3. Historicus; 4. Ethicus C. Classici: 1. Dialecticus; 2. Rhetor; 3. Poeta; 4.-5: duo utrius Grammaticae [Academic exercises: (1): level A; (2): levels B and C together; (3): level C] (1): Magistri, Baccalaurei, & reliqui Philosophiae studiosi disputationibus Sabbathinis, diebus Dominicis, & menstruis singulorum Philosophiae Professorum continenter, & aßidue exercentur. (2): [B.1]: praesertim professoris Graecarum literarum sunt compositio & conversationes de Graecis in latinam linguam, & vicissim; [B.2.]: Orator declamando suos exercet; [B.3.]: Dialectici & Ethici discipuli repetendo & disputando exercentur. (3): [C.1]: Dialectica singulis diebus duabus horis Discipuli singulis septimanis disputando exercentur; [C.2.-3.]: Atque haec omnia, ita ut iuventus … faciendis versibus exerceatur & Poëticis Declamationibus … excitetur; [C.4.-5.]: Studiosi hypothesibus facilioribus graece reddendis & conversionibus latinis exercentur.
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Table 6: Academic exercises at the Schola Ducalis in Goldberg / Silesia (1620) stili soluti quotidiana
musices (vocalis; organices)
ordinaria hebdomadaria, stili (soluti; ligati) intervallata animi
extraordinaria (actus)
menstrua, quales praemiis destinatae velitatiunculae
simplex (= recitatio) disputatorius (subitus; solemnis) operosus oratorius
unius aut alterius (= declamatio) plurium personarum [see below]
exercitia DÍVNKQRZ plurium personarum
forensis (consultorius; judicialis) historicus simplex (Comoedia; Tragoedia)
scenicus
mixtus, quales Pastorales & aliae Tragicomoediae
deambulatio leviora corporis
motoria
cursus pila
accuratoria, cuiusmodi Illustris Princeps voluerit
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Table 7: Academic exercises at the Jesuit Gymnasium Tricoronatum in Cologne (1641–1642) [grade levels a. through j., a. as the highest]: b. Ethica e. Logica h. suprema Grammatica
c. Physica f. Rhetorica i. media Grammatica
a. d. g. j.
Metaphysica Mathematica Humanitas infima Grammatica
a. Communia exercitia auditorum [levels not specified] [1.] Dominicis ac festis concioni et lectioni sacrae, profanis diebus praelectionibus publicis et privatis Academicis interesse; [2.] disputationibus ingenium acuere; [3.] scriptionibus latinis ac graecis solutis ac ligatis stylum exercere; [4.] declamationibus memoriam vocem et gestum formare; [5.] pietate denique et modestia vitam mores et indolem exornare. p. [levels h., i. and j.]: Progymnasmata
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Table 8: Academic exercises at the Schola Illustris in Bremen (1688): [publica (A) and classica (B)] A. (subject-matters): Theologicae; Juridicae; Medicae; Philosophicae; Linguarum [academic exercises – i.-v.]: [i.] Disputationes ... una theologica, altera iuridica, medica aut philosophica [ii.] Declamatio ... alias soluta, alias ligata, tum Latina, tum Graeca, aut ejus loco disputatio vel syzetesis similisve exercitatio; ubi provectiores certas a disciplinis quaestiones defendant, aut de linguis, Lat. Gr. & hebr. in parte sacri profanive scriptoris, philologice respondeant. [iii.] Exercitia vernaculae dictionis in argumentis sacris pro studiosis theologiae provectioribus. [iv.] Disputationes item & praelectiones privatae, tum de caeterarum professionum nominatimque matheseos, tum etiam philologiae studiis pro utilitate & desiderio juventutis. [v.] Exercitia Anatomica B. [grade-levels 1 (highest) through 6 (lowest): academic exercises]: 1.
2.
3. 4. 5. 6.
Exercitatio linguae Latinae & Graecae, soluta & ligata, extemporalis & domestica. Nonnunquam etiam justam aliquam partem scripti oratorii aut poetici memoriter discipulus recitabit, ejusque analysin a discipulis praeceptor exiget. Exercitatio soluta & ligata in ling. latina, extemporalis & domestica: & exercitatio vertendi textus Latini in Graecum, & contra, inferioribus tamen periodus tantum Graece vertenda datur. Exercitatio e Latinis Germanice et vicissim vertendis, extemporalis & domestica, & carminum transpositorum restitutio. Periodi Germanicae aut etiam Latinae simplicior versio & scribendi exercitatio cum Latine, tum Graece. Informatio prima ad voces syntactice jungendas, & scribendi exercitatio Latine ac Germanice. Capita catechet. & preces German. Legendi ratio exacta Latine & Germanice. Declinat. & conjugat. Nomenclator rhythmicus. Primus literarum ductus.
[1., 2., 3.: ... lectio capitis ex s. biblicis ... praemittetur ordinariis studiis]
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Table 9: Disputation theory as presented by Augustinus Hunnaeus (1552) A. Disputatio est disceptatio de aliquo themate, quae aut veritatis indagandae, aut exercitationis capiendae caussa, a contrariis partibus suscipitur: ut fit dum res quaepiam uno oppugnante, altero vero defendente, exagitatur. B. Usus [disputationis] est, falsitatem evertere, & veritatem in lucem producere. C. Leges [disputationis] (1.–4.): 1. 2. 3. 4.
Vitanda esse ambigua, aut distinguenda. Palam falsum non esse defendendum, nec verum temere oppugnandum. Disputantes sedato debere esse animo, & ab omni perturbatione libero. Principali controversia relicta, non esse ad parerga digrediendum.
D. Instrumentum [disputationis]: argumentatio E. Auctores [disputationis]: D. Oppugnans; E. Defendens; D. De oppugnante, eiusque officio seu partibus 1. Argumentum contra defendentis thema invenire, idque obiicere. 2. Quod a defendente negatum est, probare. 3. Solutionem defendentis primum repetere, & mox alia obiectione (si aliqua ex parte non satisfaciat) oppugnare. E. De defendente eiusque partibus 1. Totam thematis sui naturam perspectam habere, ac difficultates eius omnes, prius quam in arenam descendat, diligenter excussisse, & quid in iis sequendum sit, statuisse. 2. Attento & praesenti semper animo considerare, quid susceperit defendendum, & quid contra obiiciatur, & an hoc cum eius themate pugnet nec ne. 3. Postremo quicquid obiectum erit, repetere aliquoties, ac tum demum post naturam eorum quae obiiciuntur, considerationem & perspectionem respondere. F.
Quomodo facienda est repetitio? [the role of repetition within disputations] Repetenda sunt bis terue omnia perfecte (quantum fieri potest) nimirum & eadem verba, & eodem quo a contra disputante proponuntur ordine; idque animo alacri & clara voce: praesertim antequam tyro assueverit scholasticis disputationibus. ...
G. Exempla varia: two examples are given; in each example, an argument by the opponent (opponens), which is followed by an argument by the defendent (defendens), which is followed by an argument by the opponent (→ defendent → ...). H. Hunnaeus places most of this above discussion within a table consisting of dichotomous charts, noting that this will help students to keep it in memory (ad iuvandam discentium memoriam).
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Table 10: The common duties of proponents and opponents within disputations according to Georg Andreas Fabricius and Justus von Minnigerode (1624) [1.] Disputatoria est facultas bene disputandi. [2.] Disputatio est argumentosa sententiarum dubiarum vel quasi dubiarum collatio, veritatis indagandae & ingenii exercendi causa suscepta. [3.] Logicae itaque haec praecipua quaedam praxis est: quamvis & aliarum artium ac disciplinarum scientiam & usum postulet. [4.] Requirantur in ea personae colloquentes: quarum una proponentis, altera opponentis. [a.] Persona proponentis est, quae res ad disputandum proponit. [b.] Persona opponentis est, quae res ad disputandum propositas probabilibus argumentis oppugnat.
artium generalium
officia communia proponentis et opponentis
apparatus, quo utraque pro ratione conflictus debet esse sic satis parata & instructa mediocri saltem scientia
congressus, quo utramque oportet esse certis virtutibus praeditam, sepositis vitiis. Sunt itaque
rerum, quatenus de ipsis est disputandum ... ex
primario & principaliter arte rationis seu Logica secundario & minus principaliter artibus orationis
Grammatica Rhetorica
artibus (generalibus; specialibus) facultatibus (theologica; juridica; medica) veritatis amor
virtutes
generaliores
modestia, candor, et aequanimitas
specialiores
ordo in rebus & verbis concinnus perspicuitas in rebus et verbis clara vox, ut se invicem audire possint
vitia
captatio opinionis scientiae & insanus amor gloriae contentio de verbis nudis argutiae nimiae affectuum vehementia, in primis irae, formidinis & terroris etc.
Proponens in actu disputationis defendentis nomen accipit. In disputationibus scholasticis persona defendentis ut plurimum gemina: una praesidis; altera respondentis. PRAESES est disputationis arbiter. RESPONDENS est proprius opponentis antagonista. Uterque tamen respondere dicitur, cum theses propositas defendit. Itaque in responsione DEFENSIO consistit. Huic praemittitur REPETITIO seu ASSUMPTIO, qua opponentis argumentum iteratur, ut auditores melius percipiant, & respondens, consideratis singulis partibus, aptius & concinnius respondere possit. RESPONSIO est oratio defendentis contra opponentis sententiam prolata.
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Table 11: Style (stilus) and the style exercises (exercitatio styli) according to Johann Starcke (1621) A. De necessitate & utilitate (← scholastica / politica) stili B. (D): Materia stili (← formae materiarum) [I.-VI.]: I. Breves formulae de rebus q[u]otidianis II. Breves sententiae morales III. Dialogi seu Colloquia
IV. Epistolae V. Historiae & Narrationes VI. Dissertatiunculae
(E): Materia stili (← dividitur in certa genera ... praecipua sunt quatuor) [I.-IV.]: I.
Technicum seu didacticum: quo in artibus & scientijs, item disputationibus & dissertationibus, de ijsdem utimur II. Historicum: quale est Livii, Caesaris, Sallustij & caeterorum III. Dialogorum: quo spectat Stilus Comicorum, Plauti, Terentij, etc. IV. Rhetoricum vel politicum, quo pertinent orationes C. De stili forma seu imitatione (← imitatio [defined and discussed]) D. De gradibus seu propriis adiunctis stili: I. Latinitas; II. Ornatus; III. Ubertas E. De constructione, perfectione et causis procreantibus stili [I.-VI.]: I. Lectio II. Auscultatio F.
III. Selectio IV. Memoriae exercitatio
V. Compositio VI. Stilus floridus
De characteribus stili seu dicendi: (1) grandis; (2) humilis; (3) mediocris
G. De usu et exercitatione styli (← exercitium scriptionis / loquendi) [H.–J. below]: H. De exercitio scriptionis (← gradus [1.–6.: lowest to highest]): 1. Versiones (& translationes) 2. Variationes per Copiam Rerum 3. Amplificationes per Copiam Rerum
4. Progymnasmatum tractatio 5. Declamationes Scholasticae 6. Orationes Politicae
[4.] Progymnasmata sunt Exercitia quaedam & quasi prolusiones facultatis Oratoriae: quibus quasi gradibus, ad Declamationes & Orationes ascendere possumus. I.
De exercitio loquendi (D): Ad quotidianum exercitium loquendi: 1. lectio; 2. colloquia (E): Apparatum exercitium loquendi, est vel ... (I.–III.): I. Scholasticum, quo utimur in dissertationibus scholasticis II. Oratorium & Politicum III. Poeticum
J.
Schema exercitiorum sermonis extemporalis [less (D) / more (E) advanced]: (D): 1. mutuae (interrogationes / responsiones); 2. Versiones extemporales sine charta & penna; 3. recitatio ( [a] fabularum; [b] apophthegmatum; [c] historiarum / vocum ); 4. variatio (phrasium / sententiarum) (E): 1. oratiunculae (appellatoriae / responsoriae); 2. dissertatiunculae
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Table 12: Some points pertaining to dialogue (dialogus) made by Pietro Sforza Pallavicino SJ and Jacob Bosch (1678) A. Posterior ratio patitur a fine, qui longe diversus est in Dialogo, atque Poemate. Quippe Dialogus ad doctrinam collineat, velut ad scopum primarium. Neque plus aspergit voluptatis, quam quod satis sit tenendo animo ad doctrinam intento, & doctrinae ipsi altius in memoria defigendae; seu, ut brevissime dicam, pariendae vel augendae scientiae. ... Et hactenus suffecerit, philosophatum fuisse de Imitatione, ut ea Dialogi est propria, differtque ab illa, quam sibi vindicat Poema. B. Imitatio, quae Dialogi propria est, pluribus modis conficitur. Jam enim author narrationem pertexit dictorum, responsorumve ... hic aiebat, alter contra reposuit ... varias personas, more Dramatis, deducit in colloquium, sive narrata prius ab Auctore collocutionis origine, sive absque ullo Prooemio. C. Alia insignis Dialogi praestantia et, quod varietatem admittat nulla Decori iniuria.
Table 13: Fourteen published disputations with diverse formats (1547–1697) A. Disputatio de scholastico vitae genere. I. Scholasticum vitae genus verum, omnium sapientium ac bonorum virorum iudicio praestantiss: esse constat. II. ... [Theses 2 through 16 follow] ... XVII. Honestum etiam vestitum afferre quandam morum commendationem, et conciliare apud omnes bonos viros existimationem credamus. In Academia Regiomont[an]a. Anno 1547. 13. Cal. Septemb. Ioannes Sciurus Decanus Collegij facultatis artium. [Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz: XX. HA. EM 139f, Bl. 7r] (broadsheet) B. Quod Christus Opt. Max. fortunare velit. Selecti et doctissimi juvenes ... insignem Magisterij & Doctoratus Philosophici lauream, ... in Academia ... Ingolstadiensi, publice consequentur, sub censura & examine reverendorum & clarissimorum virorum. I. ... VI. [six examiners listed] Sequuntur candidatorum nomina. [8 candidates for the M.A. (Master of Arts) degree listed] In solenni et celebri coronandorum philosophiae magistrorum & doctorum actu, frequentique auditorum consessu, hae quaestiones agitabuntur. METAPHYSICA. I. Utrum inter sensus quinque exteriores visus sit omnium nobilissimus? PHYSICA. II. An rerum naturalium sint tria principia: Materia, Forma, Privatio? ASTRONOMICA. III. Utrum stellae scintillent? ETHICA. IIII. Utrum virtus recte ab Aristotele dicatur, Mediocritas quo ad nos? DIALECTICA. V. Utrum Dialectica inter sermocinalem Philosophiam sit praestantissima? Anno Domini 1566. 12. Calend: Februarij, in schola Canonistarum veteris Collegij (Ingolstadii: Ex typographia Weissenhorniana) [München UB: Sammelband H.lit. 176] (broadsheet)
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Table 13 (continued): Fourteen published disputations with diverse formats (1547–1697) C. Theses de loco corporis naturalis Aristotelis doctrinam explicantes in ... Academia Heidelbergensi publice proposita praeside M. Bartholomaeo Keckermanno Dantiscano Borusso. Respondente Iohanne Iodoco Lutz Heidelbergensi. Ad diem 18. Novemb. Hora consueta in auditorio philosophorum. THESIS I. Affectiones corporis naturalis quas Physicus demonstrat, quaedam absolute essentiales sunt, quaedam respective & velut determinatae ad eius existentiam. [Theses 2 through 26 follow] ... (3,0(75$. I. [1 through 9 follow] ... X. Vas loco inferiori plus aquae capit, quam superiori (Heidelbergae: Typis Christophori Leonis, & Johannis Lancelloti 1598) [Wroclaw UB: 401530] (broadsheet) D. Theses philosophicae ex universa philosophia: in ... Academia Ingolstadiensi ad finem triennalis cursus Philosophici ad disputandum publice propositae. Anno 1598 Die {3} Julii. A Joannes Krafftio Ingolstadiensi, philosophiae studioso (Ingolstadii: Ex officina typographica Ederiana 1598) [München UB: 4° Philos. 1546] 1. (title page, backside): In insignia dominorum Fuggarorum (12 lines of verse) 2. (dedication): Johannes Krafft to Anton and Philipp Fugger 3. The text of the disputation (pp. 1-11): Theses 1-50 De philosophia et scientia in communi (1-4); Ex metaphysica (5-8); Ex physica (9-21); Ex libris de caelo (22-26); Ex libris de generatione et meteoris (27-35); Ex libris de anima (36-46); Ex logica (47-50); 4. (p. 11): statements of approval from the theology and philosophy faculties 5. (p. 12): [two verse selections]: Ad ... Joannem Krafft cum Aristoteleas theses defenderet de Aristotele Epigramma. Aliud ad eundem Alberti Menzelii Ingolstadiensis Med. studiosi. 6. The table of contents (two pages in length) of an appended treatise which is divided into four sections (each of which consists of chapters): [1]: Ex Mundo Divino (Cap. 1–5); [2]: Ex Mundo Coelesti (Cap. 1-4); Ex Mundo Mortali (Cap. 1–9); Ex Mundo Humano (Cap. 1-9) 7. The text of this appended treatise (second foliation, fol. 1r-47r) consists of 514 conclusiones which are divided up among the sections and chapters contained therein. (At the bottom of second foliation, fol. 46r): Ego Frater Maximianus Beimus Cremensis Inq: Paduae has conclusiones permitto imprimi. 8. A list of typographical errors contained within this appended treatise (2nd foliation, fol. 46v-47r)
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Table 13 (continued): Fourteen published disputations with diverse formats (1547–1697) E. Theoria physica, de intellectu humano, certis thesibus perspicue, & methodice comprehensa, quam ... sub praesidio ... Clementis Timpleri, in Illustri Arnoldino, quod est Steinfurti, Philosophiae Professoris ordinarii ... publice excutiendam ... defendere conabitur, Ad diem 2. Februarii, hora locoque consuetis, Johannes Henricus Wirtzius Tigurino-Helvet. (Steinfurti: Excudebat Theoph. Caesar 1611) [Zürich, Zentralbibliothek: XXI 216 (nr. 40)] (8 leaves) 1. The work consists of a dedication written by the respondent (one page), text of the disputation, two appendices, and two poems addressed to the defendant (i.e., respondent). 2. The text (fol. A2r-B2r) consists of 101 short sections (theorems), 3. The first appendix (fol. B2r-B2v) is titled Elenchum praecipuorum errorum, quos Dn. Keckermannus in Physica sua circa doctrinam de intellectu humano commisit and consists of 14 statements (I.-XIV.) with corresponding page numbers from Bartholomäus Keckermann’s textbook on physics. 4. The second appendix (fol. B3r) consists of ten thesis questions (I.-X.) which are answered (without commentary) either as Aff[irmativa], N[egativa] or Distinguitur. F.
Ad disputationem primam logicam de prolegomenis organi Melanchtonis Problemata XII. De quibus sub praesidio M. Melch. Laubani Rectoris in illustri Bregeo respondebit Salomon Paulli Dantiscanus[.] Opponentibus ordinariis: Abrahamo Schweitzero Bregens: Sil. Friderico Tsirnesio Gorlicens: Andreae Heilmanno Transilvano. A. C. 1614. 12. Jul. H: 8 Antemer: (Bregae: Typis Casp. Sigfridi) [Zwickau, Ratsschulbibliothek: 5.3.30 (41)] 1. The work consists of 2 leaves: a title page (leaf 1) and text (leaf 2). 2. The text consists of 12 problemata (I.-XII.) a. VII. consists of a thesis question followed by the word Affirm[ativa]. Seven sentences of commentary are added thereafter. b. XI. begins with one sentence of commentary and concludes with a thesis question followed by the word Aff[irmativa]. c. Each of the remaining problemata (I.-VI., VIII.-X., XII.) consists of a single thesis question followed by Aff[irmativa] or Disting[uitur] without further commentary. 3. Handwritten notes accompany portions of the text.
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Table 13 (continued): Fourteen published disputations with diverse formats (1547–1697) G. M. Georg. Andreae Fabricii Poetae Laur. Caesarei et Paedagogiarchae Göttingensis Thesaurus philosophicus sive tabulae totius philosophiae systema praeceptis et exemplis artium tam generalium quam specialium cum generalium praxi et historica institutione complectentes (Brunsvigae: Typis et sumptibus Andreae Dunckeri 1624) [Tübingen UB: Aa 6 20] 1. This work contains a dedication (2 pp.), a preface to the reader (9 pp.), an additional letter, nine different sets of verse, a portrait (of Georg-Andreas Fabricius), text (pp. 1-401), an epilogue in verse format, and a list of typographical errors within the text. 2. The text consists always entirely of dichotomous charts on individual philosophical disciplines (logic, rhetoric, grammar, metaphysics, physics, arithmetic, geometry, music, optics, astronomy, geography, ethics, politics, family life (oeconomica) and history), sub-categories thereof, and related subject-matters (including: basic principles of philosophy, philosophical sects, oratory, poetics and disputation theory). 3. These philosophical subject-matters / sub-categories are organized into distinct segments, almost all of these individual segments are paired with individually named respondents. H. Trismegistus Philosophiae moralis, in ... Universitate Salisburgensi ... sub praesidio ... Symberti Vischer ... Professor. ordinarii ... A[utore] R[espondente] F. Bonifacio Schmidt ... philosophiae moralis et metaph: studioso (Salisburgi: In Typographia Christophori Katzenpergeri typographi aulici & academici, mense Julio 1645) [Salzburg UB: 4.438 I] 1. The title of this work is positioned in the bottom middle section of an illustrated title page, which is followed by the dedication (fol. )?(r-)?(4r) written by Bonifacius Schmidt, a preface (p. 1), an introduction (pp. 2-3), the text (pp. 3-34), approbation from the university (p. 34), an appendix (pp. 34-36), and a poem addressed to the respondent (p. 36). 2. The text is divided into three sections / parts (partes). Parts 1 (ethica), 2 (politica), and 3 (oeconomica) are divided into 8, 5 and 3 chapters, respectively. Each of the chapters in all three parts are sub-divided into paragraphs. 3. The appendix is devoted to mathematics within the following five headings: [1] Philosophiae mathematicae schema parergicon; [2] Geometrica; [3] Arithmetica; [4] Musica; [5] Astronomia. I.
Centuria thesium ex universa philosophia, quam ... ex decreto inclutae facultatis philosophiae praeside Sebastiano Ramspeck, Politices & Eloquentiae in Electorali Heidelbergensi Academia Professor P. ejusdemque Academiae jam prorectore magnifico ad summos in philosophia honores rite capessendos publicae disquisitioni exponet Emanuel Sustman M.C. Die 3. Decembr. loco horisque solitis (Heidelbergae: Typis Adriani Wyngaerden academiae typographi 1663) [Leiden UB: DISBUI Heidelberg] 1. [the backside of the title page: dedication by the respondent]: Illustrissimo ... Comiti ac Domino Dn. Hermann Adolpho ... Theses hasce inaugurales humiliter consecro Emanuel Sustman. 2. The text of this disputation consists of 100 numbered theses (Theses 1–99: fol. A2r-A3v). 3. Thesis 100 (fol. A4r) introduces a Hebrew-Latin and Arabic-Latin word list (fol. A4r-C4r).
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Table 13 (continued): Fourteen published disputations with diverse formats (1547–1697) J.
Manuale philosophicum, quod in ... Universitate Salisburgensi sub praesidio Francisci Metzger, Monachi Benedictini in ... Monasterio ad S. Petrum Salisb. ... Philosophiae Professoris Ordinarii, ac p.t. eiusdem Facultatis Decani, publicae concertationi proponet ... Vitalis Mozel ... ad diem Octobris. Anno 1665 (Salisburgi: Typis Joan. Baptistae Mayr, Typographi Aulici & Academ.) [Atlanta, Georgia, USA; Emory University, Pitts Theology Library: 1665 METZ] 1. This work includes a dedication, approbation by the faculties of theology and philosophy, a preface, text (pp. 1-112), and three thesis questions (problemata) (pp. 112-114). 2. The text is divided into three sections (parts): logic (pp. 1-18), physics (pp. 19-101) and metaphysics (pp. 102-112), which are divided into 3, 9 and 2 chapters, respectively; the text consists almost entirely of narrative but also includes 12 thesis questions. 3. The final three thesis questions are devoted to ethics (1 and 2) and mechanics (3).
K. Cogitationes physico-mechanicae de natura visionis, q[u]as ex ... gratia ... senatus ... electoralis, q[u]ae est Heidelbergae, Academiae, curiosorum examini exhibebit, Johannes Ott Scaphusa Helvetius. Die 27. Octobris, hora & loco consuetis (Heidelbergae: Typis Joh. Christiani Walteri acad. typogr. 1670) [Leiden UB: DISBUI Heidelberg] 1. Dedication letter by Johannes Ott to Palatine Elector and Count Karl Ludwig (backside of the title page and three additional leaves) 2. The text consists of sections I.-XXXVIII. (pp. 1-45, including mathematical formulas within the text), an Appendix (pp. 45-46), Corollaria (1.-8.: pp. 47-48) and a foldout diagram. L. Theatrum logicale apertum ab ... Johanne Maximiliano Andrea Ernesto S.R.I. Comite de Thun ... dirigente P. Carolo Schrenckh ... Philosophiae Professore Ordinario. Ad diem __ Martij 1689. Actus I seu theses prolegomenales. Scena I. ...VI. ... (Salisburgi: Typis Joannis Baptistae Mayr Typographi Aulico-Academici) [Salzburg UA: bA154, No. 182] (broadsheet) 1. The six scenes of this First Act serve as six sections (I.-VI.) of a disputation serving as a prolegomenon to the subject-matter of logic. 2. This disputation may have been intended as the first in a series of disputations (acts) on the subject-matter of logic.
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Table 13 (continued): Fourteen published disputations with diverse formats (1547–1697) M. Q.D.B.V. Dissertationem Academicam de constantia et inconstantia, ad regulas rectae rationis et mentem Senecae conscriptam, in Alma Fridericiana, publicae disquisitioni proponent Christianus Thomasius, Jctus, Consil. Elect. Brandenb. et Prof. Publ. et respondens Aemilius Marius Albertus de Freyberg, Eques Anhaltinus, in auditorio publico d. 2. Septembr. 1692. Horis antemerid. ab 8. ad 12. (Hallae: Typis Christophori Salfeldii, Regiminis Elect. Brandenb. typogr.) [München BSB: 2° Diss. 81 (128)] 1. (title page [backside] and the following page): a memorial dedication by A.M.A. de Freyburg to the princes of Anhalt and to Christianus Ernestus Knochius (placed proportionally, in the form of an epitaph) over the dimensions of these two pages 2. A letter to the reader from the presider (i.e., Christianus Thomasius) (1 page) 3. Two letters (written in French) on the subject-matter of inconstancy (14 pages total) 4. The text consists of 43 theses, all of which are in the form of extensive narrative (16 1/2 pages) 5. Corollaria I, II and III, all of which focus on jurisprudence (1/2 page) 6. A content summary of Theses 1 through 43 (1 page) N. Navigatio philosophica in tres classes distributa in Salo Salisburgensi disputationum insultibus cynosura viae, vitae, & veritatis ... dirigente P. Edmundo Schlosggo, ... Philosophiae Professore Ordinatori, & p.t. eiusdem inclytae Facultatis Decano. Remigante ... Joanne Georgio Volnhals ... AA.LL. & Philosophiae Baccalaureo, ac pro suprema ejusdem laurea candidato, SS. Canonum laurea candidato, SS. Canonum Studioso, commisso die __ Mensis Augusti 1697 (Salisburgi: Typis Joannes Baptistae Mayr Typographi aulico-academici) [München UB: 2° Philos. 155] 1. This disputation consists of a frontispiece (illustration), title page, dedicatory letter (by the respondent, Johannes Georgius Volnhalt), approbatory statements by the philosophy and theology faculties, a poem to the respondent, and the text. 2. The text (pp. 1-24) is divided into three sections (classes) consisting of 15, 20 and 5 theses (i.e., narrative passages), respectively. 3. Each narrative passage begins with figurative discourse and includes (at or near the end of the passage) one or more sentences containing philosophical content taken from the disciplines of ethics, logic, physics and metaphysics. 4. The title »Navigatio philosophica« refers figuratively to the difficult, two-year journey required for the study of philosophy (at the University of Salzburg).
Ursula Paintner
Aus der Universität auf den Markt. Die disputatio als formprägende Gattung konfessioneller Polemik im 16. Jahrhundert am Beispiel antijesuitischer Publizistik 1 Die polemische Publizistik gegen die Jesuiten im deutschsprachigen Raum beginnt mit einem Gespräch. Im Jahr 1555 erscheint anonym und ohne Ortsangabe, jedoch wahrscheinlich in Wien, der ›Dialogvs contra impia Petri Canysii Dogmata‹, die nach heutigem Forschungsstand erste Flugschrift gegen die seit 1549 im Reich tätigen Jesuiten.2 In der mit einem Umfang von 3 Quartlagen verhältnismäßig kurzen Schrift diskutieren zwei Kirchgänger über das Eucharistieverständnis des berühmten Jesuiten Petrus Canisius. Die Gesprächspartner tragen die sprechenden Namen Christophilos und Canysiophilos; Christophilos argumentiert gegen Canisius und für den Laienkelch und die Autorität der Schrift, Canysiophilos hingegen verteidigt Canisius als großen Kirchenlehrer und Nachfolger der Apostel, der aufgrund seines jahrelangen Studiums in theologischen Fragen gar nicht irren könne.3 Bereits in dieser ersten antijesuitischen Polemik des deutschsprachigen Raums werden der Anhänger der Jesuiten (bzw. des Canisius) und der Anhänger Christi im Gespräch antithetisch kontrastiert. Sowohl ihre Namen als auch die Argumente, die sie vorbringen, weisen sie als Vertreter unterschiedlicher, unvereinbarer Positionen aus; Christus
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Der folgende Beitrag stützt sich auf die Ergebnisse meiner Dissertation zur antijesuitischen Polemik im deutschsprachigen Raum bis 1618: Ursula Paintner, ›Das die Jesuiten rechte vnd eigentliche verfolger Jhesu Christi sein‹. Polemische Publizistik gegen Jesuiten im deutschsprachigen Raum bis 1618. Kommunikation und Funktion, Berlin (Diss. masch.) 2006. Dialogvs contra impia Petri Canysii dogmata de sacramento Eucharistiae compositus […], s. l. 1555 [VD 16 D 1347]. Vgl. Patrizio Foresta, Die ersten Jesuiten in Deutschland und ihre Wahrnehmung der politisch-verfassungsrechtlichen Verhältnisse. Ein spezifisches Amtsverständnis bei Petrus Canisius, in: Rolf Decot (Hg.), Konfessionskonflikt, Kirchenstruktur, Kulturwandel. Die Jesuiten im Reich nach 1556, Mainz 2007, S. 23–40, bes. S. 25. Dialogvs contra impia Petri Canysii dogmata (wie Anm. 2), Bl. Aijvf.
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Ursula Paintner
und Canisius zugleich zu folgen, stellt sich als ein Ding der Unmöglichkeit dar. Mit diesem Auftakt scheint das Grundmuster der antijesuitischen Publizistik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorgegeben – das »Gespräch«, der Austausch von Argumenten beider Seiten, bestimmt die formale Gestaltung der theologischen Auseinandersetzung zwischen lutherischen Protestanten4 und Jesuiten. Zugleich spiegelt das Setting dieser ersten antijesuitischen Flugschrift in gewisser Weise die Austragungsschauplätze des theologischen Konflikts zwischen Protestanten und Jesuiten: Christophilos und Canysiophilos treffen einander offenbar zufällig auf der Straße bzw. dem »Markt«, also in aller Öffentlichkeit; Christophilos scheint aber völlig in Gedanken versunken:5 Ecquid noui habes, quod ita philosophi instar cogitabundus incedis? perinde ac si apud te no[n] sis, fragt ihn Canysiophilos bei der Begegnung. Die Szenerie oszilliert zwischen dem Zufallstreffen auf offener Straße und der typischen Gelehrtenattitüde des Christophilos, der völlig in seinen theologischen Gedanken versunken ist. Alltagsgespräch und gelehrter Diskurs, Markt und Universität bilden das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich die theologische Auseinandersetzung mit den Jesuiten abspielt. Dies zeigt sich auch in den im antijesuitischen Diskurs verwendeten Textsorten. Nicht nur in literarisch ausgestalteten Dialogen wie dem ›Dialogvs contra impia Petri Canysii Dogmata‹, sondern vor allem in eher traktatartigen, für ein akademisch gebildetes Publikum konzipierten Texten ist auf zwei Ebenen eine Orientierung der polemischen Publizistik am mündlichen Austausch zu erkennen: Zum einen handelt es sich bei konfessioneller Polemik zumindest teilweise tatsächlich um einen öffentlich geführten Dialog zwischen Vertretern der konkurrierenden Konfessionen. Protestantische und katholische bzw. »jesuitische« Theologen publizieren wechselseitig ihre Schriften und reagieren dabei jeweils auf die Publikationen ihres speziellen »Gegners«.6
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Bis ca. zur Wende zum 17. Jahrhundert sind es vornehmlich lutherische Protestanten, von denen die Auseinandersetzung mit den Jesuiten ausgeht; erst im Laufe der Zeit verlagert sich der Schwerpunkt der antijesuitischen Polemik auf Texte von calvinistischen Autoren. Vgl. Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, S. 206. Dialogvs contra impia Petri Canysii dogmata (wie Anm. 2), Bl. Aijr. (übers. U.P.): ›Du hast wohl irgendwelche Neuigkeiten, dass Du so gedankenverloren wie ein Philosoph einhergehst, als ob Du nicht ganz bei Dir selbst wärest?‹. Dies macht die polemische Publizistik auch für die historische Dialoganalyse interessant, vgl. Thomas Gloning, The Pragmatic Form of Religious Controversies around 1600. A case Study in the Osiander vs. Scherer & Rosenbusch Controversy, in: Andreas H. Jucker / Gerd
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Zum anderen besitzen auch die Texte selbst eine Dialogstruktur. Die Gegner der Jesuiten beschränken sich nicht darauf, ihre eigenen Thesen, ihre eigene theologische Position zu erläutern. Dies geschieht vielmehr in Abgrenzung von der Theologie der Jesuiten, die daher ebenfalls in den antijesuitischen Texten dargestellt wird. Die bisherige Forschung hat der Dialogizität konfessioneller Polemik wenig Beachtung geschenkt. Zwar untersuchen beispielsweise Kai Bremer und Thomas Gloning bewusst jeweils beide Seiten einer Kontroverse, da nur so eine sinnvolle Erfassung des Streitzusammenhangs gewährleistet sei.7 Auch konstatiert Bremer anhand einer Streitschrift des Jesuiten Georg Scherer, den konfessionspolemischen Texten liege eine »disputatorische Struktur« zugrunde und es fänden sich »grundlegende Elemente von Rede und Gegenrede sowie deren Belege und die notwendige ›conclusio‹«.8 Jedoch läuft Bremer Gefahr, über die Einordnung in den Streitzusammenhang die Dialogizität auf der Ebene der einzelnen Schriften und vor allem die Funktion dieser Ausrichtung am Muster der akademischen disputatio aus dem Blick zu verlieren. Ich werde im Folgenden zeigen, dass antijesuitische Polemik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf beiden Ebenen, sowohl intertextuell im Zuge publizistischer Kontroversen als auch innerhalb des einzelnen Texts, von der disputatio als maßgeblicher Form akademischer Auseinandersetzung beeinflusst ist. Für die größtenteils akademisch ausgebildeten Theologen, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Debatte gegen die Jesuiten führen, ist die disputatio die selbstverständliche Form, in der theologische Dispute ausgetragen werden. Dennoch hieße es, die rhetorischen Fähigkeiten der Kontroverstheologen des 16. Jahrhunderts zu unterschätzen, wollte man unterstellen, sie hätten diese Form aus reiner Gewohnheit für ihre Debatten gewählt. Vielmehr wird nach der Funktion zu fragen sein, die die Form der disputatio im Rahmen der publizistischen Kontroversen zwischen den Konfessionen ausübt. Die Verwendung disputatorischer Strukturen, maßgeblich des antithetischen Aufbaus aus These und Gegenthese, Argument und Gegenargument, unterstützt im Rahmen der konfessionellen Debatten des 16. Jahrhunderts die polemische Wirkung der Publizistik. Ich verstehe Polemik in Anlehnung an die Überlegungen Jürgen Stenzels von ihrer kommunika-
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Fritz / Franz Lebsanft (Hg.), Historical Dialogue Analysis, Amsterdam / Philadelphia 1999, S. 81–110. Kai Bremer, Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert, Tübingen 2005, S. 64. Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 7), S. 146.
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tiven Funktion her als Inszenierung eines Antagonismus.9 Daher erweist sich die disputatio, die ihrem Wesen nach antagonistisch ist, als geeignete Form, um den Konfessionskonflikt publizistisch zu verarbeiten. Dies bleibt jedoch nicht ohne Rückwirkungen auf die disputatio selbst. Obgleich formal antagonistisch, ist ihr ursprüngliches Ziel nicht die Darstellung, sondern die Überwindung bzw. das Ausräumen des Antagonismus; wiewohl selten, zeigt doch auch die Anweisungsliteratur zur disputatio, dass das Ziel des akademischen Streits eine conclusio, ein gemeinsames Ergebnis beider Parteien sein sollte.10 Im Unterschied zu diesem prinzipiell versöhnlichen, lösungsorientierten Anspruch verfolgt die polemische Publizistik des Konfessionszeitalters ein anderes Ziel. Zweck von Polemik ist, so Stenzel, nicht Verständigung, sondern die »Vernichtung« des Gegners.11 Ich werde im Folgenden zeigen, dass die disputatio nicht nur als Formvorlage der Polemik dient, sondern dass mit fortschreitender Zuspitzung des Konfessionskonflikts auch die disputatio selbst polemisch funktionalisiert wird. Zumindest im Bereich der interkonfessionellen Kontroverstheologie verschiebt sich ihr Ziel, so meine These, von der Verständigung hin zur Vernichtung, vom akademischen Austausch hin zur öffentlichkeitswirksamen Demonstration konfessionellen Wahrheitsanspruchs. Bevor diese beiden grundlegenden Tendenzen, die Verwendung disputatorischer Formen in der polemischen Publizistik und die Funktionalisierung der disputatio selbst zu polemischen Zwecken, anhand ausgewählter Quellen demonstriert werden können, sind einige Vorüberlegungen zu den grundlegenden kommunikativen Unterschieden der beiden Genres angebracht.
I. Zur Kommunikationssituation von disputatio und Konfessionspolemik Vor allem hinsichtlich der Kommunikationssituation unterscheidet sich die polemische Publizistik des konfessionellen Zeitalters von der zunächst einmal mündlichen disputatio. Letztere ist einem vergleichsweise kleinen, akademisch gebildeten Publikum vorbehalten, das räumlich anwesend, des Lateinischen mächtig und zumindest in Ansätzen mit dem zur Diskussion 9
Jürgen Stenzel, Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik, in: Franz Josef Worstbrock / Helmut Koopmann (Hg.), Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit, Tübingen 1986, S. 3–11. 10 Vgl. Donald Leonard Felipe, The post-medieval ars disputandi, Austin (Diss. masch.) 1991, S. 191f. 11 Stenzel, Rhetorischer Manichäismus (wie Anm. 9), S. 6.
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stehenden Thema vertraut sein muss, um das dialektische Spiel aus Rede und Gegenrede, These und Antithese zu verstehen. Nur durch den Thesendruck ist die disputatio in der Lage, auch ein Publikum über den Kreis der anwesenden Fakultätsmitglieder hinaus anzusprechen.12 Obwohl der Thesendruck zeitlich vor der eigentlichen disputatio liegt – in der Regel stellt er eine Art Einladungsschreiben und Terminbekanntmachung dar – ist er als Sekundärtext zu betrachten, denn erst beim mündlichen Akt der disputatio treffen in den Personen von Respondent und Opponent zwei widersprüchliche Positionen aufeinander. Dementsprechend ist besonders für das 16. Jahrhundert noch mit einer geringen Auflagenstärke von Thesendrucken zu rechnen; die Drucke dürften tatsächlich in erster Linie der Information von Verwandten, Gönnern und Fakultätsmitgliedern gedient haben.13 Im Unterschied also zur mündlichen disputatio erreicht die konfessionelle Polemik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine breitere Öffentlichkeit. Ihr Wirkungsradius ist potenziell weder räumlich noch zeitlich begrenzt; einmal im Druck festgehalten, kann ein Text immer wieder gelesen, weitergegeben und gegebenenfalls auch vervielfältigt werden. Dass die Hinwendung zu einem größeren Publikum bewusst intendiert ist, zeigt sich an der relativ großen Zahl volkssprachlicher Publikationen bereits im 16. Jahrhundert. Je mehr die Konfession in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Politikum wird, umso wichtiger wird es für die Theologen beider Parteien, sich nicht nur innerhalb des akademischen Bereichs mit ihrer Meinung durchzusetzen, sondern auch ein größeres Publikum, vor allem Entscheidungsträger auf lokaler und regionaler Ebene, von ihrem jeweiligen konfessionellen Standpunkt zu überzeugen. Daher werden Obrigkeiten in den Vorreden der polemischen Publikationen häufig direkt angesprochen und an ihre Verantwortung für den »richtigen« Glauben ihrer Untertanen erinnert. In diesem Sinne erweist sich die konfessionelle Publizistik als schriftliche Verlängerung mündlicher »Religionsgespräche«, wie sie bis ins 17. Jahrhundert hinein auf obrigkeitliche Veranlassung hin immer wieder stattfinden, denn beide dienen dem Ziel, ihr Publikum von der Richtigkeit der dargestellten Position zu überzeugen. Sicherlich nicht streng als chronologisch-historische Abfolge, aber als Logik des interkonfessionellen Kommunikationsprozesses sind disputatio, Religionsgespräch und Konfessionspolemik als dreistufiges Modell zu sehen, 12 Vgl. hierzu auch Ursula Kundert, Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehung in Texten des 17. Jahrhunderts, Berlin / New York 2004, S. 109. 13 Vgl. Hanspeter Marti, Art. ›Dissertation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 880–884, bes. Sp. 881f.
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innerhalb dessen die disputatio den engsten Rezipientenkreis erreicht und sich auf dem höchsten akademischen Niveau bewegt, während Religionsgespräch und Konfessionspolemik einen weniger akademischen Zuschnitt aufweisen, dadurch aber ein größeres Publikum ansprechen können. 1) disputatio: Es handelt sich primär um eine Form der mündlichen Auseinandersetzung, bei der Respondent und Opponent unter dem Vorsitz eines Präses über Thesen diskutieren, die vorher durch den Thesendruck bekannt gegeben werden. Angesprochen wird mit dieser Form der Auseinandersetzung ein akademisch gebildetes Publikum, vor allem Fachkollegen und Fakultätsmitglieder, die der disputatio beiwohnen und die lateinische Diskussion verstehen können. Die Debatte folgt festen Regeln und einem typischen Schema aus Rede und Gegenrede, wobei die logischen Formen des Schlagabtauschs variieren können.14 Im Idealfall handelt es sich um eine Möglichkeit der Wahrheitsfindung, wenn auch aufgrund der starken Formalisierung oftmals der Ausgang von vornherein festgestanden haben dürfte. So beklagt ›Zedlers Universallexicon‹ im Jahre 1734 den Niedergang der Disputir-Kunst, die ursprünglich dem Ziel gedient habe, einen Jrrthum oder Zweiffel abzulegen.15 Inzwischen habe sich der Zweck der disputatio allerdings verschoben: Der Neben=Endzweck sich zu üben, und einen Versuch seiner Gelehrsamkeit an den Tag zu legen, ist nunmehro zum Haupt=Zwecke geworden, und man ist allbereit gewohnt, sich von denen wenigsten öffentlicher Streitigkeiten eine ernsthaffte Untersuchung der Wahrheit zu versprechen.16 Hier wird deutlich, dass spätestens im 18. Jahrhundert die disputatio eher den Charakter einer akademischen Inszenierung als einer wirklichen Auseinandersetzung angenommen hatte. Die hier ausgesprochene Kritik markiert den Endpunkt einer Entwicklung, die, wie im Folgenden deutlich wird, bereits im 16. Jahrhundert begonnen hatte. 2) Religionsgespräch: Auch Religionsgespräche finden mündlich statt. Im Normalfall auf Einladung der Obrigkeit, die gegebenenfalls für ihr Territorium eine konfessionelle Entscheidung fällen will, treffen Vertreter beider Konfessionen zusammen, um über ein vorher festgesetztes Thema zu disputieren. Die einladende Obrigkeit ist vertreten und übernimmt eine Rolle, die analog zu der des Präses in akademischen Disputationen zu sehen ist. Sie sorgt für die Aufrechterhaltung der Gesprächsdisziplin, erteilt den Par14 Vgl. Art. ›Disputir-Kunst‹, in: Zedlers Universallexicon 7 (1733), Sp. 1058–1070, bes. Sp. 1059. 15 ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 14), Sp. 1058. 16 ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 14), Sp. 1058.
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teien das Wort und stellt gewissermaßen die letzte Entscheidungsinstanz dar, die es von der Richtigkeit der jeweiligen Position zu überzeugen gilt.17 Daher ist das Ergebnis des Gesprächs potenziell offen, wenn auch häufig im Vorfeld eine gewisse Tendenz zu erkennen ist. Ziel der Auseinandersetzung ist weniger die wechselseitige Verständigung als vielmehr die Abgrenzung der theologischen Positionen. Nicht zuletzt zeitigen Religionsgespräche ja unter Umständen politische Konsequenzen, wenn sie Bestandteil eines konfessionellen Entscheidungsprozesses sind.18 Es besteht die Möglichkeit, dass neben dem engen Kreis aus Gastgebern und geladenen Theologen ein größeres Publikum – ein Stadtrat, Mitglieder der Hofgesellschaft oder tatsächlich ein sozial gemischter Ausschnitt der Öffentlichkeit – anwesend ist.19 Zudem werden Religionsgespräche oft im Nachhinein publizistisch kommentiert. Teils veröffentlichen die Teilnehmer Protokolle der Gespräche und machen den Wortlaut der Auseinandersetzung, sofern er von einer Transskription exakt wiedergegeben werden kann, einem größeren Publikum zugänglich.20 3) Polemische Publizistik: Im Unterschied zu diesen beiden primär mündlichen Formen bedient sich polemische Publizistik von vornherein ausschließlich der Schriftform. Die Drucklegung bewirkt eine Öffnung des Publikums, prinzipiell stehen gedruckte Streitschriften der »gesamten Öffentlichkeit« zur Verfügung. Darauf reagieren die Verfasser von Streitschriften, indem sie einen großen Teil der theologischen Publizistik entwe17 Thomas Fuchs, Konfession und Gespräch. Typologie und Funktion der Religionsgespräche in der Reformationszeit, Köln u. a. 1995; Werner Enninger, Zu Möglichkeiten und Grenzen historischer Diskursanalyse. Der Fall der Zweiten Züricher Disputation 1523, in: Zeitschrift für Germanistik 11 (1990), S. 147–161. Zur Funktion des Präses in der disputatio vgl. Felipe, Ars disputandi (wie Anm. 10), S. 184–192. 18 Ich vereinfache hier etwas die differenzierte, auf die Forschung zum Thema gestützte Definition des Religionsgesprächs bei Fuchs, Konfession und Gespräch (wie Anm. 17), S. 6–16. Obwohl Fuchs den potenziell offenen Ausgang der Religionsgespräche für konstitutiv erachtet, betont er selbst den politischen Hintergrund, der den Ausgang eines Religionsgesprächs häufig im Voraus festgelegt haben dürfte. In der Praxis ist also kaum von einem offenen Gespräch auszugehen. 19 So spricht Enninger für die Zweite Züricher Disputation von 1523 von 900 Teilnehmern, sowohl Theologen und Klerikern als auch Laien. Vgl. Enninger, Historische Diskursanalyse (wie Anm. 17), S. 150–152. 20 Vgl. zum Religionsgespräch nach 1555 und seiner Stellung zwischen disputatio und Polemik Barbara Bauer, Das Regensburger Kolloquium 1601, in: Hubert Glaser (Hg.), Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1573–1657 II/1, München 1980, S. 90–99. Bauer bemerkt, dass im Falle des Regensburger Kolloquiums die Protokolle auch in die Volkssprache übersetzt wurden, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen (vgl. ebd. S. 93).
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der direkt in deutscher Sprache oder zumindest in deutscher Übersetzung zusätzlich zum lateinischen Original publizieren. Besonders im Bereich der antijesuitischen Publizistik, so scheint es, liegt protestantischen Theologen als Verfassern antijesuitischer Flugschriften und Traktate sehr viel daran, nicht nur das akademisch gebildete Publikum zu erreichen, sondern die theologische Argumentation gegen die Jesuiten auch einem ausschließlich deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Dem wachsenden Erfolg der Jesuiten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begegnen die Theologen mit einer Vielzahl von Schriften, deren Ziel nicht die Vermittlung zwischen den Positionen ist, sondern die Abgrenzung vom Gegner und die glaubhafte Vermittlung der eigenen Lehre. Innerhalb dieser drei öffentlichkeitswirksamen Formen der konfessionellen Auseinandersetzung erreicht die polemische Publizistik also den größten Rezipientenkreis, behält jedoch strukturell die wichtigsten Eigenschaften der disputatio bei. In welchem Maße sich polemische Publizistik am formalen Vorbild der disputatio orientiert, soll im Folgenden genauer gezeigt werden.
II. Aus der Universität auf den Markt – Disputatorische Formen in der polemischen Publizistik Auf der Ebene des einzelnen Texts lässt sich Polemik nach Jürgen Stenzel als Zusammenspiel von drei Kommunikationsrollen beschreiben. Die erste, das polemische Subjekt, bezieht Stellung gegen das polemische Objekt. Diese beiden Positionen entsprechen ungefähr »Verfasser« und »Gegner« der Polemik, sind aber nicht mit ihnen gleichzusetzen, da es sich bei Letzteren um reale Personen, bei Ersteren aber um in den jeweiligen Text eingeschriebene Rollen, also um Inszenierungen handelt. Gleiches gilt für die dritte Rolle, die polemische Instanz bzw. das Publikum.21 Unabhängig von der tatsächlichen Rezeption ist ein ideales Publikum, dessen Überzeugung der jeweilige Text anstrebt, in polemische Publikationen eingeschrieben. Kai Bremer sieht in der Gestaltung dieser Rollen in der Konfessionspolemik des 16. Jahrhunderts eine Analogie zur Gerichtssituation, wobei das polemische Subjekt die Rolle des Klägers, das Objekt die Rolle des Beklagten und die polemische Instanz die Rolle des Richters einnimmt.22 Diese »polemische Situation« lässt sich jedoch ebenfalls in Analogie zur Rollenverteilung in der disputatio bringen: 21 Stenzel, Rhetorischer Manichäismus (wie Anm. 9), S. 5f. 22 Bremer, Religionsstreitigkeiten (wie Anm. 7), S. 156.
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Die übliche Vorgehensweise konfessioneller Polemik gegen die Jesuiten ist es, katholische bzw. »jesuitische« Argumente zu einem bestimmten Thema zu nennen und sie dann aus protestantischer Perspektive zu widerlegen. Deutlich lässt sich zum Teil bis in das Schriftbild hinein eine Struktur aus These und Gegenthese nachvollziehen. So zitiert Lucas Osiander in seiner ›Abfertigung der vermeindten Replic Christophori Rosenbusches‹23 in zwei Spalten jeweils Abschnitte aus »jesuitischen« Publikationen und wichtige Abb. 1: Der Konfessionskonflikt als Antagonismus Bibelstellen [s. Abb. 1]. Der zwischen Christus und Antichrist aus Lucas OsianZweispaltendruck macht den der, Abfertigung Der vermeindte[n] Replic / ChrisGegensatz zwischen den Positophori Rosenbusches / Jesuiters […], Tübingen: tionen auch optisch deutlich; Georg Gruppenbach 1587, S. 51 [Flugschriftendie Marginalien geben an, welsammlung Gustav Freytag der Universitätsbiblioche der vielen strittigen Fragen thek Frankfurt am Main, Flugschrift Nr. 3774]. im jeweiligen Abschnitt behandelt wird. Dezidiert polemisch wirkt diese Vorgehensweise vor allem durch die Überschriften der beiden Spalten, denn diese inszenieren die Differenz zwischen protestantischer und »jesuitischer« Theologie als unversöhnlichen Antagonismus. Zu jedem einzelnen Punkt sind die Bibelzitate mit der Überschrift Christus, die jesuitischen mit der Überschrift Antichrist überschrieben. Deutlicher lässt sich der konfessionelle Gegensatz, der im Zeitalter der Konfessionalisierung als Gegensatz zwischen wahrer und falscher Lehre, zwischen Gott und Antichrist gesehen wird, kaum in Szene setzen. Nähe zur disputatio ergibt sich vor allem aus dem Wechsel von These und Antithese, von Argument und Gegenargument, der dem Gespräch zwischen Opponent und Respondent entspricht. Weitere Indizien in der Streitschrift weisen darauf hin, dass die Nähe zur disputatio keinesfalls zufällig zustande kommt. Die Marginalien, die 23 Lucas Osiander, Abfertigung Der vermeindte[n] Replic / Christophori Rosenbusches / Jesuiters […], Tübingen: Georg Gruppenbach 1587 [VD 16 O 1160], S. 46–74.
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den konkreten Streitpunkt des jeweiligen Abschnitts bezeichnen, sind häufig in der für disputationes typischen An … sit?-Form abgefasst. Auf S. 51 beispielsweise benennen die Marginalien die Themen der Absätze wie folgt: Ob der Mensch zweiflen soll / ob er ein gnädigen Gott habe, und Ob der Mensch zweifeln soll / ob er biß ans end beharren / vnd selig werden möge.24 Damit werden, bezogen auf ein theologisches Problem, typische Disputationsfragen gestellt. Auch die unter dem Vorsitz von Johann Matthäus Meyfart 1626 geführte antijesuitische ›Disputatio prior‹ über die Anrufung der Heiligen formuliert das Thema in Form einer quaestio:25 Nervus igitur quæstionis est hic: An Sancti religiosè sint invocandi, ita, ut ad illorum non tantum intercessionem sed etiam merita, opem & auxilium confugere, in ijsdemq[ue] spem ac cordis fiduciam collocare liceat? Lutherani negant, Pontificij affirmant […]. Es ist üblich, das Thema einer disputatio in Form einer Frage zu formulieren, was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass gerade in disputationes, die sich mit konfessionellen Kontroversen beschäftigen, das Ergebnis zu den einzelnen Fragen von vornherein festgestanden haben dürfte. So herrscht im protestantischen Umfeld des Coburger Gymnasiums im frühen 17. Jahrhundert kein Zweifel darüber, dass die Heiligen nicht »mit religiöser Anbetung verehrt« werden dürfen. Auch die polemische Schrift Lucas Osianders lässt über die Antworten zu den gestellten Fragen keinen Zweifel aufkommen – die Zwischenüberschriften Christus – Antichrist zeigen mehr als nur deutlich, auf welcher Seite die »Wahrheit« zu suchen ist. Osiander selbst bezeichnet dieses dialektische Vorgehen als disputatio. Die Passage, in der er in der ›Abfertigung der vermeindten Replic‹ protestantische und jesuitische Theologie kontrastiert, wird mit folgender Ankündigung eingeleitet:26 DAmit er aber (oder auch andere) nicht gedencken möchten / ich fürchtet mich für seiner grossen Kunst / vnd dürffte mit jm nicht disputieren: so will ich mich in ein nutzlichere Disputation mit jm einlassen […]. Dieser Ankündigung folgt die Gegenüberstellung von Christus und Antichrist, wie sie in Abb. 1 zu sehen ist. Osiander inszeniert also den 24 Ebd. S. 51, vgl. Abb. 1. 25 Johann Matthäus Meyfart (Pr.) / Joseph Balthasar Finck (Resp.), Disputatio Theologica prior, de invocatione Sanctorum, opposita potissimùm Martini Becani, nuper Jesuitæ, sophisticationibus, quibus literariæ juventuti […] imponere ausus est […], Coburg: Johann Forckel 1626 [VD 17 39:130385A], Bl. A3vf. (übers. U. P.): ›Der Kern der Frage ist nämlich folgender: Ob die Heiligen mit religiöser Anbetung verehrt werden dürfen, und zwar so, dass es erlaubt ist, nicht nur zu ihrer Vermittlung, sondern auch zu ihren Verdiensten, zu ihrem Beistand und ihrer Hilfe Zuflucht zu nehmen und Hoffnung und Vertrauen des Herzens zu ihnen zu fassen. Die Lutheraner verneinen dies, die Päpstlichen bejahen es‹. 26 Osiander, Abfertigung (wie Anm. 23), S. 45.
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Konfessionskonflikt, so ließe sich zusammenfassen, bewusst als disputatio zwischen Christus und Antichrist. Die polemische Methode, jesuitische und protestantische Positionen scharf antithetisch zu kontrastieren, findet sich häufig in der antijesuitischen Publizistik. Oft bleiben die Texte, wie bei Osiander zu sehen, auf die bloße Gegenüberstellung von Zitaten beschränkt; teilweise finden sich jedoch auch Streitschriften, in denen die Argumentation zu den einzelnen Punkten ausgeführt wird. Grundsätzlich handelt es sich um Traktate, also um von vornherein für die Schriftform konzipierte Texte. Dass dieses Verfahren dennoch die mündlichen Formen von disputatio und Religionsgespräch zum Vorbild hat, lässt sich deutlicher noch als an obigem Beispiel an Jacob Andreaes 1590 postum veröffentlichtem ›Christlich Gespräch‹ zeigen.27 Der Text ist als Idealentwurf eines Religionsgesprächs gedacht; ein Jesuit und ein lutherischer Prediger treffen sich, so die Fiktion, um vor einem anwesenden Präsidenten, also einem Vertreter der Obrigkeit, über die Frage zu disputieren, welche der rivalisierenden Konfessionen für sich den Anspruch erheben könne, in der Tradition Christi und der Apostel zu stehen. Die Schrift ist, nach einer Vorrede der Württemberger Theologen, welche die postume Veröffentlichung begründet, vollständig als Gespräch zwischen den drei Parteien (Präsident, Jesuit, Prediger) ausgeführt. Der Präsident stellt den beiden Parteien, vorrangig aber dem Jesuiten, Fragen zu einzelnen Aspekten ihrer theologischen Position. Beide stellen daraufhin ihre Lehre zum jeweiligen Thema dar, der Prediger in der Regel nach dem Jesuiten, sodass er in der Rolle des Respondenten die Thesen verteidigt, die der Jesuit anficht. Dass als Ergebnis des Gesprächs der Präsident sich für die lutherische Position und gegen den Jesuiten entscheidet, erscheint als logische Konsequenz aus der Rollenverteilung im Gespräch und untermauert die polemische Wirkung des Textes: Jesuitische und protestantische Theologie erweisen sich als unvereinbar, erstere als »falsch«, letztere als »wahr«; dementsprechend erweisen sich ihre jeweiligen Repräsentanten als böswilliger Irrlehrer respektive treuer Seelsorger. Letztlich unterscheidet sich das ›Christlich Gespräch‹ kaum von dem, was wir in Osianders Flugschrift gesehen haben. Auch bei Andreae werden die Positionen beider Konfessionen zu einem Thema kontrastiv dargestellt, allerdings nicht durch Zitate, sondern in einem literarisch ausgestalteten Dialog. Es handelt sich ebenfalls um die Inszenierung eines Antagonismus 27 Jacob Andreae, Ein Christlich Gespräch eines guthertzigen Præsidenten / Lutherischen Predicanten / vnd Jesuiters. Von der Catholischen Apostolischen Christlichen Kirchen: […] Gestelt durch Iacobum Andreæ, D. Propst vnd Cantzlern bey der Vniuersitet zu Tübingen, Tübingen: Georg Gruppenbach 1590 [VD 16 A 2555].
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zwischen zwei Parteien; nur die rhetorischen Mittel der Inszenierung ändern sich. Nicht Textzitate werden kontrastiert, sondern Rollenbilder, deren Verteilung derjenigen einer disputatio entspricht. Lutherischer Prediger und Jesuit nehmen in diesem fiktiven Religionsgespräch die Rollen von Respondent und Opponent ein, und die Rolle des Präsidenten ist analog zu der des Präses zu betrachten. Er ist nicht nur derjenige, den die beiden Kontrahenten als Vertreter der Obrigkeit von ihrer Position zu überzeugen suchen, sondern er sorgt gleichzeitig für die Aufrechterhaltung der Gesprächsdisziplin, indem er beispielsweise die Kontrahenten auffordert, sachlich zu diskutieren und hefftige vnd hässige Auseinandersetzungen zu vermeiden.28 Vor allem das dialektische Prinzip aus These und Gegenthese, das die antijesuitische Publizistik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts prägt, berechtigt dazu, sie als maßgeblich von der disputatio beeinflusst anzusehen. Die Verfasser, größtenteils akademisch gebildet und daher an der disputatio als maßgeblicher Form akademischer Auseinandersetzung geschult, verwenden Schemata und Techniken der disputatio, wenn sie die gelehrte theologische Auseinandersetzung publizistisch umsetzen und damit einem weniger gebildeten Publikum vermitteln. Im Unterschied zum Beispiel zur Vorlesung entwickelt die disputatio einen Standpunkt nicht einseitig, sondern in Abgrenzung von einer Gegenposition. Gleiches gilt für die konfessionelle Polemik: Die »Wahrheit« der einen, in diesem Falle protestantischen, Position konstituiert sich erst in Abgrenzung von der Gegenmeinung, wie auch in der disputatio der Standpunkt des Respondenten erst in Abgrenzung von den Einwänden des Opponenten Schärfe und Kontur gewinnt. Polemik und disputatio sind also insofern eng verwandte Genres, als sie im Rahmen der konfessionellen Streitigkeiten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in den unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen von universitärer und allgemeiner Öffentlichkeit eine ähnliche funktionale und strukturelle Stelle besetzen. Sowohl im akademischen als auch im publizistischen Bereich, an der Universität und auf dem »Markt«, ist es ein Effekt der disputatorischen Struktur, dass die konfessionellen Standpunkte als unvereinbare Gegensätze erscheinen, die das Publikum dazu zwingen, Position zu beziehen. 28 Andreae, Ein Christlich Gespräch (wie Anm. 27), S. 6: Ermane demnach euch gnädiglich / jhr wöllet diß mals auff ein ort setzen / was zu beiden theilen für hefftige vnnd hässige Schreiben gegen vnd wider einander vorgelauffen / vnnd zuuorderst allein auff Gottes Ehr / auff die Warheit seines heiligen Worts / vn[d] der Christlichen Kirchen wolfahrt sehen / vnnd mir ein lautern grund vnd bericht / allein auß H. Schrifft / Altes vnd Newes Testaments / nämlich / auß den Schrifften der Propheten vnnd Apostel anzeigen / was jedes Theils Glaub vnd Bekanntnus von der Apostolischen Catholischen Kirchen sey.
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III. Metaebene – Die »Regeln« der Polemik Das bisher Gesagte bezieht sich vor allem auf den Effekt nach außen, auf die Publikumswirksamkeit von disputatio und Konfessionspolemik. Jedoch dienen beide Kommunikationsformen – die disputatio in wesentlich stärkerem Maße als die Polemik – nicht nur der Verständigung mit einem außenstehenden Publikum, sondern auch der Kommunikation mit dem jeweiligen Gegner. Respondent und Opponent stehen zumindest formal in einem Dialog miteinander, und genauso verhält es sich mit Jesuiten und protestantischen Theologen. Sie treffen zwar nicht bei universitätsinternen disputationes aufeinander, begegnen einander aber durchaus im Rahmen von Religionsgesprächen, die formal nach demselben Muster ablaufen wie eine akademische disputatio. Der Dialog ist also beim tatsächlichen Zusammentreffen der Kontrahenten klaren Regeln unterworfen. Dass die Einhaltung dieser Regeln auch für die Konfessionspolemik eingefordert wird, kann als weiterer Beleg für den Zusammenhang der beiden Kommunikationsformen dienen. Die Bedeutung einer regelkonformen Argumentation zeigt sich beispielsweise bei der Verwendung gegnerischer Zitate. Diese sind ein beliebtes Mittel, die Position des Gegners darzustellen; Jesuiten verwenden Lutherzitate, wenn sie die protestantische Theologie beschreiben, umgekehrt zitieren protestantische Theologen aus jesuitischen Publikationen.29 Dabei wird zwar sehr großer Wert auf genaues Zitieren gelegt, jedoch liegt die Auswahl der Zitate selbstverständlich beim Verfasser. Letzterer kann also zweideutige Zitate auswählen oder den Sinn der Zitate durch Weglassen des Kontexts verfälschen. Dies wird vom jeweiligen Gegner aufmerksam registriert und auf einer »metapolemischen« Ebene als Argument gegen den Urheber des »falschen« Zitats gewendet, wie eine Kontroverse aus den 1590er Jahren verdeutlicht: Im Jahr 1594 erscheint eine Flugschrift mit dem Titel ›Der Vnschuldige Luther‹, in der Luther aus seinen eigenen Schriften Unkeuschheit, Völlerei, Sauferei und Unglauben nachgewiesen werden sollen. Als Herausgeber tritt ein gewisser M. Conradus Andreae, IACOBI ANDREAE […] Bruder, auf.30 Es handelt sich vermutlich um ein Pseudonym des Jesuiten Conrad 29 Vgl. Abb. 1; auch Osiander verwendet Zitate aus jesuitischen und allgemein katholischen Publikationen, um die Lehre des »Antichrist« darzustellen. 30 Ich verwende hier eine spätere Ausgabe von 1598: [Conrad Andreae,] Der Vnschuldige Luther / Das ist: Helle vnd stattliche Beweysung / wie Doctor Martin Luther / an dem grossen […] Jammer […] vnsers lieben Vatterlandts Teutscher Nation […] vnschuldig / […] gestelt: Durch M. Conradvm Andreae, Iacobi Andreae: seliger Gedechtnuß leiblichen Bruder […], Gratz: Georg Widmanstetter 1598 [VD 16 ZV 23556].
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Vetter (1548–1622), der mit dem Tübinger lutherischen Theologen Jacob Andreae (1528–1590) zu dessen Lebzeiten eine lebhafte Kontroverse unterhalten hatte. Wenn Vetter unter der Maske eines angeblichen Bruders des streitbaren Theologen antilutherische Traktate und Spottschriften publiziert, stärkt er seine eigene Position insofern, als er Andreae noch postum öffentlich diskreditiert. Aber zurück zur Kontroverse: Als unmittelbare Reaktion auf die Ausgabe des ›Vnschuldigen Luther‹ von 1598 verfasst Philipp Heilbrunner, Professor der Theologie am Lauinger Gymnasium und ganz auf der lutherischen Linie, die auch Jacob Andreae vertreten hatte, im Jahr 1599 eine Erwiderung.31 Bevor Heilbrunner sich in dieser Schrift auf eine inhaltliche theologische Debatte mit den Jesuiten einlässt – welche in groben Zügen dem oben skizzierten antithetischen Schema gehorcht –, wirft er ihnen in sechs unterschiedlichen Punkten Betrug vor. Der Erste Betrug bestehe darin, dass sie auf dem Titelblatt den Anschein erweckten, es handle sich um lutherische Schriften, damit auch die Lutheraner selbsten […] vrsach gewinnen / solche Jesuiterische Scartecken zukauffen / ob D. Luther also vnuermerckter ding / bey jhnen in verhaß möchte gezogen werden (S. 5). Den Jesuiten wird also bewusste Täuschung unterstellt; sie äußerten ihre Meinung nicht offen, sondern indem sie zunächst behaupteten, die genau gegenteilige Position zu vertreten. Der zweite bis fünfte Betrugsvorwurf beziehen sich auf die Art und Weise, wie die Jesuiten in den fraglichen Publikationen Luther zitieren: Sie zitierten die Tischreden, die erst nach Luthers Tod erschienen und daher kaum authentisch seien (S. 6), sie zitierten Luther nicht wörtlich, sondern ergänzten die Zitate durch eigene Zugaben (S. 7), sie lösten die Zitate aus dem Kontext, wodurch sich eine Änderung des Sinns ergebe (S. 7), und sie zitierten nicht jeweils eine Schrift Luthers, sondern brächten Passagen aus unterschiedlichen Texten in gemischter Reihenfolge, wodurch der Eindruck unmittelbarer Widersprüche in Luthers Werk entstehe (S. 8). In heutigem Sinne könnte man sagen, dass Heilbrunner seinem Kontrahenten Vetter und mit ihm allen Jesuiten »unwissenschaftliches Vorgehen« vorwirft. Die Bedeutung, die im 16. Jahrhundert dem korrekten Zitieren beigemessen wird, hängt unter anderem gerade damit zusammen, dass beim Wechsel von der direkten mündlichen zur indirekten schriftlichen Auseinandersetzung dem Kontrahenten die Möglichkeit genommen wird, unmittelbar einzugreifen, wenn seine Aussagen bewusst oder unbe31 Philipp Heilbrunner, Der Vnschuldige / Demütige / Warhafftige / Christliche / Andächtige / Glaubige / Engelische / Biblische vnd Grauitetische Luther. […], Lauingen: Leonhard Reinmichel 1599 [VD 16 H 1459].
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wusst falsch verstanden werden. Daher ergibt sich für den Polemiker die Beweispflicht, dass er die Aussagen des Gegners in dem Sinne verwendet, in dem sie von diesem auch wirklich »gemeint« sind. Intellektuell schwerer als diese Vorwürfe falschen Zitierens wiegt der letzte Betrug, dessen Heilbrunner Vetter bezichtigt: DEr sechste Betrug ist / Das sie im argumentirn, oder jren Schlußreden / solche grobe Sophisterey gebrauchen / dauon jhre eigne Discipuli in den Schůlen / wenn sie jhre Dialecticam nur ein wenig ergriffen / selbsten vrtheilen vnnd bekennen müssen / das es lauter falsch vnnd Betrug sey (S. 10). Heilbrunner wirft Vetter hier unzulässige Schlüsse vor, also die falsche Anwendung von Logik und Dialektik, wobei er nicht unterstellt, Vetter sei zu einer logisch einwandfreien Argumentation nicht fähig. Vielmehr nimmt Heilbrunner an, Vetter argumentiere absichtlich falsch, da er durch eine regelgerechte Argumentation seine Thesen nicht beweisen könne. Was hier deutlich zutage tritt, findet sich in den Vorreden konfessionspolemischer Publizistik immer wieder. Protestantische Theologen setzen sich nicht nur inhaltlich mit den theologischen Thesen der Jesuiten auseinander, sondern kritisieren auf einer übergeordneten Ebene auch ihre Argumentationstechnik. Sachliche und logisch einwandfreie Argumentation und korrektes Zitieren werden vom Gegner gefordert; man geht davon aus, dass der jeweilige Kontrahent als Theologe eine akademische Ausbildung besitzt, und erwartet dementsprechend, dass er sich an die akademischen Gepflogenheiten hält. Dabei werden inhaltliche und formale Seite der Auseinandersetzung in der Regel streng getrennt – während der Haupttext der sachlichen Debatte gewidmet ist, bietet die Vorrede Raum für Reflexionen auf der Metaebene, hier verständigen sich die Kontrahenten (bzw. Verfasser und Publikum) über die in der schriftlichen Polemik anzuwendenden Regeln. Hält ein Polemiker tatsächlich oder auch nur scheinbar diese Regeln nicht ein, so gibt er seinem Gegner die Chance, dies als Argument gegen ihn zu verwenden; Heilbrunners Vorwurf, die Jesuiten wendeten die Dialektik falsch an, wird zum argumentum ad personam gegen Vetter. Auf dieser Metaebene verlässt die Diskussion den Bereich der sachlichen Argumentation und wird persönlich, indem dem Gegner die Qualifikation zur Teilnahme an einer akademischen Auseinandersetzung schlichtweg abgesprochen wird. Das oben zitierte Beispiel Philipp Heilbrunners zeigt wie viele andere, dass für die schriftliche Auseinandersetzung dieselben Kriterien angelegt werden wie für die mündliche disputatio. Großer Wert wird darauf gelegt, den jeweiligen Gegner richtig zu verstehen und seine Einwände sachgerecht und »gründlich« zu widerlegen. Immer wieder wird den Jesuiten vorgeworfen, ihre »angeblichen« Widerlegungen gingen gar nicht
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auf die Argumente der Lutherischen ein und seien daher nichtig. So beschuldigt beispielsweise Lucas Osiander seinen Kontrahenten Christoph Rosenbusch, er weiche vom Thema ab. Rosenbuschs Replica auf eine von Osianders Schriften sei keine grundtliche widerlegung, sondern ein loses leichtfertiges geschwätz vnnd gewäsch […] / in welchem er auff alle seitten auß dem streich springet: Dann er nicht mit der warheit versetzen / auch nichts gründtlichs zur Sachen antworten kan. 32
IV. Der Zugang zur Debatte – Unterschiede zwischen disputatio und polemischer Publizistik Neben den bisher herausgestellten Gemeinsamkeiten zwischen disputatio und konfessioneller Polemik gibt es aber auch prägnante Unterschiede. Bezüglich der Kommunikationssituation sind diese oben bereits erläutert worden. Ein weiterer wichtiger Unterschied, auf den ich beispielhaft hinweisen möchte, sind die Teilnahmebedingungen, die den Zugang zur jeweiligen Debatte regulieren. Auch hier sind zwei Ebenen zu beachten: Innerhalb der einzelnen Texte handelt es sich, wie dargestellt, um einen inszenierten Dialog. Polemisches Subjekt und Objekt sind nicht reale Personen in einem tatsächlichen Gespräch, sondern Rollen, die vom jeweiligen Verfasser in den Text eingeschrieben werden. Aus den einzelnen Texten entstehen jedoch publizistische Debatten; der »Gegner«, der auf der Ebene des Einzeltexts eine Rolleninszenierung ist, hat in der Realität durchaus die Möglichkeit, die Publikation durch eine Gegenschrift zu erwidern. Dabei gehorcht die polemische Publizistik im Vergleich zur disputatio anderen Regeln, was die Zuteilung von Redezeit anbelangt.33 Obwohl eine dem Präses vergleichbare Instanz fehlt, welche die Gesprächsdisziplin der Teilnehmer aufrechterhalten könnte, ist der Zugang zur Debatte nicht frei, sondern unterliegt verschiedenen Einschränkungen. Zum einen begrenzt der Zugang zur Druckerpresse die Möglichkeiten zur Diskussionsbeteiligung. Sowohl eine finanzielle Basis als auch Beziehungen sind nötig, um den eigenen Text auf den Markt zu bringen. Dementsprechend wird die Auseinandersetzung mit den Jesuiten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts maßgeblich von protestantischen Theologen geführt, die sowohl eine akademische Ausbildung als auch ein Amt besitzen, das ihnen den Zugang zum Buchmarkt ermöglicht. Viele sind an Uni32 Osiander, Abfertigung (wie Anm. 23), S. 2f. 33 Vgl. Enninger, Historische Diskursanalyse (wie Anm. 17), S. 152.
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versitäten tätig und lassen ihre Traktate vom (offiziellen oder inoffiziellen) Universitätsdrucker publizieren; andere haben eine Pfarrstelle inne und arbeiten mit dem jeweils vor Ort ansässigen Drucker zusammen.34 Für die Jesuiten kommt hinzu, dass sie ihre Schriften nur mit dem Imprimatur der Ordensleitung drucken lassen dürfen; ordensintern wird also eine Art Vorzensur ausgeübt. Trotz dieser Mechanismen, die auf Produzentenseite den Zugang zur Debatte regulieren, ist eher mit der Möglichkeit der »Einmischung« Dritter zu Abb. 2: Titelblatt mit Druckervignette der Offizin rechnen als bei der mündlichen Georg Gruppenbach, Tübingen, aus Lucas OsiAuseinandersetzung. Das liegt ander, Bericht: vom Faßnacht Triumph / Georgij daran, dass sich publizistisch Scherers […], Tübingen: Georg Gruppenbach geführte Debatten naturgemäß 1587 [Flugschriftensammlung Gustav Freytag der länger hinziehen als mündliche Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Flugdisputationes und dass sie, wie schrift Nr. 3775]. skizziert, potenziell der »gesamten Öffentlichkeit« zur Rezeption zugänglich sind. Ist ein Text auf dem Markt, so benötigt der angesprochene Kontrahent Zeit, ihn zu erwerben, zu lesen, seine Erwiderung zu formulieren und wiederum drucken zu lassen. In dieser Zeit ist er jedoch nicht der Einzige, der den Text liest, sondern der Text ist Gegenstand öffentlichen Interesses. So entsteht für unbeteiligte Dritte die Möglichkeit, in die Debatte einzugreifen. Dass dies tatsächlich geschieht, zeigt eine Bemerkung Lucas Osianders aus einer Kontroverse mit dem zum Katholizismus konvertierten Arzt und Theologen Johannes Pistorius (1546–1608):35 NAchdem ich dem abtrünnigen Mann / D. Ioanni Pistorio zum andern mal auff sein Ehrnrhürige Schmachschrifften gründtlich 34 Abb. 2 zeigt das Titelblatt einer antijesuitischen Schrift mit der Druckervignette Georg Gruppenbachs aus Tübingen, der viel im Auftrag der Tübinger Universität tätig war und einen großen Teil der antijesuitischen Publizistik aus Tübinger Theologenkreisen gedruckt hat. 35 Lucas Osiander, Gründtliche Beweisung Daß D. Pistorij vermeindte erste vnnd andere Retorsion / so er wider D. Lucam Osiandern gestelt / […] eigentlich kein Retorsion / sondern
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geantwortet / […] vn[d] also darfür gehalten / er werde selbige nunmehr jme selbsten behalten / vn[d] mich ferner vnangefochten lassen: […] Sihe / so kompt ein vnsinniger rasender Franciscaner Mönch / Georgius Ecker […] daher gelauffen: der mischet sich in den Streit zwischen D. Pistorio vnd mir / mit dem ich doch mein lebenlang nie nichts zuthun gehabt / weiß auch nit / wer er ist. Im Unterschied zum mündlichen Austausch, bei dem von vornherein die Teilnehmer feststehen und bei dem auch vorher die Grundlagen der Debatte geregelt werden, ist die polemische Publizistik potenziell ein offenes Feld. Aufgrund der hohen Bedeutung, die dem gedruckten Wort beigemessen wird, ist Osiander im zitierten Beispiel gezwungen, seine »Ehre« gegen die Anschuldigungen Eckers zu verteidigen; würde er nicht reagieren, würde ihm dies seitens seiner Gegner als Schwäche ausgelegt. Im Rahmen einer disputatio oder eines Religionsgesprächs hätte er die Möglichkeit, seinen Protest durch Verweigerung, also in der Regel durch »Abreisen« zu äußern. Diese Möglichkeit ist in der Publizistik nicht gegeben, wollte er die Anschuldigungen durch demonstratives Schweigen entkräften, so müsste er auch dies paradoxerweise durch eine Publikation kundtun. Dass auch auf Rezipientenseite unterschiedliche Zugangsbeschränkungen herrschen, braucht kaum ausgeführt zu werden. Obwohl auch Druckwerke nicht frei zugänglich sind, sondern abhängig von Lesefähigkeit und sozialer bzw. ökonomischer Situation eingeschränkte Kreise ansprechen, lässt sich für die antijesuitische Publizistik festhalten, dass sie in allen Preisklassen und Niveaus angeboten wird und daher ein denkbar großes Publikum erreicht. Im Unterschied zur auf den akademischen Raum beschränkten disputatio ist polemische Publizistik tatsächlich ein »öffentliches« Phänomen.
V. Der »umgekehrte Fall« – Polemische Disputationen Die bisher gezogenen Grenzen zwischen Universität und Markt, zwischen akademischem und publizistischem Bereich sind rückblickende Idealisierungen, die zwar erkenntnisführend sind, aber wohl nicht ganz die historische Realität spiegeln. Auch die akademisch gebildeten Theologen des 16. Jahrhunderts leben ja in Kontakt mit der Öffentlichkeit, viele sind neben ihrer Tätigkeit an den Universitäten als Prediger an Höfen oder Gemeinden beschäftigt und transportieren in ihren Predigten die akademischen Kontroversen an ein größeres Publikum. Die disputatio selbst hat, ein vnbefügte Iniuria […] sey, Tübingen: Georg Gruppenbach 1591 [VD 16 O 1207], S. 1f.
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wie mehrfach betont, durch den Thesendruck die Möglichkeit, ein größeres Publikum als nur die anwesenden Fakultätsmitglieder zu erreichen. Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Bereichen sind also fließend. Daher bleibt es nicht bei einer einseitigen Indienstnahme disputatorischer Formen durch die polemische Publizistik. Vielmehr wird die disputatio selbst, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, mit fortschreitender Entfremdung der Konfessionen voneinander polemisch verwendet. Vorschub leistet dem die Tatsache, dass der Thesendruck im Laufe des 16. Jahrhunderts zur gängigen Praxis wird.36 Polemische Streitschrift und gedruckte Disputationsthesen weisen nicht nur funktional als Inszenierung eines sachbezogenen Antagonismus, sondern auch formal als schnell zu produzierende, teils relativ kurze Druckerzeugnisse große Ähnlichkeiten auf. Der Thesendruck erreicht trotz geringer Auflagenzahlen potenziell ein größeres Publikum als die mündliche disputatio, vor allem aber ist er als Druckerzeugnis von Dauer, sein Inhalt zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder abrufbar, und räumlich flexibel, da nicht an die gesprochene Sprache gebunden. Welches Wirkungspotenzial dem Thesendruck innewohnt, hatte sich bereits an Luthers Ablassthesen vom 31. Oktober 1517 gezeigt. Obwohl nicht als Thesendruck zu einer disputatio gedacht, sondern als kircheninterne Publikation, um dem Missbrauch des Ablasswesens Einhalt zu gebieten, lösten diese 95 Thesen ein solches publizistisches Echo aus, dass sie heute noch als »Geburtsurkunde« der Reformation angesehen werden.37 Vor dem Hintergrund dieses Wirkungspotenzials – welches den Zeitgenossen durchaus bewusst war, wie der von Philipp Melanchthon in die Welt gesetzte Mythos des »Thesenanschlags« zeigt38 – nimmt es nicht wunder, wenn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Disputationsschriften bzw. Thesendrucke auch polemisch funktionalisiert werden. Disputationes werden nicht mehr nur als Methode der Wahrheitsfindung und Auseinandersetzung mit einem Thema, als Form der Lehrveranstaltung und
36 Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 866–880, hier Sp. 869f. 37 Zu den Ablassthesen vgl. jüngst Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 117– 126. Leppin legt überzeugend dar, dass Luther die Thesen nicht etwa an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte und damit von vornherein als öffentlichkeitswirksames Dokument gedacht hatte, sondern dass es ihm zunächst darum ging, den Erzbischof von Magdeburg und Mainz zum Gegensteuern gegen das verbreitete Ablasswesen aufzufordern. Obwohl wahrscheinlich Luther selbst die Publikation der Thesen veranlasst hat, dürfte er von dem dadurch ausgelösten Echo, so Leppin, sehr überrascht gewesen sein. Für seine Kritik hatte Luther also die im akademischen Bereich übliche Form der Disputationsthesen gewählt, und sein Ziel war nicht zuletzt der Anstoß einer akademischen Debatte. 38 Vgl. Leppin, Martin Luther (wie Anm. 37), S. 125f.
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zugleich als akademische Prüfung eingesetzt, sondern dienen zunehmend auch der konfessionellen Polemik. Dies sei beispielhaft anhand einer Kontroverse illustriert, die in den 1560er Jahren zwischen dem Tübinger Theologen und federführenden Architekten der Konkordienformel Jakob Andreae auf lutherischer und einem zunächst anonymen Vertreter der Ingolstädter theologischen Fakultät auf katholischer Seite geführt wurde. Die Kontroverse ist insofern auch von weiterführendem Interesse, als die »jesuitischen« Argumente später von calvinistischen Autoren aufgegriffen wurden, die so zu beweisen suchten, dass die lutherische Position »falsch« sei, was wiederum Andreae zu einer anticalvinistischen Gegenreaktion veranlasste.39 Der Schwerpunkt der folgenden Überlegungen liegt jedoch auf der frühen Kontroverse und besonders auf der Frage, wie beide Kontrahenten, Andreae und sein anonymer Gegner, das Genre der disputatio polemisch nutzbar machen. Im Jahr 1564 wird in Tübingen die Ankündigung zu einer disputatio gedruckt: Unter dem Vorsitz des Kanzlers der Tübinger Universität Jacob Andreae wird dessen Schüler Johannes Jacob Grynaeus am 4. Februar Thesen De Maiestate hominis Christi verteidigen.40 Die Frage nach der Realpräsenz Christi im Abendmahl und nach der Vereinbarkeit dieser Realpräsenz mit der menschlichen Natur Christi stellt nicht nur zwischen Katholiken und Lutheranern, sondern auch zwischen Lutheranern und Calvinisten einen wichtigen Streitpunkt dar, was unter anderem die sich aus dieser disputatio entwickelnde Kontroverse erklärt. Der Hauptteil des Texts gibt, wie für Disputationsdrucke üblich, die zu disputierenden Thesen wieder, die hier allerdings interessanterweise unter der Überschrift Conclusiones geführt werden. Allein dadurch wird deutlich, dass die Thesen nicht wirklich zur Diskussion stehen, sondern als theologische »Wahrheit« zu gelten haben. Dies spiegelt sich bereits in der Formulierung der ersten These:41 EST autem hæc pia & Apostolica, co[n]tra Arrij, Nestorij, Eutychetis, Photini, Apollinaris, Samosateni, & similium 39 Vgl. Jacob Andreae, Breuis admonitio de Crimine Stellionatus Caluinianorum, Tübingen: Georg Gruppenbach 1582 [VD 16 A 2502]. 40 Jacob Andreae (Pr.) / Johannes Jacob Grynaeus (Resp.), Dispvtatio De Maiestate hominis Christi: deq[ue] vera & substantiali corporis & sanguinis eius in Eucharistia, præsentia […], Tübingen: Ulrich Morhart d. Ä. (Erben) 1564 [VD 16 A 2589]. 41 Andreae / Grynaeus, Dispvtatio De Maiestate hominis Christi (wie Anm. 40), Bl. A3r (übers. U. P.): ›Dies aber ist die fromme und apostolische Lehre im Gegensatz zur Lehre des Arius, Nestorius, Eutyches, Photinus, Apollinaris, des Samosatensers und ähnlicher Ketzer: Dass nämlich in Christus selbst zwei Naturen vereint sind, von denen die eine, will sagen die göttliche, an der Person des Vaters und dem Wesen des Heiligen Geistes teilhat. Jedoch die andere, menschliche, ist von unserer Substanz, Fleisch von unserem Fleisch, Knochen von unseren Knochen.‹ Andreae nennt an dieser Stelle die wichtigsten spätantiken Theolo-
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hæreticorum doctrina, duas in Christo naturas personaliter vnitas esse, quarum altera, diuina scilicet, cum persona patris & Spiritus sancti οὐσία communicat: Altera vero humana, de substantia nostra est, caro ex carne nostra, & os ex oßibus nostris. Die These ist hier nicht in Form einer Frage formuliert, sondern als Aussage; sie bestimmt klar und deutlich, was die orthodoxe Lehre ist. Obwohl wir nicht wissen, wie eine solche disputatio dann tatsächlich abgelaufen ist, können wir vermuten, dass es hier auch im Gespräch nicht um die Zusammenführung, sondern um die Abgrenzung zweier Positionen ging, dass also der Opponent die eher undankbare Aufgabe hatte, die »gegnerische« Position zu repräsentieren, damit der Respondent deren Falschheit beweisen konnte. Der Ausgang der disputatio steht so von vornherein fest. Unüblich für Disputationsdrucke ist, dass Andreae sich mit einer Vorrede an den frommen und christlichen Leser wendet.42 Die bisherigen Untersuchungen zur disputatio weisen darauf hin, dass die Thesendrucke vor allem als Einladungen und zugleich als Leistungsnachweise, Danksagungen und Empfehlungen für tatsächliche und potenzielle Förderer des Respondenten fungieren; sie wenden sich in der Regel nicht an ein größeres Publikum. Dementsprechend verfügen disputationes zumeist über Widmungen,43 selten aber über ausgesprochene Vorreden, die einen über die Widmungsempfänger hinausgehenden Leserkreis ansprechen würden. Im Unterschied zu dieser personalisierten Form des Publikumsbezugs wendet sich Andreae mit seiner Vorrede an anonyme Leser. Auch die Vorreden kontroverstheologischer Traktate wenden sich oft an einen anonymen, als christlich bezeichneten Leserkreis, dessen Übereinstimmung mit der theologischen Position des Verfassers gegen die Position des jeweiligen Gegners vorausgesetzt wird. So etablieren die Vorreden von vornherein eine Gemeinschaft zwischen Polemiker und Publikum gegen den Gegner, in unserem Fall die Jesuiten. Auch Andreae macht bereits in der Vorrede durch die Wortwahl deutlich, dass es ihm nicht um eine Verständigung mit der gegnerischen Position, sondern um deren Vernichtung geht; mehrfach spricht er von den Vertretern der anderen Konfession als Gegnern.44 Dies allein ist allerdings noch nicht polemisch im eigentlichen Sinne zu nennen. Polemische Wirkung ergibt sich erst durch die Einbeziehung gen, deren Lehre zur Natur Christi offiziell als Irrlehre verdammt worden war; mit dem ›Samosatenser‹ ist wohl Paulus von Samosata gemeint, der im 3. Jahrhundert n. Chr. Bischof von Antiochia war. 42 Andreae / Grynaeus, Dispvtatio De Maiestate hominis Christi (wie Anm. 40), Bl. A2r. 43 Vgl. den Beitrag von Michael Philipp in diesem Band. 44 Andreae / Grynaeus, Dispvtatio de Maiestate hominis Christi (wie Anm. 40), Bl. A2r–v.
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einer Öffentlichkeit, vor der die disputatio nicht als Prozess der Wahrheitsfindung, sondern als gezielte Vernichtung der gegnerischen Position inszeniert wird. Es ist also vor allem die Anrede des Christlichen Lesers, die die disputatio zu einem polemischen Text macht. Dem Kenner der konfessionellen Szene des 16. Jahrhunderts dürfte dabei klar gewesen sein, um wen es sich bei den von Andreae angesprochenen Gegnern handelt, auch wenn sie nicht näher bezeichnet werden. Jacob Andreae steht sowohl in seiner Funktion als Kanzler der Universität Tübingen als auch mit seiner Person für eine lutherische, konsequent antikatholische Orthodoxie, die er in unzähligen Streitschriften gegen die Katholiken allgemein und besonders gegen die Jesuiten vertritt. Dass es die katholische Lehre ist, die Andreae als doctrina adversariorum, als ›Lehre der Gegner‹, bezeichnet,45 steht also außer Frage. Durch diese klare Abgrenzung zweier Positionen und durch die explizite Einbeziehung eines Publikums, das über den Kreis der üblichen Widmungsempfänger von Thesendrucken hinausgeht, entfaltet diese Ankündigung einer disputatio potenziell polemische Wirkung; bewusst ist der Text so kalkuliert, dass die als orthodox zu betrachtende Lehre von vornherein klar zu erkennen ist und sich von der doctrina adversariorum abhebt. Als Reaktion auf diese disputatio erscheint noch im selben Jahr in Ingolstadt eine Gegenschrift, die sich ebenfalls der Form des Thesendrucks bedient. Umso mehr muss die Tatsache überraschen, dass auf dem Titelblatt und auch sonst im Text kein Hinweis auf den Verfasser bzw. die Beteiligten an dieser ›Dispvtatio De Maiestate hominis Christi […] aduersus impias Iacobi Andreæ Schmidelini Theses‹ zu finden ist.46 Eigentlich dient die disputatio im 16. Jahrhundert, wie die bisherige Forschung nahelegt, vor allem dem Zweck, die akademischen Fähigkeiten des Respondenten unter Beweis zu stellen und im selben Zuge das Renommée der akademischen Institution, des Lehrstuhls, des Präses zu erhöhen.47 Welches Ziel verfolgt vor diesem Hintergrund, so muss man sich fragen, die anonyme Publikation eines Thesendrucks? Das einzige Indiz, das auf die Herkunft des Texts schließen lässt, ist die Verortung an der Universität Ingolstadt, die bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen der theologischen Stützpunkte des Katholizismus darstellte und besonders seit 1549 einer der wichtigsten Ausgangspunkte jesuitischen Wirkens im deutschspra-
45 Andreae / Grynaeus, Dispvtatio de Maiestate hominis Christi (wie Anm. 40), Bl. A2r. 46 Anonym, Dispvtatio De Maiestate hominis Christi, in celebri Academia Ingolstadiana […] per Theses explicata, aduersus impias Iacobi Andreæ Schmidelini Theses […], Ingolstadt: Alexander und Samuel Weißenhorn 1564 [VD 16 D 2052]. Ich verwende einen späteren Druck, Paris 1565 [Bibliotheca Palatina IV. 1245]. 47 Kundert, Konfliktverläufe (wie Anm. 12) S. 109.
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chigen Raum war.48 Es ist also davon auszugehen, dass das frühneuzeitliche Publikum in dem Text wenn nicht ein jesuitisches, so doch zumindest ein katholisches Produkt eindeutig erkannte. Das Inkognito des Verfassers deutet zunächst darauf hin, dass wir es nicht mit einer konventionellen disputatio zu tun haben. Die anonyme Publikation von Flug- und Streitschriften dient in der frühen Neuzeit vor allem dem Umgehen der Zensur, lässt also auf einen brisanten Inhalt des jeweiligen Texts schließen, was das Interesse des zeitgenössischen Publikums geweckt haben dürfte. Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass entgegen den üblichen Gepflogenheiten bei der Ankündigung einer disputatio kein Datum für den eigentlichen Disputationsakt genannt wird. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass der Text nur scheinbar die Form einer disputatio annahm und dass dies vom zeitgenössischen Publikum auch durchaus registriert wurde. Wenn einerseits die Angabe eines Verfassers fehlt, so wird andererseits bereits auf dem Titelblatt mehr als nur deutlich gemacht, gegen wen sich die ›Dispvtatio‹ wendet. Andreae wird nicht nur namentlich genannt, sondern auch mit dem herabsetzenden Namen Schmidlin bedacht, der Bezug auf den Beruf von Andreaes Vater und damit auf seine »niedere« soziale Herkunft nimmt. Noch klarer als Andreae selbst macht der anonyme Verfasser also gleich eingangs seine Position deutlich, indem er sich mit einem argumentum ad personam gegen seinen Kontrahenten wendet. Mit der Aufforderung an den Leser AEquus iudicet Lector, & veritatem contra falsitatem ingenuè tueatur.49 wird hier bereits auf dem Titelblatt ein anonymer Leser unmittelbar in das Geschehen hineingezogen und dazu aufgefordert, sich ein Urteil zu bilden; auch hier gibt es keine Widmungsadresse, sondern eine Praefatio, die sich an ein ebenso anonymes, potenziell öffentliches Publikum wendet wie Andreaes Vorrede.50 Noch deutlicher haben wir es hier also mit einer polemischen Publikation zu tun, die sich nicht nur an eine Öffentlichkeit außerhalb des engen akademischen Rahmens richtet, sondern den Gegner auch persönlich angreift.
48 1549 kamen auf Bestreben Wilhelms IV. von Bayern die Jesuiten Petrus Canisius, Alfonso Salmerón und Claudius Jajus nach Ingolstadt; sie waren die ersten Jesuiten, die sich langfristig im deutschsprachigen Raum engagierten. Seit 1556 sind dauerhaft Jesuiten an der Ingolstädter Universität zu finden. Vgl. Georg Schwaiger, Art. ›Ingolstadt, Universität‹, in: Theologische Realenzyklopädie 16 (1987), S. 154–156. 49 Anonym, Dispvtatio De Maiestate hominis Christi (wie Anm. 46), Titelblatt (übers. U. P.): ›Der geneigte Leser möge sich sein Urteil bilden, und er möge offen die Wahrheit gegen die Unwahrheit in Schutz nehmen‹. 50 Anonym, Dispvtatio De Maiestate hominis Christi (wie Anm. 46), Bl. Aijr f.
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Diese anonyme Publikation wiederum provoziert eine Apologie von Andreae. Noch 1564 publiziert er in Tübingen eine ›Brevis et modesta apologia capitvm dispvtationis, de maiestate hominis Christi‹, in der er bereits auf dem Titelblatt auf die Anonymität seines Gegners hinweist.51 Ironisch legt Andreae seinem Widersacher dessen Anonymität als Unehrlichkeit aus:52 Sed præter expectationem offertur mihi disputatio aduersaria, in celeberrima Academia Ingolstadiana paucis ab hinc diebus proposita, qua commemorata hominis Christi maiestas varijs modis oppugnatur: cuius author tam honestus est, vt nomen suum adscribere non sit ausus. Andreae bedient sich nicht mehr der Form der disputatio, sondern der Apologie, also der Verteidigungsschrift. Diese ist, anders als die ursprünglich mündliche disputatio, von vornherein auf Schriftlichkeit und Publikumswirksamkeit ausgelegt. Auch Andreae bedient sich zudem in dieser Schrift einer gegen die Person des Gegners gerichteten Argumentation, indem er ihn wegen seiner Anonymität tadelt und als unehrlich bezeichnet. Letztlich verlässt die Debatte also das Feld der akademischen disputatio, um sich polemischeren, öffentlichkeitswirksameren Formen zuzuwenden.
VI. Fazit Sowohl diese Kontroverse als auch die Frage nach dem Zusammenhang von disputatio und Polemik sind mit diesen knappen Ausführungen nicht erschöpfend behandelt; sowohl über den Inhalt als auch über die Form der Debatten ließe sich noch einiges hinzufügen. In der zuletzt angesprochenen Kontroverse blieb es auch nicht bei der relativ geringen Zahl der hier vorgestellten Schriften. Wie oben kurz angedeutet, entwickelte sich aus der antijesuitischen eine anticalvinistische Argumentation in dem Moment, in dem die zu der Zeit calvinistisch geprägte theologische Fakultät der Universität Wittenberg versuchte, den Dissens zwischen Lutherischen und Katholiken für die Stärkung ihrer eigenen Position zu nutzen. Dennoch sind einige entscheidende Punkte deutlich geworden: 51 Jacob Andreae, Brevis et modesta Apologia capitvm Dispvtationis, de Maiestate hominis Christi, […] contra theses incerti Avthoris, in Schola Ingolstadiana præpositas. […] Lector lege, perpende & demum iudica quoq[ue], Tübingen: Ulrich Morhart Witwe 1564 [VD 16 A 2503]. 52 Andreae, Brevis et modesta Apologia (wie Anm. 51), S. 9 (übers. U. P.): ›Aber wider alle Erwartung wird mir eine gegnerische Disputation zugetragen, die in der berühmten Ingolstädter Akademie vor wenigen Tagen vorgestellt wurde und in der die oben erwähnte Würde des Menschen Christus auf unterschiedliche Weise bestritten wird. Ihr Autor ist so ehrlich, dass er es nicht gewagt hat, seinen Namen dazuzuschreiben‹.
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1) Bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts richten sich einige Thesendrucke bewusst an ein größeres Publikum und zeigen eine polemische Tendenz, die schnell dazu führen kann, dass die ursprünglich mündliche akademische Auseinandersetzung zwischen zwei Kontrahenten in die Schriftform überführt und als öffentliche, publizistische Debatte weitergeführt wird. 2) Auch in diesen publizistischen Debatten bleiben formal wichtige Elemente der disputatio erhalten; sowohl der Wechsel aus These und Gegenthese als auch die Regeln, deren Einhaltung immer wieder gefordert, aber von beiden Seiten der konfessionellen Kontroverse selten eingelöst wird, verweisen klar auf die disputatio als Formvorlage der konfessionellen Polemik. Zwei Grundsätze werden immer wieder betont: zum einen der des korrekten Zitierens, zum anderen der der sachlichen Argumentation. Es ist zu vermuten, dass auch in mündlichen disputationes oder Religionsgesprächen, wenn sie denn wirklich Kontrahenten zusammenbrachten,53 argumenta ad hominem an der Tagesordnung gewesen sein dürften. Diese wurden jedoch nicht schriftlich fixiert und konnten so relativ schnell wieder aus der Welt geräumt werden. Dass Argumente, die unter Umständen die Ehre eines der Beteiligten antasten, im Druck publiziert werden, verleiht den Debatten polemische Schärfe und Dauer, denn die Angegriffenen fühlen sich immer wieder verpflichtet, sich gegen ehrenrührige Vorwürfe zu verteidigen. Einmal publizistisch eskaliert, ist eine solche Debatte wesentlich schwieriger zu regulieren als eine mündliche Auseinandersetzung, bei der der Präses nötigenfalls die Teilnehmer zur Ordnung rufen kann. 3) Bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts werden, wie die Debatte zwischen Jacob Andreae und einem anonymen Ingolstädter Theologen gezeigt hat, Disputationsschriften bewusst als polemisches Medium eingesetzt. Dass dies nicht ohne Rückwirkung auf die Form der disputatio selbst bleiben kann, dürfte unmittelbar einleuchten. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass im frühen 17. Jahrhundert einige disputationes abgehalten wurden, die dezidiert »antijesuitisch« waren, deren Ziel es also war, unter polemischen Vorzeichen die theologische Lehre der Jesuiten als »falsch« zu diskreditieren.
53 Da gerade die theologischen Fakultäten sehr darauf achteten, dass innerhalb der eigenen Reihen eine einheitliche Lehre vertreten wurde, ist das tatsächliche Zusammentreffen von konfessionellen Gegenspielern im zu genau diesem Zweck veranstalteten Religionsgespräch wahrscheinlicher als in der rein akademischen disputatio. Dennoch dürfte es lohnenswert sein, einmal der Frage nachzugehen, inwiefern die im Zeitalter der Konfessionalisierung immer wieder aufbrechenden Differenzen innerhalb der einzelnen Konfessionen sich auch im Medium der disputatio entluden.
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Als Beispiel sei hier abschließend auf zwei Disputationen am Coburger Gymnasium unter dem Vorsitz Johann Matthäus Meyfarts (1590–1642) verwiesen.54 Als Gymnasialdisputationen dürften sie grundsätzlich mehr der Demonstration von Lernfortschritt und Disputierfähigkeit als dem Erkenntnisgewinn gedient haben. Eindeutig verweisen die Titelblätter auf die Jesuiten als Gegner, die hier als Verführer der Jugend dargestellt werden. Noch vor der Darlegung der Thesen bezeichnet die Einleitung der ›Disputatio prior‹ die Jesuiten als Ketzer. Deutlich wird so, dass das Ergebnis der disputatio, obwohl ihr Thema, wie oben zitiert, als Frage formuliert ist, von vornherein feststeht. Der weitere Verlauf der Thesen bestätigt diese Vermutung; an keiner Stelle steht die protestantische orthodoxe Lehrmeinung ernsthaft in Zweifel. Die disputatio, ursprünglich ein Instrument des Erkenntnisfortschritts, gerät so aufgrund ihrer Verwendung in polemischen Debatten, in denen ein Kompromiss ausgeschlossen ist, zur bloßen Demonstration konfessioneller Orthodoxie der Teilnehmer und der veranstaltenden Institution. Zum Niedergang der disputatio, den ›Zedlers Universallexicon‹ beklagt, dürfte ihre polemische Verwendung entscheidend beigetragen haben. Bereits in der ersten antijesuitischen Publikation von 1555 erweist sich der inszenierte Dialog als fruchtlos; Christophilos stellt dies mit dem lapidaren Satz At frustra me tempus conterere scio, conferam me domum55 fest und beendet so das Gespräch. An der Tatsache, dass zwischen lutherischen Theologen und Jesuiten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine echte Verständigung über theologische Fragen nicht möglich ist, kann auch die Inszenierung der Polemik als Gespräch nichts ändern.
54 Meyfart / Finck, Disputatio Theologica prior (wie Anm. 25); außerdem ders. (Pr.) / Johannes Rotenbach (Resp.), Disputatio Theologica secunda, de invocatione Sanctorum, opposita potissimùm Martini Becani, nuper Jesuitæ, sophisticationibus, quibus literariæ juventuti […] imponere ausus est […], Coburg: Johann Forckel 1626 [VD 17 39:130387R]. 55 Dialogvs contra impia Petri Canysii dogmata (wie Anm. 2), Bl. Civr (übers. U. P.): ›Da ich bemerke, dass ich hier sinnlos meine Zeit verschwende, gehe ich jetzt nach Hause‹.
Renate Schulze
Dissertationen im ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ Justus Henning Böhmers. Zum Entstehungsprozess eines Werks Von Anfang an prägten Disputationen Justus Henning Böhmers1 wissenschaftliches Arbeiten. Die erste wichtige auf dem Weg zu akademischen Ehren – pro licentia summos in utroque jure honores ac privilegia consequendi – war seine disputatio inauguralis juridica ›De jure epistalmatis, von Fürstlicher Ordre‹, mit der er sich im Juli 1699 dem prüfenden Urteil der gelehrten Welt unterwarf, die sich an der Fridericiana in Halle an der Saale versammelte.2 Mit Samuel Stryk3 präsidierte der Professor primarius der juristischen Fakultät, der seinen begabten Schüler nicht nur förderte, sondern auch forderte: Ausschließlich Justus Henning Böhmer ließ Samuel Stryk all diejenigen Disputationen verfassen, zu denen er selbst nicht die nötige Muße und Ruhe fand, was aber nichts daran änderte, dass Stryk diese allesamt unter seinem eigenen Namen veröffentlichte – wie das auf
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Justus Henning Böhmer (* 29. Januar 1674 Hannover, † 23. August 1749 Halle an der Saale) zählte zu den bedeutendsten deutschen Rechtsgelehrten des 18. Jahrhunderts; zu seinem Leben und Werk beispielsweise Jacob Brucker / Johann Jacob Haid, Bilder=sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrtheit berühmter Schrifftsteller, Augspurg: Johann Jacob Haid 1741, Nr. 5; Gertrud Schubart-Fikentscher, Art. ›Böhmer, Just Henning‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1 (1971), Sp. 484f.; Richard Wilhelm Dove, Art. ›Böhmer, Just Henning‹, in: Allgemeine Deutsche Biographie 3 (1876), S. 79–81; Hans Liermann, Art. ›Böhmer, Justus (Jobst) Henning‹, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 392; Peter Landau, Art. ›Böhmer, Justus Henning‹, in: Michael Stolleis (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S. 93. Samuel Stryk (Pr.) / Justus Henning Böhmer (Resp.), Disputatio inauguralis juridica de jure epistalmatis, von Fürstlicher Ordre, [Halle, Saale]: Christoph Andreas Zeitler 1699 [Frankfurt am Main, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (im Folgenden: MPIeR): ‹F 137› MIJU 119-015]. Samuel Stryk (* 22. November 1640 Lentzen / Priegnitz, † 23. Juli 1710 Halle an der Saale), vgl. Ernst Landsberg, Art. ›Stryk, Samuel‹, in: Allgemeine Deutsche Biographie 36 (1893), S. 699–702 (699f.).
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Böhmer nach dessen Tod verfasste ›Elogium‹ der Universität berichtet.4 Böhmer machte seine Sache gut, sodass ein nicht unerheblicher Teil seiner Berühmtheit auf tot exquisitissimi studii dissertationes beruhte.5 Denn die Zeitgenossen verstanden es zu erkennen, aus welcher Feder die jeweilige Disputation stammte – anders lässt sich das ›Elogium‹ kaum verstehen. Auf den Wiedererkennungseffekt vertraute wohl auch Böhmer selbst und akzeptierte damit, dass der gedruckten Fassung einer Disputation nicht gleich anzusehen war, wer die Textgrundlage verfasst hatte: Nun weiß ich zwar wohl, daß wenn Disputationes in Schrifften allegiret werden, man fast durchgehends die Praesides davon anführet, als welche meistentheils denen Gelehrten bekannter als die Respondenten sind; gleichwohl bescheidet man sich auch dabey, daß man dadurch die Praesides nicht so fort als Verfertiger derselben erkennet, und so lange eine Arbeit in form einer Disputation vor aller Augen lieget, ist endlich indifferent, ob jemand dieselbe von dem Praeside oder Respondenten in öffentlichen Schrifften benennet.6 Früh begann Justus Henning Böhmer, selbst Disputationen zu präsidieren; erstmals im November 1699 und somit nur knapp vier Monate, nachdem er Lizenziat beider Rechte geworden war. Deshalb wohl vermerkte das Titelblatt der Dissertation explizit Consensu Illustris Facultatis Juridicae,7 was sich auf allen Dissertationstitelblättern des Jahres 1700 fortsetzte,8 bis die Ernennung Böhmers zum außerordentlichen Professor der juristischen 4
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Elogium der Universität Halle vom 1. September 1749 auf den am 23. August 1749 verstorbenen Justus Henning Böhmer, abgedruckt in: Justus Henning Böhmer, Exercitationes ad Pandectas. Bd. 6, Hanoverae et Gottingae: [Ioh. Wilh. Schmid] 1764, S. V–XXIV (XI): […] tantum BOEHMERO tribuit, vt plurimas disputationes, quibus elaborandis otium haud suppetebat, eidem scribendas commiserit, ac deinceps nihilominus sub nomine prodire iusserit Strykiano. Justus Henning Böhmer, Exercitationes ad Pandectas. Bd. 6 (wie Anm. 4), Elogium, S. V–XXIV (XI): Multum identidem ad celebritatem adsequendam faciebant tot exquisitissimi studii dissertationes, quae non solum ciuium academicorum in eum ora oculosque conuertebant, sed etiam ianuam famae patefaciebant apud exteros. Justus Henning Böhmer, Sendschreiben an die Verfasser dieser Bibliothec. Darinnen er bey Gelegenheit eines unter seinem Nahmen heraus gegebenen Tractats de diverso sponsalium & matrimonii jure von allerhand Missbräuchen, so bey dem Verlag und Drucken der Bücher vorgehen, handelt, in: Abgesonderte Bibliothec oder Zulängliche Nachrichten und Unpartheyische Gutachten von einigen mehrentheils neuen Büchern und andern gelehrten Materien, Halle im Magdeburgischen: Neue Buch-Handlung 1718, Das Achte Stück, I., S. 661–687, hier: 663f. Justus Henning Böhmer (Pr.) / Lorenz Vinne (Resp.), Dissertatio juridica de testamento non praelecto, Halae Magdeburgicae: Christoph Andreas Zeitler 1699 [MPIeR ‹F 137› NETT 212-034 [Ex 01]]. Beispielsweise Justus Henning Böhmer (Pr.) / Johann Melchior von dem Busch (Resp.), Disputatio juridica de scripturis non legibilibus. Von unleserlichen Schriften, [Halae Magdeburgicae]: Christoph Andreas Zeitler 1700 [MPIeR ‹F 137› NETT 202-039].
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Fakultät im Jahre 1701 einen solchen Hinweis überflüssig machte. 1701 präsidierte Böhmer mit ›De fundamentis genuinis iuris parochialis‹9 und ›De iure parochiali circa administrationem sacrorum‹10 dann die ersten beiden Disputationes iuris ecclesiastici,11 zum Kirchenrecht also, um das es in seiner protestantischen Ausprägung im Folgenden gehen soll.
I. Episkopalismus oder Territorialismus? Nimmt man das protestantische Kirchenrecht des 18. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin in den Blick, kommt man an einem bedeutenden Werk nicht vorbei. Die Rede ist von Justus Henning Böhmers ›Ius Ecclesiasticum Protestantium, usum modernum iuris canonici iuxta seriem decretalium ostendens, & ipsis rerum argumentis illustrans‹, wie das Werk – darinn er alle seine Vorläuffer weit übertroffen12 – mit vollem und zugleich seine Zielsetzung verkündendem Titel heißt. In den zwischen 1714 und 1736 erschienenen fünf Bänden, die in ihrem Aufbau bis in die Benennung der Titel hinein der Ordnung der Dekretalen13 Papst Gregors IX.14 – iuxta 9
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Justus Henning Böhmer (Pr.) / Gustav Borchwedell (Resp.), De fundamentis genuinis iuris parochialis, Halae Magdeburgicae: Johann Grunert 1729 [MPIeR ‹F 137› VADI 224-012]. Der aus Dargun in Mecklenburg stammende Respondent disputierte am 25. August 1701. Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich Eberhard Lehmann (Resp.), Disputatio iuris ecclesiastici de iure parochiali circa administrationem sacrorum, Halae Salicae: Johann Christian Grunert 1734 [MPIeR ‹F 137› NETT 050-011]. Die Disputation fand am 29. Oktober 1701 statt. Alle von Justus Henning Böhmer präsidierten Disputationen finden sich in der Sammlung juristischer Dissertationen des 16.–18. Jahrhunderts aus Universitäten des Alten Reichs im Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, dazu Michael Stolleis, Die Erschließung kirchenrechtlicher Dissertationen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 49 (2004), S. 99–107, zu Böhmer S. 106. – Das Institut hat die Digitalisierung der Titelblätter dieser etwa 60.000 Schriften umfassenden Sammlung inzwischen abgeschlossen und stellt die Digitalisate unter http://dlib-diss.mpier. mpg.de/ zur Verfügung. Gottlieb Stolle, Anleitung zur Historie der juristischen Gelahrtheit, Jena: Johann Meyers seel. Erben 1745, Das VI. Capitel, Von der Kirchen=Rechtsgelahrtheit, § 51, S. 419. Als Dekretalen bezeichnete man vereinfachend den Liber canonum extra Decretum vagantium, kurz Liber extra, der im Jahre 1582 als zweites Buch in das Corpus Iuris Canonici eingehen sollte und der das Kernstück im kirchenrechtlichen Unterricht des späteren Mittelalters darstellte. Zu Letzterem vgl. Dieter Girgensohn, Anleitungen zum Studium der Jurisprudenz an den Universitäten des späteren Mittelalters, in: Peter Landau / Joers Mueller (Hg.), Proceedings of the Ninth International Congress of Medieval Canon Law, Vatikanstaat 1997, S. 523–552 (532). Gregor IX. (* um 1170 Anagni, † 22. August 1241 Rom), Papst seit 1227, vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Art. ›Gregor IX.‹, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 2 (1990), Sp. 317–320 (317).
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seriem decretalium – folgten, zeigte Böhmer den usus modernus, den zeitgenössischen Gebrauch des kanonischen Rechts in den protestantischen Territorien. Allerdings beschrieb er die herrschenden Verhältnisse nicht nur, sondern setzte sich intensiv mit der Frage auseinander, ob und inwieweit die Protestanten die Normen des kanonischen Rechts am protestantischen Kirchenverständnis gemessen überhaupt »guten Gewissens« weiter heranziehen durften. Denn an der Tatsache, dass dieser Regelungskomplex in den protestantischen Landeskirchen in vielerlei Bereichen weiterlebte, konnte man vernünftigerweise nicht zweifeln.15 Gleichsam als Prüfungsprogramm entwickelte Böhmer also seine media via in discernendo vsu iuris canonici in terris protestantium,16 um einen geeigneten Weg möglichst in der Mitte zwischen den Extremen totaler Ablehnung beziehungsweise unreflektierter weiterer Anwendung des kanonischen Rechts zu finden. Dies tat er – und das ist im Kontext der disputatio besonders interessant – im Rahmen der Exercitatio ›De media via in studio et adplicatione iuris canonici inter protestantes tenenda‹,17 die er nicht zum Gegenstand einer öffentlichen Disputation machte,18 aber wenig später in das erste Buch des ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ einfügte.19 Möglicherweise hatte sich Justus Henning Böhmer durch seine Tätigkeit unter der Ägide Samuel Stryks so sehr an das Gewand einer Dissertation – denn um nichts anderes 15 Justus Henning Böhmer, Institutiones Iuris Canonici tum ecclesiastici tum pontificii, Halae Magdeburgicae: Waisenhaus 1738, Praefatio, § 4, S. [5f.]: Tandem cum infinita instituta ex iure canonico in ipsis A. C. territoriis supersint, quae secundum pacem Osnabrugensem in pristino statu relinquenda sunt, Catholicis & protestantibus saepe etiam communia, hic labor, hoc opus erit, vt ex propriis suis principiis lites obortae decidantur, & determinentur. (Hervorhebungen entstammen auch bei noch folgenden Zitaten stets dem Original). 16 Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, Bd. 1, Halae: Waisenhaus 1714, Lib. 1, Tit. 2 (De constitutionibus), § 75, S. 141–145; zur media via schon Helmut Schnizer, Justus Henning Böhmer und seine Lehre von der media via zur Interpretation der kanonischen Quellen des gemeinen Rechts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 93 Kanonistische Abteilung 62 (1976), S. 383–393. 17 Justus Henning Böhmer, Exercitationes ad Pandectas. Bd. 1, Hanoverae et Gottingae: Ioh. Wilh. Schmid 1745, Exercitatio IX, S. 344–356. Die Exercitatio datiert vom 4. März 1713. 18 Böhmers Sohn Georg Ludwig, der die Sammlung der Exercitationes zusammenstellte, spricht im Vorwort hinsichtlich der neunten Exercitatio ausschließlich von seinem Venerandus Parens, während er sonst, sofern vorhanden, den Respondenten und das Jahr der Disputation erwähnt, Justus Henning Böhmer, Exercitationes ad Pandectas. Bd. 1 (wie Anm. 17), Praefatio vom Dezember 1745, S. XIV. Zudem habe ich diese Exercitatio noch in keiner Auflistung von Dissertationen oder Disputationen gefunden. 19 Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, Bd. 1 (wie Anm. 16), Lib. 1, Tit. 2 (De constitutionibus), § 75, S. 141–145. Zur Verwertung von Dissertationen ausführlich: Renate Schulze, Justus Henning Böhmer und die Dissertationen seiner Schüler. Bausteine des Ius Ecclesiasticum Protestantium, Tübingen 2009 (Jus Ecclesiasticum 90).
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handelte es sich bei den Texten der Exercitationes20 – zur gedanklichen Durchdringung eines Themas gewöhnt, dass er die Arbeitsweise auf seine eigenen Forschungen übertrug. Außerdem ließen sich die Dissertationen, wie hier die dem Disputationsakt zugrundeliegenden Druckwerke bezeichnet werden, als sozusagen kleinste Einheiten gut in größere Werke integrieren. Das ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ ist dafür ein hervorragendes Beispiel, wie an zwei Dissertationen detailliert zu zeigen sein wird. Welche Funktion kam den Disputationen nun bei der Herausbildung des evangelischen Kirchenrechts an der Fridericiana in Halle zu, die am 1. Januar 1693 ihre Tätigkeit aufgenommen hatte21 und bald zu den führenden protestantischen Reformuniversitäten22 zählte? Allein auf Basis der von Justus Henning Böhmer präsidierten Disputationen lässt sich diese Frage nicht endgültig beantworten. Dafür müsste man auch die Disputationen unter der Leitung von Samuel Stryk, Christian Thomasius23 beziehungsweise Heinrich von Bode24 heranziehen, um beispielhaft nur die wichtigsten Professoren der Jurisprudenz aus der Hallenser Anfangszeit zu nennen, die sich dem Kirchenrecht widmeten. Dennoch ergibt sich auch auf der genannten Grundlage ein farbiges Bild, da Justus Henning Böhmers Respondenten vergleichsweise oft über kirchenrechtliche Themen disputierten oder immerhin kirchenrechtliche Aspekte einer Fragestellung mit in den Blick nahmen. Dabei fällt zunächst die große Bandbreite der Titel etwa von ›De cauta Iudaeorum tolerantia‹25 über ›De feudis ecclesias-
20 Georg Ludwig Böhmer verwendete die Begriffe synonym, Justus Henning Böhmer, Exercitationes ad Pandectas. Bd. 1 (wie Anm. 17), Praefatio, S. XV, Fn. d. 21 Johann Christoph Hoffbauer, Geschichte der Universität zu Halle bis zum Jahr 1805, Halle: Schimmelpfennig und Compagnie 1805 (Neudruck Aalen 1981), S. 1; die offiziellen Feierlichkeiten zur Einweihung fanden allerdings erst im Juli 1694 am Geburtstag des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., des Stifters der Universität, statt. 22 Vgl. dazu Heinrich de Wall, Die Reformuniversitäten der Aufklärungszeit (Halle, Göttingen und Erlangen) und das Kirchenrecht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 117 Kanonistische Abteilung 86 (2000), S. 433–445. 23 Christian Thomasius (* 1. Januar 1655 Leipzig, † 23. September 1728 Halle an der Saale), vgl. Ernst Landsberg, Art. ›Thomasius, Christian‹, in: Allgemeine Deutsche Biographie 38 (1894), S. 93–102 (93, 101); ausführlich Klaus Luig, Christian Thomasius, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, München 31995, S. 227–256. 24 Heinrich von Bode (Bodinus, * 6. April 1652 Rinteln, † 15. September 1720 Halle an der Saale), vgl. Christian Gottlieb Jöcher (Hg.), Allgemeines Gelehrten-Lexicon. Erster Theil, Leipzig 1750, Sp. 1158f.; Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Dritte Abtheilung, Erster Halbband, München und Leipzig 1898, Noten, S. 17. 25 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Johannes Andreas Bastineller (Resp.), Dissertatio juridica de cauta Iudaeorum tolerantia, Halae Magdeburgicae: Christian Henckel 1708 [MPIeR ‹F 137› MIJU 147-043].
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ticis, Von Krumbstäbischen Lehn‹26 bis hin zu ›De iure denegandi communionem coemeteriorum, vulgo vom Todten-Bann‹27 auf. Doch erlaubten solche – oft nur Einzelaspekte betreffende – Themen zugleich die Erörterung strittiger Grundsatzfragen? Zieht sich ein roter Faden durch die Disputationen oder immerhin durch eine größere Zahl von ihnen, der darauf hindeutete, dass sich eine bestimmte Richtung innerhalb des evangelischen Kirchenrechts formierte? Von zentraler Bedeutung in der damaligen Diskussion war, für welches rechtliche Erklärungsmuster man sich hinsichtlich der starken Stellung des Landesherrn in den mit der Reformation entstandenen protestantischen Landeskirchen entschied. Hier nun zeigen die Disputationen sehr deutlich, dass sich ein Paradigmenwechsel vollzogen hatte. Im 17. Jahrhundert betrachtete man den Landesherrn als duplex persona,28 deren Handeln je nach Bereich unterschiedlichen Regimes unterworfen war. Während der Landesherr in weltlichen Angelegenheiten aus eigenem Recht agierte und seine Kompetenzen deshalb weniger oft kommentiert wurden, sah das im geistlichen Bereich anders aus. Hier hatte der protestantische Territorialherr – so die Vorstellung – prinzipiell die Position des katholischen Bischofs übernommen,29 woraus man den Schluss zog, dass der Landesherr die daraus resultierenden iura episcopalia nur treuhändisch ausübte,30 da der Westfälische Friede – fußend auf dem Passauer Vertrag von 1552 und dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 – die Kompetenzen der katholischen Bischöfe bis zur erhofften, aber wohl schon damals wenig realistischen amicabilis compositio der Religionsparteien ruhen ließ. Trotz des landesherrlichen Summepiskopats legten die Vertreter des Episkopalismus aber Wert auf die Feststellung, dass die potestas sacra der Kirche in ihrer Gesamtheit zustehe.31 Also gestanden sie dem 26 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Wilhelm Gottfried L. B. von Schell (Resp.), Doctrina de feudis ecclesiasticis, Von Krumbstäbischen Lehn, Halae Magdeburgicae: Christian Henckel 1717 [MPIeR ‹F 137› MIJU 054-033]. 27 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Johannes Adam Gregorovius (Resp.), Dissertatio inauguralis iuridica de iure denegandi communionem coemeteriorum, vulgo vom Todten-Bann, Halae Magdeburgicae: Christian Henckel 1717 [MPIeR ‹F 137› NETT 198-026]. 28 Benedict Carpzov, Jurisprudentia ecclesiastica seu consistorialis, Lipsiae: Timotheus Ritzschius 1665, Lib. 1, Tit. 1, Def. 2. 29 Benedict Carpzov, Jurisprudentia ecclesiastica seu consistorialis (wie Anm. 28), Lib. 1, Tit. 6, Def. 78, Nr. 5. 30 Matthias Stephani, Tractatus de iurisdictione, Francofurti: Nicolai Hoffmann für Peter Kopff 21611, Lib. 3, Par. 1, Cap. 15, Nr. 6: Cum enim Principes Germaniae & alij Status Imperij ex transactione Passouiensi, ex quasi fiduciario contractu, & tanquam ex deposito, habeant iura Episcopalia. 31 Johann Schilter, Institutiones Iuris Canonici ad ecclesiae veteris et hodiernae statum accomodatae, Francofurti & Lipsiae: Heredes Bircknerianos 71721, Lib. 1, Tit. 3, § 15, S. 32.
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Landesherrn in der Kirche lediglich den ersten Rang als praecipuum membrum32 zu und keinesfalls eine unbeschränkte Stellung, sodass der weltliche Regent seine Entscheidungskompetenz in geistlichen Angelegenheiten mit den zwei anderen Ständen – der Geistlichkeit und der Gemeinde – zu teilen hatte, weshalb Martin Heckel die sogenannte Dreiständelehre später als ››das erste System der Gewaltenteilung und Gewaltenverbindung im deutschen Raum‹‹33 charakterisierte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts etablierte sich eine neue Auffassung, die mit dem Verständnis des Landesherrn als duplex persona brach und die Kompetenzen des Landesherrn einheitlich auf dessen Territorialhoheit gründete.34 Die Vertreter dieses Territorialismus, zu denen ganz wesentlich Justus Henning Böhmer zählte, argumentierten, dass der Landesherr in jedweder Hinsicht aus eigenem Recht handle, zumal der Westfälische Friede nur die Situation wiederhergestellt habe, die bestand, bevor die Machtfülle der Bischöfe und Päpste immer weiter angewachsen sei. Die Kirche sei ein collegium, das seine inneren Angelegenheiten zwar selbst organisieren könne, aber wie alle anderen collegia im Staate nichtsdestotrotz dem Aufsichtsrecht des Landesherrn – in geistlichen Angelegenheiten in Gestalt von dessen ius circa sacra – unterliege, da der weltliche Herrscher für Ruhe und Ordnung im Staat Sorge zu tragen habe. In den von Justus Henning Böhmer präsidierten Disputationen kommt die Kontroverse zwischen Episkopalismus und Territorialismus, die nicht linear aufeinander folgten, sondern sich überschneidende Erklärungsmuster darstellen,35 häufiger zur Sprache. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, wenngleich den Vertretern des Episkopalismus und deren Thesen durchaus Platz eingeräumt wird, der Streit eher schon der Vergangenheit angehört. Im Lichte der Dissertationen betrachtet hat sich der Territorialismus durchgesetzt, was ganz und gar zu Justus Henning Böhmers eigener Linie passt.
32 Zur Herkunft des Worts aus der Amtssprache des Heiligen Römischen Reichs vgl. Johannes Heckel, Cura religionis, Ius in sacra, Ius circa sacra, Darmstadt 21962, S. 29–32. 33 Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, München 1968, S. 149. 34 Christian Thomasius (Pr.) / Enno Rudolph Brenneysen (Resp.), Dissertatio juris publici inauguralis de jure principis circa adiaphora, Halae: Christoph Salfeld 1696 [MPIeR ‹F 137› DISE 086-013], Cap. 1, § 10, S. 18. 35 Peter Landau, Art. ›Kirchenverfassungen‹, in: Theologische Realenzyklopädie 19 (1990), S. 110–165 (148).
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II. Wiederverwendung von Dissertationen Zwei Beispiele sollen die allgemeinen Ausführungen konkretisieren, um danach dem weiteren Schicksal dieser beiden Dissertationen nachzugehen. Als Christian Friedrich Stoccmeier aus Stuttgart am 13. November 1717 ›De iure liturgico‹ disputierte,36 ging es im Kern um eine Kompetenzfrage – um die Frage, wem das Recht zustand, über die Ausgestaltung der Liturgie zu entscheiden. Nachdem Stoccmeier zunächst – wie bei von Böhmer präsidierten Dissertationen üblich – den historischen Werdegang der Problematik bei der Urkirche beginnend nachvollzogen und gezeigt hatte, dass die Materie teils von geschriebenen, teils von ungeschriebenen Regeln geprägt werde, blieb als Kulminationspunkt nur noch die Klärung, wem das ius adornandi liturgias ecclesiasticas37 eigentlich zuzuschreiben sei. Hier nun wird die eben abstrakt angesprochene Grundsatzdiskussion über die Rolle des Landesherrn in geistlichen Angelegenheiten am Beispiel des ius circa liturgias durchdekliniert. In souveräner Form setzt sich Stoccmeier mit Johann Schilter38 und Benedict Carpzov39 auseinander, um die Ansicht dieser Verfechter der Dreiständelehre sodann als Verletzung der summa iura maiestatica des Landesherrn zu widerlegen.40 Auch er charakterisiert die Kirche als collegium und gelangt so zum generellen Aufsichtsrecht des Landesherrn über die Aktivitäten aller collegia. Schließlich müsse dieser über potenzielle Unruheherde in seinem Territorium wachen und in der hier relevanten Konstellation unter Umständen liturgische Fragen gesetzlich regeln, um Störungen des Gemeinwesens aufgrund liturgischer Dispute zu vermeiden, was aktuell in Kirchenordnungen zu geschehen pflege.41 Eine solche Vorgabe verletze zudem weder die Freiheit der Kirche noch die Gewissensfreiheit des Einzelnen, weil es sich um Adiaphora – Mittel-
36 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico, Halae Magdeburgicae: Johann Gruner 1717 [MPIeR ‹F 137› MIJU 054-037]. 37 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico (wie Anm. 36), Cap. 2, § 17, S. 71. 38 Johann Schilter (* 29. August 1632 Pegau / Elster, † 14. Mai 1705 Straßburg), vgl. Klaus Luig, Art. ›Schilter, Johann‹, in: Neue deutsche Biographie 22 (2005), S. 774f. (774). 39 Benedict Carpzov (* 27. Mai 1595 Wittenberg, † 30. August 1666 Leipzig), vgl. Theodor Muther, Art. ›Carpzov, Benedict‹, in: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876), S. 11–20 (11). 40 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico (wie Anm. 36), Cap. 2, § 18, S. 73. 41 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico (wie Anm. 36), Cap. 2, § 19, S. 75.
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dinge – und nicht um unmittelbare Glaubensinhalte handele.42 Und so schließt Stoccmeier mit der Feststellung, dass dem Landesherrn das Recht, liturgische Fragen zu regeln, qua Territorialhoheit zustehe.43 Denn auf dieser basiere das ius circa sacra des protestantischen Regenten und als dessen Aspekt das ius circa liturgias. Auf einzelne Facetten dieses Rechts müsse er nicht eingehen, da sie zum einen nicht zu seiner Fragestellung gehörten und zum anderen sein Präses bereits Teilbereiche daraus in seiner Dissertation ›De iure precum publicarum‹ behandelt habe.44 Eben diese Dissertation soll nun das zweite Beispiel bilden. ›De iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchengebethern‹45 hatte Friedrich von Sallern, der aus Holstein stammte,46 wie auch die Erwähnung der Kathedrale in Schleswig in patria mea belegt,47 schon am 1. August 1705 disputiert. Er stellte nach historischer Einführung48 seinem Thema entsprechend die Frage, quis in nostris ecclesiis ius praescribendi preces publicas habeat, postquam ibi formulariae preces receptae?49 – Wer also durfte in den protestantischen Kirchen Gebetsformulierungen vorschreiben? Nachdem er die Dreiständelehre diskutiert und abgelehnt hat, kommt er zu dem nicht unerwarteten Ergebnis, dass der Landesherr praecipuam rerum liturgicarum curam debere habere, & si quid inordinati deprehendat, illud emendare atque
42 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico (wie Anm. 36), Cap. 2, § 23, S. 81. 43 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico (wie Anm. 36), Cap. 2, § 27, S. 84. 44 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Christian Friedrich Stoccmeier (Resp.), Dissertatio iuris sacri inauguralis de iure liturgico (wie Anm. 36), Cap. 2, § 25, S. 83. 45 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern, Halae: Waisenhaus 1705 [MPIeR ‹F 137› NETT 050-005]. 46 Die Universitätsmatrikel nennen Apenrade als Herkunftsort, vgl. Franz Zimmermann, Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Band 1 (1690–1730), Halle 1955, S. 332. 47 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern (wie Anm. 45), Cap. 3, § 23, S. 71. 48 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern (wie Anm. 45), Cap. 2, § 1, S. 26: Detecta origine iuris circa preces publicas, iam facilior via erit in euoluendo & enucleando iure vario, quod etiam in nostris ecclesiis circa eas obseruari solet. 49 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern (wie Anm. 45), Cap. 2, § 4, S. 28.
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adeo adiaphora talia adornare optimo iure posse.50 Mit bestem Recht ordne der Landesherr die Liturgie, weil er das Aufsichtsrecht über die Kirchen innehabe, wenngleich er im Idealfall natürlich die Meinung der Theologen dazu einhole – das aber sei eine Frage der Klugheit,51 während die iura sacrorum des Herrschers ex ipsa superioritatis territorialis natura abzuleiten seien, wie er an anderer Stelle nach der Auseinandersetzung mit Carpzovs Charakterisierung des Landesherrn als duplex persona ausführt.52 So zeigt dieses Beispiel, das keineswegs allein steht, dass sich die territorialistische Sicht des landesherrlichen Kirchenregiments nicht erst wie ein roter Faden durch die Dissertationen zu ziehen begann, als Justus Henning Böhmer ordentlicher Professor der Fridericiana geworden war. Böhmer ließ es jedoch nicht damit bewenden, bei diesen Disputationen als Präses fungiert zu haben, sondern verwendete sie weiter. So findet sich die Dissertation ›De iure liturgico‹ weitgehend wörtlich in der De iure liturgiarum ecclesiastico überschriebenen dissertatio praeliminaris zum dritten Band des ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ wieder,53 ohne dass man dem Text seinen Ursprung sofort ansehen könnte, da alle textinternen Verweise und Hinweise auf andere Schriften des Dn. Praeses entsprechend angepasst und einzelne Passagen überarbeitet, ergänzt oder neu hinzugefügt worden sind. Den Weg von ›De iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchengebethern‹ nachzuverfolgen, ist etwas komplizierter. Das erste Kapitel dieser Dissertation erfuhr keine weitere Verwendung. Das zweite Kapitel benutzte Böhmer, von den ersten Paragrafen abgesehen, in überwiegenden Teilen zur Fortsetzung der schon erwähnten dissertatio praeliminaris des dritten Bands,54 während das dritte Kapitel zu einem Teil in den Titel De celebratione missarum et sacramento eucharistiae et divinis officiis55 und zum
50 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern (wie Anm. 45), Cap. 2, § 7, S. 31. 51 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern (wie Anm. 45), Cap. 2, § 8, S. 32: Non nego quidem, bonum principem optime facere, si consilia piorum Theologorum de illis, quae ad S. liturgiam spectant, audiat, eaque, si salubria deprehendat, introducat. 52 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Friedrich von Sallern (Resp.), Dissertatio iuris ecclesiastici de iure precum publicarum, von Oeffentlichen Kirchen=Gebethern (wie Anm. 45), Cap. 3, § 5, S. 49. 53 Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, Bd. 3, Halae: Waisenhaus 1723, Dissertatio praeliminaris, §§ 1–77. 54 Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, Bd. 3 (wie Anm. 53), Dissertatio praeliminaris, §§ 78–89. 55 Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, Bd. 3 (wie Anm. 53), Lib. 3, Tit. 41 (De celebratione missarum et sacramento eucharistiae et divinis officiis), §§ 73–93.
Dissertationen im ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹
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anderen Teil in den Titel De iure patronatus56 des dritten Buchs des ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ wanderte. In die ›Institutiones Iuris Canonici‹, in das Lehrbuch zum Kirchenrecht, das Justus Henning Böhmer 1738 herausbrachte, sind allerdings – soweit bislang ersichtlich – keine aus Dissertationen stammenden Texte aufgenommen worden. Abgesehen davon, dass diese ›Institutiones‹ die Quintessenz des ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ darstellten und aufgrund dieser Kürze gar keine längeren Passagen übernehmen konnten, wollte es Böhmer vermutlich mit seiner höchst effizienten Nutzung einmal verfasster Texte nicht übertreiben, die seinem Umfeld nicht verborgen geblieben war. Das gab Böhmer im Vorwort zu den ›Institutiones‹ selbst zu erkennen, in dem er weit von sich wies, die Inhalte der fünf Bände des ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ lediglich in die Gestalt eines Kompendiums gezwungen zu haben. Vielmehr habe er die Quellentexte neuerlich konsultiert. Und wenn er dem ›Ius Ecclesiasticum Protestantium‹ dann doch etwas entnommen habe, habe er dies getreulich vermerkt.57
III. Disputation als Medium der Wissensvermittlung Hinsichtlich der Wissensvermittlung im Bereich des protestantischen Kirchenrechts lässt sich – bei aller Vorsicht, da die Aussage nur auf den Arbeiten Justus Henning Böhmers und seines Schülerkreises basiert – der Schluss ziehen, dass sie auf jeden Fall auch über die Disputationen gelaufen ist. Denn Böhmer präsidierte häufig genug58 Disputationen zu kirchenrechtlichen Themen, dass sich eine bestimmte Richtung herausbilden konnte. Selbst wenn sich gelegentlich nur kurze Hinweise finden, so geht es doch oft um das dem Landesherrn zustehende ius circa sacra, das – jedenfalls aus dem Blickwinkel der Disputationen – das beherrschende Thema der Zeit gewesen sein dürfte. Es passte zudem staatsrechtlich ins Bild, da es in seiner 56 Justus Henning Böhmer, Ius Ecclesiasticum Protestantium, Bd. 3 (wie Anm. 53), Lib. 3, Tit. 35 (De iure patronatus), §§ 128–130. 57 Justus Henning Böhmer, Institutiones Iuris Canonici tum ecclesiastici tum pontificii (wie Anm. 15), Praefatio, § 12, S. [14]: Denique, quod plurimi persuasissimum habuerunt, non simpliciter in his, quae quinque tomis iuris ecclesiastici protestantium diffusiori opera tradidi, substiti, nec ibidem tradita duntaxat in compendium coarctaui, sed, vt ipsa collatio vtriusque laboris euincit euidenter, ipsos potius textus consului, & ex his institutiones hasce concinnaui, adeo vt quandoque quaedam ibidem neglecta suppleuerim: quaedam curis posteribus correxerim: nonnulla etiam ex tomis praedictis illustrauerim, quae in notis fideliter adduxi, vt lumen ex maiori opere illis, quae in compendio dicta sunt, acciperent. 58 Etwa ein Drittel der insgesamt 139 Disputationen behandelte kirchenrechtliche Themenstellungen.
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territorialistischen Prägung den herrschenden Absolutismus stützte und den Landesherrn prinzipiell keinen Beschränkungen unterwarf. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb diskutierte man auch die Gewissensfreiheit des Einzelnen sowie Toleranzfragen, wie beispielsweise die Disputation ›De cauta Iudaeorum tolerantia‹59 zeigt. Zur Frage des Verhältnisses der Disputationen zu den entstehenden Zeitschriften lässt sich auf dieser Basis indes kaum etwas sagen. Dass schon die Zeitgenossen die Dissertationen als Vorläufer der Zeitschriften ansahen, erfährt man nur außerhalb der Dissertationenliteratur – etwa bei Johann Peter von Ludewig, Böhmers Kollegen und Vorgänger im Amt des Kanzlers der Universität Halle, der die ›Gelehrten Anzeigen‹ herausgab.60 Immerhin zu Böhmers Zeit könnten die Dissertationen aber noch das bestimmende Medium gewesen sein: Die Menge der Dissertationen, welche ein Gelehrter, z. B. beyde Stryk, Thomasius, J. H. Böhmer u. U. oft in demselben Jahre schrieb, sticht freylich sehr gegen Das ab, was jetzt auf Universitäten Mode ist. In andern Fächern hat man jetzt desto mehr Bücher oder doch Aufsätze in Journalen.61
59 Justus Henning Böhmer (Pr.) / Johannes Andreas Bastineller (Resp.), Dissertatio juridica de cauta Iudaeorum tolerantia (wie Anm. 25). 60 Johann Peter von Ludewig, Gelehrte Anzeigen, in alle Wissenschafften, so wol geistlicher als weltlicher, alter und neuer Sachen, Halle: Johann Heinrich Grunerts sel. Wittwe 1743, S. IV. 61 Gustav Hugo, Beyträge zur civilistischen Bücherkenntniß der letzten vierzig Jahre. Erster Band 1788–1807, Berlin 1828, S. 138.
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Sind Preisfragen die aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio? Ein Antwortversuch am Beispiel der Berliner Volksbetrugs-Frage von 1780 Die Preisfrage, welche die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1780 stellte, lautete: Est-il utile au peuple d’être trompé, soit qu’on l’induise dans de nouvelles erreurs, ou qu’on l’entretienne dans celles où il est? 1 Die Frage fordert eine positive oder negative Antwort ein und prädestiniert damit eine Pro- und Kontra-Struktur, die die von Respondent und Opponent einer disputatio an frühneuzeitlichen Universitäten widerspiegelt: Bejahende wie verneinende Beiträger führen im fixierten rhetorischen wie institutionellen Rahmen einen Meinungsstreit um einen infrage gestellten Sachverhalt, über den letztlich ein Präses, der den Vorsitz über die disputatio führt, respektive eine Jury aus Akademiemitgliedern entscheidet. Das wissenschaftsmediale Ereignis der frühneuzeitlichen disputatio als universitär ritualisierter Akt des Streitgesprächs scheint daher mit dem formalisierten Verfahren des Preisausschreibens vergleichbar zu sein, in dem die auslobenden europäischen Akademien und Gelehrten Gesellschaften der Aufklärungsepoche Preisfragen stellten und die eingesandten Antworten auswerteten.2 Mediengeschichtlich korrespondieren 1
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Zit. n. Hans Adler, Ist Aufklärung teilbar? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, in: Ders. (Hg.), Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d’être trompé? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, 2 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, 1. Bd., S. XIII–LXX, hier S. XXXVIII. Ich danke Hans Adler sehr dafür, dass er mir die Druckfahne seiner mittlerweile erschienenen Edition zur Verfügung gestellt hat. Eine weit- und tiefgehende Auswertung dieses umfangreichen Materials übersteigt jedoch die Fragestellung dieses Beitrags. Der Spezialfall der Volksbetrugs-Preisfrage von 1780 bildet für diesen Beitrag den Hintergrund, vor dem der Normalfall der historischen Preisfragen Konturen gewinnt. Bislang arbeitet die Preisfragenforschung themen- oder sozietätenspezifisch, doch eine übergreifende Untersuchung zur Preisfrage steht noch aus. Einen bedeutsamen archivalischen Befund leistete Döring, der herausfand, dass die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig als erste deutsche Sozietät schon seit den 1720er Jahren Preisfragen stellte. Vgl. Detlef Döring, Die Deutsche
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die Disputationsschriften bzw. Dissertationen mit den Preisschriften, also denjenigen Abhandlungen, die als Antworten auf die ausgeschriebene Frage eingesandt wurden.3 Der vorliegende Beitrag vertritt die These, dass die universitäre disputatio durch das Insistieren auf ihre traditionellen Strukturen in der Aufklärungsepoche in funktionelle Defizite gerät, in welche die akademische Preisfragenkultur eintritt.4 Erkenntnispraktische, institutionen-, wissenschafts- und mediengeschichtliche Aspekte indizieren Strukturparallelen und funktionale Divergenzen beider Wissenschaftsformate.5 Gemeinsamkeiten zwischen beiden bestehen insbesondere hinsichtlich des Prozedere, der Organisation und Institutionalisierung. Doch gerade die Unterschiede in ihren wissenschafts- und mediengeschichtlichen Ausprägungen, aufgrund derer die Preisfrage den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« mitgestaltet,6 bedingen ihren funktionalen Erfolg im Aufklärungsjahrhundert. Obwohl sich die akademische Preisfrage als innovatives Wissenschaftsformat neben der disputatio etabliert, verliert sie nach 1800 an wissenschaftspolitischer Bedeutung. Die Reformierung der deutschen Uni-
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Gesellschaft zu Leipzig und die von ihr vergebenen Auszeichnungen für Poesie und Beredsamkeit 1728–1738. Ein frühes deutsches Beispiel der Auslobung akademischer Preisfragen, in: Karlheinz Blaschke / Detlef Döring (Hg.), Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt, Leipzig 2004, S. 187–225, hier S. 189. Damit Preisbewerbungsschriften nicht mit anderen Textsorten verwechselt werden, bezeichne ich im Folgenden alle auf eine ausgeschriebene Preisfrage eingesandten Texte als Preisschriften. Die Gewinnantworten werden im jeweiligen Einzelfall mithilfe zusätzlicher Attribute von nicht ausgezeichneten Preisschriften unterschieden. Akademien können neben den vielfältigen Gelehrten, Literarischen und Lesegesellschaften, Akademischen Logen, Patriotisch-Gemeinnützigen bzw. Ökonomischen Gesellschaften, Geheimbünden u. a. freiwillig assoziierten Organisationsformen im 17. und 18. Jahrhundert unter dem gemeinsamen Begriff der »Sozietäten« bzw. »Gesellschaften« subsumiert werden. Vgl. Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 5f. (Zur Sozietäten-Typologie vgl. ebd., S. 34ff.) Die Bezeichnung »akademische Preisfrage« schließt demzufolge die von anderen Gesellschaftsformen gestellten Preisfragen mit ein. Im Folgenden spitze ich einige Unterschiede zwischen Universitäten und Akademien bzw. Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts zu, um die Gattungsspezifika der Wissenschaftsformate herausheben zu können. Zweifellos ist diese Entgegensetzung im Rahmen einer (hier nicht beabsichtigten) institutionengeschichtlichen Forschung differenzierungsbedürftig. Vgl. dazu Detlef Döring, Die mitteldeutschen gelehrten Kollegien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts als Vorläufer und Vorbilder der wissenschaftlichen Akademien, in: Holger Zaunstöck / Markus Meumann (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 13–42. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1990.
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versitäten im 19. Jahrhundert führt zur Modernisierung auch des universitären Disputations- und Dissertationswesens, in deren Folge dieses wissenschaftliche Leitmedium bis in die Gegenwart erfolgreich fortbesteht.
I. Universitäre disputatio versus akademische Preisfrage Die Tradierung überkommener Wahrheiten und das Festhalten an der scholastischen Lehrart lähmten den Innovationsgeist an den frühneuzeitlichen europäischen Universitäten. Die Funktion wissenschaftlicher Forschung, die Wissen systematisch zu vermehren sucht, fiel den Akademien zu, die etwa in Florenz, Paris, London oder Schweinfurt gegründet wurden.7 So schrieb die Académie des Sciences seit 1671 Preise für Beredsamkeit aus.8 Die Hinwendung dieser neuartigen Gelehrtensozietäten zum mechanistisch-cartesianischen Weltbild und zu empirisch-induktiver Methodik vollzogen die Universitätslehrer zu langsam nach, sodass hier Raum geschaffen wurde für die akademischen Preisfragen als neuem Wissenschaftsformat. Johann Chladenius etwa plädiert in seiner ›Untersuchung[,] ob die Erkenntniß der Wahrheit durch die academische Disputationen befördert werde?‹ (1755) für eine Reformierung des eingefahrenen universitären Disputationswesens, signifikanterweise unter Zuhilfenahme einer modernen mechanistischen Metapher: Kurz, die Disputationsübungen sind auf Academien, als den Sitzen der Wissenschaften, eben das, was die Triebfedern in den Uhren sind. Wie unrecht und falsch gehen diese nicht, wenn iene lahm werden? 9 Wohl verlieh Christian Thomasius’ Reformversuch der disputatio um 1700 noch einmal neuen wissenschaftlichen Wert für die Wahrheitssuche: Er stellte nicht examinatorisch Fragen nach bereits bekannten Antworten, vielmehr tatsächlich offene, noch unentschiedene Fragen, deren Beantwortung zur Erkenntnisvermehrung beitrug, ließ das Lehrbuchwissen der
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Vgl. grundlegend die Studien in Klaus Garber / Heinz Wismann u. a. (Hg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, 2. Bde., Tübingen 1996. Vgl. Döring, Deutsche Gesellschaft zu Leipzig (wie Anm. 2), S. 195. Johann Chladenius, Untersuchung ob die Erkenntniß der Wahrheit durch die academische Disputationen befördert werde?, in: [Göttingische] Philosophische Bibliothek 8 (1755), 1. Stk., S. 1–17, hier S. 17. (Chladenius spricht hier von Akademien statt von Universitäten, meint aber nicht Forschungsinstitute, sondern Ausbildungsstätten wie die Universitäten, unter die auch die Ritterakademien fielen; vgl. ebd. S. 1, 3).
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Wahrheitsprobe unterziehen und ermunterte die Opponenten.10 Doch das Gros der Disputationen erfüllte diese Aufgaben offenbar nicht mehr, wie die Klagen über den Leistungsabfall der Disputanten im 18. Jahrhundert belegen.11 So konstatierte Friedrich Schleiermacher rückblickend: Die scholastische Form der Disputationen ist zu einem leeren Spielgefecht geworden.12 Denn trotz des Niedergangs der scholastischen Methode hielten die Universitäten an der überkommenen Disputationspraxis fest. Hier erlangte die Preisfrage Bedeutung, die an neuen Themenstellungen und Forschungstrends interessiert war.13 Ihrer Intention nach diente sie der gezielten Wissenserweiterung wie auch der Reputation der Institution, die mit dem praktisch wie ökonomisch projektierten Nutzen ihrer wissenschaftlichen Leistung von sich überzeugen wollte.14 Akademien übernahmen, gerade auch mithilfe des Instruments der Preisfragen im 18. Jahrhundert die Aufgabe der Wissensvermehrung, der die Universitäten institutionell und methodisch nicht mehr gewachsen waren.15 Ewald Horn pointiert den Kontrast, der Methodik und Formate des Wissenschaftsdiskurses institutionenspezifisch voneinander unterscheidet: »Dis10 Vgl. Ewald Horn, Die Disputationen und Promotionen an den Deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1893, S. 96f.; Hanspeter Marti, Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing, Wiesbaden 2005, S. 317–344, hier S. 325, 328. 11 Zum abusus disputandi vgl. Siegfried Wollgast, Zur Geschichte des Promotionswesens in Deutschland, Bergisch-Gladbach 2001, S. 73ff. u. ö. Diese Vorwürfe mündeten in Satiren auf die disputatio; vgl. ebd., S. 103ff.; William Clark, Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago / London 2006, S. 89f. 12 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende [1808], in: Ernst Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 159–253, hier S. 229. 13 Zur Preisfragenkultur der Berliner Akademie vgl. u. a. Cornelia Buschmann, Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Förster (Hg.), Aufklärung in Berlin, Berlin 1989, S. 165– 228; Conrad Grau, Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Heidelberg u. a. 1993, S. 103ff.; Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XXff. 14 Dieser Leistungsehrgeiz der Akademien wird als Projektemacherei ebenfalls karikiert, vgl. exemplarisch Jonathan Swift, Gullivers Reisen, hg. v. Anselm Schlösser, Frankfurt a. M. 1972, S. 260ff. Vgl. zum utopischen Gedankengut der Akademiebewegung Gerhard Kanthak, Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektemacherei. Zur Geistesgeschichte der Akademiebewegung des 17. Jahrhunderts, Berlin 1987, S. 14ff. 15 Vgl. Ludwig Hammermayer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Erik Amburger / Michaeł Cieśla / László Sziklay (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Berlin 1976, S. 1–84, hier S. 7.
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putieren ist deduzieren, forschen aber induzieren«.16 Die Veränderung der Wissenschaftsformate indiziert den epistemischen Wandel von der disputatorisch zu verteidigenden Wahr-falsch-Dichotomie zu einer differenzierenden, additiven Wahrheitsanalyse. Während die disputatio der Wissensüberprüfung, nämlich der Untersuchung der Wahrheit, folglich [der] Erkenntniß des wahren und falschen diente,17 intendierte die Preisfrage sukzessive Wissenserweiterung. Preisschriften sind als Elemente eines Wissen akkumulierenden Erkenntnisprozesses zur Beantwortung einer bestimmten Frage zu verstehen. Dass nicht der Preisgewinn im Vordergrund stehe, beteuert Christian von Eggers am Ende des 18. Jahrhunderts, der sich wünscht, dass die ausschreibenden Sozietäten alle eingegangenen Preisschriften öffentlich kommentierten, um sie konstruktiv zu kritisieren und alles neu gewonnene Wissen zu kommunizieren.18
II. Rhetorische Methodik der Wissenschaftsformate »disputatio« und »Preisfrage« Trotz der Aufgeschlossenheit der akademischen Preisfragen für moderne Methodik und neue Fragen verwarfen die einzelnen Abhandlungen nicht die Mittel der rhetorischen Tradition. Preisschriften bedienten sich des Methodenarsenals der scholastisch geprägten disputatio, insbesondere diejenigen der spekulativen oder philosophischen Klassen der Akademien, zu denen die Volksbetrugs-Preisfrage gehörte. Diese orientierten sich durchaus weiter an der Rhetorik der Disputationsschriften, ihrem universitären Pendant. Die methodisch innovative Wissenschaftskultur der Akademien ließ eine formal neue, rhetorisch adäquate Methode oder Textsorte erwarten, wie etwa Montaignes Essays, die empirisch-induktiver Methodik und skeptischer Intervention gegenüber dogmatischen Wahrheitsansprüchen Form verleihen. Doch deutet die Teilhabe der Preisfrage am rhetorischen Argumentationskalkül der disputatio auf ein weitaus engeres Konkurrenzverhältnis beider Streitformen hin, als dies eine gänzliche, auch formale
16 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 95. 17 Vgl. Johann Georg Walch, Art. ›Disputir-Kunst‹, in: Philosophisches Lexicon, Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, […] natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politik fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret […], 2. Aufl., Leipzig 1740, Sp. 525–542, hier Sp. 525. 18 Vgl. Christian Ulrich Detlev Freiherr von Eggers, Ein Vorschlag die akademischen Preißschriften betreffend, in: Deutsches Magazin (1794), 8. Bd., S. 296–298.
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Abkehr der Preisschriften von gängigen Wissenschaftsformaten wie der disputatio impliziert hätte. Zu dieser Vorbildwirkung der disputatio für die Preisfrage trug wohl auch die von Thomasius propagierte rhetorische Reform der frühaufklärerischen disputatio bei: Thomasius empfahl anstelle der sogenannten aristotelischen Methode, die von den Scholastikern gepflegt wurde, die sokratische Methode der Frage-Antwort-Kontroverse, die den philosophisch wie rhetorisch streng durchzuexerzierenden Syllogismus auf einen formal offeneren Schlagabtausch hin vereinfachte. Der zeitgenössischen Darstellung nach habe die sokratische Methode den Vorteil, dass sie das Gesetze von der genauen Antwort aufhebe, das der Syllogismus forderte, und dadurch widersinnigen Sophistereien, die der Gegner zu provozieren suche, begegnen könne.19 Doch sei an dieser Regelaufweichung nachteilig, dass sie leicht zu Abwegen und Ausschweifungen verführe, indem einem ieden erlaubet ist zu fragen und zu antworten, was man will.20 Dieser Methodenwechsel erweckt den Anschein von Lockerungstendenzen in den frühneuzeitlichen Wissenschaftsformaten, doch blieben disputatio wie Preisfrage von der Normierungsgewalt rhetorisch-philosophischer Tradition geprägt, zu der insbesondere die Definition der für die Argumentation zentralen Begriffe gehörte. Walch empfiehlt daher dem Respondenten, sich für die syllogistische Disputiermethode mit Definitionen und Divisionen der in der Disputatio vorkommenden Terminorum [zu] wappnen. Für die dialogisch bestrittene disputatio lasse sich der Opponent mittels Fragen verbindliche Definitionen und Ja-Nein-Antworten geben, aus denen er einen Schluss ziehen könne, der den zur Diskussion gestellten Satz widerlegt.21 Diese begriffsbasierte Voraussetzung des Philosophierens erfüllte auch Sebastian Georg Friedrich Mund zu Beginn seiner Antwort auf die Volksbetrugs-Preisfrage, denn [d]ie philosophische Präzision erfordert dieses, und ohne die kan nichts ausgemacht werden.22
19 Vgl. Johann Heinrich Zedler, Art. ›Disputir-Kunst‹, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste […], Halle / Leipzig 1732–1754, Sp. 1058–1070, hier Sp. 1068. 20 Vgl. Walch, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 17), Sp. 535. 21 Vgl. Walch, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 17), Sp. 535, 537. 22 Munds Preisschrift ist wie die übrigen Manuskripte in der Gesamtedition der VolksbetrugsPreisschriften von Hans Adler unter ihrer archivalischen Signatur abgedruckt, mit Ausnahme der Gewinnerschrift von Rudolf Zacharias Becker (vgl. Anm. 25), deren Originalhandschrift nicht mehr erhalten und daher nicht abgelegt ist; vgl. Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 1062. Die jeweilige Sigle dient im Folgenden zur Zitierung; vgl. für Mund demzufolge I-M 768 (Sebastian Georg Friedrich Mund), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 819–865, hier S. 821.
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III. Probleme der Fragestellung Ausgangspunkt frühneuzeitlicher Kontroversen war die Verständigung über die quaestio, oft genug in Form einer Verständigung über die Termini, die in Fällen ungenügender Präzision der Fragestellung und mangelnder Limitierung des Untersuchungsgegenstandes notwendig wurde.23 Denn, so prophezeiten die ›Göttingischen Anzeigen‹ der Lyoner Preisaufgabe von 1782/83 (Ist die Entdeckung Amerikas dem Menschengeschlecht vorteilhaft oder schädlich gewesen?) : bei einer so wenig bestimmten Frage von so unermeßlichem Umfang können wir uns auf schöne Deklamationen gefaßt machen.24 Gleich mehrere Reaktionen auf die ausgeschriebene VolksbetrugsFrage kritisierten, dass diese nicht eindeutig formuliert worden sei, sodass es den Antwortenden überlassen bleibe, sie zu präzisieren und ihr Thema sowie ihre zentralen Begriffe genauer zu bestimmen.25 Dass die Akademie ihre guten Ursachen für eine so allgemein abgefasste Fragestellung gehabt haben könnte, vermutet Barkhausen, der die Preisfrage der Preußischen Akademie im sächsischen ›Deutschen Museum‹ kommentierte, nicht zu unrecht.26 Ein Briefentwurf von Nicolas Beguelin, ordentliches Akademiemitglied und Erzieher des ab 1786 regierenden Friedrich Wilhelm, enthält Fragen der Akademie an Friedrich II., welche die Präzisierungsnotwendigkeit der Fragestellung zum Volksbetrug explizieren, um eine Flut abwegiger und schwacher Einreichungen zu verhindern.27 In dieser Besorgnis um Qualität und Quantität der zu erwartenden Abhandlungen äußerte sich der Kampf der Akademiemitglieder darum, Einfluss auf den Wortlaut der Fragestellung zu gewinnen. Nicht zuletzt ist dieser Einwand, so Hans Adler, als eine »Retourkutsche« auf Friedrichs Kritik an der metaphysischen 23 So schrieben die Marburger Universitätsstatuten von 1653 vor: Die Präsiden sollen dafür sorgen, daß bei jeder Disputation die strittige Frage treffend und klar formuliert wird […]; zit. n. Wollgast, Geschichte (wie Anm. 11), S. 78. 24 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen vom 16. November 1782, S. 736; zit. n. Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 15), S. 67. 25 Vgl. die Manuskripte I-M 772 (Johann Leberecht Münnich), in: Adler (Hg.): Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 925–954, hier S. 929; Rudolf Zacharias Becker, in: Adler (Hg.): Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 65–150, hier S. 145f. Vgl. dazu auch Simone Zurbuchen, Aufklärung »von oben herunter« oder »von unten herauf«? Die Berliner Preisfrage über den Volksbetrug (1780), in: Wilhelm Haefs / York-Gothart Mix (Hg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, Göttingen 2007, S. 157–185, hier S. 160. 26 Vgl. Heinrich Ludwig Willibald Barkhausen, Ueber die Preißfrage der Berliner Akademie von der Täuschung, in: Deutsches Museum (1782), 2. Bd., S. 266–269, hier S. 267. 27 Zit. n. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XLIV.
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Themenstellung der 1779er Preisfrage zu verstehen, die von der Akademie vorgeschlagen und von Friedrich als unnütz verworfen worden war.28 Denn im Fall der Volksbetrugs-Frage warfen nicht die Berliner Akademiemitglieder das Thema auf, vielmehr oktroyierte Friedrich II. diese Fragestellung »seiner« Königlich Preußischen Akademie per Kabinettsordre 1777. Den durch den Regenten ausgeübten Zwang kennzeichnete die Akademie, indem sie die Preisfrage als Question extraordinaire deklarierte. Der Wortlaut von Friedrichs Vorschlag Ist es nützlich, das Volk zu betrügen? provoziert als Anschlussfrage, wem dies nützlich sein könne, und verweist damit auf herrschaftspolitische Interessen. Die Akademie änderte den (grammatischen und semantischen) Stellenwert des Begriffs ›Volk‹ vom betrogenen zum nutznießenden Objekt des Betrugs. Die von ihr endgültig formulierte und publizierte Preisfrage lautet dann in ihrer deutschen Übersetzung: ›Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, daß man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?‹29 In dieser Fragestellung strittig waren, so die Preisschriften, die Begriffe erreur (›Irrtum‹), peuple (›Volk‹) und tromper, deren Semantiken sie daher explizit diskutieren. Von ihrer Definition hing die jeweilige Auffassung des Themas sowie die Antwortstrategie des Einsenders ab. Nicht eindeutig ist im französischen Wortlaut der Frage das Verb tromper, das – im Unterschied zu seiner deutschen Übersetzung – sowohl ›täuschen‹ als auch ›betrügen‹ meint.30 Damit kann folglich sowohl das Nur-Verbergen des Wahren, das heißt das Nichtzerstören von Vorurteilen, ausgedrückt werden als auch das Vorspiegeln des Falschen, mithin das Befördern von Irrtümern. Gleichermaßen veranlasste die Verwendung des Begriffs ›Irrtum‹ ausführliche philosophische Definitionen.31 Das Bestreben Beguelins, die Wiederholungen von erreurs in einem der Formulierungsvorschläge Friedrichs durch préjugés (›Vorurteile‹) zu er28 Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XLIV. – Zur Vorgeschichte der Volksbetrugs-Preisfrage und der philosophischen Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und d’Alembert vgl. u. a. Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1,1, Berlin 1900, S. 416ff.; Werner Krauss, Eine politische Preisfrage im Jahre 1780, in: Ders., Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 63–71, 486–488. Erstmals ausführlich dokumentiert den Formulierungsprozess anhand der Archivalien Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XXXVff. 29 Übers. n. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XIII. 30 Vgl. dazu Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XXXIII. Vgl. auch I-M 758 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 579–592, hier S. 580f. 31 Vgl. I-M 764 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 653– 704, hier S. 663ff.; I-M 766 (Johann George Gebhard), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 719–785, hier S. 727ff.; I-M 772 (Münnich), (wie Anm. 25), S. 929–944.
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setzen, wurde wohl von stilistischen Überlegungen ausgelöst.32 Doch auch ohne die offizielle Diktion des Begriffs ›Vorurteil‹ gingen die Preisschriften auf die in der deutschen Vorurteilsdiskussion angeregten begrifflichen, konzeptionellen, erkenntnistheoretischen wie -praktischen Fragen der Vorurteilsbekämpfung mit ihren semantischen und argumentativen Konsequenzen für die Beantwortung der Frage ein.33 Diese semantischen Ambivalenzen sind von entscheidender Bedeutung für die moralphilosophische Abwägung des Betrügens und damit für die Argumentation der einzelnen Abhandlung. Sie entscheiden über die Rechtmäßigkeit oder Billigkeit auch der Fragestellung selbst, deren Problematisierung der Hauptgegenstand einer anonymen Einsendung ist.34 Diese moralische Legitimierung auf der Basis einer semantischen Differenzierung holen die Autoren der Preisschriften nach, wenn ihre Abhandlungen eine Begriffsklärung enthält. Des Weiteren bedurfte im Fall der Volksbetrugs-Frage der Begriff des ›Volks‹ einer Klärung. Darunter wurde entweder die ganze Nation (abzüglich des Regenten) gefasst oder nur der »dumme Haufen«, die Mehrheit der Ungebildeten einer Nation.35 In Abhängigkeit vom Begriffsverständnis lassen sich zwei Argumentationstypen analysieren: Der eine befürwortet den Volksbetrug durch die intellektuelle Abqualifizierung der Mehrheit des Volkes; der andere geht von der anthropologischen Gleichheit aller Menschen aus und mahnt die Aufklärbarkeit des ganzen Volkes an.
IV. Rollenspiele in disputatio und Preisfrage Die Diskutanten begaben sich in eine Auseinandersetzung über Begriffe und Argumente, die auf die Struktur der universitären disputatio verweist, indem sie die Rollen des mündlichen Disputationsverfahrens in die schriftliche Abhandlung integrierte: Selbstdarstellungen des Autors als Respondenten, dessen Anspruchsdenken traditionelle Bescheidenheitstopoi
32 Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XLVIII. 33 Explizit z. B. I-M 771 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 897–923, hier S. 898ff. – Vgl. zur deutschsprachigen Vorurteilsdiskussion Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983; Rainer Godel, Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Tübingen 2007 (zur Volksbetrugs-Preisfrage vgl. ebd., S. 361ff.). 34 Im Original als Ungerechtigkeit der Fragestellung selbst; vgl. I-M 740 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 203–220, hier S. 205; vgl. dazu auch Zurbuchen, Aufklärung (wie Anm. 25), S. 160ff. 35 Vgl. z. B. I-M 772 (Münnich), (wie Anm. 25), S. 944.
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nicht widersprechen, und seine Widerlegungen erwartbarer Einwände als Verteidigung gegen Opponenten. In der alternierenden Argumentationsstruktur der disputatio wechselten Respondenten- und Opponentenanteile einander ab.36 Viele Autoren von Preisschriften ahmten diese Struktur nach, indem sie beide Parts und damit auch die Aufgabe der gegnerischen Partei übernahmen. Nach der Darlegung der eigenen These und ihren Begründungen gingen sie auf Gegenargumente ein. Auch die freiere Form des sokratischen Disputierens, die ein anonymer Verfasser konsequent in seiner Antwort auf die Volksbetrugs-Preisfrage verwendet, eignet sich für dieses Rollenspiel.37 Eine andere Abhandlung, die den Volksbetrug befürwortende Antwort von Mund,38 benennt mögliche Gegenargumente, die als autoritäre Instanzen bereits fixiert und tradiert waren. Dazu zitierte er nicht allein aus bekannten Schriften; vielmehr gewärtigte er Widersprecher und personifizierte die Einwände mit ihren Trägern. So stellt er etwa Cicero als einen wichtigen Gegner vor. Indem er Cicero als einen über dem gewöhnlichen Volk stehenden Mann von erstem Range vergegenwärtigt, zieht er das Argument nicht von der historischen Person ab. Dessen Meinung von der generellen Verächtlichkeit der Irrtumsbefürwortung dürfe, so Mund, nicht für alle Menschen gleichermaßen, sondern allein für einen extraordinären Menschen wie Cicero selbst gelten, der gar nicht zum Volcke gerechnet werden könne. Stark verkürzt wiedergegeben hebt Mund darauf ab, dass allein für einen Philosophen auf dem Thron das Ideal der Vorurteilsfreiheit gelte, womit er einen Bezug auf Friedrich II. selbst nahelegt.39 Mithilfe der rhetorischen Personifikation holt Mund den antiken Redner selbst auf den Schauplatz und lässt hinter seine Auseinandersetzung mit dessen gewichtiger Präsenz den Einwand zurücktreten. Indem er die Verkörperung des
36 Vgl. die exemplarische Strukturanalyse einer syllogistisch geführten disputatio von Hanspeter Marti, Einleitung, in: Ders., Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarb. v. Karin Marti, München / New York u. a. 1982, S. 14. 37 Vgl. I-M 753 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 481– 512. 38 Munds Abhandlung soll hier die argumentative Struktur der Preisschriften, nicht den argumentativen Gehalt der Volksbetrugs-Frage exemplifzieren. Deshalb verzichte ich an dieser Stelle auf eine ausführliche Wiedergabe sowie auf eine Diskussion von Munds Argumenten. 39 Vgl. I-M 768 (Mund), (wie Anm. 22), S. 843f. – Mund bezieht überdies Ciceros Sohn mit in seine Begründung ein. Die Vergleichbarkeit von Cicero und Friedrich II. suggerieren Attribute für den römischen Politiker, die ihm außergewöhnliche politische, philosophische und rhetorische Fähigkeiten attestieren.
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Gegenarguments angreift, beabsichtigt Mund, mit dem guten Alten [Cicero, G. B.] in der Güte noch durch zu kommen.40 Mund antizipiert darüber hinaus neue Einwände, die durch seine Stellungnahme erst provoziert werden könnten: Einen andern Einwurf lese ich zwar noch nicht gedruckt: aber ich sehe ihm dennoch mit vieler Gewißheit entgegen, daß er mir gemacht werden wird […].41 Dem erwarteten Einspruch, Irrtum und Unwissenheit vertrügen sich nicht mit der verbesserten Denkungsart in den gegenwärtigen erleuchteten, also aufgeklärten Zeiten, begegnet Mund, kurz gesagt, damit, dass modisch gewordene Empfindsamkeit und geistige Anstrengungen eine Verzärtelung bedeuteten, welche die physische und soldatische Stärke des Volks schwäche.42 Indem Mund aktuelle politische wie wissenschaftliche Themen aufgreift, geht er von einer erst eröffneten Diskussion aus, die sich nicht wie die universitäre disputatio auf autoritär verbürgte Argumente der Vergangenheit beschränkt, sondern den Meinungsstreit in die Zukunft verlängert. Um weitere Einsprüche vorwegzunehmen, hebt er an: Um nichts zu übersehen, was meinem Beweise entgegen gesezet werden könnte, will ich lieber selbst die Gründe aufsuchen, durch welche ein Zweifler veranlasset werden mögte, meine Behauptung zu bestreiten oder den Kopf dabei zu schütteln.43 Der Zweifler, den Mund hier vor sich sieht, widerspricht verbal und nonverbal. Mund imaginiert einen Opponenten, dessen ungläubige Reaktion nur in einer Face-to-Face-Situation überhaupt bemerkbar wäre. Der erwartete Widerspruch wird als Opponent personifiziert und als persönliche Konfrontation inszeniert. Ein anderer Verfasser spricht im Rahmen seiner Antwort auf die Volksbetrugs-Preisfrage »seinen« Opponenten in direkter Rede an: Aber wie? Freund! Dis ist ein barbarischer tückischer Satz! 44 Mund orientiert sich also in seinem Argumentationsgang an in der universitären Wissenschaftskultur ausgebildeten rhetorischen Mustern, doch zugleich präsentiert seine sprachliche Bildlichkeit die Oralität und Visualität eines mündlichen Disputationsaktes, mit der er das Pro und Kontra der disputatio imitiert, denkbare Einwände fingiert und sie widerlegt. Zu den obligatorisch zu besetzenden Rollen einer universitären disputatio gehörte zudem der Präses als conflictus moderator, der befugt war, das Thema anzusetzen, Rederecht zu verleihen, für Ruhe zu sorgen sowie 40 41 42 43
I-M 768 (Mund), (wie Anm. 22), S. 844. I-M 768 (Mund), (wie Anm. 22), S. 844. Vgl. I-M 768 (Mund), (wie Anm. 22), S. 844ff. I-M 768 (Mund), (wie Anm. 22), S. 846. Explizit die Einwürfe meiner Opponenten zu entkräften, sucht I-M 771 (anonym), (wie Anm. 33), S. 901. 44 I-M 761 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 625–643, hier S. 628.
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über Ende und Ausgang der disputatio zu entscheiden. Er konnte entweder sachorientiert als neutraler Gesprächsleiter fungieren oder personenorientiert die Partei des Respondenten ergreifen und diesen unterstützen.45 Mehrheitlich wurden die funktionalen Rollen von Präses und Respondent miteinander identifiziert.46 Die Funktion des Präses einer Disputation kam bei den Preisausschreiben den Mitgliedern der Sozietät zu. Ein entscheidender Unterschied zwischen disputatio und Preisfrage bestand in dieser Ausweitung des Entscheidungsgremiums, das die Vorrechte einer einzelnen Person, des Präses, auf eine kollektive Urteilsinstanz hin öffnete. Den Vorsitz über den Preisfragengegenstand führten im Regelfall alle Mitglieder der fragenden Akademie oder Akademieklasse. Nachdem idealerweise die Einsendungen durch alle Hände gegangen waren, wurde in einer gemeinsamen Sitzung nach dem Mehrheitsprinzip über den Preisträger abgestimmt.47 Aufgrund ihres funktionalen Status waren Präses oder Jury immer auch mittelbare Adressaten der mündlichen Disputations- wie der schriftlichen Preisfragenbeiträge. Diese Parallelität in ungleichen Kommunikationssituationen belegt, dass die akademische Jury in den Preisschriften mitunter direkt angesprochen wird. So beschließt ein anonymer Einsender auf die VolksbetrugsFrage seine Antwort mit den Worten: Ich […] überlaße es der Entscheidung meiner HochzuverEhrenden [sic!] Herren, ob ich den Sinn der vorgelegten Frage richtig getroffen habe.48 Noch häufiger entfällt die direkte Anrede an die Jury und die Autoren wenden sich unmittelbar an ein Publikum und ihre erleuchteten Leser.49 Die von den Wettbewerbsteilnehmern vergegenwärtigten (»idealen«) Leser sind nicht auf ein institutionelles Rezipientenkollektiv begrenzt. Mit dieser Darstellungsstrategie integrieren die Autoren ihre Rezipienten bereits in den Text und drücken damit die Erwartung 45 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 46ff.; Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Darmstadt 1994, 2. Bd., Sp. 866–880, hier Sp. 867. 46 Vgl. Walch, Art. ›Präses‹ (wie Anm. 17), Sp. 2057. 47 Zu diesem Teil des Prozedere bei der Volksbetrugs-Frage vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. LVf. 48 I-M 769 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 867–873, hier S. 873. Mit Hoch Wohl Gebohrne Besonders Hochzuvenerirende Herrn! beginnt Weber sein Schreiben; vgl. I-M 775 (Johann Christoph Weber), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 973–991, hier S. 973 u. ö. 49 Vgl. I-M 747 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 337– 376, hier S. 365; I-M 748 (anonym), in: Adler (Hg.), Nützt es dem Volke (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 377–403, hier S. 387; I-M 771 (anonym), (wie Anm. 33), S. 901, 909, 911; I-M 772 (Münnich), (wie Anm. 25), S. 935. Vgl. auch den Schlussappell Ihr Edlen! in I-M 761 (anonym), (wie Anm. 44), S. 642.
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aus, dass eine breitere lesende Öffentlichkeit am Wissenschaftsformat der Preisfrage partizipiert. Neu war wohl im Fall der Volksbetrugs-Ausschreibung, dass ein anonym gebliebener Einsender die moralische wie philosophische Zurechnungsfähigkeit der ausschreibenden Akademie in Frage stellte: Werden Sie mirs wohl übel nehmen, wie ich zuförderst gestehe, und zu erkennen gebe, wie sehr mich diese Frage aus Ihrem Munde befremdet hat? […] wenn ein so weises Collegium noch in seiner Wahl zwischen Wahrheit und Irthum [sic!] schwanket; wo will man denn in der gantzen Welt treue und eifrige Liebhaber der Wahrheit finden? 50 Solch unverhohlenen Zweifel zu erheben, erlaubten wohl erst die akademische Erweiterung der Urteilsinstanz gegenüber der universitären disputatio, geöffnete institutionelle Schranken, anonyme Teilnehmerschaft und die durch Schriftlichkeit bedingte Veränderung von situativer zu prozessualer Kommunikation beziehungsweise Konfrontation.
V. Öffentlichkeit und Anonymität des Preisfragenverfahrens Die institutionelle Abgeschlossenheit von Themenwahl, Diskussionsverlauf, Teilnehmerschaft und Beitragsbeurteilung, die die disputatio an den frühneuzeitlichen Universitäten prägte, wurde durch die Preisfragen der Aufklärungsakademien aufgebrochen. Abgesehen vom Oktroi Friedrich II. im Falle der Volksbetrugs-Frage schlugen im Regelfall die Akademiemitglieder Themen für die Preisfragen vor, über die dann gemeinsam entschieden wurde. Von kleineren Sozietäten wurde oft nur eine Frage jährlich ausgeschrieben, von größeren Akademien mehrere, jeweils eine von jeder Klasse. Diese mehrheitliche Teilhabe am Preisfragengeschehen mag idealtypisch gewesen sein, denn an Universitäten wie Akademien engagierten sich einzelne Gelehrte stärker als andere, wie etwa Beguelin, der sich in den Prozess der Volksbetrugs-Preisfrage tatkräftig einmischte.51 Schon die Ausschreibung einer Preisfrage erforderte von den Sozietätsmitgliedern nicht nur intellektuellen Aufwand, sondern im Falle der wachsenden Zahl kleinerer gelehrter Gesellschaften, die keine finanzielle Unterstützung vom 50 I-M 740 (anonym), (wie Anm. 34), S. 204. Ähnlich ehrenrührig war für einen Gelehrten die Unterstellung des Autors, dass möglicherweise nicht alle Akademiemitglieder des Lateinischen mächtig seien, weshalb er ein Originalzitat Ciceros um seine deutsche Übersetzung ergänzt (vgl. ebd., S. 205). Der Autor dieser Preisschrift lüftete entgegen der Gepflogenheit, den Autornamen in einem separaten Umschlag der Einsendung beizulegen, seine Anonymität nicht (vgl. ebd., S. 219). 51 Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XXXVIIIff., bes. S. LVf.
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Landesherrn erhielten, auch tätige Akquise, um das Preisgeld einzuwerben, das im Wettbewerb ausgesetzt werden sollte.52 Die massiven finanziellen Schwierigkeiten, die es dabei durch Überzeugungsarbeit zu überwinden galt, drücken sich exemplarisch im Preisfragenvorschlag von Benjamin Gottfried Reyher für die Jenaer Teutsche Gesellschaft aus, der die Motive von Privatpersonen, gelehrten Gesellschaften Preisgelder zu stiften, ergründen lassen wollte. Nicht selten stand das vom Mäzen in Aussicht gestellte Preisgeld weder vor noch nach der Ausschreibung tatsächlich zur Verfügung.53 Das Preisgeld sollte die Anzahl der Mitbewerber erhöhen, die ausgeschriebene schwer zu lösende, mehrentheils einen wissenschaftlichen Gegenstand betreffende Frage zu beantworten.54 Das Preisfragenverfahren hatte anonymisiert zu erfolgen. Die Entschlüsselung des Preisträgernamens erfolgte über eine frei gewählte Devise des Absenders, mit der sowohl die eingesandte Abhandlung überschrieben als auch ein beigelegtes verschlossenes Kuvert etikettiert waren, das den Namen des Verfassers enthielt, aber erst im Moment der Preisverleihung eröffnet werden durfte. Das Auswahlverfahren fand folglich unter Ausschluss des Ansehens der Person statt. Auf diese Weise war idealerweise weder die institutionelle Verortung noch der soziale Stand mehr Kriterium für die Teilhabe am Wissenschaftsdiskurs. Das anonyme und zugleich an die briefliche Aufzeichnung gebundene Verfahren schaltet darüber hinaus vom sozialen oder persönlichen Habitus motivierte Beurteilungskritieren der inhaltlichen Leistung aus. Die Schriftlichkeit des Diskussionsbeitrags verhindert nunmehr gegenüber der disputatio situationsabhängige Einflüsse rhetorisch geschulter Oratorie auf die Meinungsbildung der Jury. Der ornatus des Redners in Form von Mimik, Gestik und Auftrittsqualitäten der Respondenten verliert gegenüber den wissenschaftlichen Inhalten an Gewicht. Die Niederschrift einer Abhand52 Im Unterschied zu anderen europäischen Akademien wurde die Berliner vom Landesherrn nicht monetär, aber mittelbar durch das Kalendermonopol und weitere Privilegien finanziert; vgl. Kanthak, Akademiegedanke (wie Anm. 14), S. 78f. 53 Vgl. zum Problem der Preisgeldbeschaffung am Beispiel der Jenaer Teutschen Gesellschaft, aber auch der königlich protegierten Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt Felicitas Marwinski, Die Teutsche Gesellschaft zu Jena – eine »Akademie der höhern Wissenschaften«? Über gelehrte Preisfragen im Rahmen des Akademie-Konzepts, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 58 (2004), S. 83–122, hier S. 111–117. 54 Vgl. Johann Georg Krünitz, Art. ›Preisfrage‹, in: Ökonomisch-technologische Encyklopädie […], Berlin 1811, 117. Bd., S. 183–235, hier S. 183f. – Ironisch merkt ein Anonymus an, dass der ehrliche medizinische Praktikus im Unterschied zum schaumschlagenden Professor ohnehin immer unentgeltlich arbeite und forsche, weshalb es auch zu seinem Engagement für die Lösung einer Preisfrage keines Preises bedürfe; vgl. Anonym, Eine Preisfrage ohne Belohnung, in: Almanach für Ärzte und Nichtärzte (1783), S. 189–194.
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lung verzichtet keinesfalls auf traditionelle rhetorische Kunstgriffe, doch verhindert sie die Vorteilsnahmen aus der sicht- und hörbaren Präsentation des Redners. Das Gleichgewicht von Logik bzw. Dialektik und Rhetorik in der disputatio55 verschiebt sich in der Preisschrift auf Kosten der pronuntiatio und damit zugunsten des logischen Anteils. Das Inszenierungspotenzial wird minimiert und die sachliche, objektive Beurteilung im Diskussionsprozess gestärkt.
VI. Soziale und institutionelle Öffnung des Wissenschaftsdiskurses Die Anonymitätsstrategie der Preisfragen bezweckte die Loslösung von Standes- und Autoritätskriterien. Auch wenn dieser Ideal- am Einzelfall überprüft werden muss, so öffnet doch die aufklärerische Preisfragenkultur die sozialen Schranken der Teilnahmeberechtigung am Wissenschaftsdiskurs. Im Unterschied dazu waren ausschließlich Studenten oder Gelehrte von Profession zum frühneuzeitlichen Disputationsakt zugelassen. Die Mündlichkeit der disputatio konnte allenfalls die passive Teilhabe des »nichtgelehrten – oder zumindest fachlich nicht involvierten – Publikum[s]« an institutionalisiertem Wissen und Geschehen befördern.56 Während die disputatio vorrangig die institutionell organisierte Gelehrtenelite der heimischen Universität ansprach, luden die Preisfragen nachdrücklich auswärtige und ortsansässige Gelehrte neben den Angehörigen der eigenen Institution zum Wettbewerb um den von der Gesellschaft ausgeschriebenen Preis ein.57 Während nach der Satzung der Preußischen Akademie von 1744 bei gleichwertigen Einsendungen die ausländischen gegenüber den einheimischen bevorzugt werden sollten, schloss Maupertuis’ Neufassung der Statuten von 1746 die eigenen Akademiemitglieder 55 Vgl. Marti, Art. ›Disputation‹ (wie Anm. 45), Sp. 868. 56 Vgl. Rudolf Stichweh, Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozess ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1991, S. 291. 57 Von italienischen Preisfragen blieben die Angehörigen der ausschreibenden Gesellschaft meistens ausgeschlossen; vgl. Christine Damis, Die Preisfragen in den Statuten italienischer Akademien und Sozietäten, in: Holger Zaunstöck / Markus Meumann (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 269–298, hier S. 273. Gleiches galt für die Académie des Sciences. Im Gegensatz dazu durften an Preisfragen der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, obwohl sich diese an der französischen Akademie orientierte, ausschließlich deren eigene Mitglieder teilnehmen (abgesehen von zwei Jahrgängen); vgl. Döring, Deutsche Gesellschaft zu Leipzig (wie Anm. 2), S. 190, 195, 204, 207.
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von der Teilnahme an Preisfragen prinzipiell aus.58 Die Preisfrage richtete sich über nationale, soziale und institutionelle Grenzen hinaus an das gebildete und nichtakademische Publikum. An der Volksbetrugs-Preisfrage beteiligte sich neben einer Mehrzahl von Theologen zum Beispiel auch Johann Christoph Weber, ein Gastwirt aus Schwäbisch-Hall.59 Gerade die vielen neugegründeten Sozietäten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigten sich gegenüber sozialständisch inferioren Schichten zur Rekrutierung neuer Mitglieder und Preisfragenbeiträger aufgeschlossen.60 Am Jahrhundertende wurden auch Dorfschulmeister, Apotheker, Handwerker und Großbauern zu Preisträgern oder ordentlichen Mitgliedern mancher dieser Gelehrtensozietäten.61 Dem Anschein, dass institutionelle und Standesschranken aufgeweicht worden wären, widerspricht Ludwig Hammermayer: Die Akademien seien quasi-aristokratische Gelehrteneliten gewesen, eine Meritokratie, die unterqualifizierte Dilettanten aus adligen wie bürgerlichen Schichten abweisen wollte. Die Preisaufgaben hätten den Akademien als »Ventil« gedient, die Leistungs- und Teilnahmebereitschaft der andrängenden bürgerlichen Schichten zu kanalisieren. Damit hätte man den Nichtmitgliedern eine Beteiligung an der Akademietätigkeit suggerieren können, ohne dass die Akademie sie zu dauerhaften Mitgliedern erheben musste.62 Dennoch initiierte die aufklärerische Preisfrage meines Erachtens eine Liberalisierung der Wissenskommunikation, berücksichtigt man die Herkunft der Preisfragen- aus der Disputierkultur sowie die sozial-, institutionen- und mediengeschichtlichen Unterschiede beider Wissenschaftsformate. Verfasser von Preisschriften wurden nicht mehr aufgrund ihres sozialen Ranges, sondern aufgrund ihres Bildungsgrades als Kommunikationspartner akzeptiert. Als Teilnahmevoraussetzung dafür verlangte man von den Beiträgern lediglich 58 Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XXIf. 59 Vgl. I-M 775 (Weber), (wie Anm. 48). Aufgrund der unverdeckten Angabe des Verfassernamens war Webers Beitrag aber für den Wettbewerb disqualifiziert; vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. LVII. 60 Angedacht war die Beteiligung von Handwerkern und Mechanikern bereits in Leibniz’ Akademiekonzept; vgl. Kanthak, Akademiegedanke (wie Anm. 14), S. 79. 61 Vgl. Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 15), S. 22f. – Prominentes Beispiel für einen Preisträger, der nicht zum Gelehrten- oder Adelsstand gehörte, ist der Instrumentenbauer Georg Friedrich Brander, der 1779 für die Auflösung einer Preisfrage und den dazu verfertigten Distanzenmesser den Preis der Dänischen Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen gewann und bereits 1759 Gründungsmitglied der Kurfürstlich Bayrischen Akademie der Wissenschaften war. Vgl. Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines GelehrtenLexicon, 1. Ergänzungsbd. hg. v. Johann Christoph Adelung, Faks. d. Ausg. Leipzig 1784, Hildesheim 1960, Sp. 2202–2203; Neue Deutsche Biographie, 2. Bd., S. 518. 62 Vgl. Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 15), S. 11f.
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Stilsicherheit und Leserlichkeit der anonym einzusendenden Manuskripte.63 Die Forschungsinstitution kommunizierte nicht mehr nur intern und stellte sich dadurch auch der öffentlichen Kritik. Vielleicht wichtiger als diese ideelle Teilhabe breiterer Interessentenkreise waren darüber hinaus sozioökonomische Rücksichten für die Preisbewerber: Die notwendige finanzielle Investition in Studium und disputatio, in den Disputationsakt, die anschließende Feier und den Druck der Dissertation, verwehrte vielen Bildungsbeflissenen den Zugang zur institutionellen Graduierung und damit zum Wissenschaftsdiskurs. Für die Verfasser von Preisschriften war daher die Übernahme der Publikationskosten für ihre Abhandlung durch die Akademie – neben dem Preisgeld oder der Preismünze selbst – Anreiz zur Wettbewerbsteilnahme. Die Siegerschriften wurden auf Kosten der auslobenden Akademie in den Druck gegeben. Neben dem materiellen ist der wissenschaftliche wie soziale Ehrgewinn aus Preisausschreiben und disputatio nicht zu unterschätzen. Der Respondent konnte durch die disputatio pro gradu einen akademischen Grad erlangen und erwarb dadurch die Voraussetzung für bürgerliche Ämter, einträgliche Funktionen und sozialständische Privilegien.64 Dadurch war der Erwerb eines lebenslänglichen Magister- oder Doktortitels zwar wertvoller als die Reputation eines Preisträgers oder Sozietätenmitgliedes, die nicht zum Namensbestandteil geriet. Doch durfte sich der Gewinner des Preisausschreibens Respekt, Ruhm und Protektion in der Gelehrtenrepublik erhoffen.65 Das von den Beteiligten selbst veranschlagte Renommee einer korrespondierenden oder ordentlichen Mitgliedschaft in einer gelehrten Sozietät schlägt sich darin nieder, dass ein solches Attribut im späten 18. Jahrhundert obligatorisch zur auf Titelblättern selbst gestalteten Titulatur des Autors gehörte. Einen Imagegewinn für den Verfasser versprach auch die offizielle Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung durch die ausschreibende Akademie oder Sozietät. Neben dem Preis selbst stand dem akademischen Gelehrtengremium das Accessit als weitere Auszeichnung von Bewerberschriften zur Verfügung. Die so gewürdigten Abhandlungen wurden von ihren Verfassern mit dem expliziten Verweis 63 Vgl. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 101. 64 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 110f. Solche Karrierewege, allerdings für einen früheren Zeitraum, zeigt auf Beat Immenhauser, Bildungswege – Lebenswege. Universitätsbesucher aus dem Bistum Konstanz im 15. und 16. Jahrhundert, Basel 2007. 65 Vgl. Damis, Preisfragen (wie Anm. 57), S. 291. – Um seine Reputation war offenbar de Forquet, ein französischer Offizier, besorgt, der sich im Nachhinein von der in seiner Antwort auf die Volksbetrugs-Preisfrage geäußerten Meinung distanzierte. Doch war sein Beitrag wegen des Regelbruchs, ihn namentlich zu kennzeichnen, bereits vom Wettbewerb ausgeschlossen worden. Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. LVIf.
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auf das Lob oft selbst in den Druck gegeben. Der damit verbundene Kostenaufwand wurde nicht gescheut, um die errungene Anerkennung publik zu machen. Im Fall der Volksbetrugs-Frage erhielten neben den Siegerschriften sieben Preisschriften das Accessit, von denen zwei verschollen und die übrigen fünf in Zeitschriften oder als Einzeldrucke erschienen sind.66 Die bestandene Beurteilung durch die Akademie galt als wissenschaftlicher Qualitätsausweis, dessen Niveau gewahrt wurde, indem oft genug die auslobende Sozietät den Preis zurückhielt, wenn weniger als zwei oder nur ungenügende Beiträge eintrafen.67 Die durch die Preisfragen geförderte Teilhabe an einer öffentlichen Wissenskommunikation ist folglich trotz der sozialen wie namentlichen Anonymität der Teilnehmer kein von den Personen ablösbarer Wissensaustausch. Dies betrifft die teilnehmende wie die begutachtende Seite. Preisaufgaben hatten für die Sozietäten neben dem hehren Erkenntnisgewinn auch die soziale Funktion, neue, möglichst namhafte Mitglieder anzuziehen, noch unbekannte Kandidaten vor ihrer Aufnahme zu prüfen und das Prestige der ausschreibenden Sozietät zu befördern, insbesondere dann, wenn diese um landesherrliche Akkreditierung und finanzielle Fundation bemüht war.68 Die meist obligatorische Publikation der Siegerschrift durch die Gesellschaft gewährte deren externe Begutachtung und sicherte die Transparenz von Sozietätsaktivitäten.69
VII. Mündlichkeit der disputatio Mit der Preisfragenkultur konnten die Sozietäten ihren wissenschaftspolitischen Stand stärken. Ihr gegenüber verlor die disputatio im 18. Jahrhundert erheblich an Ansehen, die als theatralische Farce des gelehrten Streits 66 Diese fünf publizierten Accessit-Schriften stammen von Johann Friedrich Gillet, Johann George Gebhard, Johann Leberecht Münnich, Johann Daniel Crüger und Sebastian Georg Friedrich Mund; vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. LVff. Darüber hinaus wurden wenigstens vereinzelt auch nicht von den Sozietäten gewürdigte Abhandlungen zu Preisfragen veröffentlicht, bezüglich der Volksbetrugs-Preisfrage: Anonym, Auch ein Nonakzessit zu der Berlinschen Preisaufgabe aufs Jahr 1780[,] Irrtum und Täuschung betreffend. Nebst einer Vorrede von Herrn Hofrath Wieland, Züllichau 1782. Wiederabgedruckt als I-M 771 (anonym), (wie Anm. 33). 67 Vgl. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 101; Damis, Preisfragen (wie Anm. 57), S. 280. 68 Vgl. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 101; Döring, Deutsche Gesellschaft zu Leipzig (wie Anm. 2), S. 191. 69 Diese Strategie konnte die Sozietäten gegen esoterische oder geheimbündlerische Verdächtigungen schützen.
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angeprangert wurde.70 Getadelt wurden Formalisierung und entleerte Ritualität der disputatio, die Absprachen zwischen den Disputanten, die Bestechlichkeit von Universitätsmitgliedern, Dekan, Präses wie Opponenten und damit die Käuflichkeit akademischer Titel und Grade. Mit der disputatio verlor auch die Universitätsausbildung an Ansehen: [S]o ist der Kredit fast aller auf der Universität erteilten Würden tief unter den Punkt der Satire herabgesunken.71 Kritiker des Aufklärungszeitalters begründeten die desolaten Leistungen der Studenten in der disputatio, insbesondere die schwindenden Lateinkenntnisse,72 mit der mangelnden Verbindlichkeit des auf das Mündliche beschränkten Disputationsaktes. Positiv sei zwar, dass Präses und Respondent nicht dazu verpflichtet wären, ihre persönliche wissenschaftliche Meinung zu vertreten, sondern übungshalber fremde Meinungen annehmen könnten.73 Daher würden, so Chladenius, die gelehrten Streitigkeiten oder gar Feindseligkeiten mit dem Ende der disputatio beigelegt, womit bei niedergeschriebenen Polemiken nicht zu rechnen sei. Doch sei negativ, dass der mündliche im Unterschied zum schriftlichen Streit die persönliche Reputation des Disputanten nicht dauerhaft aufs Spiel setze. Nur die Gewichtigkeit des geschriebenen Wortes nötige den Verfasser zur wohlüberlegten Ausarbeitung seiner Argumentation, wie in der Dissertation.74 Um die Fehde zwischen den Streitenden zu besänftigen, mahnt Walch Affektbeherrschung an, damit die Wahrheitssuche nicht in Krieg ausarte.75 Für den erwünschten Rationalisierungs- als Verschriftlichungsprozess der Wissenschaftsdiskussion ist die Preisfrage ein adäquates Instrument. Die Verschriftlichung fordert vom Verfasser, seine irrationalen, ehrenrührigen und erkenntniswidrigen Leidenschaften zu beherrschen und den Diskussionsfrieden zu wahren, und sie boykottiert die rezeptionsästhetische Vereinnahmung des Rezipienten für die Person des Rhetors. Die einen schriftlich fixierten Kanon repräsentierende Mündlichkeit ist das wesentliche Charakteristikum der disputatio, die neben der Vorlesung die wichtigste Form der Wissenskommunikation an den mittelalterlichen 70 »[E]mpty ritual« und »comic theater« nennt Clark die disputatio des 18. Jahrhunderts; vgl. Clark, Academic Charisma (wie Anm. 11), S. 90f. Beispiele für die satirische Aufarbeitung der akademischen Rituale bietet auch Alexander Košenina, Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen 2003, bes. S. 324. 71 Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken (wie Anm. 12), S. 229. 72 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 53; Clark, Academic Charisma (wie Anm. 11), S. 89. 73 Dazu ausdrücklich Thomasius in seiner ›Ausübung der Vernunft-Lehre‹; vgl. Marti, Kommunikationsnormen (wie Anm. 10), S. 328. 74 Vgl. Chladenius, Untersuchung (wie Anm. 9), S. 5ff. 75 Vgl. Walch, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 17), Sp. 528ff.
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Universitäten darstellte.76 In der frühen Neuzeit wird die disputatio zu einer »Überleitungsinstitution zwischen einer Sprechkultur und einer primär schriftdominierten Kultur«.77 Doch beruhte die Funktion der disputatio auch im 18. Jahrhundert weiterhin auf der Performanz des universitären Ritus. Hanspeter Marti stellt heraus, dass der mündliche Disputationsakt im 18. Jahrhundert durchaus nicht durch die gedruckte Dissertation abgelöst wurde.78 Vielmehr stärkte, darum ergänzt meine These Martis Befund, die akademische Preisfrage den Verschriftlichungsprozess der aufklärerischöffentlichen Wissenschaftskultur. In der disputatio wurden – symbolisiert durch die Stufenleiter des Katheders, auf dessen erhöhtem Teil der Präses thronte und unter dem, abgehoben vom Auditorium, der Respondent stand79 – die sozialständischen, institutionellen und situativen Rollen unhintergehbar definiert. Im Strukturwandel von diesen statischen ständischen zu bildungs- und leistungsbezogenen Kriterien brachen die Akademien die korporative Geschlossenheit auf und erweiterten die Teilnahmeberechtigung an den Preisfragen.
VIII. Schriftlichkeit der Wissenskommunikation Die Preisfragen des 18. Jahrhunderts waren, so Hammermayer, ein »Vehikel intensiver Kommunikation« im Kontext der europäischen Gelehrtenrepublik.80 Sie mobilisierten sozial vertikale, überregionale und internationale Interessentengruppen, sich am Wissenschaftsdiskurs zu beteiligen. Carl Gotthelf Müller, Senior der Teutschen Gesellschaft zu Jena, konstatierte bereits zur Jahrhundertmitte: Fast wird es zu unsern Zeiten zu einer wesentlichen Erforderniß einer größern gelehrten Gesellschaft, daß ansehnliche Preiße auf die Ausarbeitung gelehrter Aufgaben gesetzt werden; um dadurch sowohl
76 Vgl. Clark, Academic Charisma (wie Anm. 11), S. 91. 77 Das ist die Hauptargumentationslinie von Stichweh, Frühmoderner Staat (wie Anm. 56), S. 290. Ähnlich auch Clark, Academic Charisma (wie Anm. 11), S. 91f. 78 Vgl. Hanspeter Marti, Philosophieunterricht und philosophische Dissertationen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999, S. 207–232, hier S. 216. Zur Entwicklung von Disputation und Dissertation im 18. Jahrhundert vgl. auch den Beitrag von Hanspeter Marti in diesem Band. 79 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 3. 80 Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 15), S. 67.
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die Mitglieder als auch auswärtige Gelehrte desto eher zu wichtigen Entdeckungen und Erfindungen aufzumuntern.81 Zugleich waren die akademischen Preisfragen ein Instrument extensiver Wissenskommunikation. Dazu trug zum einen die wachsende Zahl von Neugründungen gelehrter Sozietäten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei, mit der auch die Zahl der Preisfragen anstieg. Krünitz etwa kapituliert davor, die Preisfragen noch vollständig aufzählen zu wollen, da alle Akademien, fast alle gelehrte Gesellschaften und zudem Privatpersonen dergleichen aufgäben.82 Zum anderen multiplizierte die Veröffentlichung der ausgeschriebenen Preisfragen in mehreren Periodika gleichzeitig ihre mediale Präsenz in der Wissenskommunikation. Ein konstitutiver Faktor der aufgeklärten Öffentlichkeit waren Zeitschriften, die neben den akademieeigenen Blättern und Schriftenreihen den wichtigsten Publikationsort für Preisfragen darstellten, indem sie diese überregional und international bekannt machten. Zeitschriften druckten nicht nur die Frage- oder Aufgabenstellung ab, sondern auch nichtprämierte Antworten, beispielsweise die von Mund auf die Volksbetrugs-Frage, die erst nach Einsendeschluss eintraf und deshalb im Wettbewerb nicht mehr berücksichtigt werden durfte, aber dennoch ein Sonderlob der Akademie erhielt.83 Darüber hinaus begleiteten sie den Ausschreibungsprozess mit Kommentaren, die das Interesse vor allem an so problematischen Themen wie dem Volksbetrug wachhielten.84 Doch beschränkte sich das Interesse der aufklärerischen Publizistik am Wissenschaftsdiskurs nicht auf die Preisfragen. Aufklärungsperiodika verbreiteten gleichermaßen Dissertationsthemen, insbesondere im Rahmen umstrittener Debatten, oder spezialisierten sich auf die Veröffentlichung ins Deutsche übersetzter Dissertationen oder deren Rezension.85 Mit ihrem Interesse am universitären Disputations- wie am akademischen 81 Carl Gotthelf Müller, Erste Fortsetzung der Nachricht von der teutschen Gesellschaft in Jena […], in: Ders. (Hg.), Schriften der Teutschen Gesellschaft zu Jena […] auf das Jahr 1753, Jena 1754; zit. n. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 102. 82 Vgl. Krünitz, Art. ›Preisfrage‹ (wie Anm. 54), S. 214. 83 Vgl. Sebastian Georg Friedrich Mund, Abhandlung über die Aufgabe der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften und der schönen Künste auf den 1ten Jun. 1780. Kan irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich seyn? […], in: Hannoverisches Magazin 20 (1782), 54.–59. Stk., Sp. 849–944. 84 Vgl. Buschmann, Preisfragen (wie Anm. 13), S. 174. Am Beispiel italienischer Publizistik Damis, Preisfragen (wie Anm. 57), S. 273f. 85 Z. B. die Acta Lipsiensium academica, Oder Leipziger Universitäts-Geschichte […], Leipzig 1723–1724. Vgl. Hanspeter Marti, Lateinsprachigkeit – ein Gattungsmerkmal der Dissertationen und seine historische Konsistenz, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 30 (1998), 1, S. 50–63, hier S. 61.
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Preisfragengeschehen dokumentieren sie ihre generelle Funktion der Wissenskommunikation. Gelehrte Zeitschriften traten hinsichtlich der Vermittlung wissenschaftlicher Forschungsliteratur in eine Medienkonkurrenz zu Dissertationen.86 Den Dissertationen gegenüber waren Preisfragen im Vorteil, da die Akademien die Wissenskommunikation in Volks- und modernen Fremdsprachen beförderten. Die Berliner Akademie etwa akzeptierte Einsendungen auf Deutsch, Französisch und Lateinisch.87 Dieser multilingualen Modernität gegenüber blieb für Disputationen und Dissertationen Latein als tradtionelle Gelehrtensprache verbindlich. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte Latein in den Dissertationen vor, obwohl etwa Philipp Jakob Spener schon im späten 17. Jahrhundert für mündliche Disputationen auf Deutsch stritt. Peter Ahlwardt wog in einer 1753 auf Deutsch erschienenen Disputationsschrift die Internationalität gegenüber der Exklusivität der universalen Gelehrtensprache in Disputationen ab. Als Landesuniversität schlösse man ungelehrte und weibliche Zuhörer von lateinisch geführten Diskussionen aus.88 Dissertationen bedurften meist erst der Übersetzung, bevor sie von einem breiteren Publikum rezipiert werden konnten. Gerade in Anbetracht der sinkenden Lateinkenntnisse im 18. Jahrhundert erleichterten die akademischen Preisfragen die Wissenskommunikation, indem sie diese Sprachbarriere öffneten.
IX. Repräsentation und Theatralität der Wissenschaft Die akademische Preisfrage reagierte auf Struktur- wie Medienwandel und Epistemewechsel der frühen Neuzeit. Indem in ihrem Zentrum nicht mehr der mündliche Meinungsstreit der disputatio, sondern ein schriftlich abgehaltener Wettbewerb stand, wurde sie für die aufklärerische Wissenskommunikation funktional. Allenfalls retrospektiv kann die disputatio daher als eine »paraschriftliche Institution« angesehen werden.89 Denn ihre institutionengeschichtliche Bedeutung gründet in der frühneuzeitli86 Vgl. Marti, Philosophieunterricht (wie Anm. 78), S. 221f. 87 Vgl. Buschmann, Preisfragen (wie Anm. 13), S. 179. 88 Vgl. Peter Ahlwardt (Pr.) / Karl Heinrich Spitt d. J. (Resp.), Den vorzüglichen Nutzen der in Teutscher Sprache angestellten Akademischen Streithandlungen suchet […] zu vertheidigen […] 6. Februar 1753. Greifswald. Vgl. dazu detailliert Marti, Lateinsprachigkeit (wie Anm. 85), S. 59f. 89 Diesen Begriff für die disputatio prägt Georg Elwert, Die gesellschaftliche Einbettung von Schriftgebrauch, in: Dirk Bäcker u. a. (Hg.), Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1987, S. 238–268, hier S. 253ff.
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chen Repräsentationskultur, deren Symbolträchtigkeit auf die Situativität des Ereignisses begrenzt war. Die disputatio war Teil einer repräsentativen Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, die mit ihrer an Insignien, Habitus, Gestus, Rhetorik und Rituale gebundenen Repräsentation den sozialen Anspruch von Gelehrtenelite und universitärer Institution vertrat.90 Die Funktion der frühneuzeitlichen Dissertation beschränkte sich darauf, dem zentralen Ereignis des Disputationsaktes vorherzugehen, indem sie zu diesem universitären Spektakel einlud: Sie kündigte die disputatio an, nannte Ort, Zeit, Thema sowie Personalien der Beteiligten und diente mit ihrer Thesensammlung als Vorbereitungsmaterial für die Disputanten. Im Anhang befanden sich neben zusätzlichen Thesenangeboten für den Meinungsstreit bereits oft Glückwunschadressen an den Respondenten, die ebenfalls auf die (erfolgreich bestandene) Zeremonie des Disputationsaktes vorauswiesen.91 Die laudationes brachten die allgemeine öffentliche Anteilnahme zum Ausdruck und versicherten den Respondenten des Geleits beim öffentlichen actus. Mit disputationes pro gradu wurde eine Art Initiationsritus der Studenten in den Gelehrtenstand gefeiert.92 Im Zentrum der disputatio als Wissenschaftsformat stand die Performanz des gelehrten Wissens als Zelebration einer (meist bereits tradierten) Wahrheit und der Personen, die sie verkünden.93 Doch wurde die universitäre disputatio als Medium der gelehrten Repräsentation weder übergangslos noch strukturell durch die akademische Preisfrage als Medium der Wissenskommunikation in der räsonnierenden Öffentlichkeit abgelöst. Die konstitutiven Unterschiede beider Wissenschaftsformate zeigen, dass die Preisfrage die disputatio weder ersetzen noch ablösen konnte, auch wenn die Preisfragen gerade aufgrund der wissenschafts-, medien- und institutionengeschichtlichen Unterschiede funktionelle Defizite der disputatio im 18. Jahrhundert zu kompensieren in der Lage waren. 90 Vgl. zum Modell repräsentativer Öffentlichkeit Habermas, Strukturwandel (wie Anm. 6), S. 60ff. Horn bezeichnet die disputatio als »glänzende[s] geistige[s] Kampfspiel, eine Art Turnier«; vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 87. 91 Vgl. Marti, Art. ›Disputation‹ (wie Anm. 45), Sp. 870; Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 71, 86f. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts galt die Dissertation als eigenständige akademische Leistung; vgl. Hanspeter Marti, Art. ›Dissertation‹, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Darmstadt 1994, 2. Bd., Sp. 880– 884, hier Sp. 880ff. 92 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 52, 87. Zur Promotion als »Einsetzungsritual« vgl. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 152ff. 93 Zum Performanzbegriff vgl. Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2004.
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Der mediale Charakter der Preisfragenkultur war aber keineswegs auf Schriftlichkeit beschränkt, auch wenn Anteil und Stellenwert der solennen Preisverleihung für den Vorgang des Preisfragenverfahrens nicht mit der konstitutiven Bedeutung des Disputationsaktes für die disputatio vergleichbar sind. Dass auch die Preisfragenkultur situationsabhängiges Inszenierungspotenzial zu nutzen wusste, zeigen ihre Parallelen und gemeinsamen Traditionen mit der universitären disputatio. Mit verschiedenen Gewichtungen kennzeichnete beide Wissenschaftsformate der Ereignischarakter, der durch theatralische Effekte noch gesteigert wurde.94 Die disputatio führte ihr Rollenspiel auf der Bühne des Katheders auf. Der festliche Rahmen der Veranstaltung war vom akademischen Zeremoniell geprägt. Disputationes solemnes brachten für die Fakultätsangehörigen die Pflicht mit sich, vollständig und im offiziellen Habit zu erscheinen.95 Mit solennen Disputationen zu außerordentlichen Anlässen, etwa bei politischen Ereignissen oder zum Empfang von Würdenträgern, suchten die Universitäten »ein imponierendes Bild« von ihrer Tätigkeit und Leistungsfähigkeit zu geben. Horn nennt die dafür abgehaltenen Disputationen »gewissermaassen [sic!] Schaugerichte, Paradevorstellungen, worin die Universität ihr innerstes Wesen der Oeffentlichkeit präsentierte«.96 Zu einem ähnlich repräsentativen Festakt wurde die Sitzung der Sozietät, in der sie den Namen des Preisträgers bekanntgab. Wie die Universität zelebrierte die gelehrte Gesellschaft nicht allein sachlich die Erweiterung des Wissens, sondern auch sich selbst als Institution, zumal ein auswärtiger Preisträger womöglich gar nicht anwesend sein konnte. Die Preisfrage darf daher als Instrument der Gesellschaften für ihren institutionellen Renommeegewinn in der gelehrten wie in der höfischen Welt nicht unterschätzt werden. Die feierliche Sitzung konnte dazu genutzt werden, die Verbundenheit der Sozietät mit ihrem Protektor zu symbolisieren. Preisverleihungen fielen daher oft auf den Geburts- oder einen anderen Feiertag des Protektors der jeweiligen Akademie, der meist der Landesherr war. So lancierte der Senior der Teutschen Gesellschaft zu Jena, Carl Gotthelf Müller, deren Anspruch, durch fürstliche Anerkennung eine Akademie der höheren Wissenschaften zu werden, mit der statuarischen Festschreibung, die Preisvergabe solle bey der großen Versammlung geschehen,
94 Zur Theatralität der Wissenschaftsformate vgl. vor allem Clark, Academic Charisma (wie Anm. 11) und Marti, Philosophieunterricht (wie Anm. 78), S. 227. 95 Vgl. Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 10; Marti, Art. ›Disputation‹ (wie Anm. 45), Sp. 868. 96 Horn, Disputationen (wie Anm. 10), S. 30. Zum räumlichen Arrangement des Zeremoniells vgl. Füssel, Gelehrtenkultur (wie Anm. 92), S. 166.
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die an dem Geburtstag des Durchlauchtigsten Protectors angestellt wird.97 Er schlug den großen Saal des herzoglichen Residenzschlosses vor, weil er diesen Rahmen für die Preisverleihung als Geburtstagshuldigung für den Erbprinzen Ernst August Constantin von Sachsen-Weimar angemessen fand.98 Die Berliner Akademie verlegte den Termin für ihre feierliche Sitzung zur Preisverleihung unter den Volksbetrugs-Antworten um einen Tag auf den 1. Juni 1780, den Tag von Friedrichs vierzigstem Thronjubiläum.99 Mit dem feierlichen Höhepunkt der Preisverleihung präsentierte sich die Akademie sowohl gegenüber ihrem Protektor als auch gegenüber der Öffentlichkeit. Die Inszenierung der Preisvergabe diente der Selbstversicherung als einer intellektuellen Enklave nach innen und als einer intellektuellen Elite nach außen.100 Doch von der Preisverleihung, die das Preisfragenverfahren nur abschloss, sind Ausschreibungs-, Teilnahme- und Beurteilungsverfahren zu unterscheiden, welche die Neuartigkeit dieses Wissenschaftsformats bestimmten. Die Preisfrage sollte einen überregionalen Kommunikationsprozess anregen und konnte mit der Auszeichnung auswärtiger oder gar ausländischer Preisschriften die Beziehungen in der europäischen gelehrten Welt aktiv gestalten. Die Publikation von Preisfrage und Siegerschrift, welche die Gesellschaft finanzierte, sollte ebenfalls dazu dienen, sich in das Bewusstsein der Öffentlichkeit einzuschreiben.101
X. Von der Irrtümlichkeit der Vorurteilskritik zum Volksbetrug Auf die Volksbetrugs-Preisfrage gingen 42 Schriften ein, von denen den Bedingungen nach lediglich 32 teilnahmeberechtigt waren, da die übrigen den Einsendeschluss überschritten oder die Anonymitätsregel gebrochen hatten. Die Akademiemitglieder urteilten »salomonisch«: Dem Vorschlag Beguelins folgend, den Preis zu halbieren, wurden sowohl eine bejahende als auch eine verneinende Antwort prämiert.102 Den Preis teilten sich 97 Aus den Akten zit. n. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 90. 98 Vgl. ebd., S. 91. Gleiches galt für die Leipziger Gesellschaft; vgl. Döring, Deutsche Gesellschaft zu Leipzig (wie Anm. 2), S. 191f. 99 Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XLVIII. 100 Insoweit ist Hammermayer, der die Exklusivität der Akademien anmahnt, Recht zu geben; vgl. Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 15), S. 11f. 101 Vgl. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 84; Döring, Deutsche Gesellschaft zu Leipzig (wie Anm. 2), S. 192. 102 Vgl. zu den Preisschriften und ihren Verfassern Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1); zum Folgenden vgl. bes. ebd., S. LIIff.
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Frédéric de Castillon mit einer Schrift, die den Volksbetrug rechtfertigt, und Rudolf Zacharias Becker mit einer, die ihn kritisiert. Castillon wurde später als Philosoph an die Militärakademie in Berlin berufen und zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften erhoben. Das Anstellungsgesuch des Pädagogen und Volksaufklärers Becker, der damit rechnen musste, dass er sich mit der Veröffentlichung seiner Abhandlung schaden würde, wurde in Preußen stillschweigend übergangen. Nicht zuletzt aufgrund des Urteils, das Offenheit oder Unentschiedenheit signalisiert, indem es gegensätzliche Meinungen zulässt, ist die Volksbetrugs-Preisfrage eine der spektakulärsten in der Zeit der Aufklärung. Die Diskussion zeigt den Stand von Theorie und Praxis der Aufklärung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts,103 die in der Volksaufklärung einerseits, in den Wöllner’schen Edikten andererseits mündete. Von den Antworten auf die Preisfrage befürwortet ein Drittel den Volksbetrug, zwei Drittel lehnen ihn ab.104 Die abschlägigen Antworten, allen voran die preisgekrönte Schrift von Becker, insistieren auf dem moralphilosophisch uneingeschränkten Wert der Wahrheit, die zugleich objektive Kontrollinstanz von subjektiven (politischen) Interessen und auf ihnen basierenden Handlungsentscheidungen ist. Die rechtfertigenden Antworten wie die zweite preisgekrönte Schrift von Castillon argumentieren im Sinne der in der Frühaufklärung von Thomasius propagierten moralphilosophischen Bestimmung des Menschen, die in Gemütsruhe bzw. in der Wirkung der gewonnenen Wahrheit auf den Einzelnen zu suchen sei.105 Sie reklamieren pragmatische Einschränkungen des Wahrheitsideals zugunsten einer funktionstüchtigen, widerstandslos vom Regenten geführten Gesellschaft. Entgegen dieser Verschiedenheit der Preisschriften zeigt Simone Zurbuchen, dass sich diejenigen Stellungnahmen, die Zensur, von denjenigen, die Denk- und Pressefreiheit fordern, hinsichtlich der Aufklärungsbeschränkung nur graduell unterscheiden. Denn die Plädoyers wider die staatlich regulative Zensur und für eine von den Aufklärern zu verantwortende konstitutive (Selbst-)Zensur bedeuteten nicht den Verzicht auf Kontrolle der Öffentlichkeit.106 Verändert werden lediglich die Kontrollmecha-
103 Vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. LXVI. 104 Vgl. auch die Angaben in der deutschen Publikation von Beckers Preisschrift (wie Anm. 25), S. 70. 105 Vgl. Beckers Preisschrift (wie Anm. 25), S. 146f., 149. 106 Vgl. Zurbuchen, Aufklärung (wie Anm. 25), S. 175ff.
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nismen: Eine äußerlich reglementierungsbedürftige Norm wird zu einer verinnerlichten, als Gewissenhaftigkeit verbrämten Diskursnorm. Der restriktive Umgang mit der Wahrheit, den die Volksbetrugs-Preisfrage in der Spätaufklärung reflektiert, erinnert an die Maßgaben, die der disputatio hundert Jahre zuvor, zur Zeit der Frühaufklärung, für ihre Themenwahl auferlegt worden waren, obwohl sie programmatisch der Beseitigung von Irrtümern und der Vorurteilskritik diente, die auch in Dissertationen »gefordert und manchmal praktiziert« worden war.107 So ist für Zedler die disputatio ein Instrument, Wahrheit zu finden, das als ein Recht der Natur nicht verboten werden könne. Als Beispiel für ein solches Verbot nennt Zedler den Streit der Religionen: Er unterstellt den Mohammedanern, es sei ihnen untersagt, mit Andersgläubigen zu debattieren, weil die Meinungen des Propheten keiner Untersuchung standhalten würden. Bei diesem Verbot handele es sich um einen Politischen Kunst-Griff, das Volck in einem blinden Gehorsam zu erhalten.108 Religion, wenigstens nichtchristliche Religionen sollen als politisch funktionalisierte Herrschaftsmittel enttarnt werden, welche die disputatio als einen Irrtum zu beseitigen in der Lage wäre. Dennoch sind nicht alle Wahrheiten, welche die disputatio hervorbringen könnte, erwünscht. Zedler und Walch forderten: So soll man keine schädliche und gefährliche Materien auf das Tapet bringen, und wenn man etwas neues vorzutragen hat, vorher wohl erwegen, […] ob die Unruhen, die daraus erfolgen dürfften, grössern Schaden verursachen möchten, als etwa der vermeinte […] Nutze[n] austrage […]. Es erfordert die Klugheit, daß man zuweilen den Vorurtheilen der Leute nachgiebt, […].109 Unterschieden wird zwischen Weisheit, dem Wahrheitswissen, und Klugheit als der Wahrheit »rechtem« Gebrauch. Um unangenehme Folgen zu verhindern, solle man auf die Verkündung neuer Wahrheiten besser verzichten. Die den Volksbetrug rechtfertigenden Abhandlungen argumentieren, dass bewährte Vorurteile und Irrtümer vorteilhaft seien und sie auszuräumen Schaden heraufbeschwören könne. So behauptet Mund, dass die Bekämpfung von Vorurteilen, dass Vernunfttätigkeit generell, eine Gefahr für die körperliche Kondition und damit für die physische Produktivität berge:
107 So Marti, Philosophieunterricht (wie Anm. 78), S. 224; vgl. auch ders., Kommunikationsnormen (wie Anm. 10), S. 339. 108 Vgl. Zedler, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm 19), Sp. 1067. 109 Walch, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 17), Sp. 532; ähnlich auch Zedler, Art. ›DisputirKunst‹ (wie Anm 19), Sp. 1065.
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Daß die Erforschung der Wahrheit einen siechen Leib verursache, ist oben bereits bewiesen […]. Sollte nun gar die Begierde, gelehrte Abhandlungen über PreißAufgaben zu schreiben unter dem Volcke einreissen; wie viele gute Bürger, die nur vermöge ihrer körperlichen Schwere erst recht nüzen, würde das Vaterland verliehren?110
Mund beruft sich in seiner Argumentation auf in der Hoch- und Spätaufklärung gewonnenes anthropologisches Wissen über das commercium mentis et corporis, aus dem Konzessionen an die positiven Effekte von Vorurteilen erwuchsen. Einsichten in die psychophysische Konstitution des Menschen ließen nach 1750 die Grenzen der menschlichen Urteilsfähigkeiten und damit Probleme, die aufklärerische Zielstellung von Vorurteilsfreiheit zu realisieren, erkennen.111 Die Diskussion um die neu begründete Legitimität von Vorurteilen indiziert die »Pragmatisierung« der Aufklärung als »Pluralisierung und Quantifizierung der Vernunft«.112 Becker bescheinigt den Preisschriften von Castillon und Gebhard, die dem Volksbetrug zustimmen, modern anmutende, »empirische« und induktive Argumentationslogik, da sie alle diejenigen Irrtümer aufzählten, die nützliche Auswirkungen zeigten. Damit hätten sie den Weg der Indukzion gewählt, ihren Sazz zu erweisen.113 Von Modernität in der Argumentationsstruktur ist demzufolge nicht auf eine progressive Autormeinung zu schließen.114 Das frühaufklärerische Ziel, Wahrheitsdogmatismus zu entmachten, wird hier für die gegenteilige Zielstellung einer konservativen, politisch restriktiven Argumentation instrumentalisiert.115 Die frühaufklärerische disputatio, die ihrer Definition nach Irrtümer beseitigen sollte, verlangte von den Disputanten, sich von den Vorurthei-
110 I-M 768 (Mund), (wie Anm. 22), S. 831. Der Duktus des Textausschnitts könnte für ironisch gehalten werden, doch fehlt hier die Gegenfolie, die Ironie als solche zu erkennen geben würde. Demzufolge ist Munds Vergleich als ernst gemeinte Warnung zu verstehen. Diese Auslegung bestätigt, dass Mund in der überarbeiteten Fassung seines Manuskripts das Frage- in ein Ausrufungszeichen abändert; vgl. Mund, Abhandlung (wie Anm. 83), Sp. 877. 111 Vgl. dazu Godel, Vorurteil (wie Anm. 33). 112 Vgl. Hans Adler, Aufklärung und Vorurteil oder: Philosophie und Volksbetrug, in: Edward Bialek (Hg.), Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orlowski, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 657–676, hier S. 675. 113 Becker, (wie Anm. 25), S. 145f. 114 So führt Gebhard eine Art Wahrscheinlichkeitsrechnung durch, um den Volksbetrug zu befürworten; vgl. I-M 766 (Gebhard), (wie Anm. 31), S. 753ff. 115 Vgl. zur politischen Instrumentalisierung des Vorurteilsbegriffs in der Spätaufklärung Godel, Vorurteil (wie Anm. 33), S. 359ff.
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len [zu] befreyen.116 Doch galt diese Forderung nach Vorurteilsdestruktion nicht generell auch von denen Vorurtheilen anderer.117 Argumentativ ähnlich legt Mund seiner Volksbetrugs-Preisschrift einen sozialständisch abzuwägenden Vorurteilsabbau zugrunde, wenn er, wie gesehen, Friedrich II. im Unterschied zu seinen Untertanen Vorurteilsfreiheit zugesteht. Die Volksbetrugs-Preisfrage diskutiert die sozialpragmatischen Grenzen der Vorurteilsbekämpfung. Damit spiegelt sie symptomatisch wider, wie sich das frühaufklärerische Ziel von Irrtums- und Vorurteilskorrektur in spätaufklärerische Zugeständnisse an die Unhintergehbarkeit von Vorurteilen verkehrte – argumentativ mithilfe der anthropologisch basierten Differenzierung des Erkenntnisprozesses. Die Volksbetrugs-Preisschriften erwogen nicht mehr nur die von Gott gegebene Irrtumsanfälligkeit des Menschen, vielmehr auch seine der anthropologischen Konstitution zuzuschreibende Vorurteilshaftigkeit, die sich der Aufklärbarkeit des Einzelnen und damit dem Ideal der Aufklärung widersetzt. Forquet distanziert sich von seiner Preisschrift mit der Formulierung: Ich habe mich gewißermaßen geirrt, indem ich den Irrtum bekämpfen wollte.118 Folgerichtig wurde nun auch das Preisfragenverfahren verdächtig, Vorurteilen zu unterliegen. Bezüglich einer anderen Preisfrage kommentiert die Salzburger ›Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung‹, die Münchener Akademie sei intellektuell befangen: Ihre Preisverleihung beweise, daß die Commissarien einerlei Meinung mit dem Verfasser schon vorher gehabt hatten, folglich leicht zu überzeugen waren.119 Dieser Kritik zufolge gebe die Preisfrage nicht dem Widerspruch Raum, vielmehr habe die Gelehrtenjury diejenige Ansicht ausgezeichnet, die sie selbst vertrete. Obwohl gerade die Volksbetrugs-Preisfrage unter manchen institutionellen Aspekten eine Ausnahme darstellte, war sie dennoch das »Flaggschiff«, das Signale gesetzt hat120 – hinsichtlich der Grenzen des diskursiven Instruments »Preisfrage« und hinsichtlich ihres Themas, der Aufklärung.
116 So Thomasius in der ›Ausübung der Vernunft-Lehre‹; vgl. Walch, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm. 17), Sp. 525f., 528. 117 Vgl. Zedler, Art. ›Disputir-Kunst‹ (wie Anm 19), Sp. 1065. 118 Brief von Forquet an Formey vom 10. Januar 1781; zit. n. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. LVII. 119 Vgl. Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung vom 28. September 1791, S. 609; zit. n. Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 15), S. 67f. 120 Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XV, XXXIV.
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XI. Reichweite der Wissenschaftsformate »disputatio« und »Preisfrage« Preisfragen beförderten die Transformation des Wissenschaftsdiskurses im 18. Jahrhundert von der universitätsintern geführten disputatio hin zu einer von der aufklärerischen Öffentlichkeit getragenen Wissenskommunikation. Eine Bedingung dafür ist die Publizität des Preisfragenwettbewerbs gegenüber dem mündlichen, institutionengebundenen Meinungsstreit. Den medialen Charakteristika korrespondiert das epistemische Ziel beider Wissenschaftsformate: Die Gültigkeit der in der disputatio zelebrierten Wahrheit bleibt an das Geschehen im Disputationsakt selbst gebunden. Als situativ konstituiertes Wissen bedarf sie der stetigen Wiederholung und tendiert daher zur Wahrheitsdogmatik. Demgegenüber sind Preisschriften zwar vorläufige, aber fixierte Meinungsäußerungen, die kumulative Wissenselemente zur Diskussion stellen, speichern und verfügbar machen. Wissenschaft wird zum induktiven, unabgeschlossenen Erkenntnisprozess. Die disputatio stellte einen fest terminierten Prozess der Wissensüberprüfung zur Scheidung von Wahrheit und Irrtum dar, an dessen Ende der obligatorische Sieg der Wahrheit zu erwarten stand. Diese Stereotypie erklärt für Chladenius, warum die disputatio von seinen Zeitgenossen abgewertet wird: Die Gewohnheit bringt es mit sich, daß der Opponente, auch nach dem härtesten Streite, dennoch denen Vertheidigern der Disputation recht giebt, da doch nicht zu vermuthen, daß dieselben allemahl recht hätten: und solches scheinet dem Ernste des Streites und der angestellten Untersuchung zuwider zu seyn.121
Zudem bestehe das in Disputationen präsentierte Wissen aus dem stets repetierten Einerlei derselben Themen und bekannten Wahrheiten, die immer wieder ventiliret worden seien.122 Während die disputatio ein Zeremoniell der Wahrheitsverkündung war,123 trennte die Preisfrage den sachlichen, anonym geführten wissenschaftlichen Erkenntnisprozess von der erst anschließend zelebrierten Preisverleihung. Der Disputationsakt verkündete absolute, kanonisierte, 121 Chladenius, Untersuchung (wie Anm. 9), S. 3f. 122 Vgl. Chladenius, Untersuchung (wie Anm. 9), S. 4. 123 Am Beispiel der Disputationsgegner von Theodor Ludwig Lau vgl. Hanspeter Marti, Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jahrhunderts. Theodor Ludwig Laus Scheitern an der juristischen Fakultät der Universität Königsberg, in: Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 295–306, hier S. 303.
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von vornherein siegesgewisse Wahrheit (personifiziert durch den Präses), dagegen initiierte die Preisfrage – wenigstens programmatisch oder idealiter – einen entscheidungsoffenen, meinungspluralen, kumulativen Erkenntnisprozess. Eingeschränkt wurde die Offenheit dieses Verfahrens durch die akademieinterne Beurteilung der eingehenden Preisschriften. Ihr institutioneller Prozess der Wahrheitsfindung war nicht öffentlich. Verkündet wurde nur das Begutachtungsergebnis, im Regelfall nur eine Preisschrift, folglich nur eine Wahrheit. In der Preisverleihung feiert die Sozietät weniger den Preisträger als sich selbst. Die akademische Wissenschaftskultur teilt daher repräsentative Merkmale mit der universitären. Doch drängt die durch die Preisfrage beförderte Wissenskommunikation über die institutionellen Grenzen hinaus. So müssen sich die Akademien bei Ersch / Gruber sogar den Vorwurf gefallen lassen, dass sie durch das Stellen von Preisaufgaben von Anderen erfahren wollen, was sie selbst nicht wissen, und durch Andere thun lassen wollen, was selbst zu thun ihnen beschwerlich fällt.124 Die Akademien delegierten demzufolge ihre Forschungsaufgabe an die gelehrte Öffentlichkeit. Obwohl die Akademie schließlich den Wahrheitscharakter des von ihr als Frage gestellten Sachverhalts festsetzte, erhöhte die anschließende Forschungsarbeit die Tragweite der Preisfrage sowie der durch sie initiierten und publizierten Preisschriften. Die im Wettbewerb gewonnene Wahrheit galt als eine mit dem Einsendeschluss nur vorläufige, nur relative Wahrheit.125 So resümieren Ersch und Gruber, dass der Nutzen der Preisfrage unter anderem darin bestanden habe, dass sie manche Vorarbeit zu weiteren Untersuchungen veranlaßt.126 Nach dem Wettbewerb begannen erst die öffentlichen Diskussionen. Prämierte und nichtprämierte Preisschriften sowie Kommentare zur Preisfrage wurden veröffentlicht, um das gewonnene Ergebnis zu verbreiten, aber auch kritisch zu hinterfragen oder gar zu korrigieren.127 Die ausgezeichnete Preisschrift gab nur einen vorläufigen Erkenntnisstand wieder. Dass sie den Preis gewonnen hatte, bewies nicht die absolute Güte oder Wahrheit einer Abhandlung oder des behaupteten Satzes, also noch nicht einmal die Richtigkeit der Antwort,128 sondern nur, dass sie unter der begrenz124 L. Wachler, Art. ›Akademien‹, in: Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste […], Leipzig 1819, 2. Bd., S. 280–284, hier S. 283. 125 So auch Buschmann, Preisfragen (wie Anm. 13), S. 174. 126 Vgl. Wachler, Art. ›Akademien‹ (wie Anm. 124), S. 283. 127 Zu Jean Pauls bissiger Kommentierung der Volksbetrugs-Preisfrage vgl. Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. Lf. 128 Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung (wie Anm. 119), S. 609.
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Gunhild Berg
ten Anzahl von Zuschriften die argumentativ überzeugendste gewesen war. Die gekrönte Preisschrift war nicht kanonisierte Wahrheit, sondern nur die relativ beste Erkenntnis.
XII. Funktionsverluste der Preisfrage als aufklärerischem Wissenschaftsformat Die Hohezeit der Preisfrage beschränkt sich – wohl aus vier Gründen – auf den Wissenschaftsdiskurs des 18. Jahrhunderts.129 Erstens zeigt das Beispiel der Berliner Preisfrage von 1780 schlaglichtartig die Grenzen auch von Aufklärung und Öffentlichkeit im Spiegel der Preisfragen. Zweitens waren Preisfragen wie Dissertationen der Medienkonkurrenz gegenüber der Wissenskommunikation im Zeitschriftenwesen ausgesetzt, das nicht wie sie von vornherein thematisch, zeitlich und formal eingeschränkt war und damit flexibler agieren konnte. Drittens verlor die Preisfrage an breiter öffentlicher Aufmerksamkeit durch die disziplinäre Ausdifferenzierung der Wissenschaften am Ende des 18. Jahrhunderts, in deren Folge auch die Preisfragen thematisch immer spezifischer wurden.130 Dieser Spezialdiskurs schmälerte die Relevanz der einzelnen Preisfrage, die Beteiligung daran und ihre öffentliche Wahrnehmung. Konkrete Aufträge gaben die sich um 1800 häufenden Preisaufgaben, die darin bestehen, daß man in der Haushaltung, in den technischen Gewerben etc. etwas erfinden, versuchen, oder sonst zu Stande bringen solle.131 Für die Ausführung dieser Handlungsanweisungen überwiegend im (agrar-)ökonomischen und -technologischen Bereich wurden meist vom Landesherren Prämien in Aussicht gestellt. Viertens wurden die universitären Wissenschaftsformate nach der Reformierung der Universitäten und des Disputations- bzw. Dissertationswe129 Die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften belebte jüngst die Preisfragen-Kultur neu, allerdings nicht im Anknüpfen an die aufklärerische Tradition der Erkenntniserweiterung, aber doch als Medium der öffentlichen Wissenskommunikation, nämlich als »Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft«; vgl. http:// www.diejungeakademie.de/preisfrage/frameset_01.htm (visitiert im Oktober 2007). 130 Vgl. Cornelia Buschmann, Le roi philosophe? Die Preisfrage nach Friedrichs Einfluß auf die Aufklärung seines Jahrhunderts in der königlichen Akademie, in: Martin Fontius (Hg.), Friedrich II. und die europäische Aufklärung, Berlin 1999, S. 113–125, hier S. 116; Adler, Ist Aufklärung teilbar? (wie Anm. 1), S. XXIII. Marwinski erwägt darüber hinaus Missverhältnisse von Preisgeldhöhe und Arbeitsaufwand sowie von Teilnahmefreudigkeit und fehlender Sachkenntnis als Ursachen für den Rückgang der Preisfragenkultur in der Jenaer Gesellschaft; vgl. Marwinski, Teutsche Gesellschaft zu Jena (wie Anm. 53), S. 118. 131 Vgl. Krünitz, Art. ›Preisfrage‹ (wie Anm. 54), S. 185.
Preisfragen als aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio?
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sens im 19. Jahrhundert wieder konkurrenzfähig. Die Statuten der Berliner Universität von 1816 forderten vom Doktoranden eine Dissertation, die zwar noch in Latein, aber von ihm selbst verfasst und verteidigt werden musste.132 Die Verpflichtung des Respondenten bzw. Dissertanten auf eine wissenschaftliche Eigenleistung förderte innovative Forschung, an der teilzuhaben der allmähliche Wechsel zur Deutschsprachigkeit ermöglichte. Dadurch wandelte sich die disputatio zu einem modernen, aufklärerischöffentlichen Wissenschaftsformat.
132 Vgl. Marti, Art. ›Dissertation‹ (wie Anm. 91), Sp. 882.
III. Mediale und soziale Verbindungen
Johannes Klaus Kipf
Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts Innerhalb der deutschen Literaturgeschichte gibt es wohl keine literarische Gattung, die so direkt mit der Disputation, dem Leitmedium universitärer Wissenskultur, verbunden ist, wie die akademische Scherzrede. Unter diesem Begriff wird hier im Anschluss an die literaturgeschichtliche Forschung1 eine Gruppe zumeist im Druck überlieferter Texte aus dem ausgehenden 15. und dem beginnenden 16. Jahrhundert verstanden, in der in scherzhaft-spielerischer Weise eine oder mehrere Fragen in akademischer Manier beantwortet werden. Die akademischen Scherzreden sind aus der universitären Instititution der Quodlibet-Disputation entstanden, weisen aber gleichwohl einen hohen Grad an Literarisierung auf. Mein Beitrag verfolgt das Ziel, den Bestand und die Überlieferung dieser Textreihe zu sichten, ferner die Fragen nach der Existenz einer Gattung »akademische Scherzrede« und nach ihrem medialen Status zu stellen und anhand der Befunde der Überlieferung zu beantworten. Wenn hier von der »Gattung« der akademischen Scherzrede die Rede ist, so ist stets die literarische Gattung als eine historische Reihe aufeinander bezogener und zusammengehöriger Texte gemeint, nicht die Arten der universitären Disputation und ihre Überlieferungstypen.2 Gleichwohl ist diese an Umfang kleine Textreihe ein 1
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Den Forschungsstand repräsentiert nach wie vor Erich Kleinschmidt, Scherzrede und Narrenthematik im Heidelberger Humanistenkreis um 1500. Mit der Edition zweier Scherzreden des Jodocus Gallus und dem Narrenbrief des Johannes Renatus, in: Euphorion 71 (1977), S. 47–81. – Einen anderen Begriff der Scherzrede als einer »Untergruppe des Apophthegmas« umreißt im Anschluss an Theodor Verweyen (Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert, Bad Homburg u. a. 1970) Frank Wittchow, Art. ›Scherzrede‹, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin / New York 2003, S. 374f. Um das Phänomen, um das es in diesem Beitrag geht, klar von der Unterart des scherzhaften Apophthegmas abzugrenzen, spreche ich konsequent von ›akademischer Scherzrede‹ (so auch Kleinschmidt, Scherzrede, S. 48, 73 u. ö.). Vgl. dazu den Beitrag von Olga Weijers in diesem Band.
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literarisches Phänomen, das der akademischen Institution nähersteht als etwa die Integration disputativer Muster in literarische Gattungen, die für sich nicht unmittelbar mit der mittelalterlichen Universität verbunden sind,3 näher auch als solche literarischen Gattungen, deren Vertreter oftmals den Begriff disputatio oder ein volkssprachiges Lehnwort (disputation, disputaz) im Titel führen.4 Ich werde mich auf die sechs im Druck überlieferten akademischen Scherzreden (aus Heidelberg und Erfurt) konzentrieren und dabei den Fragen nachgehen, welche literarischen Rahmenbedingungen ihren Druck begünstigt haben könnten, ob Spuren des mündlichen Vortrags, von Performativität, in den gedruckten Texten erkennbar sind, welche literarischen Traditionen in den zumeist zweisprachigen (lateinisch-deutschen) Reden aufgenommen und weitergeführt werden, schließlich, in welchen Bereichen der lateinischen und deutschen Literatur der frühen Neuzeit, besonders des 16. Jahrhunderts, Wirkungen dieser kurzlebigen, aber literaturgeschichtlich instruktiven Textreihe feststellbar sind. Ich beginne mit einem Überblick über die erhaltenen akademischen Scherzreden, ihre Überlieferung und die Verankerung der Textgruppe in den Statuten der mittelalterlichen Universitäten im Reich (I.). In einem zweiten Punkt gehe ich der Frage nach dem Verhältnis von (möglicher) Performanz und Medialität der erhaltenen Scherzreden nach. Der dritte Abschnitt dient der Frage, ob die akademischen Scherzreden sinnvollerweise als Gattung zu bezeichnen sind. Der vierte und letzte versucht, die Ergebnisse der vorausgehenden Beobachtungen und Überlegungen in der Beantwortung der Frage nach dem medialen Status der Textreihe »akademische Scherzrede um 1500« zu bündeln.
I. Die akademischen Scherzreden und ihre Verankerung in den Universitätsstatuten Regelmäßig abgehaltene disputationes quodlibeticae sind allein für Leipzig und Tübingen bezeugt. In den Statuten geregelt und unregelmäßig abgehalten wurden sie in Prag, Wien, Erfurt, Heidelberg und Köln.5 Der institutionelle Anknüpfungspunkt für die späteren akademischen Scherzre3 4
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Vgl. die Beiträge unter »IV. Lateinische Gelehrtenkultur und literarische Adaptationen« in diesem Band. Vgl. etwa Hans Rosenplüt, ›Ein Disputatz eins freiheits mit eim juden‹ (vor 1460) oder Hans Sachs, ›Disputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher, darinn das wort gottes und ein recht Christlich wesen verfochten würdt‹ (1524). Vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 47 mit Anm. 1f.
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den wird erstmals in den Wiener Universitätsstatuten von 1389 greifbar. Dort wird zugestanden, dass in der Quodlibet-Disputation ›den ernsten Gegenständen ehrliche Scherze beigemischt werden‹ (seriis ioca misceantur honesta) 6. Analog gestatten die (von den Wiener abhängigen) Kölner Statuten von 1398 die Behandlung scherzhafter Fragen in der QuodlibetDisputation.7 Neben den ernsten Materien und Fragen sollen im Quodlibet demnach auch scherzhafte Fragestellungen zugelassen sein, sofern sie das Gebot der Schicklichkeit nicht verletzen. An das Zugeständnis, über scherzhafte Materien – Scherzfragen sind gerade nicht gemeint, denn diese sind nicht ergebnisoffen, sondern setzen eine bestimmte Antwort, die die Pointe bildet, voraus8 – zu disputieren, knüpft sich ein Brauch, der auch an anderen Universitäten des Reichs statthatte, und dessen Zeugnisse gerade nicht denjenigen Universitäten entstammen, für die die Existenz des Brauchs urkundlich belegt ist. In der Forschung bekannt sind akademische Scherzreden, die erkennbar der Quodlibet-Disputation entstammen, nämlich nicht aus Wien oder Köln, sondern aus Heidelberg und Erfurt. Es handelt sich um neun Texte, die nach heutigem Kenntnisstand von drei Handschriften und zahlreichen Drucken, darunter jedoch nur vier verschiedenen Erstdrucken, überliefert werden. Allen Scherzreden ist gemein, dass sie zum Abschluss der oft mehrtägigen disputationes de quolibet oder quodlibeticae 9 an einer Universität gehalten wurden oder dies zumindest vorgeben; daher ihre Bezeichnung als ›Reden‹. Jede dieser Reden (oder Abhandlungen) beantwortet eine bestimmte Frage (quaestio), daher werden sie vom Germanisten und Universitätshistoriker Friedrich Zarncke, der erstmals auf sie aufmerksam machte10 und die ihm bekannten Scherzreden edierte, in Anlehnung an die Gattungszuordnungen der Tituli in der Überlieferung auch als quaesti6 7
Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Bd. 2, Wien 1854, S. 219. Vgl. Franz Josef von Bianco, Versuch einer Geschichte der ehemaligen Universität und der Gymnasien der Stadt Köln, Köln 1833, S. 435: […] quod in huiusmodi quodlibetis ioca seriis misceantur. 8 Vgl. zur Definition der Scherzfrage als eines abgekürzten Witzes Tomas Tomasek, Scherzfragen – Bemerkungen zur Entwicklung einer Textsorte, in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hg.), Kleinstformen der Literatur, Tübingen 1994, S. 216–234. 9 Zur spätmittelalterlichen Quodlibet-Disputation vgl. Gerhard Kaufmann, Die Geschichte der deutschen Universitäten, Bd. 2, Stuttgart 1896, S. 381–395; Bernardo C. Bazàn, Les questions disputées principalement dans les facultés de théologie, in: ders. u. a. (Hg.), Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, du droit et de médecine, Turnhout 1985, S. 25–40; Olga Weijers, La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts du moyen âge, Turnhout 2002. 10 Friedrich Zarncke, Ueber die Qaestiones [!] quodlibeticae, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 9 (1853), S. 119–126 (wieder in ders., Kleine Schriften, Bd. 2, Leipzig 1898, S. 9–14).
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ones fabulosae bezeichnet.11 Ich stelle die bislang bekannten Reden und ihre jeweils älteste Überlieferung zusammen:12 1. Anonyme Heidelberger quaestiones minus principales von 1458, handschriftlich in der Bibliotheca Apostolica Vaticana Cod. pal. lat. (Cpl) 870.13 2. Bartholomaeus Gribus, ›Monopolium philosophorum vulgo der Schweinezunfft‹ (Heidelberg 1478/79), Redaktion I handschriftlich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin Ms. lat. fol. (Mlf ) 49, 87r–88r;14 Redaktion II erstmals gedruckt in: Directorium statuum seu verius tribulatio seculi, [Straßburg:] Peter Attendorn [1489]. [GW 8476].15 3. Jodocus Gallus, ›Monopolium et societas vulgo des Lichtschiffs‹ (Heidelberg 1489), im selben Druck wie Nr. 2.16 4.–5. Jodocus Gallus, Zwei quaestiones minus principales (Heidelberg 1492), handschriftlich in der Bibliothèque municipale Sélestat (Schlettstadt) Ms. 116, 8v–9v u. 10r–16v.17 6. Johannes Schram, ›Monopolium der Schweinezunft‹ (Erfurt 1494), gedruckt: [Erfurt: Drucker des Hundorn oder Heidericus und Marx Ayrer 1494]. [VB 1117]; [Leipzig: Martin Landsberg 1494]. [HC 14527];18 Olmütz: Martin Preinlein 1499 [C 5315].19
11 Friedrich Zarncke, Die deutschen Universitäten im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Charakteristik derselben, 1. Beitrag, Leipzig 1857, S. 232. 12 Für den Nachweis von Inkunabeln werden (zusätzlich zum Gesamtkatalog der Wiegendrucke [GW]) folgende Siglen verwendet: C = Walter Arthur Copinger, Supplementum to Hain’s Repertorium bibliographicum, London 1895–1902. H = Ludwig Hain, Repertorium bibliographicum, in quo libri omnes ab arte typographica inventa usque ad annum MD […] recensentur, Stuttgart / Paris 1825–1836 (ND Milano 1948). VB = Ernst Vouilléme, Die Inkunabeln der Königlichen Bibliothek zu Berlin und der anderen Berliner Sammlungen. Nachträge, Leipzig 1906–1927 (ND Wiesbaden 1968). 13 S. u. III. 14 Ausgabe bei Wilhelm Wattenbach, Aus einer Humanistenhandschrift, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N. F. 21 (1874), Sp. 212–216, 244–254, 272–278, hier S. 247– 251. 15 Zu Lebensdaten und der Überlieferung vgl. Franz Josef Worstbrock, Art. ›Gribus, Bartholomäus‹, in: ²VL (Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, 2. völlig neu bearb. Aufl.) 3 (1981), Sp. 254–256. S. u. II.1. 16 S. u. II.1. 17 Vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 67, 73–80 (mit Ausgabe). 18 Vgl. Holger Nickel, Erfurter Buchdruck im 15. Jahrhundert, in: Ulman Weiß (Hg.), Erfurt. Geschichte und Gegenwart, Weimar 1995, S. 333–340, hier S. 335f. (plädiert für den Leipziger Druck als Erstdruck). 19 Vgl. Franz Josef Worstbrock, Art. ›Schram, Johannes‹, in: ²VL 8 (1992), Sp. 844f. – Worstbrock kennt nur zwei Drucke, da er den Erfurter Druck (VB 1117) versehentlich mit H *14527, dem Leipziger Druck, identifiziert.
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7. Jakob Hartlieb, ›De fide meretricum in suos amatores‹ (Heidelberg 1499), gedruckt [Basel: Jakob Wolff um 1501]. [VD 16, O 660]. Zahlreiche weitere Drucke, zumeist gemeinsam mit Nr. 8.20 8. Paulus Olearius, ›De fide concubinarum in sacerdotes‹ (Heidelberg 1499), im selben Druck wie Nr. 7.21 9. ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ (Erfurt 1515?), erstmals gedruckt: [Erfurt: Matthes Maler] 1515. [VD 16, E 1496].22 Mindestens neun weitere Drucke im 16. Jahrhundert.23
Fassen wir diesen Befund nach chronologischen Gesichtspunkten zusammen, so ergibt sich: Die älteste bekannte quaestio minus principalis einer Quodlibet-Disputation (aus Heidelberg) datiert von 1458, der älteste Druck (zweier Heidelberger Scherzreden von 1478/79 beziehungsweise 1489) von 1489, der jüngste Erstdruck (einer Erfurter Scherzrede) von 1515. Da die Existenz von Reden scherzhaften Inhalts, die zum Abschluss der Quodlibet-Disputationen vorgetragen wurden, institutionell von Universitätsstatuten abhängen, deren älteste (Wien) von 1389 datieren, stellt sich die Frage, wie der lange Zeitraum bis zur ältesten erhaltenen Scherzrede (1458 beziehungsweise 1478/79) und die kurze Spanne bis zum jüngsten bekannten Glied (1515) der literarischen Reihe zu erklären sind. Darauf wird abschließend einzugehen sein. Eindeutig sind die Angaben der Reden über ihre Intentionalität. Die meisten der erhaltenen Scherzreden führen bereits im Titel eine Gattungsangabe, die den Quaestionencharakter unterstreicht.24 Sie werden in den Werktiteln der zeitgenössischen Drucke je zweimal quaestio minus principalis 25 und quaestio accesoria26 genannt. Dieselben Bezeichnungen, questio […] minus principalis beziehungsweise questio minus principalis et accessoria, begegnen auch in den Zeugnissen der nur handschriftlich überlieferten Heidelberger Quodlibet-Quaestionen.27 Die Titel der Drucke verwenden daneben die Begriffe quaestio fabulosa28 oder quaestio facetiarum et urbani20 21 22 23
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Zu Lebensdaten und der weiteren Überlieferung s. u. II.3. S. u. II.3. S. u. II.4. Vgl. Gerlinde Huber-Rebenich / Sabine Lütkemeyer, Art. ›Hessus, Helius Eobanus‹, in: Franz Josef Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1/4, Berlin / New York 2008, Sp. 1066–1122, hier Sp. 1084. Vgl. die Zusammenschau der Gattungsbezeichnungen bei Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 48 mit Anm. 6. Jodocus Gallus und Jakob Hartlieb; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 51, 67. Bartholomäus Gribus und Paulus Olearius; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 61, 88. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 73. Johannes Schram; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 103.
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tatis plena29. Paulus Olearius nennt die ihm vorgelegte Frage auch innerhalb seiner Rede eine quaestio minus principalis.30 Darüber hinaus werden die Scherzreden in den Titeln häufig mit weiteren Attributen versehen, die ihren scherzhaften oder fiktiven Charakter näher qualifizieren. Attribute wie excitandi ioci et animi laxandi causa31, pro excitando ioco solacioque auditorum32, causa ioci et vrbanitatis33 beziehungsweise vrbanitatis et facetiae causa34 benennen mehrfach die Wirkungsabsicht der Scherzreden, die der Entspannung, der Heiterkeit und dem Scherz dienen wollen.
II. Performanz und Medialität. Redevortrag im Quodlibet-Akt und überlieferter Text 1. Bartholomaeus Gribus’ ›Monopolium philosophorum vulgo der Schelmenzunfft‹ Das Verhältnis von gehaltener Rede und (handschriftlich beziehungsweise im Druck) überliefertem schriftlichen Text soll im Folgenden anhand der sechs gedruckten Scherzreden aufgezeigt werden. Ich beginne mit der ältesten der im Druck überlieferten Reden, mit Bartholomaeus Gribus’ ›Monopolium philosophorum vulgo der Schelmenzunfft‹.35 Sie wurde bei der Heidelberger Quodlibet-Disputation von 1478 oder 147936 unter dem Vorsitz Jakob Wimpfelings37 gehalten,38 der die Rede 1489 gemeinsam mit einer zweiten Scherzrede, Jodocus Gallus’ ›Monopolium et societas
29 So der Titel der anonymen Erfurter Rede ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ von 1515; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 116. 30 Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 89. 31 Jodocus Gallus; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 51. 32 Johannes Schram; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 61. 33 Paulus Olearius; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 89. 34 Jakob Hartlieb; Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 67. 35 Hg. von Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 61–66. Der Titel folgt dem Inhaltsverzeichnis des Erstdrucks (ebd., S. 236). – Zitate, auch aus anderen Schriften, die mit Seitenzahl in runden Klammern im Text nachgewiesen sind, beziehen sich im Folgenden stets auf diese Ausgabe. 36 Zur Datierung vgl. August Thorbecke, Die älteste Zeit der Universität Heidelberg 1386– 1449, Heidelberg 1886, S. 75 mit Anm. 152, S. 63*. 37 Vgl. zu Leben und Werk Dieter Mertens, Jakob Wimpfeling (1450–1528). Pädagogischer Humanismus, in: Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, Stuttgart ²2000, S. 35–58. 38 Der Vorsitz Wimpfelings wird bezeugt in einem im Druck vorangehenden Brief eines Heidelberger Magisters, der bei Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 238, abgedruckt ist.
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vulgo des Lichtschiffs‹ (vom selben Jahr)39 in dem Sammeldruck ›Directorium statuum seu verius tribulatio seculi‹ (GW 8476) drucken ließ.40 Bereits durch den Titel (›Reiseweg der Stände oder zutreffender Bedrängnis der Zeit‹), der auf den Drucker Peter Attendorn zurückgeht,41 aber auch durch die weiteren im Sammeldruck enthaltenen Texte,42 Reden des Straßburger Münsterpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg vor der Synode seiner Diözese (1482)43 und des Jodocus Gallus vor der Speyrer Bistumssynode (1489) sowie die anonyme ›Epistola de miseriis curatorum aut plebanorum‹,44 werden die beiden Scherzreden in einen ethisch-protreptischen Kontext gestellt, der für sie ebenfalls eine adhortative Funktion nahelegt, die den Texten selbst kaum zu entnehmen ist. Diese Funktionalisierung als Satire gegen die Unsitten der Studenten und Kleriker verstärkt der Herausgeber Wimpfeling noch, wenn er in seinem Widmungsbrief an den Drucker Peter Attendorn (Speyer, 15. Okt. 1489) die beiden Reden Schülern und Studenten zur Lektüre empfiehlt, die sich dadurch von standestypischen Lastern wie pigritia, indiligentia und inconstantia abwenden sollen.45 Die gefährdeten Studenten mögen sich, so Wimpfeling, vor den genannten Lastern hüten, wenn sie nicht das von Gallus beschriebene Lichtschiff (›Leichtschiff‹) besteigen wollten. Die Rede des Gribus beschreibe die Lebensweise der Philosophen – gemeint sind Studenten und Magister der Artes-Fakultät –, denen eine übertriebene Sorge um das körperliche Wohlbefinden ebensowenig anstehe wie das Streben nach Reichtum oder die Hingabe an weltliche Genüsse.46 Dass beide Reden erheitern wollen, leugnet Wimpfeling dabei nicht, doch betont er, dass die Komik der Reden im Rahmen des Anstands bleibe: Est illic iocus, attamen honestus urbanus 39 Abdruck in: Sebastian Brant, Narrenschiff, hg. v. Friedrich Zarncke, Leipzig 1854 (ND Hildesheim 1961 u. ö.), S. LXVIII–LXXII; sowie bei Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 51–61. 40 Das Exemplar der Herzog August Bibliothek ist im Rahmen der ›Verteilten Digitalen Inkunabelbibliothek‹ als Onlinedigitalisat verfügbar; vgl. URL: http://diglib.hab.de/wdb. php?dir=inkunabeln/53-quod-13 (01.09.2007). 41 Vgl. seinen Brief an den Herausgeber Wimpfeling (24.10.1489) in: Jakob Wimpfeling, Briefwechsel, hg. v. Otto Herding / Dieter Mertens, München 1990, Bd. 1, S. 157f., Nr. 19. 42 Inhaltsangabe des Drucks bei Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 236. 43 Vgl. Herbert Kraume, Art. ›Geiler, Johannes, von Kaysersberg‹, in: ²VL 2 (1980), Sp. 1141– 1152, hier Sp. 1143. 44 Vgl. Wimpfeling, Briefwechsel (wie Anm. 41), S. 155 Anm. 5. 45 Auszüge bei Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 237; vollständige kommentierte Ausgabe: Wimpfeling, Briefwechsel (wie Anm. 41), Bd. 1, S. 154–157, Nr. 18. 46 Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 237: Describitur prima quaestiuncula mores eorum, qui philosophiae dediti sunt, quos non oportet habere eximiam curam corporis sui, non ad coacervandas divitias accendi, non in temporalibus oblectationibus conquiescere.
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iocundus, neminem carpens, non nimis lasciviens, non praebens scandala teneriori aetati (S. 237). Blickt man in die Texte der Reden selbst, wird man freilich Spuren einer satirischen Wirkungsabsicht kaum erkennen können. Dies soll am Beispiel von Gribus’ ›Schelmenzunfft‹ kurz erläutert werden. In der Überschrift wird die Rede vorgestellt als quaestio accessoria […] pro excitando ioco solacioque auditorum, ut moris est (S. 61). Als Zwecke der Rede werden demnach der Scherz und die Erholung der Zuhörer angegeben. Mit den auditores sind zusätzlich die primären Adressaten des zurückliegenden Redevortrags benannt, dessen Performanz ebenso wie seine Konventionalität in diesem Zusatz, der selbst freilich Zutat der schriftlichen Aufzeichnung, wenn nicht des Herausgebers Wimpfeling ist, reflektiert wird.47 Die Scherzrede beantwortet eine einzige, im Druck vorangestellte Frage: Quare excellentissimum philosophiae nomen ad sectam quandam pigrorum et sine cura vitam degentium translatum est, vulgo die Schelmenzunft? (S. 61) Die Beantwortung der Frage erfolgt – methodisch reflektiert, wie es sich für eine Disputation gehört – in der Angabe des Ursprungs des Namens der Schelmenzunft, ihrer Satzungen (regulae) und schließlich der Ablässe (indulgentiae), die die Zunftangehörigen erwarten dürfen. Die wichtigsten Verfahrensweisen sind dabei die parodistische Verwendung methodischer Argumentation48 und die Parodie des juristischen (legistischen) Zitierstils, der mit phantastischen Paragrafen und Distinktionen gefüllt und mit volkssprachigen Sprichwörtern, die wie ein Bibelzitat eingeführt werden, abgesichert wird, wie das folgende Beispiel eines Verweises auf einen fiktiven Gesetzestext illustriert: ff. de potatoribus l. infunde §. repleti sunt omnes, et C. de conviviis l. caupo § merum, et ff. de carnificibus l. farcimen §. hora prima, et ut impleantur scripturae: Vff einem vollen buch stet ein frolich heupt (S. 62).49 Die Verwendung der üblichen legistischen Abbreviaturen im geschriebenen Text ( ff. = digestae, l.[ex], C.[odex] etc.) bedeutet nun nicht, dass diese Zitatparodien nicht Teil der vorgetragenen Scherzrede gewesen sein können.50 Im Vortrag wären sie – wie jedem Universitätsangehörigen aus 47 Vgl. zur Diskussion um Performanz und Performativität Uwe Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: ders. (Hg.), Performanz. Zwischen Sprechakttheorie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 9–60. 48 Vgl. etwa den Einleitungssatz S. 61: Primo, satisfaciendo quaestioni ordinem decrevi instituere, ne quid confuse perperamve agatur. 49 Nicht wiedergegeben ist hier der Wechsel von Antiqua- und gotischer Type für lateinischen respektive deutschen Text sowohl im Erstdruck als auch in Zarnckes Ausgabe. 50 Die Passage findet sich ohne größere Änderungen auch in der handschriftlichen Version des Mlf 49, allein das deutsche Sprichwort lautet alemannisch: uff ainem vollen buch staut ain frölichs haupt; Wattenbach, Humanistenhandschrift (wie Anm. 14), Sp. 248.
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Vorlesung und Disputation geläufig – vollständig ausgesprochen worden. Parodistisch ist auch der Katalog von acht Geboten der Schelmenzunft, der neben monastischen Regeln auch die Statuten der Universität oder einzelner Bursen als Prätexte haben mag. Bereits die erste regula fordert von den Zunftangehörigen Regellosigkeit und dekretiert in einem Wortspiel, maßlos eine Maß zu trinken, ohne Not zu essen und zu schlafen.51 In analoger Weise untersagen die übrigen regulae strengstens eine sparsame Lebensführung, einen reinlichen Haushalt oder zeitige Nachtruhe. Die folgende Ablassbulle, die im Namen des Dromo Dromonis de Dromonia suffraganeus, securus securorum Bachi (S. 65)52 ausgestellt ist, verspricht allen Angehörigen der spätmittelalterlichen Gesellschaft (von den universi nobiles und reges bis zu den parasiti, balneatrices und besonders den famulae monachorum et sacerdotum etiam saecularium [S. 65]), die den voranstehenden Regeln folgen, materielle Unannehmlichkeiten sowie alle denkbaren körperlichen Gebrechen. Am Ende steht die Unterschrift des fiktiven Verfassers der Ablassbulle, Ortwinus Seltenler Lubrica, Cereris et Bacchi potarius et tabellio (S. 66). Die Rede beschränkt sich auf die Darstellung der satirisch überzeichneten Laster des zügellosen ›Philosophen-Ordens‹, jeder explizite Appell an die Zuhörer, sich vor derlei zu hüten, oder eine Warnung, wie sie Wimpfelings Brief enthält, fehlt in der Rede selbst. Freilich schließt der Text eine satirische Deutung nicht aus: Die Ablassbulle legt nahe, dass die langfristigen negativen Folgen der ungesunden Lebensweise der Angehörigen der Schelmenzunfft gesehen werden. Ob die dargestellten Eigenschaften der zügellosen und trinkfesten Schelmenzunfft die Sympathie des Autors beziehungsweise Respondenten und seines Publikums haben, steht – in der gedruckten Fassung jedenfalls – dahin. Zieht man die handschriftlich erhaltene Version des Berliner Mgf 49 hinzu, die nicht datiert, aber vermutlich älter als der Druck ist und mit Sicherheit aus Heidelberg stammt,53 so ist eine satirische Intentionalität der Rede gerade unwahrscheinlich. In der von Wattenbach abgedruckten Version, die keinen Verfassernamen, keine Überschrift und keinen Hinweis auf Ort und Zeit der Entstehung enthält,54 folgt auf die quaestio disputanda eine Einleitung, die im Erstdruck fehlt, in der der ungenannte 51 Vgl. S. 62: Prima huius collegii regula est: vivere sine regula, mensuram bibere sine mensura, modus edendi sine modo; l. parasitus ff. de collegiis illicitis. 52 Dromo ist der Name eines Sklaven in drei Komödien des Terenz (›Andria‹, ›Heautontimorumenos‹, ›Adelphoe‹). 53 Im nahen Kontext steht etwa ein Epitaph auf einen 1480 verstorbenen Heidelberger Kirchenrechtler; vgl. Wattenbach, Humanistenhandschrift (wie Anm. 14), Sp. 245. 54 Vgl. Wattenbach, Humanistenhandschrift (wie Anm. 14), Sp. 247.
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Respondent sich direkt an den Quodlibetarius wendet und sich dazu bekennt, selbst ein Angehöriger (alumnus) der schelmen zumpfft zu sein.55 Die Rede bezieht ihren Witz nicht zuletzt daraus, dass in der Schelmenzunft ein (satirisch oder humoristisch übersteigertes) Selbstbild der Magister der Artistenfakultät gezeichnet wird, die (wohl vor allem bei den älteren Mitgliedern der Universität, hier repräsentiert durch den Quodlibetar) im Ruf stehen, ein allzu sorgloses Leben zu führen. Der titulus quaestionis fragt ja gerade danach, ob es angemessen sei, der Schelmenzunfft das philosophiae nomen (S. 61) zuzugestehen. Dieser springende Punkt, der hinreichend erst aus der handschriftlichen Fassung hervorgeht, in der von Wimpfeling zum Druck gebrachten Rede dagegen nur noch in Resten erkennbar ist,56 scheint mir von der Forschung bisher nicht recht erkannt worden zu sein. Dagegen ist die gemeinsam mit Gribus’ ›Schelmenzunfft‹ gedruckte Scherzrede des Jodocus Gallus57 in der (allein erhaltenen) gedruckten Version noch ganz durchzogen von Spuren ihrer Performanz. Die Rede beginnt mit der Bitte an die optimi patres, domini fratres und ingeniosissimi adolescentes, dem Redner während des Redeaktes behilflich zu sein.58 Auch im weiteren Verlauf ist die Rede durchsetzt mit deiktischen Hinweisen auf Ort,59 Zeit60 und Anwesende61 des Entstehungskontexts, sodass an der Historizität ihrer Performanz ein Zweifel schwer begründbar ist.62 Es dürfte kein Zufall sein, dass unter allen akademischen Scherzreden allein Gribus’ ›Schelmenzunfft‹ in Auszügen ins Deutsche übertragen wurde, denn sie macht im lateinischen Original vergleichsweise we55 Vgl. Wattenbach, Humanistenhandschrift (wie Anm. 14), Sp. 247: Nisi, peritissime vir, vestram prestanciam scirem centurionem in ea secta aut monopolio, de quo titulus questionis commemorat, cuius et me profiteor alumnum, tristissime tulissem, vos ignominiosum illud verbum »die schelmen zumpfft« in insigne nostrum consorcium traduxisse […]. 56 So spricht Gribus auch in der gedruckten Version von nostrae sectae nomen, nostrae sectae orig[o] oder den indulgentia[e] nostrae fraternitatis (S. 61). 57 Zur Biografie vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 49 Anm. 13, S. 55 Anm. 45; ders., Art ›Jodocus Gallus‹, in: Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus (wie Anm. 23), Bd. 1/3, Berlin / New York 2008, Sp. 862–870. 58 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 51: […] date, precor, omnes quotquot estis (cum venia vestra loquor) auxilium hodie mihi. 59 Vgl. etwa Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 52: huius oppidi Heydelbergensis […] cives. 60 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 52: hodierna die, hodie. 61 Ein Teil der Rede (S. 52f.) ist an Gallus’ jüngeren Landsmann und Schüler, den Baccalaureus Nicolaus Germanus aus Rufach, der die quaestio vorgelegt hat, gerichtet. 62 Vgl. zum Inhalt der Rede und ihrer möglichen Prätextfunktion für Brants ›Narrenschiff‹ Joachim Hartau, »Narrenschiffe« um 1500. Zu einer Allegorie des Müßiggangs, in: Thomas Wilhelmi (Hg.), Sebastian Brant. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum ›Narrenschiff‹ und zum übrigen Werk, Basel 2002, S. 125–169, bes. S. 149–154 u. Abb. 23.
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nig Gebrauch von volkssprachigen Inseraten, deren kontrastiv-komische Wirkung63 bei einer Übersetzung verloren gehen musste. Bereits 1506 erschien in Straßburg eine anonyme deutsche Version unter dem Titel ›Der brüder orden in der schelmen zunfft‹,64 die nur die zentralen acht Zunftregeln, erweitert um eine neunte, wiedergibt. Allerdings lässt die um alle performativen Elemente gekürzte deutsche Version die Herkunft aus der universitären Disputation nicht mehr erkennen, ist vielmehr Vorläufer der umfangreichen Parodien auf Tischzuchten und andere Didaxen des 16. Jahrhunderts, der sogenannten grobianischen Literatur.65 Auch die lateinische Version der Rede fand in einer erneut überarbeiteten, anonymisierten Version66 in Verbindung mit der Sprichwortsammlung des Andreas Gartner (zuerst 1570) noch bis ins frühe 17. Jahrhundert Verbreitung.67 Die Gelegenheitsrede des literarisch sonst nicht hervorgetretenen Straßburger Magisters Gribus, der sich bereits als Kleriker der Straßburger Diözese in Heidelberg immatrikulierte68 und nach dem Studium eine Pfarrei in Leindorf (im Nürnberger Land) und ein Kanonikat in Neuhausen (bei Worms) bekleidete,69 bedurfte erst der satirisch umdeutenden Autorität Jakob Wimpfelings, um – zehn oder elf Jahre nach ihrer Entstehung und ihrem Vortrag – in den Druck zu gehen. In diesem Medium hatten 63 Vgl. Günter Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts, München 1971, S. 177–206. 64 Straßburg: [Matthias Hüpfuff] 1506 [VD 16, ZV 7042] (die Identifizierung des Druckers sowie Aufnahmen des Drucks verdanke ich Dr. Oliver Duntze, Berlin). Ein weiterer Druck: Straßburg: [Matthias Hüpfuff] 1509 [VD 16, ZV 7043]. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist als Onlinedigitalisat verfügbar; URL: http://mdz10.bib-bvb. de/~db/0001/bsb00011419/images/ (01.09.2007). 65 Vgl. Barbara Könneker, Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung, München 1991, S. 118–129. 66 Diese Version, zuerst greifbar im Druck [Speyer: Konrad Hist] 1505 [VD 16, ZV 7041], ist nicht identisch mit der im Druck des ›Directorium statuum‹ überlieferten Redaktion II, wie Worstbrock, Art. ›Gribus‹ (wie Anm. 15), Sp. 255, meint, sondern versieht die acht regulae und die Ablassbulle mit einem neuen Briefrahmen (der Bischof Johannes Rune von Duderstadt [!] an seinen Suffragan in Göttingen [!] und zahlreiche andere fiktive Prälaten). Alle performativen Elemente und damit die Spuren der Herkunft aus der Quodlibet-Disputation sind getilgt. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München ist zugänglich unter URL: http://mdz10.bib-bvb.de/~db/0001/bsb00011420/images/ (01.09.2007). 67 Vgl. Worstbrock, Art. ›Gribus‹ (wie Anm. 15), Sp. 255. 68 Vgl. Worstbrock, Art. ›Gribus‹ (wie Anm. 15), Sp. 254. 69 Vgl. die zuvor unbekannten Informationen über Gribus’ Werdegang bei Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651, Heidelberg 2002, S. 31f. s. v. ›Bartholomäus (Grieb, Grub) von Straßburg‹ (ohne Kenntnis der akademischen Scherzrede; die Identität mit dem Verfasser der Scherzrede geht aus der Übereinstimmung der universitären Daten unzweifelhaft hervor).
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die Gelegenheitsreden des Gribus und des Jodocus Gallus zwar beachtlichen, aber unterschiedlichen Erfolg.70 Dieser zeigt sich nicht zuletzt in den frühen Nachahmungen, die zur Bildung einer literarischen Reihe führten. 2. Intertextualität und Performanz. Johannes Schrams ›Monopolium der Schweinezunft‹ Das erste greifbare Rezeptionszeugnis der beiden von Wimpfeling in den Druck gegebenen akademischen Scherzreden ist ein Plagiat. Der aus Dachau stammende Magister Johannes Schram71 hielt bei der Erfurter Quodlibet-Disputation des Jahres 1494 eine Scherzrede, die bald darauf unter dem typisierenden Titel ›Quaestio fabulosa‹ in den Druck ging.72 Von ihrem Herausgeber Zarncke wurde sie unter die Überschrift »Monopolium der Schweinezunft« (S. 103) gestellt, da sie – ähnlich wie Gribus’ ›Schelmenzunfft‹ – Zunftregeln für eine fiktive Gesellschaft zügelloser Säufer und Prasser aufstellt. Bereits Zarncke wies darauf hin, dass Schrams ›Quaestio fabulosa‹ weitgehend aus den beiden im ›Directorium statuum‹ von 1489 gedruckten Scherzreden kompiliert ist,73 denen als Einleitung die leicht überarbeitete praefatio aus Poggio Bracciolinis zuerst um 1470 gedrucktem und auch in Deutschland weitverbreitetem ›Liber facetiarum‹ vorangestellt wurde.74 1853 glaubte Zarncke noch, damit auch die Fiktivität der Behauptung der Titel aller Drucke erwiesen zu haben, Schrams Rede sei 1494 recitata […] in Gymnasio Erffordensi sub disputatione quotlibetari (S. 103). 1857, nach Kenntnisnahme der Matrikeleinträge Schrams und des in den Titeln der Drucke genannten Quodlibetars Johannes Gans ex Herbsteyn
70 Im Gegensatz zu Gribus’ ›Schelmenzunfft‹ ist die Lichtschiff-Rede des Gallus außer im Erstdruck nur noch in einer Druckabschrift (Bayerische Staatsbibliothek München Clm 11805, 26r–31v, von ca. 1500 aus dem Kloster Polling) bezeugt; vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 49 Anm. 14a. 71 Lebensdaten bei Worstbrock, Art. ›Schram‹ (wie Anm. 19); das dort fehlende Datum der Magisterpromotion bei Erich Kleineidam, Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Bd. 2, Leipzig ²1992, S. 362, Nr. 915. 72 Vgl. Worstbrock, Art. ›Schram‹ (wie Anm. 19), Sp. 844; zur ungeklärten Frage des Erstdrucks (Erfurt oder Leipzig?) Nickel, Erfurter Buchdruck (wie Anm. 18), S. 335f. – Ein Faksimile des Leipziger Drucks (H *14523), hg. v. der Gesellschaft der Münchener Bücherfreunde, erschien München 1928. 73 Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 125. 74 Vgl. Johannes Klaus Kipf, Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum, Stuttgart 2009, S. 146–149, 554 (Nachweis von acht Inkunabeldrucken im deutschen Sprachraum bis 1494), 509–511 (zu den Eingriffen Schrams in Poggios Text).
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(ebd.),75 hat Zarncke diese Ansicht revidiert und die Meinung vertreten, die Rede müsse aus einer historischen Disputation hervorgegangen sein.76 Diesen Eindruck erweckt der Text jedenfalls: direkt durch das Attribut recitata im Titel und dessen abschließende Wiederholung,77 aber auch indirekt durch Mündlichkeitssignale wie die Schlussformel Dixi (S. 115) vor der von Gribus übernommenen Ablassbulle. Die Historizität des Vortrags der Scherzrede Schrams im Rahmen der Quodlibet-Disputation von 1494 wird neuerdings mit neuen Gründen in Zweifel gezogen. Nickel weist darauf hin, dass Schram »nach der Veröffentlichung des Textes bei institutionsstolzen Professores kaum Karriere gemacht haben dürfte«,78 und er vermutet aus inhaltlichen Gründen, dass Schram den Text zuerst in Leipzig habe drucken lassen. Tatsächlich übertrifft Schrams Invektive an Zahl und Krassheit der enthaltenen Obszönitäten, aber auch der simplen Sprachscherze vom makkaronischen Typ79 die vorangehenden Scherzreden des Gribus und Gallus bei Weitem. Auch schreckt Schram nicht davor zurück, fiktive Bibelzitate in obszöne Kontexte zu stellen.80 Solange allerdings keine handschriftlichen Textzeugen aufgefunden oder archivalische Quellen zum Erfurter Quodlibet von 1494 beigebracht werden, muss die Frage nach der historischen Performanz von Gribus’ ›Schweinezunft‹ offenbleiben. 3. Satirische Scherzreden als Buchkunst. Jakob Hartlieb und Paulus Olearius Auch der Druck der chronologisch nächstliegenden Heidelberger Scherzreden geht auf Wimpfeling zurück. Begleitet von einem Widmungsbrief Crato (Kraft) Hofmanns, des Leiters der berühmten und einflussreichen Schlettstädter Lateinschule, an seine Schüler (27. August 1501) wurden
75 Der historisch nachweisbare Johannes Gans, seit 1499 Kollegiat des Collegium maius, kam aus Herborn; vgl. Kleineidam, Universitas (wie Anm. 71), S. 91, 151, 345. 76 Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 252. 77 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 116: Quae balbutienter recitavi, vobis, domino quodlibetario et matri meae, inclitae facultati artium, morem gerens, si alicui offensiva fuerint, veniam peto […]. 78 Vgl. Nickel, Erfurter Buchdruck (wie Anm. 18), S. 336: »Schramm hätte sein Faß Jauche von Leipzig aus über Erfurt ausgeschüttet.«. 79 Vgl. S. 111: […] ut praecipit der schelkynus (libro regum 30 dicens: Schellikus in schelkis schelkorum schelkibus istis) […]. 80 Zur Obszönität der Scherzrede vgl. Hess, Narrenzunft (wie Anm. 63), S. 189–194 (nicht differenziert nach Autoren).
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zwei Scherzreden, die beim Heidelberger Quodlibet des Jahres 149981 unter dem Vorsitz Johannes Hilts aus Rottweil vorgetragen wurden, gemeinsam zum Druck gebracht. Aus Hofmanns Widmungsbrief geht hervor, dass sein (aus Schlettstadt stammender) Freund Wimpfeling ihm die Druckvorlage (copia) der beiden Reden, die kürzlich am Ende einer Heidelberger Quodlibet-Disputation zur geistigen Entspannung gehalten worden seien, übermittelt habe.82 Die beiden Reden, die über die List der Prostituierten (meretrices) und das Konkubinat handeln, empfiehlt er seinen Schülern zur Lektüre, da hier auf heitere Weise vor diesen beiden gefährlichen Phänomenen gewarnt werde. Hofmann beschwört in einer Kette von Oppositionen die Unvereinbarkeit des Priesteramts mit dem Unterhalt sexueller Beziehungen: Ein Unding sei es, zugleich dem Sohn der Jungfrau (Christus) und dem Sohn der Venus (Amor) gefallen zu wollen.83 Damit stellt Hofmann die beiden Scherzreden – genau wie Wimpfeling die von ihm zum Druck gebrachten – in einen ethisch-didaktischen Kontext, er nennt dabei jedoch ein konkreteres Ziel als jener im Widmungsbrief zum ›Directorium statuum‹: die Reform der Lebensweise der Studenten und des Weltklerus; ein Ziel freilich, das auch zu Wimpfelings Programm einer Reform der Bildung und der Lebensweise des Klerus gehörte.84 Noch in der Schrift ›De integritate‹ (1506) empfahl Wimpfeling die Scherzreden Hartliebs und Olearius’ seinem jungen Schützling Jakob Sturm als nützliche Lektüre für heranwachsende Männer, denen sie als Warnung vor der Tücke moralisch zweifelhafter Frauen dienen könnten.85 Tatsächlich widmen sich die beiden gemeinsam gehaltenen und gedruckten Reden den Themen, die Hofmann im Widmungsbrief nennt. Der Magister Jakob Hartlieb aus Landau86 behandelt in seiner Scherzrede, die im Druck unter den Titel ›De fide meretricum in suos amatores‹ 81 Zur Datierung vgl. Thorbecke, Die älteste Zeit (wie Anm. 36), S. 75 mit Anm. 152, S. 63*. 82 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 68: Copiam mihi fecit Iacobus Wimpfelingius, divinarum litterarum licenciatus, integerrimus amicus meus, duarum quaestionum, quae in fine disputationis quodlibetaris in florentissimo Heidelbergensi gymnasio laxandi animi iocique suscitandi causa pridem determinatae fuerunt. 83 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 68: Nam quisquis ex vobis concubinam est habiturus (quod absit), is mihi videtur simul filio Virginis et filio Veneris velle placere. 84 Vgl. dazu Mertens, Wimpfeling (wie Anm. 37), S. 47–49. 85 Zitiert bei Hugo Holstein, Zur Biographie Jakob Wimpfelings, in: Zeitschrift für Vergleichende Litteraturgeschichte und Renaissance-Litteratur N. F. 4 (1891), S. 227–252, hier S. 250 Anm. *: Retrahant te duae quaestiones quodlibetares facetiarum loco quondam in Heydelbergensi gymnasio recitatae, quibus non solum immunditiam sed et fidelitatem et fraudes, quas putanae […] in adolescentes exercent, plane cognosces. 86 Vgl. zu den biografischen Daten Drüll, Gelehrtenlexikon (wie Anm. 69), S. 249.
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gestellt wurde, die Frage, [c]ur caeci amatores mulierum easdem plus colunt venerantur et amant quam Deum optimum et verum (S. 70). Hartlieb warnt insbesondere Studenten vor der in jeder Hinsicht schädlichen Frauenliebe. Ihre Folgen malt er mit Bildern in der Tradition der Liebesnarrheit und -blindheit aus. Eingelegt sind schwankhafte Beispielerzählungen von verliebten Studenten und ungelehrten Schulmeistern, die durchsetzt sind mit deutsch wiedergegebenen Sprichwörtern oder Figurenreden. Ebenso erscheinen Gedichte von zeitgenössischen Humanisten wie Baptista Mantuanus, Filippo Beroaldo d. Ä. und Hermann Buschius, aber auch einige (sicher zu Unrecht) dem deutschen Spruchdichter Muskatblut (fl. 1415–1435) zugeschriebene Verse, die die spätmittelalterliche didaktische Spruchdichtung persiflieren.87 Anspielungen gelten Wimpfelings Komödie ›Stylpho‹ (1480) und ihrem Titelhelden sowie dem ›Isidoneus Germanicus‹ (1497) desselben Autors (S. 76). Hartlieb parodiert als rückständig empfundene Methoden des Schulbetriebs wie die Wort-für-Wort-Übersetzung, die er zu einer Parodie fehlerhafter Lateinkenntnisse nutzt.88 Die komische Kontrastierung von lateinischem Original und fehlerhafter Übersetzung ist mehrfach genutzt, sie geht bis zu obszönen Verbindungen (vgl. S. 76: anus ein lecker, fornax ein ofen, fornicator ein ofenmacher) und makkaronischen Neologismen (biszinckus ein ofengabel, ebd.). Die Nähe dieser Scherze, welche die fehlerhaften Lateinkenntnisse mancher Geistlicher persiflieren, zu einigen Fazetiensammlungen – besonders derjenigen des Johannes Adelphus Muling (›Facetiae Adelphinae‹, 1508) – ist mehrfach konstatiert worden.89 Auch inseriert Hartlieb, angeblich aus den annales Argentinensium (S. 79), einen Schwank, der – seiner Erzählstruktur zufolge – in jede zeitgenössische Fazetien- oder Schwanksammlung passen würde.90
87 Vgl. S. 76: Wer kind tragen sich thut flyssen, dem sind sie bald in die schoß schyssen, Vnd wer sich dienstbar macht der gemeyn, dem wird syn lon etwan zu klein. Wer bösen wybern dienen thut, ist alls verlorn, sprach Muschgatblut. Vgl. dazu Eva Kiepe-Willms, Die Spruchdichtungen Muskatbluts. Vorstudien zu einer kritischen Ausgabe, Zürich / München 1976, S. 21 mit Anm. 33. 88 Vgl. die Analyse einer entstellenden Übersetzung (S. 77) bei Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München / Zürich 1988, S. 119f. 89 Vgl. Frank Wittchow, Eine Frage der Ehre: Das Problem des aggressiven Sprechakts in den Facetien Bebels, Mulings, Frischlins und Melanders, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 2 (2001), S. 336–360, hier S. 352f.; zu den ›Facetiae Adelphinae‹ Kipf, Cluoge geschichten (wie Anm. 74), S. 294–338. 90 Ein nächtliches Rendez-vous eines Schulmeisters mit einer Bäckersmagd endet in der Flucht vor dem eifersüchtigen Bäcker in den Schweinestall, wo sich die Verfolgten durch die Auskunft Es ist niemandß hie dann wir armen sew (S. 79) vor den Nachstellungen retten können, da der Bäcker glaubt, die Dämonen seien in seine Schweine gefahren.
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Die zweite Scherzrede, ›De fide concubinarum in sacerdotes‹, gehalten von Paulus Olearius aus Heidelberg,91 warnt im thematischen Anschluss an Hartliebs Scherzrede vor den Folgen des Konkubinats bepfründeter Kleriker. Er diskutiert die Frage, ob Priestern, die in ihrem Hause ihre Konkubinen herrschen lassen, Eselsohren aufgesetzt werden sollen, und schließt so an die Narrenliteratur und -ikonografie an. Olearius’ Scherzrede folgt dem Quaestionenstil enger als Hartlieb, indem er als gliedernde Elemente Aufzählungen von drei definitorischen Aspekten der Frage, sieben doctrinae experimentales (S. 97) und abschließend eine conclusio responsiva (S. 102) einfügt. Er inseriert neben Anekdoten lateinisch-deutsche Dialoge zwischen Kleriker und Konkubine beziehungsweise zwei Konkubinen, parodistisch verwendete oder vorgebliche Zitate aus der Bibel, weltlichen und geistlichen Rechtscorpora und anderen Autoritäten und stellt sieben Lehrsätze für Konkubinen auf. Die fiktiven Zitate aus den Digesten sind unzweifelhaft von denen aus Gribus’ ›Schelmenzunfft‹ beeinflusst,92 einzelne Namen aus Gallus’ ›Lichtschiff‹ übernommen. In den inserierten Anekdoten, die häufig Namen der beteiligten Personen und Orte im Oberrheingebiet, etwa Straßburg, Speyer, Worms (S. 93) oder Schrießheim (S. 97) benennen, sind direkte Reden der Figuren, die nach Art der Fazetie oft die Pointe enthalten, überwiegend in deutscher Sprache gegeben. Die beiden Scherzreden von Hartlieb und Olearius sind nun nicht nur durch die virtuos gehandhabte Sprachsatire gegen wenig lateinkundige Kleriker und Studenten und durch die (häufig für Obszönitäten genutzte) Komik durch Sprachmischung bemerkenswert. Die drei Originalausgaben, die wohl noch im Jahr 1501 beim Basler Drucker Jakob Wolff herauskamen,93 sind durch rahmende Empfehlungsgedichte94 und einen (in den späteren Drucken erweiterten) Anhang zweisprachiger Gedichte als Produkt eines humanistischen Kreises ausgezeichnet. Der Anhang vereint Zitate aus Klassikern (Martial, Ovid), Gelegenheitsgedichte, die für diesen Druck angefertigt wurden,95 ein in der Zweisprachigkeit vergleich91 Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon (wie Anm. 69), S. 436. 92 Vgl. den Kommentar von Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 249 zu mehreren Stellen. 93 Vgl. die Beschreibung der undatierten und unfirmierten Originalausgaben bei Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 242f. Zarnckes Ausgabe A entspricht VD 16, 660; erweiterter Druck B: VD 16, 659; C: Variante zu B. 94 Die beiden Empfehlungsgedichte zu Hartliebs Rede (S. 66f.) stammen von dem Wimpfeling-Schüler Johannes Gallinarius und einem weiteren Heidelberger Studenten, Johann Spyser (Speyser). Olearius’ Rede wird von einem weiteren Epigramm des Gallinarius sowie einem Gedicht Filippo Beroaldos d. Ä. eingeleitet (S. 88f.). 95 Spyser hat eine sechsstrophige sapphische Ode ad libellum et eiusdem pios lectores (S. 83) beigesteuert.
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bares Produkt des frühen deutschen Humanismus, die ›Barbara lexis‹ Samuel Karochs von Lichtenberg (S. 84f.),96 sowie einen deutsch-lateinischen Gedichtkomplex über einen ludimagister fatuus (S. 85) und seine Geliebte Elsa. Dieser verweist durch ein Akrostichon und die abschließende Bemerkung auf Matthias Ringmann Philesius († 1511), der allerdings nicht als Autor der Gedichte kenntlich gemacht werden soll,97 sondern als der höchst unvorteilhaft dargestellte Protagonist der derben Schwanklieder.98 Der Druck der beiden Scherzreden wird so zu einer Anthologie komischer, teils anarchischer und obszöner literarischer Formen im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, in deren Mittelpunkt nun – anders als im ›Directorium statuum‹ von 1498 – die beiden Scherzreden von 1499 stehen. Trotz der zum Teil derb obszönen Inhalte der Texte ist der Druck keineswegs ein Produkt der niederen Buchgeschichte, sondern ein verlegerisch anspruchsvolles (und riskantes) Unternehmen, das seinen Reiz nicht zuletzt aus den Illustrationen bezieht. Die Originaldrucke Jakob Wolffs sind nämlich mit zehn »für ihre frühe Zeit selten freien und ausdrucksstarken Holzschnitten«99 versehen, die als früheste unbezweifelte Werke des Monogrammisten DS gelten.100 Sie illustrieren Aspekte und Szenen der Texte, teils mit virtuos umgestaltendem Bezug auf die Illustrationen zu Sebastian Brants ›Narrenschiff‹. So variiert der fünfte Holzschnitt zu Hartliebs Rede,101 die im Druck an zweiter Stelle steht, obwohl sie 1499 zuerst gehalten wurde und – dem Widmungsbrief Hofmanns zufolge – auch in der handschriftlichen Druckvorlage voranstand,102 Dürers Holzschnitt zum 62. Kapitel des ›Narrenschiffs‹ (von nachtes hofyeren).103 Hier wie dort gießt eine unbekleidete Frau ein Nachtgeschirr über eine Gruppe von 96 Vgl. zur weiteren Überlieferung Heinz Entner, Frühhumanismus und Schultradition im Werk des Wanderpoeten Samuel Karoch von Lichtenberg. Biographisch-literaturhistorische Studie mit einem Anhang unbekannter Texte, Berlin 1968, S. 74, Nr. 6. 97 So etwa Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 243, und noch Hess, Narrenzunft (wie Anm. 63), S. 209. 98 Der Gedichtkomplex wird von der Mitteilung Gut gsell ist Ringman (S. 87) beschlossen; gut gesell (S. 86) wird im Gedicht aber der närrische Protagonist genannt. Diesen Hinweis verdanke ich Franz Josef Worstbrock, München. 99 Frank Hieronymus, Oberrheinische Buchillustration, Bd. 2: Basler Buchillustration 1500– 1545, Basel 1984, S. XXIII. 100 Vgl. näherhin Elfried Bock, Die Holzschnitte des Meisters DS, Berlin 1924, S. 5–7 u. Abb. 1–10 auf Tafel I–V. 101 Bock, Holzschnitte (wie Anm. 100), Abb. 9 auf Tafel V. 102 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 68: Prima [scil. quaestio] explanat fraudes meretriceas, altera flagitiosissimum in clero concubinatum execratur. Zum Motiv der Umstellung vgl. Zarncke, ebd., S. 241f. 103 Vgl. Manfred Lemmer (Hg.), Die Holzschnitte zu Sebastian Brants Narrenschiff. 121 Bildtafeln, Frankfurt a. M. 1964, Tafel 62 u. S. 148.
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Männern und Kindern, beim Meister DS fehlen jedoch die Narrenkappen. In Hartliebs Rede illustriert die Szene die Klage, dass der amor mulierum die Männer zu Narren und Gefangenen ihrer passiones mache (S. 75). Dagegen ziert ein Holzschnitt, auf der ein erkennbar vom Büchernarren des ›Narrenschiffs‹104 inspirierter Esel mit Brille und einer Rute in der Hand auf einem Katheder einer Gruppe von Tieren unter einem Baum aus einem Buch vorträgt,105 eine Passage, in der Hartlieb dartut, quod amor mulierum faciat hominem bestiam, insensatum, seipsum non cognoscentem (S. 76). Das »Buchgesamtkunstwerk« der beiden Scherzreden Hartliebs und des Olearius war – gemessen an der Zahl der Drucke – ein voller Erfolg, insgesamt der erfolgreichste Vertreter der Gattung »akademische Scherzrede«. Neben den drei Originaldrucken von 1501 sind bis 1540 allein acht weitere gemeinsame Drucke der beiden Reden nachweisbar.106 Zusätzlich wurden beide Reden je einmal separat gedruckt, später (seit circa 1550) gingen sie in fünf Drucken eine permanente Überlieferungsgemeinschaft mit der anonymen Erfurter Scherzrede ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ (1515) ein, die bis ins 17. Jahrhundert reicht,107 und sie wurden in mindestens acht Drucken (bis 1757) als Ergänzungsband beziehungsweise integraler Bestandteil der ›Epistolae obscurorum virorum‹ gedruckt.108 Mit 18 Drucken bis hinein ins 18. Jahrhundert gehören die Scherzreden Hartliebs und Olearius’ nach der Reichweite und Nachhaltigkeit ihrer Verbreitung nicht nur zu den erfolgreichsten literarischen Produkten des deutschen Humanismus um 1500, sondern auch zu den langlebigsten Erzeugnissen der lateinisch-deutschen Mischprosa überhaupt. Der Umfang der redaktionellen und illustrativen Zutaten zum Basler Erstdruck der Heidelberger Scherzreden von 1499 zeigt freilich auch, dass wir in den Drucken keineswegs Protokolle des Quodlibet-Akts vor uns haben. Neben den Beigaben, die als solche gekennzeichnet sind, enthält der Erstdruck den wertvollen Hinweis, dass auch der Text der Scherzreden für den Druck redigiert wurde. Dieser schließt nämlich mit der Bemerkung, dass der mutmaßliche Korrektor des Drucks, der selbst als Drucker und Autor hervorgetretene Ludwig Hohenwang, Überschriften hinzugefügt ha-
104 Vgl. Lemmer, Holzschnitte (wie Anm. 103), Tafel 1 u. S. 135f. 105 Abbildung bei Bock, Holzschnitte (wie Anm. 100), Abb. 10 auf Tafel V; Hess, Narrenzunft (wie Anm. 63), S. (1), Abb. 1. 106 Vgl. Johannes Klaus Kipf, Art. ›Hartlieb, Jakob / Olearius, Paulus‹, in: Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus (wie Anm. 23), Bd. 1/4, Berlin / New York 2008, Sp. 1029– 1032. 107 Vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 51 Anm. 26f. 108 Vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 51 Anm. 28.
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be.109 Die beiden Reden selbst enthalten freilich zahlreiche Spuren eines mündlichen Vortrags: So wendet sich Hartlieb mit der Bitte um Nachsicht für die folgenden scherzhaften Ausführungen einleitend an den disputator (S. 69) und mit deiktischem Bezug auf Ort und Zeit an alle Anwesenden des als philosophic[um] bell[um] apostrophierten Quodlibets und beruft sich auf die consuetudo, an dessen Ende über Witziges aller Art zu disputieren.110 Auch verweist er in der Rede auf die nachfolgende quaestio, über die Olearius determinieren werde.111 Ebenso beginnt Olearius seine Rede mit der Anrede humanissime domine quodlibetarie (S. 89) und führt aus, dass der Baccalaureus, der für die Vorlage der Frage zuständig war, nach dem Ursprung eines deutschen Sprichworts gefragt, er aber die Frage in diejenige nach den Eselsohren umgewandelt habe. Olearius wendet sich abschließend wieder an den Quodlibetar, um seine Antwort ad minus principalem quaestiunculam (S. 102) mit einer launig-ironischen captatio benevolentiae an die Konkubinen112 und der Schlussformel Dixi (ebd.) zu beschließen. 4. ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ – eine rein literarische Scherzrede? Problematisch ist das Verhältnis der letzten akademischen Scherzrede zu ihrem Ursprung in der Quodlibet-Disputation. Wohl noch im Jahr 1515 erschien ohne Angabe von Druckort, Drucker und Jahr die Schrift ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹,113 die auf der Titelseite angibt, sie sei in conclusione Quodlibeti Erphurdiensi Anno Christi MDXV circa autumnale aequinoctium scolastico more explicata (S. 116). Der Druck wird eröffnet durch einen Kranz von Gedichten von Mitgliedern des Erfurter
109 Vgl. S. 85: Ludovicus Hohenwang Elchingensis capitibus de meretricum fide in sacerdotes et plebeios indidit. 110 Vgl. S. 69: Primum autem rogo, ut deponant matutina supercilia rigidi Catones, […] memores annuae huius philosophici belli finis ludos, fabulas, moderatus risus, aenigmata, sales, iocunda dicteria, facetias et scommata flagitat […]. 111 Vgl. S. 79: De tali tantaque concubinarum auctoritate audietis ex collaterali meo. 112 Vgl. S. 79: Etiam haec recensui propter rempublicam et propter meam privatam utilitatem ad captandam concubinarum benivolentiam, ut, si quando in aedes sacerdotum introiero, ipsis satis indevote legentibus missam, famulae parent mihi pinguem offam et ministrent dulcia pocula poculorum. Amen. 113 De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda […], [Erfurt: Mathes Maler 1515] [VD 16, E 1496].
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Poetenkreises,114 den ›In facetosam de ebrietate quaestionum litterariae sodalitatis Erphurdiana testimonia‹ (ebd.), darunter Epigramme (und ein Hendecasyllabon) von Helius Eobanus Hessus,115 Johannes Femel (Foemilius) und Euricius Cordus.116 Vor dem Beginn der Scherzrede selbst wird der titulus quaestionis mit einer Wiederholung der Herkunftsangabe eingeleitet: Pro conclusione disputationis de quolibet Erphurdiae anno christianae computationis MDXV celebratae in frequentissimo patrum et ordinum consessu quaerebatur (S. 118). Zur Diskussion steht die Frage, ob die Trunkenheit, die nach Behauptung der Italiener besonders den Deutschen zu eigen sei, ein schlimmeres Laster als die Habgier und von den Obrigkeiten mit entsprechender Härte zu verfolgen sei. Diese Frage wird nun schulmäßig (more scolastico; S. 116) mithilfe von drei Thesen (conclusiones), die den drei Hauptteilen vorangehen, gegliedert; diese sind wiederum durch drei corollaria in je drei Abschnitte unterteilt. Der erste Teil erweist unter komischer Heranziehung antiker Autoritäten (Macrobius, Aristoteles, Seneca und andere) die Trunkenheit als bestialis voluptas (S. 120). Die zweite conclusio tritt dem Vorurteil der Italiener entgegen, die Trunkenheit sei ein typisch deutsches Laster. Hier tritt die Rede unter Berufung auf Tacitus’ ›Germania‹ und Celtis’ ›Amores‹ den von Giannantonio Campano im sechsten Briefbuch geäußerten Vorwürfen gegen die Deutschen entgegen117 und wendet sich seinerseits mit Stereotypen (unter anderem der Sodomie) gegen die Italiener. Die dritte These gilt den verderblichen Folgen übermäßigen Alkoholkonsums. Auch die Rede selbst folgt ganz dem performativen Stil der übrigen Scherzreden. Der ungenannte Respondent beginnt mit der Anrede humanissime domine quodlibetarie (S. 118), er beruft sich auf die eigene Jugend118 und er schließt die Rede mit einem Dixi (S. 154) und der erneuten Anrede 114 Vgl. dazu Dieter Stievermann, Zum Sozialprofil der Erfurter Humanisten, In: Gerlinde Huber-Rebenich / Walther Ludwig (Hg.), Humanismus in Erfurt, Erfurt 2002, S. 33–53; ders., Marschalk (ca. 1470–1525), Spalatin (1484–1545), Mutian (ca. 1470–1526), Hessus (1488–1540) und die Erfurter Humanisten, in: Dietmar von der Pfordten (Hg.), Große Denker Erfurts und der Erfurter Universität, Göttingen 2002, S. 118–142. 115 Vgl. zu Leben und Werk Joachim Camerarius, Narratio de Helio Eobano Hesso. Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus. Lateinisch und deutsch, hg. v. Günter Burkard / Wilhelm Kühlmann, Heidelberg 2003; Huber-Rebenich / Lütkemeyer, ›Hessus‹ (wie Anm. 23). 116 Vgl. Peter Dilg, Art. ›Cordus, Euricius‹, in: Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus (wie Anm. 23), Bd. 1/2, Berlin / New York 2006, Sp. 471–496. 117 Vgl. zu diesem Komplex Christopher B. Krebs, Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel, Göttingen 2005, S. 157–225 (ohne Bezug auf diese Rede). 118 Vgl. ebd.: Quantum enim mei iuvenilis ingenii capacitate possum consequi […].
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an den Quodlibetar, die auch eine Berufung auf huius actus consuetud[o] (ebd.) enthält. Allerdings sind – im Unterschied zu allen anderen gedruckten Scherzreden – weder der Name des Quodlibetars noch der des Respondenten im Druck vermerkt. Dieses Schweigen der Überlieferung hinsichtlich der Autorschaft der Erfurter Scherzrede von 1515 hat in der Forschung zu Zuschreibungsversuchen geführt. Eobanus Hessus, das Haupt des Erfurter Poetenkreises, welcher als litteraria sodalitas Erphurdiana (s. oben) zwar nicht für die Rede selbst, aber für ihren Druck verantwortlich zeichnet, ist der am häufigsten genannte Kandidat für eine alleinige Autorschaft.119 Von Hessus’ Biografen Krause wurde sein Freund Peter Eberbach ins Spiel gebracht,120 doch scheidet dieser aus, da er erst im Herbst 1516 von Rom nach Erfurt zurückkehrte.121 Gegen Hessus’ Verfasserschaft führt Zarncke an, dass dieser in der Rede anlässlich von Zitaten seiner Gedichte mehrfach in dritter Person genannt werde,122 etwa als Eobanus Hessus noster (S. 119 und 148). Und auch hinter amicus quidam mihi valde familiaris (S. 140), der Nachrichten aus Livonia gebracht habe, wird Hessus, der die Jahre 1509–1513 als Sekretär des Bischofs von Riesenburg im Ermland (Preußen) verbrachte, stehen. Andererseits erscheint es kaum denkbar, dass die Nennungen der verschiedenen Völker und Landschaften Sarmatiens (S. 143) ohne Beteiligung des Hessus in die Rede gelangt seien. Neuerdings wird eingewandt, dass die Autorschaft einer Rede, die öffentlich gehalten worden sei, sich kaum über längere Zeit hätte verbergen lassen, und daraus geschlossen, dass die Scherzrede nie vorgetragen wurde.123 Diesem Argument wird man sich kaum verschließen können, und so wird man das Schweigen der Überlieferung über Quodlibetar und Respon119 Unter seinem Namen verzeichnen etwa Martin von Hase, Bibliographie der Erfurter Drucke von 1501–1550, Wiesbaden ³1968, Nr. 357 (unter Vorbehalt) und VD 16, E 1496ff. den Druck. Weitere Stimmen für Hessus’ Autorschaft bei Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 52 Anm. 30. 120 Vgl. Carl Krause, Helius Eobanus Hessus. Sein Leben und seine Werke, 2 Bde., Gotha 1879 (ND Nieuwkoop 1963), Bd. 1, S. 215. 121 Vgl. Gerald Dörner, Art. ›Eberbach, Peter‹, in: Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus (wie Anm. 23), Bd. 1/2, Berlin / New York 2006, Sp. 569–576, hier Sp. 575. 122 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 254. 123 Huber-Rebenich / Lütkemeyer, Art. ›Hessus‹ (wie Anm. 23), Sp. 1083. Mit Verweis auf den in Vorbereitung befindlichen Bd. 3 der Ausgabe: The poetic works of Helius Eobanus Hessus, hg. v. Harry Vredeveld, Bd. 3: The King of Poets, 1515–1517, Tempe/AZ voraussichtlich 2010. Vgl. jetzt auch Cordula Kropik, Helius Eobanus Hessus, De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda, in: Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein 21. August bis 1. November 2009, hg. v. Christoph Fasbender, Gotha 2009, S. 101–103, Nr. III.8.2.
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denten der Rede trotz der ansonsten genauen Angaben über Ort und Zeit ihres vorgeblichen Vortrags als Beleg dafür zu nehmen geneigt sein, dass ihre Herkunft aus dem Erfurter Quodlibet fingiert ist. Schon früher wurde angesichts der Durchsetzung mit Zitaten aus antiker und zeitgenössischer Dichtung bemerkt, dass die Rede »schon unmittelbar auf die literarisierende Situation der Druckfassung hin konzipiert zu sein«124 scheint und »sich im Text und in Gestaltung der Drucke« so »eng an die älteren gedruckten Reden« anschließt, dass »kaum eine eigene Gestaltungstradition mehr vorzuliegen scheint«125. Neben den zahlreichen Dichterzitaten sind in die Schrift eine Reihe von schwankhaften Beispielerzählungen inseriert, die trotz konkreter Lokalisierung häufig der literarischen Tradition entstammen. So wird zum Erweis der besonderen Trunksucht der Deutschen eine historia de duobus studentibus, qui hospitem cum uxore et filia inebriarunt (S. 137) erzählt, die vorgeblich zwei Erfurter Studenten bei einem privaten Gastgeber in Franken widerfahren sei; es handelt sich aber um die europaweit verbreitete, unter anderem aus Boccaccio, Chaucer und in zwei mittelhochdeutschen Mären bekannte Erzählung vom ›Studentenabenteuer‹.126 Im Abschnitt über die verderbliche Wirkung der Trunkenheit auf Priester zitiert die Rede zwei dicta, die Johannes Adelphus Muling seit der zweiten Auflage (1509) in seiner ›Margarita facetiarum‹ als Kanzelaussprüche Johannes Geilers von Kaysersberg ausgegeben hatte.127 Im selben Zusammenhang wird auch eine facetia des doctissimus vir Bebelius (S. 151) angeführt. Die zehn satirischen Distichen gegen Priester stammen jedoch weder aus Bebels ›Liber facetiarum‹ (1508–1512), noch aus einem seiner anderen Werke, sondern ebenfalls aus Adelphus’ ›Margarita facetiarum‹, in deren zweiter Auflage von 1509 sie die Sammlung der von Adelphus selbst verfassten Fazetien beschließen.128 Auch für die übrigen, als vera historia (S. 136) oder als facetiae (S. 142) eingeführten Schwankerzählungen dürften Quellen oder Motivparallelen ermittelbar sein. So wird man trotz der performativen Signale des Textes bis zur Auffindung neuer (archivalischer oder handschriftlicher literarischer) Quellen, die das Gegenteil erweisen, annehmen dürfen, dass die Rede ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ ein literarisches Gemeinschaftsprodukt des 124 Hess, Narrenzunft (wie Anm. 63), S. 208. 125 Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 54. 126 Vgl. Hans-Joachim Ziegeler, Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ›The Tale of the Cradle‹, in: Klaus Grubmüller u. a. (Hg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987, Paderborn u. a. 1988, S. 9–32, bes. S. 18. 127 Vgl. Kipf, Cluoge geschichten (wie Anm. 74), S. 513f. mit Anm. 85f. (mit Nachweisen). 128 Vgl. Kipf, Cluoge geschichten (wie Anm. 74), S. 514f. mit Anm. 87–89.
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Erfurter Humanistenkreises um Eobanus Hessus ist,129 die für den Druck konzipiert wurde und ihre Herkunft aus einer Erfurter Quodlibet-Disputation im Herbst 1515 nur fingiert. In jedem Fall ist die Scherzrede über die Arten der Trunkenheit durch ihre strengere Strukturierung und die Erwähnung des mos scholasticus im Titel (s. oben) stärker als die voraufgehenden Reden auch als Parodie des spätmittelalterlichen Unversitätsbetriebs aufzufassen. Bedenkt man, dass im selben Jahr der erste Band der ebenfalls im Erfurter Humanistenkreis konzipierten ›Epistolae obscurorum virorum‹ erschien,130 kann diese Intentionalität nicht überraschen. Auch die Druckgeschichte der Erfurter Scherzrede über die Trunkenheit führt – wie erwähnt – diese mit den ›Dunkelmännerbriefen‹ zusammen131 und sichert der Rede, die allein im 16. Jahrhundert neunmal gedruckt wurde,132 ein Nachleben bis ins 18. Jahrhundert.
III. Die akademischen Scherzreden als literarische Reihe Die Entstehung der akademischen Scherzrede als einer literarischen Reihe, die ihre Wirkung erst im neuen Medium des Buchdrucks entfaltet, lässt sich durch ein Gegenbeispiel verdeutlichen. Die oben genannten ältesten überlieferten quaestiones minus principales lassen sich kaum einer literarischen Reihe der Scherzrede zuordnen, obwohl sie zweifellos einer Quodlibet-Disputation entstammen. Ihr Überlieferungskontext verdeutlicht, dass sie wohl nicht als literarische Erzeugnisse (wegen ihres Unterhaltungswertes), sondern als Informationsträger verschriftlicht wurden. Es handelt sich um Antworten auf zwei quaestiones minus principales aus dem artistischen Quodlibet in Heidelberg, gehalten im Sommer 1458 unter dem Vorsitz des Magister Peter Krebs von Sesslach. Quaestiones und Antworten werden überliefert in einer Sammelhandschrift (Cpl 870, Bl. 144v–154r)133 aus
129 Vgl. auch Kleineidam, Universitas (wie Anm. 71), S. 205. 130 Vgl. zuletzt Sari Kivistö, Creating Anti-Eloquence. ›Epistolae obscurorum virorum‹ and the Eloquence of Style, Helsinki 2002; Gerlinde Huber-Rebenich, Art. ›Epistolae obscurorum virorum‹, in: Worstbrock, Deutscher Humanismus (wie Anm. 23), Bd. 1/3, Berlin / New York 2008, Sp. 646–658, hier Sp. 649f. 131 Vgl. Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 52 Anm. 31. 132 Vgl. Huber-Rebenich / Lütkemeyer, Art. ›Hessus‹ (wie Anm. 23), Sp. 1084. 133 Vgl. den ersten Hinweis bei Gerhard Ritter, Aus dem Kreise der Hofpoeten Pfalzgraf Friedrichs I. Mitteilung aus vatikanischen Handschriften zur Charakteristik des Heidelberger Frühhumanismus, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 38 [77] (1923), S. 109–123, bes. S. 110–112.
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dem Besitz des Matthias (Widmann) von Kemnat († 1476),134 des Hofkaplans und -historiografen Kurfürst Friedrichs I. (des Siegreichen) von der Pfalz, die von Matthias erstmals 1476 zusammengefasst wurde.135 Die erste Frage (144v–147r) behandelt die angebliche Häresie und Delikte der Beginen und Begarden, die zweite überlieferte quaestio (148r–156v), zugleich die dritte der Quodlibet-Disputation, erklärt die Differenzen verschiedener Typen von Kriminellen, unter anderem durch Erklärungen rotwelscher Ausdrücke.136 Die Antwort auf die zweite quaestio überliefert der Cpl 870 nicht. Die Ausführungen zu den beiden quaestiones stehen inmitten von Exzerpten zu verschiedenen Themen (zum Hexenwesen und zur Ketzerverfolgung, darunter ein Inquisitionsprotokoll)137 und sind offenkundig wegen der in ihnen enthaltenen Information aufgeschrieben worden – Matthias von Kemnat integrierte die Aufzeichnungen aus der QuodlibetDisputation zum Teil in wörtlicher Übersetzung in seine deutsche ›Chronica‹ (1475/76).138 Rekapitulieren wir die Tatsache, dass der Einschub von quaestiones minus principales in die Quodlibet-Disputation von Universitätsstatuten erstmals 1389 geregelt wird, die ältesten überlieferten Quaestionen von 1452 datieren, der erste Druck aber erst von 1489, so ist zunächst das Verhältnis von Disputationsakt und Verschriftlichung zu bedenken. Gerade hinsichtlich des Bestands an akademischen Scherzreden in handschriftlicher Überlieferung gilt nach wie vor, dass dieser »bei systematischer Suche durchaus noch […] zu vermehren sein dürfte«139. Angesichts dieses Befundes ist auch daran zu erinnern, dass die Disputationen zu den quaestiones minus principales des Quodlibets Gelegenheitsäußerungen waren, an deren Aufzeichnung in der Regel kein Interesse bestand. »Erst ein erweitertes Verständnis der Scherzreden als relevanter Formen der Zeit- und Gesellschaftskritik«140 durch Jakob Wimpfeling ist der Grund für den Druck der ersten beiden Scherzreden in einem ethisch-geistlichen Sammelband, dessen Schriften besonders die Lebensführung des Klerus verbessern wollen.141 134 Vgl. zu Leben und Werk umfassend Birgit Studt, Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung, Köln u. a. 1992. 135 Vgl. zur Handschrift Rudolf Kettemann, in: Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 2. November 1986 […], hg. v. Elmar Mittler, Heidelberg 1986, Textbd., S. 193–195 (E 1.5); Studt, Fürstenhof (wie Anm. 134), S. 24–27 u. ö. (Reg.). 136 Abgedruckt bei Ritter, Aus dem Kreise (wie Anm. 133), S. 112. 137 Vgl. Studt, Fürstenhof (wie Anm. 134), S. 338 f. 138 Vgl. Ritter, Aus dem Kreise (wie Anm. 133), S. 111; Studt, Fürstenhof (wie Anm. 134), S. 338–340. 139 Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 52. 140 Kleinschmidt, Scherzrede (wie Anm. 1), S. 52. 141 S. o. II.1.
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Der erste Druck zweier Scherzreden durch Wimpfeling setzte einen Prozess in Gang, der zur Bildung einer literarischen Reihe führte. Das ›Directorium statuum‹ regte einerseits zum Plagiat an (Schram), andererseits zur Ausgabe neuer Scherzreden aus demselben Entstehungsumfeld (Hartlieb / Olearius). Schließlich erschien mit der anonymen Erfurter Rede ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ von 1515 ein stilistisch anspruchsvolles literarisches Produkt, das als Entstehungsort den universitären Akt wohl nurmehr fiktiv fokussiert, dafür aber einen Kreis gleichgesinnter Poeten als »Autorenteam« erkennen lässt und gleichsam den Endpunkt einer literarischen Entwicklung markiert. In nuce lässt sich an der literarischen Reihe der akademischen Scherzrede die mit Blick aufs Mittelalter formulierte These Grubmüllers illustrieren, derzufolge Gattungen »analytisch nur dort aufgesucht werden [können], wo sich klar umgrenzte Werkreihen in konkretem historischem Zusammenhang, das heißt in beschreibbarer Bezugnahme, beobachten lassen«142. Die kurze Gattungsgeschichte der akademischen Scherzrede im Spiegel ihrer Erstdrucke ist zugleich eine Geschichte der fortschreitenden Literarisierung, das heißt der fortschreitenden Ablösung von ihrem Entstehungskontext, der universitären Quodlibet-Disputation, zugleich aber auch der fortschreitenden Tilgung beziehungsweise Fiktionalisierung der Spuren ihrer Performativität. Diese fortschreitende Entpragmatisierung lässt sich – wiederum in nuce – an der Überlieferungsgeschichte von Bartholomäus Gribus’ ›Schelmenzunft‹ beobachten. Lässt der Text in der vortragsnächsten, der handschriftlichen Überlieferung (des Berliner Mlf 49) seine Entstehungssituation noch klar erkennen, so geht der spezifische Witz, den die Frage nach der Übertragbarkeit des Ehrentitels der Philosophie auf die selbst ernannten Mitglieder der Schelmenzunft in der handschriftlichen Fassung durch das Bekenntnis des Vortragenden zur Mitgliedschaft in dieser Zunft gewann, in der Fassung des Erstdrucks durch die Tilgung dieses Bekenntnisses teilweise verloren. In der Fassung der Einzeldrucke wird die Bezugnahme auf das Quodlibet zugunsten eines fiktiv-satirischen Briefrahmens gänzlich getilgt. In der deutschen Übersetzung (1506) bleibt schließlich von der Scherzrede nurmehr ein Katalog von deren Mitgliedsstatuten. Die eindeutige Benennung einer komischen Wirkungsabsicht der akademischen Scherzreden hat dazu geführt, dass sie von der Forschung in die Nähe der humanistischen Fazetiensammlungen gerückt wurden, bis142 Klaus Grubmüller, Gattungskonstitution im Mittelalter, in: Nigel F. Palmer / Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Mittelalterliche Literatur im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 210.
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weilen wurden sie gar einfachhin als »Facetien« bezeichnet.143 Dagegen ist einzuwenden, dass die akademischen Scherzreden als diskursive Texte, die narrative Partien allenfalls in exemplarischer Funktion kennen, schwerlich zur selben Gattung gerechnet werden können wie Sammlungen von Kurzerzählungen vom Typ der humanistischen Fazetiensammlungen. Allenfalls ist eine funktionsgeschichtliche Nähe beider Textreihen, die auch in den zeitgenössischen Benennungen ihren Niederschlag findet, zu konstatieren.144 Darüber hinaus hat historisch eine Wechselwirkung beider Gattungen aufeinander stattgehabt, auf die oben in Einzelfällen verwiesen wurde.145
IV. Ergebnis und Ausblick Fassen wir die Überlegungen zum erhaltenen Bestand der akademischen Scherzreden zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Determinierte quaestiones minus principales, die Statuten verschiedener Universitäten seit 1389 als Teil der großen Quodlibet-Disputation vorsehen beziehungsweise zulassen, treten für uns nur spät und vereinzelt ans Licht. Als Gelegenheits-, ja Augenblicksbildungen waren die Antworten zu den scherzhaften Fragen, die zum Abschluss der zumeist mehrtägigen disputationes quodlibetares der Auflockerung und Entspannung der Teilnehmer dienen sollten, nicht für die Nachwelt bestimmt und wurden keiner Aufzeichnung für wert befunden. Die späte Ausnahme der Aufzeichnung zweier Heidelberger quaestiones in der Handschrift des Matthias von Kemnat diente nicht der Dokumentation literarischen Schaffens, sondern der Sachinformation über die Themen der quaestiones. Erst durch die Interpretation der Scherzreden als Moralsatire durch Jakob Wimpfeling, der die beiden ersten gedruckten Scherzreden selbst herausgab und die Ausgabe zweier weiterer initiierte beziehungsweise vermittelte, etablierte sich ein literarisches Modell, das sehr schnell Nachfolge fand. Die Abhängigkeit der späteren Scherzreden von den Mustertexten des ›Directorium statuum‹ steht außer Frage. Die literarische Reihe der akademischen Scherzrede weist mit Johannes Schrams ›Schweinezunft‹ den Fall eines Plagiats auf, dessen Montagecharakter einen Vortrag des Textes in der Disputation freilich nicht ausschließen kann. Der letzte Vertreter, die Erfurter Rede über die Arten der Trunkenheit von 143 Konrad Vollert, Zur Geschichte der lateinischen Facetiensammlungen des XV. und XVI. Jahrhunderts, Berlin 1912, S. 41, 44. 144 Vgl. Wittchow, Eine Frage der Ehre (wie Anm. 89), S. 352f. 145 Vgl. im Zusammenhang Kipf, Cluoge geschichten (wie Anm. 74), S. 516f., 529f.
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1515, schließlich scheint die vorliegenden Gattungsvertreter nurmehr zu imitieren und die Signale ihrer Performativität zu fingieren. Die einsetzende Reformation und die zwischen 1510 und 1530 überall greifende humanistische Reform der Universitäten, besonders der Artistenfakultät, dürften dem historischen Texttyp ›akademische Scherzrede‹ die Grundlage, die Quodlibet-Disputation, entzogen haben. Auffällig ist das späte Einsetzen und die kurze Phase der intensiven Textproduktion auf diesem Gebiet. In den Scherzreden tritt uns ein Autortyp entgegen, der in der mittelalterlichen Literatur nicht eben häufig ist: der namentlich fassbare Gelegenheitsautor. Bartholomaeus Gribus, Johannes Schram, Jakob Hartlieb und Paulus Olearius sind Magister der Artistenfakultät, die literarisch einzig in den akademischen Scherzreden hervortreten. Nur Schram scheint überdies für den Druck seiner Scherzrede, deren historischer Vortrag nicht gesichert ist, selbst gesorgt zu haben. Gribus, Hartlieb und Olearius sind jedoch in ihrem späteren Leben als Kleriker und examinierte Theologen historisch gut bezeugte Personen, die – wie für Hartlieb belegt146 – literarische Interessen auch nach ihrem Studium gepflegt haben mögen, aber nicht mehr selbst literarisch hervortraten. Etwas anders liegt der Fall bei Jodocus Gallus. Er war ein gesuchter Redner bei akademischen und kirchlichen Anlässen, einige Reden und lateinische Epigramme sind handschriftlich erhalten. 1517 ließ er ein Andachtsbuch in deutscher Sprache drucken.147 Trotz der – heute womöglich abstoßenden – groben Obszönitäten der überlieferten Scherzreden bekleideten drei ihrer Autoren später höhere kirchliche Ämter: Gallus war Speyrer Domprediger und Kanoniker mehrerer Chorherrenstifte,148 Gribus war zeitweilig Kanoniker und starb als Pfarrer (Pleban).149 Hartlieb war (wie Gallus) zeitweilig Domprediger in Speyer und amtierte als Dekan zweier Heidelberger Kollegiatstifte.150 Olearius’ Spuren verlieren sich nach seiner Heidelberger Promotion zum Doktor der Theologie,151 für den Magister Schram ist der Druck seiner Erfurter Scherzrede das letzte Lebenszeugnis.152 Anders liegt der Fall na146 Vgl. Otto Herding, Bemerkungen zu einer Wimpfeling-Ausgabe, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 3 (1971), S. 218–225 (zu einem Sammelband aus Hartliebs Besitz). 147 Vgl. zusammenfassend Kleinschmidt, Art. ›Gallus‹ (wie Anm. 57). 148 Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon (wie Anm. 69), S. 263f. 149 Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon (wie Anm. 69), S. 31f. 150 Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon (wie Anm. 69), S. 249. 151 Vgl. Drüll, Gelehrtenlexikon (wie Anm. 69), S. 436. Das dort fehlende Datum der Promotion bei Gustav Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386–1662, Bd. 2, Heidelberg 1886, S. 399. 152 Vgl. Worstbrock, Art. ›Schram‹ (wie Anm. 19), Sp. 845.
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türlich bei der anonymen Erfurter Scherzrede ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹, die ein namenloses Produkt eines Poetenzirkels unter Federführung des zur Entstehungszeit berühmtesten lateinischen Dichters Deutschlands, des rex poetarum Hessus, zu sein scheint. Trotz ihrer kurzen Zeitspanne ist die Textreihe der akademischen Scherzreden nicht ohne nachhaltige Wirkung in der deutschen Literaturgeschichte geblieben. Dies belegt nicht nur die oben dokumentierte eindrucksvolle Druckgeschichte einiger Scherzreden, besonders derjenigen Hartliebs und Olearius’ sowie der anonymen Erfurter Rede von 1515. Die Schiffsmetaphorik der ›Lichtschiff‹-Rede des Jodocus Gallus samt ihrer Umsetzung in die Buchillustration dürfte Sebastian Brant zur Wahl seiner Leitmetapher für das ›Narrenschiff‹ angeregt haben.153 Thomas Murner entlieh mit einiger Sicherheit Gribus’ ›Schelmenzunft‹ beziehungsweise ihrer deutschen Fassung von 1506 den Titel für sein gleichnamiges Werk von 1515.154 Die lateinisch-deutsche Sprachmischung sowie die Parodie des mittelalterlichen Lateins in Wortschatz und Syntax schließlich wurden wegweisend für die Sprachparodie der ›Epistolae obscurorum virorum‹ (1515 und 1517).155 Noch zu erforschen sind die Beziehungen einzelner Scherzreden, besonders von Gribus’ ›Schelmenzunfft‹, ihrer Redaktionen und Übersetzung, zur grobianischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Als Ganzes aber präsentiert sich die kurzlebige literarische Reihe der akademischen Scherzrede trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Herkunft aus der spätmittelalterlichen Universität und gerade in ihrer Verbindung von sprachspielerischer, zuweilen obszöner und häufig banaler Komik mit einer satirischen Funktionalisierung als ein spezifisches und charakteristisches literarisches Produkt des deutschen Humanismus um 1500.
153 Vgl. (mit eingehendem Vergleich besonders der Schiffsikonografie) Hartau, Narrenschiffe (wie Anm. 62), S. 149–156 u. Anm. 23. 154 Vgl. Zarncke, Universitäten (wie Anm. 11), S. 240. 155 Vgl. Hess, Narrenzunft (wie Anm. 63), S. 211–221.
Michael Philipp
Politica und Patronage. Zur Funktion von Widmungsadressen bei politischen Dissertationen des 17. Jahrhunderts Die disputatio im Fach Politik war im 17. Jahrhundert sehr beliebt. In keiner anderen Disziplin des artistischen Fächerkanons wurden – geht man von der Zahl der Drucke aus – so häufig Disputationen abgehalten.1 Diese weit über 3.000 derzeit bekannten Schriften,2 die überwiegend an protestantischen Hochschulen des Reiches produziert worden sind,3 stellen eine wertvolle Quelle nicht nur für die Fachgeschichte und die politische Theorie dar, sondern auch für die Bildungs-, Universitäts- und Sozialgeschichte in Deutschland. Neben den inhaltlichen Ausführungen und dem Titelblatt enthalten diese Schriften sehr häufig Widmungen, die – wie Zueignungen allgemein – »den Raum der Öffentlichkeit« konstituieren, »der für Rezep1
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Vgl. Michael Philipp, Berufsperspektiven von Politikstudenten des 17. Jahrhunderts, in: Rainer A. Müller (Hg.), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 126–149, hier S. 134ff. Demnach bilden im 17. Jahrhundert Politikdisputationen etwa ein Viertel aller Disputationsdrucke der artistischen Fächer. Mit Abstand folgen dissertationes physicae (16 %), historicae (14 %) und ethicae, metaphysicae sowie philologicae (jeweils 11 %). Vgl. Michael Philipp, Politische Dissertationen im 17. Jahrhundert, in: Rainer A. Müller (Hg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne, Köln 2001, S. 21–44, sowie meine Zusammenstellung im Internet unter: http://www.philso.uni-augsburg.de/ web2/Politik1/geschpw5.html. An den katholischen Universitäten des Reiches wie auch der anderen europäischen Länder kam es nicht zur Ausdifferenzierung der Politik als eigenständiger Wissenschaft, was u. a. das weitgehende Fehlen entsprechender disputationes politicae erklärt. Relativ häufig produziert worden, aber bislang wohl noch sehr unzureichend erfasst sind frühneuzeitliche Politikdisputationen auch an niederländischen und skandinavischen sowie an Schweizer Universitäten und Hochschulen. Vgl. zu den Niederlanden Hans W. Blom, Political science in the golden age. Criticism, history and theory in Dutch seventeenth century political thought, in: The Netherlands journal of sociology 15 (1979), S. 47–71; Gert O. van de Klashorst / Hans W. Blom / Eco O.G. Haistma Mulier (Hg.), Bibliography of Dutch seventeenth Century political Thought. An annotated inventory 1581–1710, Amsterdam 1986; Harm Wansink, Politieke Wetenschappen aan de Leidse Universiteit 1575–1650, Utrecht 1975.
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Michael Philipp
tion und Wirkung eines Textes unverzichtbar ist«4. Sie geben interessante Aufschlüsse über den Stellenwert solcher Arbeiten,5 über die soziale Vernetzung wie auch über Karriereambitionen und Patronagepotenziale der direkt oder indirekt daran Beteiligten.6 Dies mag mehr oder minder auch für Disputationen der anderen philosophischen Fächer einschließlich der an katholischen Universitäten verbreiteten Thesenblätter7 gelten, jedoch spricht nicht nur der einleitend genannte quantitative Befund dafür, dass im Folgenden ausschließlich die disputatio politica fokussiert wird. Die disputatio als akademische Veranstaltung wie auch als Druckerzeugnis war für die junge Politikwissenschaft, die sich um 1600 an den protestantischen Universitäten zu etablieren begann, ein wichtiges Medium der Entfaltung und Entwicklung als Lehrfach,8 und es ist wohl auch kein Zufall, dass eine Reihe von propädeutisch-methodischen Lehrbüchern zur »Disputier-
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Theo Stammen, Über Widmungen, in: Wolfgang Jäger u. a. (Hg.), Republik und Dritte Welt. Festschrift für Dieter Oberndörfer zum 65. Geburtstag, Paderborn u. a. 1994, S. 439–456, hier S. 444, unter Bezugnahme auf Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (aus dem Franz. von Dieter Hornig), Frankfurt 1989. Es geht im Folgenden – nota bene – ausschließlich um gedruckte Widmungen. Handschriftliche Dedikationsadressen, die gelegentlich auf den Titelblättern auftauchen, bleiben unberücksichtigt. Zu Patronage, Klientelismus und anderen Formen sozialer Vernetzung vgl. den Sammelband von Antoni Maczak (Hg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, sowie den aktuellen Forschungsüberblick von Heiko Droste, Patronage in der Frühen Neuzeit – Institution und Kulturform, in: ZHF 30 (2003), S. 555–590. Zur Wahrnehmung dieser Phänomene durch die zeitgenössische politische Theorie vgl. Wolfgang Weber, Bemerkungen zur Bedeutung der Freundschaft in der deutschen politischen Theorie des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Luigi Cotteri (Hg.), Il concetto di amicizia nella storia della cultura europea (Der Begriff der Freundschaft in der Geschichte der europäischen Kultur), Meran 1995, S. 756–766. Als universalgeschichtliche Forschungsaufgabe wahrgenommen werden sie, ausgehend von Pionierarbeiten von Wolfgang Reinhard (vgl. etwa ders., Freunde und Kreaturen. ›Verflechtung‹ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979), durch das Freiburger DFG-Graduiertenkolleg 1288 ›Freunde, Gönner, Getreue‹. Vgl. zu diesen Thesenblättern Sibylle Appuhn-Radtke, »Domino suo clementissimo ...«. Thesenblätter als Dokumente barocken Mäzenatentums, in: Müller, Bilder – Daten – Promotionen (wie Anm. 1), S. 56–83. Tatsächlich beschränkten sich, wie Horst Dreitzel, einer der besten Kenner der frühneuzeitlichen politischen Literatur, bemerkte, Disputationen »durchaus nicht auf eine Wiedergabe von Lehrmeinungen«. Sie stellen vielmehr »die erste Form monographischer Forschung« dar, vgl. ders., Monarchiebegriff in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz (2 Bde.), Köln / Weimar / Wien 1991, S. 457. Vgl. dazu auch meine Überlegungen zum Nutzen der Politikdisputationen für die Präsiden in: Philipp, Politische Dissertationen (wie Anm. 2), S. 32ff.
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Kunst« von Vertretern eben jenes Faches publiziert worden sind.9 Schließlich rechtfertigt auch die besondere Bedeutung der Politica als Qualifikationsfach für den Staatsdienst sowie als standesspezifisches Studium des Adels, bei dem ganz gezielt und auch erfolgreich um das Politikstudium geworben wurde,10 – der Anteil von equites und nobiles als Respondenten von Politikdisputationen schwankt um gut 17 %11 – diese Schwerpunktsetzung.12 Vorab ist der Stellenwert solcher Disputationen und ihrer Drucke – für letztere verwendet die moderne Forschung gerne die Bezeichnung (alte) Dissertation, beide Begriffe werden im 17. Jahrhundert aber synonym verwendet – im Allgemeinen zu klären, der in hohem Maße auch die möglichen Funktionen der Widmungen prägte. Disputationen waren eine der grundlegenden Formen von Lehrveranstaltungen an der frühneuzeitlichen
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Beispiele sind die ›Brevis commentatio de disputatione‹ (Altdorf 1659) des führenden Altdorfer Politologen Johann Paul Felwinger oder der ›Processus disputandi‹ (Leipzig 1670) des Leipziger praktischen Philosophen Jakob Thomasius. Beide Gelehrte haben jeweils zahllose Politikdisputationen betreut. Erwähnenswert wäre auch der vornehmlich in Straßburg wirkende Johann Conrad Dannhauer, der 1629 eine ›Idea boni disputatoris et malitiosi sophistae‹ verfasst hat, der aber als Politiklehrer nicht so bedeutend war wie die beiden Vorgenannten. Vgl. zu den erwähnten Werken: Donald Felipe, The Post-Medieval Ars Disputandi (Diss. Austin / Texas), Ann Arbor 1991 und den Aufsatz desselben in diesem Band. Vergleichbare Werke haben außerdem Petrus Lauremberg (›Methodus … disputandi, an: Cynosura bonae mentis‹, Rostock 1633) und Johann Christoph Hundeshagen (›Methodus disputandi, an: Logica‹, Jena 1674), beide gleichfalls für die Politik relevante Gelehrte, verfasst. 10 Ein gutes Beispiel, das diesen Zusammenhang exemplifiziert, ist: Michael Piccart (Pr.) / Christoph Gulden (Resp.), De requisitis studii Politici Disputatio philosophica, Altdorf 1619. Der Respondent, der Königsberger Christoph Gulden, ist bezeichnenderweise ductor bzw. institutor, Hofmeister und Erzieher, eines jungen Adeligen, der in dessen Gefolge verschiedene Universitäten besucht hat. Zudem ist die Arbeit auch noch einer Reihe von Familienmitgliedern und Verwandten dieses Achatius Baron von Dhona gewidmet. Vgl. dazu unten mit Anm. 94. Zum Adelsstudium vgl. Rainer A. Müller, Aristokratisierung des Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 31–46; Norbert Conrads, Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1982. 11 Philipp, Berufsperspektiven (wie Anm. 1), S. 138f.; der genannte Durchschnittswert bezieht sich auf die Universitäten Altdorf, Helmstedt, Jena und Tübingen. 12 Zur frühneuzeitlichen Politikwissenschaft ist neben den Arbeiten von Horst Dreitzel grundlegend: Wolfgang Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992. Vgl. nun auch Michael Philipp, Polyarchiewissenschaft. Die Geburt der Politikwissenschaft in Deutschland im 17. Jahrhundert, Habilitationsschrift Augsburg 2003. Grundlegende Untersuchungen zur bzw. vergleichende Analysen der Wissens(re)produktion vieler anderer Fächer auf der Basis von Disputationen als deren wesentlicher Output sind Forschungsdesiderate.
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Universität.13 Im Unterschied zur Vorlesung, lectio, traten dabei jedoch mehrere Akteure in Erscheinung: Ein Professor oder Dozent übernahm als Präses die Leitung der zwei bis drei Stunden dauernden Disputation; ein Student erläuterte als Respondent oder Defendent das zu behandelnde Thema und Opponenten suchten mit Gegenthesen die Ausführungen des Referenten auf ihren Wahrheitsgehalt zu hinterfragen; eine Fakultät schließlich, bei Politikdisputationen in der Regel die artistische beziehungsweise philosophische, hat unter einem Dekan dem ganzen Vorgang die Genehmigung erteilt. Die akademische Veranstaltung geschah vor einem akademischen Publikum, das neben Kommilitonen auch die – mehr oder minder zur Teilnahme verpflichtete – Professorenschaft umfasste.14 Dieses unmittelbare Publikum ist zumindest in geringem Ausschnitt in Lob- und Gratulationsgedichten fassbar, welche nicht selten von Professoren und – häufiger – von Mitstudenten, oft Freunde, Landsleute und Tischgenossen des Respondenten, für den Druck der Disputation beigesteuert wurden; sie dokumentieren die Eingebundenheit des Defendenten in die prestigeträchtige Welt der akademischen Gelehrsamkeit.15 In gedruckter Form war die Disputation schließlich ein wichtiges Instrument der Wissensvermittlung und Medium des Gedankenaustausches in der »Gelehrtenrepublik«, erreichte sie doch als begehrtes Sammelobjekt ein weitverstreutes Lesepublikum, sprich, die akademische Welt des Reiches
13 Vgl. zur Disputation und ihren unterschiedlichen Ausprägungen die Arbeiten von Ewald Horn, Die Disputationen und Promotionen an deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1893 (ND Wiesbaden 1968); Karl Mommsen, Katalog der Basler juristischen Disputationen 1558–1818. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Werner Kundert, Frankfurt 1978; Hanspeter Marti, Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie unter Mitarbeit von Karin Marti, München u. a. 1982; Felipe, Ars Disputandi (wie Anm. 9); Joseph S. Freedman, Disputations in Europe in the Early Modern Period, in: Hora est! On dissertations, Leiden 2005, S. 30–50 (mit Abbildungen u. a. zweier Politikdisputationen); sowie jetzt: Ulrich G. Leinsle, Dilinganae Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Disputationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648, Regensburg 2006. 14 Vgl. für Altdorf etwa: Georg Andreas Will, Geschichte und Beschreibung der Nürnbergischen Universität Altdorf, Aalen 1975 (ND der Ausg. ²1801), S. 120ff. 15 Zur Bedeutung dieser carmina gratulatoria fehlen, soweit ich sehe, noch grundlegende Forschungen. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass Lobgedichte insbesondere aus der Feder von Professoren das Prestige des Respondenten – gleichgültig ob nun, wie die Titelblätter und Widmungen oft reklamieren, tatsächlich Autor der Arbeit oder nicht (zur Autorschaft vgl. Anm. 29) – gehoben, seinen Argumenten im Vergleich zu denen der gegnerischen Opponenten zusätzliches Gewicht verliehen und sein soziales Renommee in der ständischen Gesellschaft aufgewertet haben. Sie können, von ihrer Funktion her betrachtet, also eine Ergänzung oder eine Alternative zur Widmung gewesen sein.
Widmungsadressen politischer Dissertationen des 17. Jh.s
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und auch der benachbarten Länder.16 Das Titelblatt eines Disputationsdruckes, das zugleich die Veranstaltung mit der Angabe von Raum (Hörsaal) und Zeit ankündigte, nennt – neben dem Thema, der genehmigenden Fakultät und anderem mehr – den Leiter und den Respondenten. Die Opponenten hingegen können über die Drucke nur ganz selten namentlich erfasst werden; stattdessen werden darin häufig Gönner und Förderer greifbar, denen die Disputation gewidmet wurde. Ausgehend von diesen Befunden und Thesen wird im Folgenden der Informationsgehalt solcher Dedikationen erfasst und näher bestimmt.17 Zunächst sind die Bemerkungen zur Bedeutung speziell der Politikdisputationen noch etwas zu vertiefen. Auf der Basis einer Auswertung der Schlüsselseiten, die im ›Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen 16 Zur Disputation als Sammelobjekt von Gelehrten vgl. Martin Gierl, Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730, in: Richard van Dülmen u. a. (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln 2004, S. 417–438, hier S. 422ff. Disputationsdrucke waren wichtige Medien der Verbreitung von Wissen und der »Verschriftlichung von Wissenschaft«, denen sich später die gelehrten Zeitschriften hinzugesellten. »Up-to-date zu sein, hieß in der prae-journalen Zeit, über die aktuellen Disputationen in Form der Dissertationen zu verfügen.«, ebd., S. 422 (erstes Zitat) bzw. S. 423. – Dass Politikdisputationen weite Verbreitung gefunden haben, belegen zahlreiche Nachweise etwa in der National Library of Scotland oder der Bibliothèque nationale de France. Beispielsweise nur in Schottland nachweisbar sind derzeit: Julius Krauss (Pr.) / Johann Riedesel v. Eysenbach (Resp.), Disputatio politica De bello et pace, Jena 1649; Emanuel Lucius (Pr.) / Johann Rudolf Tscharner (Resp.), Disputatio politica De magistratu, Heidelberg 1658; nur in Paris und London nachweisbar ist: Johann Paul Felwinger (Pr.) / Wilhelm v. Köckritz (Resp.), Dissertatio politica De legibus, Altdorf 1660; nur in Paris die Dissertationen des ›Collegium Politicum‹ (Leipzig 1630) von Christoph Bulaeus. 17 Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf einer Zusammenstellung von Politikdisputationen, die mithilfe des ›Karlsruher Virtuellen Kataloges‹ (KVK; http://www.ubka. uni-karlsruhe.de/kvk/) ermittelt wurden. Recherchiert wurde dazu im ›Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts‹ (VD17), das auch die hier relevanten Schlüsselseiten zugänglich macht, des Weiteren im ›BibliotheksVerbund Bayern‹ (BVB), im ›Südwestdeutschen Bibliotheksverbund‹ (SWB) und dem ›Gemeinsamen Verbundkatalog‹ (GBV). Ergänzend wurden von mir erfasste und digitalisierte Titelseiten und Widmungen von Disputationen aus der Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek und der Stadt- und Staatsbibliothek Augsburg sowie der Studienbibliothek Dillingen und der Universitätsbibliothek Rostock mit einbezogen. Die folgende, sich auf diese und die über das VD17 zugänglichen Schlüsselseiten stützende Analyse ist freilich Einschränkungen unterworfen. Ihre Begrenztheit liegt auch darin, dass das VD17 derzeit im Schwerpunkt Bestände der Staatsbibliothek München, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und weiterer Bibliotheken Süd- und Mitteldeutschlands erfasst; Schwachstellen zeigen sich hingegen bei der Erfassung von Beständen südwest- und westdeutscher Bibliotheken. Frühneuzeitliche Politikdisputationen etwa der Universitäten Tübingen, Gießen oder Marburg sind bislang nur lückenhaft über das VD17 greifbar.
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Drucke des 17. Jahrhunderts‹ zugänglich sind, werden dabei in Kombination mit Informationen zum beruflichen Werdegang der Verfasser die möglichen Funktionen von Widmungen herausgearbeitet; auch das jeweilige Thema kann hierbei von Bedeutung sein. Anschließend ist der Frage nachzugehen, ob Politikdisputationen grundsätzlich eine Widmung enthalten, um sodann unterschiedliche Typen und Formen von Dedikationen vorzustellen. Grundlage hierfür (wie auch für das Folgende) sind Widmungen von gut 400 Politikdisputationen der Universitäten Altdorf, Gießen, Helmstedt, Königsberg und Leipzig.18 Neben dem Herkunftsmilieu der Respondenten bildet sodann die Klassifizierung der Widmungsadressaten nach ihrem sozialen Status und ihrer beruflichen Stellung sowie dem damit einhergehenden Patronagepotenzial den Untersuchungsschwerpunkt. Exemplarisch soll in diesem Kontext auch veranschaulicht werden, wie ein solches Netzwerk zwischen Respondent und Widmungsadressat wirksam war oder werden konnte; dabei wird sich auch zeigen, dass die klassische Patronage nicht selten durch verwandtschaftliche Beziehungsnetze überlagert und ergänzt wird.19
I. Zur Bedeutung von Politikdisputationen und zu den Funktionen ihrer Widmungen Welche Bedeutung hatte nun speziell eine disputatio politica? Grundsätzlich stellte sie keine unmittelbar mit der Erlangung eines akademischen Grades (pro gradu) verbundene Qualifikationsleistung dar, gehörte die Politica doch zu den Fächern der artistischen Fakultät, in der zur Erlangung des Magistertitels in der Regel eine Mehrzahl von Übungsdisputationen in den unterschiedlichen philosophischen Disziplinen erforderlich war.20 Somit könnte vermutet werden, dass eine Politikdisputation – gleiches gilt frei18 Die Auswahl dieser Hochschulen sollte repräsentativ sein zum einen für den unterschiedlichen Zuschnitt der deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts (von der relativ kleinen Altdorfer Hochschule bis hin zur Leipziger Massenuniversität), zum anderen für die verschiedenen Territorien des Reiches, in welche sie eingebunden waren; ansatzweise sollte damit auch der gesamte Raum des damaligen römisch-deutschen Reiches abgedeckt werden. Vgl. dazu Philipp, Polyarchiewissenschaft (wie Anm. 12). 19 Ein weiterer Aspekt, auf den hier nur am Rande eingegangen werden konnte, ist die Bedeutung der Präsiden im Rahmen dieser Patronagesysteme: Sie könnten als Vermittler von Kontakten oder schlicht als Prestigeträger eine wichtige Rolle gespielt haben. 20 Zum Teil waren in den Statuten bis zu acht Disputationsübungen – so etwa in Jena – für die Erlangung des Magistergrades bzw. für die Zulassung zur Magisterprüfung gefordert, was sich in der Praxis aber als kaum durchführbar erwiesen hat. Vgl. Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche
Widmungsadressen politischer Dissertationen des 17. Jh.s
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lich auch für disputationes physicae, ethicae, dialecticae usw. – eben nur eine von mehreren akademischen Leistungen des Grundstudiums darstellte, die im Unterschied zu Disputationen an der juristischen oder theologischen Fakultät noch nicht für eine spätere Berufstätigkeit qualifizierte, galt doch das Studium in der philosophischen Fakultät »nur« als Fundament für ein weiterführendes Studium der Theologie, Jurisprudenz oder Medizin. Widmungen in philosophischen Disputationen hätten dementsprechend eher die Funktion, sich bei Förderern und Gönnern für die Ermöglichung des mit erheblichen finanziellen Kosten verbundenen Studiums zu bedanken.21 Und eben dieses Motiv der Danksagung an »den heimischen Mäcenaten« oder der Erfüllung einer Ehrenpflicht hochgestellten Persönlichkeiten gegenüber wird in der älteren Literatur betont.22 Die Praxis zeigt jedoch, dass – eben aufgrund der damit verbundenen hohen finanziellen Aufwendungen – Politikdisputationen nicht selten die einzigen (nachweisbaren) Arbeiten von Studenten als Respondenten geblieben sind: Vor allem adelige Studenten haben kaum eine zweite Disputation bestritten; unter den bürgerlichen Respondenten haben je nach Universität etwa ein knappes Drittel neben der politischen eine weitere juristische, seltener auch eine zweite oder dritte philosophische und/oder eine theologische Disputation absolviert (siehe Tab. 1).23 Dies gilt freilich ganz allgemein für Disputationen aller Disziplinen: Weil häufig gar keine akademischen Grade angestrebt wurden, die Kosten der Disputation hoch waren und zudem eine solche gedruckte Arbeit als Qualifikationsnachweis für die meisten Berufe genügt hat, haben Studenten im Laufe des 17. Jahrhunderts, »wenn überhaupt, dann … nur noch einmal öffentlich und feierlich um der Studiennachweise und der akademischen Ehre
und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit, in: Müller, Bilder – Daten – Promotionen (wie Anm. 1), S. 150–273, hier S. 203f. 21 Zu den Kosten der Disputation, die sich u. a. aus dem Honorar für den Präses, den erheblichen Druckkosten sowie Ausgaben für die anschließende Bewirtung zusammensetzten, vgl. Horn, Disputationen und Promotionen (wie Anm. 13), S. 19, 36, 86f., Hanspeter Marti, Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums, in: Müller, Promotionen und Promotionswesen (wie Anm. 2), S. 1–20, hier S. 18f., sowie Philipp, Politische Dissertationen (wie Anm. 2), S. 32 (mit weiteren Nachweisen). 22 Horn, Disputationen und Promotionen (wie Anm. 13), S. 85. 23 Philipp, Berufsperspektiven (wie Anm. 1), S. 139f.; dieser Befund, den ich dort für die Hochschulen Altdorf, Helmstedt, Jena und Tübingen erarbeitet habe, bestätigt sich auch für Politikdisputationen anderer Universitäten, worauf im Folgenden noch hingewiesen wird.
238 Politikdisputationen 1600–1700
Michael Philipp
Altdorf
Gießen
als einzige Disputation des Respondenten
42
32
56
49
53
zusätzlich: juristische Disputation
16
11
27
6
40
zusätzlich: theologische Disputation
0
4
3
4
8
zusätzlich: weitere Politikdisputation
5
1
2
3
16
zusätzlich: Disputation in einem anderen philosophischen Fach*
3
3
6
3
15
zusätzlich: medizinische Disputation
0
0
0
0
1
66
51
94
65
133
Gesamt
Helmstedt
Königsberg
Leipzig
Tab. 1: Bedeutung der Politikdisputation im Rahmen der akademischen Ausbildung ihrer Respondenten (Universitäten Altdorf, Gießen, Helmstedt, Königsberg und Leipzig 1600–1700). * Gezählt werden zusätzliche philosophische Disputationen in dieser Reihe nur, wenn die Respondenten keine Disputation in einer der drei oberen Fakultäten bestritten haben.
willen« disputiert.24 Damit dürfte solchen akademischen Schriften, zeitlich platziert unmittelbar an oder nahe der Schnittstelle zwischen Studium und Berufsleben, sehr wohl auch eine zukunftsweisende Funktion zuzumessen sein.25 Dies prägt den Stellenwert von Widmungen dementsprechend. Im anderen Fall, wenn also mehrere Disputationen von einem Studenten vorliegen, dürfte der ersten mitsamt ihrer Widmung die Funktion der Danksagung und des Nachweises der Zugehörigkeit zum akademischen Stand zukommen, während spätestens dann die zweite (und gegebenenfalls dritte usw.) mit Karriereerwartungen verknüpft wurde. 24 Rasche, Deutsche Universitäten (wie Anm. 20), S. 204. Ein Studium habe aufgrund des Fehlens obligatorischer Abschlussprüfungen an protestantischen Universitäten »keineswegs mit einer Prüfung oder gar einem akademischen Grad abgeschlossen werden« müssen, und wegen der Kosten für öffentliche Disputationen hätten sich eine solche »die allermeisten Studenten deshalb, wenn überhaupt, dann nur einmal im Laufe ihres Studiums leisten« können; ebd., S. 157 (erstes Zitat) und S. 161. 25 So auch Rasche, Deutsche Universitäten (wie Anm. 20), S. 163 (mit zeitgenössischen Belegen): Die Dissertation (i. e. gedruckte Disputation) habe »als eine Art Eintrittsbillet in die Kreise« fungiert, »von denen man sich Förderung versprach«. Sie sollte neue Beziehungsnetze knüpfen und Karrierewege eröffnen.
Widmungsadressen politischer Dissertationen des 17. Jh.s
239
Dass nun eine Disputation gerade im Fach Politik in ganz besonderem Maße als zielgerichteter Versuch zu werten ist, sich für eine Tätigkeit im Staatsdienst zu qualifizieren, zeigt ein Blick in die zeitgenössische Literatur zur Politikwissenschaft, speziell der zum politicus. Was hier nämlich von einem angehenden Politiker und Staatsdiener gleich welchen Arbeitsfeldes gefordert wurde, war, dass er die Kunst und die Techniken, sich Freunde, Gönner und Förderer zu verschaffen, beherrschte.26 Das Bestreiten einer disputatio politica dürfte also im Unterschied zu solchen in anderen philosophischen Fächern ganz besonders mit solchen Absichten, sprich, einer mehr oder minder ausgereiften Karriereplanung verbunden gewesen sein. Dabei ist zu bedenken, dass ein Universitätsstudium nur selten im Hinblick auf eine akademische Karriere erfolgte, dass es in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen vielmehr als Grundlage für die Übernahme eines weltlichen oder geistlichen Amtes außerhalb der Hochschule gedient hat: Berufe als städtische oder fürstliche Räte, Beamte, Schulmeister, Pfarrer oder Superintendenten waren es, die von den meisten Studenten angestrebt wurden.27 In diesen Fällen dürfte Widmungen die vorrangige Funktion zugekommen sein, sich bei (für die anvisierten Karriereziele) geeigneten Förderern mit entsprechendem Patronagepotenzial bekannt zu machen oder vorhandene und dafür geeignete Kontakte im Rahmen von sozialen Netzwerken zu (re)aktivieren oder zu intensivieren. Im Übrigen ist keineswegs auszuschließen, dass eine Politikdisputation auch für eine akademische Laufbahn hilfreich sein konnte. Dass sich speziell Politikdisputationen besser als vergleichbare Arbeiten in anderen Fächern und gezielter als Medium der patronagegestützten Karriereplanung einsetzen ließen, kann schließlich aus der häufigen Kongruenz zwischen dem Disputationsthema und dem späteren Berufsfeld des Respondenten – wie in vielen Fällen auch
26 Vgl. Wolfgang E. J. Weber, Die Erfindung des Politikers. Bemerkungen zu einem gescheiterten Professionalisierungskonzept der deutschen Politikwissenschaft des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts, in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, München 2004, S. 347–370, hier 363, mit weiteren Hinweisen, sowie nun Weber, Wolfgang E. J.: »Die Politica [ist] eine Kunst, seinen Stand zu conserviren, klüglich zu regieren, alle impedimenta zu removiren, und sich Freunde zu erwerben.« Bemerkungen zur Transformation und zum Ende der frühneuzeitlichen deutschen Politikwissenschaft um 1700, in: Friedemann Maurer u. a. (Hg.): Kulturhermeneutik und kritische Rationalität. Fs. für Hans-Otto Mühleisen zum 65. Geburtstag, Lindenberg im Allgäu 2006, S. 595–605. 27 Vgl. Philipp, Berufsperspektiven (wie Anm. 1), S. 141ff., sowie Michael Philipp, Theologen als Politologen. Zur Bedeutung der Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts für die akademische Ausbildung protestantischer Geistlicher, in: Maurer, Kulturhermeneutik (wie Anm. 26), S. 575–594.
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dem der Widmungsadressaten – geschlossen werden, was zahlreiche Beispiele belegen.28 Ein letzter wichtiger Aspekt ist schließlich die Frage nach der Rolle der Präsiden im Patronagenetzwerk der Widmungsverfasser. Zwar ist diese angesichts der Masse der Publikationen in ihrer Gesamtheit kaum mehr zu rekonstruieren, doch scheint es plausibel, dass die Wahl des Leiters der Disputation, der in aller Regel auch maßgeblich den Inhalt der Arbeit geprägt hat,29 häufig ganz bewusst erfolgte. So ließen sich mit einem jungen Privatdozenten als Präses, der ja grundsätzlich für seine Leistungen vom Respondenten zu entlohnen war, vermutlich die Kosten der Disputation senken. Unter einem »teuren« renommierten Professor, der womöglich 28 Solche Beispiele werden im Folgenden immer wieder angesprochen; vgl. etwa unten Anm. 49, 50 und Text mit Anm. 109ff. Weitere Exempel, die zumindest einen Bezug zwischen dem Thema und der Karriere des Respondenten aufweisen, finden sich in Philipp, Berufsperspektiven (wie Anm. 1), und Philipp, Theologen als Politologen (wie Anm. 27). 29 Auf das Problem der Autorschaft kann hier nur am Rande eingegangen werden. Entscheidend ist im Rahmen dieser Thematik ja nur, dass die Respondenten – unabhängig von der wie auch immer gearteten Beteiligung an der Erstellung der Disputationsschrift – durch ›ihr‹ Druckerzeugnis gewisse Qualifikationen nachweisen konnten. Auch dürfte die Mehrheit der Adressaten der Widmungen zwar ihre (potenziellen) Klienten und Zueigner sowie ihre Themen mit Interesse zur Kenntnis genommen, in der Regel aber wohl weniger auf den wissenschaftlichen Inhalt geachtet haben. Dass sich die Respondenten im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend als autor & respondens auf dem Titelblatt ausgewiesen haben, hat eine anhaltende Diskussion unter Gelehrten seit dem 19. Jahrhundert ausgelöst; vgl. den wie immer profunden Überblick einschließlich der anregenden These von Hanspeter Marti, Von der Präses- zur Respondentendissertation. Die Autorschaftsfrage am Beispiel einer frühneuzeitlichen Literaturgattung, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, S. 251–274. Der Anspruch auf Autorschaft könnte nach meinen Beobachtungen für die Politikdissertationen in vielen Fällen daher rühren, dass insbesondere ab dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts die Respondenten für die Wahl des Themas (zumindest mit-) verantwortlich waren, um, wie eben erwähnt (vgl. Anm. 28), ihre Karrierechancen zu optimieren. Vgl. zur Autorschaft auch Rasche, Deutsche Universitäten (wie Anm. 20), S. 189–201, der stark pointiert argumentiert, dass eigentlich nur von Respondenten mit Ambitionen auf ein akademisches Lehramt erwartet wurde, dass sie eine Disputation voll bestreiten und diese inhaltlich tatsächlich erstellen, sprich als Autor fungieren konnten; ebd., S. 197. Allen übrigen Studenten hätte, auch weil sie ja die ganze Veranstaltung, den Präses und den Druck der Arbeit zu bezahlen hatten, sehr häufig ein fundamentales Interesse gefehlt, die Disputation selbst zu verfassen und auch überzeugend zu bestreiten; vgl. ebd., S. 200. Dies sei auch gar nicht gefordert gewesen; vielmehr wäre es sogar »unklug gewesen, wenn man« die Anfertigung einer Disputation Anfängern überlassen hätte, galten sie doch »auch als Leistungsnachweis der Professoren, der Fakultäten und der Universität, die damit ihr gelehrtes Niveau demonstrierten.«, ebd., S. 190. Dem wäre für das hier einschlägige Schrifttum hinzuzufügen, dass die Entfaltung der Politikwissenschaft gerade mithilfe der – grundsätzlich von den Präsiden inhaltlich verantworteten, wenn nicht gar verfassten – Disputationen geschah; vgl. oben mit Anm. 8.
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noch als Rat verschiedener Fürsten oder Könige tätig war, seine Disputation bestritten zu haben, versprach hingegen zusätzliches Patronagepotenzial und in jedem Fall gesellschaftliches und/oder akademisches Prestige.30 Dieser Gesichtspunkt könnte nicht zuletzt auch bei der Benennung von Förderern und Patronen, bei deren Auswahl und Anordnung die Respondenten »größte Sorgfalt walten« ließen,31 eine Rolle gespielt haben. Möglicherweise bedeutete die Adressierung einer Dedikation an politisch und/oder gesellschaftlich hochrangige Persönlichkeiten nämlich einfach nur einen Versuch, soziales Prestige zu gewinnen, ein solches gegenüber Kommilitonen und Professoren unter Beweis zu stellen oder zumindest den Anschein eines solchen zu erwecken. Da ein solches Renommee wiederum hinsichtlich des beruflichen Werdeganges zweckdienlich sein konnte, ist sein (auch scheinbarer) Erwerb ein Sonderfall der Karrierefunktion von Widmungen. Wie dem auch im Einzelfall sei: Grundsätzlich wird man zwei Funktionen oder Motive von Widmungen unterscheiden können. Zum einen stellen sie eine Form der Danksagung gegenüber Mäzenen und Gönnern dar, welche sich anhand der Disputation von der erreichten Qualifikation ihres Klienten überzeugen konnten;32 zum anderen konnte die Dedikation als eine Art Bewerbungsschreiben fungieren, welche zielgerichtet und – in ihrer gedruckten Form – auch öffentlich »neue« Patrone und Förderer zu requirieren trachtete. Dies gilt insbesondere für die Widmungen jener Politikdisputationen, welche die einzigen akademischen Qualifikationsschriften ihrer Respondenten geblieben sind. Und dass es, was sowohl die hohe Zahl der nachweisbaren Arbeiten wie auch die vorgenannten inhaltlichen Argumente plausibel machen, eben gerade Disputationen im Fach Politik gewesen sind, die Karriereambitionen besonders zweckdienlich gewesen 30 Etwas verzeichnet ist freilich die These, dass man »die Masse der alten Dissertationen solchen Zwecken und solchen Motiven«, nämlich der Knüpfung von karrieredienlichen Beziehungsnetzen, verdanke und »dass das akademische Schrifttum der frühneuzeitlichen Universitäten insgesamt weniger der amor scientiae als vielmehr das Bedürfnis nach repräsentativen gelehrten Zeugnissen hervorgebracht« habe, vgl. Rasche, Deutsche Universitäten (wie Anm. 20), S. 163 und 164. Zweifelsohne habe »Professoren und Studenten ... nicht nur der amor scientiae, sondern auch die Aussicht auf Status, Renommee, Ehre und Rang des akademischen Standes« und damit »das ungeheure Repräsentationsbedürfnis des gelehrten Standes und der alten Universitäten« getrieben (ebd., S. 151 und 152), aber eben nur »auch«; vgl. als weitere wichtige Motivlage, die stärker die Präsiden betrifft, das oben mit Anm. 8 Gesagte. 31 Rasche, Deutsche Universitäten (wie Anm. 20), S. 162f. 32 Der Begriff ›Qualifikation‹ ist durchaus doppeldeutig aufzufassen. Welcher Aspekt davon – ob entweder die Beherrschung wissenschaftlicher Standards oder ob eher die Zugehörigkeit zum prestigeträchtigen Akademikerstand unter Beweis gestellt werden sollte – jeweils gefragt war, kann hier jedoch offenbleiben; vgl. das eben in Anm. 30 Gesagte.
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sind, verleiht den darin enthaltenen Widmungen gegenüber solchen anderer Druckerzeugnisse – in beinahe jeder Publikation im Zeitalter des Humanismus und des Barock findet sich ja ein solcher Paratext33 – ein hohes Maß an Forschungsrelevanz.
II. Existenz und Typen von Widmungen Enthalten Politikdisputationen grundsätzlich eine Widmung? Dies scheint nicht der Fall zu sein (siehe Tab. 2). Von den zehn zwischen 1648 und 1654 entstandenen Politikdisputationen des Wittenberger Magisters Caspar Alexander beispielsweise hat nur eine einzige eine Widmungsadresse.34 Demgegenüber enthält die große Mehrzahl der vierzehn (im VD17 nachgewiesenen) Politikdisputationen des promovierten Juristen und Wittenberger Rhetorikprofessors Johann Avenarius, die zwischen 1616 und 1630 entstanden waren, eine Dedikation – alle im Übrigen aus der Feder der Respondenten. Grundsätzlich steht die Forschung hier vor dem Problem der Nachweisbarkeit. Bei Disputationsdrucken gibt es häufig »Personalisierungen« in der Art, dass bei ein und derselben Arbeit »einige Exemplare Widmungsseiten enthalten, andere nicht«35. Mit anderen Worten: Die Drucker haben – wohl um Kosten zu sparen – unterschiedliche Druckvarianten einer Disputation produziert. Daher wäre etwa im Falle des Juristen und späteren braunschweig-lüneburgischen Rates und Reichstagsgesandten Caspar Alexander noch zu eruieren, ob neben Disputationsdrucken ohne Widmung nicht auch Druckvarianten mit Widmung existieren, die im VD17 aber nicht erfasst sind. Zieht man in Betracht, dass ja nicht nur die Veranstaltung einer Disputation, sondern auch der Druck derselben mit 33 Vgl. Genette, Paratexte (wie Anm. 4). 34 Es handelt sich um Caspar Alexander (Pr.) / Joachim Ernst Seidell (Resp.), Hypomnemata politica De simulatione et dissimulatione, Wittenberg 1653. Widmungsadressaten des aus Berlin stammenden Jurastudenten Seidell sind der kurbrandenburger Kammer- und Konsistorialrat Johann Georg Reinhard, der Mediziner und Rat Martin Weis sowie der Ständedeputierte und Stadtrat von Kölln an der Spree, Paul Brunnemann. Just in dieser Stadt wurde Seidell (gest. 1686) später Bürgermeister. Neben einer juristischen Disputation über die Pest, die er ebenfalls 1653 in Wittenberg unter Gottfried Suevus bestritten, aber (offenbar) nicht mit einer Widmung versehen hat, sind die ›Hypomnemata politica‹ die einzige akademische Qualifikationsschrift, der somit erhebliche Bedeutung für die Karriere Seidells in Kölln zukommen dürfte. 35 Marianne Dörr, Dissertationen im »Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts« (VD17), in: Müller, Promotionen (wie Anm. 2), S. 45–50, hier S. 49.
Widmungsadressen politischer Dissertationen des 17. Jh.s Königsberg
Leipzig
94
65
133
55
53
19
101
63
21
13
64
26
165
127
160
148
260
Altdorf
Gießen
mit Widmung
66
51
vermutlich ohne Widmung
36
ungeklärt (im VD17 nicht nachgewiesen)
Politikdisputationen
Gesamt
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Helmstedt
Tab. 2: Häufigkeit von gedruckten Widmungen bei disputationes politicae der Universitäten Altdorf, Gießen, Helmstedt, Königsberg und Leipzig 1600–1700.
erheblichem finanziellen Aufwand für den Respondenten verbunden war, scheint es wenig plausibel, dass diese »Kostenträger« ihr Produkt nicht zu Zwecken einer zielgerichteten Eigenwerbung, Profilierung oder Danksagung etwa für die Gewährung von Stipendien genutzt hätten. Am Beispiel der etwa hundert Politikdisputationen, die unter der Leitung des Altdorfer Politikwissenschaftlers Johann Paul Felwinger entstanden sind, zeigt sich die Problematik noch deutlicher: Gut vierzig der im VD17 nachgewiesenen Disputationsdrucke enthalten Widmungen, die von den Respondenten verfasst wurden. Weitere dreißig Titel sind nur in anderen Internetkatalogen greifbar, die keine Schlüsselseiten einbeziehen; ob die Drucke eine Widmung enthalten, ist auf dieser Basis nicht feststellbar. Schließlich ist eine Reihe von knapp dreißig weiteren Disputationen im VD17 nachweisbar, deren Druckvarianten keine Dedikation enthalten. In diesen Fällen könnte man mit der Erklärung operieren, dass einige dieser Respondenten ihr Studium etwa in der Rechtswissenschaft fortzusetzen gedachten und deshalb erst spätere Disputationen in eben dieser Disziplin – der Jurisprudenz, der »Leitwissenschaft des Barock«36 – dann mit Widmungen versehen haben.37 Eine andere Erklärung könnte sein, 36 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die Modelle der Human- und Sozialwissenschaften in ihrer Entwicklung, in: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 391–424, hier S. 408. 37 Vgl. auch das oben (Anm. 17) zum VD17 Gesagte. So geschehen ist dies etwa durch den aus Hamburg stammenden Albert Twestreng. Seine unter Felwinger entstandene ›Dissertatio politica De homagio‹ (Altdorf 1669) hat er nicht mit einer Widmung versehen, die 1674 dann in Basel verfertigte juristische Inauguraldissertation ›De officio magistratus‹ hingegen dedizierte er korporativ den Bürgermeistern, Räten etc. seiner Heimatstadt. Ein derartiger Fall könnte auch bei dem Juristen, Hofmeister und späteren Staatsarchivar Anton Bertram von Sellen (1629–1686) gegeben sein, der unter Alexander ›Hypomnemata politica De arcanis principum‹ (Wittenberg 1653) verteidigte, kurze Zeit später unter Gottfried Suevus
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dass Defendenten dann Bedenken hatten, eine Widmungsadresse zu formulieren, wenn sie die Arbeit nicht selbst verfasst hatten.38 Letztlich kann dennoch auch bei dieser dritten Gruppe von Politikdisputationen nicht ausgeschlossen werden, dass – anderenorts vorhandene – Druckvarianten mit Widmung existieren. Gerade in den Fällen, in denen renommierte Gelehrte wie Felwinger oder Hermann Conring in Helmstedt, Johann Heinrich Boecler in Straßburg oder Christoph Besold in Tübingen als Präsiden auftraten, war eine Disputation für einen Respondenten ja ein besonderer, weil noch prestigeträchtigerer Qualifikationsnachweis, der sich nur durch eine Widmung auch zielgerichtet instrumentalisieren ließ. Hinzu kommt, dass etwa Conring oder Boecler auch als Räte und politische Gutachter von Kaisern, Fürsten und sogar ausländischen Königen selbst über ein besonders hohes Patronagepotenzial verfügten.39 Bedenkt man weiter, dass Politikdisputationen, wie schon erwähnt, häufig die einzigen gedruckten Qualifikationsleistungen von Studenten geblieben sind, dass speziell diesen ein besonderer Stellenwert für die Karriere eines Respondenten zuzuschreiben ist, dann wird es sogar wahrscheinlich, dass grundsätzlich Druckvarianten mit Widmung existieren (beziehungsweise existiert haben, aber nicht mehr nachweisbar sind). Vor allem diese sind ja für den Respondenten und die von ihm damit verfolgten Zwecke interessant, und man kann davon ausgehen, dass es eben auch diese Druckvarianten waren, die im Vorfeld der Disputationsveranstaltung verteilt worden sind, konnte sich der Studiosus doch schon gleich hier mit seinen »Kontakten«, mit Namen von hochrangigen Förderern usw. in dann ›De usucapionibus et praescriptionibus‹ (Wittenberg 1654) disputierte und nur letztere Arbeit mit einer Dedikation publiziert hat: Widmungsempfänger sind der ICtus und Rat des Landgrafen Georg v. Hessen, Georg Tulsner, und der Wittenberger Professor für Eloquenz und Poesie Augustus Buchner. 38 Einen solchen Fall referiert Rasche, Deutsche Universitäten (wie Anm. 20), S. 163 mit Anm. 37. Ein gleich gelagerter Fall könnte der des Christian Michael Förster sein. Er hat 1661 unter Felwinger eine ›Dissertatio Politica De Monarchia‹ bestritten, aber keine Widmung beigesteuert, wahrscheinlich weil sie inhaltlich identisch ist mit der gleichnamigen Felwinger-Dissertation von 1652. Bei dieser fungierte Johann Christoph Glock als Respondent, der sie seinem Vater, einem Schweinfurter Stadtbeamten, und einem Kaufmann und Onkel gewidmet hatte. Felwinger hat den aus Ansbach stammenden Förster also eine neun Jahre zuvor entstandene Arbeit erneut verteidigen lassen. 39 Zu Conring vgl. Michael Stolleis (Hg.), Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1983; zu Boecler – der Straßburger Professor wurde von Königin Christina von Schweden umworben (und wirkte daher für einige Jahre als Geschichtsprofessor in Uppsala) und erhielt sowohl vom französischen König wie auch von Kaiser Leopold Titel und Ehren – fehlt eine vergleichbare Darstellung, vgl. einstweilen Ernst Jirgal, Johann Heinrich Bökler (1611–1672), in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 45 (1931), S. 322–386, und NDB 2, S. 372f.
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Szene setzen.40 Dementsprechend wäre die eingangs bezüglich der beiden Wittenberger Präsiden Alexander und Avenarius formulierte These zu relativieren: Auch unter den Drucken der Politikdisputationen Caspar Alexanders dürften also wohl mehrere Varianten mit Widmung gewesen sein, die sich vielleicht auch noch nachweisen lassen. Insbesondere das Beispiel der gut achtzig Conringschen Politikdisputationen zeigt augenscheinlich, dass regelmäßig verschiedene Ausgaben einmal mit, einmal ohne Widmung gedruckt worden sind – auch in diesem Fall wurden alle Dedikationen von den Respondenten Conrings (und nicht von diesem selbst) verfasst.41 Gelegentlich lassen sich sogar unterschiedliche Druckausgaben derselben Disputation nachweisen, die jeweils divergierende Widmungsadressaten beziehungsweise -adressatenkreise aufweisen. Beispiele wären die Arbeit des Schlesiers Johann Hubrig,42 die ›Exercitatio politica‹ über Staatsgeheimnisse des Stettiners Daniel Winnemer43 – er wurde 1689 Bür40 Die Druckvarianten ohne Widmung dürften als Ausweis der wissenschaftlichen Aktivitäten des Präses und der Leistungsfähigkeit der Fakultät bzw. Universität stattdessen mehr für den unmittelbaren akademischen Markt bestimmt gewesen sein; vgl. dazu oben mit Anm. 2. 41 Zu den Disputationen Conrings lassen sich oft ein halbes Dutzend Druckvarianten nachweisen, was darauf schließen lässt, dass eine große Anzahl von Drucken hergestellt und in Umlauf gebracht worden ist. Allerdings findet sich darunter nur jeweils eine mit einer Widmungsadresse! In einem Fall (Hermann Conring [Pr.] / Erasmus Nissen [Resp.], Disputatio politica De rebuspublicis in genere, Helmstedt 1651) existieren davon wiederum zwei Untervarianten, nämlich eine als bloße Adresse gestaltete Widmung, eine zweite mit einem ausführlichen Text. 42 David Schmuck (Pr.) / Johann Hubrig (Resp.), Vindiciae Germanicae sive Dissertatio politico-iuridica De Germania, eiusdemq[ue] populis & moribus. Contra Joannis Bodini aliorumque id genus naenias, Altdorf 1628. Widmungsadressaten sind zum einen (Exemplar der SB München) der brandenburgische Rat und Reichskammergerichtsassessor Johann Wolfgang Aur zusammen mit einem Richter der Markgrafschaft Brandenburg sowie drei Nürnberger Stadtpolitiker. Zum anderen (Exemplar der HAAB Weimar) zählt Hubrig auch einen schlesischen Rat in Öls, einen Pastor, einen Breslauer Kaufmann, den Ölser Bürgermeister und einen Senator dieser seiner Heimatstadt zu seinen Evergetae, Promotores ac Benefactores. Hubrig, der 1631 in Altdorf auch eine juristische Disputation verteidigt und zwei Freiherren von Khevenhüler gewidmet hat, wurde herzoglich-schlesischer Rat und später Kanzler in Öls. 43 Gottfried Friderici (Pr.) / Daniel Winnemer (Resp.), Exercitatio politica De arcanis rerumpublicarum in genere & quibusdam in specie, Leipzig [ca. 1660]. Die ›Exercitatio‹ wurde in drei Varianten verbreitet: eine ohne Widmung, eine zweite und dritte mit jeweils unterschiedlichen Dedikationen. Im Exemplar der SB Regensburg wird der sächsische Kammerrat und Präfekt Gunther v. Bünau als Patron genannt, dem Winnemer hanc disputationem Politicam gewidmet hat. Das Exemplar der SUB Göttingen weist dagegen zwei andere Personen als Patrone und Promotoren aus: den schwedisch-pommerschen Rat und Sekretär Johann v. Pfaltzburg und den Stettiner Rat und Advokat Christoph Richter. Vermutlich ist Bünau der Förderer der akademischen Ausbildung des Respondenten; die Dedikation an den sächsischen Kammerrat wäre damit als Dankeswidmung zu verstehen. Im Fall der Dedikation an v. Pfaltzburg und Richter dürfte es sich hingegen um eine Kar-
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germeister in Wolgast – oder die ›Dissertatio politica‹ über den besten Staat des Dresdeners Johann Christoph Rascher.44 Speziell solche Disputationen mit Doppeldedikationen sind der augenscheinlichste Beleg für die zwei Funktionsvarianten von Widmungen: Die eine Variante, adressiert etwa an Personen aus der Heimat des Autors, beispielsweise an den Vater und/oder an einen Kaufmann, städtischen Rat usw., kann als Dankeswidmung erachtet werden. Die andere Variante, bei der vermehrt bürgerliche oder adelige Räte, Militärs, Gelehrte oder auch Fürsten als Adressaten auftreten, muss demgegenüber als Bewerbungsoder Karrierewidmung fungiert haben, sprich: als eine Art Bewerbungsadresse an künftige Arbeitgeber oder Promotoren für eine spätere Berufstätigkeit.45 Gleichsam als teurere Alternative zur Doppeldedikation haben nicht wenige Respondenten eine zweite Disputation verteidigt, die gelegentlich sogar erneut eine in der Politica war, wie die Beispiele der Zittauer Johann August Posselt und Gottfried Eberhard belegen.46 Dass ein und dieselbe riere- bzw. Empfehlungswidmung handeln. Von diesen pommerschen Politikern mag sich der Student Protektion und Hilfe beim Einstieg ins Berufsleben erhofft haben. Sowohl die Wahl des Themas wie auch der Patrone erfolgten aller Wahrscheinlichkeit nach in der Absicht, sich für eine Karriere als Rat oder Verwaltungsbeamter ins Gespräch zu bringen. Winnemer (gest. 1717) wirkte später tatsächlich im schwedischen Vorpommern: Um 1665 findet er sich als Gerichtsadvokat in Stettin wieder, was aus seinem Nachruf auf einen Kammerrat der Stadt hervorgeht. 1667 heiratete er, der »der lateinischen Sprache sehr mächtig« gewesen sei, die Tochter eines Bürgermeisters in Wolgast und machte nun in dieser Stadt Karriere. Vgl. Carl Heller, Chronik der Stadt Wolgast, Greifswald 1829, S. 213 (Zitat); Max Bruhn, Bürgermeister Pommerns in 700 Jahren, Hamburg u. a. 1981–1984, S. 103. 44 Johann Georg Neumann (Pr.) / Johann Christoph Rascher (Resp.), Dissertatio politica qua optimam reipublicae formam, verbis et sententiis C. Corn. Taciti expressam, ... exhibet Johann Christoph Rascher, Wittenberg 1684. Widmungsadressaten sind einmal (Exemplar der FLB Gotha) zwei adelige kursächsische Räte, zum anderen (Exemplar der LB Dresden) korporativ der Senat der Stadt Dresden. Daneben existiert auch noch eine Druckvariante ohne Widmung. Der aus Dresden stammende Rascher, der auch Theologie studiert und unter dem Theologieprofessor Deutschmann 1685 eine Disputation vorgelegt hat, konvertierte später zum Katholizismus, was eine Streitschrift aus seiner Feder (gedruckt 1690 in Wien) belegt. Weiteres zu ihm ist nicht bekannt. 45 Ein weiteres Belegbeispiel wäre: Adam Rechenberg (Pr.) / Wilhelm Christian Leonhardi (Resp.), De materia consilii status ex Xenophont. Memorabil. Lib. 3, Leipzig 1692. Der Merseburger Respondent wendet sich in einer (in Französisch gehaltenen) Widmung an Herzog Moritz Wilhelm v. Sachsen. Die zweite und Dankeswidmung richtet sich an den Großvater und Kammerrat in Weißenfels, Wilhelm Reinhart, und den Vater und Hof- und Kammerrat in Naumburg, Johann Hennig Leonhardi. 46 Posselt widmete seine Arbeit über den consiliarius korporativ dem Regiment seiner Heimatstadt Zittau und seinem ehemaligen Lehrer dort, Elias Weis, was als Dankeswidmung gedeutet werden kann. Die zweite Arbeit über Faktionen – ein für die städtische Politik ja besonders interessantes Thema – adressierte er dann an den Zittauer Bürgermeister Christian Hartig sowie zwei Senatoren seiner Heimatstadt: Johann Paul Felwinger (Pr.) / Johann August Posselt (Resp.), Consiliarius, Altdorf 1643; Johann Paul Felwinger (Pr.) / Johann
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dedicatio beide Funktionen erfüllen konnte, wurde bereits erwähnt. Wer in seiner Heimatstadt Karriere machen wollte, konnte eine Dankeswidmung zugleich dazu nutzen, als potentieller Kandidat für eine Stelle im Gespräch zu bleiben. Schließlich können Doppeldedikationen auch reine Karrierewidmungen sein, insbesondere solche von bürgerlichen Respondenten adressiert etwa an einen Landesherrn und einen adeligen Staatsmann.47 Bisher war nur von Widmungen die Rede, die von den Respondenten unterzeichnet waren. Gelegentlich stammen solche aber auch von den Präsiden, sodass man hier im Unterschied zum vorherrschenden Typ der Respondentendedikation von einer Präsidendedikation sprechen kann. Diese sind in der Regel von jungen Akademikern verfasst worden, die parallel zu einem Studium an einer der oberen Fakultäten als Magister oder Adjunkten in der philosophischen Fakultät gelehrt haben. Die Mehrzahl davon sind Antrittsdisputationen in der Philosophenfakultät, also solche, die pro loco oder pro receptione verfasst wurden. Zwei Königsberger Beispiele stammen von David Heilgendorff und Bernhard von Sanden.48 Zum Teil sind August Posselt (Resp.), Dissertatio politica prior De factionibus, Altdorf 1643. Ihm gleich tat es wiederum ein Zittauer, nämlich Gottfried Eberhard, der in den Widmungsadressen seiner beiden Leipziger Politikdisputationen aus dem Jahr 1662 jeweils die gleichen Zittauer Senatoren und Patrizier als fautores ansprach: Johann Christian Eichler (Pr.) / Gottfried Eberhard (Resp.), Discursus politicus De foeminarum imperio. Quod regni iure habent, Leipzig 1662; Johann Christian Eichler (Pr.) / Gottfried Eberhard (Resp.), Discursus politicus De maiestate, Leipzig 1662. 47 So wendet sich der aus Eisleben stammende Samuel Müller zum einen an Herzog Johann Georg II. v. Sachsen, zum anderen an Reichsgraf Johann Albrecht zu Ronoff und Biberstein. Adam Rechenberg (Pr.) / Samuel Müller (Resp.), Dissertatio De casibus ministrorum in republica eminentium, Leipzig 1678. 48 David Heilgendorff (Pr.) / Jacob Brieskorn (Resp.), Disputatio politica De temperantia prior … pro receptione, Königsberg 1686; die Präsidenwidmung der Antrittsdisputation ist an den kurbrandenburger Rat und Marschall in Preußen, Georg Wilhelm v. Kreytzen, sowie an zwei weitere hochrangige Personen gerichtet. Weiteres zu Heilgendorff, der bereits den Magistertitel führte und wie sein Respondent aus Rastenburg stammt, war nicht zu ermitteln. Bernhard v. Sanden (Pr.) / Johann Friedrich v. Sanden (Resp.), Exercitatio academica De cive in republica Hebraeorum … pro receptione in … facultatem philosophicam, Königsberg 1689. Bernhard v. Sanden (1666–1721) hatte bereits 1687 seine Leipziger ›Dissertatio politica De cive‹ mit einer eigenen Widmung versehen (Adressaten sind verschiedene Gelehrte der Leipziger Universität, u. a. Valentin Alberti, Johann Benedict Carpzov und Johann Olearius, allesamt Doktoren der Theologie). Die Widmung der Königsberger Antrittsdisputation richtete er an drei preußische Kanzler und Räte. Der Respondent J. F. v. Sanden (1670–1725) ist sein Bruder. Bernhard v. Sanden, Sohn des gleichnamigen Oberhofpredigers, Bischofs und Theologieprofessors in Königsberg, wurde 1686 Magister in Leipzig, 1696 außerordentlicher, 1699 dann ordentlicher Professor der Theologie in Königsberg, ab 1709 schließlich auch Oberhofprediger ebenda – eine klassische Gelehrtenkarriere, die gezielt mit Politikdisputationen arbeitete! Ein weiterer Bruder, Johann v. Sanden, verteidigte ebenfalls eine Politikdisputation, die dem Vater und den Brüdern gewidmet ist:
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sie auch vom Präses mit dem Respondenten gemeinsam verfasst worden, was an Formulierungen wie publice submittunt beziehungsweise proponunt erkennbar ist.49 Solche jungen Dozenten haben zumeist nur wenige Jahre an Universitäten gewirkt und die Unterrichtsform der Disputation zur Profilierung und Netzwerkbildung genutzt. Ein in verschiedener Hinsicht interessantes Beispiel ist das des Magisters Henning Volckmar, der 1662 eine disputatio politica über die Kirchenhoheit vorlegte. Hier ist es tatsächlich der Präses, Volckmar, der die Qualifikationsschrift mit einer Dedikation versah: Er widmete diese dem braunschweig-lüneburgischen Kanzler Heinrich Langenbeck.50 Zuvor hatte Volckmar während seiner kurzen Zeit als Dozent in Erfurt und Helmstedt einige Disputationen vor allem zur Naturphilosophie geleitet. Die entsprechenden Drucke, die in den Jahren 1659 bis 1662 entstanden sind, enthalten keine Widmungen des Disputationsleiters, sodass der Politikdisputation von 1662, die zudem die letzte derartige Schrift Volckmars ist, ein zentraler Stellenwert zukommt. Offenbar hat er gezielt mit einer disputatio politica die Protektion eines Spitzenpolitikers gesucht und im Übrigen passend zu seinen Karriereplänen auch das Thema der Arbeit gewählt; er wurde Geistlicher, nämlich Pastor in Lippstadt. Dieser Zusammenhang – Johann Ernst Segers (Pr.) / Johann v. Sanden (Resp.), Disquisitio politica, Utrum delicta ebriorum veniam mereantur, aut an mitius punienda sint quam sobriorum nec ne?, Königsberg 1699. Deren junger Präses, später selbst Pastor und Theologieprofessor in Königsberg, fungierte im gleichen Jahr bei der Antrittsdisputation des Bernhard v. Sanden (Iun.) in der Theologenfakultät als Respondent. 49 Beispiele wären: Daniel Walther (Pr.) / Christian Stomehr (Resp.), Disputatio politica, disquirens: Num ipse rex vel princeps bellis praesens adesse debeat? Quam … subiiciunt … Daniel Walther … et … Christianus Stomehr, Königsberg 1695; die Präsidenwidmung der gemeinsam erarbeiteten (subiiciunt) Disputation, ist adressiert an den kurbrandenburger Hofrat und Ständesekretär in Preußen, Gottfried Schmidt, sowie drei Löbnitzer Stadtpolitiker. Über den weiteren Werdegang Walters, der schon 1691 bei einer Königsberger Politikdisputation präsidiert hatte, war nichts zu ermitteln. Andreas Töpffer (Pr.) / Johann Daniel Grimm (Resp.), Disputationem politicam De iure maiestatis circa concilia, ... Andreas Töpffer … & Johann. Daniel Grimm … placidae eruditorum ventilationi subiiciunt, Wittenberg 1691 – eine gemeinsam verantwortete Disputation mit Präsidenwidmung an den Wernigeroder Pastor und Superintendenten Johann Wolf und an zwei Konsistorialassessoren. Töpffer aus Wernigerode wurde, wie das Thema schon erahnen lässt, selbst Superintendent, und zwar in Bayreuth. 50 Henning Volckmar (Pr.) / Conrad Keyser (Resp.), Disputatio politica De iure maiestatis ecclesiastico, Helmstedt 1662. Über den Respondenten, der aus Lippe stammte, sind keine weiteren Informationen greifbar. Die Widmung findet sich im Exemplar der HAB Wolfenbüttel. Volckmar hatte 1658 unter Johann Ernst Gerhard in Jena theses theologicae bestritten, die er mit einer Widmung an einen Geistlichen seiner Heimatstadt Goslar versehen hatte; im gleichen Jahr war er auch Respondent einer disputatio physica, geleitet von Johannes Zeisold, die Volckmar seinem Präses sowie zwei weiteren Jenaer Professoren (Caspar Posner und Friedemann Bechmann) gewidmet hat.
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Politikdisputation und Karriere als Geistlicher – ist im Übrigen nichts Ungewöhnliches. Viele angehende Pastoren oder Superintendenten haben sich mit der Leitung von Politikdisputationen profiliert und für den Staatsdienst zu qualifizieren getrachtet, ganz besonders viele an Martin Luthers Universität Wittenberg.51 Widmungen von Präsiden bleiben insgesamt die Ausnahme. In der großen Mehrzahl der Fälle – und dies gilt auch für die eben erwähnten gemeinsam verantworteten Disputationen – haben die Vorsitzenden es den Respondenten überlassen, die Arbeit einem Förderer zu widmen. Es kommt jedoch auch vor, dass ein junger Präses und sein Respondent ein und dieselbe Disputation jeweils mit eigenen Widmungen versehen haben und dementsprechend zwei Druckvarianten haben publizieren lassen, ein Sonderfall der Doppeldedikation also. Bei der Leipziger Disputation über die Lehren der Machiavellisten und Monarchomachen liegt ein solcher Fall vor: Der Magister und Theologiestudent Johann Friedrich Engelmann hat diese zusammen mit dem Respondenten Johannes Neunhertz erarbeitet (publicae ventilationi exhibebunt). Engelmann widmete sie dem Freiherrn und kursächsischen Geheimratsdirektor Heinrich von Friesen (Datum 9. März); die zweite Druckvariante enthält eine Dedikation des Schlesiers Neunhertz an drei Räte der Stadt Lauban (Datum: 4. März), wo er später Pastor wurde.52 Gelegentlich nutzten Präsiden die Möglichkeit der Doppeldedikation allein, wie das Beispiel des jungen Leipziger Magisters Christoph Kormart belegt.53 51 Vgl. Philipp, Theologen als Politologen (wie Anm. 27). In geringerem Maß sind solche mit einer Politikdisputation verknüpften Karrieremuster auch für Jungakademiker anderer Universitäten wie Leipzig und Helmstedt zu beobachten. 52 Johann Friedrich Engelmann (Pr.) / Johannes Neunhertz (Resp.), Machiavellistarum et Monarchomachorum Dogmata, ... publicae ventilationi exhibebunt M. Joh. Fridericus Engelmann … & Johannes Neunhertz, Leipzig 1674. Die beiden Verfasser waren gute Bekannte: Anlässlich der Magisterpromotion Engelmanns im Januar 1674 hatte der spätere lutherische Theologe und geistliche Dichter Neunhertz eine Gratulationsschrift herausgegeben. Der Präses, der 1673 zusammen mit einem Johann David Lehmann eine Disputation ›De bello‹ bestritten hatte, anschließend bei weiteren Disputationen den Vorsitz übernahm und zugleich in der Theologie respondierte, 1680 dann eine Antrittsdisputation in der philosophischen Fakultät Leipzigs ›De vacui impossibilitate contra Renatum Descartes‹ vorlegte und 1683 als SS. Theol. Candidatus eine letzte theologische Arbeit publizierte, wurde Prediger in Dresden und Spielberg. 53 Christoph Kormart (Pr.) / Johann Christoph Laur (Resp.), Dissertatio politica ... De Constantino Magno, Leipzig 1665. Der aus Leipzig stammende Magister Kormart (1644–1720) bedachte zum einen die Staatsmänner Freiherr Karl v. Friesen, kursächsischer Geheimrat und Kirchenratsvorsitzender, Wolfgang Siegfried v. Lüttichau, Rat des Königreichs Ungarn und Böhmen, Kreispräfekt, Kanzler und Geheimrat, sowie den Rechtsprofessor Quirin Schacher mit einer Dedikation. Eine eigene Würdigung erhielt als Monument des Dankes
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Zum Ausnahmefall der Präsidenwidmung gehört schließlich noch jene Variante, in der Professoren eine Disputation mit einer Dedikation versehen haben. So widmete der Gießener Moralphilosoph Conrad Theodoricus (Dieterich) seinen ›Discursus politicus De munitionibus et propugnaculis‹ (Gießen 1608) einem Grafen von Solms, den er als dux bellicosissime anspricht und dem er mit dieser Arbeit seine Dankbarkeit erweisen wollte.54 Der Königsberger Georg Thegen ließ die ›Disputatio politica De bonitate naturae‹ (Königsberg 1679) mit einer korporativen Zuschrift an die Bürgermeister, Senatoren, Schöffen (etc.) Königsbergs versehen, während alle übrigen Widmungen seiner zahlreichen Politikdisputationen von den Respondenten stammen; ein konkreter Anlass für die Widmung Thegens ist nicht erkennbar, vermutlich handelt es sich aber um eine Danksagung für das Angebot einer Diakonstelle, welches Thegen 1679 zeitgleich zu seiner Berufung als Professor für Praktische Philosophie erhalten hatte. Wie im Fall des Königsbergers, so liegt auch beim vorgenannten Theodoricus die Berufung auf einen Lehrstuhl nur wenige Zeit zurück, sodass ihre Widmungen noch Motiven aus der Zeit davor entsprungen sind. Insgesamt wird man damit festhalten können, dass Professoren grundsätzlich nicht als Dedikanten bei Disputationen (sehr wohl hingegen bei eigenständigen Monografien und Sammelbänden) auftreten. Weitere wichtige Teilaspekte der Dedikationstypologie sind Zahl und die in der Regel am gesellschaftlichen Rang orientierte Auflistung der Widmungsadressaten sowie der Umfang der Widmung. Zumeist handelt es sich um bloße Adressierungen, gerichtet an eine, oft aber an mehrere, teilweise sogar an über ein Dutzend namentlich genannter Personen. Bei deren Auflistung, die wie ihre Auswahl in der Regel ganz bewusst erfolgt sein dürfte,55 wird regelmäßig deren soziale und berufliche Stellung berücksichtigt und damit auch ihrem Patronagepotenzial Rechnung getragen. Bei solchen Gruppenadressen werden die einzelnen Namen, wenn die Patrone unterschiedlichen berufsständischen oder gesellschaftlichen Adressatenkreisen zuzuordnen sind, durch Einschübe wie nec non, ut et zum anderen der Leipziger Kaufmann Heinrich Kramer. Kormart promovierte später zum Doktor der Rechte und machte sich als Übersetzer französischer und holländischer Literatur einen Namen. 54 Die 60 Seiten umfassende Arbeit über den Festungsbau wurde 1620 in deutscher Übersetzung (Von Festungen, Gießen 1620) publiziert und 1643 in Frankfurt in einer zweiten lateinischen Ausgabe herausgebracht. Der Kontext der Arbeit ergibt sich aus dem Widmungstext. Respondent war der spätere Schultheiß Hektor Wilhelm v. Günterode. Theodoricus (1575–1639) wirkte nach seinem Studium in Marburg zwischen 1605 und 1614 in Gießen, wo er sich überwiegend mit Logik und Dialektik befasst hat. 1614 wechselte er nach Ulm in das Amt eines Superintendenten. 55 Vgl. oben Anm. 31.
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und itemque beziehungsweise itidem voneinander separiert.56 Als Spezialfall sind Dedikationen an Herzöge, Grafen und Fürsten zu erachten. Sie sind grundsätzlich als Einzeladressen formuliert und werfen aufgrund der gesellschaftlichen Distanz speziell zwischen einem bürgerlichen Dedikanten und einem solchen Adressaten die Frage auf, ob hier ein tatsächliches Klientelverhältnis (etwa auch in Form eines gewährten Stipendiums) bestand oder – vermittelt durch Dritte – entstehen sollte, ob aus Prestigegründen ein solches nur vorgetäuscht werden sollte, oder ob nur die vage Aussicht auf ein solches der Anlass und Zweck der Widmung gewesen ist. Alternativ zur konkreten Benennung von Personen gibt es des Weiteren auch die Form der korporativen Widmungsadressen, etwa an die Räte, Senatoren und den Syndikus einer Stadt, die keine Namen aufführt. Schließlich ist der seltene Fall anzufügen, in dem Widmungen zusätzlich zur Adressierung auch einen ein bis zwei Seiten langen Text beinhalten.57 Ob damit persönliche Beziehungen und besonders enge Patronageverhältnisse dokumentiert sind, müsste in Einzelfällen und im Rahmen speziellerer Fragestellungen geklärt werden.
56 Der Nürnberger Lukas Friedrich Reinhart (1623–1688), ein evangelischer Theologe und Liederdichter, bildet gleich vier Gruppen von Widmungsadressaten: Er beginnt mit dem Juristen und Nürnberger Stadtrat Georg Richter, danach folgen – nec non – die Hauptpastoren Johann Saubert, Cornelius Marcus, Christoph Welhamer, item der Jurist, Pfalzgraf und Advokat Johann Gabler und der Mediziner Janus-Conrad Rhumel et denique die vornehmen Nürnberger Bürger Johann-Jodocus Schmidmair, Johann-Erasmus Dillherr, Paul Heugel und Oswald Butz: Johann Paul Felwinger (Pr.) / Lukas Friedrich Reinhart (Resp.), Dissertatio politica De fide haereticis servanda, Altdorf 1643. Die Widmung der Disputation über die Reichsverfassung und die Kurfürsten des Schweinfurters Johannes Schamroth richtet sich zunächst an den Pastor Johann Schröder, nec non an den Schweinfurter Senator Elias Schamroth und den Tetelbacher Senator Ulrich Schamroth, den Vater und den Oheim des Respondenten, itemque an den Kandidat der Rechte und cognatus (Verwandten) Johann Schinler: Reinhard König (Pr.) / Johannes Schamroth (Resp.), Disputatio politica gemina: Prior de statu imperii Romani. Altera de origine electorum, Gießen 1608. 57 Beispiele wären die Widmung des Justus Gerhard Rinck zu seiner unter Conring erstellten ›De civili philosophia Dissertatio politica‹ (Helmstedt 1673), die sich an den braunschweiglüneburgischen Kanzler und Geheimrat Johann Helwig Sinold, genannt Schütz, richtet, oder das ausführliche Widmungsschreiben des Zittauers Posselt zu seiner Dissertation über den consiliarius (wie Anm. 46), das korporativ an die Politikerelite seiner Heimatstadt sowie den ehemaligen Lehrer gerichtet ist.
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III. Klienten und Patrone: Herkunftsmilieu der Respondenten und sozialer Status der Widmungsadressaten Die Defendenten der Politikdisputationen entstammen ganz überwiegend den städtischen Oberschichten, den politisch-administrativen Funktionseliten der Landesherrschaften einschließlich der Geistlichkeit sowie dem niederen Adel. Dies belegt insbesondere eine große Zahl von Widmungsadressen, die Väter und Verwandte als Förderer und Patrone benennen. Im Übrigen nutzen auch die adeligen Respondenten, die eigentlich ja ihrer gesellschaftlichen Vorrangstellung und Abkunft nach gleichsam automatisch für den Staatsdienst prädestiniert sind,58 genauso wie bürgerliche die Möglichkeit, mit einer Zueignung an Gönner und Förderer ihre Politikdisputation gezielt für eine Karriere einzusetzen. Allerdings ist der Adressatenkreis von equites und nobiles auf Personen gleichen und höheren Standes eingeschränkt, und es werden häufiger Familienmitglieder angesprochen. Für die Widmungsadressaten existiert eine geradezu barocke Vielfalt an Titulierungen. Häufig werden sie als patrones, Maecenates, promotores, tutores, fautores oder euergetae beziehungsweise benefactores angesprochen, gelegentlich auch als curatores, Musearum Atlantes oder – bei ehemaligen Lehrern – praeceptores usw. Insbesondere Fürsten, Grafen und Herzöge hingegen sprechen die Dedikanten als domini clementissimi oder gratiosissimi an. Personen aus der Verwandtschaft des Respondenten werden als parentes, patrui, affines, avunculi, agnati oder cognati bezeichnet. Väter und Verwandte werden in der Regel aber zusammen mit weiteren Personen höheren Standes mit Dedikationen bedacht und rangieren dabei zumeist nicht an erster Stelle. Wenn ausschließlich Familienangehörige mit einer Widmung bedacht werden, sind es adelige Respondenten, die auf diesem Wege ihren Dank bekunden. Welche Personen verbergen sich nun hinter diesen Titulierungen? Um dieser Frage nachgehen zu können, müssen die Patrone nach ihrer politisch-regionalen Herkunft und ihrer sozialen und beruflichen Stellung klassifiziert werden. Sie lassen sich, wie die folgende Tab. 3 zeigt, in sieben Gruppen von Widmungsadressaten einteilen:59
58 Vgl. Weber, Erfindung des Politikers (wie Anm. 26), 362. 59 Die Einordnung der Widmungsadressen in die folgenden sieben Gruppen ist bei Gruppendedikationen oft nicht ganz trennscharf, insbesondere wenn ein halbes Dutzend und mehr Personen als Gönner benannt werden. Eine Zuordnung erfolgte dann, wenn zumindest eine Mehrheit dem einen oder anderen Eingruppierungskriterium entsprach. Die letzte (7.) Klasse umfasst dann diejenigen Widmungsadressen, bei denen dies nicht möglich war.
Widmungsadressen politischer Dissertationen des 17. Jh.s Politikdisputationen 1. Könige, Fürsten, Herzöge, Grafen
Altdorf
Gießen
Helmstedt
Königsberg
253 Leipzig
2
8
24
9
13
2. Räte, Kanzler, Direktoren usw. von Landesherrschaften
11
17
35
22
42
3. Bürgermeister, Stadträte, städtische Honoratioren usw.
36
11
16
16
32
4. Adelige (ohne Angabe der beruflichen Stellung)
12
8
3
2
6
5. Universitätsprofessoren, Gymnasialrektoren usw.
1
2
0
4
19
6. Geistliche, Pastoren, Superintendenten usw.
0
3
7
5
6
7. verschiedene Regionen und Berufsstände kombinierende Widmungsadressen
4
2
9
7
15
66
51
94
65
133
Gesamt
Tab. 3: Adressatenmilieus bei disputationes politicae der Universitäten Altdorf, Gießen, Helmstedt, Königsberg und Leipzig 1600–1700.
1. Landesherren und Angehörige von Seitenlinien der Herrscherdynastien: Dedikationen dieser Gruppe richten sich in der Regel an eine Person, oft an den Landesherren. Gießener Respondenten adressieren etwa an Landgrafen von Hessen60 oder Grafen beziehungsweise Fürsten zu Nassau;61 Helmstedter Respondenten, die teilweise aus anderen Territorien und Ländern kommen, benennen neben den Herzögen August von Braunschweig-
60 An Landgraf Ludwig v. Hessen und Graf Anton Günther in Oldenburg richtet sich: Christian Matthiae (Pr.) / Nikolaus Winckelmann (Resp.), De officio imperatoris sive de officio principis ecclesiastico, in: Collegium politicum, Disputatio politica sexta, Gießen 1611. Landgraf Wilhelm VII. v. Hessen ist Widmungsadressat in: Wilhelm Zesch (Pr.) / Heinrich Erasmus v. Buttler (Resp.), De illustribus quibusdam thematibus politicis, Gießen 1664. 61 Vgl. die Respondentenwidmungen folgender Disputationen: Johann Heinrich Tonsor (Pr.) / Johann Michael Diringer (Resp.), Disputatio politica De monarchia quarta, seu imperio Sacro R. G., Gießen 1620; Jakob LeBleu (Pr.) / Adolf Trentaeus (Resp.), Dissertatio politica De imperantium natura et officio, Gießen 1657; Johann Nikolaus Hertius (Pr.) / Johann Hartmuth Gärtner (Resp.), Dissertatio De notitia singularis reipublicae, Gießen 1693.
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Lüneburg,62 Friedrich Ulrich von Braunschweig-Lüneburg63 oder Rudolph August und Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg64 auch Herrscher wie Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf,65 Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg66 oder die Königin Christina von Schweden und ihren Nachfolger, Karl X. Gustav,67 als Widmungsadressaten; die auffallende Häufung fürstlicher Widmungsadressen bei Helmstedter Disputationen ist auf das internationale Renommee Hermann Conrings zurückzuführen. Bei Königsberger Widmungsadressen dominieren der eben genannte Friedrich Wilhelm und sein Sohn Friedrich III., der spätere König in Preußen.68 Politikrespondenten an der Universität Leipzig haben wiederum überwiegend Mitglieder der sächsischen Herrscherhäuser
62 Vgl. Herman Conring (Pr.) / Bogislaus Otto v. Hoym (Resp.), Exercitatio De imperatore Romano Germanico, Helmstedt 1641; Johann v. Felden (Pr.) / Joachim Andreas Bernstorff (Resp.), Exercitatio politica De regimine civitatum et gentium, potissimum ratione prudentiae legislatoriae diverso et simili, Helmstedt 1654. 63 Vgl. Johann Stucke (Pr.) / Jakob Steinberg (Resp.), Disquisitio iuridica et politica. De eminentia et iuribus principum Germaniae cum in totum imperium tum in suas ipsorum provincias, Helmstedt 1621. 64 Vgl. Hermann Conring (Pr.) / Heinrich Joachim Söhlen (Resp.), Aristotelis politicorum Paratitla, Helmstedt 1677. 65 Friedrich III., bekannt als Förderer von Kunst und Kultur, ist Widmungsadressat u. a. bei: Hermann Conring (Pr.) / August Giese (Resp.), De legibus, Helmstedt 1643; Hermann Conring (Pr.) / Naaman Bensenius (Resp.), Quaestio De summae potestatis subiecto, Helmstedt 1649; Hermann Conring (Pr.) / Friedrich August v. Worgewitz (Resp.), Exercitatio politica De boni consiliarii in republica munere, Helmstedt 1652; Hermann Conring (Pr.) / Friedrich Nasser (Resp.), Disputatio politica De differentiis regnorum, Helmstedt 1655. 66 Vgl. Hermann Conring (Pr.) / Caspar Becker (Resp.), Dissertatio De praecipuis negotiis in comitiis Imperii Germanici olim et hodienum tractari solitis, Helmstedt 1666; Hermann Conring (Pr.) / Conrad Friedrich v. Burgstorff (Resp.), Dissertatio De officialibus imperii Romano-Germanici, Helmstedt 1669; Hermann Conring (Pr.) / Heinrich Voss (Resp.), Dissertatio De ratione status, Helmstedt 1651. 67 Vgl. Hermann Conring (Pr.) / Otto Johann v. Osten gen. Sacken (Resp.): Disputatio politica De republica in communi, Helmstedt 1653; Der Respondent ist ein schwedischer Adeliger. 68 Kurfürst Friedrich Wilhelm v. Brandenburg ist Widmungsadressat folgender Disputationen: Michael Eifler (Pr.) / Christian Hempel (Resp.), Politicus bonus et malus rotunda descriptione adumbratus, Königsberg 1642; Sigismund Pichler (Pr.) / Daniel v. Tettau (Resp.), Discursus politicus De consiliis et consiliariis, Königsberg 1644. An Friedrich III. richten sich: Georg Thegen (Pr.) / Johann Christoph Endtemann (Resp.), Dissertatio historico-politica De primogenitis eorumque iure, Königsberg 1677; Daniel Hoynovius (Pr.) / Friedrich Bergius (Resp.), Exercitatio academica De principis apud subditos praesentia, Königsberg 1697; Georg Thegen (Pr.) / Johann Friedrich Günther (Resp.), Dissertatio politica De expositione infantium, Königsberg 1697.
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im Blick, etwa die Herzöge Johann Georg II. und IV.69 Im Einzugsbereich der reichsstädtischen Universität Altdorf schließlich finden sich kaum Studenten der Politik ein, die ihre Arbeiten Landesherrn gewidmet haben. Betrachtet man die zeitliche Verteilung von Fürstenwidmungen, so lässt sich im Übrigen eine gleichbleibende Intensität der Zueignungen an Grafen, Herzöge und Fürsten im Laufe des 17. Jahrhunderts beobachten. Die Universitäten mit ihrem Fach Politikwissenschaft sind also, soweit sich dies aus den Dedikationen folgern lässt, von Beginn bis zum Ende des Jahrhunderts als Reservoir der Personalrekrutierung für staatliche Spitzenämter im Blickfeld der Landesherrschaften.70 2. Landesherrliche Staatsbeamte wie Kanzler, Hof- und Geheimräte, Statthalter, Gesandte, Leibärzte, (General-)Superintendenten, Verwaltungsdirektoren, Präfekten, Richter, Hof- oder Provinzialadvokaten, Militärführer usw. bilden den wichtigsten Adressatenkreis der Zueigner von Politikdisputationen.71 An den vier Landesuniversitäten hat diese Klasse von Widmungsadressaten einen Anteil von jeweils gut 30 %. Beliebte Adressaten sind Kanzler wie etwa Heinrich Langenbeck, Geheimrat und Kanzler des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg, Johann Bünting, Rat des Herzogs Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg und Reichstagsgesandter,72 69 An Johann Georg II. richten sich: Adam Rechenberg (Pr.) / Samuel Müller (Resp.), Dissertatio De casibus ministrorum, Leipzig 1678 und Adam Rechenberg (Pr.) / Wolfgang Haubold v. Schleinitz (Resp.), De moderatione iudicii, Leipzig 1679; an Johann Georg IV.: Adam Rechenberg (Pr.) / Gottlob Christian v. Dölau (Resp.), De monarchia universali, Leipzig 1681. Herzog Christian v. Sachsen-Merseburg und seine Söhne, die Herzöge Christian, August, Philipp und Heinrich v. Sachsen sind Widmungsadressaten bei: Valentin Alberti (Pr.) / Georg August Görner (Resp.), Politicus, Leipzig 1675. Herzog Friedrich II. v. Sachsen-Gotha-Altenburg ist Patron bei: Adam Rechenberg (Pr.) / Adam Friedrich v. Ende (Resp.), De regimento S. R. Imperii, Leipzig 1694. 70 Für die These, dass solche Fürstenwidmungen aus Dankbarkeit für die Gewährung eines Stipendiums erfolgten, ließen sich nur selten Indizien finden. Vielmehr scheinen für die Zueigner, häufig junge Adelige und Söhne Gelehrter Räte, die wohl kaum ein Stipendium benötigten, Karrierebestrebungen ausschlaggebend gewesen zu sein. 71 Insbesondere bei diesem Adressatenkreis werden häufig Mäzene genannt, die sich mit einer Fülle von Titeln, Würden und Amtsbezeichnungen schmücken ließen. Was im konkreten Fall als bloßer Titel (etwa der eines preußischen Geheimrates) und was als tatsächliches Tätigkeitsfeld zu werten ist, war aus den Widmungen oft nicht klar zu erkennen, weshalb eine entsprechende Differenzierung unterblieb. Entscheidend ist hier ja auch das Patronagepotenzial, das sowohl mit Titeln wie auch Ämtern verknüpft gewesen sein dürfte. 72 Langenbeck ist Widmungsadressat bei: Hermann Conring (Pr.) / Joachim Behrens (Resp.), Exercitatio politica De optima republica, Helmstedt 1652; Hermann Conring (Pr.) / Arnold Heinrich Engelbrecht (Resp.), Dissertatio De comitiis Imperii Romano-Germanici, Helmstedt 1666; Volckmar (Pr.) / Keyser (Resp.), De iure maiestatis (wie Anm. 50). Bünting findet sich als Patron bei: Hermann Conring (Pr.) / Sigismund Johann Tenneman
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oder der kursächsische Geheimrat Karl von Friesen,73 des Weiteren Diplomaten wie die Reichsgrafen Christian und Detlev von Rantzau74 oder Statthalter wie der als Förderer von Kunst und Wissenschaft bekannte Herzog Ernst Bogislav von Croy.75 Durchschnittlich benennen Widmungen an diesen Personenkreis etwa drei Adressaten als Patrone; es können aber auch ein halbes Dutzend und mehr Personen sein, wenn es gilt, einen weiteren Förderer- oder Verwandtenkreis zu erfassen.76 Allgemein gilt da-
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(Resp.), Exercitatio politica De maiestate eiusque iuribus circa sacra et profana potissimis, Helmstedt 1669; Hermann Conring (Pr.) / Friedrich Holste (Resp.), Ex politicis dissertatio academica De senatu liberarum rerum publicarum, Helmstedt 1681. Der Freiherr Karl v. Friesen ist Patron des Meißener Ritters Heyno Friedrich v. Brösigke und (zusammen mit anderen Staatsräten) des schon erwähnten Johannes Neunhertz (Anm. 52) sowie des Karl Friedrich v. Semnitz (vgl. zu ihm unten, Anm. 76); Jakob Thomasius (Pr.) / Heyno Friedrich v. Brösigke (Resp.), Exercitatio politica De ratione status, definitionem eius a Scipione Amirato expendens, Leipzig 1665. Reichsgraf Christian v. Rantzau (1614–1663), Rat des römisch-deutschen Kaisers und des Königs von Dänemark, Diplomat und Statthalter in Schleswig & Holstein ist Widmungsadressat des Holsteiners Nikolaus Erasmus Nissen und, zusammen mit dem königlich-dänischen Rat in Holstein und Flensburger Präfekt Caius v. Ahlefeld, einem Superintendenten und zwei Verwandten, des Erasmus Nissen: Heinrich Julius Scheurl (Pr.) / Nikolaus Erasmus Nissen (Resp.), Exercitatio politica De civitate et republica in genere, Helmstedt 1647; Conring (Pr.) / Nissen (Resp.), De rebus publicis (wie Anm. 41). Graf Detlev v. Rantzau (1644–1697), ehemaliger Student und Respondent am Collegium Illustre in Tübingen und an der Universität Kiel, königlich-dänischer Rat, Pro-Rector des Herzogtums Holstein sowie Legionis Equestris Dux ist Widmungsadressat des Itzehoers Christian Detlev Rode, der später als Pastor wirkte: Otto Mencke (Pr.) / Christian Detlev Rode (Resp.), Ius maiestatis circa venationem, Leipzig 1674. Herzog Ernst Bogislav v. Croy und Aerschot (1620–1684; er entstammte väterlicherseits aus lothringischem Adel), S.R.I. Princeps und Statthalter des Kurfürsten v. Brandenburg in Pommern und Preußen, ist Patron der preußischen Edelleute Fröbner und v. Kalnein: Sigismund Pichler (Pr.) / Caspar Fröbner (Resp.), Discursus politicus II. De ratione status ecclesiastici vera seu prudentia politica statum ecclesiasticum ad Scripturae sacrae & rectae rationis normam regendi, Königsberg 1641 und Christoph Hartknoch (Pr.) / Georg Friedrich v. Kalnein (Resp.), Disputatio politica De incrementis et decrementis rerumpublicarum, Königsberg 1673. Sieben adelige Staatsmänner sind beispielsweise die Widmungsadressaten des Thüringer Ritters Karl Friedrich v. Selmnitz, nämlich der kursächsische Ratsdirektor Heinrich v. Friesen und der Geheimrat Karl v. Friesen, weiter der Geheimrat und Provinzialdirektor Haubold v. Miltitz und der Rat und Hofmarschall Heinrich Gebhard v. Miltitz, weiter der Rat, capitaneus und Schwiegervater Friedrich v. Werthern, der Schulinspektor Johann v. Werthern und Johann Christian v. Werthern: Valentin Alberti (Pr.) / Karl Friedrich v. Selmnitz (Resp.), De divisione maiestatis in regalia maiora et minora, Leipzig 1679. Sieben Staatsräte, hier jedoch eine Mischung aus adeligen und rechtsgelehrten Räten, präsentiert der Eisenacher Johann Caspar Wilhelmi, ein angehender Jurist, als Patrone: Wolf Heinrich v. Baumbach, Rat des Landgrafen Ludwig VI. v. Hessen und Wachpräfekt; Zacharias Prueschener von Lindenhofen, Statthalter und Rat des sächsischen Herzogs und Konsistorialpräses in Eisenach; Hartmann Jacobi, ICtus und Geheimrat Ludwigs VI. v. Hessen; Johann Wilhelm Schefer, Rat in Hessen-Darmstadt; Heinrich Christian Krantz, ICtus und Rat
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bei: Equites und nobiles wählen grundsätzlich adelige Räte als Patrone, bürgerliche richten ihre Dedikationen hingegen sowohl an adelige wie auch gelehrte Räte, also an iurisconsulti (ICti).77 Der Kreis solcher Widmungsadressaten kann je nach Herkunft und Karriereplanung der Respondenten auch um andere Berufsgruppen erweitert werden. Der Elsässer Johann Nikolaus Breitenacker kann mithilfe seiner Verwandtschaft eine um Bürgermeister und Kirchenverwalter erweiterte Adressatengruppe ansprechen.78 3. Städtische Magistrate und Honoratioren bilden insbesondere für bürgerliche Respondenten aus Reichsstädten und landesherrlichen Verwaltungszentren wichtige Patronagezirkel. Dementsprechend ist diese Klasse von Widmungsadressen auch bei den Altdorfer Politikdisputationen am stärksten vertreten. Bürgermeister, Stadträte, Senatoren, Richter und Advokaten, des Weiteren Schul- und Kirchenaufseher und Pastoren, die oft auch Gymnasiallehrer waren, aber auch Stadtärzte, Apotheker, Bibliothekare, Buchhändler und, nicht zu vergessen, Kaufleute und Händler werden hier angesprochen. Widmungsadressen dieser Art umfassen oft zahlreiche Personen, nennen nicht selten zehn und mehr Namen. Ein beliebter Patron ist beispielsweise Christian Lorenz von Adlershelm, Bürgermeister von Leipzig und kursächsischer Kammerrat, der bei den Leipzigern Christian Wagner, später Pastor und Universitätsrektor in Leipzig, Jakob Gauch, später Konrektor der Nikolai-Schule in Leipzig, und dem angehenden Jurisebd.; Elias Heinrich Avenarius, ICtus und Geheimrat des Herzogs Johann Georg v. Sachsen und der Erbherr Johann Georg H. Gunther: Johann Weiss (Pr.) / Johann Caspar Wilhelmi (Resp.), Dissertatio politica De nobilitate civili, Gießen 1669. 77 Vgl. neben dem eben erwähnten Beispiel des Thüringers v. Selmnitz etwa das des Pomeraner Edelmannes Georg Wüstenhoff: Seine Patrone sind u. a. der kurbrandenburger Rat Johann v. Bodeck und der Gerichtsassessor Nikolaus v. Bodeck: Christian Sinknecht (Pr.) / Georg Wüstenhoff (Resp.), Dissertatio politica De consiliariis, Königsberg 1641. Der (bürgerliche) Dresdener Rechtsstudent Christian Albhard etwa wählte für seine Arbeit zwei Rechtsgelehrte und Räte, nämlich den ICtus, kursächsischen Hofrat und Geheimsekretär Burchhard Berlich und den ICtus und Appellationsgerichtsrat Johann Schedius als Patrone: Christian Friedrich Franckenstein (Pr.) / Christian Albhard (Resp.), Exercitatio historico-politica De extrema provocatione, Leipzig 1654. Der Wolfenbütteler Friedrich Jakob Lautitz hingegen hat wiederum zwei adelige Räte als Patrone: Friedrich v. Hoimburg und Busson v. Münchhausen, Geheimräte des Herzogs Rudolph August v. Braunschweig-Lüneburg: Hermann Conring (Pr.) / Friedrich Jakob Lautitz (Resp.), Dissertatio politica De necessariis civitatis partibus, Helmstedt 1679. 78 Seine Förderer sind Peter Breitenacker, J. U. D. und Rat des Markgrafen Georg Friedrich v. Baden-Durlach, Johann Kitzler, J.U.D., Rat des Landgrafen v. Hessen und Professor, Johann Nikolaus Breitenacker, Bürgermeister der Reichsstadt Hagenau, Georg Schubbe, Pastor in Babenhausen und Kircheninspektor, sowie der Kirchenpräfekt Philipp Breitenacker: Johann Heinrich Tonsor (Pr.) / Johann Nikolaus Breitenacker (Resp.), Disputatio III. continens Quaestiones politico-ethicas, Gießen 1621.
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ten Andreas Oswald Scheler als Widmungsadressat fungierte.79 Auch der aus Ödenburg/Ungarn stammende Georg Preissegger wendet sich mit seiner Widmung an den Bürgermeister seiner Heimatstadt, Georg Grad, und an den dortigen Kirchenaufseher Matthias Lang.80 Eine typische Altdorfer Widmungsadresse ist die des Georg Andreas Reütter, der wie so manch anderer aus Nürnberg und Umgebung stammende Respondent die Nürnberger Senatoren Georg ImHof, Albert Pömer, Jodocus Christoph Kress von Kressenstein und Leonhard Grundherr, des Weiteren den sehr häufig genannten Hauptpastor und Gymnasialprofessor Johann Michael Dilherr als Mäzene benennt; eine ähnliche Gruppenwidmung des Johann Hillebold richtet sich an acht Stadtpolitiker und Honoratioren Rigas, unter anderem an den Bürgermeister, einen Richter, den Syndikus und den Physicus, nec non einen Gymnasialprofessor juxtim & einen Händler.81 Dass Händler und Kaufleute für bürgerliche Respondenten eine nicht zu unterschätzende Rolle als Mäzene spielten, belegt die Widmung des Elbingers Michael Wieder, der unter anderem zwei mercatores angibt.82 In einigen Sonderfällen, so etwa bei dem aus Leipzig stammenden Juristen Caspar Ziegler (1621–1690), einem der Mitbegründer der Leipziger Gelehrtengesellschaft Collegium Gellianum, fungieren Ärzte und Apotheker als exklusive Widmungsadressaten.83
79 Valentin Alberti (Pr.) / Christian Wagner (Resp.), Dissertatio politica De maiestate, eiusque divisione in realem et personalem, Leipzig 1677; Jakob Thomasius (Pr.) / Jakob Gauch (Resp.), Disputatio politica De certamine praestantiae inter regnum electivum et successivum, Leipzig 1660; Jakob Thomasius (Pr.) / Andreas Oswald Scheler (Resp.), Disputatio politica De patria potestate, Leipzig 1665. 80 Johann Paul Felwinger (Pr.) / Georg Preissegger (Resp.), Dissertatio politica De bello, Altdorf 1666. 81 Johann Paul Felwinger (Pr.) / Georg Andreas Reütter (Resp.), Dissertatio politica De causis aristocratiam conservantibus, Altdorf 1650; Jakob Thomasius (Pr.) / Johann Hillebold (Resp.), Disputatio politica De potestate legislatoria, Leipzig 1654. 82 Christoph Preibis (Pr.) / Michael Wieder (Resp.), Collegii politici disputatio tertia Tum reipublicae naturam, tum eius species exhibens, Leipzig 1617. Neben dem Superintendenten Daniel Mikolajewsky und dem Danziger Gerichtsassessor Michael Wieder sind dies der Danziger Kaufmann Martin Wieder (zugleich der Bruder des Respondenten) und der Glogauer Kaufmann Balthasar Schultz. 83 Ziegler (1621–1690) wählte bei seiner Antrittsdisputation, die, wie in Leipzig üblich, ohne Respondent stattfand, zwei Mediziner als Promotoren, nämlich den Dr. med. Georg Friedrich Laurentius, praktischer Arzt zunächst in Danzig, Leipzig und aktuell in Hamburg, sowie den Dr. med. Johann Georg Laurentius, medicus in Leipzig, dann am Holsteiner Hof in Gottorf und schließlich in Lübeck. Hinzu kommt noch der jurium candidatus Georg Börner, Syndikus in Dresden: Caspar Ziegler, Diodori Dionysius Senior, sive De tyranno, Exercitatio historico-politica ... pro loco, Leipzig 1647. Auf zwei ähnliche Förderer, nämlich den Senator und Pharmacopola (Apotheker) Andreas Firck sowie den Physikus Bernhard
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4. Widmungen an Adelige, die keine Angaben zu deren Stellung enthalten.84 In der Regel sind es die Söhne oder sonstige Nachkommen von Adelsfamilien, die ihre Eltern oder Verwandte mit einer Dedikation ehren.85 Gelegentlich sind es aber auch bürgerliche Respondenten, die wahrscheinlich als Hofmeister von nobiles deren Eltern als Widmungsadressaten ansprechen.86 5. Universitätsprofessoren, Gymnasialrektoren, Fakultätsdekane usw. werden abgesehen von den Leipziger Politikrespondenten relativ selten mit einer Dedikation bedacht. An der Universität der sächsischen Metropole sind es insbesondere Valentin Alberti, Verfechter eines christlichen Naturrechts, Extraordinarius der Theologie und Professor für Metaphysik, der sich gleichwohl intensiv mit Fragen der Politik beschäftigt, und der Theologieprofessor Johann Hülsemann, die mehrmals als Patrone genannt werden.87 Gelegentlich tauchen bei Politikdisputationen auch Fachgrößen
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Hasenbein, verweist die Widmung des Pankraz Ulrich Müller aus Osterwick: Johann Paul Felwinger (Pr.) / Pankraz Ulrich Müller (Resp.), Dissertatio politica De oligarchia, Altdorf 1652. Aufgrund ihrer relativen Häufigkeit wurden derartige Widmungsadressen gesondert gezählt. Speziell unter den Respondenten des Altdorfer Politologen Johann Paul Felwinger finden sich neben fränkischen auch einige, vermutlich protestantische, österreichische Adelige, die – wohl aufgrund der dortigen Rekatholisierungswelle – den Weg an die Altdorfer Universität gefunden haben und durchweg Familie und Verwandtschaft mit derartigen Dedikationen würdigen. Solche österreichischen Edelleute sind die Respondenten der folgenden Dissertationen: Johann Paul Felwinger (Pr.) / Gottfried v. Holtz zu Sternstein (Resp.), Dissertatio politica De quaestione an subditi tempore pacis armis exercendi?, Altdorf 1639; Johann Paul Felwinger (Pr.) / Georg Andreas Stängel v. Waldenfels (Resp.), Dissertatio politica De quaestione an literarum studium militiam enervet, Altdorf 1639; Johann Paul Felwinger (Pr.) / Wolfgang Achatius Saxenländer v. Franzhausen (Resp.), Dissertatio politica De officiis liberorum erga parentes, Nürnberg 1640. Ein solcher Fall ist beim Schriftsteller und Dramatiker Johann Valentin Merbitz (1650– 1704) aus Dresden gegeben, der in jungen Jahren als informator und Dozent in Leipzig wirkte, später dann Konrektor in Dresden wurde. Widmungsadressaten seiner Politikdisputation über den Staatsnotstand sind seine Zöglinge, die maximorum parentum filii Siegfried Innozenz v. Lüttichau und Adam Heinrich Günterrod: Valentin Alberti (Pr.) / Johann Valentin Merbitz (Resp.), Quaestio politica: Quid reipublicae in casu necessitatis liceat?, Leipzig 1669. Valentin Alberti wird von mehreren Politikrespondenten als Gönner und Mäzen in die Pflicht genommen: Zum einen von Johann Kleinau aus Greslitz in Böhmen, dann von Bernhard v. Sanden (vgl. oben mit Anm. 48), des Weiteren von Christian Nathusius bei seiner Antrittsdisputation und vom angehenden Theologen Johann Gottfried Usaeus: Christoph Schrader (Pr.) / Johann Wilhelm Kleinau (Resp.), Disputatio politica De societate coniugali, Leipzig 1672; Christian Nathusius, Considerationes politicae super nobiliores … res in Europa gestas, Leipzig 1688; Johann David Schwertner (Pr.) / Johann Gottfried Usaeus (Resp.), Dissertatio politico-moralis De matrimonio foeminae imperantis cum marito subdito, Leipzig 1685. Hülsemann ist Widmungsadressat des Rechtsstudenten Caspar
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wie Hermann Conring, Adam Rechenberg oder Johann Andreas Bose als Patrone auf. 6. Etwas stärker vertreten sind Widmungen rein oder überwiegend an Geistliche, die ja häufig auch schon im Rahmen städtischer Gruppenwidmungen Berücksichtung fanden. Der Augsburger Christoph Kirchner, der im Rahmen eines Collegium politicum die Disputation über kaiserliche Amtsträger wie Räte, Senatoren und Gesandte bestritten hat, wendet sich mit seiner Arbeit an Vertreter der Augsburger Geistlichkeit, Johannes Reinhardi aus Tilsit sucht sich gleich bei einem halben Dutzend von Geistlichen ins Gespräch zu bringen, um seine Karriere als evangelischer Theologe zu befördern.88 Mit dem passenden Thema ›Konzilien‹ wendet sich Joachim Johann Mader an einen Hofprediger und einen Abt.89 Ernst Ludwig Cortrejus schließlich, der spätere Landessyndikus zu Magdeburg, spricht mit Widmungen gleich zweier Politikdisputationen vom Februar und März 1692 den Kreis seiner späteren Arbeitgeber an.90
Habermann (Christian Schlumpff [Pr.] / Caspar Habermann [Resp.], Disputatio politica De legibus, Leipzig 1658), der als angehender Rechtsgelehrter – er wirkte später an der Universität Rostock – bezeichnenderweise über die Rechte disputierte, und des angehenden Juristen Benedikt Strauss aus Wittenberg: Jakob Thomasius (Pr.) / Benedikt Strauß (Resp.), Disputatio politica De principe eiusque virtutibus, Leipzig 1653. Ein weiterer Leipziger Professor, der zumindest einmal als Patron fungierte, ist der Mediziner und Botaniker Paul Ammann: Christian Nathusius (Pr.) / Samuel Grosser (Resp.), Quaestio politica: An expediat regi eligere ministrissimum?, Leipzig 1686. 88 Kirchers Patrone sind der Patrizier und Pastor Paul Hartlieb, der Pastor bei St. Anna, Melchior Volck, der Prediger Johann Birer sowie ein Patrizier (Johann Heinrich Höchstätter): Christian Matthiae (Pr.) / Christoph Kircher (Resp.), De officialibus imperatoris, videlicet de consiliariis sive senatoribus, magistratibus et legatis (in: Collegium politicum / Disputationes politicae 1–8, Disp. 3), Gießen 1611. Reinhardi (1603–1670) stellt den Kreis seiner Patrone aus dem Theologieprofessor, Pastor und Konsistorialassessor Cölestin Myslenta, dem Archipresbyter des Kirchendistrikts Rastenburg, Adam Prätorius, des Weiteren aus drei Pastoren (Michael Wegner, Christian Freymuth, Caspar Möller), einem Diakon, schließlich aber auch aus Martin Hertlein, dem Bürgermeister in Lantzburg, sowie einem Verwandten und einem Mitstudenten zusammen. Er wurde Diakon in Schmalkalden: Christian Sinknecht (Pr.) / Johann Reinhardi (Resp.), Dissertatio politica prior De republica, Königsberg 1641. 89 Maders Promotoren sind Justus Gesenius, Hofprediger und Generalsuperintendent in Braunschweig-Kalenberg, und David Denicken, Abt von Bursfeld; hinzu kommt noch der Bürgermeister seiner Heimatstadt Hannover, Jakob Bunting: Hermann Conring (Pr.) / Joachim Johann Mader (Resp.), Exercitatio historico-politica De conciliis et circa ea summae potestatis auctoritate, Helmstedt 1650. 90 Widmungsadressen sind einmal die Abbates atque Praeposites in Praelatorum ordine Ducatus Magdeburgensis, zum anderen Dekan, Senior und das gesamte Kapitel der Magdeburger Metropolitankirche: Johann Cyprian (Pr.) / Ernst Ludwig Cortrejus (Resp.), Dissertatio
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7. Widmungen, die verschiedene regionale und berufliche Patronagekreise kombinieren, sind zwar nicht sehr häufig, aber deshalb interessant, weil zu vermuten ist, dass sich die Zueigner verschiedene Berufswege und Förderungsmöglichkeiten offenhalten wollten. Wenn etwa ein junger Bürger aus dem kleinen fränkischen Reichsstädtchen Winsheim einen promovierten Juristen und Brandenburg-Ansbacher Rat (Philipp Eisel), dann den Bürgermeister und Gymnasialinspektor seiner Heimatstadt Johann Hofmann, als drittes den Altdorfer Professor für Politik und Geschichte, Michael Virdung, schließlich noch einen Uffenheimer Präfekten und zuletzt seinen Onkel Georg Stör als Mäzenaten, Patrone und Promotoren benennt, könnte dies auf solch unterschiedliche Berufsperspektiven hindeuten.91 Ähnlich breit streut Johann Viliz seine Widmungsadresse: Sein erster Patron ist der promovierte Jurist, Kanzler und Rat der Grafschaft Schwartzburg-Rudolstadt, Friedrich Lentz; es folgen Johann Andreas Quenstedt, Theologe und Adjunkt der philosophischen Fakultät in Wittenberg, Isaak Leickher, Gerichtsassessor in Leipzig; Christoph Helmuth, kurbrandenburger Konsistorialassessor in Halberstadt und schließlich sein Vater Johann Viliz, Pastor in Quedlinburg.92 Nach diesen Befunden ist abschließend noch der Frage nach den Möglichkeiten des Zustandekommens eines Patronageverhältnisses nachzugehen. Für die Fülle der vorliegenden Fälle ist es freilich schwer zu klären, ob zwischen Respondent und Dedikationsadressaten eine persönliche Bekanntschaft bestand, wer diesen Kontakt hergestellt beziehungsweise vermittelt hat oder ob dieser erst hergestellt werden sollte. Dass man von einer solchen Beziehung im Allgemeinen ausgehen kann, indizieren – als Extrembeispiele – räumlich weit ausgreifende Zueignungen: Eine Widmungsadresse im Rahmen einer Königsberger Politikdisputation an Personen im weit entfernten Oldenburg wäre ja sinnlos, wenn letztere davon nicht in Kenntnis gesetzt würden.93 Dies dürfte in der Regel entweder der Verfasmoralis ac politica De praecipuis prudentiae civilis capitibus, Leipzig 1692; Valentin Alberti (Pr.) / Ernst Ludwig Cortrejus (Resp.), Dissertatio politica De fatalibus imperiorum ac monarchiarum periodis, Leipzig 1692. 91 Johann Conrad Dannhauer (Pr.) / Johann Kerer (Resp.), Pentas nobilium quaestionum politicarum, Nürnberg 1627. 92 Jakob Thomasius (Pr.) / Johann Christian Viliz (Resp.), Disputatio De natura et constitutione politices, Leipzig 1659. 93 Der aus Osnabrück stammende Bartholomäus Ringelmann widmete seine 1643 unter Sigismund Pichler in Königsberg erstellte ›Disputatio politica De regalibus sive maiestatis iuribus‹ Anton Günther, Graf in Oldenburg und Delmenhorst, als Dominus suus clementissimus. Der Stralsunder Joachim Christian Koch knüpft mit seinem Helmstedter ›Discursus politicus De militia lecta, mercenaria et socia‹ aus dem Jahr 1663 – Präses ist Hermann
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ser der Widmung mit Unterstützung seines Vaters, seiner Verwandten und Freunde oder des Präses beziehungsweise anderer Professoren der Universität bewerkstelligt haben, was wiederum die Existenz einer wie auch immer gearteten sozialen Verflechtung, einer persönlichen Bekanntschaft oder auch nur eines über Dritte vermittelten Kontaktes voraussetzt (wenn es sich nicht um eine »Blindbewerbung« gehandelt haben sollte). In seltenen Fällen offerieren Titelblätter oder Widmungstexte gewichtige Indizien für das Zustandekommen des Kontaktes. Ein solcher Fall ist die ›De requisitis studii politici Disputatio philosophica‹, welche der Königsberger Christoph Gulden unter der Leitung Michael Piccarts 1619 in Altdorf präsentiert hat. Das Titelblatt weist den Preußen als Ductor in doctrinae & morum cultu des jungen Adeligen Barons Achatius von Dhona aus. Just verschiedene Verwandte dieses Zöglings des Respondenten, allesamt hochrangige Politiker verschiedener Kurfürsten, sind dann auch die Widmungsempfänger.94 Naheliegend sind Verflechtungen zwischen Politikrespondenten und solchen Widmungsadressaten, die entweder selbst ein Studium absolviert Conring – ein »Beziehungsdreieck« nach Lübeck: Widmungsadressat ist der dortige ICtus und Syndikus Joachim Carstens. Koch wird Gerichtsassessor in Wismar. Ein vergleichbares Beispiel ist der ›Discursus politicus De aristocratia‹ (1686), den der Brandenburger Adam Friedrich Hess unter Georg Thegen in Königsberg erarbeitet und dem Wittenberger Theologieprofessor Abraham Calov gewidmet hat. Auch über Hess, der 1687 noch eine weitere Politikdisputation ›De principe literato‹, diesmal unter Hoynovius, bestritten hat, sind keine weiteren Daten greifbar. Schließlich ein Beispiel aus Altdorf: Hier fungierte 1660 unter der Leitung Felwingers der aus Schleswig stammende Johann Rudolf Tscharner als Respondent bei der ›Disputatio politica De magistratu‹ (eine gleichlautende Disputation hatte er bereits zwei Jahre zuvor in Heidelberg unter Lucius bestritten; vgl. oben Anm. 16). Als seine Mäzene und favitores nennt der Zueigner die Räte und den Senat der freien Reichsstadt Goslar. 94 Piccart (Pr.) / Gulden (Resp.), De requisitis (wie Anm. 10). Die Widmungsempfänger aus dem Geschlecht der von Dhona sind Fabian sen. (kurpfälzer und kurbrandenburger Geheimrat und militiae dux), Friedrich (kurbrandenburger Rat und Provinzpräfekt in Preußen), Abraham (kurbrandenburger Ratsdirektor), Achatius sen. (kurpfälzer Geheimrat und Präfekt) und Christoph (kurpfälzer und fürstlich-anhaltinischer Rat sowie Vorsitzender des Provinzialgerichts in Neuburg ante sylvam). Hinzu kommen der Kurpfälzer Rat und Präfekt Friedrich Borck, der kurbrandenburger Präfekt in Preußen, Fabian Borck, sowie schließlich der kurbrandenburger Rat und Gesandter in Polen, Andreas Laskius. Gulden hatte bereits 1610 in Wittenberg unter Jakob Martini eine Disputation zur Metaphysik bestritten, die er vier Königsberger Professoren und zwei Bürgern seiner Heimatstadt gewidmet hat. Danach muss der Kontakt zu seinen Förderern zustande gekommen sein. In Altdorf folgten 1620 gleichfalls noch in der Eigenschaft als institutor des Achatius iun. v. Dhona die ›Conclusiones De Iure Publico, ex Iurisprudentiae, politices & Historiae principiis depromptae‹ unter Erasmus Ungepauer. Unter den Widmungsempfängern dieser Arbeit finden sich preußische Freiherrn, Standesgenossen seines Zöglings, die wahrscheinlich auch Mitstudenten Guldens waren.
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haben und dabei als Respondenten bei einer Politikdisputation aufgetreten sind oder die ihren Söhnen eine solche Ausbildung haben angedeihen lassen. Man kann davon ausgehen, dass solche Väter beziehungsweise ehemalige Studenten der Politik bereit waren, Respondenten dieses Faches zu fördern. Ein Beispiel für ein solches Beziehungsgeflecht rankt sich um den Namen Otto von Schwerin: Dieser Reichsfreiherr und einflussreiche Staatsmann in Diensten des Großen Kurfürsten (1616–1679) hatte seinen gleichnamigen Sohn in Königsberg studieren lassen.95 Otto von Schwerin iunior bestritt dort 1662 eine ›Dissertatio historico-politica De lege regia‹.96 Wie sein Vater machte er Karriere in den Diensten Kurbrandenburgs. Ein paar Jahre später taucht der Name des brandenburgisch-preußischen Ministers und Diplomaten, der es verstanden habe, sich durch Familienpolitik, Patronage und Einflussnahme auf die Personalpolitik des Herrschers im Hohenzollernstaat »eine bedeutende Anhängerschaft zu sichern«97, dann auch als Adressat einer Widmung auf: Der preußische Adelige Andreas von Kreytzen dedizierte Otto von Schwerin senior seinen ›Discursus politicus De potentia reipublicae‹.98 Bei dem Respondenten von Kreytzen, der spätestens mit dieser Königsberger Disputation in die Klientel Schwerins eingerückt sein dürfte, könnte es sich um einen gleichnamigen Sohn eines kurbrandenburger Oberförsters handeln.99 95 Otto v. Schwerin sen., der 1648 in den Reichsfreiherrenstand von Kaiser Ferdinand III. erhoben worden und u. a. Kammerdirektor sowie seit 1658 Oberpräsident des Geheimen Rates war, gilt als der führende Vertraute und Berater des (Großen) Kurfürsten Friedrich Wilhelm; vgl. Michael Rohrschneider, »… vndt keine favoritten ahn Euerem hoffe haltet«: Zur Stellung Ottos von Schwerin im Regierungssystem des Großen Kurfürsten, in: Michael Kaiser u. a. (Hg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, Berlin 2003, S. 253-268. 96 Jakob Sahme (Pr.) / Otto v. Schwerin (Resp.), Dissertatio historico-politica De lege regia, Königsberg 1662. Es ist die einzige Disputation des Lib. Baron. v. Schwerin. Gewidmet ist sie dem polnischen Herzog und preußischen Statthalter Bogislaus Radzevilius (Radzivill), der unter dem maßgeblichen Wirken Ottos v. Schwerin sen. für das Personal des Großen Kurfürsten rekrutiert werden konnte; vgl. Rohrschneider, »… vndt keine favoritten« (wie Anm. 95), S. 265. 97 Rohrschneider, »… vndt keine favoritten« (wie Anm. 95), S. 268. 98 Sigismund Pichler (Pr.) / Andreas v. Kreytzen (Resp.), Discursus politicus De potentia reipublicae, Königsberg 1667. Diese Politikdisputation ist im VD17 noch nicht nachgewiesen. Ich habe sie in der UB Rostock eingesehen. 99 Die v. Kreytzen sind lt. Zedler (15, Sp. 1880) ein Grafen- und Herrengeschlecht in Preußen mit einer Reihe von Besitzungen. Neben Andreas hatte schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Johann v. Kreytzen eine Politikdisputation zur Frage der schulischen Bildung bestritten: Theophil Mehlmann (Pr.) / Johann v. Kreytzen (Resp.), Dissertatio politica, Jena 1605. Sie tauchen des Öfteren als Adressaten von Widmungen bei Königsberger Politikdisputationen auf. Das Beispiel des Georg Wilhelm v. Kreytzen, der brandenburg-preußischer Rat und Marschall und Adressat der Präsidenwidmung des David Heilgendorff ist, wurde
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In der Doppelrolle als Respondent und Widmungsadressat findet sich etwa Christian Dietrich Ackenhausen. Er erläuterte 1658 unter Conring Thesen über Urspung und Wandel von Königreichen. Knapp zwanzig Jahre später ist er, mittlerweile kursächsischer Rat und Statthalter in der Provinz Hadeln, Widmungsadressat einer weiteren Helmstedter Politikdisputation über Diplomaten.100 Hempo von Knesebeck, später Präses der Altmark und Geheimrat des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, bestritt 1611 unter Henning Arnisaeus eine Disputation über den gerechten Krieg.101 Hempo ist später Widmungsadressat des Johann Friedrich Scheurl.102 Friedrich von Derschau (1644–1713), ein preußischer Edelmann, der später als Jurist, Tribunalrat des Oberappellationsgerichts in Königsberg und Bürgermeister der Königsberger Altstadt gewirkt hat, verteidigte 1665 in Königsberg eine Arbeit über den Machiavellismus; knapp dreißig Jahre später widmete ihm sein Neffe Reinhold Heinrich eine Politikdisputation.103 Innerhalb von Adelsfamilien und zwischen ihnen lassen sich solche Beziehungsgeflechte, in denen Familienangehörige verschiedener Gene-
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oben schon erwähnt (Anm. 48); Georg Friedrich v. Kreytzen und Johann v. Kreytzen, der eine kurbrandenburger Statthalter, Rat und Kanzler in Preußen, der zweite kurbrandenburgischer camerarius, sind Adressaten der Widmung des preußischen Ritters Christoph Albert v. Lesgewang: Michael Hoynovius (Pr.) / Christoph Albert v. Lesgewang (Resp.), Dissertatio posterior De erroribus politicis Machiavelli, Königsberg 1689; derselbe Georg Friedrich v. Kreytzen ist zudem der magnus Musarum Patronus und Maecenatus des Königsberger Respondenten Wilhelm Boltz, der 1696 unter dem Rhetorikprofessor Michael Schreiber über theses politicae disputierte. Der Regimentsrat und Obermarschall Abraham Josaphat v. Kreytzen schließlich ist zusammen mit vier weiteren brandenburg-preußischen Staatsmännern Patron des preußischen Adeligen Georg Friedrich v. Kalnein (Hartknoch [Pr.] / Kalnein [Resp.], De incrementis, wie Anm. 75). Hermann Conring (Pr.) / Christian Dietrich Ackenhausen (Resp.), Theses politicae De ortu et mutationibus regnorum, Helmstedt 1658; Heinrich Uffelmann (Pr.) / Peter Becker (Resp.), Disputatio politica De legatis, Helmstedt 1677. Sein Bruder, Levin v. Knesebeck, präsentierte sich im Übrigen im gleichen Jahr unter demselben Präses mit einer Arbeit zur fürstlichen Souveränität: Henning Arnisaeus (Pr.) / Hempo v. Knesebeck (Resp.), Disputatio politica De causis iusti belli, Frankfurt / Oder 1611. Henning Arnisaeus (Pr.) / Levin v. Knesebeck (Resp.), Disputatio politica De autoritate summorum principum in populum et subditos, Frankfurt / Oder 1611. Heinrich Julius Scheurl (Pr.) / Johann Friedrich Scheurl (Resp.), Disputatio moralis De mediis ad felicitatem civilem ducentibus, Helmstedt 1649. Ein weiterer v. Knesebeck, Wilhelm, ist Widmungsadressat der Disputation des Hildesheimers Johann Albrecht: Hermann Conring (Pr.) / Johann Albrecht (Resp.), Disquisitio politica De forma judiciorum in republica recte instituenda, Helmstedt 1666. Sigismund Pichler (Pr.) / Friedrich v. Derschau (Resp.), Examen breve decadis dogmatum pseudo-politicorum Nicolai Machiavelli, Königsberg 1665; Georg Thegen (Pr.) / Reinhold Heinrich v. Derschau (Resp.), Disputatio politica De prognostico status rerumpublicarum, Königsberg 1686.
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rationen als Studenten, Respondenten und/oder als Widmungsadressaten auftreten, häufig nachweisen. Die Beispiele der preußischen Adelsfamilien von Derschau und von Kreytzen wurden eben erwähnt. Weitere Beispiele wären die märkische Adelsfamilie von Burgkstorff,104 die dem Meißener Adel zugehörigen von Einsiedel105 und von Miltitz106 oder die preußischen Noblen von Tettau.107 104 Christoph Ulrich und Conrad Friedrich v. Burgkstorff (die Schreibweise des Namens variiert: Burckstorff, Burgstorff usw.) haben in Helmstedt unter Conring respondiert: Hermann Conring (Pr.) / Christoph Ulrich v. Burgkstorff (Resp.), Exercitatio De iudiciis reipublicae Germanicae, Helmstedt 1647; Hermann Conring (Pr.) / Conrad Friedrich v. Burgkstorff (Resp.), Dissertatio De officialibus imperii Romano-Germanici, Helmstedt 1669. Bei der früheren Arbeit ist der Onkel Conrad v. Burgkstorff, ein Kurbrandenburger Kämmerer und Geheimrat, der Widmungsadressat, der in gleicher Funktion auch bei zwei Königsberger Disputationen eines bürgerlichen und eines adeligen Respondenten auftritt: Sigismund Pichler (Pr.) / Joachim Ponatius (Resp.), Discursus politicus De bello ejusque potissimum iure, Königsberg 1646; Sigismund Pichler (Pr.) / Johann Wolfgang v. Löben (Resp.), Discursus politicus De statibus seu ordinibus rerumpublicarum, Königsberg 1647. 105 Drei v. Einsiedel, Heinrich Hildebrand, Hans und Innozenz, haben zwischen 1639 und 1663 Politikdisputationen bestritten: Albert Güntzel (Pr.) / Heinrich Hildebrand v. Einsiedel (Resp.), Disputatio politica De maiestate Romani Imperatoris, Wittenberg 1639; Albert Güntzel (Pr.) / Hans v. Einsiedel (Resp.), Legatus (Disputatio politica), Wittenberg 1640; Heinrich Crell (Pr.) / Innozenz v. Einsiedel (Resp.), Dissertatio academica e scientia civili … instruens futurum virum bonum, Jena 1663. Insbesondere Heinrich Hildebrand v. Einsiedel begegnet später, nun kursächsischer Geheimrat, als Patron einer Reihe von Politikdisputationen, etwa der des Meißener Philosophie- und Theologiestudenten und späteren Lehrers in Halle, Johann Gabriel Drechsler, der des Meißener Ritters Joachim Loth v. Schönberg und der des Samuel Breiting: Adam Rechenberg (Pr.) / Johann Gabriel Drechsler (Resp.), Principis secretarium, Leipzig 1667; Adam Rechenberg (Pr.) / Joachim Loth v. Schönberg (Resp.), De ministerio quod crimen est, disquisitio politica, Leipzig 1674; Jakob Thomasius (Pr.) / Samuel Breiting (Resp.), Disquisitio politica De societate nuptiali, Leipzig 1656. Weitere Mitglieder dieser Familie sind Patrone Helmstedter und Königsberger Politikdisputanten, u. a. eines v. Miltitz; vgl. im Folgenden. 106 Aus dieser Familie begegnet Dietrich v. Miltitz als Respondent. Seine Widmungsadressaten sind der kursächsische Oberquästor Hildebrand v. Einsiedel und der Mitstudent Heinrich v. Einsiedel sowie Centurio und Haubold v. Miltitz, seine Brüder: Sigismund Pichler (Pr.) / Dietrich v. Miltitz (Resp.), Disputatio politica De legatis, Königsberg 1642. Letzterer, der kursächsische Geheimrat und Kreispräfekt Haubold v. Miltitz, ist dann wiederum Patron bei drei Politikdisputationen, nämlich der des schon erwähnten Selmnitz (vgl. Anm. 76), der des Leipzigers Daniel Ägidius Heinricius und der des Vogtländer Ritters Johann Christoph v. Rieboldt. Jakob Thomasius (Pr.) / Daniel Ägidius Heinricius (Resp.), Disputatio politica De gynaecocratia subsidiaria, Leipzig 1667; Adam Rechenberg (Pr.) / Johann Christoph v. Reiboldt (Resp.), De collatione munerum publicorum seu promotione dissertatio politica, Leipzig 1674. 107 Zwei v. Tettau haben Politikdisputationen bestritten: Wilhelm Witzendorff (Pr.) / Johann Dietrich v. Tettau (Resp.), Dissertationum De republica tertia exhibens eius constitutionem, Königsberg 1639; Pichler (Pr.) / v. Tettau (Resp.), De consiliis (wie Anm. 68). Johann Dietrich v. Tettau ist später als kurbrandenburger Kanzler Widmungsadressat bei der schon erwähnten Disputation des Georg Friedrich v. Kalnein; vgl. Anm. 75.
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Allgemeiner Hintergrund dieser unterschiedlichen Formen von Verflechtungen ist die Professionalisierung des Staatsdienstes durch die akademische Ausbildung der Amtsträger, einhergehend mit einer wachsenden Mobilität, die angehende Räte an verschiedene Universitäten des Reiches führte. Damit verbunden waren teils die Umgestaltung von Klientelsystemen, eine Neuformierung von Patronageverhältnissen, teils ihre standesinterne Intensivierung, insgesamt ein massiver Ausbau verschiedener sozialer Verflechtungen. Um sich in einer derart vernetzten Gesellschaft beruflich etablieren und gesellschaftlich behaupten oder gar verbessern zu können, war eine bewusste Karriereplanung unumgänglich. Bester Beleg dafür ist die zunehmende Ausrichtung der Themen der Disputationen an der Stellung, den möglichen Interessen und Kenntnissen der Widmungsadressaten, die wiederum mit den Berufsvorstellungen der Respondenten verknüpft waren. Dies sollen nun noch einige Beispiele illustrieren, bei denen eine aus dem Thema einer Disputation oder auch aus der Ausrichtung des Studiums (Theologie oder Jurisprudenz)108 herauslesbare Karriereplanung eines Respondenten und die berufliche oder gesellschaftliche Stellung oder zumindest der räumliche Wirkungskreis der Widmungsempfänger konvergieren. Königsberger Beispiele der Kongruenz von Thema, späterer beruflicher Tätigkeit des Respondenten und Wirkungskreis des Widmungsadressaten wären: Die unter Michael Eifler entstandene Arbeit über den guten und schlechten Politiker,109 die der Respondent Hempel, im Übrigen seine einzige (nachweisbare) Disputation, Friedrich Wilhelm von Brandenburg dedizierte. Er wurde kurfürstlich-brandenburgischer Oberregimentssekretär und preußischer Rat. Eine andere Arbeit über die Notwendigkeit des staatlichen Bildungswesens scheint die mit einer Dedikation bedachten Patrone, den Rektor und drei Professoren des Gymnasiums in Elbing, des Weiteren den Mediziner dieser Stadt, davon überzeugt zu haben, dass Johann Nagel, der Respondent dieser Politikdisputation, der Richtige sei für den Posten eines Gymnasialprofessors und Pastors in ihrer Stadt.110 108 Rückschlüsse darauf können sich zum einen aus entsprechenden Hinweisen zum Respondenten auf dem Titelblatt oder der Widmung ergeben (etwa einem Zusatz Philos. & J. U. Studiosus) oder aus weiteren Disputationen, die der Respondent in den genannten Fächern bestritten hat. 109 Michael Eifler (Pr.) / Christian Hempel (Resp.), Politicus bonus et malus rotunda descriptione adumbratus, Königsberg 1642. 110 Daniel Hoynovius (Pr.) / Johann Nagel (Resp.), Disputatio politica De necessitate scholarum illustrium in bene constituta civitate, Königsberg 1698. Nagel hat noch weitere Disputationen bestritten, etwa eine in der Theologie, welche er, um seine Ansprüche zu bestärken, einer Reihe von Elbinger Patriziern sowie zahlreichen weiteren Honoratioren gewidmet hat.
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Johann Christoph Endtemanns Dissertation über die Erstgeborenen und ihre Rechte ist thematisch abgestimmt auf den gewählten Patron, den primogenitus Friedrich von Brandenburg, den Sohn Friedrich-Wilhelms und späteren König Friedrich I. von Preußen; der Dedikant konnte sich damit als kurfürstlicher Secretarius qualifizieren.111 Dass ein preußischer Adeliger wie Daniel von Tettau kurfürstlich-brandenburgischer Gerichtsrat wurde, mag durch seinen sozialen Status vorgeprägt gewesen sein. Um seine Ansprüche auf eine solche Stellung zu intensivieren, hat er sich gleichwohl mit einer Disputation über fürstliche Räte qualifiziert und für diese Friedrich Wilhelm von Brandenburg zum Patron erwählt.112 Ähnlich mag es, um noch ein Helmstedter Beispiel zu erwähnen, bei dem Holsteiner Edelmann Detlev Brocktorff gelegen haben, der Diplomat in dänischen Diensten wurde. Seine Ansprüche darauf untermauerte er gleichwohl mit einer Disputation über die durch Reisen zu erwerbende Klugheit. Seine Patrone sind Nikolaus von Qualen, Geheimrat des Herzogs von Holstein, und sein Vater Joachim, selbst ein Legat.113 Abschließend ein Beispiel, bei dem der Widmungsadressat ausnahmsweise eine Frau ist, nämlich die politisch-gesellschaftlich einflussreiche Kirchenlieddichterin Henriette Katharina von Gersdorf (1648–1726), die unter anderem Philipp Jakob Speners Bestrebungen um die Reform der Kirche förderte. Gezielt auf diese Patronin hin wählte der Bakkalaureus der Philosophie und Theologiestudent Gottfried Ludovici das Thema seiner Leipziger Dissertation über die Verdienste der Frauen im Staat und gelangte unter deren Protektion auf die Stelle eines Gymnasialrektors in Schleusingen.114
IV. Fazit Die Untersuchung der Widmungsadressen politischer Dissertationen versteht sich als Beitrag zur Bildungs- und Sozialgeschichte des 17. Jahrhunderts. Sie ging davon aus, dass Disputationsdrucke als Qualifikationszeugnisse zugleich teure Prestigeangelegenheiten waren, die von den Re111 Thegen (Pr.) / Endtemann (Resp.), De primogenitis (wie Anm. 68). 112 Pichler (Pr.) / Tettau (Resp.), De consiliis (wie Anm. 107). 113 Hermann Conring (Pr.) / Detlev Brocktorff (Resp.), Disquisitio politica De prudentia peregrinandi, Helmstedt 1663. 114 Samuel Grosser (Pr.) / Gottfried Ludovici (Resp.), Dissertatio De foeminarum meritis in rempublicam, earumque praerogativis in republ. concessis, Leipzig 1690. Henriette Katharina von Gersdorf (1648–1726) war im Übrigen die Tochter des schon erwähnten Freiherrn Karl von Friesen (vgl. Anm. 73) und Frau des Freiherrn Nikolaus von Gersdorf, kursächsischer Geheimratsdirektor und Landvogt der Oberlausitz.
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spondenten – in geringem Maße auch von jungen Präsiden – dazu genutzt wurden, sich bei Mäzenen und Förderern zu bedanken, vor allem aber sich im Hinblick auf spätere Berufe und Stellungen in Patronagesysteme einzuklinken oder entsprechende Beziehungen zu intensivieren. Trotz vielfältiger Dankesbekundungen der Zueigner an die Patrone ist die Karrierefunktion der entscheidende Aspekt der Dedikationen. Die Widmungsadressaten und teilweise auch die Themen wurden gezielt daraufhin ausgewählt, und offenkundig war dieses Kalkül, wie zuletzt gezeigt, erfolgreich. Ob sich die auf politikwissenschaftliche Qualifikationsschriften bezogenen Ergebnisse auf die Disputationen in den übrigen Disziplinen verallgemeinern lassen, wird zu diskutieren sein.
Tanja van Hoorn
Geselligkeit im Paratext, Friede im Zitierkartell? Was Heinrich Friedrich Delius zu hören bekam, als er am 31. Oktober 1743 in Halle zum Doktor promoviert wurde Die kleine Saalestadt Halle ist einer der wichtigsten Schauplätze der deutschen Frühaufklärung. Hier wird 1694 die Fridericiana-Universität gegründet, die erste Preußische Reformuniversität, die sich schnell zu einer Hochburg frühaufklärerischen Denkens entwickelt: Nicht nur dem aus Leipzig geflohenen Juristen Christian Thomasius wird in Halle Zuflucht gewährt, sodass er hier seine praktische Ethik und seinen philosophischen Voluntarismus lehren kann. Auch Christian Wolff ist Professor an der Fridericiana, wo er an der Philosophischen Fakultät sein Programm des Rationalismus doziert, aber auch eine empirische Psychologie erarbeitet.1 Seine einmalige Bedeutung erhält Halle jedoch dadurch, dass sich zur Universität nur vier Jahre nach deren Gründung eine zweite, ebenfalls weit über Halle hinauswirkende Institution gesellt: Am 13. Juli 1698 legt August Hermann Francke den Grundstein für ein Waisenhaus, das das erste Gebäude darstellt in einem später stadtteilgroßen Komplex, den sogenannten Franckeschen Stiftungen, der wohl bedeutendsten deutschen Pflanzstätte des Pietismus.2 Die institutionelle Doppelung von frühaufklärerischer Universität und pietistischen Franckeschen Stiftungen ist weg-
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Zur Universitätsgeschichte Halles vgl. Johann Christian Förster, Übersicht der Geschichte der Universität zu Halle in ihrem ersten Jahrhunderte. Nach der bei Carl August Kümmel in Halle 1794 erschienenen ersten Auflage hg., bearb. u. mit Anhängen versehen v. Regina Meyer u. Günter Schenk, Halle 1998; Günter Jerouschek / Arno Sames (Hg.), Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806), Hanau u. a. 1994. Vgl. Martin Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: Johannes den Berg u. a. (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 440–561; Helmut Obst / Paul Raabe, Die Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale). Geschichte und Gegenwart, Halle 2000.
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weisend für Halles Entwicklung im 18. Jahrhundert.3 Sie birgt einigen Sprengstoff – man denke etwa an Christian Wolffs Vertreibung aus Halle wegen seiner angeblichen Ketzerei4 – erweist sich aber für die einzelnen Fachbereiche auch als überaus fruchtbar. Dies gilt im besonderen Maße für die Medizin. In diesem Sinne hat die neuere Aufklärungsforschung eine Gruppe philosophieinteressierter Mediziner in den Blick genommen, die um 1750 in Halle wirkten und deren Werke im Kontext einer anthropologischen Wende neu gelesen wurden.5 Untersucht wurden bislang die deutschsprachigen, popularphilosophischen Schriften, die mit geistreichem Witz, heiter-spielerischem Ton und einer beinahe essayistischen Komposition leichtfüßig Disziplingrenzen überspringen. Diese Texte – etwa Johann August Unzers ›Gedancken vom Schlafe und denen Träumen‹ oder Ernst Anton Nicolais ›Gedancken von Thränen und Weinen‹ – sind als Beiträge zu einer neuen Anthropologie gelesen worden, die den Menschen in seiner leibseelischen Doppelnatur in den Blick nimmt und jenseits tradierter Lehrkonzeptionen philosophisch-medizinisches Neuland betritt.6 Kaum beachtet wurden bislang die akademischen Qualifikationsschriften dieser angehenden Ärzte, insbesondere die lateinischsprachigen Dissertationen. Mehr noch aber als 3
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Hans Poser, Pietismus und Aufklärung – Glaubensgewißheit und Vernunfterkenntnis im Widerstreit, in: Aufklärung und Erneuerung (wie Anm. 1), S. 170–182; Udo Sträter, Aufklärung und Pietismus – das Beispiel Halle, in: Notker Hammerstein (Hg.), Universitäten und Aufklärung, Göttingen 1995, S. 49–61. Auf ein weiteres Dokument (einen Brief von Christian Wolff an August Hermann Francke vom 14. Juli 1721) zum Halleschen Streit hat kürzlich hingewiesen Stefan Laube, Der Philosoph und der Pietist. Ethisches China, in: F.A.Z. 26.5.2007, S. N 3. Für diesen Forschungstrend steht insbes. der Sammelband von Carsten Zelle (Hg.), »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001. Vgl. dazu auch den differierenden Verortungsversuch der Halleschen Medizinkonzepte von Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin / New York 2003; kritisch erörtert Nowitzkis Ansatz Yvonne Wübben, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit? Probleme und Perspektiven der Anthropologieforschung am Beispiel von Hans-Peter Nowitzkis »Der wohltemperierte Mensch«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 1 (2007), S. 2–29. – Zur Konzeption der Halleschen Psychomedizin vgl. auch Tanja van Hoorn, Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann Gottlob Krügers »Entwurf eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit« (1745), Hannover-Laatzen 2006. Vgl. insbes. Carsten Zelle, Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750, in: »Vernünftige Ärzte« (wie Anm. 5), S. 5–24; ders., ›Zwischen Weltweisheit und Arzneiwissenschaft‹. Zur Vordatierung der anthropologischen Wende in die Frühaufklärung nach Halle (eine Skizze), in: Reinhard Bach / Romand Desné / Gerda Hassler (Hg.), Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption / Expressions des Lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, Tübingen 1999, S. 35–44; ders., »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und Ästhetiker
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die launigen, immer auch etwas unverbindlichen deutschsprachigen Essays werfen die lateinischen Schriften die Frage auf, wie sich die junge Generation zur Tradition verhält, wie sie in einer Textsorte argumentiert, die den strengen Regeln des akademischen Lehrbetriebes gehorcht, von wem sie protegiert und geführt wird, wer wozu gratuliert und wer was moniert. Diese Fragen stellen sich umso mehr, als es geradezu zu einem Topos der Forschung geworden ist, die Zerstrittenheit und Zerwürfnisse in der Halleschen Medizintradition zu betonen.7 Wie also bildet sich der Streit in den Dissertationen, den Streitschriften, ab? Die folgende Darstellung ist in vier Teile gegliedert. Nach einer kurzen Vorüberlegung zur Textgattung Dissertation (I.) soll zunächst die Situation der Medizin in Halle in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts skizziert werden (II.). Daran anknüpfend soll dann exemplarisch eine medizinische Inauguraldissertation vorgestellt und aufgedeckt werden, wie sie sich im Feld der widerstreitenden Auffassungen verortet (III.). Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der intertextuellen Vernetzung und der Frage, wie sich die an die Dissertation anschließenden Paratexte inhaltlich zum Hauptteil verhalten. Danach soll abschließend gezeigt werden, wie in der Folge dieser Inauguraldissertation eine Fehde vom Zaun gebrochen wird, die in einem separat publizierten Glückwunschschreiben, also gewissermaßen einem Paratext zweiter Ordnung, ihren Anfang nimmt und drei Jahre später mit einer launigen Retourkutsche endet (IV.).
I. Das Verhältnis von Dissertation und Paratext Während der Terminus »Dissertation« heute eine eindeutig personenund anlassbezogene Textsorte bezeichnet, nämlich eine zum Erwerb des Doktortitels vom Kandidaten selbstständig angefertige, innovative wissenschaftliche Arbeit, ist eine Dissertation im 18. Jahrhundert weder zwangsläufig mit dem Akt der Promotion verbunden, noch ist die Frage
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in der anthropologischen Wende der Frühaufklärung, in: Walter Schmitz / Carsten Zelle (Hg.), Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Dresden 2004, S. 47–62. So in seinem für die literaturwissenschaftliche Forschung wegweisenden Aufsatz schon Wolfgang Mauser, Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung [zuerst 1988], in: ders., Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im Frühmodernen Deutschland, Würzburg 2000, S. 301–329.
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der Autorschaft und Originalität entscheidend.8 Vielmehr werden Dissertationen zu äußerst verschiedenen Anlässen bei weitem nicht immer vom Studenten selbst (sondern häufig vom »Doktorvater«) verfasst.9 Im akademischen Lehrbetrieb noch wichtiger als die schriftliche Dissertation ist die mündliche Disputation, das alte, institutionalisierte Streitgespräch, dem eine Schlüsselstellung zur Übung und Überprüfung des Erlernten sowie zum Erwerb eines Abschlusses zukommt. In der Disputation verteidigt unter der Leitung eines Vorsitzenden (praeses) der Kandidat (respondens) bestimmte Sätze (theses) gegen die Argumente eines oder mehrerer Kritiker (opponens / opponentes). Dem Dissertationstext kommt in diesem Verfahren häufig lediglich ein Einladungscharakter zum mündlichen Examen zu. Auch wenn der zeitgenössische Sprachgebrauch stark schwankt und die Begriffe »Dissertation« und »Disputation« teilweise sogar synonym verwandt werden,10 soll im Folgenden, um Missverständnisse zu vermeiden, der mündliche Prüfungsakt als Disputation, der schriftliche Text als Dissertation bezeichnet werden. Die schriftliche Arbeit, die Dissertation, enthält die Thesen, die der Respondent im mündlichen Examen zu verteidigen hatte – sie enthält naturgemäß nicht die Einwände, die der Opponent bei der Disputation gegen diese Thesen vorbrachte.11 Letztere scheinen unwiederbringlich verloren. Oder haben doch auch die Opponenten im Umkreis der publizierten Dissertationen schriftliche Spuren hinterlassen? In Anknüpfung an und in Ergänzung zu den wegweisenden Forschungsbeiträgen von Hanspeter Marti soll hier in diesem Sinne der Blick insbesondere auf die vermeintlich nicht im engeren Sinne zur Sache gehörenden, lediglich rhetorische und akademische Traditionen bedienen8
Zu den Wandlungen der Begrifflichkeit vgl. Hanspeter Marti, Art. ›Dissertation‹, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 880–884; ders., Art. ›Disputation‹, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 866–880; vgl. auch ders., Dissertation und Promotion an frühneuzeitlichen Universitäten des deutschen Sprachraums. Versuch eines skizzenhaften Überblicks, in: Rainer A. Müller (Hg.), Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne, Köln 2001, S. 1–20. 9 Vgl. dazu Gertrud Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft von Dissertationen im Zeitalter der Aufklärung, in: Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse Bd. 114, H. 5, Berlin 1970. – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael Philipp in diesem Band. 10 Vgl. die Erläuterung und Auflistung in Hanspeter Marti, Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti, New York u. a. 1982, S. 18f. 11 Die Rolle der Opponenten ist kürzlich treffend auf die Formel des »institutionalisierten Dissens« gebracht worden, vgl. Martin Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation, Stuttgart 2007, S. 194.
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den Nebentexte gelenkt werden, die eine Dissertation im 18. Jahrhundert üblicherweise (wenn auch in ganz unterschiedlichem Umfang) begleiten. Gemeint sind damit bestimmte, sich um den eigentlichen Haupttext rankende, adressatenorientierte, kommunikative Kurztexte. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen, nämlich einerseits in die meist vom Verfasser der Dissertation (sei es dem Praeses, sei es dem Respondenten, sei es einem Autorenkollektiv) stammenden, dem Hauptteil vorangestellten Widmungen, Lobreden, Dankesworte einerseits und die angehängten, meist in Briefform gehaltenen Ermahnungen und Gratulationsschreiben sowie Glückwunschgedichte von Lehrern, Kommilitonen, Freunden und Verwandten andererseits. All diese Texte, die nicht unmittelbar in den mit dem Dissertationstitel angekündigten Hauptteil integriert sind, sollen hier als Paratexte bezeichnet werden. Die Erforschung dieser Texte hinsichtlich ihrer kommunikativen, institutionellen, sozialgeschichtlichen und diskursiven Funktion ist ein Desiderat. Bislang wurden sie lediglich als Quellen für biografische Hintergrundinformationen über die an der Disputation Beteiligten angesehen12 und von der eigentlichen Dissertation scharf abgegrenzt.13 So sehr es jedoch einerseits einleuchtet, dass die »Dissertation […] in sich abgeschlossen [ist] und […] keiner weiteren Äußerung« bedarf, so sehr muss zugleich doch auch berücksichtigt werden, dass im Akt der gemeinsamen Publikation von Hauptteil und beigefügten Nebentexten die Grenze zwischen dem monologischen Fachdiskurs und einem dialogischen Streitgespräch aufgebrochen wird.14 Zwar bedarf die Dissertation »keiner weiteren Äußerung«, dennoch kann es sehr wohl Äußerungen zu ihrem Gehalt geben, ja, es scheint, wie auch Schubart-Fikentscher einräumt, »solch ein Bedürfnis vorhanden gewesen zu sein«.15 Faktisch treten in der gemeinsamen Publikation von Dissertation und auf sie bezogenen Gelegenheitsschriften der wissenschaftlich-objektivistische Hauptteil und die stärker auf die individuelle, subjektive Situation der Beteiligten bezogenen Paratexte in einen Kommunikationszusammenhang, der demjenigen der mündlichen Disputation durchaus ähnelt, je12 Marti, Philosophische Dissertationen (wie Anm. 10), S. 30. 13 So Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft (wie Anm. 9), S. 80f., die die Glückwunschschreiben im Gegensatz zu den einigen Dissertationen angehängten Corollaria, welche weiterführende Thesen enthalten, ausdrücklich als »außerhalb« des Dissertationstextes stehend bestimmt. 14 Die Üblichkeit der gemeinsamen Publikation der Dissertation mit den auf sie bezogenen Gratulationsbriefen und Glückwunschgedichten unterstreicht auch Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft (wie Anm. 9), S. 87 u. 88. 15 Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft (wie Anm. 9), S. 81.
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nem zumeist wohl auch tatsächlich vorausgeht und zumindestens teilweise die Grundlage des Streitgespräches darstellt.16 Umgekehrt lautet daher die Vermutung und These: Über eine Analyse der Gratulationsschreiben ist – längst nicht in allen, aber doch in einigen Fällen – eine vorsichtige Annäherung an die im historischen Off verschwundene mündliche Disputation möglich. Anders gesagt: Wenn Gratulationsschreiben zur Dissertation kritische Einwände enthalten, so könnten diese die Gegenargumente der Opponenten in der Disputation gewesen sein. Ohne Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit will der vorliegende Beitrag in diesem Sinne an einem Exempel aufzeigen, dass Paratexte nicht nur biografische Informationen über das persönliche Umfeld der an der disputatio beteiligten Personen, sondern darüber hinaus auch eine inhaltliche Fortsetzung der im Haupttext eröffneten Debatte enthalten können. Die Argumentation zielt darauf zu zeigen, wie die Textsorte Dissertation einen kommunikativen Raum eröffnet, in dessen »Nebengemächern«, den Paratexten, in höflicher Form und voller Freundschaftsbekundung ein Streit in der Sache möglich, im aufklärerischen Halle vielleicht sogar üblich ist.17 Die in der Dissertation angelegte Saat der Zwietracht scheint freilich erst außerhalb des reglementierten Schutzraumes, in den separat publizierten deutschsprachigen »Para-Paratexten«, aufzugehen.
II. Die beiden Lager der Debatte Im frühaufklärerischen Halle ist die Medizin institutionell zum einen an der Universität angesiedelt, wo mit Friedrich Hoffmann und Georg Ernst Stahl zwei äußerst prominente Professoren lehren. Mit den Namen Hoffmann und Stahl sind zwei konkurrierende Medizinschulen assoziiert, die sich in ihrem Körperkonzept grundlegend unterscheiden und die die Wissenschaftsgeschichte auf den Gegensatz von Mechanismus und Animismus 16 In den in den Glückwunschschreiben geäußerten Monita sieht auch Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft (wie Anm. 9), S. 84 mögliche Argumente des Streitgespräches. 17 Auf die äußerst unterschiedlichen Traditionen an den verschiedenen Universitäten hat Marti immer wieder hingewiesen. Zu den Erneuerungsbemühungen von Christian Thomasius in Halle vgl. Hanspeter Marti, Kommunikationsnormen der Disputation. Die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation, Wiesbaden 2005, S. 317–344. – Vgl. auch die Auswertung von einhundert Leipziger Dissertationen bei Hanspeter Marti, Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Hanspeter Marti / Detlef Döring (Hg.), Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780, Basel 2004, S. 55–109.
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gebracht hat. Hoffmann selbst nennt sein Verfahren die mechanische Methode und grenzt es von der stahlschen Lehre ab, die er die organische Methode nennt.18 Die Termini Mechanismus und Organismus weisen auf den Kern der Debatte: Der Mechanist Hoffmann stützt sich auf das cartesianische iatrophysikalische Modell und betrachtet den menschlichen Körper als eine auf materia et motus zurückzuführende bewegliche Maschine.19 Der »Animist« Stahl hingegen entwickelt umgekehrt in radikaler Entgegensetzung zu Descartes das Konzept eines nur durch die Seele, anima, belebten, organischen Körpers und betont somit gerade den qualitativ-wesentlichen Unterschied zwischen einem lebendigen, durch die Seele zusammengehaltenen Organismus und einem toten, bereits entseelten oder immer schon seelenlosen Mechanismus.20 Medizin wird in Halle jedoch nicht nur an der Universität sondern auch an den Franckeschen Stiftungen gelehrt. Im Krankenhaus der Stiftungen wird den Studierenden nämlich – und das ist in der damaligen 18 Friedrich Hoffmann, Commentarius de differentia inter ejus doctrinam medico-mechanicam, et Georgii Ernsti Stahlii Medico organicam, hg. v. Ernst Eugen Cohausen, Frankfurt a. M. 1746. 19 Sein mechanistischer Ansatz hindert Hoffmann freilich nicht daran, auch seelische Prozesse für das Entstehen von Krankheiten in den Blick zu nehmen, vgl. z. B. Friedrich Hoffmann, Ausführlicher Beweiß, daß die unordentliche Gemüths-Verfassung die vornehmste Ursach vieler schwerer Krankheiten, ja des frühzeitigen Todes sey, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen 16 (1742), Sp. 250–258; vgl. auch Gernot Huppmann, Marginalien zur Medizinischen Psychologie des Stahlantipoden Friedrich Hoffmann (1660–1742), in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 3 (1997), S. 95–103. 20 Georg Ernst Stahl, Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus, in: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper (Halle 1695). Über die Bedeutung des synergetischen Prinzips für die Heilkunde (Halle 1695). Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus (1714). Überlegungen zum ärztlichen Hausbesuch (Halle 1703), eingeleitet, ins Deutsche übertragen und erläutert v. Bernward Josef Gottlieb, Leipzig 1961, S. 48–53. – Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät vgl. die zahlreichen Publikationen von Wolfram Kaiser / Karl-Heinz Krosch, Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der Universität Halle im 18. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg XIII–XIV (1964–1967); vgl. auch Karl E. Rothschuh, Studien zu Friedrich Hoffmann (1660–1742). Erster Teil: Hoffmann und die Medizingeschichte. Das Hoffmannsche System und das Ätherprinzip, in: Sudhoffs Archiv 60 (1976), H. 4, S. 163–193; Karl E. Rothschuh, Studien zu Friedrich Hoffmann (1660–1742). Zweiter Teil: Hoffmann, Descartes und Leibniz, in: Sudhoffs Archiv 60 (1976), H. 5, S. 235–270. – Zusammenfassend vgl. auch Ingo W. Müller, Mechanismus und Seele – Grundzüge der frühen hallensischen Medizinschulen, in: Aufklärung und Erneuerung (wie Anm. 1), S. 245–261. Neuere Forschungspositionen präsentieren Dietrich von Engelhardt / Alfred Gierer (Hg.), Georg Ernst Stahl (1659–1734) in wissenschaftshistorischer Sicht. Leopoldina-Meeting am 29. und 30. Oktober 1998 in Halle, Halle 2000; vgl. auch Jürgen Helm, Hallesche Medizin zwischen Pietismus und Frühaufklärung, in: Universitäten und Aufklärung (wie Anm. 3), S. 63–96.
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Zeit noch bei Weitem nicht selbstverständlich und erweist sich mehr und mehr als der entscheidende Standortvorteil der Universitätsstadt Halle – praktischer Unterricht am Krankenbett gegeben.21 Durch diese, den theoretischen universitären Unterrichtsteil ergänzende praktische Lehre sind nicht nur beide Institutionen eng miteinander verzahnt, auch die scheinbar unüberwindlichen theoretischen Gräben werden personell eingeebnet: Zu Francke unterhalten Hoffmann und Stahl enge Beziehungen und beide schicken ihre Schüler ins sogenannte Collegium Clinicum.22 Konzeptionell freilich scheint die stahlsche, animistische Medizin den Grundsätzen des Pietismus näher: Die pietistische Gesundheitslehre kennt das Modell einer Seelenkur, einer Heilung des Körpers durch eine Heilung der Seele. Verstanden wird darunter eine Therapie des kranken Leibs durch eine Rückführung der Seele auf den rechten, christlichen Weg. Mit dieser Betonung der Seele ist die pietistische Heilmethode für den Stahlianismus leichter anschlussfähig als für den die Seele zunächst einmal außer Betracht lassenden Mechanismus Hoffmanns.23 So verwundert es auch nicht, dass traditionell eher stahlianisch ausgerichtete Ärzte am Waisenhaus-Krankenhaus den praktischen Unterricht gestalten. Andererseits ist auch klar, dass Fächer wie die Pathologie, deren Bedeutung für die Medizin Stahl ganz grundsätzlich negiert, da sie ihre Kenntnisse an dem zum bloßen Mechanismus degradierten toten Körper gewinnt, von mechanistisch ausgerichteten 21 Vgl. dazu Wolfram Kaiser / Werner Piechocki, Klinische und poliklinische Studentenausbildung in der Gründungsepoche der Universität Halle, in: Zeitschrift für innere Medizin 22 (1967), S. 226–237; 250 Jahre Collegium Clinicum Hallense 1717–1967. Beiträge zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der Universität Halle. Wiss. Beiträge der MLU Halle-Wittenberg 1967/3 (R2), Halle 1967. 22 Die Bezüge Hoffmanns zum Pietismus hat aufgearbeitet Roger K. French, Sickness and the soul. Stahl, Hoffmann and Sauvages on pathology, in: Andrew Cunningham / Roger K. French (Hg.), The medical enlightenment of the eighteenth century, Cambridge 1990, S. 88–110; ders., Ethics in Eighteenth Century: Hoffmann in Halle, in: Andrew Wear (Hg.), Doctors and Ethics: The earlier Historical Setting of Professional Ethics, Amsterdam u. Atlanta 1993, S. 153–180. Die Nähe der Konzeption Stahls zum Pietismus betont Johanna Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls, Tübingen 2000; eine neue Lesart bietet Jürgen Helm, Das Medizinkonzept Georg Ernst Stahls und seine Rezeption im Halleschen Pietismus und in der Zeit der Romantik, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 167–190. 23 Zur Seelenkur vgl. Jürgen Helm, »Daß auch zugleich die Gottseligkeit dadurch gebauet wird« – Pietismus und Medizin in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 26 (2003), S. 199–211. – Ob Stahls Konzeption tatsächlich sogar »radikalpietistisch« ist, kann hier nicht weiter diskutiert werden, vgl. Johanna GeyerKordesch, Georg Ernst Stahl’s radical Pietist medicine and its influence on the German Enlightenment, in: Cunningham / French (Hg.), The medical enlightenment (wie Anm. 22), S. 67–87.
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Ärzten unterrichtet wurde.24 Für den Universitätsalltag der Studierenden bedeutet das: Es gibt nicht nur zwei Ausbildungsstätten, zwischen denen hin- und hergewechselt werden muss, sondern auch zwei Medizinlehren, die man, meist vermutlich ohne es zu wollen, je nach Unterrichtsfach mitvermittelt bekommt. Im institutionellen wie im medizintheoretischen Spannungsfeld ist dabei die Frage nach der Seele der zentrale Streitpunkt. Strittig ist, ob und wenn ja für welche Prozesse im gesunden oder kranken Körper die Annahme eines »Seele« genannten metaphysischen vitalen Prinzips notwendig ist.
III. Die Paratexte der Dissertation von Heinrich Friedrich Delius Betrachten wir nun exemplarisch eine in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Halle entstandene medizinische Dissertation. Der 1720 in Wernigerode geborene Heinrich Friedrich Delius25 wird am 31. Oktober 1743 aufgrund seiner erfolgreichen Verteidigung seiner Thesen zum Zusammenhang von Thorax- und Bauchraum, ›De consensu pectoris cum infimo ventre‹, promoviert.26 Die mündliche Prüfung findet laut Universitätsakten sine praeside, also ohne den Beistand eines Vorsitzenden statt – eine in Halle damals eher seltene, wohl nur bei ausgezeichneten Leistungen gewährte Vergünstigung für Studenten, die eine akademische Laufbahn anstrebten.27 Aus ei24 Stahl sieht geradezu einen Gegensatz zwischen Pathologie und Heilkunde: Auf die nemliche Weise wird man nie im Stande seyn, aus der blossen Beschreibung des todten menschlichen Körpers einzusehen, wie derselbe, so lange er belebt ist, verletzt werden kann, noch weniger aber, wie er gewöhnlich verletzt wird, wie diesen Verletzungen vorzubeugen, und wie sie zu heilen sind. (Georg Ernst Stahl, Theorie der Heilkunde. Erstes und zweytes Buch, dargestellt von Wendelin Ruf, Halle 1802, S. 6f.). 25 Wolfram Kaiser, Heinrich Friedrich Delius (1720–1791), in: Harz-Zeitschrift 31 (1979), S. 65–82. Delius praktizierte nach dem Abschluss seines Medizinstudiums zunächst in seiner Heimatstadt, dann in Bayreuth und wurde 1749 an die Universität Erlangen berufen. Von Delius stammt eine der frühesten kritischen Entgegnungen auf Albrecht von Hallers Irritabilitätslehre; Heinrich Friedrich Delius, Animadversiones in doctrinam de irritabilitate tono sensatione et motu corporis humani, Erlangen 1752. 26 Heinrich Friedrich Delius (Resp.), Dissertatio inauguralis medica de consensu pectoris cum infimo ventre, Halle 1743. 27 Universitätsarchiv Halle, Rep. 29, F VII Nr. 1, Bd. 1, vgl. auch Wolfram Kaiser / KarlHeinz Krosch, Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der Universität Halle im 18. Jahrhundert (XVI): Die Disputationen und Doktoranden der Jahre 1700–1749, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der MLU Halle Wittenberg XV (1966) M, H. 6, S. 1011– 1124, hier S. 1054. – Die zu diesem Zeitpunkt gültigen Statuten der Universität Halle sind abgedruckt in Johann Christian Dreyhaupt, Pagus Nelecti et Nudzici Oder ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat- und Erz-Stifft, nunmehr
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nem der angehängten Gratulationsschreiben geht unmissverständlich hervor, dass die Dissertation als Einladungsschreiben konzipiert war, dem die mündliche Disputation folgte.28 Offenbar ist Delius, auch wenn er seine Promotionsschrift sine praeside verteidigt, nicht der alleinige Verfasser von ›De consensu pectoris cum infimo ventre‹:29 Vielmehr erhebt sein Doktorvater, der Stahlianer Johann Juncker, indem er Delius’ Dissertation in seine eigene Publikationsliste aufnimmt, zumindest einen geistigen Mitanspruch auf die Schrift.30 Das überrascht etwas, denn Delius diskutiert in seiner Abhandlung (so viel sei zum fachlichen Gehalt der Dissertation gesagt) eine Thematik, die das stahlsche Primat der Seele – und damit auch einen Grundsatz der junckerschen Überzeugung – zumindest indirekt in Frage stellt: Der Doktorand bringt zum Ausdruck, dass so mancher Bauchschmerz eigentlich von einer Entzündung in der Brust herrührt, und so mancher Husten in Wahrheit eine Bauchkrankheit ist. Kurz: Delius will, wie er ja auch bereits im Titel verrät, zeigen, dass es zwischen dem Thorax und den Bauchorganen einen consensus, einen Zusammenhang, gibt. Ein übergeordnetes Prinzip wie etwa das der stahlschen Seele bezieht er nicht mit in seine Überlegungen ein. Im Gegenteil erklärt Delius Erkrankungen vielmehr allgemein durch ein Wechselverhältnis zwischen Brust- und Bauchraum, und führt sie im Einzelnen konkret auf Durchblutungsstörungen und nervöse Irritationen, nicht jedoch – und darauf kommt es vor dem Hintergrund der Halleschen Streitigkeiten an – auf eine fehlgeleitete anima zurück. Mehr noch: Der Terminus »anima« kommt in seiner ganzen Abhandlung nicht ein einziges Mal vor. Die heikle Frage der Seele klammert Delius damit also nicht nur aus; indem er ohne den Terminus argumentiert, bestreitet er implizit sogar dessen Relevanz für die von ihm untersuchten Körpervorgänge. aber durch den westphälischen Friedens-Schluß secularisirten Herzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Kreyses […], 2. Tl. Halle 1750, S. 77–115, vgl. hier insbes. die Statuten der medizinischen Fakultät, S. 107–111. 28 Johann Gottlob Krüger, [Glückwunschschreiben an Heinrich Friedrich Delius], in: Delius, Dissertatio (wie Anm. 25), [S. XXXVI]: Publicum dissertationis defendendae certamen non magis precor, quam auguror, quinimo plane praevideo felix & fortunatum. 29 Zur schwierigen Frage der Verfasserschaft vgl. die Arbeit von Schubart-Fikentscher, Untersuchungen zur Autorschaft (wie Anm. 9). – Auch für sine praeside abgehaltene Disputationen hält Schubart-Fikentscher fest: »Allerdings läßt sich auf keinen Fall aus solchen Disputationen die allgemeine Regel aufstellen: bei Disputationen ohne Präses ist der Kandidat der Autor«. (ebd., S. 50f.). 30 In Junckers Literaturverzeichnis taucht die deliussche Dissertation an 55. Stelle auf, vgl. Kaiser / Krosch, Die Disputationen und Doktoranden (wie Anm. 27), S. 1054. – Zu Juncker vgl. Wolfram Kaiser / Karl-Heinz Kosch, Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der Universität Halle im 18. Jahrhundert (X): Drei Generationen Juncker, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der MLU Halle Wittenberg XIV (1965) M, H. 5, S. 396–423.
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Betrachtet man vor diesem Hintergrund Delius’ Rekurs auf medizinische Autoritäten, so fällt zweierlei auf: Erstens zitiert Delius im ersten, deduktiven Teil, in dem er seine consensus-Konzeption theoretisch entwickelt, nur eine einzige Quelle direkt, und das ist auffälligerweise kein medizinischer Text, sondern Eulers Theorie der Musik.31 Theoretisch vermeidet es Delius also, sich explizit in eine der Medizinschulen einzureihen. Im zweiten, praktischen Teil zitiert Delius dann exzessiv: Hier präsentiert er in Hülle und Fülle Exempel für den consensus, nennt etwa Krankheiten, die aus der Verbindung der Niere mit der Lunge, der weiblichen Brust und der Gebärmutter oder – beim Mann – dem Husten und den Hoden zu erklären seien. Für all dies führt Delius Fallbeispiele aus den Schriften medizinischer Autoritäten an. Dabei fällt nun des Weiteren auf, dass neben den Großen der antiken Tradition wie Galen32 und Hippokrates33, scheinbar wahllos und jenseits aller Lagermentalitäten sowohl »Animisten« als auch Mechanisten, sowohl Stahl34 als auch Hoffmann35 angeführt werden. Freilich unterschlägt Delius die sich hinter den Beispielen verbergenden differierenden Erklärungsansätze zur Ursache und lässt den strittigen theoretisch-grundsätzlichen Punkt somit auch hier außer Betracht. Neben dem Hauptteil, der eigentlichen Dissertation, sind der Druckfassung von Delius’ Doktorschrift folgende Textelemente angehängt: ein Motto, eine Widmung, eine an den Leser gerichtete Vorrede und drei Gratulationsschreiben. Diese Paratexte fügen den Tendenzen des Hauptteils nun neue Stimmen hinzu, machen aus dem Monolog einen Dia-, oder besser gesagt einen Polylog. In welcher intellektuellen Gesellschaft, in welchem diskursiven Geflecht befinden sich Delius’ Überlegungen zum consensus? Seiner Dissertation voran stellt Delius ein Motto des von René Descartes beeinflussten Arztes Giorgio Baglivius.36 Das zwischen Titelblatt und Widmung prominent positionierte Zitat entstammt dessen 1700 publi31 Delius, Dissertatio (wie Anm. 26), S. XI; Leonhard Euler, Tentamen novae theoriae musicae, St. Petersburg 1739. 32 Vgl. z. B. Delius, Dissertatio (wie Anm. 26), S. XIV. 33 Vgl. z. B. Delius, Dissertatio (wie Anm. 26), S. XV. 34 Vgl. z. B. Delius, Dissertatio (wie Anm. 26), S. XXIV. 35 Vgl. z. B. Delius, Dissertatio (wie Anm. 26), S. XVIII. 36 Baglivius de fibra motrice et morbosa. Cap. I. p. m. 367. Equidem non intelligo hic loci leves & parvi momenti successiones enumerare, sed illas quae frequentissime occurrunt, & succedendi normam & progressum constantem servant. Prout sunt mutationes phthiseos in tormina ventris & e contra; & sic aliae innumerae. Et quoniam saepe accidit quod rude vulgus medicos criminetur & incuset, tanquam auctores supervenientis mali; non abs re ducerem, ut iidem non modo conversiones praesagire, verum etiam curationem praevidere noscat. (Delius, Dissertatio [wie Anm. 26], unpag. Vorsatz).
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zierter epochaler Schrift ›De fibra motrice et morbosa‹ (Über den Bewegungsnerv und seine Krankheit). Die in der Form eines Briefes präsentierte Bewegungslehre von Baglivius weist auf ein neues, nervöses Körpermodell voraus und ist in der Entwicklung der Medizingeschichte der wohl bedeutendste Vorläufer der Irritabiliätslehre Albrecht von Hallers.37 Delius zitiert nun aber nicht Baglivius’ revolutionäre These von der seelenunabhängigen Kontraktibilität der Muskelfasern, die mit einem konsequenten Stahlianismus unvereinbar ist und einen offenen Affront bedeutet hätte. Er zitiert vielmehr eine Textstelle, in der Baglivius allgemein die Unzahl von Wechselwirkungen im Körper konstatiert und die Ärzte im selben Atemzug dazu ermahnt, sich in der Vorhersage dieses Auftretens von Krankheitssymptomen in anderen, mit der ursächlich befallenen Stelle des Körpers scheinbar unverbundenen Regionen zu üben. Strategisch geschickt wählt Delius damit eine eher neutrale, sachlich sich gut zum consensus-Thema fügende Textstelle aus einem Werk, das für die Hallesche Streitfrage um die Seele einigen Sprengstoff birgt. Auch hier umgeht Delius somit wieder eine direkte Thematisierung oder gar Stellungnahme. Blicken wir nun auf die anderen Nebenbausteine des Textes. Hier gibt es zum einen ein Widmungsschreiben des Promovenden an seinen geneigten Gönner, den Grafen Christian Ernst von Stolberg, das der klassischen rhetorischen Tradition der laudatio verpflichtet ist. Daran schließt sich eine Vorrede an den Leser an, in der die Fragestellung und der Untersuchungsansatz der Dissertation verteidigt werden.38 Zum anderen aber – und diese Textpartien sind in unserem Kontext von größerem Interesse – sind der Dissertation drei Glückwunschadressen angehängt. Diese väterlich-freundschaftlichen Grußworte sind definitionsgemäß und gattungslogisch voller rhetorischer Floskeln, nutzen darüber hinaus aber auch den Spielraum für eine inhaltliche Stellungnahme. Sie können im Gegensatz zum harten akademischen Streitgespräch bei der mündlichen Doktorprüfung durchaus in scherzhaft-spielerischem Ton verfasst sein, ohne deshalb unernsthaft zu sein. Es kann im Gegenteil vermutet werden, dass die kritischen Einwände, die in den Grußworten versteckt 37 Zur Bedeutung dieser Schrift vgl. Karl E. Rothschuh, Physiologie. Der Wandel ihrer Konzepte, Probleme und Methoden vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Freiburg / München 1968, S. 137–140; ders., Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1978, S. 369–371. 38 Über den Nutzen einer vom consensus ausgehenden medizinischen Lehre heißt es in der Vorrede: Explicantur per consensum multae corporis humani adfectiones, multi morbi. [...] Sic hujus consensus gnarus habebit, quo in aegrotantium variis & intricatis saepe symptomaticus se vertat; quid his vel illis motibus succedentibus faciat, quae denique prognostica formare valeat. (Delius, Dissertatio [wie Anm. 26], [S. III]).
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sind, in der mündlichen Prüfung noch einmal zur Diskussion gestellt wurden. Als Erster gratuliert am 28. Oktober 1743, also bereits drei Tage vor dem Disputationstermin, der »Doktorvater« Johann Juncker dem Kandidaten. Juncker nimmt den Inhalt der Dissertation, das Wechselverhältnis von Thorax und Bauch, zum Ausgangspunkt für eine geistreiche und anspielungsreiche Abschweifung zum Verhältnis von Physik und Metaphysik. Er zielt damit genau auf die systematische Leerstelle in Delius’ Dissertation, auf die Seele. Allerdings spricht Juncker zwar von der Seele, tut dies jedoch nicht so sehr als Mediziner, sondern eher als Christ, schreibt kein Plädoyer für den Stahlianismus, sondern mahnt eher zu demütiger Gottesfurcht. Delius handle, so Juncker, recht überzeugend vom physicus nexus.39 Dies habe ihn an die Bibel erinnert, wo es in den Psalmen heiße, dass Gott auf Herz und Nieren prüfe.40 Auch hier sei mithin ein nexus suggeriert. Allerdings werde diesen nexus kein anatomisches Messer sichtbar machen können. Die Bibel lokalisiere die metaphysischen Verunreinigungen des Menschen zwar konkret in zwei Organen des Brust- und Bauchraumes, in denen sich jedoch tatsächlich, wenn man den Leib eines dahingeschiedenen Sünders aufschneide, nur höchst selten physische Unreinheiten finden ließen. Auch die seltsamen polypenartigen Gewächse des Herzens, die man von Zeit zu Zeit in Leichen entdeckt habe, entstünden bewiesenermaßen erst unmittelbar vor dem Tod, in der letzten Phase des Sterbens, seien also keine »Sündengewächse«. Mit anderen Worten: Die wirklichen Unreinheiten könne man gar nicht sehen. Und umgekehrt sei es daher auch Hochmut zu behaupten, dass es einen speziellen direkten physischen Nexus zwischen Herz und Niere tatsächlich gebe und dass die Kenntnis desselben irgendeinen besonderen Nutzen habe.41 Die Botschaft Junckers an den angehenden Arzt ist also erstens und ausdrücklich eine Mahnung zu Bescheidenheit angesichts der Grenzen der menschlichen Erkenntnisfä-
39 Qui, candidate clarissime, physicus nexus pectoriscum abdomine intercedit, ille dissertatione Tua inauguralis docte demonstratur, atque ex eo multorum origo derivata est. (Johann Juncker, [Glückwunschschreiben an Heinrich Friedrich Delius], in: Delius, Dissertatio [wie Anm. 26], [S. XXXIII]). 40 Qua occasione in mentem mihi venerunt Davidis verba Psalm VII, 10 quibus, Deum cor & renes perscrutari emphatice testatur. (Juncker, [Glückwunschschreiben] [wie Anm. 39], [S. XXXIII]). 41 Sic vides, candidate doctissime, peculiarem nexum cordis & renum, & egregium usum ex eo hauriendum, licet non pathologico-medicum, tamen longe nobiliorem. (Juncker, [Glückwunschschreiben] [wie Anm. 39], [S. XXXIV]).
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higkeit.42 Zweitens appelliert er an den Medikus, nicht zu vergessen, dass er nicht nur aus einem Körper besteht, den er als Pathologe und Anatom untersuchen kann, sondern auch über eine Seele verfügt, auf die es eigentlich ankommt, die aber nicht nach den einfach durchschaubaren Regeln der Körperwelt funktioniert. Drittens weist Juncker damit indirekt darauf hin, dass Delius den wesentlichen consensus, nämlich denjenigen zwischen Körper und Seele, in seiner Dissertation außer Acht gelassen hat. Von dem wie Juncker der stahlschen Medizin verpflichteten Waisenhausarzt Johann Samuel Carl stammt das zweite, ebenfalls auf den 28. Oktober 1743 datierte Gratulationsschreiben.43 Dieses handelt vom Übergang einer Krankheit von einem Organ in ein anderes.44 Im Gegensatz zu der scheinbar eher theologisch-moralischen Belehrung Junckers liefert Carl ganz offensichtlich eine den medizinischen Fachdiskurs fortführende Antwort, indem er auf den Kerngedanken des Stahlianismus rekurriert, die qualitative Differenz zwischen Mechanismus und Organismus. Nach einigen zustimmenden Bemerkungen zur Interaktion zwischen Brust und Bauch endet auch Carl mit einer Ermahnung: Delius solle mehr auf die natura der Bewegungen als auf ihre Wege, Strukturen und Formen, mehr auf die dynamisch-vitale Lebendigkeit der Bewegung an sich als auf die Materialität ihrer konkreten Realisation blicken.45 Die natura nämlich wirke in allem. Dieser Ratschlag aber ist nichts anderes als die Ermahnung des Stahlianers Carl an seinen ehemaligen Schüler Delius, nicht so sehr auf den Mechanismus des Körpers als dem Ort der Bewegung, sondern vielmehr auf den Organismus, das heißt auf das ihn belebende Element zu schauen. Dieses Element nennt Carl hier natura und folgt damit Stahl, der anima und natura ebenfalls äquivalent verwendet.46 Johann Gottlob Krüger, der bei Hoffmann ausgebildete junge Arzt und Vordenker der »vernünftigen Ärzte« mit ausgeprägtem Interesse an der leibseelischen Doppelnatur des Menschen, verfasst das dritte und kürzeste, 42 Die Mahnung zur Bescheidenheit formuliert Juncker unter Bezug auf Luther, vgl. Juncker, [Glückwunschschreiben] (wie Anm. 39), [S. XXXIV]. 43 Zu Johann Samuel Carl vgl. Christa Habrich: Zur Ethik des pietistischen Arztes im 18. Jahrhundert, in: Wolfram Kaiser / Arina Völker (Hg.), Ethik in der Geschichte von Medizin und Naturwissenschaften, Halle 1985, S. 69–83. 44 Johann Samuel Carl, ›De Transitu morbi ab uno viscere in aliud‹, in: Delius, Dissertatio (wie Anm. 26), [S. XXXIVf.]. 45 Quamobrem consilia monitaque gratulationum ac laudum cumulis adportare aequum iustumque duco, ut jam praxin medicam adgressurus attentius ad motuum naturam, quam viarum structuraeque recessus ac formas, mentis acumen dirigere velis, cum natura in omnibus operetur, eius ductus sequi, eius vias expedire, ejus remoras submovere studeas. (Carl, De Transitu morbi [wie Anm. 44], [S. XXXV]). 46 Vgl. Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung (wie Anm. 22), S. 187.
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undatierte Gratulationsschreiben. In klassischem Latein formuliert er einen wohlgesetzten Glückwunsch – ohne sich freilich inhaltlich zu äußern. Das verwundert, denn Delius rekurriert in seinem ersten theoretischen Teil eindeutig auf das von Krüger aufgestellte Proporzgesetz47 und natürlich hätte auch Krüger der Disputation Stichworte liefern können. Allein er unterlässt es. So bleibt es im deliusschen Dissertationskonvolut bei einer von Baglivius inspirierten Betrachtung der physischen Zusammenhänge des Oberleibs mit dem Unterleib seitens des Promovenden und ihrer kritischen Kontrastierung seitens der Lehrer durch einen zweifachen Hinweis auf die Seele. Es erweist sich, dass die Frage der Seele offensichtlich die »Gretchenfrage« ist, die die Zeitgenossen an Delius’ Dissertation richteten, denn auch außerhalb der Inauguraldissertation, in einem unabhängig erschienenen »Para-Paratext«, wird sie thematisiert.
IV. Kratzensteins und Delius’ launiger Briefdisput Genau auf den Disputationstermin, also auf den 31. Oktober 1743, ist ein deutschsprachiger Text datiert, der unmittelbar an Delius adressiert ist und diesem zur soeben erworbenen Doktorwürde gratuliert. Der Verfasser, Christian Gottlieb Kratzenstein, stammt wie der Doktorand aus Wernigerode, beide sind zusammen zur Schule gegangen und haben gemeinsam in Halle Medizin studiert.48 Kratzensteins Schrift ›Beweiß, daß die Seele ihren Cörper baue: In einem Glückwunschschreiben an Herrn Heinrich Friedrich Delius; als derselbe die Doctorwürde in der Arzneygelahrtheit auf der Universität zu Halle annahm‹ enthält vermutlich einige Argumente der Opponenten. Möglicherweise ist Kratzenstein sogar selbst einer der kritischen Widersacher in Delius’ Disputation gewesen.49 47 Sensationem sequitur in corpore humano motus sensationi conveniens. (Delius, Dissertatio [wie Anm. 26], [S. VI]). – Zu Krügers Gesetz vgl. Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch (wie Anm. 5), S. 57–74. 48 Zu Kratzenstein vgl. Egill Snorrason, C. G. Kratzenstein, professor physices experimentalis Petropol. et Havn. and his studies on electricity during the eighteenth century, Odense 1974; Susan Splinter, Zwischen Nützlichkeit und Nachahmung: eine Biographie des Gelehrten Christian Gottlieb Kratzenstein (1723–1795), Halle 2006. 49 Christian Gottlieb Kratzenstein, Beweiß, daß die Seele ihren Cörper baue: In einem Glückwunschschreiben an Herrn Heinrich Friedrich Delius; als derselbe die Doctorwürde in der Arzneygelahrtheit auf der Universität Halle annahm, Halle 1743. – Zu dieser Schrift vgl. Tanja van Hoorn, Hydra. Die Süßwasserpolypen und ihre Sprößlinge in der Anthropologie der Aufklärung, in: Manfred Beetz / Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.), Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 29–48.
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Der Medizinstudent greift wie Juncker und Carl den bei Delius nicht berücksichtigten Begriff der Seele heraus. Schon im Titel markiert er den Anspruch, einen sehr grundsätzlichen Beitrag zu dieser Halleschen »Gretchenfrage« vorzulegen. Dabei rekurriert er auf eine Zentralthese der Stahlianer, dass nämlich der lebendige Körper erst durch ein Prinzip namens Seele als ein Ganzes organisiert werde. Die Seele müsse man, so Kratzensteins Ausgangspunkt im Anschluss an Stahl, als »Baumeister« begreifen: Sie baue sich ihren Körper, sie sei das hinter der Erscheinung stehende Bewegungs- und Organisationsprinzip, das aus dem lebendigen Körper mehr als einen toten, starren Mechanismus mache.50 Ohne auf Delius’ Überlegungen zum consensus auch nur mit einem einzigen Wort einzugehen, eröffnet Kratzenstein sein Schreiben ganz unvermittelt mit der Frage: Warum suchet man doch die Stahlianischen Artzneygelehrten durch den Vorwurf der Seelencur lächerlich zu machen? 51 Diese Eingangsfrage muss aus heutiger Sicht als Rückfrage zu einer Dissertation, in der das Wort »Seele« (geschweige denn der Begriff »Seelenkur«) gar nicht vorkommt, sondern nur körperliche Durchblutungs- und Reizzustände beschrieben werden, überraschen. Sie ist nur verständlich vor dem Hintergrund der oben skizzierten Halleschen Debatte: Delius’ Dissertation wurde, indem sie geradezu ostentativ nicht auf die Seele reflektierte, ganz offensichtlich als Provokation wahrgenommen und forderte eine kritische Diskussion dieses Punktes heraus. Man kann in Halle 1743 nicht über Prozesse im lebendigen Körper reden, ohne sich dazu zu äußern, wie ein lebendiger Körper überhaupt funktioniert, das heißt: ohne sich in einem der widerstreitenden Lagern des Mechanismus und Animismus zu positionieren.52 Kratzenstein konfrontiert Delius in seinem Gratulationsschreiben daher mit ganz grundsätzlichen konzeptionellen Fragen, zu denen die 50 Die Seele begreift Stahl explizit als »Baumeister« des Körpers; vgl. Stahl, Theorie der Heilkunde (wie Anm. 23), S. 57. 51 Kratzenstein, Beweiß (wie Anm. 49), S. 2. 52 Kratzenstein hat seinen Brief – sicher ein äußerst seltener Sonderfall in der Textsorte des Gratulationsschreibens – überarbeitet noch mehrfach wieder publiziert. Auffälligerweise spricht Kratzenstein Delius in der ersten Auflage seines Gratulationsschreibens (vermutlich aufgrund der Lehrjahre bei Juncker und Carl, im Kontext der Dissertation dennoch provozierend) als einen »Stahlianer« an – eine Anrede, die er später, in seinen ›Physicalischen Briefen‹, weglässt, vgl. Kratzenstein, Beweiß (wie Anm. 49), S. 7 und die entsprechende Textpassage in Christian Gottlieb Kratzenstein (Hg.), Physicalische Briefe, 3. u. vermehrte Auflage, Halle 1746, S. 40. Dieser Sammelband enthält folgende Briefe: 1. C[hristian] G[ottlieb] K[ratzenstein]: Schreiben von dem Nutzen der Electricität in der Arzneiwissenschaft an D. G. F. F.; 2. ders.: Zweytes Schreiben von eben derselben Materie; 3. ders.: Beweiß, Daß die Seele ihren Cörper baue [enthält auch einen angeblichen Brief von Christian Wolff]; 4. ders.: Fortsetzung des Beweises, Daß die Seele ihren Cörper baue; 5. H[einrich] F[riedrich] D[elius]: Antwortschreiben auf den Beweiß: Daß die Seele ihren Cörper baue.
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einleitenden Bemerkungen zur stahlschen Seelenkur nur erste, wenngleich witzig-geistreich formulierte und einigermaßen schlitzohrige Präliminarien sind. Ob die Stahlianer mit Kratzensteins Verteidigung ihrer Kur glücklich gewesen sind, mag man wohl mit Fug und Recht bezweifeln (und so sind Kratzensteins Überlegungen von den Zeitgenossen offenbar auch eher als Satire gelesen worden). Was also schreibt Kratzenstein zur Seelenkur? Heimwehkranke, bei denen sich zur Traurigkeit der Seele schnell Magenverstimmungen und Appetitlosigkeit gesellten, heile man ganz einfach durch das Servieren eines wohlgeräucherten Schinken[s] mit Sauerkraut: Wie geht doch dieses zu? Ist etwa die harte Speise vermögend gewesen, den verderbten Magen wieder gut zu machen? Dieses wird wohl niemand behaupten. Wir fallen daher ganz natürlich darauf, daß die Seele, aus Wohlgefallen über die aus Gewohnheit angenehme Speise die Bewegung derer Gedärme und den Kreißlauf des Geblüts vermehrt, und dadurch die Verdauung befördert, und das dicke Blut wieder dinne [sic!] gemacht habe. Es ist also die Seele durch die Speise, der Cörper aber von der Seele, wieder curirt worden.53
In der Tat scheint diese Darstellung einer erfolgreichen Seelenkur nahe an der Satire, da hier betont naiv ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Körper und Seele angenommen, mithin eine überspitzte stahlianische Variante eines leibseelischen consensus karikaturhaft überzeichnet skizziert wird. Im weiteren Verlauf seines Gratulationsschreibens geht es Kratzenstein dann auch gar nicht mehr um die Seelenkur, sondern um rätselhafte Erscheinungen des natürlichen Lebens, wie die Neubildungen, die Abraham Trembley im Jahr zuvor an zerstückelten Süßwasserpolypen beobachtet hatte,54 und die mit den tradierten Fortpflanzungs- und Entwicklungstheorien ebenso wenig zu erklären waren wie das zeitgenössisch viel diskutierte Entstehen von Muttermalen. Kratzenstein argumentiert für die Annahme eines übergeordneten dynamischen Prinzips in der Naturlehre, das er ebenfalls »Seele« nennt, da ein mechanistisches Denken die seltsamen Phänomene der Fortpflanzung und Reproduktion einfach nicht erklären könne. Leben funktioniere eben anders als Physik. Das aber hatte Delius, in dessen Dissertation der Polyp an keiner Stelle auftaucht, auch gar nicht bestritten. Ganz offensichtlich, so kann man an dieser Stelle festhalten, verselbstständigt sich hier der paratextuelle Diskurs. Die anatomisch-physiologische Frage nach dem Verhältnis von Thorax- und Bauchraum aus der medizi53 Kratzenstein, Beweiß (wie Anm. 49), S. 2f. 54 Zur Debatte über die Süßwasserpolypen vgl. van Hoorn, Hydra (wie Anm. 49).
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nischen Dissertation gewinnt in den Paratexten unversehens Anschluss an eine der Zentraldebatten um 1750, der Frage nach dynamischen Prozessen in der Natur. Ob die stahlsche Seele als ein Denkmodell hier weiterhelfen kann oder nicht, darüber streiten die jungen Hallenser. Eben diese Fragen aber – und darauf kommt es hier an – werden in den Paratexten, nicht in der Dissertation selbst erörtert. Genauer: In den quasi offiziellen lateinischsprachigen Paratexten werden eigentlich nur die von Stahlianischer Seite zu erwartenden Einwände ohne wirkliche Überraschungen oder gar innovatives Potenzial vorgebracht. Geselliger, offener, streitlustiger, aktueller und ideenreicher geht es dagegen in den deutschen Nebentexten zu. Delius und Kratzenstein jedenfalls liefern sich in der Folge ein regelrechtes öffentliches Schaustreitgespräch: Kratzenstein lässt ein Jahr später, am 14. Oktober 1744, einen zweiten Brief über die ihren Körper bauende Seele folgen, auf den Delius dann in einem Antwortschreiben reagiert.55 Von Thorax und Bauchraum ist längst nicht mehr die Rede, diskutiert wird, ausgehend von den trembleyschen Polypen, ausschließlich über Fortpflanzungs- und Entwicklungstheorien. Neben diesem harten Wissenschaftsdiskurs schmücken die Hallenser ihre in Briefform gehaltenen, nie verbittert-aggressiven, sondern immer launigen Beiträge auch mit literarischen Zitaten, etwa aus dem Werk Albrecht von Hallers. Der Schweizer Arzt, der nur wenige Jahre später seine bahnbrechenden Thesen zur Irritabilität und Sensibilität vorlegen wird, ist den Hallensern keine medizinische, sondern eine moralische Autorität, dessen physikotheologische Lehrdichtung geradezu Losungswortcharakter erhält.56 Anders als der strenge Schweizer favorisieren die Hallenser jedoch die entschwerende Selbstironie und ein augenzwinkerndes Bonmot. Wortwitz und Insider-Anspielungen sind alles. In diesem Sinne revanchiert sich Delius anlässlich von Kratzensteins Dissertation im Jahre 1746 mit einem auf den 26. April 1746 datierten Gratulationsschreiben, das gar nicht mehr vorgibt, eine Grundsatzdebatte anzustreben. Der Text, mit dem er den mittlerweile von der Französischen Akademie der Wissenschaften ob seiner Erforschung aufsteigender Gase geehrten, bereits berühmt gewordenen Experimentalphysiker Kratzenstein beglückwünscht, trägt den Titel:
55 Vgl. Anm. 52. 56 Delius, Antwortschreiben (wie Anm. 52), S. 79.
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›Prüfung einiger Stellen aus den siebenzig Dolmetschern, worin die Auferstehung der Aerzte geläugnet wird‹.57
57 Heinrich Friedrich Delius, Prüfung einiger Stellen aus den siebenzig Dolmetschern, worin die Auferstehung der Aerzte geleugnet wird. In einem Schreiben an Herrn M. Christian Gottlieb Kratzenstein, als derselbe die höchste Würde der Arzeneygelahrtheit erhielt, in: Christian Gottlieb Kratzenstein, Physicalische Briefe. 1) Von dem Nutzen der Electricität in der Arzneywissenschaft. 2) Beweis, dass die Seele ihren Körper baue, 4. Auflage, Halle 1772. – Angespielt ist auf die Septuaginta, die erste Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen ins Griechische. Delius zeigt in seinem launigen Text, dass die Lesart der Septuaginta von Jesaia 26,14, die Ärzten die Möglichkeit der Auferstehung abspricht, eine bereits von Luther stillschweigend korrigierte Fehlübersetzung ist. In seiner gebildeten Scherzschrift beruhigt der Hobbyphilologe Delius den Spezialisten für aufsteigende Gase Kratzenstein nach einlässiger Bibelexegese über die Möglichkeiten einer Auferstehung, nicht ohne dann abschließend noch einmal Haller zu zitieren.
IV. Lateinische Gelehrtenkultur und literarische Adaptationen
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Zwischen Wahrheitssuche und Wunderglauben. Die christlich–jüdische Disputation der Silvesterlegende in der ›Kaiserchronik‹ Unter der Vielfalt an öffentlich aufgeführten und/oder schriftlich verfassten Disputationen des Mittelalters nehmen die Religionsgespräche eine Sonderstellung ein. Disputationsgegenstand sind nicht etwa abstrakte, philosophisch-theologische Theorien, anhand derer man in sophistischer Manier die eigene intellektuelle Überlegenheit demonstrieren kann, sondern die Verteidigung und Durchsetzung der eigenen religiösen Wahrheit.1 So lässt sich in Anlehnung an Westermanns Interpretation des ›Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum‹ von Petrus Abaelard formulieren, dass etwa der Sophist »im Gespräch nur das Gespräch«, die Disputanten der Religionsgespräche aber zumeist sich selbst, genauer: die eigene Lebens- und Glaubensform, aufs Spiel setzen.2 Aus den in der Volkssprache überlieferten Religionsdisputationen wiederum sticht die frühe wie auch breite Rezeption der Silvesterlegende besonders hervor.3 Auf einer Synode muss der soeben getaufte Kaiser 1
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Vgl. Jacques Waardenburg, Art. ›Religionsgespräche I‹, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), S. 631–640, bes. S. 631; Ora Limor, Art. ›Religionsgespräche III. Jüdisch– christlich‹, in: ebd., S. 649–654; Ulrich Mattejiet, Art. ›Religionsgespräche‹, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 691f. Bei den Religionsdisputationen der ›Kaiserchronik‹ etwa handelt es sich nicht um reine »Lehrgespräche im Sinne der platonischen, aristotelischen oder ciceronianischen Traditionen«. Hans Fromm, Die Disputationen in der Faustinianlegende der ›Kaiserchronik‹. Zum literarischen Dialog im 12. Jahrhundert, in: Annegret Fiebig / Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 51–69, hier S. 54, in Bezug auf die beiden Disputationen der Faustinianlegende; vgl. auch allg. Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 866–880. Hartmut Westermann, Wahrheitssuche im Streitgespräch. Überlegungen zu Peter Abaelards ›Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum‹, in: Klaus Jacobi (Hg.), Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter, Tübingen 1999, S. 157–197, hier S. 180. Vgl. zur Überlieferungsgeschichte der Silvesterlegende zusammenfassend Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau
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Konstantin seinen neuen Glauben in einer Disputation gegen seine eigene Mutter, Königin Helena, gegen die Heiden und die Juden durchsetzen. Mit dem Sieg der christlichen Partei, vertreten durch den Disputanten Papst Silvester, lassen sich Helena und (fast) alle anwesenden Nichtchristen taufen. Das Christentum etabliert sich als »Staatsreligion« des Römischen Reiches. Die Folgen der Disputation sind von (welt)politischer Brisanz und kirchengeschichtlicher Bedeutung. Das vermeintliche Wahrheitsmonopol der christlichen Religion muss deshalb besonders hieb- und stichfest bewiesen werden. So wundert es nicht, dass die Disputation in der Silvesterlegende breiten Raum einnimmt und in allen volkssprachlichen Fassungen kaum beziehungsweise keinen Kürzungen unterworfen ist. Ganz im Gegenteil: Sogar das um 1400 entstandene Prosalegendar ›Der Heiligen Leben‹, welches für seine »Reduzierung auf die summa facti« bekannt ist, bezieht sich für die Schilderung der Disputation auf die lange Fassung des ›Passionals‹.4 In Bezug auf den ›Silvester‹ Konrads von Würzburg moniert der Herausgeber Paul Gereke die »breite und weitschweifige darstellung der disputation«.5 Trotz des Umfangs der verbalen Auseinandersetzung aber ist allen Religionsgesprächen der Silvesterlegende gemein, dass die intensive, diskursive Suche nach der einen religiösen Wahrheit mittels Worten und Schriftbeweisen zu keinem Ergebnis führt. Die Lösung des Problems, die determinatio, bedarf vielmehr eines performativen Aktes. Es kommt zum sogenannten Stierwunder, welches das vorab diskutierte Wunderverständnis in actu umsetzt und einen Evidenzbeweis in reiner Form darstellt. Diese besondere, zweigeteilte Form der Disputation regt zu Fragen an. Denn nicht zuletzt die Rezeptionsgeschichte, in der der Stier als Heiligenattribut Silvesters zum pars pro toto avancierte,6 ließ das abschließende Gottesurteil für
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5 6
der Dichtung, Darmstadt 21968, S. 165ff.; sowie Wilhelm Levison, Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende, in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze von Wilhelm Levison, Düsseldorf 21948, S. 390–465. Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegenden des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995, S. 283: »Eine Ausnahme bildet das ›Märterbuch‹, das den Religionsdisput zwar als Tatsache kurz nennt, aber nicht ausführt.« Paul Gereke, Konrad von Würzburg. Die Legenden, Halle / Saale 1925, S. VII. Silvesters Attribute sind der Stier (als pars pro toto für die Disputation), der Drache (Sinnbild für die Besiegung des Heidentums), der Olivenzweig (Zeichen des Friedens nach den Christenverfolgungen), sowie Engel und das Papstkreuz. Vgl. Otto Wimmer, Kennzeichen und Attribute der Heiligen. Fünfte, von Josef Stadlhuber neu berabeitete Aufl., Innsbruck 1979, S. 176, mit weiteren Verweisen.
Die christlich-jüdische Disputation der Silvesterlegende
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die gesamte Disputation formgebend erscheinen.7 Gerade dieses Verhältnis zwischen verbaler Argumentation und Performanz gilt es zu hinterfragen. Handelt es sich bei der Disputation der Silvesterlegende wirklich um einen »Monolog des Siegers«8 oder wird die disputative Dialogizität, werden die Dialogform und ihre impliziten Verheißungen als »wahrheitsorientierte Kommunikationsform« dieser Einschätzung ganz gezielt entgegengesetzt?9 In der ersten deutschsprachigen Fassung der Silvesterlegende in der ›Kaiserchronik‹, entstanden um die Mitte des 12. Jahrhunderts, steht die umfangreiche Disputation an zentraler Stelle des Textes.10 Das christliche 7
Vgl. in dieser Tendenz David A. Wells, Christliche Apologetik, die mittelhochdeutsche Silvesterlegende, Wolframs von Eschenbach ›Willehalm‹, und die Toleranz gegenüber Andersgläubigen im Mittelalter, in: Mediävistik 14 (2001), S. 179–224, hier S. 201f.; Tibor Friedrich Pézsa, Studien zur Erzähltechnik und Figurenzeichnung in der deutschen ›Kaiserchronik‹, Frankfurt a. M. 1993, S. 97f.; Elisabeth Schenkheld, Die Religionsgespräche der deutschen erzählenden Dichtung bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Leipzig 1930, S. 10f.; sowie Ingo Nöther, Die geistlichen Grundgedanken im Rolandslied und in der Kaiserchronik, Hamburg 1970, S. 256. 8 Adolf von Harnack, Judentum und Judenchristentum in Justins Dialog mit Trypho, Leipzig 1913, S. 54 u. S. 92; Levison, Konstantinische Schenkung (wie Anm. 3), S. 414; sowie Lydia Miklautsch, Der Antijudaismus in den mittelalterlichen Legenden am Beispiel der Silvesterlegende in der Fassung des Konrad von Würzburg, in: Alfred Ebenbauer / Klaus Zatloukal (Hg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Wien / Köln 1991, S. 173– 182, hier S. 179. 9 Jörn Müller, Philosophie und Theologie im Dialog über die rechte Lebensführung: Abaelards Collationes, in: Martin F. Meyer (Hg.), Zur Geschichte des Dialogs. Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006, S. 78–90, hier S. 78. Zum Dialog als Ausdrucksform von Glaubenswahrheiten vgl. Ingrid Kasten, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Hamburg 1973, S. 14f.: »Die Funktion der Dialogform besteht darin, Glaubenswahrheiten mit Hilfe von rationalem Denken zu begreifen und zu sichern, ›man will vermittels der Vernunft zu Wissen werden lassen, was man auf das Gewicht einer Autorität hin bereits im Glauben angenommen hat.‹« Vgl. auch Bernd Reiner Voss, Der Dialog in der frühchristlichen Literatur, München 1970, S. 360f. Der didaktische Nutzen der Dialogform ist recht unterschiedlich beurteilt worden. Augustinus etwa hält die Form des Gesprächs für die Wahrheitssuche sehr geeignet, während Anselm von Canterbury »dem Gespräch seinen erkenntnistheoretisches Privileg« abspricht. »Zwar leuchte das, was mittels Frage und Antwort erforscht werde, vielen besser ein und sei ansprechender. Doch gelte dies namentlich für die langsameren Geister.« Westermann, Wahrheitssuche (wie Anm. 2), S. 178 mit Anm. 67; sowie Müller, Philosophie und Theologie (wie Anm. 9), S. 89. 10 Vgl. Graeme Dunphy, On the Function of the Disputations in the ›Kaiserchronik‹, in: The Medieval Chronicle 5 (2008), S. 77–86, hier S. 84. Bereits in der byzantinischen Geschichtsschreibung findet sich die Disputation Silvesters mit den Juden; die lateinischen ›Acta Silvestri‹ greifen diese auf. Wahrscheinlich ist die Version der ›Kaiserchronik‹ auf eine Handschrift der Rezension A aus dem 6. Jahrhundert zurückzuführen. Zur unsicheren Quellenlage vgl. Ohly, Sage und Legende (wie Anm. 3), S. 171; sowie Almut Suerbaum, Erzählte Geschichte. Dialog und Dialogizität in der ›Kaiserchronik‹, in: Wolfram–Studien 16 (2000), S. 235–255, hier S. 240f.
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Autorenkollektiv setzt neben die traditionelle dogmatische Glaubenskontroverse einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt, der die Form der Disputation nachhaltig zu beeinflussen scheint. Dies ist der Zusammenhang von Sehen und Erkennen, von Glauben, Erkenntnis und sichtbarem Beweis. Insbesondere an diesem Inhalt ist die Struktur der Disputation festzumachen und wird das Verhältnis zwischen verbaler Argumentation und Performanz ausgelotet.11
I. Reflexion über Wahrheitsfindung und Verstehen Formal handelt es sich bei dem Religionsgespräch der Silvesterlegende um eine disputatio extra formam, genauer: um eine recht eigenwillige Mischung aus Elementen der akademischen Disputation und kirchlicher Prozessform.12 In der ›Kaiserchronik‹ ist die Disputation Hauptbestandteil des sent und wird mit diesem synonym gebraucht (sent / rede) (V. 8328, V. 8484, V. 8487 etc.). Im ›Silvester‹ Konrads von Würzburg hingegen dominieren Bezeichnungen wie strît (V. 2671) und mit worten kriegen (V. 2674f.), jü-
11 Für die Disputationen der Faustinianlegende in der ›Kaiserchronik‹ hat Fromm resümiert, dass diese noch nicht situationsbildend seien. Die Disputationen werden in ihren Formen durch das Ende her bestimmt, welches im Handlungsgeschehen liegt und nicht in der Diskursebene. Vgl. Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 69. Die Disputation der Silvesterlegende analysiert Fromm nicht, denn »hier ging es nicht eigentlich um den Dialog und seine Gestaltung, sondern um kurze Wortmeldungen auf einer Synode mit vielen Teilnehmern, auf die Papst Silvester jeweils mit einer kurzen Antwort reagierte […] Die synodale ›Handlung‹ leidet deswegen an Spannungsarmut, weil die jüdischen Behauptungen umgehend durch die Vorlage schriftlicher Autoritätszeugnisse zurückgewiesen werden können.« Ebd. S. 68 mit Anm. 44. Zur Kritik an der These, dass die Dialogform im Mittelalter ein »bloßes Hilfsmittel im Dienste des autoritären Diskurses« sei vgl. grundlegend Peter von Moos, Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte der Dialogform im lateinischen Mittelalter. Der Dialogus Ratii des Eberhard von Ypern zwischen theologischer disputatio und Scholaren-Komödie, in: Günter Bernt / Fidel Rädle / Gabriel Silagi (Hg.), Tradition und Wertung. Festschrift für Franz Brunhölzl zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1989, S. 165– 209. 12 Für eine disputatio in forma ist der epische Rahmen zu beeinflussend und aristotelische Disputationstypen wie etwa sophistica und temptativa werden kaum beachtet. Vgl. Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 68, der von einer lockeren Benennung als Religionsgespräch spricht. Vgl. auch Martin Grabmann Die Geschichte der scholastischen Methode. Nach den gedruckten und ungedruckten Quellen bearbeitet. Bd. II: Die Geschichte der scholastischen Methode im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert, Darmstadt 1961 [Erstausgabe Freiburg 1911], S. 9–27, hier S. 20. Vgl. auch Irene Dingel, Art. ›Religionsgespräche IV. Altgläubig – protestantisch und innerprotestantisch‹, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), S. 654–681, hier S. 655; sowie zu den scholastischen Einflüssen und klerikalen Disputationsmethoden Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 56f.
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den kriec | kristenheite strît (V. 2730f.), götlichen strît (V. 2797) oder auch disputieren (V. 2805).13 Als oberste Schirmherrin eröffnet Königin Helena die Synode, zu der als Publikum nur eine geistige Elite der heidnischen, jüdischen und christlichen Anhängerschar zugelassen wird, der Erkenntnisvermögen unterstellt werden kann: wande misselîch volc | ze hainer rede niene touc: | mit den nemahte sendes niht sîn (V. 8482–84).14 So findet das fingierte Gespräch im Unterschied zu den zeitlich später, öffentlich inszenierten und teilweise erzwungenen Religionsdisputationen, die in der Forschung auch als »Religionsprozesse« bezeichnet werden, nicht vor einer Art »Gelehrtengericht« unter christlicher Führung statt, sondern vor einem gemischten Publikum und unter einer heidnischen beziehungsweise jüdischen Vorsitzenden. Die christlichen Initiatoren Papst Silvester und Kaiser Konstantin werden in der Fiktion somit nicht zugleich »Ankläger und Richter« in einer Person.15 Papst Silvester stehen eine Auswahl an zwölf Disputanten gegenüber, von denen man zunächst nur erfährt, dass sie sehr gelehrt seien – die alre beste gelêrten | di under juden und under haiden wâren (V. 8575f.). Ihre Überzahl versinnbildlicht die quantitative Übermacht der »Un- beziehungsweise Falschgläubigen«.16 Nachdem die Disputanten ein Gelübde geleistet haben, mit ihrem Leben für ihre Worte einzustehen (V. 8581–84), tritt ein Opponent nach dem anderen gegen Silvester an, sodass die »polare Struktur« in Rede-Gegenrede-Situationen gewahrt bleibt.17 Im Verlauf des Gespräches wird deutlich, dass es sich um ein rein christlich-jüdisches Streitgespräch handelt – ein Gespräch der beiden Offenbarungsreligionen.
13 In der Forschung wird von Disputation, Religionsdisput oder auch Religionsgespräch gesprochen. In den lateinischen Quellen liest man disputatio. Vgl. Herma Kliege-Biller, ... und ez in tiusch getihte bringe von latîne. Studien zum Silvester Konrads von Würzburg auf der Basis der Actus Silvestri, Münster 2000. Zur Verwendung von gesprech für Disputationen vgl. Caroline Emmelius, Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung. Zur Wortgeschichte von Gespräch im 15. Jahrhundert, in: Gerd Dicke / Manfred Eickelmann / Burkhard Hasebrink (Hg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin / New York 2006, S. 107–135, hier S. 118f. 14 Der Ort Turaz in Kleinasien verleitet, so Christian Gellinek, Die Deutsche Kaiserchronik. Erzähltechnik und Kritik, Frankfurt a. M. 1971, S. 121, zu der Annahme, dass es sich um eine Anspielung auf das Konzil von Nicäa handeln könnte. Hier und im Folgenden zitiert nach: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken I,1), Berlin 1895, Nachdruck Berlin 21964. 15 Zu den Disputationen zu Paris (1240), zu Barcelona (1263) und zu Tortosa (1413–1414) vgl. Limor, Religionsgespräche III (wie Anm. 1), S. 649f. 16 Vgl. Schenkheld, Religionsgespräche (wie Anm. 7), S. 10. 17 Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 48.
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Denn die heidnische Kaiserin wird durch die jüdischen Opponenten vertreten.18 Natürlich gehört zu einer Religionsdisputation in einem christlichen Legendentext ein parteiliches Erzählen mit einem ideologischen Anspruch, wenn die Überlegenheit des christlichen Glaubens demonstriert werden soll.19 Und natürlich muss man die Disputation vor der überlieferten Tradition der Adversus-Judaeos-Texte des Mittelalters lesen.20 So ist die Frage nicht, »ob« die Christen die Disputation für sich entscheiden, sondern »wie«. Auch in der ›Kaiserchronik‹ wird die Einberufung der Synode als Wille Gottes umschrieben (V. 8325–28; V. 8332–41). Die Christen richten Bittgebete an Gott (V. 8434–37; V. 8446–52; V. 8511–15), und vor der Eröffnung des sent lässt Konstantin seiner Mutter ausrichten: got hête in sîner gewalt, | daz er selbe eroffenôte, | swelhe under in reht hête (V. 8355– 57). Vorab scheint festzustehen, dass Silvester als der wahre Gottgläubige die Wahrheit verkörpert. So heißt es, dass die zwölf ausgewählten den wâren gotes holden | uberwinden solten (V. 8578f.). Und gegen Ende der Disputation stellen die senthêrren angesichts der demonstrierten Überlegenheit Silvesters fest, daz got selbe mit im wære (V. 9437). Andererseits aber weist die ›Kaiserchronik‹ einige Besonderheiten auf, die sich dieser eindeutigen Lesart zu widersetzen scheinen.
18 Der Einbezug von Heiden in das Religionsgespräch und die Tatsache, dass die Kaiserin dem heidnischen Glauben anhängt, ist in der Silvestertradition singulär. 19 Die antijüdischen und missionarischen Intentionen der jüdisch-christlichen Religionsgespräche sind wiederholt Forschungsgegenstand gewesen. Vgl. etwa Miklautsch, Antijudaismus (wie Anm. 8), S. 173–182; sowie Vera Milde, si entrunnen alle scentlîchen dannen. Christlich-jüdischer Disput in der Silvesterlegende der ›Kaiserchronik‹, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen, Tübingen 2002, S. 13–34. Milde sieht in der Disputation ein »Spiegelbild der tief greifenden Wandlung des christlichen Judenbildes im hohen Mittelalter […]. Misstrauen und dämonische Assoziationen werden geschürt«. Ebd. S. 13 u. S. 28. 20 »In der kontroverstheologischen Literatur der Zeit (etwa bei Gilbert Crispin, Petrus Alfonsi oder Petrus Venerabilis) dominiert das Verständnis des Dialogs als eines unerbittlich ausgefochtenen Streitgesprächs, in dem Juden oder Heiden als unglaubwürdig und bekehrungsbedürftig dargestellt werden sollen, um den Monopolanspruch der christlichen Lehre auf Wahrheit zu etablieren«. Müller, Philosophie und Theologie (wie Anm. 9), S. 89. Zu rein polemischen Religionsgesprächen, in denen es zur »Entmenschlichung und Dämonisierung des religiösen Gegners« kommt, und ein echter Dialog ausgeschlossen wird, wie etwa bei Petrus Venerabilis oder Petrus von Blois, vgl. Heinz Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.–13. Jh.). Mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil, Frankfurt a. M. 1988, S. 188 u. S. 376ff. u. a.; Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 199; sowie R. Schmitz, Art. ›Religionsgespräche (IV. Jüdisch–christliche)‹, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 694; sowie Limor, Religionsgespräche III (wie Anm. 1), S. 649ff.
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Dem starren Legendenschema mit seinem voraussehbaren Ende wird zum einen eine Disputation entgegengestellt, die mit dramatischen Elementen unmittelbarer Präsenz spielt.21 Es ist eine dramaturgische Besonderheit, die sich weder in den lateinischen Fassungen der Silvesterlegende noch in den anderen Disputationen der ›Kaiserchronik‹ findet, die verbindlichen Disputationsregeln nicht einfach vorab darzulegen. Sie werden erst nach und nach in den Redebeiträgen in szenischen Einschüben reflektiert und oftmals erst durch einen Verstoß thematisiert.22 Als die jüdische Partei mit dem bloßen Hörensagen argumentieren will, verweist Silvester auf die sent-Regel, dass man nichts behaupten solle, was man nicht auch beweisen könne. Der Richterspruch Crâtôns fasst diese Disputationsregel zusammen: ›dirre sent ist sô zesamene chomen, | daz man deheiner rede hie sol beginnen, | man nemege si mit bewærten dingen bringen.‹ (V. 9157–59).23 Der Rezipient erfährt sich als unmittelbarer Teilnehmer des Gespräches beziehungsweise als teilnehmender Zeuge des Kommunikationsgeschehens.24 Vor den Augen und Ohren des Lesers wird das Geschehen entwickelt. Durch das Fehlen von Erzählkommentaren wird die Disputation selbst zu einem Reflexionsmedium über das Verfahren der Disputation. Zum anderen ist das Fehlen wertender Epitheta und ein weitgehender Verzicht auf eine »unverhüllt parteiliche« Personendarstellung der einzelnen Disputanten auffallend. Ganz anders liest sich dies in der Silvesterlegende des ›Passional‹ oder auch im ›Silvester‹ Konrads von Würzburg, wo die jüdischen Disputanten verunglimpft werden.25 Auch die in jeder Gesprächsrunde obligatorischen Siege Silvesters werden in der ›Kaiserchronik‹ recht dezent durch Sprüche der Richter gefällt, oder aber die jüdischen Disputanten geben sich durch Schweigen und Verlassen des sents geschlagen.26 In der lateinischen Fassung des sogenannten Mombritiustextes hingegen 21 Zur narrativen und dramatischen Dialoggestaltung in Bezug auf Abaelards ›Dialogus‹ vgl. Westermann, Wahrheitssuche (wie Anm. 2), S. 165 mit Anm. 25. Zur Silvesterlegende vgl. Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 244. 22 Vgl. Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 242f. 23 Vgl. zur scholastischen Tradition Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 49. 24 Zur Unterscheidung von Adressat, Zuschauer und Zeuge vgl. Westermann, Wahrheitssuche (wie Anm. 2), S. 166. 25 Vgl. zu Beispielen Timothy R. Jackson, The Legends of Konrad von Würzburg. Form, Content, Function, Erlangen 1983, S. 194ff.; Miklautsch, Antijudaismus (wie Anm. 8), S. 173–182; sowie Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 215ff. 26 Vgl. etwa den Schiedsspruch des Richters Crâtôn: er hât dich von rehte uberwunden (V. 8774); duo sprâchen die rihtâre, | daz des geziuges genuoch wære | er enbedorft es dar umbe niht mêre. | dô frowete sich Constantînus der hêrre (9032–35); der jude waich hindersich, | er sciet ân urlop dan (9085f.); der jude muose dan entwîchen (9193); der jude sciet ân urlop dan (9579) usw.
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wird der Triumph der christlichen Partei durch jubelnde Akklamation der Richter, des Kaisers und der ganzen Versammlung am Ende der Redebeiträge Silvesters mehrfach inszeniert.27 In der ›Kaiserchronik‹ fällen zwei unparteiische Richter, zwei heidnische Philosophen, die Schiedssprüche:28 swenne daz gescach, | daz der man missesprach, | daz er wart uberwunden, | daz rihten si an den stunden | nâch rehter urtaile | unt jâhen des gemaine, | daz er hôrâre niene solte haben, | sô hiezzen in die rihtâre ûz dem sende gân (V. 8594–8601). Die Richter beurteilen die Redebeiträge – duo sprâchen die rihtâre | daz des geziuges genuoch wære (V. 9032f.) – und sorgen für Ordnung und Einhaltung der Regeln (etwa V. 8976ff.; V. 10086ff.). Auch dies steht in einem deutlichen Gegensatz zu anderen Fassungen der Silvesterlegende. In der Version Konrads von Würzburg wird Kaiser Konstantin selbst zum obersten und somit parteiischen, wenn auch noch unbekehrten Richter (vgl. etwa V. 4929). Es zeichnet sich ab, dass in der ›Kaiserchronik‹ zumindest die Illusion einer unparteiischen Wahrheitsfindung gewahrt werden soll, auch wenn das Legendenschema den Ausgang vorschreibt. Zudem wird der Anspruch deutlich, einen Austausch von Erkenntnis zu inszenieren. Disputiert werden die klassischen Themen der Religionsgespräche, die sich auf die strittigen Dogmen wie die Dreieinigkeit Gottes (V. 8610ff.),29 die Gottmenschheit Christi (V. 9644ff., V. 9707ff. und andere) oder auch die Jungfrauengeburt beziehungsweise Jungfräulichkeit Marias beziehen (V. 8909ff.; V. 8944ff.; V. 9111ff.).30 Beide Offenbarungsreligionen berufen sich auf die scriptura. Aber in der Darlegung und Auslegung von vornehmlich alttestamentarischen Bibelzitaten werden alle Gesprächsrunden für Silvester entschieden.31 Der Sieg der christlichen Argumente ist immer auch zugleich eine Niederlage der jüdischen, ohne dass die christologische Inter27 Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 206f. 28 Auch in den Actus Silvestri werden diese beiden Richter genannt. Vgl. auch Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 47. 29 Das Trinitätsdogma widerspricht dem strengen Monotheismus des jüdischen Glaubens und ist in seiner Irrationalität ein Angriffspunkt. Vgl. Schenkheld, Religionsgespräche (wie Anm. 7), S. 74. Die Argumente drehen sich häufig um Fragen der Vernunft, denn ein Glaube, der der Vernunft nicht standhält, kann nicht der wahre Glaube sein. Eine Inhaltsangabe zu den Disputationsgegenständen bietet Gellinek, Die Deutsche Kaiserchronik (wie Anm. 14), S. 125f. 30 Vgl. zur Tradition und den Inhalten der lateinischen Streitgespräche zwischen Christen und Juden Bernhard Blumenkranz, Die jüdischen Beweisgründe im Religionsgespräch mit den Christen in den christlich-lateinischen Sonderschriften des 5. bis 11. Jahrhunderts, in: Theologische Zeitschrift 4 (1948), S. 119–147, hier S. 134ff.; sowie Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 181ff. 31 Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 49f., führt die Argumentation mittels alttestamentarischer Belege auf ein der Disputation zugrunde liegendes typologisches Denkmodell zurück, wäh-
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pretation von den jüdischen Disputanten hinterfragt wird.32 Es kommt zu typologischen und allegorischen Deutungen der Schrift. Silvester verweist etwa zum Beweis der Jungfrauengeburt Marias auf die jungfräuliche Erde, aus der Adam geboren wurde (V. 9556–9559).33 Das alttestamentarische Gebot der Beschneidung wird allegorisch ausgelegt und Silvester konstatiert die Bedeutsamkeit der geistlichen Beschneidung, welche der körperlichen weit überlegen sei: flaislîch besnîdunge nemac niemer wesen frum, | man newelle di gaistlîchen innen tuon (V. 9430f.). Auch Gleichnisse (gelîche) werden zu Mitteln der Disputation und als Argumente akzeptiert. Anhand des Sonnenstrahlgleichnisses versucht Silvester die Vereinbarkeit von göttlicher und menschlicher Natur Christi zu erläutern. So wie die Sonne Licht auf die Erde ausstrahlt und dennoch an ihrer Stätte bleibt, so könne auch die Gottheit zugleich Gott und Mensch sein (V. 9072–9084).34 Des Weiteren findet sich die Technik des distinguere, das methodische Vorgehen der Distinktion, in der Diskussion Silvesters mit dem Archisynagogus Abiâthâr.35 Mit einer sprachlogischen Unterscheidung zwischen Gott selbst und seinen drei Namen wendet sich Silvester gegen den jüdischen Einwand, dass es sich bei der Vorstellung der Dreieinigkeit Gottes um einen Verstoß gegen die monotheistische Religion handele: der name ist underscaiden: | er haizet vater und haizet sun und der hailige gaist | durch unser brôde nam er bain und flaisc (V. 8653–55). Auch die von den Juden abgelehnte Vorstellung von der Menschwerdung Gottes versucht Silvester mit »logischen« Argumenten zu entkräften. Er argumentiert, dass weder ein Engel noch ein Mensch zur Erlösungstat fähig seien (V. 8844–46).36 Diese Methoden der Disputationsführung, die sich auch in der akademischen Disputationspraxis wiederfinden, geben dem Gespräch den Anschein einer theologisch-intellektuellen Auseinandersetzung. Dass einzelne Streitpunkte gemäß der scholastischen Tradition verstanden werden sollen, zeigt sich im siebten Gespräch, in dem es explizit um das Verstehen un-
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rend Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 242, auf die lateinische Tradition verweist, die dies zur Bedingung der Disputation macht. Vgl. dazu Milde, Christlich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 32f. Vgl. auch Schenkheld, Religionsgespräche (wie Anm. 7), S. 85; sowie Georg Prochnow, Mittelhochdeutsche Silvesterlegenden und ihre Quellen, Marburg 1901, S. 59. Zur typologischen Denkweise vgl. auch Ohly, Sage und Legende (wie Anm. 3), S. 26ff.; sowie Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 50ff. Vgl. Schenkheld, Religionsgespräche (wie Anm. 7), S. 91 u. S. 99. Vgl. Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 44: »Der Terminus underscaiden weist abermals in den Bereich der Scholastik zurück; er stellt die mittelhochdeutsche Entsprechung zu distinguere bzw. der distinctio dar.« Sowie ebd. S. 225. Vgl. auch Kaiserchronik, V. 2247 u. V. 9321. Vgl. Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 205.
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terschiedlicher Standpunkte zum Beschneidungsverbot geht. Auf den Vorwurf Silvesters, der jüdische Disputant solle seiner Rede besser bedenken – dû soltest dich der rede baz hân bedâht (V. 9335) –, expliziert dieser dû solt mîn rede ouch paz verstân (V. 9337), und Silvester antwortet: dû solt ouch mîn rede noch paz verstân (V. 9364). An anderer Stelle hält Silvester einen jüdischen Kombattanten zurück, um diesem seinen Standpunkt noch weiter auslegen zu können. Deutlich werden so Versuche eines Verstehens inszeniert und zugleich wird die Unwissenheit der jüdischen Disputanten demonstriert.37 Die Teilnehmer des Gesprächs sollen wie in den akademischen Disputationen von der Wahrheit überzeugt werden. In einer Auseinandersetzung über die Jungfräulichkeit Marias etwa formuliert der jüdische Disputant: Silvester, iz sî dir liep oder lait, | ich wil hiute hie gevesten mîn wârhait (V. 9090f.). Silvester reagiert mit Lächeln, denn schließlich sei auch er nur an der Wahrheit interessiert: want unser hêrre selbe Crist | weg und wârhait ist (V. 9098f.). Als aber der jüdische Disputant Aunan unter Hinweis auf die Existenz von Geschwistern Jesu die immerwährende Jungfräulichkeit Marias infrage stellt, wird dieser logische Schluss nicht anerkannt, da es keine Schriftbeweise, sondern nur ein »Hörensagen« gebe: swes ich [Aunan] bewærte liute hôre jehen (V. 9154). These und Gegenthese können letztlich nur durch Bibelzitate autorisiert werden. Darüber hinaus ist der Wechsel von Frage und Antwort zwischen den disputierenden Parteien ein Zeichen für ein wenig starres Disputationsschema, welches vorgibt, das Verstehen der unterschiedlichen Standpunkte zum Ziel zu haben. So werden von jüdischer Seite auch reine Wissensfragen gestellt, ohne den Sieg davon tragen zu wollen.38 Als erstes Zwischenfazit lässt sich daher formulieren, dass es sich bei der Disputation trotz aller Parteilichkeit nicht um eine Fassade oder um einen reinen »Monolog der Sieger« handelt. Die Disputation wird zumindest auch als eine Zurschaustellung menschlichen Wissens inszeniert und spielt mit Elementen der scholastischen Tradition. Als dramatischer Austragungsort menschlichen Wirkens und Erkennens ist die verbale Disputation auffällig immun gegen göttliches Wirken. Sie wird nicht zum Werkzeug Gottes erhoben. Vereinzelt wird Silvester zwar als gotes bote liebe (V. 9092), gotes bote frône (V. 9116, V. 10283) oder auch als gotes wîgant 37 Vgl. Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 51. 38 Vgl. Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 51. Der Bischof Kûsî etwa stellt nur eine reine Wissensfrage, ohne als Kontrahent auftreten zu wollen: ich sage dir Silvester: | vil diche frâget ain junger sînen maister. | ich hân ez allez fragende getân, | der rede wil ich urlop hân (V. 9250– 53).
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(V. 9596) bezeichnet. Auch in den überproportionalen Redebeiträgen, die in der Art von Lehrgesprächen konzipiert sind, spiegelt sich eine deutlich wertende Leserlenkung.39 Formgebend aber und handlungsbestimmend ist ein thematischer Schwerpunkt, der bislang nicht im Fokus der Forschung gestanden hat. Er scheint die Form der Disputation nachhaltig zu beeinflussen: Der Zusammenhang zwischen Glauben beziehungsweise Erkenntnis und Sehen.
II. Sichtbarkeit als Argument Das Thema der »Erkenntnis durch sichtbare Beweise«, welches die Disputation beherrscht, wird in der ›Kaiserchronik‹ gleich zu Beginn des Erzählens über Kaiser Konstantin eingeführt. Bereits in der Vorgeschichte zur Disputation kommt es zu einem Akt der Wahrheitssuche mittels eines sichtbaren – und somit glaubhaften – Beweises: Als sich der erkrankte Kaiser weigert, das Blut unschuldiger Kinder für seine Heilung zu vergießen, erscheinen ihm nachts die Apostel Peter und Paulus: do erscinen im die hêrren, | die gotes boten bêde, | sancte Pêter unt sancte Paulus – | sancte Silvester hiez dô der bâbes. – | vil offenlîche er si sach (V. 7844–48). Sie offenbaren ihm, dass er allein durch Papst Silvester zu gesunden vermöge, wenn dieser sein gaistlîch vater werde (V. 7857). Silvester, an den Hof gerufen, lässt dem Kaiser zunächst zwei Abbilder der Apostel zeigen. Erst nach der Bestätigung durch den Kaiser – ›ez sint die selben zwêne man, | als ich si hînaht ersehen hân, […] ich erchenne si iemer baide wol‹ (V. 7912–19)40 – beginnt Silvester sich um die Heilung des kranken Kaisers zu bemühen, der allem Anschein nach von Gott erwählt wurde (V. 7922; V. 7930). Es kommt zur Taufe und somit Heilung des Kaisers, zur Christianisierung Roms und in der Folge sodann zur Disputation. Silvester verlangt zu Beginn der Episode einen sichtbaren Beweis. Die physiognomischen Merkmale, die auf den Bildern die beiden Apostel charakterisieren, der ain was grâ, | als er nû scînet dâ, | der ander was chal (V. 7916–1918), sollen Silvesters Vermutung bestätigen, dass es sich bei den Traumbildern des Kaisers tatsächlich um die beiden Apostel und somit um eine göttliche Vision gehandelt hat. Der Papst legitimiert somit den 39 Vgl. etwa V. 8628ff.; V. 9494ff.; V. 9696ff.; V. 10247ff. 40 In Auseinandersetzung mit den Phänomenen des physiognomischen Wiedererkennens verweist Dieter Kartschoke, Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1–24, hier S. 16, auf diese Episode.
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Gedanken, dass die Wahrheitssuche des Glaubens aufs Engste mit dem Augenschein verbunden ist. Erkenntnis ist ein sehender Akt.41 Im ›Trierer Silvester‹ hingegen, der ja auch als propäpstliche Antwort auf die ›Kaiserchronik‹ verstanden wird, fordert nicht der Papst, sondern der ungläubige Kaiser einen bildlichen Beweis.42 Der enge Zusammenhang von Sehen und Erkennen findet sich erneut in der ersten predigthaften Rede des frisch gekrönten und geweihten Kaisers, in der er unter anderem mit den Götterstatuen der Ungläubigen abrechnet: si hânt ougen unt gesehent niht, | si nerchennent di vinster noch daz lieht, | si habent ôren | und enmegen der mite niht gehôren, | si habent nasen âne smach, usw.43 Diese auch aus kontroverstheologischen Traktaten bekannten Äußerungen sprechen den Götzen eine Erkenntnisfähigkeit ab.44 Erinnert wird man an das antijüdische Motiv der blinden Synagoga, welches das vermeintliche Unvermögen der Juden darstellt, den wahren Glauben zu sehen und somit zu verstehen.45 Ohne Sinne keine Erkenntnis, keinen Glauben. Der Zusammenhang von Glauben und Sehen wird auch in der Disputation aufgegriffen und handlungsbestimmend. Das christliche Autorenkollektiv der ›Kaiserchronik‹ verzichtet aber auf weitere explizite judenfeindliche Anspielungen.46 Bereits die Einberufung der Synode wird 41 Anders Gellinek, Die Deutsche Kaiserchronik (wie Anm. 14), S. 107: »Voll gravitätischen Humors ist die Szene […]. Diese Bilderprobenszene mit einem mißtrauischen Papst scheint mir nicht frei von einem Anflug an Ironie.« 42 Der Trierer Silvester, hg. von Carl von Kraus (Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken I,2), Hannover 1895 [unveränderter Nachdruck München 1984], V. 211ff.: dů uragete der kuninc here, | ob [si] iren gemalet weren | her sprach: ›ir antlieze waren so rechte wole getan, | ich gesehese abir gerne, daz ist war‹. 43 si newizzen tac noch naht, | si nemegen ze hainer stunde | gesprechent mit dem munde, | sich enuobe der tievel dar inne. | si hânt kelen âne stimme, | vuoze noch die hende | megen si niender gewenden, | si habent vuoze âne ganch, | si nehabent gesin noch gedanch, | si sint gar unraine (V. 8168–8182). Auch das anschließende Glaubensbekenntnis des Kaisers bezieht sich ebenfalls auf die Sinne: sîner genâden ist sô vil, | daz dirz mennisken zunge | niemer mach gekunden, | noch mennisken ougen | niemer gescouwen, | noch mennisken ôren | niemer suln gehôren, | noch mennisken herze redenken nemach (V. 8283–8290). 44 Vgl. etwa zu den judenfeindlich, polemischen Schriften des Petrus Venerabilis oder Petrus von Blois Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 180ff.; Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 198; sowie Milde, Christlich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 18 u. S. 28. 45 Zum Motiv der Blindheit in apologetischen Texten des Mittelalters vgl. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (wie Anm. 20), S. 82 u. S. 86f.; sowie Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 187 u. S. 191. Vgl. zum allegorischen Streit zwischen Ecclesia und Synagoga Hiram Pflaum, Die religiöse Disputation in der europäischen Dichtung des Mittelalters. Erste Studie: Der allegorische Streit zwischen Synagoge und Kirche, Genf / Florenz 1935. 46 Explizit judenfeindliche Äußerungen finden sich etwa in der Silvesterlegende im ›Passional‹. Vgl. dazu Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 215ff. Vgl. auch Milde, Christ-
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durch den Zusammenhang von Sehen und Erkennen bestimmt. Königin Helena verlangt in ihrer Eröffnungsrede zu sehen, warum ihr Sohn zum Christentum konvertierte: den sent suoche ich gerne | unt wil selbe sehen, | wannen daz sî gescehen, | daz mîn sun ist christen (V. 8375–78). Sehen, Wahrnehmen und Verstehen sind synonym gebraucht. Nachhaltig beeinflusst die Vorstellung, dass das Verstehen untrennbar mit dem sinnlichen Wahrnehmen verbunden ist, den formalen Ablauf der disputatio extra formam. So entwickeln etwa die Autoritätsberufungen, die ja zum »topischen Gut jeder Beweisführung« gehören, ein auffälliges Eigenleben:47 Es reicht nicht aus, sich auf das Wort der Heiligen Schrift zu beziehen, indem man es zitiert. Die Heilige Schrift muss auch gesehen werden. Die an die scholastische Tradition angelehnte Regel, dass nur »begründete Wahrheiten« (bewærten dingen, V. 9159) und keine bloßen Meinungen vorgebracht werden dürfen, wird wörtlich verstanden und durch das häufige Hereintragen der Schrift auffällig inszeniert.48 Das Vorzeigen der Heiligen Schrift wird zum festen Bestandteil des rituellen Ablaufs. Bereits in den ersten drei Gesprächsrunden, die sich unter anderem um die Auferstehungswunder drehen, wird das Buch wiederholt auf den Austragungsort der Disputation getragen. Als der jüdische Disputant Abiathar einen Schriftbeweis von Silvester fordert – mahtû von den puochen reden? (V. 8691) – wird die Bibel herbeigebracht und Silvester verweist auf drei Stellen aus dem Alten Testament: alse man daz buoch ûf tete, | dô bewært erz sâ zestete (V. 8700f.); mit den buochen bewæret er im daz, | daz diu rede wâr was (V. 8714f.); Dritte stunt zaiget er im gescriben dâ (V. 8716). Die Schrift wird zum Anschauungsobjekt und offenbart ein leiblich-körperliches Verständnis eines Beweises.49 Sie wird nicht nur zitiert, sondern realiter präsentiert, vorgezeigt, angefasst. Sie ist körperli-
lich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 28. Miklautsch, Der Antijudaismus (wie Anm. 8), S. 179, weist auf die Wiedergabe des Stereotyps der Verstocktheit der jüdischen Disputanten in Konrads von Würzburg Legende (V. 3564) hin. 47 Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 223. Zur Funktion der lateinischen Zitate als Schriftbeweis vgl. Milde, Christlich–jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 29; sowie Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 244. 48 »Das methodische Vorgehen, die Wahrheit der Thesen mit Textstellen aus der Bibel ›wissenschaftlich‹ zu beweisen (vgl. V. 8939 den Terminus bewaeren, der mehrfach auftaucht), stammt wiederum aus scholastischer Tradition.« Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 49. 49 Dies im Unterschied etwa zu Konrads Version, der sich vermehrt auf »Beispielerzählungen und typologische Ableitungen nach der Genesis« stützt. Schenkheld, Religionsgespräche (wie Anm. 7), S. 50f. Vgl. zu den Schriftbeweisen auch Milde, Christlich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 30.
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ches Beweismittel. Zugleich wird so das formale ait-dixit-respondit-Schema durchbrochen, welches in der lateinischen Silvestertradition vorherrscht.50 Diese Eigenart der Disputation lässt sich zum einen mit dem bereits im Prolog der ›Kaiserchronik‹ erwähnten Stellenwert der Schrift erklären. In Anlehnung an den in der Dichtung des 12. Jahrhunderts weitverbreiteten literarischen Wahrheitsanspruch liest man dort, dass allein die schriftliche Tradition in ihren Aussagen verlässlich sei (V. 15–42). Nur das Buch, die Schrift, wird als »Träger der Wahrheit« akzeptiert.51 Zum anderen aber wird damit auch das Thema des »sehenden Erkennens« in actu umgesetzt. Glauben und Sehen gehören zusammen; ohne Sehen kein Verstehen. Auch inhaltlich wird diese Vorstellung auffallend konsequent in den einzelnen Gesprächsrunden zum zentralen Diskussionsgegenstand. So kommt es etwa in der vierten Gesprächsrunde zur Diskussion der Sinne, in der es um die Menschlichkeit Jesu geht, um die »Erkennbarkeit« Gottes. Der jüdische Disputant Dôêch bestreitet vehement, dass in mennischen ougen hie sæhen (V. 9041). Denn selbst Moses, den Gott sehr geliebt habe, habe er [Gott] sein Antlitz nicht zeigen wollen (Ex 33,11). Wie könne Silvester daher als wahr verbreiten, so argumentiert er weiter, dass selbst Sünder den Herren gesehen hätten (V. 9050ff.). Für einen Juden sei die Vorstellung, dass sich Gott menschlichen Augen gezeigt habe, unvorstellbar und ein Widerspruch zur Bibel (V. 9040ff.).52 Silvester aber verweist auf einen Spruch Davids und siegt in dieser Runde: der jude waich hindersich, | er sciet ân urlop dan (V. 9085f.). In der zwölften Runde wird das Thema der Zeugenschaft aufgegriffen. Es ist für beide Offenbarungsreligionen zentral und verweist auf die Begrenztheit der unmittelbaren menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Sechzig vermeintliche Augenzeugen, die nach Aussage des zwölften jüdischen 50 Vgl. Wells, Christliche Apologetik (wie Anm. 7), S. 203. 51 Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 238. Gerade die Dialoge der ›Kaiserchronik‹, die in den Legenden um die fiktiven Kaiser Narcissus und Faustinian sowie Kaiser Constantin zu finden sind, beschäftigen sich mit dem »Problem der Wahrheitsfindung und dem Konflikt zwischen mündlichen und schriftlichen Aussagen.« Ebd. S. 239. Zur Gegenüberstellung von mündlicher und schriftlicher Tradition in der ›Kaiserchronik‹ vgl. auch V. 14176–14192. 52 Auch in der Disputation zwischen Petrus und Simon in der ›Kaiserchronik‹ kommt der unsichtbare Gott ins Gespräch. In der gnostischen Gottesvorstellung ist der höchste Gott durch seine »Unerkanntheit und Unerkennbarkeit« ausgezeichnet. Vgl. Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 56. Den jüdischen Gottesnamen kann man weder sehen noch hören, ohne zu sterben: ›mîn got der ist sô wunderlîch: | im newart nie niht gelîch, | sînen namen nemach niemen gehôren noch gesehen, | daz er aines ougenpliches lenger mege geleben. | alse hêre ist mînes gotes name, | daz wil ich dir wærlichen sagen. | wil dû, ich lâze dich sehen dar zuo, | welh wunder mîn got mag getuon. | sô ist dîn lêre verendet, | so wirt dîn trugehait gescendet, | dû soltest den lîp pillîche verlorn hân. | Silvester, waz zuckest dû dich an?‹ (V. 9970–9981).
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Disputanten gehôret und gesehen (V. 9923) haben wollen, dass Jesu Leiche von seinen Jüngern aus dem Grabe entfernt worden und somit keineswegs auferstanden sei (vgl. Mt 28,12–15), werden von Silvester mit rationalen Argumenten der Lüge überführt:53 Wie könne zum einen bei so vielen Augenzeugen ein Diebstahl passieren? Und zum anderen: Wie können sie den Diebstahl gesehen haben, obwohl sie zu dem Zeitpunkt noch gar nicht geboren waren? Silvester lässt die Bibel hereintragen und stellt fest, dass 236 Jahre seitdem vergangen seien – alle Zeugen hätten also gelogen. Diese Diskussion um die fälschlich behauptete Augenzeugenschaft, die erneut das Kernthema des »sichtbaren Beweises« der Disputation aufgreift, ist in der Legendentradition singulär.54 In der ›Kaiserchronik‹ aber markiert sie den Übergang von der Gesprächs- zur Handlungsebene. So wird in demselben Moment, in dem die reale Augenzeugenschaft widerlegt wird, der Ruf nach einem Gottesurteil, nach einer Bekundung der Wahrheit durch ein Wunder laut. Mit der Überführung der falschen Augenzeugen soll das sent-Publikum nun selbst zu Augenzeugen eines für alle sichtbaren Beweises werden, der endlich die Entscheidung herbeiführen wird. Wie auch in den beiden anderen Disputationen der ›Kaiserchronik‹55 lässt sich im verbalen Dialog keine Entscheidung herbeiführen. Auch wenn sich Silvester gegen zwölf jüdische Opponenten durchzusetzen vermag, indem die einzelnen Gesprächsrunden entweder durch einen Schiedsspruch der Richter oder durch das schweigsame, kommentarlose Abtreten des jüdischen Kontrahenten beendet werden, ist eine Überzeugung der jüdischen Partei nicht zu erkennen. Es kommt in der Folge zu einer Fortführung des Gesprächs mit anderen Mitteln.
III. Performativer Akt der Wahrheitsfindung Das Geschehen wandelt sich in eine Art »Schauspiel«, an die Stelle verbaler Argumentation treten nun Handlungen: Zambri, der letzte jüdische Disputant, der sichtbare Beweise fordert, führt einen wilden Stier auf den Ge53 Zum Topos der jüdischen Lügen und dazu, dass dies nicht in die »Kontrastierung von Gut und Böse« mündet, vgl. Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 251. 54 Vgl. Milde, Christlich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 24. 55 Vgl. zu den Disputationen der Faustinianlegende Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 63: »Weder der Gottes– noch der Schicksalsbegriff waren auf der logischen Ebene zu erfassen. Die Entscheidung musste auf einer anderen Ebene fallen.« Vgl. auch Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 41ff.; sowie Graeme Dunphy, Die wîlsælde-Disputation: Zur Auseinandersetzung mit der Astrologie in der ›Kaiserchronik‹, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005), S. 1–22, bes. S. 19.
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richtsplatz, der kaum zu bändigen ist. Durch Einflüsterung des göttlichen Namens fällt das Tier vor aller Augen tot zu Boden: er rûnet im in daz ôre; | bidaz er volsprach ain wort, | der pfar viel nider tôt (V. 10049–51). Während die anwesenden Heiden und Juden dies als Zeichen des Sieges ihres Glaubens ansehen, nennt Silvester diesen Akt einen von teuflischer Magie: iz ist von dem tievel geschehen. | mit zouberlîchen listen (V. 10115f.).56 Einen wahren Gottesbeweis könne nur die Auferstehung erbringen.57 Drei Tage lang wird der Leichnam des Tieres für alle sichtbar von Hunden und Vögeln völlig zerfleddert (V. 10101ff.), bis es nach einer provozierenden Rede Zambris in einer dramatischen Szene zum Auferstehungswunder kommt. Die öffentliche Anrufung der Trinität durch Silvester bewirkt die Rückkehr der tierischen Aasfresser. Vor aller Augen werden die Knochen wieder zusammengefügt und der wiederhergestellte Stier wird sogar als noch schöner als das Original beschrieben: alse sancte Silvester daz crûce volletete, die hunde îlten sâ ze stete, grôz unde claine, die vogele algemaine; zir aller gesihte chom iz hin widere gerihte, dô samente sich daz gebaine. die juden gestuonden in nie sô laide. ûf spranch der pfar gesunt, er rescutte sich an der stunt, daz der maister Zambrî selbe jach, daz er in dâ vor nie sô scônen gesach (V. 10315–26).
Nach diesem Wunder, welches in Analogie natürlich auch auf den vorab diskutierten Wahrheitsgehalt der Auferstehung Christi bezogen werden soll, sind auch die jüdischen Disputanten überzeugt.58 Allein die heid56 Er warnt die Christen davor, auf das Blendwerk hereinzufallen: dâ mane ich iuh cristen mite, | di ir rehtes scepfâres site | niht enwizzen noch erchennen, | daz si im ze hainer nôt entrinnen. | […] pitet ir den wâren gotes sun; | er mach diz vil lîhte widertuon. | daz ende suochen wir ze sînen genâden. | die cristen sprâchen alle âmen (V. 10120–31). 57 Auf die zouberlich list (V. 2126) wird auch in der Faustinianlegende der ›Kaiserchronik‹ hingewiesen. In der Disputation zwischen Petrus und Simon soll der Unterschied zwischen Magie und Zauberei und dem christlichen Wunderwirken verdeutlicht werden. Während ein Wunder immer auch Hilfe für den Nächsten bewirkt, hat die Tötung eines Lebewesens hingegen keinen positiven Mehrzweck. So Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 58. Vgl. auch Adolf Kolping, Art. ›Wunder‹, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (1965), Sp. 1251–1263, hier Sp. 1257f.; sowie Miklautsch, Der Antijudaismus (wie Anm. 8), S. 181. 58 Vgl. Kasten, Studien (wie Anm. 9), S. 52.
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nische Königin fragt Zambri verzweifelt, ob er nicht noch mehr könne, worauf dieser empört entgegnet, dass sie doch selbst das große Wunder gesehen habe – nû hâst dû selbe wol resehen, | waz wunders hie ist gescehen (V. 10345f.). Wie solle er das übertreffen? Er fällt Silvester zu Füßen und empfängt die Taufe. Daraufhin werden die anderen zwölf Redner des ersten Tages getauft, die zwei Richter, die gesamte Heidenschaft (bis auf wenige Ausnahmen)59 und schließlich auch die Königin. Der sichtbare Wunderbeweis zeigt Wirkung. Nach den theoretischen Reflexionen zwischen Juden und Christen über das unterschiedliche Wunderverständnis kommt es nun zu dem performativ vollzogenen Wunder, in dem Gott selbst seinen Willen offenbart. Nicht selten führen in theologischen Disputationen mit Juden und Muslimen die Bedenken, den Sieg allein mithilfe der Rhetorik oder Dialektik zu erlangen, dazu, dass in den Legenden ein zusätzliches Eingreifen Gottes gefordert wird.60 Magie und Wunder gelten als eine »stärkere Stufe der Auseinandersetzung«.61 Auch mit dem Wunder befindet man sich nicht in einem irrationalen, magischen sondern weiterhin in einem logischen Beweisverfahren. Auch für Petrus Venerabilis etwa stehen die Wunder nicht im Gegensatz zum rationalen Gedankengut seiner Zeit, sondern sie liefern ganz im Gegenteil dem menschlichen Verstand einen Beweis.62 Das Wunder wird zum Medium der Erkenntnis und ist in seiner klaren, sichtbaren Aussage wie geschaffen für den Abschluss einer Glaubensdisputation, in der die göttliche Offenbarung letztlich doch über dem menschlichen Wissen steht.63 Silvester selbst reflektiert seinen Wunderbegriff mit dem Hinweis auf den alttestamentarischen Vliesversuch Gideons (Ri 6,36–40).64 Auch Gi59 Das Phänomen der Bekehrungsverweigerung trotz des gesehenen Wunders ist für die Legendentradition singulär. Vgl. Milde, Christlich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 26f. 60 Vgl. Suerbaum, Erzählte Geschichte (wie Anm. 10), S. 246, mit Hinweis auf Voss, Dialog (wie Anm. 9), S. 60ff. 61 Sie machen das besondere Wissen aus, »durch das beide Gefechte [in der Faustinianlegende] entschieden werden«. Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 54. Zudem herrschte im Frühmittelalter die Meinung vor, dass »gerade Mirakel Juden von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugen können«. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-JudaeosTexte (wie Anm. 20), S. 94. Umso schwerer wiegt der aufkommende Vorwurf, dass selbst Wunder nicht mehr zur Bekehrung führen. 62 Vgl. Milde, Christlich-jüdischer Disput (wie Anm. 19), S. 28. Vgl. auch Lorraine Daston, Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 22003, S. 32ff. 63 Vgl. Pézsa, Studien (wie Anm. 7), S. 99, mit dem Hinweis, dass in der ›Kaiserchronik‹ allein die Gegner Silvesters als weise beschrieben werden. 64 So verwundert es nicht, dass während der Disputation auch auf Gideon verwiesen wird und nicht auf die Thomasperikope (Joh 20,24–29), deren Quintessenz ja heißt ›selig sind, die nicht sehen und doch glauben‹.
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deon fordert ein sichtbares Zeichen Gottes, durch das er ihm seine Auserwähltheit offenbaren möge. Und Gott reagiert bekanntlich. In der ersten Nacht lässt er, wie von Gideon vorgeschlagen, den Tau nur das ausgebreitete Fell benetzen, während der Boden trocken bleibt. Auch in der zweiten Nacht offenbart Gott seinen Willen nach Wunsch: Nun bleibt allein das Fell trocken, während der Boden ganz von Tau bedeckt wird. Erst nach diesen beiden Zeichen erkennt Gideon seine Auserwähltheit an. Silvester verweist auf diesen göttlichen Beweisakt (V. 10004–10010). Die materielle Wirklichkeit kann offenbar Aufschluss über den göttlichen Willen geben – so auch im Stierwunder. So mündet die Disputation nach einem Medienwechsel in einen performativen Akt der Wahrheitsfindung, welcher die solutio ersetzt: Das gesprochene – nicht mehr das geschriebene – Wort zeigt Wirkung. Letztlich wirken Worte wirklich Wunder. Durch die reine Nennung des göttlichen Namens tötet der letzte jüdische Disputant vor aller Augen einen Stier. Die Anrufung des christlichen Gottes durch Papst Silvester lässt diesen wiederauferstehen. Im Namen Gottes scheint Gott selbst anwesend. Der jüdische Gottesname tötet, während ein Gebet an den christlichen Gott den Stier wiederauferstehen lässt. Es gibt keine Auslegung mehr, sondern ein direktes Wirken Gottes beziehungsweise des Teufels. In dem übernatürlichen Stierwunder wird zugleich auch die Disputationsstruktur von Rede und Gegenrede, vom Kräftemessen zweier Kontrahenten gewahrt, indem dem Teufel Gott als Dialogpartner gegenübergestellt wird.65 Es kommt zur Disputation in der Disputation. In deutlichem Unterschied wird die Disputation in actu zu einem »Monolog der Sieger« stilisiert. Silvester stellt vorab fest, dass Gott im Zweikampf mit dem Teufel noch nie verloren habe: der tievel gewan nie den gewalt: | swâ er ie mit gote vaht, | iz ennæme ie bôse ende | er wart ie der gescente (V. 10124–27). Und er wird – aus christlicher Sicht – recht behalten.
IV. Fazit Anders als in den Disputationen der Faustinianlegende der ›Kaiserchronik‹, für die Fromm konstatiert, dass Handlungen die Argumentation ersetzen, weil die Dialogkunst der fiktionalen Literatur des 12. Jahrhunderts noch nicht ausreichend entwickelt sei,66 wird in der Disputation der Silvesterlegende dem Argumentieren freierer Raum gelassen. Auch wenn die 65 Vgl. auch Nöther, Grundgedanken (wie Anm. 7), S. 254. 66 Vgl. Fromm, Disputationen (wie Anm. 1), S. 69.
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Suche, Erkenntnis und Durchsetzung der einen religiösen Wahrheit mit intellektuellen Mitteln des Wortes, der Schrift und auch (behaupteter) Augenzeugenschaft nicht zur Bekehrungsbereitschaft führt. Der zeremonielle Ablauf, die Verhaltens- und Argumentationsweise der Respondenten und der Opponenten, die szenischen Einschübe, in denen die Verstöße gegen die Regeln reflektiert werden, die Art und Weise der Widerlegungen und Beweisstrategien (Schrift, Augenzeugenschaft), die Form der Urteilsverkündung sowie die Gestik und die Emotionen der Zuschauer sind sicherlich nicht nur als Vorbereitung des szenischen Geschehens zu verstehen, in dem die Entscheidung schließlich fällt. Zunächst bestimmen neben den Handlungen immer auch die Inhalte den Verlauf der Disputation, die schließlich die finale Handlung des Wunders vorbereiten. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit reicht nicht aus, um die Disputation zu entscheiden. Obgleich die Disputation Teil einer Legende ist, die grundlegende Glaubensfragen zur Diskussion stellt und zudem in einen textuellen Zusammenhang eingebettet ist, der Gottes Wirken in der Welt – die Heilsgeschichte – zu zeigen versucht,67 ist die Disputation relativ frei von Argumenten rein göttlicher Fügung. Vielmehr ist sie immer auch diskursiver Austragungsort menschlichen Wissens. So folgt der Rede die Gegenrede, und die Richter werden um Rat angerufen. So galt es in diesem Beitrag Forschungsmeinungen zu hinterfragen, die in der Disputation allein eine Selbstbestätigung christlicher Überlegenheit sehen oder zu einseitig auf die apologetischen Tendenzen hinweisen. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Disputation auch als Teil eines umfassenderen Erzählkonzeptes anzusehen ist, welches sich mit der Frage nach der »Sichtbarkeit von Erkenntnis« auseinandersetzt. Offenbar wurde die Disputation auch zu einem stilistischen Mittel, um den (An)Schein einer rein theologischen Auseinandersetzung, vermeintlich gleichberechtigter Kontrahenten zu suggerieren. Das göttliche Wirken als gnadenhaft-göttliches Einwirken scheint in erster Linie auf das Stierwunder reduziert, welches anstelle der determinatio steht. Ein Eingreifen Gottes wird also erst nach der Disputation Silvesters mit den zwölf Gelehrten thematisiert. Jedoch wird Gott ebenfalls ein Dialogpartner gegenübergestellt: der Teufel. Also selbst in der Disputation mit Zeichen wird die Struktur von Rede und Gegenrede, vom Kräftemessen zweier Kontrahenten gewahrt. Eine innere Kohärenz des gesamten Disputationsgeschehens zeigt sich nicht zuletzt darin, dass am Anfang, in der ersten Gesprächsrunde, das Auferstehungswunder disputiert wird und
67 Vgl. Nöther, Grundgedanken (wie Anm. 7), S. 252ff.
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am Ende das vollzogene Wunder steht.68 Die gesamte Disputation ist ein Prozess des Sichtbarwerdens. Form und Inhalt stimmen überein, indem die Disputation über erzählte Wunder im Erfahrungs- und Erkenntnismedium des Wunders selbst kulminiert.
68 In der Silvesterlegende handelt es sich nicht um ein einfaches Religionsgespräch, sondern um eine »kunstgerecht aufgebaute Disputation, deren Auftreten in der mhd. Literatur einer Erklärung bedarf«. Schenkheld, Religionsgespräche (wie Anm. 7), S. 119.
Sabine Obermaier
Scherz oder Ernst? Disputatio unter Tieren Der Gegenstand meines Beitrags1, das Streitgedicht, führt in den Bereich der literarischen Rezeption der disputatio. Das Streitgedicht ist eine im mittelalterlichen Europa weitverbreitete und beliebte Erscheinung.2 Die lateinische Terminologie für die Gattung Streitgedicht (nämlich: altercatio, conflictus, dialogus oder eben auch disputatio) lässt bereits eine entsprechende Affinität zur disputatio vermuten.3 Und auch die Explikation von Christian Kiening unterstreicht diesen Zusammenhang: »Literarische Streitgespräche stellen zwei oder mehrere (typisierte) menschliche Figuren, personifizierte Objekte oder Abstrakta einander gegenüber, die um den Vorrang (der von ihnen verkörperten Prinzipien) oder um die Richtigkeit einer Aussage disputieren [!].«4 Dezidiert sagt Kiening sogar: »Wo der Streit einem strengen
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Für die Aufsatzversion wurde der Vortragsstil weitgehend beibehalten; ergänzt wurde der Text um die notwendigen Literaturangaben und diskussionswürdige Vertiefungen bzw. Problematisierungen. Ich danke Hanspeter Marti für intensive und fruchtbare Diskussionen per E-Mail im Anschluss an die Tagung. Dies dokumentiert die Anthologie Medieval Debate Poetry. Vernacular Works, Hg. und übers. von Michel-André Bossy, New York / London 1987. Zu den Termini siehe Hans Walther, Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters, München 1920, ND Hildesheim / Zürich / New York 1984, S. 3. Eine Übersicht über die Terminologie in den europäischen Literaturen gibt Gustav Bebermeyer, Art. ›Streitgedicht/Streitgespräch‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 4 (²1984), Sp. 228–242, hier Sp. 228a/b. Christian Kiening, Art. ›Streitgespräch‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), Sp. 525b–528b, hier Sp. 526a. Vgl. die Defintion von Walther, Streitgedicht (wie Anm. 3), S. 3: »Ich nenne hier Streitgedichte im eigentlichen Sinne Gedichte, in denen zwei oder selten mehrere Personen, personifizierte Gegenstände oder Abstraktionen zu irgend einem Zweck Streitreden führen, sei es um den eigenen Vorzug darzutun und die Eigenschaften des Gegners herabzusetzen oder um eine aufgeworfene Frage zu entscheiden.« Günther Bernt, Art. ›Streitgedicht. II. Mittellateinische Literatur‹, in: Lexikon des Mittelalters 8 (2000), Sp. 235f., betont darüber hinaus, dass der Streit oft in eine kleine Erzählung eingebettet erscheint, wobei der Schluss auch eine Entscheidung, eventuell durch einen Schiedsrichter, bringen kann.
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Verlaufsprinzip folgt, kann die Grenze zur förmlichen Disputatio fließend werden.«5 Uns interessieren hier – obgleich sie nur einen Seitenzweig der Gattung darstellen – die Formen des Streitgedichts, bei denen die Streitpartner Tiere sind oder wenigstens einer der beiden Streitpartner ein Tier ist. Sind solche animalischen Wortgefechte also vielleicht Scherzdisputationen? Ich nähere mich einer Antwort in mehreren Schritten an. Die Forschung siedelt die streitenden Tiere gewöhnlich auf derselben Ebene an wie Sommer und Winter, Wasser und Wein oder Körper und Geist, versteht die Tiere also als Personifikationen und ordnet sie im Eifer des Gefechts sogar den ›leblosen Objekten‹6 zu. Ein erstes Ziel dieses Beitrags ist es jedoch zu zeigen, dass es hier zu differenzieren gilt. Disputierende Tiere sind vor allem auch deshalb ein besonderes Phänomen, weil die disputatio als das ›Leitmedium universitärer Wissenskultur‹ ein rationales Vorgehen impliziert, die ratio aber als Leitdifferenz bei der Konstruktion des Menschenbildes verwendet wird, jedoch die Frage nach der Vernunft oder Unvernunft der Tiere sogar im Mittelalter nicht als restlos entschieden gelten kann, während dies bei den leblosen Objekten unstrittig ist. In der Frage nach dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch ist das Mittelalter Erbe zweier antiker Denktraditionen: Der stoischen Position, die von der völligen Differenz zwischen Mensch und Tier ausgeht, steht die neuplatonische Position entgegen, der es ihre vom Emanationsprinzip ausgehende Weltsicht nicht erlaubt, eine scharfe Trennlinie zwischen Tier und Mensch zu ziehen.7 Zwar ist in der aristotelischen, bereits von Augustinus an das Mittelalter vermittelten Lehre von den drei Seelenkräften die ratio diejenige, durch die sich der Mensch vom Tier maßgeblich unterscheidet. Doch auch schon in seiner ›Zoologie‹, die dem Mittelalter über Avicenna vor allem durch Michael Scotus vermittelt wird, wendet Aristoteles selbst die Bezeichnung »Intelligenz (phronesis)« auf tierische Verhaltensweisen an.8 Heftig diskutiert wird daher im Mittelalter das Beispiel des Schafes, das vor dem Wolf auch dann flieht, wenn es zuvor noch keinen Wolf ge5 6
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Kiening, Streitgespräch (wie Anm. 4), Sp. 562a. Walther, Streitgedicht (wie Anm. 3), S. 55, ordnet z. B. den ›Conflictus ovis et lini‹ als »Streit personifizierter Gegenstände [!]« ein. Vgl. auch die »personifizierte[n] Objekte« in der oben zitierten Definition von Kiening, Streitgespräch (wie Anm. 4). Maureen A. Tilley, Martyrs, Monks, Insects, and Animals, in: Joyce E. Salisbury (Hg.), The Medieval World of Nature, New York / London 1993, S. 93–107, hier S. 96–98. Dies und das Folgende nach Peter G. Sobol, The Shadow of Reason: Explanations of Intelligent Animal Behaviour in the Thirteenth Century, in: The Medieval World of Nature (wie Anm. 7), S. 109–128.
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sehen hat. Im Anschluss an Avicenna (973/80–1037) wird dem Schaf ein sechster Sinn, vis estimativa (Urteilskraft) genannt, zuerkannt, mit dem das Schaf in die Lage versetzt wird, die intentio, die Absicht, des Wolfes wahrzunehmen. Auch wenn dieser estimativa genannte Sinn nach Roger Bacon (um 1219 bis um 1292) in der Lage ist, Substanz (und nicht nur Akzidentien) wahrzunehmen, beharrt Bacon darauf, dass der Mensch das einzige vernunftbegabte Geschöpf sei. Albertus Magnus (um 1200–1280) dagegen siedelt die Tiere – je nach ihrer Fähigkeit zu lernen – auf einer Skala an, deren Endpunkte als ›Schatten der Vernunft‹ beziehungsweise ›Licht der Vernunft‹ bezeichnet sind; der oberste Platz gehört aber auch hier dem Menschen. Thomas von Aquin (1224/25–1274), ein Schüler des Albertus Magnus, wird den Unterschied zwischen Tier und Mensch wieder vergrößern. Auch er gesteht zu, dass das Schaf vor dem Wolf nicht flieht aufgrund wahrnehmbarer Eigenschaften. Aber er hält die instinktive Reaktion des Schafes für ebenso unvermeidlich wie die Aufwärtsbewegung des Feuers, nur dass das Schaf weiß, was es tut. Menschen urteilen ebenfalls über das, was sie wahrnehmen, aber aufgrund ihrer Vernunft haben die Menschen die Freiheit, ihre Reaktion darauf zu wählen. Es ist also bei Thomas von Aquin der in der Vernunft angesiedelte freie Wille, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, den Tierstreitgedichten im Kontext eines disputatio-Bandes besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ich werde mich dabei auf ganz einschlägige Beispiele beschränken: ›Conflictus ovis et lini‹ (11. Jh.);9 ›Versus de pulice et musca‹ (12. Jh.) von Wilhelm von Blois;10 ›Altercatio aranee et musce‹ (12. Jh.) von Matthäus von Vendôme beziehungsweise (wahrscheinlicher) einem Schüler oder Imitator von ihm;11 ›The Owl and the Nightingale‹ (1. Hälfte 13. Jh.);12 9
Textausgabe: Moriz Haupt, Hermanni Contracti Conflictus ovis et lini, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 11 (1859), S. 215–238. Zunächst wurde das Gedicht Hermannus Contractus von Reichenau zugeschrieben, dann Wirich von Trier (so noch bei Franz Brunhölzl, Geschichte der lateinischen Literatur im Mittelalter, Bd. 2, München 1992, S. 459f.), was inzwischen umstritten ist. 10 Textausgabe: Antonio Scolari, »Versus de pulice et musca« di Guglielmo di Blois, in: Studi Medievali, 3. Serie, 26 (1985), S. 373–404, hier S. 393–404. 11 Textausgabe: J[ohn] H[enry] Mozley, Some unprinted fragments of Matthew of Vendôme (?): A Description of the Bodleian MS Misc. Lat. D 15, in: Studi Medievali, 2. Serie, 6 (1933), S. 208–230, hier S. 232–234. 12 Textausgabe: The Owl and the Nightingale, hg. Eric Gerald Stanley, Manchester 21972; The Owl and the Nightingale / Die Eule und die Nachtigall. Mittelenglisch / Deutsch, hg. und übers. Hans Sauer, Stuttgart 1983. Es bleibt umstritten, ob der im Text genannte Nicholas
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›Lilienfelder Vogelparlament‹ (Mitte 14. Jh.) von Ulrich von Lilienfeld (1345–1351);13 ›Henne und Fisch‹ (Ende 15. Jh.?).14
I. Disputatio und Streitgedicht – Parallelen und Unterschiede In der Forschung geht man gemeinhin davon aus, dass das Streitgedicht in der Regel von »scholastisch geschulten Leute[n]«15 verfasst wurde, dass also das Streitgedicht in der »Tradition der theologisch-wissenschaftlichen Disputation« steht16 beziehungsweise »mit der Ausbildung der schulmäßigen scholast[ischen] Disputationstechnik (quaestio de quolibet) und den logisch-dialekt[ischen] Methoden zur Erkenntnisgewinnung sowie mit der Rhetorik (Gerichtsrede)« in Zusammenhang steht17 oder dass zumindest ein Einfluss der »Dialogliteratur, die mit dem wissenschaftlichen Unterricht im Mittelalter zusammenhängt«, geltend gemacht werden kann.18 aus Guildford in Surrey als der Autor gelten kann (siehe Sauer, S. 141f.). 13 Textausgabe: Nikolaus Henkel, Lehre in Bild und Text. Der ›Rat der Vögel‹ des Ulrich von Lilienfeld, in: Gerhard Hahn / Ernst Weber (Hg.), Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag, Regensburg 1994, S. 160–170, hier S. 167–170. 14 Textausgabe: Erzählungen aus altdeutschen Handschriften, hg. Adelbert von Keller, Stuttgart 1855, S. 570f. 15 Walther, Streitgedicht (wie Anm. 3), S. 22f. Für Walther ist aber die scholastische disputatio oder überhaupt der »Einfluß der Rhetoren- und Klosterschulen des Mittelalters« (ebd., Kap. I.2) nur ein Einflussfaktor neben anderen. Jan Ziolkowski, Talking Animals. Medieval Latin Beast Poetry 750–1150, Philadelphia 1993, Kap. 5, hier S. 132-135, rückt »beast debate poems« und »beast flytings« näher zusammen und vermutet als Verfasser »boys in monastic schools« (ebd., S. 151). 16 Ulrich Müller, Art. ›Streitgedicht. I. Allgemein‹, in: Lexikon des Mittelalters 8 (2000), Sp. 235; siehe auch: Ingrid Kasten, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Diss. Hamburg 1973, Kap. I.2, bes. S. 20: »Es ist schwerlich als Zufall zu bezeichnen, daß mit dem Aufblühen des Disputationswesens im 12. und 13. Jahrhundert auch die ersten Streitgedichte in den volkssprachlichen Literaturen auftreten. [...] Jedenfalls ist es durchaus denkbar, daß etwaige Beziehungen zwischen der disputatio und der literarischen Gattung des Streitsgesprächs bestehen.« So auch Kiening, Streitgespräch (wie Anm. 4), Sp. 526b: »Die mittelalterliche Konfliktliteratur entwickelt sich parallel zur scholastischen Disputation [...].« 17 Dietrich Briesemeister, Art. ›Streitgedicht. III. Romanische Literaturen‹, in: Lexikon des Mittelalters 8 (2000), Sp. 236; für U[we] Böker, Art. ›Streitgedicht. V. Englische Literatur‹, in: Lexikon des Mittelalters 8 (2000), Sp. 239, bilden Gerichtsverhandlung und Schuldisputation das Muster für die mittelenglischen Vogeldebatten. 18 Walther, Streitgedicht (wie Anm. 3), S. 20. Bebermeyer, Streitgedicht (wie Anm. 3), Sp. 233a: »Aus Scholastik und Rechtsleben schöpft die im 12. Jh. entstehende Liebeskasuistik.« Für die Tierstreitgedichte muss daneben auch die Tradition der Fabel in Anschlag
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Die vorsichtigeren Formulierungen scheinen ein grundsätzliches chronologisches Problem im Blick zu haben: Die ältesten Vertreter des lateinischen (Tier-)Streitgedichts (11. Jh.) gehen zeitlich der Entwicklung der disputatio als scholastischer Universitätslehr- und -lernmethode (ab 1200) voran.19 Schon Martin Grabmann weist jedoch darauf hin, dass die ars disputandi bereits in der Patristik und in der Vorscholastik begegnet20 und dass es »äußere Zeugnisse« gibt, »welche die Abhaltung von Disputationen in den Zeiten der Vorscholastik verbürgen.«21 Daraus schließt Grabmann, »daß man in den Schulen der Dialektik schon vor dem 12. Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts Übungen vornahm, welche mindestens die elementaren Formen und die Anfänge der späteren scholastischen Disputationsmethode darstellen.«22 In diesem Sinne unterscheidet auch Olga Weijers eine »dialectical disputation«, die älter als 1200 ist und ihren Ort als Lehrmethode in der Schule hat, von einer »scholastic disputation«, die als Lehr- und Forschungsmethode in die Universität gehört.23 Es ist also nicht in allen Fällen von einem Einfluss der universitären disputatio auszugehen, wie sie im Mittelpunkt dieses Bandes steht.24 Problematisch gestaltet sich auch der Nachweis, dass die Autoren unserer Tierstreitgedichte »scholastisch geschult« waren. Denn wir wissen über
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gebracht werden (was uns hier aber nur am Rande interessieren soll): Walther, Streitgedicht (wie Anm. 3), S. 13f., führt dafür reiches Material aus dem ›Dialogus creaturarum‹ an. Ziolkowsi, Animals (wie Anm. 15), S. 134, macht den Einfluss folkloristischer Traditionen geltend. Zu Beginn des 13. Jhs. wird nach Bernardo C. Bazán, Les questions disputées, principalement dans les facultés de théologie, in: Bernardo C. Bazán / John F. Wippel / Gérard Fransen / Danielle Jacquart, Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médicine, Turnhout 1985, S. 13–149, hier S. 40, die disputatio zu einer universitären Lehr- und Forschungsmethode. Auch für Olga Weijers, La ›disputatio‹ à la Faculté des arts de Paris (1200–1350 environ). Esquisse d’une typologie, Turnhout 1995, bildet das Jahr 1200 den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung. Allerdings bezeichnet Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode. Nach den gedruckten und ungedruckten Quellen dargestellt, Bd. 2, Freiburg 1911, S. 13, die disputatio neben der lectio als eine der »beiden Hauptfunktionen des gelehrten Unterrichts im 12. Jahrhundert [!]«. Grabmann, Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 16. Grabmann, Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 17. Grabmann, Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 17. Weijers, in ihrem Beitrag in diesem Band. Die begriffliche Unterscheidung – da stimme ich der in der Diskussion geäußerten Kritik von Hanspeter Marti zu – scheint nicht ganz glücklich gewählt, da sich auch die ›scholastische‹ Disputation auf die Dialektik, insbesondere die Topik des Aristoteles, stützt. Für das spätere ›The Owl and the Nightingale‹ verweist Sauer, Owl (wie Anm. 12), S. 145, im Einklang mit der Forschung – neben einer Anlehnung an weltliches oder gar kirchliches Gerichtsverfahren – auf einen Einfluss der Schuldisputation.
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sie (soweit wir sie überhaupt kennen) nur sehr wenig: Bei Autoren wie Wilhelm von Blois, dem auch eine kirchliche Laufbahn beschieden war,25 sowie bei Matthäus von Vendôme (beziehungsweise seinem Umkreis), der im Umfeld des Erzbischofs von Tours, einem frühen Zentrum der Scholastik, zu finden ist und für den ein Studium der artes liberales und der Dichtkunst wahrscheinlich ist – ist die Annahme scholastischer Bildung wahrscheinlich. Auch bei Ulrich von Lilienfeld, der von 1345 bis 1351 Abt des Zisterzienserklosters Lilienfeld war, dürfte scholastische Bildung nicht auszuschließen sein. Solange man aber keine außerliterarischen Zeugnisse über die Ausbildung der Autoren hat, bleibt es ein Zirkelschluss, von den Parallelen des Streitgedichts mit der akademischen oder zumindest schulischen disputatio auf eine scholastische Bildung zurückzuschließen, um damit den Einfluss der disputatio auf das Streitgedicht zu begründen. Eingedenk dieser Vorüberlegungen möchte ich nun im Folgenden an einigen Beispielen überprüfen, inwieweit das Tierstreitgedicht einer scholastischen disputatio zu entsprechen vermag und worin es sich von dieser unterscheidet. 1. Die Streitfrage Gemeinsam hat das Streitgedicht mit der disputatio, dass sich der Text um eine Streitfrage dreht, eine Streitfrage, die sich sogar in die schulmäßige Formulierung utrum X sit Y (vel non) oder Vergleichbares bringen ließe. Im Unterschied zur disputatio geht es bei den Streitgedichten allerdings in der Regel um eine Frage nach dem Vorrang (meist um die Frage nach dem Vorrang des einen Disputanten vor dem anderen): Wir haben es also in der Regel mit einem Rangstreit zu tun. In dem lateinischen Streitgedicht ›Versus de pulice et musca‹ von Wilhelm von Blois und in der Matthäus von Vendôme oder einem seiner Schüler oder seiner Imitatoren zugeschriebenen ›Altercatio aranee et musce‹ (beide 12. Jh.) streiten jeweils Floh und Fliege beziehungsweise Spinne und Fliege um ihren Vorrang vor dem jeweils anderen Insekt. In dem sehr viel älteren ›Conflictus ovis et lini‹ (11. Jh.) geht es um die Frage, wer dem Menschen mehr nütze, das Schaf mit seiner Wolle, seiner Milch und seinem Fleisch oder der Flachs mit seinem Leinen. Ähnlich geht es im mittelhochdeutschen Streitgedicht von ›Henne und Fisch‹ um die Frage, wem das üblere Schicksal bestimmt sei. Im mittelenglischen ›The Owl and the Nightingale‹ streiten Eule und 25 Diese kirchliche Laufbahn findet Erwähnung in einem Brief seines Bruders Petrus von Blois (ep. 93, MPL 207, 292, datiert auf 1170).
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Nachtigall vor allem darüber, wer besser singe (was sich mit weiteren Fragen verknüpft). In den mittelhochdeutschen Vogelparlamenten gestaltet sich die Frage anders: Hier geht es um das Gegeneinander von guten und schlechten Ratschlägen, nur indirekt geht es darum, wer den besseren Rat erteilt. Die mittelniederdeutschen Vogelsprachen haben keine Streitform; wir können sie daher für unser Thema außer Acht lassen. Mit der Akzentuierung der Frage nach dem Vorrang unterscheiden sich die Streitgedichte deutlich von der wissenschaftlichen Ausrichtung der Streitfragen, wie sie im Rahmen der disputatio ordinaria verhandelt werden, aber auch von den bei Glorieux aufgeführten Fragen aus dem Bereich der disputatio de quolibet.26 2. Die Disputanten Auch im Streitgedicht stehen sich – ähnlich wie in der disputatio – in der Regel zwei gegnerische Redner gegenüber. Die Streitenden erfüllen dabei die Rollen von opponens und respondens. Die ›Altercatio aranee et musce‹ bezeichnet die Antwort der Fliege auf die Rede der Spinne explizit als responsio; d. h., die Spinne repräsentiert den Part des opponens, die Fliege den des respondens. Auf diese Weise lässt sich vielleicht auch für die ›Versus de pulice et musca‹ die zuerst sprechende Fliege mit dem opponens, der die Argumente der Fliege zurückweisende Floh dagegen mit dem respondens identifizieren. Wo das Streitgedicht als steter Wechsel von Rede und Gegenrede gestaltet ist, wie im ›Conflictus ovis et lini‹, im mittelenglischen ›The Owl and the Nightingale‹ und im mittelhochdeutschen ›Henne und Fisch‹, lassen sich die Rollen nicht so eindeutig zuordnen. In ›The Owl and the Nightingale‹ weist die Eule sogar an einer Stelle explizit auf einen Rollenwechsel hin: Habe bisher die Nachtigall angeklagt und die Eule geantwortet, so werde jetzt die Eule ihre Anklage vorbringen und die Nachtigall könne antworten (O&N, 549–555). Im ›Lilienfelder Vogelparlament‹ haben wir es zwar mit einer Vielzahl an Disputanten zu tun, aber die Redner sind paarweise aufeinander bezogen: Gibt der eine Vogel einen guten Rat, so der nächste einen schlechten. Mit sehr viel Wohlwollen könnte man also auch hier von einem Gegenüber von respondens und opponens sprechen, wenn auch nicht in der sonst üblichen Reihenfolge. Der Dialogcharakter wird hier in den Handschriften 26 Palémon Glorieux, La littérature quodlibétique de 1260 à 1320. Bd. 1, Kain 1925. Bd. 2, Paris 1935.
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sogar bildlich dargestellt: Abwechselnd sehen wir einen Vogel mit schlagenden Flügeln, den anderen in Ruhestellung. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Streitgedichten und der schulmäßigen disputatio besteht darin, dass die Disputanten gleichzeitig das Thema des Streitgesprächs bilden. Die Streitgedichte greifen damit auf das rhetorische Mittel der sermocinatio zurück: Der Streitgegenstand spricht selbst. Es gibt allerdings auch Texte, in denen sich die Tiere über andere Themen streiten (z. B. in den mittelenglischen Vogeldebatten sowie in den mittelhochdeutschen Vogelparlamenten).27 Wie in den scholastischen disputationes ist auch in den Streitgedichten oft eine dritte Partei vorgesehen, die den Streit entscheidet (auch wenn hier das abschließende Urteil, das der determinatio beziehungsweise der solutio entspricht, nicht immer narrativ oder dialogisch ausgestaltet wird). Ein explizites iudicium finden wir in der ›Altercatio aranee et musce‹ sowie im ›Lilienfelder Vogelparlament‹, in dem der Eisvogel ein abschließendes, wenn auch ein – angesichts der einander widersprechenden Ratschläge – etwas resigniertes Urteil fällt: Durch die lange, zu nichts führende Debatte entstehe die Gefahr, dass das Reich vernachlässigt werde. Man müsse sich also der Fortuna anvertrauen, wolle man lang in Ansehen stehen. In einigen Texten bleibt es bei dem Wunsch nach einem Richter, der ein abschließendes Urteil spricht: Im ›Conflictus ovis et lini‹ können sich Schaf und Flachs gerade noch über die Wahl des Richters einigen, aber ein explizites Urteil fehlt. Doch auch in ›The Owl and the Nightingale‹ wird uns das Urteil vorenthalten, der Text endet damit, dass sich die beiden Vögel auf den Weg zu Master Nicholas of Portesham machen, den sie in rascher Einigung zu ihrem Richter bestimmt haben. Am Ende der ›Versus de pulice et musca‹ äußert der Floh die Gewissheit, dass ihn die Spinne an der Fliege rächen werde – eine Gewissheit, die vom Erzähler geteilt wird. In ›Henne und Fisch‹ kommt es dann in der Tat dazu, dass der determinator beziehungsweise die determinatores (hier: Otter und Fuchs) den Streit damit entscheiden, dass die beiden Disputanten gefressen werden.
27 In ›The Thrush and the Nightingale‹ streiten Drossel und Nachtigall über den Wert von Frauen, ähnlich geht es in ›The Clerk and the Nightingale‹ und in ›The Cuckoo and the Nightingale‹ um die Natur der Liebe. In ›The Merle and Nightingale‹ streiten Amsel und Nachtigall über Wert und Unwert von zwischenmenschlicher und göttlicher Liebe. Gut zugänglich sind diese mittelenglischen Vogeldebatten über die Anthologie von John W. Conlee (Hg.), Middle English Debate Poetry. A Critical Anthology, East Lansing 1991, Kap. IV: Bird debates.
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3. Textaufbau und Argumentationsmethode Die Forschungen von Bernardo C. Bazàn,28 John W. Wippel29 und Olga Weijers30 führen uns eine Vielfalt von disputatio-Formen vor Augen, sodass es für unseren Vergleich zwischen Streitgedicht und disputatio nicht ganz einfach wird, die richtige Bezugsgröße zu finden. Dennoch lassen sich bestimmte gattungskonstitutive Grundelemente ausmachen; dazu gehören: die Zweiteilung in die eigentliche disputatio und die determinatio (beziehungsweise solutio),31 die eben beschriebene Verteilung der Rollen sowie die dialektische Methode des Sic et non. Eine ganz einfache Struktur (und diese wird uns genügen) gestaltet sich nach Bazàn wie folgt:32 Zunächst wird die Frage gestellt und dann werden Pro- und Contra-Argumente für die These genannt. Es kommt zu einer ersten Intervention des respondens, der eine vorläufige Lösung anbietet und auf die ersten Argumente antwortet. Danach erhebt der opponens Einwände gegen diese Lösung, um die Schwächen der Antwort des respondens aufzuzeigen. Eine zweite und dritte Runde dieser Art kann folgen, muss aber – wie ich Beispielen bei Weijers entnehmen kann – wohl nicht; daneben gibt es auch weitaus komplexere disputatio-Strukturen (bedingt durch die Vielzahl der behandelten Probleme beziehungsweise der Vielzahl 28 Bazàn, Questions (wie Anm. 19), S. 63: »La première chose qui frappe c’est la diversité de formes.« 29 John F. Wippel, Quodlibetal questions, chiefly in theology faculties, in: Les questions disputées (wie Anm. 19), S. 151–222. 30 Weijers, Disputatio, 1995 (wie Anm. 19), S. 48, betont das in den Statuten der Artistenfakultät erwähnte Spektrum an disputationes, wobei darüber nicht mehr als eine Außensicht auf eine »réalité complexe« ermöglicht werde (ebd., S. 50). Dem Formenreichtum entspricht ein Funktionsreichtum: siehe dies., La ›disputatio‹ dans les Facultés des arts au moyen âge, Turnhout 2002, bes. S. 15. 31 Bazàn, Questions (wie Anm. 19), S. 59. 32 Das Folgende nach Bazàn, Questions (wie Anm. 19), S. 64f. Vgl. William J. Hoye, Die mittelalterliche Methode der Quaestio, in: Norbert Herold / Bodo Kensmann / Sibille Mischer (Hg.), Philosophie: Studium, Text und Argument, Münster 1997, S. 155–178, hier S. 165f. Siehe auch Wippel, Questions (wie Anm. 29), S. 163: »In Quodlibets as in other Disputed Questions one finds the general scholastic format of question, opening arguments for one side and then one or more arguments for the other, a definitive response, and finally individual replies to the original opposing arguments.« Ähnlich auch Weijers, Disputatio, 1995 (wie Anm. 19), S. 63 [bezogen auf die questions indépendantes im Bereich der Dialektik]: »C’est le schéma habituel: après la question, prise de position (à l’encontre de la solution évidente) et arguments en sa défense (deux arguments qui se composent chacun de deux parties); arguments pour la thèse contraire (deux aussi); solution et réfutation des arguments opposés.« Doch sind die detaillierten Beschreibungen von disputatio-Verläufen bei Weijers, Disputatio, 1995 (wie Anm. 19) und 2002 (wie Anm. 30) eher dazu geeignet, den Variantenreichtum vor Augen zu führen als eine Grundstruktur zu bestätigen.
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der beteiligten Disputanten). Gelegentlich kann die Disputation auch sehr heftig werden, mit raschen Interventionen und unmittelbaren Zurückweisungen. Für die determinatio dagegen sind drei Elemente konstitutiv: das Zusammenfassen der in der disputatio geäußerten Argumente, das Begründen der eigenen Lösung sowie das Zurückweisen der Gegenargumente (wobei die Gestaltung der einzelnen Teile wiederum recht verschieden sein kann).33 Die bisher genannten Tierstreitgedichte entsprechen in unterschiedlichem Maße dem hier beschriebenen einfachen Grundmodell. Relativ eng schließen sich die ›Versus de pulice et musca‹ daran an.34 Der narrative Eingang der ›Versus de pulice et musca‹ macht uns mit der Streitfrage bekannt – disputatio-gerecht umformuliert lautet diese: ob Floh oder Fliege zu Recht der Vorrang vor dem jeweils anderen Insekt gebührt: Exambit pulici preferri musca; vicissim | Est accensa pulex ambitione pari (V. 13 f.; ›Eine Fliege setzt sich zum Ziel, gegenüber dem Floh bevorzugt zu werden; der Floh ist im Gegenzug von gleichem Ehrgeiz entflammt‹). Der Erzähler ergreift dennoch bereits hier explizit Partei gegen die Fliege (gibt also eine Art vorläufige Lösung), weil sie – klein von Statur – große Rede führen will (strenggenommen trifft dies aber auch auf den Floh zu). Die Fliege beginnt, indem sie verschiedene Argumente für ihren Vorzug aufführt, womit der Vorrang des Flohs bestritten werden soll (= obiectio). Sie tut dies in drei Schritten: Sie weist erstens den Anspruch des Flohs zurück: Der Floh könne ihr allenfalls dienen und wäre darin den Königen gleichrangig. Denn die Fliege beansprucht, Herrin (domina) der Könige zu sein. Sie begründet dies mit folgenden Argumenten: a) Der König trinkt, was sie zuerst probiert; b) der König isst, was sie übrig lässt; c) der Gruß an den König gilt eigentlich ihr, die auf dem Haupt des Königs sitzt. Sie begründet zweitens ihre eigene Macht aus ihren Fähigkeiten. Dafür führt die Fliege ebenfalls drei Argumente an: a) ihre alles terrorisierende Wut; b) ihre Fähigkeit, in den Magen des Menschen zu fliegen und diesen (offenbar mit reicher Beute) wieder zu verlassen; c) ihre Freiheit, andere zu verletzen, ohne selbst verletzt zu werden. Drittens begründet sie ihre Macht auch aus dem Umgang ihrer Gegner mit ihr. Auch dafür bringt die Fliege drei Argumente vor: a) Ihre Resistenz gegen menschliche Waffen bringt eine neue, eigens 33 Bazàn, Questions (wie Anm. 19), S. 66f. 34 Allerdings steht das Gedicht noch in weiteren literarischen Traditionszusammenhängen (z. B. der antiken Flohliteratur und der Fabel), wie Ziolkowski, Animals (wie Anm. 15), S. 139f., zeigt. Bereits Walther, Streitgedicht (wie Anm. 3), S. 14, Anm. 1, sieht Wilhelms Gedicht in der Nachfolge der Fabel von formica und musca; Walther zeigt auch, wie verbreitet das Motiv des Streits in der Fabel war (ebd., S. 14–16).
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für sie entwickelte menschliche Leistung hervor: die machina muscalis, die Fliegenklatsche. b) Die Schädlichkeit der Fliegenklatsche werde aufgewogen durch deren Nützlichkeit: Indem die Fliege daran gehindert werde, Nahrung aufzunehmen, entgehe sie aber auch der Gefahr, vom Menschen verschluckt zu werden (wobei der Schlund des Menschen mit Scylla und Charybdis verglichen wird). c) So werde aus ihrem Feind, dem Menschen, ein Freund, gerade weil er grausamer zu ihr ist als irgendein Feind. Der Mensch sei also Diener ihres Wohlseins. An dieser Stelle besinnt sich die Fliege und gibt zu bedenken, dass ihre Debatte mit dem Floh ihren Gegner über Gebühr aufwertet. Der Floh dagegen, aus der sicheren Position an der Brust eines Mädchens argumentierend, hebt zur explizit kurzen Antwort auf die lange Rede seiner Kontrahentin an: Er weist zunächst die ersten Gegenargumente seinerseits zurück: a) Die Fliege teile zwar die Speise mit dem König, aber die Königstochter teile ihr Bett mit ihm – selbst Gott Jupiter würde ihn um seinen Platz in der Schamgegend beneiden (refutatio von 1b). b) Die Fliege koste zwar die Speisen des Königs vor, aber er die verbotenen Freuden des Jupiter – noch vor Jupiter (refutatio von 1a) ! Dann begründet er seinen eigenen Vorrang: a) Der Floh wurde von Jupiter anstelle Ganymeds berührt. b) Der Floh kennt die geheimen Plätze, die Faunus und Priapus an der Nymphe Lotis gesucht haben. Schließlich weist er den Anspruch zurück: a) Die Fliege schätze abgelegtes Fleisch und schmutzige Kadaver, er aber die größten Schätze und Vergnügungen. b) Die Fliege hasse alles, was ohne Schaden ist, und eine Eiterbeule sei ihr Geburtsort (Topos/Locus der Abstammung). Daher ist sich der Floh abschließend sicher, dass die Spinne ihn an der Fliege rächen und sich die Fliege dann ihres wahren Wertes bewusst werde. Und der Erzähler will, weil dieses elende Ende über der Fliege schwebt, nichts weiter sagen, um nicht als Lümmel zu gelten. In ähnlicher Weise funktioniert die ›Altercatio aranee et musce‹, von der uns allerdings nur ein Teil des Angriffs der Spinne auf die Fliege und die Antwort der Fliege überliefert sind.35 Hier bezieht sich das abschließende Urteil überraschenderweise nicht auf die inhaltliche Seite der Argumente, sondern auf die rhetorischen und stilistischen Fähigkeiten der Disputanten. Einen rascheren Austausch der Argumente und Gegenargumente finden wir dagegen im ›Conflictus ovis et lini‹ sowie in den mittelenglischen 35 Zur weiteren literarischen Tradition siehe Ziolkowski, Animals (wie Anm. 15), S. 140f. Doch auch Ziolkowski, S. 141, bemerkt: »The flavor of the medieval Latin spider-and-fly poem is remarkably scholastic.«
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Vogeldebatten. Argument und Gegenargument werden hier (bisweilen umschlungen von einer Erzählung) unmittelbar einander entgegengesetzt. Was aber Gelehrte gerade im Falle von ›The Owl and the Nightingale‹ vor allem an die scholastische disputatio (aber auch an die Gerichtsrede) erinnert, ist der Einsatz von Beispielen und Sprichwörtern.36 In den mittelhochdeutschen Vogelparlamenten folgen Rat und Gegen-Rat ebenfalls unmittelbar aufeinander, nur dass es hier mehr als zwei Disputanten sind und es um direkte Lehre, nicht um den Austausch von Argumenten geht. Im Unterschied zu den disputationes, die oft mit einer solutio oder determinatio enden, fehlt in den Tierstreitgedichten bisweilen eine explizite Entscheidung; in einigen Fällen wird das Urteil dem Leser, der Leserin überlassen. Soviel können wir jetzt schon sehen: Das Tierstreitgedicht steht zur akademischen disputatio im Verhältnis eines Mehr und Weniger: Es ist ein Weniger als disputatio, weil es nicht so streng wissenschaftlich und formallogisch durchstrukturiert ist, wie dies bei der disputatio der Fall ist, und weil es oft auf eine explizite determinatio verzichtet; es ist ein Mehr als disputatio, weil es der rhetorischen und poetischen Ausgestaltung größere Aufmerksamkeit schenkt: Die Frage nach dem Vorrang wird in der Regel eingebettet in ein narratives Geschehen,37 und die Fragestellung selbst begünstigt anstelle von ausgefeilten syllogistischen Schlüssen Redeformen, die in das rhetorische Feld von laus und vituperatio (von Lob und Tadel) gehören.38 Insofern verortet sich das Tierstreitgedicht eher im Bereich der Rhetorik als im Bereich der Dialektik, was auch das auf die Rhetorik der beteiligten Disputanten abhebende iudicium der ›Altercatio aranee et musce‹ bestätigt. Generell muss bedacht werden, dass es sich bei den genannten Parallelen um sehr allgemeine Merkmale der disputatio handelt, dass die Gemeinsamkeiten nur oberflächlich bestehen. Denn es geht primär um Merkmale, die auch für andere Formen des Dialogs beziehungsweise Gesprächs geltend gemacht werden könnten. Es ist denkbar, und dies wäre einer eigenen Untersuchung wert, dass sich die Übereinstimmungen zwi36 Stanley, Owl (wie Anm. 12), S. 33: »The giving of instances, which, of course, has a special place at law in the adduction of precedents, is a feature of formal scholastic disputation in general.« und ebd., S. 34: »Similar use of proverbial truths is made in all scholastic disputation, as well in pleading in a court of law.« 37 Kasten, Studien (wie Anm. 16), Kap. III.1 »Epische Inszenierung«. 38 Vgl. Kasten, Studien (wie Anm. 16), Kap. III.3.2. Eine besondere Herausforderung, eine besondere Form von Rhetorikübung stellt es dar, wenn nicht zu lobende Sujets gelobt werden müssen; und solche Übungen müssen Praxis gewesen sein, davon geht Ziolkowski, Animals (wie Anm. 15), S. 141, aus.
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schen Streitgedicht und disputatio nicht dem Einfluss der disputatio auf das Streitgedicht verdanken, sondern durch eine Parallelität in den Traditionszusammenhängen zu erklären sind. Ob dies dann auch für die expliziten terminologischen Anleihen des Streitgedichts bei der disputatio gilt, bliebe zu überprüfen.
II. Das Tier als Disputant – Scherz oder Ernst? Die Kernfrage für uns jedoch ist: Wie ernst sind die Tierstreitgedichte überhaupt zu nehmen? Auf uns heute wirkt es komisch, wenn Tiere, insbesondere sehr kleine, geringwertige Tiere (wie die Insekten) oder als besonders dumm geltende Tiere (wie das Schaf oder die Henne), auf hohem rhetorischen und dialektischen Niveau über Fragen diskutieren, die keinerlei oder wenig Relevanz zu besitzen scheinen. Es sind die Diskrepanzen zwischen Vernunft und Unvernunft, die uns angesichts einer vernünftigen Argumentation, bezogen auf ein unvernünftiges Thema, vorgebracht von einem eher als vernunftlos geltenden Lebewesen, zum Lachen (oder zumindest zum Schmunzeln) bringen. Bei Tieren wirkt dies besonders komisch, da man ihnen, insofern sie Lebewesen sind, die Argumentation in der Tat ›ins Maul‹ legen kann, während man den leblosen Objekten und den Abstrakta menschliche Rede nur bildlich attribuieren kann. Doch ist nicht ganz einfach zu entscheiden, ob die komische Wirkung, die die Texte auf uns heute haben, von den mittelalterlichen Autoren beabsichtigt ist oder überhaupt für mittelalterliche Rezipienten gilt. Denn auch innerhalb der in der Regel ernsthaft geführten Quodlibet-Disputationen finden wir bisweilen merkwürdige Fragen, zum Beispiel die Frage, warum die Männer Kahlköpfe seien und einen Bart haben und nicht die Frauen.39 Solchen Themen dürfte es geschuldet sein, dass man der disputatio verschiedentlich der Vorwurf gemacht hat, es ginge ihr nur um Wortgefechte und begriffliche Haarspaltereien und sie habe mit »nichtswürdigen Gegenständen (nugae; de lana caprina disputare)« zu tun.40 Überdies diene sie nur der Befriedigung von »Streit- und Ruhmsucht, falschem Ehrgeiz [und der] Eigenliebe [...]«.41 Vor diesem Hintergrund erscheint es – zumindest auf 39 So bei Maitre Gilles, Frage 18, in: Glorieux, Littérature (wie Anm. 26), Bd. 2, S. 101. Aber auch für das Mittelalter ganz ernsthaft diskutierte Salernitanische Fragen, wie z. B. warum Wasser in der Nacht glänzend bzw. klar erscheint (zitiert bei Weijers, Disputatio, 2002 [wie Anm. 30], S. 53), sind für moderne Leser von fragwürdiger Relevanz. 40 Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 866–880, hier Sp. 869. 41 Marti, Disputation (wie Anm. 40), Sp. 869.
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den ersten Blick – plausibel, das Streitgedicht, in welchem die Disputanten um ihren Vorrang und dabei in der Tat um Lappalien zu streiten scheinen, als Parodie auf die disputatio beziehungsweise auf den falschen Umgang mit der disputatio sehen zu wollen. Eine Schwierigkeit bei der Beantwortung der Frage »Scherz oder Ernst?« bildet unsere Unkenntnis über den ›Sitz im Leben‹ der hier zur Debatte stehenden Tierstreitgedichte. Die Überlieferung ist dünn, und die Überlieferungskontexte sind nur bedingt aussagekräftig. Die hier besprochenen Tierstreitgedichte finden sich meist in Sammelhandschriften, dabei in ganz unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen: Der ›Conflictus ovis et lini‹ zum Beispiel ist im Kontext vornehmlich theologischer beziehungsweise religiöser Texte überliefert.42 Die ›Versus de pulice et musca‹ finden sich in einem Handschriftenabschnitt, der der Kategorie Briefsteller zuzuordnen ist.43 Ein Zusammenhang mit dem Rhetorikunterricht, wie ihn Jan Ziolkowski vermutet, ist hier demnach gut denkbar.44 Die ›Altercatio aranee et musce‹ wird dagegen zusammen mit anderen (tierlosen) Streitgedichten überliefert, die spezifische Form der Judizien legt einen Schulkontext nahe.45 ›The Owl and the Nightingale‹ findet sich jeweils in der Umgebung von anderen englischen und französischen poetischen Werken mit didaktischer Ausrichtung.46 Das ›Lilienfelder Vogelparlament‹ steht im Lilienfelder Codex im Verbund mit dem Hauptwerk des Verfassers, der ›Concordantia caritatis‹ (einem typologischen Werk), und weiteren Texten, die sich der Darstellung von Tugenden und Lastern widmen.47 Das 42 Der ›Conflictus ovis et lini‹ ist in der Brüsseler Hs. 10046, in der Lambacher Hs. 100 sowie in einer Basler Hs. (UB D.IV,4 [mit Epilog]) überliefert. Zum Inhalt insbes. der Brüsseler Hs. siehe die Übersicht bei A. van de Vyver / Ch[arles] Verlinden, L’auteur et la portée du Conflictus ovis et lini, in: Revue Belge de philologie et d’histoire 12 (1933), S. 59–81, hier S. 62f. 43 Siehe die Übersicht über den Inhalt der Hs. British Library, Additional 34.749 bei Scolari, Guglielmo (wie Anm. 10), S. 374f., der die Hs. als »un manoscritto di carattere ›letterario‹, unito a due di carattere più spiccatamente religioso« charakterisiert (ebd., S. 375f.). 44 Ziolkowski, Animals (wie Anm. 15), S. 141f. 45 Siehe die Übersicht über den Inhalt der Hs. Bodleian MS Misc. Lat. D 15 bei Mozley, Fragments (wie Anm. 11), S. 208–210. Mozley schließt aus der Existenz von Judizien, die vom Autor oder Rollenspieler vorgetragen wirken, die Möglichkeit, die Streitgedichte als »rival exercises or declamations read or spoken by students, who begin by modestly apologising for their lack of skill« aufzufassen (ebd., S. 213). 46 Siehe die Handschriftenbeschreibungen bei Stanley, Owl (wie Anm. 12), S. 3–5 und S. 24. 47 Petra Busch, Die Vogelparlamente und Vogelsprachen in der deutschen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, München 2001, S. 57f.; ausführliche Beschreibung des Inhalts des Lilienfelder Cod. 151: ebd., S. 245–252. Die Parallelüberlieferungen in der Nürnberger, St. Florianer und Berliner Handschrift bieten ebenfalls als Kontext geistliches und religiöses Schrifttum an (vgl. ebd., S. 59–61). Dies gilt allerdings nicht für die Vogelparlamente im Allgemeinen, sondern speziell für das Lilienfelder Vogelparlament (siehe
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Umfeld von ›Henne und Fisch‹ bilden dagegen Fabeln und Schwänke.48 Das Einzige, was man hier sicher sagen kann: Die Überlieferungskontexte unserer Tierstreitgedichte sind sehr heterogen. Allerdings scheinen die lateinischen Texte eine stärkere Affinität zum Schulkontext aufzuweisen als die volkssprachigen. Da sich der äußere Kontext für die Tierstreitgedichte kaum mehr sicher rekonstruieren lässt, setze ich im Folgenden werkimmanent an bei den signifikanten Unterschieden in der literarischen Konzeption des disputierenden Tiers. 1. Das Tier als Personifikation Wo das Tier eher als Personifikation des Streitgegenstandes gelten kann (wie etwa im ›Conflictus ovis et lini‹ oder bei ›Henne und Fisch‹), steht die Diskrepanz zwischen unvernünftigem Tier und rational argumentierender Rede gerade nicht im Vordergrund. Im Gegenteil: Dient es nicht vielmehr der Steigerung von Autorität und Authentizität, wenn der Streitgegenstand seine Sache selbst vertritt? Wer könnte denn kompetenter über die Frage nach dem Vorrang von Wolle oder Leinen diskutieren als Schaf und Flachs? Die Komik entsteht hier für uns heute vor allem aus der Diskrepanz zwischen der Ernsthaftigkeit, mit der die Disputation geführt wird, und der Banalität ihres (äußeren) Gegenstandes (Vorrang von Wolle oder Leinen). Je nach Kontext kann dies jedoch auch ganz anders aussehen: Was vor dem Hintergrund der flandrischen Tuchindustrie49 vielleicht unfreiwillig komische Propagandadichtung sein könnte (geht es doch gerade nicht um lana caprina, um »Ziegenwolle«, sondern um hochwertige, auf dem Markt konkurrierende Textilien), könnte im Kontext von Schule und Studium auch spielerische Einübung verschiedener Formen der Argumentationskunst sein.50 Denn das Gedicht ist so aufgebaut, dass nachdazu die Übersicht bei Busch, S. 57–94 zu den deutschsprachigen Zeugnissen). Als ›Sitz im Leben‹ für das ›Lilienfelder Vogelparlament‹ glaubt Busch, Kap. VII, 2.2, die Schule ermitteln zu können; für die späteren Vogelparlamente und die niederdeutschen Vogelsprachen werden dann noch Hof und Stadt als ›Sitz im Leben‹ geltend gemacht (ebd., Kap. VII 2.3 und 2.4). 48 Siehe die Übersicht über den Inhalt der Karlsruher Hs. (Anf. 16. Jh.) bei von Keller, Erzählungen (wie Anm. 14), S. 697f. 49 Die Untersuchung von van de Vyver / Verlinden (wie Anm. 42), Fazit: S. 80, scheint diese alte These von Wattenbach zu bestätigen. 50 Dagegen sieht es Hermann Jantzen, Geschichte des deutschen Streitgedichts im Mittelalter, Breslau 1896, ND Hildesheim / New York 1977, S. 6, als »ein durchaus ernstes, gelehrtes, geistliches Werk« an.
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Argumentationsstrategien im ›Conflictus ovis et lini‹ Vorwurf und Gegenvorwurf a) verschiedene Ebenen: habitus corporis (F gg. S) vs. utilitas (S gg. F) b) auf gleicher Ebene: fortuna (künftiges Schicksal)
Argument und Widerlegung des Arguments / Gegenargument a) Notwendigkeit: utilitas [allgemeinmenschlich] (S gg. F) b) Vielfalt: Vielfarbigkeit (S gg. F) c) Rang der Verwendungskontexte: Heilige, Pergament, Psalter/Harfe (S gg. F)
vs. Verzichtbarkeit (F gg. S) vs. Akzidentialität der Farbe (F gg. S) vs. Widerlegung (F gg. S)
Argumentation mit Autoritäten a) alttestamentliche Verwendungskontexte (F gg. S) vs. Opferlamm-Status im AT (S gg. F) b) christlicher Verwendungskontext (F gg. S) vs. Lamm Gottes im NT (S gg. F) c) Abendmahlsopfer (F gg. S) vs. Richtigstellung der Kausalität (S gg. F)
Streit über den Richter a) frommer Mönch (S) b) Kirchengericht: Bischöfe (S)
vs. Gerichtshof des Königs (F) Bedingtes Einverständnis, wenn zuvor Metropolitanbischöfe gefragt werden (F)
Tab. 1: Argumentationsstrategien im ›Conflictus ovis et lini‹. S = Schaf (ovis), F = Flachs (linum).
einander verschiedene Argumentationstechniken durchgespielt werden (s. Tab. 1). In einer ersten »Runde« (vv. 15–92) begegnen die Kontrahenten einander mit Vorwurf und Gegenvorwurf: Der Flachs wirft dem Schaf vor, ihm mit seinem schmutzigen Fell und harten Klauen zur Last zu fallen (ein Argument, das auf den habitus corporis zielt), das Schaf dagegen wirft dem Flachs seine Nutzlosigkeit vor, da die Pflanze nicht als Nahrungsmittel diene (ein Argument, das auf die utilitas zielt). Beide halten einander schließlich ihr künftiges erbärmliches Schicksal (fortuna) vor Augen. In einer zweiten »Runde« (vv. 93–322) verlegen sich die Kontrahenten darauf, Argumente mit Gegenargumenten zu widerlegen: Die Argumente des Schafs, welche seine eigene Notwendigkeit unterstreichen sollen (weil es den Menschen mit Kleidung und Nahrung versorgt), werden vom Flachs mit Gegenargumenten entkräftet, welche die Verzichtbarkeit des Schafes belegen sollen. Dem vom Schaf vorgebrachten Argument seiner Vielfältigkeit (aufgrund der Vielfarbigkeit seiner Wolle) hält der Flachs das Argument der Akzidentalität der Farbe entgegen. Schließlich argumentiert das Schaf mit dem Rang der Verwendungskontexte von Schafprodukten (Heilige tragen Wolle, Weisheit wird durch Pergament verkündet, Schafdarm
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als Saite auf Psalter und Harfe), was vom Flachs Punkt für Punkt widerlegt wird. In einer dritten »Runde« (vv. 323–742) wird die Argumentation durch Berufung auf Autoritäten gestützt: Flachs und Schaf machen einander – sich gegenseitig übertrumpfen wollend – auf ihre Bedeutung im Alten und Neuen Testament sowie im Rahmen der Liturgie aufmerksam. In der vierten und letzten »Runde« (vv. 743–770) streiten sich Schaf und Flachs über den Richter: Das Schaf schlägt einen frommen Mönch vor, der Flachs den Gerichtshof des Königs; das Schaf aber ist allenfalls bereit, den Fall vor die Bischöfe, vor das Kirchengericht zu bringen, womit der Flachs unter der Bedingung einverstanden ist, wenn zuvor Metropolitanbischöfe gefragt werden. Es entsteht angesichts dieses Streitverlaufs in der Tat der Eindruck, dass hier Formen des Disputierens in spielerischer Form zur Anschauung gebracht werden sollen. Die Pointe bei ›Henne und Fisch‹ (stellvertretend für Normalspeise und Fastenspeise) besteht dagegen darin, dass beide Parteien von Dritten aufgefressen werden. Hier wird der Streitgegenstand konsequent zu Ende gedacht. In beiden Texten aber steht das Tier nicht stellvertretend für einen menschlichen, jedoch unvernünftigen Disputanten, sondern für die Sache, um die scherzhaft und ernsthaft zugleich gestritten wird (das heißt auch: Der tiergestaltige Disputant unterscheidet sich hier in der Tat kaum vom disputierenden leblosen Gegenstand oder Abstraktum). Der Begriff des Spiels dürfte dieser Verbindung von Scherz und Ernst am gerechtesten werden. 2. Das Tier als Allegorie Auch bei den mittelenglischen Vogeldebatten geht es wie bei den mittelhochdeutschen Vogelparlamenten meines Erachtens nicht darum, mittels der Diskrepanz zwischen tiergestaltigem Redner und menschengemäßer Rede Komik zu erzeugen – auch dort nicht, wo sich die Vögel als inkompetente und unlogisch argumentierende Redner erweisen. Dennoch sind die disputierenden Vögel nicht einfach Repräsentanten menschlicher Disputanten, sondern gerade durch ihre Vogelnatur für den Text von Bedeutung.51 51 Stanley, Owl (wie Anm. 12) betont für ›The Owl and the Nightingale‹ gerade das Changieren zwischen Tier- und Mensch-Sein der Protagonisten: »The fusion of animal and human elements is the principal charm of the genre, and this fusion is admirably handled by the author of O&N. Throughout their dispute the birds are debating about their nature as birds, but obviously that they are debating is contrary to their nature [!].« Thomas Hon-
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Die Wahl des jeweiligen Vogels begründet sich durch sein allegorisches Potenzial. In ›The Owl and the Nightingale‹ wird mit diesem Potenzial gespielt: Den Stereotypen »kluge, wortgewandte und sangeskundige Nachtigall« vs. »wortkarge, sich ausschließlich auf ihre Physis berufende, häßlich krächzende Eule«52 werden die Argumente »Nachtigall als lüsterne Sängerin sommerlicher Triebhaftigkeit« vs. »Eule als trostspendende, nützliche Ruferin im Winter«53 gegenübergestellt. Auch wenn hier allegorische Deutungen – wie Rainer Holtei betont – immer nur Teildeutungen sein können54 und weder Eule noch Nachtigall in vorgefertigter Symbolik aufgehen (etwa die Nachtigall als Symbol der sinnenfreudigen, weltlichen beziehungsweise höfischen Liebe, die Eule als Symbol für die geistige, christliche, asketische Liebe),55 so bildet doch das allegorische Potenzial des Vogels, nicht seine Unvernunft den Hintergrund des Streitgedichts. Richtig ist aber auch, dass die Vögel aus ›The Owl and the Nightingale‹ trotz der mannigfaltigen allegorischen Traditionen, die ihren Hintergrund bilden, selbst nicht als allegorische Wesen, sondern in erster Linie als Tierfiguren zu gelten haben.56 Im ›Lilienfelder Vogelparlament‹ dagegen repräsentieren die Vögel ganz eindeutig die jeweiligen Tugenden beziehungsweise Laster, die sich an ihre (aus dem naturkundlichen Schrifttum der Zeit bekannten) Eigenschaften knüpfen lassen: Der Adler verkörpert die milte (Freigebigkeit, eine der zentralen mittelalterlichen Herrschertugenden), der ihm gegenüber stehende stokar (der Hühnerhabicht) Egoismus und Geiz, der Falke die Wahrheitsliebe, die Trappgans die Lüge, der Blaufuß (eine Variation des Wanderfalken oder des Würgfalken) die Tugendhaftigkeit, der Geier den Diebstahl usw. Ziel solcher Texte ist es, auf anschauliche Weise zu belehren, nicht aber zum Lachen zu bringen.
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egger, From Phoenix to Chauntecleer. Medieval English Animal Poetry, Tübingen / Basel 1996, Kap. III, S. 121–129, trägt diesen beiden Naturen Rechnung in den Abschnitten »The Importance of Being Avian« und »The Importance of Being Human«. Rainer Holtei, Norm und Spiel in The Owl and the Nightingale, Düsseldorf 1990, S. 131. Holtei, Norm (wie Anm. 52), S. 147. Vgl. auch die differenzierte Übersicht über die verschiedenen Traditionen und ihre Verwendung im Gedicht bei Honegger, Phoenix (wie Anm. 51), S. 123–125. Holtei, Norm (wie Anm. 52), S. 99. Holtei, Norm (wie Anm. 52), S. 173. Vgl. auch Rudolf Schenda, Das ABC der Tiere. Märchen, Mythen und Geschichten, München 1995, S. 75, ganz allgemein zur Eule: »Sinnbild des nächtlichen Studiums und damit ganz allgemein der Gelehrsamkeit«. Honegger, Phoenix (wie Anm. 51), S. 126.
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3. Das Tier als Metapher für den menschlichen Disputanten Lediglich die mittellateinischen Insektendebatten setzen auf die Diskrepanz zwischen (geringwertigem) Tier und (hochwertiger) Rede. Wilhelm von Blois führt seine ›Versus de pulice et musca‹ ein mit Überlegungen zum Vorzug der Fiktion, die Gelächter erzeugt (weil dies beim Publikum beliebter sei als Ernsthaftes), und er sagt explizit: risum | Ambio nec laudis ambitione trahor (V. 9f.; ›Ich wünsche Lachen, ich strebe nicht nach Lob‹); Rideat et nostre sua muse premia solvat | Quisquis ad hec lector ridiculosa venit (V. 11 f.; ›Welcher Leser auch immer an dieses scherzhafte [Versgedicht] kommt, möge lachen und unserer Muse die ihr zustehende Anerkennung geben‹). Für Wilhelm von Blois entsteht die Komik aus der Diskrepanz zwischen der Winzigkeit seiner Rednerin und der Größe ihrer Worte beziehungsweise ihrem Versuch, sich selbst mit Worten Größe zu verleihen: Discrepat a verbis longe persona loquentis: | Sunt ea que loquitur magna, sed ipsa brevis (V. 25 f.; ›Die Person des Sprechers unterscheidet sich bei Weitem von den Worten: Die Worte, die sie sagt, sind groß, sie selbst aber klein‹). Damit entlarvt er seine Protagonistin als grandiloqua und gibt dem komischen Text einen ernsthaften Unterboden, indem er auf liebevolle Art und Weise das Laster der Prahlerei, der Großsprecherei anprangert. Auch in der ›Altercatio aranee et musce‹ steht die Diskrepanz zwischen innerem Wert und äußerer Geringwertigkeit im Vordergrund der Diskussion. Im iudicium allerdings wird nicht die Überzeugungskraft der Argumente beurteilt, sondern die Qualität der rhetorischen Ausarbeitung. Kritisiert wird der jugendliche Geist, der im Gebrauch erwachsener Rede schwelgen will (V. 69f.); dem wird das Ideal des erwachsenen Geistes, der in jugendlicher Borke atmet (V. 73), entgegengestellt. Im Unterschied zu Jan Ziolkowski, der hier einen Reflex tatsächlichen Rhetorikunterrichts zu fassen glaubt,57 sehe ich doch einen tieferen Zusammenhang mit dem Thema des Streitgedichts: Spinne und Fliege figurieren als ›jugendliche Geister‹, die sich ›erwachsene Rede‹ anmaßen. Die Diskrepanz zwischen ratiolosem, geringwertigem Insekt und pseudorationaler Argumentation dient somit auf hervorragende Weise der Aussageabsicht des Gedichts. In beiden hier skizzierten lateinischen Streitgedichten aber transportiert die Komik, die durch die tiergestaltigen Disputanten erzielt wird, eine ernst gemeinte Lehre.
57 Ziolkowski, Animals (wie Anm. 15), S. 141f.
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III. Disputatio unter Tieren – eine Parodie auf die disputatio? Eine letzte Frage bleibt: Wird die disputatio im Tierstreitgedicht parodiert? Wird die disputatio zur Zielscheibe von Kritik? Soll die disputatio, indem man sie in die Tierwelt überträgt, der Lächerlichkeit preisgegeben werden? Diese Fragen lassen sich – dies dürfte bereits deutlich geworden sein – nicht pauschal beantworten. Wo das Tier eher als Personifikation des Streitgegenstandes gelten kann, dem Streitgegenstand jedoch nur eine geringe Relevanz für die humane Welt zukommt (was von heute aus schwer und wohl auch immer nur für den Einzelfall zu beurteilen ist), dort könnte in der Tat die disputatio selbst beziehungsweise Auswüchse der disputatio die Zielscheibe bilden. Doch die hier betrachteten Beispiele weisen vielmehr den Charakter eines scherzhaft-ernsten Spiels (sei es zur Übung, zur Belehrung oder zur Unterhaltung) mit der Form der disputatio auf. Parodistische Züge tragen dagegen möglicherweise die Streitgedichte, in denen das Tier den dummen, großmäuligen Disputanten repräsentiert (also z. B. die Insektendebatten). Zielscheibe der Kritik ist auch hier nicht die disputatio als solche, sondern lediglich ein bestimmter Typus von Disputant, nämlich einer, dem es nicht um die Sache, sondern nur um die Stärkung des eigenen Profils geht. Wo das Tier aufgrund seiner allegorischen und symbolischen Qualitäten zum Disputanten wird, spielt der Aspekt der (kritischen) Parodie meines Erachtens eine ganz untergeordnete Rolle. In ›The Owl and the Nightingale‹ eröffnet das Tierstreitgedicht vielmehr die Möglichkeit zur Selbstreflexion der disputatio, zur Infragestellung von Wertmaßstäben und Argumentationsgrundlagen. Dies führt aber nicht zur Infragestellung der disputatio (als Medium der Erkenntnis- beziehungsweise Entscheidungsfindung) selbst. Im ›Lilienfelder Vogelparlament‹ dient der Vogeldisputant lediglich als einprägsames Bild für die zu transportierende spröde Lehre. Es lohnt sich also ein differenzierter Blick auf die Tierstreitgedichte. Denn wie wir sehen, lassen sich die Tierstreitgedichte nicht pauschal als eine Form der Scherzdisputation bestimmen. Überhaupt gestaltet sich in den hier betrachteten Tierstreitgedichten die Affinität zur scholastischen beziehungsweise dialektischen disputatio immer wieder anders: Die Gedichte unterscheiden sich grundlegend im Grad der Nähe zur akademischen beziehungsweise schulischen disputatio, in der Art und Weise ihres Umgangs mit diesem universitären Lehr- und Forschungsinstrument beziehungsweise Schulunterrichtsmittel, aber auch in der jeweiligen Zielsetzung, die mit der Gestaltung des Themas in Form einer (meist reduzierten) disputatio verfolgt wird.
Anja Becker
Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns ›Gregorius‹ ausgehend vom Abtsgespräch Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ ist ohne Zweifel ein Klassiker der mittelhochdeutschen Literatur. Dieses Werk wurde nicht nur im Mittelalter hochgeschätzt, sondern gerade auch die literarische Rezeption, die mit Thomas Manns ›Der Erwählte‹ einen späten Höhepunkt erreicht, spricht für seine Bedeutung. Wie es sich für einen Text der Weltliteratur gehört, forderte er immer neue Interpretationen heraus. Elisabeth Gössmann hat etwa den Anspruch erhoben, mit ihrem Forschungsbericht zum ›Gregorius‹ zugleich »den Weg nachzuzeichnen, den die mediaevistische Germanistik seit Kriegsende genommen hat«.1 Sehr schnell hatte man sich allerdings auf ein bestimmtes Problem eingeschossen: auf die Frage nach der Schuld des Gregorius. Diese zunächst produktive Forschungsperspektive blockiert heute eher eine weitere Auseinandersetzung mit dem ›Gregorius‹, als dass sie sie befördert. Denn seit Jahren stehen sich in der Frage der Schuldproblematik grob gesprochen zwei Lager unversöhnlich gegenüber, ohne dass im Wesentlichen neue Argumente hinzugekommen wären.2 Da Gregorius 1
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Elisabeth Gössmann, Typus der Heilsgeschichte oder Opfer morbider Gesellschaftsordnung? Ein Forschungsbericht zum Schuldproblem in Hartmanns Gregorius (1950–1971), in: Euphorion 68 (1974), S. 42–80, hier S. 42. Aufgrund der fast schon unüberschaubaren Zahl an Veröffentlichungen zur Schuldproblematik können hier stellvertretend für die beiden Lager nur exemplarische Beiträge genannt werden. Detaillierte Darstellungen der Forschungslage bieten: Wolfgang Dittmann, Hartmanns Gregorius. Untersuchungen zur Überlieferung, zum Aufbau und Gehalt, Berlin 1966, S. 197–205; Gössmann, Typus der Heilsgeschichte (wie Anm. 1); Brigitte HerlemPrey, Schuld oder Nichtschuld, das ist oft die Frage. Kritisches zur Diskussion der Schuld in Hartmanns Gregorius und in der »Vie du Pape Saint Grégoire«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 3–25; David Duckworth, Gregorius. A medieval man’s discovery of his true self, Göppingen 1985, bes. S. 1–63; Rainer Zäck, Der Guote Sündaere und der Peccator Precipuus. Eine Untersuchung zu den Deutungsmodellen des ›Gregorius‹ Hartmanns von Aue und der ›Gesta Gregorii Peccatoris‹ Arnolds von Lübeck ausgehend von den Prologen, Göppingen 1989, bes. S. 298–314; Tomas Tomasek, Verantwortlichkeit und Schuld des Gregorius. Ein motiv- und strukturorientierter Beitrag zur Klärung eines
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unwissentlich den Inzest mit seiner Mutter begeht, steht der Status dieses Vergehens in Zweifel. Die eine Fraktion sieht hierin eine objektive Schuld, spricht den Helden ansonsten aber von jeglichen subjektiven Verfehlungen frei. Gregorius repräsentiere den schuldlos schuldig gewordenen Menschen und könne als solcher als Symbol für die Erbsünde gelesen werden.3 Die andere Fraktion verortet Gregorius’ Schuld nicht direkt im Mutter-SohnInzest, sondern sucht nach einer persönlichen Schuld des Protagonisten, die diese Verfehlung nach sich gezogen habe. Gregorius gerate also in den Inzest, weil er zuvor Schuld auf sich geladen habe. Die subjektive Schuld des Helden wird meist als Haltung der superbia bestimmt, die sich in seinem Auszug aus dem Kloster äußere. Hiermit missachte er seine Verpflichtung zur stellvertretenden Buße für die Sünde seiner Eltern, verstoße gegen die Klosterregeln und verhalte sich ungehorsam gegenüber dem Abt.4 Schon früh rief diese Verengung der Forschungsperspektive Widerspruch hervor. Bereits 1967 klagte Kurt Ruh über die Interpreten des ›Gregorius‹, die »schon fast bis zur Unerträglichkeit das Schuldproblem erörtern«.5 Diesen Unmut scheinen heute die meisten Mediävisten zu teilen, denn kaum einer mag sich mehr mit Hartmanns Werk befassen.6
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alten Forschungsproblems im Gregorius Hartmanns von Aue, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), S. 33–47. Vgl. etwa Christoph Cormeau, Hartmanns von Aue ›Armer Heinrich‹ und ›Gregorius‹. Studien zur Interpretation mit dem Blick auf die Theologie zur Zeit Hartmanns, München 1966; Dittmann, Hartmanns Gregorius (wie Anm. 2); Hansjürgen Linke, Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue. Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968, bes. S. 135–143; Rudolf Voß, Die Artusepik Hartmanns von Aue. Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik eines literarischen Genres im Kräftefeld von soziokulturellen Normen und christlicher Anthropologie, Köln / Wien 1983, bes. 59–83. Vgl. etwa Gabriele Schieb, Schuld und Sühne in Hartmanns Gregorius, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 72 (1950), S. 51–64; Hildegard Nobel, Schuld und Sühne in Hartmanns ›Gregorius‹ und in der frühscholastischen Theologie, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 76 (1957), S. 42–79; Alois Wolf, Gregorius bei Hartmann von Aue und Thomas Mann, München 1964; Herbert Kolb, Der wuocher der riuwe. Studien zu Hartmanns Gregorius, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 23 (1982), S. 9–52; Ulrich Ernst, Der ›Gregorius‹ Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum, Köln u. a. 2002 [zuvor als: U. E., Der Antagonismus der vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue. Versuch einer Werkdeutung im Horizont der patristischen und monastischen Tradition, in: Euphorion 72 (1978), S. 160–226 und Euphorion 73 (1979), S. 1–105]. Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Erster Teil: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1967, S. 109. Allein zur Schuldfrage konnten Elisabeth Gössmann für die Jahre 1950–1971 sowie Brigitte Herlem-Prey für die Zeit bis 1989 jeweils etwa 30 Stellungnahmen anführen (vgl. Gössmann, Typus der Heilsgeschichte [wie Anm. 1]; Herlem-Prey, Schuld oder Nichtschuld [wie Anm. 2]). Signifikant ist, dass seit 1989 insgesamt zu Hartmanns ›Gregorius‹ kaum mehr
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Der ›Gregorius‹, an dem einst der Gang der mediävistischen Forschung exemplifiziert werden konnte, hat in gewisser Weise von ebendieser Forschung den Gnadenstoß erhalten. Heute kann man ihn zu Recht als den »›klassische[n]‹ Fall eines toten Klassikers« bezeichnen.7 Wie könnte man sich nun wieder Hartmanns ›Gregorius‹ nähern, ohne in die alten Muster der Interpretation zu verfallen? Peter Strohschneider hat den Vorschlag gemacht, für einen interpretatorischen Neuansatz auf eine Beschreibungssprache zurückzugreifen, »welche die poetische Rede von Sünde und Schuld, Buße und Erlösung nicht reproduzieren muß, sondern von ihr Abstand nimmt«.8 Strohschneider analysiert daraufhin den Text mithilfe von begrifflichen und gedanklichen Anleihen bei der Systemtheorie Niklas Luhmanns und bei kulturtheoretischen Überlegungen René Girards.9 Eine solche Leseweise steht jedoch – wie er selbst zu bedenken gibt – in der Gefahr, unhistorisch zu erscheinen.10 Der folgende Aufsatz geht aus von Strohschneiders methodischen Überlegungen; auch hier wird als 35 Beiträge erschienen sind. Von ihnen behandeln nur noch eine Hand voll das Schuldproblem im engeren Sinne (vgl. Anm. 2), meist offenbart sich in den Themenstellungen ein Bestreben, neue Perspektiven auf das Werk zu eröffnen. Ein Schwerpunkt der aktuellen Forschung ist der Vergleich von Hartmanns Text mit anderen Versionen der GregoriusLegende (z. B. Zäck, Der Guote Sündaere [wie Anm. 2]; Jens-Peter Schröder, Arnolds von Lübeck ›Gesta Gregorii Peccatoris‹. Eine Interpretation, ausgehend von einem Vergleich mit Hartmanns von Aue ›Gregorius‹, Frankfurt a. M. u. a. 1997; Brian O. Murdoch, Sin, sacred and secular. Hartmanns ›Gregorius‹, the ›Incestuous daughter‹, the ›Trentalle Sancti Gregorii‹ and ›Sir Eglamour of Artois‹, in: Mark Chinca [Hg.], Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, Tübingen 2000, S. 309–320), ein verwandter Schwerpunkt ist die Untersuchung der literarischen Rezeption besonders durch Thomas Mann (z. B. Ulrich Beer, Das Gregorius-Motiv. Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ und seine Rezeption bei Thomas Mann, Meldorf 2002; Sylvia Kohushölter, Die lateinische und deutsche Rezeption von Hartmanns von Aue »Gregorius« im Mittelalter. Untersuchung und Editionen, Tübingen 2006). Neu ist auch die Genderperspektive; im Fokus können dabei sowohl Bilder von Weiblichkeit (Ingrid Kasten, Schwester, Geliebte, Mutter, Herrscherin: Die weibliche Hauptfigur in Hartmanns ›Gregorius‹, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 115 [1993], S. 400–420; Andrea Fiddy, The presentation of the female characters in Hartmann’s »Gregorius« and »Der arme Heinrich«, Göppingen 2004) als auch von Männlichkeit stehen (Kerstin Schmitt, Körperbildung, Identität und Männlichkeit im »Gregorius«, in: Albrecht Classen / Ingrid Bennewitz / Ingrid Kasten [Hg.], Genderdiskurse und Körperlichkeit im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Münster u. a. 2002, S. 135–155; Susanne Hafner, Maskulinität in der höfischen Erzählliteratur, Frankfurt a. M. u. a. 2004). 7 Peter Strohschneider, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ›Gregorius‹, in: Christoph Huber / Burghart Wachinger / Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 105–133, hier S. 109. 8 Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (wie Anm. 7), S. 106. 9 Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (wie Anm. 7), S. 106. 10 Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (wie Anm. 7), S. 109.
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versucht, mithilfe einer neuen Beschreibungssprache überhaupt wieder einen Zugang zu diesem toten Klassiker zu eröffnen. Jedoch soll die Sprache der Analyse nicht von außen an den Text herangetragen, sondern gleichsam aus dem Inneren des Werkes heraus erschlossen und hervorgehoben werden. Die Suche nach »einem Punkt [...], von welchem aus sich überhaupt noch und wieder über diesen Text sprechen lässt«,11 führt hier zu einer Episode, die immer schon die Aufmerksamkeit der Forschung gefesselt hat: zum Dialog zwischen Gregorius und dem Abt. Allerdings waren auch die Interpretationen zu dieser Gesprächsszene meist völlig von der Suche nach einer persönlichen Schuld des Gregorius bestimmt, hier, so konstatiert Christoph Cormeau, »beginnen die Irrwege der Gregorius-Forschung«.12 Anstatt – wie sonst meist geschehen – einige (isolierte) Aussagen der Figuren zum Grundstein einer Interpretation zu erheben, soll der Blick auf die Gestaltung des Dialogs gelenkt werden. Die Art und Weise, in der das Streitgespräch abläuft, sein argumentationslogischer Aufbau, weist es – so die These – als reguläre Disputation aus. Das Abtsgespräch wird als Zentrum des ›Gregorius‹ verstanden, hier nimmt die weitere Interpretation ihren Ausgangspunkt.13 Nicht nur der Dialog zwischen dem Abt und Gregorius, sondern das ganze Werk soll sodann als Disputation gelesen werden. Diese Beschreibungssprache hat den Vorteil, dass sie historisch angemessen ist, da sie sich auf eine Methode bezieht, die die intellektuelle Kultur des Hochmittelalters bestimmte. Während gezeigt werden soll, dass das Abtsgespräch tatsächlich nach dem Muster einer disputatio in forma gebaut ist, hat die Interpretation von Hartmanns ›Gregorius‹ als Disputation natürlich nur den Status eines Experiments. Hierdurch sollen neue Perspektiven eröffnet werden, die einen Ausweg aus der verhärteten Schulddebatte bieten und Hartmanns Werk damit wieder zum Sprechen bringen.
11 Strohschneider, Inzest-Heiligkeit (wie Anm. 7), S. 109. 12 Cormeau, ›Armer Heinrich‹ (wie Anm. 3), S. 56. 13 Eine solche Vorgehensweise scheint mir sinnvoller, als den ›Gregorius‹ von seinem Prolog ausgehend zu interpretieren, wie es bislang häufig versucht wurde (zuletzt: Zäck, Der Guote Sündaere [wie Anm. 2]). Denn zu inhaltlichen Problemen (der Prolog legt etwa dem Leser buoze nach bîhte nahe, Gregorius büßt allerdings, ohne vorher zu beichten) tritt die schlechte Überlieferungslage: In den Handschriften A, B und E fehlt der Prolog, was gegen einen engen Zusammenhang von Prolog und Erzählung spricht. Zudem weist Christoph Cormeau zu Recht nachdrücklich auf eine nötige Unterscheidung zwischen Diskursrahmen und Geschichte hin; vgl. Christoph Cormeau / Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, 2., überarbeitete Auflage, München 1993, S. 128–130.
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I. Disputatio in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Um die These, dass Gregorius mit dem Abt in Form einer regulären Disputation spricht, auf gesichertem Boden begründen zu können, sollen im Folgenden skizzenhaft Entwicklungen und Charakteristika der disputativen Methode im Mittelalter vorgestellt werden. Die Disputation kann man in aller Allgemeinheit als ein »Streitgespräch mit formal geregeltem Ablauf« definieren.14 Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts hat sich diese Lehrmethode neben der lectio an den Schulen und Universitäten als eigenständige fest etabliert. Hier konnten die Schüler das Gelernte anwenden und ihre dialektischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Die disputative Methode bestimmt darüber hinaus in weiten Teilen das intellektuelle Leben im Mittelalter. Zentrale Fragen der Theologie oder Philosophie wurden in öffentlichen Streitgesprächen erörtert oder Abhandlungen in Form von disputationes verfasst. Auch wenn Vorformen der Disputation bereits in der Vorscholastik bzw. Patristik nachweisbar sind,15 erfuhr sie ihre volle Entwicklung und institutionelle Verankerung erst im 12. Jahrhundert. Als in der Mitte dieses Jahrhunderts die gesamte aristotelische Logik dem lateinischen Mittelalter bekannt wurde, bekam die ars disputandi ihre verbindliche methodische Ausbildung. Besonders das 8. Buch der ›Topik‹ avancierte geradezu zum »Handbuch« dieser Kunst, nam sine eo non disputatur arte, sed casu.16 Da die aristotelischen Vorgaben als Grundlage für die Argumentationsanalyse des Abtsgesprächs genutzt werden sollen, möchte ich diese Ausführungen zum dialektischen Gespräch etwas näher vorstellen. Dieser Dialogtyp, so Aristoteles, unterscheide sich vom belehrenden dadurch, dass er mit Wahrscheinlichkeitsgründen argumentiere. Während die Philosophie aus wahren und ersten Sätzen deduziere, stütze sich das dialektische Gespräch auf anerkannte Meinungen.17 Als solche seien Meinungen 14 Fidel Rädle, Art. ›Disputatio‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (21997), S. 376–379, hier S. 376. Allgemein zur Disputation auch: Larry Miller, Art. ›Disputatio(n)‹, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1116–1120; Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 866–880; Uwe Gerber, Art. ›Disputatio‹, in: Theologische Realenzyklopädie 9 (1982), S. 13–15; Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg i. B. 1991 (Nachdruck von 1957), Bd. 2, S. 16–21; Ingrid Kasten, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Hamburg 1973, S. 14–20. 15 Vgl. Grabmann, Scholastische Methode (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 16f. 16 Johannes von Salisbury, Metalogicon 3,10 (hg. Hall 1991). 17 Neben diesen zwei anerkannten Gesprächstypen kennt Aristoteles noch zwei Abarten, die er in den ›Sophistici Elenchi‹ behandelt. Die peirastische Spielart sei die Verkehrung des didaskalischen Vorgehens, da in ihr Wissen bloß vorgetäuscht werde. Das sophistische Pedant
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anzusehen, die entweder alle, die meisten oder Fachleute vertreten.18 Ganz praktisch beginnt damit eine jede Disputation mit Ansichten, die die Kontrahenten teilen. Zu einem dialektischen Problem werden solche Sätze laut Aristoteles dann, wenn man sie als eine kontradiktorische Entscheidungsfrage formuliert, wie z. B. ›Soll man die Lust wählen oder nicht?‹19 Damit ein Disput in Gang kommen kann, dürfe die Antwort auf diese Frage nicht auf der Hand liegen.20 Ein Teilnehmer entscheidet sich nun für die Pro- oder Contra-Seite dieses Problems, woraufhin sein Gegner versucht, ihn zu widerlegen. Was wie eine »intellektuelle Sportveranstaltung« klingt, hat für Aristoteles einen durchaus ernsten Anspruch: Es gehe in dialektischen Gesprächen um die Erkenntnis des Wahren bzw. um die Wahl des Richtigen.21 Anfängern in der Kunst der Disputation empfiehlt Aristoteles das induktive Vorgehen, Fortgeschrittene sollten jedoch zur Deduktion greifen, da ihre Schlüsse zwingender seien.22 Hierbei sei es besonders wichtig, die gegnerischen Prämissen erfassen, verschiedene Bedeutungen unterscheiden, Unterschiede und Ähnlichkeiten auffinden zu können.23 Eine Prämisse zu formulieren bedeute, aus Vielem Eines zu machen, wohingegen dem Kontrahenten die Aufgabe obliege, aus Einem wieder Vieles zu machen, indem man Unterscheidungen einführe, von denen man die eine Seite einräume, die andere aber nicht.24 Dieses Verfahren wird in der mittelalterlichen Logik als distinctio bezeichnet.25 Neben diesen Grundfertigkeiten stellt Aristoteles besonders den Nutzen der Krypsis heraus, des einstweiligen Verbergens der eigentlichen Absicht. Indem man nicht gleich offenbar werden lasse, worauf die Schlussfolgerung hinauslaufen wird, könne man sich gegen die Angriffe des anderen schützen.26 Klug verhalte man sich in einer Disputation ebenfalls, wenn man nicht zu eifrig sei, gelegentlich auch Selbsteinwände anbringe und seine Argumente durch den Verweis auf das
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zum dialektischen Gespräch sei das eristische, bei dem die Argumentation auf Scheingründen aufbaue; vgl. Aristot. soph.el. 165a38–165b11 (hg. Zekl 1997); Aristot. top. 100a18– 101a23 (hg. Zekl 1997). Vgl. Aristot. top. 104a2–37. Vgl. Aristot. top. 101b11–36, 104b1–17. Vgl. Aristot. top. 105a3–9. Vgl. Aristot. top. 104b1–17, 163b5–15. Vgl. Aristot. top. 105a10–19, 157a18–21. Vgl. Aristot. top. 105a20–33. Vgl. Aristot. top. 164b4–7. Zur Technik der distinctio vgl. James P. Zappen, Art. ›Distinctio‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 888–891; Ludwig Hödl / F. Hoffmann, Art. ›Distinktion‹, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1127–1129. Vgl. Aristot. top. 155b29–156b9.
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allgemeine Urteil absichere. Auch könne es nicht schaden, zusätzliche Argumente einzuführen, die für die Deduktion streng genommen nicht notwendig sind, jedoch der eigenen Position mehr Nachdruck verleihen und den Gegenangriff erschweren, da der andere erst herausfinden müsse, welche Argumente die Konklusion stützen und welche nicht.27 Im Mittelalter bildet sich ein geregelter Ablauf für eine Disputation heraus, der durch eine Zweiteilung gekennzeichnet ist. Zuerst stellt der leitende Magister, der Präses, eine Frage, die sogenannte quaestio. Zu dieser Problemstellung muss dann ein ausgewählter Schüler, der Respondent, eine These formulieren und verteidigen. Angegriffen wird er von einem anderen Schüler, dem Opponenten, der die gegenteilige Meinung vertritt und versucht, seinen Kontrahenten zu widerlegen. Nachdem in diesem Redewettstreit ein Sieger gefunden worden ist, erfolgt die zweite Phase: die determinatio. In ihr fasst der Präses die vorherige Disputation zusammen und trägt eine eigene Lösung des Problems vor. Diese solutio nimmt die vorgebrachten Gründe pro und contra in sich auf und zeichnet sich meist dadurch aus, dass sie ungewöhnlich und neu ist. Nicht selten wurden diese determinationes schriftlich aufgezeichnet und überliefert.28
II. Hartmann und die disputatio Ist es überhaupt denkbar, dass Hartmann mit der disputativen Methode in Kontakt gekommen ist? Selbstverständlich soll hier keineswegs suggeriert werden, er habe gleichsam mit der aristotelischen ›Topik‹ auf dem Schreibpult das Abtsgespräch konzipiert. Solch ein Nachweis wäre für die hier vorzulegende Analyse auch nicht notwendig. Schließlich ist es unzweifelhaft, dass die durch die Aristoteles-Rezeption geprägte Disputation einen entscheidenden Einfluss auf die intellektuelle Kultur des 12. Jahrhunderts ausgeübt hat, und das nicht nur in Frankreich und an den Universitäten von Paris. Für die »Einführung und Verbreitung der ganzen aristotelischen Logik in deutschen Landen« steht der Name Otto von Freising.29 In seiner von 1143 bis 1146 verfassten ›Chronik‹ gibt er ausführliche und kenntnisreiche Auskunft über das ›Organon‹ des Aristoteles.30 Etwa zur selben Zeit hat auch die ältere Form der disputatio extra formam, also die nichtakade27 Vgl. Aristot. top. 156b10–157a5. 28 Zum Ablauf der Disputation vgl. Rädle, Art. ›Disputatio‹ (wie Anm. 14), S. 378; Miller, Art. ›Disputatio(n)‹ (wie Anm. 14), Sp. 1119; Marti, Art. ›Disputation‹ (wie Anm. 14), Sp. 866–867. 29 Grabmann, Scholastische Methode (wie Anm. 14), S. 70. 30 Vgl. Otto von Freising, Chronik, II,8 (hg. Lammers 1972).
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mische Disputation, in der Faustinianlegende der ›Kaiserchronik‹ erstmals Eingang in die deutsche Literatur gefunden.31 Diese frühen Rezeptionszeugnisse machen es nicht unwahrscheinlich, dass Hartmann sich am Ende des 12. Jahrhunderts ebenfalls von dieser scholastischen Methode in seiner Dichtkunst hat anregen lassen, im ›Gregorius‹ aber von der akademischen, der gewissermaßen aristotelischen Variante der disputatio in forma. Immerhin kann es als gesichert gelten, dass Hartmann eine lateinische Bildung genossen, höchstwahrscheinlich sogar ein artes-Studium an einer Dom- oder Kathedralschule absolviert hat.32 Trifft diese Einschätzung zu, dann wäre es nicht unwahrscheinlich, dass Hartmann die Disputation aus der eigenen Schulzeit kannte. Hierfür spricht auch ein weiteres Werk seines Œuvres, das in der Zeit um 1200 in der deutschen Literatur seinesgleichen sucht, die sogenannte ›Klage‹ (entstanden um 1180, also vor dem ›Gregorius‹). Schon oft ist auf die scholastische Disputation als Traditionshintergrund dieses Streitgesprächs zwischen herze und lîp über Sinn und Zweck des Minnediensts verwiesen worden.33 Aber nicht nur äußere, auch innere Gründe sprechen dafür, dass Hartmann die disputative Technik kannte. Es ist interessant, dass gerade zwei Arbeiten über den ›Gregorius‹, die das Abtsgespräch in ihr Zentrum stellen, zu einem ähnlichen Schluss kommen. Sowohl W. J. McCann als auch Brigitte Herlem-Prey vergleichen Hartmanns Werk mit den anderen Versionen der Gregoriusfabel, besonders mit den altfranzösischen Fassungen. Ergebnis beider Analysen ist, dass Hartmann den Dialog in eine Disputation umgestaltet habe.34 Die Gründe für diese These seien kurz darge-
31 Vgl. Hans Fromm, Die Disputationen in der Faustinianlegende der ›Kaiserchronik‹. Zum literarischen Dialog im 12. Jahrhundert, in: Annegret Fiebig / Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 51–69, hier bes. S. 68. 32 Zu Hartmanns Bildung zusammenfassend: Cormeau / Störmer, Hartmann (wie Anm. 13), S. 36–37. 33 Vgl. Volker Mertens, ›Factus est per clericum miles cythereus‹. Überlegungen zu Entstehungs- und Wirkungsbedingungen von Hartmanns Klage-Büchlein, in: Thimothy Mc Farland / Silvia Ranawake (Hg.), Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985, Göppingen 1988, S. 1–19, hier S. 3–4. Wolf Gewehr weist anhand einer genauen Analyse der ›Klage‹ nach, »dass Hartmann im patristisch-scholastischen Denken erstaunlich gut geschult war«; Wolf Gewehr, Hartmanns ›Klage-Büchlein‹ im Lichte der Frühscholastik, Göppingen 1975, S. 31. 34 Vgl. Brigitte Herlem-Prey, Der Dialog Abt – Gregorius in der Legende vom guten Sünder, in: Danielle Buschinger (Hg.), La litterature d’inspiration religieuse: theatre et vies de saints. Actes du colloque D’Amiens des 16, 17 et 18 janvier 1987, Göppingen 1988, S. 61– 80, hier S. 74; W. J. McCann, Gregorius’s interview with the abbot: a comparative study, in: The Modern Language Review 73 (1978), S. 82–95, hier S. 88f.
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legt. Hartmanns unmittelbare Vorlage ist nicht überliefert.35 Ein Blick in die insgesamt sechs französischen Handschriften der ›Vie de Saint Grégoire‹, die sich in die Fassungen A und B aufspalten,36 lässt signifikante Unterschiede zum ›Gregorius‹ deutlich werden. Am auffälligsten ist, dass Hartmann den Umfang des Dialogs mehr als verdoppelt.37 Dieser quantitative Befund – im ›Gregorius‹ nimmt das Abtsgespräch damit in etwa ein Zehntel des gesamten Textes ein – spricht für die große Bedeutung dieser Szene und rechtfertigt damit eine Interpretation, die das Zentrum des Werkes hier gegeben sieht. McCann wie auch Herlem-Prey stellen heraus, wie radikal Hartmann die Struktur der Szene verändert hat. Zu Beginn lässt er Gregorius’ Fußfall vor dem Abt weg und legt ihm eine sehr viel längere, wohldisponierte Rede in dem Mund.38 Insgesamt übernimmt Hartmann in etwa die Anzahl der Redebeiträge, erweitert diese jedoch stark. Die durchdachte Formung offenbart sich unter anderem darin, dass die beiden eröffnenden Reden der Figuren gleich lang sind; sowohl Gregorius als auch der Abt reden jeweils 71 Verse. Hartmann übernimmt auch nicht den Gang des Abtes zu den Fischerleuten, der in den altfranzösischen Versionen die Auseinandersetzung seltsam unterbricht, und sorgt somit für die Einheit des Ortes in dieser Szene. Zur inhaltlichen Gestaltung weist Herlem-Prey nach, dass Gregorius’ Position in der deutschen Version deutlich gestärkt ist: Ha.[rtmann, A. B.] setzt seine ganze Kunst daran, Gregorius und den Abt zu gleichrangigen Gegnern zu machen, die beide durch die Schule der Rhetorik und Dialektik gegangen sind. [...] Denn was Ha. an diesem Dialog gereizt hat, ist – und das ist Ha.s Eigentum – daraus eine disputatio zwischen einem Geistlichen und einem Ritter zu machen, in der jeder seine von ihm gewählte Lebensform mit gleich starken Waffen verteidigt.39 35 Zu Hartmanns Quelle und Bearbeitung vgl. zusammenfassend: Cormeau / Störmer, Hartmann (wie Anm. 13), S. 123–124. Ausführliche Vergleiche bei Brigitte Herlem-Prey, Le Gregorius et La Vie de Saint Gregoire. Détermination de la source de Hartmann von Aue à partir l’étude comparative intégrale des textes, Göppingen 1979. 36 Vgl. La Vie du Pape Saint Grégoire. Huit versions françaises médiévales de la légende du bon pécheur (hg. Sol 1977). Der Text ist inzwischen auch mit deutscher Übersetzung zugänglich: La vie du pape Saint Grégoire ou La légende du bon pécheur. Das Leben des heiligen Papstes Gregorius oder Die Legende vom guten Sünder, hg. nach der Ausgabe von Hendrik Bastiaan Sol mit Übersetzung und Vorwort von Ingrid Kasten, München 1991. 37 Der Dialog zwischen dem Abt und Gregorius umfasst bei Hartmann 432 Verse (vgl. V. 1385–1816), in der altfranzösischen Version A 1 204 (vgl. V. 1027–1220) und in B1 220 Verse (vgl. V. 815–1034). 38 McCann stellt an diesem Beispiel heraus, wie sehr Hartmann die Emotionsschilderungen des französischen Textes zurückgenommen hat; vgl. McCann, Gregorius’s interview (wie Anm. 34), S. 86. 39 Herlem-Prey, Der Dialog (wie Anm. 34), S. 74.
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Herlem-Prey entwickelt diese These auf dem Wege eines Vorlagenvergleichs, weshalb sie nur oberflächlich auf den logischen Aufbau des Gesprächs eingehen kann. Ich möchte diese These nun durch eine eingehende Argumentationsanalyse unterstützen.40 Es soll herausgestellt werden, dass der Dialog zwischen Gregorius und dem Abt tatsächlich nach dem Muster der disputativen Methode gebaut ist – jedoch nur das erste Gespräch zwischen diesen beiden Figuren. Gewöhnlich wird die gesamte Szene als ›das Abtsgespräch‹ bezeichnet (vgl. V. 1385–1808), das durch zwei kleinere narrative Einschübe (vgl. V. 1641–1658; V. 1739–1757) in drei Teile gegliedert sei.41 Ich denke jedoch, es ist sinnvoller, diese Dialoge als drei eigenständige zu behandeln,42 da die epischen Zwischenstücke, einmal die Ausstattung Gregorius’ als Ritter, dann die Übergabe der Tafel, signifikante Veränderungen der Gesprächssituation darstellen.43 Mit einem derart differenzierten Blick kann gezeigt werden, dass nur der erste Dialog zwischen Gregorius und dem Abt nach dem Muster der Disputation gebaut ist, die beiden folgenden Auseinandersetzungen sind von einer anderen Qualität.
40 Paul Michel hat den Dialog bereits einer Argumentationsanalyse unterzogen. Allerdings kranken seine Ausführungen und Schlüsse daran, dass er den Kommunikationstyp vorgängig als »Handlungsempfehlung« festlegt und dann alle Figurenaussagen unter dieser Perspektive bewertet. Vgl. Paul Michel, Mit worten tjôstieren. Argumentationsanalyse des Dialogs zwischen dem Abt und Gregorius bei Hartmann von Aue, in: Germanistische Linguistik, H. 1–2 (1979), S. 195–215. 41 Vgl. etwa Herlem-Prey, Der Dialog (wie Anm. 34), S. 63. Hansjürgen Linke gliedert den Dialog ähnlich und argumentiert dafür, dass er nach einem zahlenkompositionellen Prinzip aufgebaut sei; vgl. Linke, Epische Strukturen (wie Anm. 3), S. 45–49. 42 Der erste Dialog erstreckt sich damit von Vers 1385 bis 1640, der zweite von Vers 1659 bis 1738 und der dritte von Vers 1758 bis 1808. 43 Vgl. hierzu meine Definition der Dialogszene oder wehselrede: »Konstitutiv [für eine wehselrede, A. B.] ist die formale Figur des Wechsels (›Turn‹), welcher sich zwischen den Figurenäußerungen (›Halbturns‹) vollzieht und durch den die Teilnehmer ihre Rollen tauschen (Sprecher/Hörer). Die Figurenäußerungen können sowohl verbal sprachlicher als auch nonverbaler Natur sein (Geste). Für eine wehselrede ist es notwendig, dass mindestens zwei Halbturns gegeben sind, von denen mindestens einer (wesenhaft) verbal sprachlich verfasst sein muss. Zudem muss zwischen den Figurenäußerungen eine (reziproke) Bezugnahme auf semantischer oder deiktischer Ebene gegeben sein.« Als Dialog-Szene ist sie durch die Einheit des Ortes, der Zeit und des Personals gekennzeichnet (vgl. Anja Becker, Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, München 2009, S. 29–50, Zitat S. 48f.). Im ›Gregorius‹ verstreicht zwischen der ersten und der zweiten wehselrede eine gewisse Zeit (Gregorius wird als Ritter ausgestattet), zwischen der zweiten und der dritten verändert sich der Ort des Gesprächs (sie gehen in die Kammer, wo der Abt Gregorius’ Tafel aufbewahrt). Deshalb muss man die Redewechsel zwischen dem Abt und Gregorius als drei separate Dialogszenen behandeln.
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III. Das Abtsgespräch als disputatio Auf der Klosterinsel gilt Gregorius als ein Neffe des Fischerehepaars, das ihn in seine Obhut aufgenommen hat. Diese offizielle Version geht auf eine Intrige des Abtes zurück. Die Fischer, die den Säugling auf dem Meer gefunden haben, hat er durch Bestechung zum Schweigen verpflichtet. Über die eigentliche Geschichte des Findelkindes, die auf Gregorius’ Tafel verzeichnet ist, weiß nur er allein Bescheid. Diese Tafel nimmt er an sich, um sie seinem Eigentümer auszuhändigen, wenn dieser ihre Bedeutung verstehen kann. Einstweilen kümmert er sich in außergewöhnlicher Weise um das vermeintliche Fischerkind. Als Gregorius sechs Jahre alt ist, holt der Abt ihn ins Kloster und lässt ihn unterrichten. Bis zu seinem 15. Lebensjahr durchläuft der Jüngling eine profunde Schulbildung, die ein Studium der artes liberales, der Theologie und der Rechtswissenschaften umfasst (vgl. V. 1155–1200).44 Gregorius’ Leben im Kloster scheint vorgezeichnet. Zwar steht es ihm als Oblate in diesem Alter frei, selbst zu entscheiden, ob er die Gelübde ablegt,45 doch ist seine Alternative keine verlockende. Da er sich aus niedrigem Stand wähnt, stünde ihm ansonsten nur das Leben eines Fischers offen. Die Frage nach der Lebensausrichtung stellt sich ihm damit nicht. Das ändert sich radikal, als Gregorius belauscht, wie seine Ziehmutter im Zorn seine wahre Herkunft als Findelkind ausspricht. Wenn er also nicht der Sohn eines Fischers ist, wer ist er dann? Diese Frage bringt all seine Grundüberzeugungen ins Wanken. War Gregorius bislang davon ausgegangen, dass Mönch das beste Leben für ihn ist, eröffnet seine ungeklärte Herkunft nun ganz neue Perspektiven. Nun ist es sogar denkbar, dass er adelig ist, und somit das Leben ergreifen kann, nach dem es ihn schon immer verlangt hat: das des Ritters. Gregorius hat sich bereits, bevor er zum Abt geht, gegen das Klosterleben entschieden, auch wenn diese Entscheidung noch auf vielen ungesicherten Annahmen beruht. Hierdurch ist nun der Ausgangpunkt für eine Disputation zwischen den beiden Figuren gegeben. Die Fragestellung, die sie verhandeln, also die quaestio, lautet: Was ist die richtige Lebensform für Gregorius? Oder um es im Sinne von Aristoteles als dialektisches Problem zu formulieren: Ist Mönch die richtige Lebensform für Gregorius oder nicht? Gregorius, der Respondent, vertritt die Position des Contra, während der Abt als Opponent für das Klosterleben argumentiert. Ihre Auseinander44 Ich zitiere: Hartmann von Aue, Gregorius, hg. von Hermann Paul, 14., neu bearbeitete Auflage besorgt von Burghart Wachinger, Tübingen 1992. 45 Vgl. Cormeau, ›Armer Heinrich‹ (wie Anm. 3), S. 111; Cormeau / Störmer, Hartmann (wie Anm. 13), S. 118–119.
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setzung ist deshalb als dialektische einzustufen, weil sie ihre Deduktionen nur auf Wahrscheinlichkeitsgründen aufbauen können, nicht auf wahren Prämissen. Dennoch wird nichts Beliebiges verhandelt, sondern der weitere Lebensweg des Protagonisten steht auf dem Spiel. Und im Zuge der Disputation geht es darum, der Wahrheit in dieser Frage möglichst nahezukommen und die Entscheidung hierauf zu gründen. Zudem erfüllt der Dialog die aristotelischen Kriterien, dass ein dialektisches Gespräch von anerkannten Meinungen ausgehen sollte und eine Antwort auf die gestellte Frage nicht auf der Hand liegen darf. Schließlich gilt sowohl das mönchische als auch das ritterliche Leben im Mittelalter als gut und ehrenvoll. Und in Bezug auf Gregorius gibt es durchaus schlagende Argumente für jede der infrage stehenden Alternativen. In seiner eröffnenden Rede deduziert Gregorius aus einem Satz von Prämissen die Konklusion, dass Mönch nicht das richtige Leben für ihn ist (vgl. V. 1385–1431). Zuerst dankt er dem Abt für alles, was er für ihn getan hat. Das Handeln seines Ziehvaters sei umso höher einzuschätzen, als es einem ellenden kneht | von einem vunden kinde galt (V. 1398–1399). Die anfängliche captatio benevolentiae läuft folglich darauf hinaus, dass Gregorius seinem Gegenüber zu verstehen gibt, dass er nun um seine Herkunft weiß. Zugleich nennt er auch seine »Quelle«, die Fischerfrau. Auf diesem Wissen baut Gregorius seine Argumentation auf. Als zusätzliche Prämissen führt er ein, dass er berechtigt ist, über seine Lebensführung zu entscheiden, und dass es ihm zur Schande gereiche, ein Findelkind zu sein. Letzteres ist entscheidend für seine Konklusion, dass er das Land verlassen will und muss. Denn würde er auf der Klosterinsel bleiben, müsste er immer wieder diese unêre hören. Doch: ich enhœre si weizgot niemer mê, | wande ich niht langer hie bestê (V. 1415–1416). Dieses Argument untermalt er, indem er über die Geschwätzigkeit der Frauen lamentiert. Da eine Frau es nun ausgesprochen habe, sei es nur eine Frage der Zeit, bis alle anderen von seiner Schande wüssten (vgl. V. 1426–1431). Mit dem Schluss, der Verlust seiner Ehre treibe ihn aus dem Land, verhüllt Gregorius, was er eigentlich meint: Er will das Kloster verlassen. Während dies leicht zu durchschauen ist, beweist Gregorius sein eigentliches Argumentationsgeschick dadurch, dass er die zentrale Prämisse seiner These noch nicht offenlegt. Zentral für seine Konklusion ist eigentlich nicht die Prämisse der Schande – wie es hier scheint –, sondern die der Herkunft. Denn die Tatsache, dass seine Herkunft ungeklärt ist, öffnet ihm die Perspektive auf den Ritterstand. Ganz nach den Regeln der Krypsis verschweigt er, dass seine Entscheidung gegen das Kloster die Wahl des Ritterlebens impliziert. Der Abt fällt auch prompt auf dieses Ablenkungsmanöver herein und konzentriert seinen Gegenangriff ganz auf Gregorius’ Prämisse, dass sein
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Status als Findelkind ihm zur Schande gereiche (vgl. V. 1432–1478). Indem er nichts weiter zur Herkunft seines Schützlings sagt, bestätigt er stillschweigend die Aussagen von dessen Amme. Auch der Abt hält hier entscheidende Informationen zurück, schließlich klärt er Gregorius nicht über seine wahre Standeszugehörigkeit auf; allerdings nicht, um dieses Argument später auszuspielen, wie es bei Gregorius der Fall ist. Vielmehr könnte dieses Wissen die Position des Jünglings noch stärken, und damit der eigenen Argumentation schaden. Explizit akzeptiert der Abt die Prämisse, dass Gregorius vrîe wal hat (V. 1439), über sein Leben zu entscheiden. Er konzentriert sich im Weiteren auf die Themen der Ehre und Schande und führt eine distinctio zwischen der inneren und der äußeren Schande ein. Während er die Bedeutung der von außen zugesprochenen Schande herunterspielt, hebt er hervor, dass Unehre oder Ehre eigentlich erst durch die Wahl zum Guten oder Schlechten entstehe. Deutlich identifiziert der Abt die Wahl, das Kloster zu verlassen, mit der Schande, die Wahl zu bleiben mit der Ehre. An Gregorius appelliert er, sich gut zu überlegen, swaz dû dir wilt erwerben, | genesen oder verderben (V. 1447–1448). Argumentationstheoretisch geht der Abt folglich so vor, dass er die vermeintlich zentrale Prämisse seines Schützlings dadurch zu widerlegen versucht, dass er eine logische Unterscheidung vornimmt, die zum gegenteiligen Schluss führt – mit Aristoteles könnte man sagen, dass er aus Einem Vieles macht.46 Seinen Rat, Gregorius solle im Kloster bleiben, schmückt der Abt noch mit zusätzlichen Argumenten aus, die strenggenommen für seine Deduktion nicht notwendig, hier aber klug eingesetzt sind, denn sie schmeicheln dem anderen. Gegen die Befürchtung seines Schützlings, dass die Leute schlecht über ihn sprechen könnten, führt der Abt dessen Beliebtheit an und verspricht, seine Ziehmutter zum Schweigen zu bringen. Des Weiteren prophezeit er Gregorius eine glänzende Zukunft im Kloster, nicht zuletzt deshalb, weil er ihn als seinen Nachfolger vorgesehen habe (V. 1457–1478). In seiner Gegenrede (V. 1479–1514) dankt Gregorius erneut dem Abt für alles, schlägt aber im gleichen Atemzug dessen Rat aus. Drei Dinge seien dafür verantwortlich, dass er nicht im Lande bleiben könne. Als Erstes nennt er erneut die Schande. Hiermit knüpft er sowohl an seine vorherige Argumentation als auch an den Widerspruch des Abtes an. Indem er auf diesem Punkt beharrt, signalisiert er seinem Kontrahenten, dass er nicht widerlegt ist. Auch wenn der Abt einen neuen Begriff von Schande eingeführt hat, bleibt doch als Tatsache bestehen, dass seine Stellung rechtlich bzw. gesellschaftlich gesehen ehrlos ist. Blickt man auf den Fortgang seiner Deduktion, so wird deutlich, dass diese Prämisse für die Konklusion nicht 46 Vgl. Aristot. top. 164b4–7.
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notwendig ist. Erneut nutzt Gregorius sie zur Ablenkung. Wichtiger sind von den aufgezählten drîe sache die Punkte zwei und drei. Hier greift Gregorius die Prämisse der ungeklärten Herkunft wieder auf und legt offen, auf welcher Grundlage der Entschluss, das Land zu verlassen, eigentlich fußt: sô ist diu ander [sache] sô getân diu mich ouch verjaget hin: ich weiz nû daz ich niene bin disses vischæres kint. nû waz ob mîne vordern sint von selhem geslähte daz ich wol werden mähte ritter, ob ich hæte den willen und daz geræte? (V. 1492–1500)
Hatte Gregorius vor dem Gespräch noch gezweifelt, ob die Aussage seiner Amme, er sei ein Findelkind, ein lüge oder ein wârheit sei (V. 1379), so hat er darüber nun Gewissheit erlangt, da der Abt sie widerspruchslos akzeptiert hat. Auf der Prämisse seiner ungeklärten Herkunft baut er nun das Argument auf, dass es denkbar sei, dass er aus adeligem Geschlecht stamme. Und das wiederum würde ihm eine Alternative zur mönchischen Lebensform eröffnen: die ritterliche. Dieser Gedanke ist es letztlich, der seinem Entschluss, das Land zu verlassen, zugrunde liegt; die Möglichkeit, das Schwert ergreifen zu können, ist die zentrale Prämisse für Gregorius’ Deduktion, sie treibt ihn aus dem Land und dem Kloster. Kaum hat er sie jedoch geäußert, lenkt der junge Mann in geschickter Weise sogleich von ihr ab, indem er zwei Einwände gegen sich selbst anführt. Er könne nur dann Ritter werden, wenn sein muot ihm zu dieser Lebensform stünde und wenn er die entsprechende Ausrüstung besitze. Zum ersten Punkt nimmt Gregorius eindeutig Stellung: Immer schon sei es sein Wunsch gewesen, Ritter zu werden. Das Leben im Kloster sei zwar daz süeziste leben (V. 1507), doch könne er es nicht genießen, da er sich als Ritter, nicht als Mönch fühle: ze ritterschefte stât mîn wân (V. 1514). Der zweite Punkt der notwendigen Ausrüstung bleibt derweil im Raume stehen. Es handelt sich dabei um eine implizite Bitte, die Gregorius auf kunstvolle Weise in seine Argumentation einbindet, denn schließlich verfügt der Abt über die finanziellen Mittel, ihn ritterlich auszustatten. Später wird Gregorius die Bitte um Ausstattung explizit wiederholen. Da der Abt um Gregorius’ adelige Herkunft weiß, kann er seiner Argumentation nicht eigentlich widersprechen. Erneut bestätigt er damit indirekt die Annahme des Jünglings, er könnte die Standesvoraussetzung für das Ritteramt erfüllen. Der Abt setzt seinen Gegenangriff bei Gregorius’
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Wunsch nach Ritterschaft an (V. 1515–1529). Eindrücklich appelliert er an seinen Schützling: durch got bekêre dînen muot. swer sich von phaffen bilde gote machet wilde unde ritterschaft begât, der muoz mit maniger missetât verwürken sêle unde lîp. (V. 1516–1521)
Seine Aussage basiert auf der Annahme, dass das Leben als Ritter per se in die Sünde führe, während das Leben im Kloster als einziges heilsbringend sei. Das Verlassen des Klosters setzt der Abt mit der Abkehr von Gott gleich. Zusätzlich kommt er auf die Frage der Wahlfreiheit zurück. Er habe Gregorius ze einem gotes kinde erwählt (V. 1527). Impliziert ist, dass dieser zwar selbst über sein Leben bestimmen könne, jedoch auf das vertrauen solle, was Einsichtigere für ihn vorgesehen haben. Denn sein Entschluss führe ihn auf direktem Wege in die Hölle, wohingegen er als sein geistlicher Vater sein Seelenheil im Blick habe. Gregorius widerspricht der Gleichsetzung von Ritterstand und Heilsverlust, indem auch er nun die disputative Technik der distinctio nutzt (V. 1531–1535). Ritter unterteilt er in gewöhnliche und in gotes ritter (V. 1534). In letzterer Ausprägung führe dieses Leben ebenfalls ins Heil. Abschließend gibt er zu bedenken, dass es alle Male besser sei, auf solche Weise Ritterschaft zu pflegen, als ein betrogen klôsterman zu sein (V. 1535), also ein Mönch, der sich zu diesem Leben nicht berufen fühlt. Dem kann der Abt nicht widersprechen. Er führt seinen Gegenangriff fort, indem er den neuen Einwand vorbringt, dass es Gregorius an der ritterlichen Ausbildung mangele. Als Ritter müsse er deshalb notwendig den Spott der anderen Ritter erleiden (V. 1536–1542).47 In feinsinniger Weise erinnert der Abt damit an Gregorius’ Argument, die Schande seiner Herkunft vertreibe ihn aus dem Land. Ein Auszug als Ritter meine letztlich nur, den Spott der Landsleute gegen den Spott der Standesgenossen einzutauschen. Gregorius führt daraufhin an, dass er jung sei und alle nötigen Fähigkeiten noch erlernen könne (V. 1543–1546). Doch damit gibt der Abt sich nicht zufrieden (V. 1547–1557). Er beruft sich nun auf Fachleute (sun, mir saget vil 47 Die folgende Textpassage, in der Gregorius den Abt schließlich davon überzeugt, dass Ritter das richtige Leben für ihn ist (vgl. V. 1536–1620), muss als Hartmanns Eigentum angesehen werden, da sie sich bis auf wenige Verse nicht in den altfranzösischen Versionen findet. Vgl. dazu Herlem-Prey, Der Dialog (wie Anm. 34), S. 68; McCann, Gregorius’s interview (wie Anm. 34), S. 89–90.
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maniges munt | dem ze ritterschaft ist kunt, V. 1547–1548). Diese würden bestätigen, dass man sich immer wie ein Geistlicher verhalten müsse, wenn man zwölf Jahre lang nur in der Schule verbracht und während dieser Zeit keinerlei praktische Ausbildung als Ritter erfahren habe. Erneut akzeptiert der Abt Gregorius’ Argument des Lernenkönnens in gewissem Maße, führt aber die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Lernen ein. Gregorius habe zwar im ersteren Gebiet seine Gelehrsamkeit stets unter Beweis gestellt, doch sei es etwas anderes, ein Pferd zu reiten und Turniere zu bestreiten. Seine Rede beschließt der Abt mit einem neuen Typ von Argument: Dass Gregorius zum Mönch bestimmt sei, beweise allein schon sein Äußeres, denn: diu kutte gestuont nie manne baz (V. 1557). Hier beendet der Abt gewissermaßen das streng deduktive Vorgehen der Disputation und öffnet das Feld für Evidenzbeweise. Auf diese Veränderung der Argumentationstaktik geht Gregorius sogleich ein (V. 1558–1624). Er bietet den gegenteiligen Evidenzbeweis an: Herre, nû versuochet ouch daz | und gebet mir ritterlîche wât (V. 1558–1559). Wenn diese ihm nicht stehen würde, wolle er sogleich die Kutte wieder anlegen. Hier formuliert Gregorius nun die vorher schon implizit angedeutete Bitte um Ausstattung explizit und gliedert sie in seine Argumentation ein. Später wird deutlich, dass der Augenschein offenbar Gregorius’ Anliegen unterstützt. Denn sobald er die Kutte gegen adelige Gewänder eingetauscht hat, fällt kein Wort mehr darüber, dass sie ihm nicht angemessen wären. Zum Einlenken wird der Abt jedoch durch ein zweites Argument diesen Typs bewegt. Nur entsteht die Evidenz diesmal nicht durch Anschauung, sondern durch die Rede selbst. Auf den berechtigten Einwand, dass ihm die praktische Ausbildung zum Ritter fehle, und er sie in seinem Alter nicht mehr nachholen könne, erwidert Gregorius: Auch wenn er körperlich noch nie Ritterschaft geübt habe, in seinen Gedanken sei er schon seit frühester Jugend Turniere geritten: ich sage iu, sît der stunde daz ich bedenken kunde beidiu übel unde guot, sô stuont ze ritterschaft mîn muot. ich enwart nie mit gedanke ein Beier noch ein Vranke: swelh ritter ze Henegouwe, ze Brâbant und ze Haspengouwe ze orse ie aller beste gesaz, sô kan ichz mit gedanken baz. (V. 1569–1578)
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Die Wahrheit dieser Aussage erweist er im Folgenden auf zweifache Art. Zuerst konzentriert er sich auf das Argument der ritterlichen Ausbildung im Geiste und stellt prägnant seinem äußeren Tun in der Klosterschule sein inneres Geschehen gegenüber. Wenn er über den Büchern saß, habe er sich nach Turnieren gesehnt, den Griffel hätte er gerne mit der Lanze und die Feder mit dem Schwert vertauscht (V. 1579–1592). Im zweiten Teil seiner langen Rede untermalt er sein (theoretisches) Können, mit dem auch bekannte Rittergeschlechter nicht mithalten könnten, indem er ein detailliertes Bild von sich selbst in ritterlicher Betätigung zeichnet. Minutiös beschreibt er – gespickt mit Fachbegriffen – seine ritterliche Ausstattung, Reitkunst und seinen Umgang mit den Waffen (V. 1593–1620). Gregorius’ lange Rede entwickelt eine ganz eigene Beweiskraft, der sich der Abt nicht entziehen kann.48 Er gibt seiner Verwunderung über die Wortwahl seines Schützlings Ausdruck, die für ihn so wenig verständlich ist, als wenn er Griechisch gesprochen hätte (V. 1625–1630). Woher er diese Wörter kenne, sei ihm ein Rätsel: unser meister, der dîn phlac mit lêre unz an disen tac, von dem hâstû ir [der worte] niht vernomen. von swannen si dir zuo sîn komen, dû bist, daz merke ich wol dar an, des muotes niht ein klôsterman. (V. 1631–1636)
Am Ende dieses Gesprächs stimmt der Abt nun also Gregorius’ Schluss zu, dass Mönch nicht das richtige Leben für ihn ist. Er gibt seiner Ausfahrt seinen Segen und stattet ihn ritterlich aus. Es hat sich gezeigt, dass eine genaue Argumentationsanalyse die These bestätigt, dass das Gespräch zwischen Gregorius und dem Abt in der Form einer regulären Disputation gestaltet ist. Beide Kontrahenten führen ihre Deduktionen äußerst stringent und diszipliniert durch. Außerdem sind sie in der Lage, die Prämissen des anderen zu identifizieren, einzuordnen und hauptsächlich durch die Technik der distinctio in Zweifel zu ziehen. 48 Bernward Plate interpretiert diese Stelle so, dass Gregorius sich hier durch sein Wissen vom Rittertum als Ritter erweise: »Die Idee (essentia) ist das Wesen und dies ist nach der scholastischen Philosophie sogar von höherer Realität als die Wirklichkeit, welche nur ein Teil (Verwirklichung = ens) der Idee (essentia) ist. Folglich kann sich Gregorius durch die Formulierung der Idee (Beherrschung der ritterlichen Fachausdrücke in Technik und Ethik) unmittelbar (!) als Ritter zeigen«; Bernward Plate, Einleitung, in: B. P. (Hg.), Gregorius auf dem Stein. Frühhochdeutsche Prosa (15. Jh.) nach dem mittelhochdeutschen Versepos Hartmanns von Aue. Die Legende (Innsbruck UB Cod. 631), der Text aus dem ›Heiligen Leben‹ und die sogenannte Redaktion, Darmstadt 1983, S. 1–11, hier S. 7–8.
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Ganz wie es Aristoteles im 8. Buch der ›Topik‹, dem »Handbuch der Disputation«, rät, unterstützen sie ihre Deduktionen durch Kunstgriffe. Hierzu zählt im Besonderen die Technik der Verschleierung der eigentlichen Absicht, die Ablenkung des Gegners durch zusätzliche Argumente sowie das Vorwegnehmen von möglichen Einwänden. Gregorius und der Abt erweisen sich in dieser Auseinandersetzung als ebenbürtige Gegner, die alle Finessen der Rhetorik und Dialektik beherrschen.49 Auffällig ist das Umschwenken von der Deduktion auf die Evidenz am Ende der Disputation. Hierdurch wird die Gleichwertigkeit der Diskutanten noch deutlicher in Szene gesetzt. Denn man gewinnt schnell den Eindruck, dass ihre Disputation noch ewig hätte weitergehen können, da keiner den anderen mit dialektischen Mitteln übertrumpfen kann. Ein Sieger findet sich also nicht, weil der eine dem anderen intellektuell überlegen ist, sondern weil sich die Wahrheit von Gregorius’ These an seinem Wesen und seinen Worten selbst offenbart. Das Abtsgespräch stellt sich somit als eine disputatio in forma dar, die einen ungewöhnlichen Abschluss findet. Allerdings ist – um auch zu dieser These eine distinctio einzuführen – nur der erste, hier untersuchte Dialog der Auszugsszene als Disputation gestaltet (V. 1385–1640). Die beiden folgenden, kürzeren Redewechsel sind keine dialektischen Gespräche mehr, sondern eristische, wie nun gezeigt werden soll.
IV. Eristische Versuche des Abts Nachdem Gregorius den Abt auf disputativem Wege davon überzeugt hat, dass Ritter die richtige Lebensform für ihn ist, unternimmt Letzterer zwei weitere argumentative Anläufe, um seinen Schützling doch noch zum Bleiben zu bewegen (V. 1659–1738 und V. 1758–1808). Schließlich hat er 49 Die Figur des Abtes nimmt somit in diesem Gespräch weder eine überlegene noch eine unterlegene Position ein. Für erstere Alternative argumentiert Rainer Zäck. Der Abt nutze die sokratische Dialogtechnik der Mäeutik, um seinen Schützling zu einer selbstbewussten Entscheidung hinzuführen; vgl. Zäck, Der Guote Sündære (wie Anm. 2), S. 404. Eine ähnliche Einschätzung vertritt auch: Plate, Gregorius auf dem Stein (wie Anm. 48), S. 7. Paul Michel beschreibt den Abt dagegen auf Grundlage seiner fragwürdigen Dialoganalyse als unterlegenen Gegner, dessen Argumentationsweise unvollkommen und unfair sei. Er repräsentiere den alten Disputierstil der monastischen Tradition, Gregorius – der glänzende Sieger – dagegen die dialektische Kunstfertigkeit der Scholastik; vgl. Michel, Mit worten tjôstieren (wie Anm. 40), bes. S. 1406ff. Viel zu weit gehen einige Forschungsbeiträge, die den Abt als (teuflischen) Verführer beschreiben; vgl. R. Fischer, Hartmann’s Gregorius and the Paradox of Sin, in: Seminar 17 (1981), S. 1–16, hier 10; Elke Müller-Ukena, Sünde als perturbatio ordinis in Hartmanns von Aue Gregorius, in: Annali. Sezione Germanica. Filologia Germanica. Napoli 22 (1979), S. 181–203, hier S. 193f.
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noch zwei Trümpfe in der Hinterhand. Nur er weiß von Gregorius’ Vermögen, und er hat dem jungen Ritter seine Tafel noch nicht ausgehändigt. Zuerst nutzt der Abt seinen Wissensvorsprung über Gregorius’ Vermögensverhältnisse. Er verheimlicht sie weiterhin durch einen list (V. 1653) und rät dem jungen Ritter, im Lande zu bleiben, wo er ihm eine reiche Heirat verschaffen wolle. Denn ansonsten müsse er sich als fahrender Ritter seiner armuot schamen (V. 1666), immerhin mangele es ihm in der Welt sowohl an vriunt als auch an beweglichen Gütern (V. 1671). Seine Ausfahrt sei damit zum Scheitern verurteilt. Der Abt versucht folglich, Gregorius zum Bleiben zu überreden, indem er mit der vermeintlichen Armut des Ritters Scheingründe anführt. Hierdurch wird seine Argumentation zu einer eristischen,50 die in gewisser Weise eine Versuchung des jungen Ritters darstellt. Dieser erkennt jedoch die Falle, die der Abt ihm stellt: Grêgôrius sprach: ›herre, versuochetz niht sô verre. wolde ich gemach vür êre, sô volgete ich iuwer lêre und lieze nider mînen muot: wan mîn gemach wære hie guot. [...]‹ (V. 1675–1680)
Gregorius nutzt diese Gelegenheit, um in einer weiteren langen Rede seiner wahrhaft ritterlichen Gesinnung Ausdruck zu verleihen. Er preist seine Mittellosigkeit, denn hierdurch entgehe er der Versuchung, sich durch gemach zu »verligen« (V. 1683). Sollte er trotz seiner schwierigen »Startbedingungen« als Ritter dennoch guot und êre erlangen, dann würde man ihn umso mehr loben. Außerdem gibt Gregorius zu bedenken, dass er nicht eigentlich arm sei: ich trage si alle samet hie, | die huobe die mir mîn vater lie (V. 1695–1696). Erneut erweist der Protagonist damit, dass sein muot ihn zum Ritteramt bestimmt. Als der Abt merkt, dass er mit seiner List gescheitert ist, greift er zu seinem letzten und mächtigsten Mittel, um Gregorius zum Bleiben zu bewegen: Er übergibt ihm seine Tafel. Als Gregorius sie gelesen hat, wart er trûric unde vrô (V. 1747). Er ist erschüttert über die sündhaften Umstände seiner Geburt und zugleich erfreut darüber, dass er nun Gewissheit über seinen hohen Stand hat. Der Abt beginnt das letzte Gespräch zwischen 50 Eristik »ist ein pejorativer Sammelbegriff für unsachliche Formen der Disputationskunst. Bei eristischen Argumentationsformen wird das Unwissen eines Gegners ausgenutzt, um ihn zu Widersprüchen oder unglaubwürdigen bzw. falschen Behauptungen zu verleiten.« Richard Dietz, Art. ›Eristik‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 1389– 1414, hier Sp. 1389.
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ihnen beiden sehr sachlich. Gewissenhaft legt er Gregorius dar, wie er mit seinem Geld verfahren ist und um wie viel er es vermehrt habe.51 Hiermit knüpft er an ihre vorherige Auseinandersetzung an und gibt gewissermaßen zu, dass seine dortige Argumentation auf der nur vorgetäuschten Prämisse von Gregorius’ Armut beruhte. Gregorius hat allerdings anderes als sein Geld im Sinn. Ihn bedrückt die Sünde seiner Geburt, und er bittet den Abt um seinen geistlichen Rat: ›ouwê, lieber herre, ich bin vervallen verre âne alle mîne schulde. wie sol ich gotes hulde gewinnen nâch der missetât diu hie von mir geschriben stât?‹ (V. 1779–1784)
Gregorius’ momentane Schwäche nützt der Abt sogleich für seine Zwecke aus. Er wiederholt das Argument, dass Ritterschaft mit Heilsverlust gleichzusetzen sei, welches er bereits im ersten Dialog, also in der eigentlichen Disputation, verwendet hatte. Er schließt mit einem erneuten Appell an Gregorius, von diesem Irrweg abzulassen und Gott im Kloster zu dienen (vgl. 1785–1798). Dieser Rat des Abtes ist doppelt problematisch. Zum einen stützt er seine Schlussfolgerung auf ein Argument, das Gregorius bereits widerlegt hatte. Seine Deduktion ist damit erneut als eine eristische einzuschätzen, da sie auf Scheingründen basiert. Zum anderen entspringt sein Rat nicht eigentlich der Sorge um den anderen, sondern um sich selbst. Der Abt möchte seinen Schützling nicht verlieren und hat keine Skrupel, zu diesem Zwecke auch dessen Verzweiflung über die Sünde seiner Geburt auszunutzen. Statt Gregorius geistlichen Trost zuzusprechen, droht er ihm mit den vermeintlichen Konsequenzen seines Entschlusses, Ritter zu werden. Aber mit so billigen Mitteln lässt Gregorius sich nicht umstimmen. Da er das hier angeführte Argument des Abtes bereits widerlegt hatte, geht er nicht noch einmal eigens auf es ein. Er bewahrt im Widerspruch die Höflichkeit, indem er vom Thema der Sünde auf das seiner Herkunft umschwenkt. Er fragt nicht weiter nach Rat, sondern verkündet, seine Entscheidung, das Kloster zu verlassen, sei nun umso stärker:
51 Fritz Tschirch hat darauf verwiesen, dass die Geldsummen zahlensymbolisch ausgedeutet werden können und einen theologischen Gehalt haben; vgl. Fritz Tschirch, 17 – 34 – 153: Der heilsgeschichtliche Symbolgrund im Gregorius Hartmanns von Aue, in: Walter MüllerSeidl / Wolfgang Preisendanz (Hg.), Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, Hamburg 1964, S. 27–46.
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›Ouwê, lieber herre, jâ ist mîn gir noch merre zuo der verte dan ê. ich engeruowe niemer mê und wil iemer varnde sîn, mir entuo noch gotes gnâde schîn von wanne ich sî oder wer.‹ (V. 1799–1805)
Die Forschung hat sich in ihrer Suche nach einer persönlichen Schuld des Gregorius immer wieder auf diese Verse gestürzt.52 Blickt man allerdings nicht nur auf einige isolierte Aussagen der Figuren, sondern nimmt das Abtsgespräch als Ganzes in den Blick, erscheint diese Textstelle in einem anderen Licht. Konnte Gregorius im ersten Dialog, einer regulären Disputation, seinen Standpunkt durchsetzen, so stellen die letzten beiden Gespräche Verführungen des Abtes dar, in denen er von der dialektischen Argumentationsweise zur eristischen umschwenkt. In dieser Kunst der Überredung sieht er die einzige Möglichkeit, sein Ziel, Gregorius noch bei sich zu behalten, erreichen zu können. Doch da der Abt die faire Form der Auseinandersetzung hiermit verlassen hat, ist der junge Mann nicht an seinen Rat gebunden – er kann ihn ablehnen, ohne damit persönliche Schuld auf sich zu laden. Schließlich wendet sich Gregorius mit seinen abschließenden Worten auch nicht von Gott ab, sondern bittet um dessen Hilfe bei der Suche nach seinem Herkunftsland. In diese Bitte stimmt auch der Abt ein und segnet erneut die Ausfahrt des Jünglings (V. 1806–1808).
V. ›Gregorius‹ als disputatio Das Gespräch zwischen dem Abt und Gregorius verstehe ich als Zentrum dieses Werks und seine quaestio, also die Frage nach dem richtigen Leben für den Protagonisten, als das zentrale Thema des ›Gregorius‹. Es hat sich gezeigt, dass die beiden Figuren in die Rollen des Respondenten und Opponenten schlüpfen und eine Disputation nach allen Regeln der Kunst führen. Doch eines fehlt zu einer regulären Disputation, und die Suche 52 Allerdings geben die Interpretationen, die hier den Ausdruck von Gregorius’ superbia und Weltverfallenheit sehen, einer anderen Lesart den Vorzug. In den Handschriften H, A und G lauten die Verse 1799–1801: ›ouwê, lieber herre, | jâ ist mîn gir noch merre | zuo der werlde dan ê [...]‹ (Hartmann von Aue, Gregorius, hg. Neumann 1963 / 2000). Diese Textvariante wurde jedoch aufgrund textkritischer Probleme, der Polysemie des Wortmaterials und dem Argumentationskontext als die weniger wahrscheinliche herausgestellt; vgl. Dittmann, Hartmanns Gregorius (wie Anm. 2), S. 153ff. und S. 230f. sowie Herlem-Prey, Der Dialog (wie Anm. 34), S. 74ff.
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nach dieser Leerstelle führt gleichsam von der Dialoganalyse auf die Interpretation der ganzen Erzählung. Es soll im Weiteren gezeigt werden, dass man einen neuen Zugang zum ›Gregorius‹ finden kann, wenn man das Werk als groß angelegte Disputation liest.53 Will man die Minimalbedingung einer Disputation angeben, kann man darauf verweisen, dass bei ihr drei Teilnehmer in festgelegten Rollen miteinander streiten. Sowohl der Respondent als auch der Opponent sind bereits identifiziert. Doch wer ist der Präses dieser Auseinandersetzung? Wer hat die verhandelte quaestio formuliert, und wer wird das Problem der richtigen Lebensausrichtung des Protagonisten letztlich mit seiner determinatio abschließend lösen? Ich möchte die These aufstellen, dass es in Hartmanns ›Gregorius‹ eine heimliche Hauptfigur gibt, die die im Text verhandelte Disputation als Präses leitet: nämlich Gott. Denn eingeleitet wie auch ausgeleitet wird die Disputation zwischen dem Abt und Gregorius durch das Eingreifen Gottes.54 Die quaestio und die determinatio werden im Werk nicht theoretisch formuliert, sondern narrativ ausgefaltet. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Gregorius’ Leben ist von Anfang an ein Problem. Geboren aus einer inzestuösen Beziehung stellt er das sichtbare Zeichen dieser Schande dar.55 Deshalb kann er nicht an dem Ort und in dem Stand aufwachsen, der ihm eigentlich zukommen würde. Im Gegenteil: Das Kind muss möglichst weit entfernt und seine Herkunft möglichst gut verschleiert werden. Man setzt den Säugling in einem Schiff aus zusammen mit einer Tafel, die ebenso viel verbirgt wie sie erklärt.56 Sogleich nimmt sich Gott des Kindes an und leitet die Fahrt seines Bootes: 53 Im Hintergrund dieses argumentativen Schrittes steht gewissermaßen eine Metaphorisierung des Disputationsbegriffes. Denn bislang habe ich mit »Disputation« eine historisch verortbare, institutionell verankerte und intern regulierte kulturelle Praxis bezeichnet (vgl. I.), die im Abtsgespräch eine verschriftlichte und literarisierte Form findet. Wenn ich im Weiteren argumentiere, dass die Disputation gleichsam die narrative Entfaltung des Sujets in Hartmanns ›Gregorius‹ steuert, dann ist hier mit diesem Begriff ein abstraktes Prinzip, eine Form des menschlichen Denkens gemeint. Dieser zweite Disputationsbegriff setzt auf einer höheren Ebene an und stellt sozusagen die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass dialektische Denk- und Redeformen verschiedenen kulturellen Medien ihre Gestaltung geben können (etwa bei mündlichen Streitgesprächen, philosophischen Abhandlungen oder literarischen Werken). 54 Ein weiterer Verdächtiger wäre der Erzähler, jedoch hält dieser sich vor, während und nach dem Abtsgespräch auffallend mit Kommentaren zurück. Aber auch sonst nimmt er im ›Gregorius‹ keine hervorstechende Position ein. 55 Zu den Rechtsfolgen für ein Inzestkind vgl. Cormeau / Störmer, Hartmann (wie Anm. 13), S. 120–121. 56 Edith und Horst Wenzel verstehen die Tafel in Anschluss an Ernst H. Kantorowicz als den symbolischen Zweitkörper des Protagonisten, der den »›anderen‹ Gregorius« vergegenwär-
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Nû lâzen dise rede hie unde sagen wie ez ergie dirre vrouwen kinde daz die wilden winde wurfen swar in got gebôt, in daz leben ode in den tôt. unser herre got der guote underwant sich sîn ze huote, [...] In zwein nehten und einem tage kam ez von der ünden slage ze einem einlande, als ez got dar gesande. ein klôster an dem stade lac, des ein geistlich abbet phlac. (V. 923–944)
Zweimal fährt Gregorius ohne Ziel über Wasser und beide Male lenkt Gott sein Boot zu einem bestimmten Ort, der für seinen weiteren Lebensweg wichtig wird. Einmal, als er zur Klosterinsel kommt, und dann, als er sie verlässt, also vor und nach der zentralen Textstelle der Disputation mit dem Abt.57 Die Fahrt über das Meer versinnbildlicht eindrücklich die Kontingenz des menschlichen Lebens, seine Verletzlichkeit und sein Ausgeliefertsein. Hier tritt die lenkende Hand Gottes am deutlichsten hervor, auch wenn sie an anderen Punkten der Handlung ebenfalls eingreift. Gott führt das Schiff des Säuglings zu einer Klosterinsel und stellt sicher, dass der Abt auf das Kind aufmerksam wird. Der geistliche Herr der tigen würde: »Die erzählte Tafel leistet die symbolische Bewahrung dessen, was sozial ausgelöscht erscheint: die sündhafte/inzestuöse Herkunft des Gregorius.« Edith Wenzel / Horst Wenzel, Die Tafel des Gregorius. Memoria im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Harald Haferland / Michael Mecklenburg (Hg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996, S. 99–114, hier S. 104. 57 Gregorius fährt noch zwei weitere Male über Wasser: vor und nach seiner Buße auf der Felseninsel. Allerdings unterscheiden sich die beiden ersten Schifffahrten von den beiden letzten deutlich. Auf dem Weg zur Klosterinsel und weg von ihr ist Gregorius seine Zukunft verborgen und Gott lenkt seine Geschicke. Die Fahrten zum Felsen und von ihm fort zeichnen sich dagegen durch das zielgerichtete Handeln der Figuren aus (Gregorius sucht einen Ort für seine Buße bzw. er wird als neuer Papst nach Rom geführt). Außerdem werden die letzten beiden Seereisen, anders als die prominenten ersten beiden, narrativ nur angedeutet (alsus vuorte er [der Fischer, A. B.] in mit unsite | ûf jenen wilden stein, V. 3086–3087 bzw. dô vuorten si [die Gesandten, A. B] mit in dan | disen sündelôsen man | ab dem wilden steine, V. 3657–3659). Während die ersten beiden Schifffahrten also dazu genutzt werden, um das Eingreifen Gottes in Gregorius’ Vita zu inszenieren, unterstreichen die letzten beiden lediglich die Radikalität der Weltabwendung des Helden nach Bekanntwerden des Inzests.
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Insel nimmt sich daraufhin des Kindes an, regelt seine Versorgung durch die Fischerfamilie, tauft es eigenhändig nach seinem eigenen Namen und holt es später als Oblate ins Kloster. Die göttliche Fügung ist somit dafür verantwortlich, dass dem Protagonisten überhaupt zwei Lebensformen zur Wahl stehen, also die Voraussetzung für die spätere Disputation mit dem Abt gegeben ist. Von seiner Geburt her ist Gregorius adelig und damit zum Ritter und Landesherrn bestimmt. Doch die Schande seiner Geburt verwehrt ihm zunächst ein Leben in der ihm angestammten ritterlich-höfischen Sphäre. Durch den Inzest seiner Eltern an den Rand der Gesellschaft gedrängt, steht ihm eigentlich nur noch eine ehrenvolle Lebensform offen, zu der Gott ihn ja auch führt: die klösterliche. Von Geburt her ist folglich die weltlich-adelige Lebensform die angemessene für Gregorius, von seinem individuellen Schicksal her die weltabgewandt-monastische. Entsprechend hat der Protagonist zwei Väter: seinen biologischen Vater, den Herzog, und seinen geistlichen Vater, den Abt. Diese zwei Sphären, die in Gregorius zusammenlaufen, reflektieren sich auch in seiner Natur, in seinen Anlagen und Begabungen. Kurz vor dem Gespräch mit dem Abt geht der Erzähler ausführlich auf seine Talente und Tugenden ein. Auffällig ist, dass seine Eigenschaften Gregorius sowohl zum Geistlichen als auch zum Ritter prädisponieren. Vom Moment an, als Gregorius in die Klosterschule eintritt, zeichnet sich ab, welches Talent er für das geistlich-gelehrte Leben besitzt. Er ist lerneifrig, wissbegierig und mit solch intellektuellen Gaben gesegnet, dass er die anderen Kinder bald weit überflügelt. Schon als er 15 Jahre alt ist, hat Gregorius die artes liberales, Theologie und Rechtswissenschaften studiert: An sîm einleften jâre dô enwas zewâre dehein bezzer grammaticus danne daz kint Grêgôrius. dar nâch in den jâren drin dô gebezzerte sich sîn sin alsô daz im dîvînitas gar durchliuhtet was: diu kunst ist von der goteheit. swaz im vür wart geleit daz lîp und sêle vrumende ist, des ergreif er ie den houbetlist. dar nâch las er von lêgibus und daz kint wart alsus in dem selben liste ein edel lêgiste: diu kunst sprichet von der ê. (V. 1181–1197)
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Auffällig ist bei der Beschreibung seines Bildungsweges, dass der Akzent deutlich auf den Wissenschaften von der Sprache und der Argumentation liegt (das Quadrivium findet keine Erwähnung), also auf denjenigen Fähigkeiten, die er kurz darauf in der Disputation mit dem Abt brauchen wird. Gregorius’ Intellekt scheint ihn für die geistliche Lebensform und eine Karriere in der Kirche vorzusehen, wie es ja auch der Abt plant. Doch die Fassade des angeblichen Fischerkindes, das ins Kloster gegeben wurde, wird von Gregorius’ eindeutig adeligem Körper und seinen Herrschertugenden irritiert. Immer wieder wird auf die Schönheit seiner Gestalt verwiesen. Und kurz nach dem Bericht über seine geistliche Ausbildung hebt der Erzähler ein zweites Mal zu einer Beschreibung des Protagonisten an. Diesmal lobt er an ihm Tugenden, die deutlich in die höfische Sphäre weisen. Im Durchgang durch die Kernbegriffe der adeligen Gesinnung wie schœne, triuwe, zuht, vuoge, mâze, milte zeichnet der Erzähler Gregorius als jemanden, der alles hat, was ein vorbildlicher Herrscher haben sollte (V. 1238–1259). Folgerichtig schließen diese Ausführungen mit dem einhelligen Urteil der Inselbewohner: die liute dem knappen jâhen, alle die in gesâhen, daz von vischære nie geborn wære dehein jungelinc sô sælden rîch: ez wære harte schedelîch daz man in niht mähte geprîsen von geslähte, und jâhen des ze stæte, ob erz an gebürte hæte, sô wære wol ein rîche lant ze sîner vrümikeit bewant. (V. 1273–1284)
Es ist deutlich, dass Gregorius sowohl eine herausragende Befähigung für die geistliche Laufbahn als auch für die ritterlich-adelige Lebensweise besitzt. Während ihm seine Herrschertugenden von Geburt her zukommen, offenbart sich seine Disposition zum gelehrt-geistlichen Leben erst dadurch, dass Gott die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass sie sich zeigen und ausbilden können. Letztlich ist es somit Gottes Eingreifen in seine Vita, welche ihm zwei verschiedene Lebensformen als Optionen eröffnet. In gewisser Weise formuliert Gott damit eine Frage an Gregorius: Wie willst du leben? Als Mönch oder als Ritter? Gott als Präses hat damit die quaestio der Disputation zwischen Gregorius und dem Abt in den (narrativen) Raum gestellt.
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Allerdings weiß der Protagonist, anders als der Rezipient, lange Zeit nichts davon, dass seine Lebensausrichtung ihm zur Wahl steht. Dass er auch jemand anderes sein kann als ein Geistlicher, erfährt er erst, als er die Scheltrede seiner Ziehmutter belauscht. Diese Situation wurde jedoch auch wieder durch eine höhere Instanz herbeigeführt. Denn der ansonsten friedfertige Gregorius schlägt seinen Ziehbruder, ohne es eigentlich zu wollen (ez enkam von sînem willen niht, V. 1290). Der Erzähler nennt diese Gegebenheit ein wunderlich geschiht (V. 1289) und versichert, dass diese Tat Gregorius’ sonstigem Verhalten völlig widersprechen würde (daz geschach im nie mê, V. 1291). Die Singularität und Kontingenz dieser Tat verweist auf Gott als Urheber. Die durch Gregorius’ Vita implizit formulierte quaestio wird hier durch göttliche Fügung zu einer expliziten. Gott als Präses eröffnet damit die Disputation zwischen dem Protagonisten und dem Abt. Während ihrer dialektischen Auseinandersetzung hält er sich im Hintergrund. Erst als Gregorius seine These, Ritter statt Mönch sei das richtige Leben für ihn, durchgesetzt hat, schaltet er sich wieder ein. Das weitere Leben des jungen Ritters kann man sowohl als Zusammenfassung der Argumentation als auch als Widerlegung der siegreichen solutio lesen. Gott wird am Ende der Erzählung eine eigene Antwort auf die quaestio in Form einer überraschenden und zugleich eleganten determinatio formulieren. Gregorius’ neues Leben als Ritter beginnt vielversprechend. Er zeichnet sich im Kampf aus und befreit die Herzogin von Aquitanien von einem Verehrer, der sie seit Jahren belagert und ihr Land verwüstet hat. Hiermit beweist er, dass er Ritterschaft nicht nur im Geiste, sondern auch im Tun beherrscht. Die Vasallen raten ihrer Herrin darauf, endlich einen Mann zu nehmen, der das Reich beschützen könne – und wer könnte diese Aufgabe besser erfüllen, als der Retter in der Not? Gregorius wird mit der Herzogin vermählt und damit zum Herrscher über ein mächtiges Reich. Was sich in seiner Jugend bereits angekündigt hatte, erfüllt sich nun. Er ist ein vorbildlicher Herrscher, der sein Land nach außen hin verteidigt, aber nicht nach Expansion strebt. Seinen Untertanen gegenüber ist er ein gerechter und milder Richter (V. 2257–2276). Zugleich führt er ein gottgefälliges Leben und vergisst nicht, für seine Eltern zu beten. Indem er für seine tägliche Bußübung eine festgesetzte Zeit wählt, übernimmt er ein Stück geistliche Praxis aus seinem klösterlichen Leben in seine neue Existenz als weltlicher Herr. Diese Handlungen belegen die These, die Gregorius gegenüber dem Abt geäußert hatte, dass man auch als Ritter Gott dienen könne. Sein rasanter sozialer Aufstieg vom fahrenden Ritter zum Landesherrn scheint Gregorius’ Konklusion, Ritter sei das richtige Leben für ihn, voll und ganz zu bestätigen. Allerdings hatte Gott schon wieder seine Finger im Spiel. Als der junge Ritter die Klosterinsel verließ, um seine Herkunft
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zu ergründen, setzte er sein ganzes Vertrauen auf Gottes Hilfe. Allein der Wind sollte über die Fahrt seines Schiffes entscheiden. War er schon bei seiner ersten Seereise den Wellen ausgeliefert gewesen, so führt er diese Situation jetzt willentlich herbei und legt sein Geschick in Gottes Hände: Nû bôt der ellende herze unde hende ze himele und bat vil verre daz in unser herre sande in etelîchez lant dâ sîn vart wære bewant. (V. 1825–1830)
Gott lässt einen Sturm aufziehen, der das Schiff an eine fremde Küste wirft. Was Gregorius nicht weiß, ist, dass er bereits in seinem Heimatland angekommen ist. Die bedrängte Dame, die er befreit und daraufhin heiratet, ist seine Mutter. All seine Erfolge als Ritter und Landesherr werden nichtig, als diese fatale Tatsache ans Licht kommt. In einem kurzen Anfall von Verzweiflung klagt Gregorius Gott an, weil er ihm zwar zu seiner Mutter geführt habe, aber in anderer Weise als er es sich gewünscht hatte: nû hân ich si gesehen sô | daz ich des niemer wirde vrô (V. 2619–2620). Auch wenn Gregorius hier mit dem Ratschluss Gottes hadert, nimmt er sein Schicksal doch demütig an.58 Dass sein Leben von Gott gelenkt wird, ist überdeutlich. Indem die Vita des Protagonisten hierdurch jedoch die beschriebene Wendung erfährt, ist Gregorius’ These, Ritter sei das richtige Leben für ihn, grundlegend widerlegt worden. Sein Leben in der Welt hat eben die gesellschaftliche Katastrophe heraufbeschworen, aus der er geboren wurde: den Inzest. Denn den Inzest allein aus theologischer Perspektive als Sünde zu verstehen, würde zu kurz greifen. Er ist eben auch ein soziales bzw. gesellschaftliches Problem. Deshalb steht diese Krise auch sinnbildlich dafür, dass Gregorius in den beiden Lebensformen gescheitert ist, die ihm offenstanden. Weder das Leben als Mönch noch das als Ritter hat sich als richtig für ihn erwiesen. Als Konsequenz zieht er sich radikal aus der Welt zurück. Gregorius bittet Gott, ihm eine wüeste zu zeigen, dâ er inne müeste | büezen unz an sînen tôt (V. 2757–2759). Dieser Bitte kommt Gott nach und führt ihn in das fern aller Zivilisation liegende Haus eines Fischers. Dieser bietet dem Bußfertigen an, ihn auf eine einsame Felseninsel zu 58 Gregorius verfällt hier keineswegs der Todsünde der desperatio, wie zuweilen behauptet wird. Schließlich fängt er sich schnell wieder und weist seine Mutter, die übermäßig über ihre Sünde klagt, mit den Worten zurück: ez ist wider dem gebote. | niht verzwîvelt an gote (V. 2697–2698).
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bringen und dort anzuketten. Gregorius willigt ein und bleibt an diesem unwirtlichen Platz Erde zurück. Siebzehn Jahre verbringt Gregorius auf dem Felsen im See, am Leben gehalten von der göttlichen Gnade. Für die Welt ist er gestorben, wie auch alles weltliche Streben ihn verlassen hat. Seine Vita hat sowohl die These des Abtes, Mönch sei das richtige Leben für ihn, als auch seine eigene, Ritter sei es, widerlegt. Gott verstanden als Präses der Disputation im ›Gregorius‹ hat somit die solutio des menschlichen Redewettstreits als Scheinlösung offenbart. Das letzte Wort zur in Frage stehenden quaestio hat nun er. Als der Papst verstirbt, können sich die Kardinäle in Rom nicht auf einen Nachfolger einigen. Signifikant ist, dass ihre Auseinandersetzung wie eine Disputation beschrieben wird, die jedoch scheitern muss, da alle nur auf die eigenen Machtinteressen schauen, nicht auf die vorgelegten Argumente: ir strît wart sô manicvalt daz si beide durch nît unde durch der êren gît bescheiden niene kunden wem si des stuoles gunden. (V. 3150–3154, Hervorhebung A. B.)
In dieser festgefahrenen Situation schaltet sich nun Gott durch ein Auditionswunder ein. Eines Nachts offenbart er zwei besonders angesehenen Kardinälen, wer der neue Papst werden soll. Er sei Gregorius genannt und lebe seit siebzehn Jahren allein auf einem einsamen Felsen in Aquitanien. Als sich die Kardinäle wieder versammeln, verkünden die beiden unabhängig voneinander denselben Namen (V. 3166–3203). Dass beide exakt dasselbe sprechen, macht das Wunder aus. Hier ist der absolute Kontrast zur Disputation gegeben, für die die Meinungsverschiedenheit konstitutiv ist. Gott hebt damit aber nicht nur die Auseinandersetzung der Kardinäle auf, er beschließt auch die groß angelegte Disputation des ›Gregorius‹ mit einer determinatio, die alles andere als schulmäßig ist. Das richtige Leben für Gregorius ist weder Mönch noch Ritter, sondern Papst. Gottes determinatio schiebt aber nicht diese beiden Lebensformen einfach beiseite, sondern integriert sie. Als Papst profitiert Gregorius sowohl von seiner geistlichtheologischen Ausbildung als auch von seinen Herrscherqualitäten. In diesem Amt bilden seine zwei Dimensionen keinen Gegensatz mehr, sondern arbeiten zusammen. Er ist ein guter Richter, der die Verstockten bestraft und die reuigen Sünder tröstet. Und durch sein Handeln wie auch seine Worte lehrt er das gottgefällige Leben, sô wuohs diu gotes êre | vil harte starclîche | in rœmischem rîche (V. 3828–3830). Dass er selbst in Sünde verfallen war und Gott ihm vergeben hat, lässt ihn mit Milde auf die anderen Sünder
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blicken. Nie, so resümiert der Erzähler, habe es bislang einen solchen Papst gegeben, der baz ein heilære | der sêle wunden wære (V. 3791–3792).59
VI. Resümee In diesem Aufsatz sollte eine Neuinterpretation von Hartmanns ›Gregorius‹ vorgelegt werden, die vom Abtsgespräch ausgeht. Zunächst war es aber wichtig zu erkennen, dass sich diese Szene in drei verschiedene Dialoge gliedert, in ein großes Gespräch und in zwei kleinere Auseinandersetzungen. Ersteres ist in der Form einer regulären Disputation gestaltet, der Abt und sein Schützling verhandeln auf dialektischem Wege die Frage nach dem richtigen Leben für Gregorius. Die letzteren beiden Gespräche konnten als eristische Argumentationen, also als die sophistische Abart der 59 Vergleicht man die Gestaltung des Erzählabschlusses bei Hartmann mit dem in der altfranzösischen Legende, treten signifikante Unterschiede hervor, die es unterstützen, den ›Gregorius‹ als eine groß angelegte Disputation zu interpretieren. In der ›Vie‹ kommt es zu keiner Meinungsverschiedenheit zwischen den Kardinälen. Im Gegenteil: Sie beschließen sogleich, Gott die Wahl zu überlassen. Entsprechend erscheint ein Engel allen zwölf betend versammelten Kardinälen und verkündet, Grégoire solle neuer Papst werden (vgl. A 1 2307–2394). In seiner Bearbeitung hat Hartmann durch den strît der Kardinäle und das veränderte Auditionswunder somit den für sein Werk so wichtigen Diskurs der Disputation noch einmal narrativ aufscheinen lassen. Zugleich beschreibt Hartmann das Amt des Papstes deutlich als eines, das weltliche und geistliche Züge vereint. Diese signifikante Veränderung tritt vor der Folie der ›Vie‹ besonders deutlich ins Licht. Denn in der altfranzösischen Version ist das Papsttum ein rein geistliches Amt; der Papst Grégoire wird hauptsächlich im Gebet und in der Sorge um das Seelenheil der Sünder vorgestellt. Bei seiner Wahl stand nur der Wille Gottes im Zentrum. Anders Hartmanns Papst: Die edlen römischen Geschlechter bekriegen sich gegenseitig, um einen ihnen genehmen Vertreter auf den Stuhl Petri zu heben. Hierin wird die weltlich-politische Seite dieses Amtes deutlich. Auch Gregorius’ Handeln als Papst vereint weltliche wie geistliche Züge. Er ist zwar ebenfalls allen Sündern ein Trost, aber zugleich auch ein gerechter, aber strenger Richter. Wie zentral diese Dimension zum hier gezeichneten Bild des Papstes gehört, wird durch die gehäufte Verwendung der Begriffe rihtære und reht in der Passage, in der Hartmann den Papst Gregorius beschreibt, deutlich (in 38 Versen insgesamt 10 Belege, vgl. V. 3793–3830). Die Rechtsprechung gehört immerhin zu den zentralen Aufgaben eines weltlichen Herren (so lehrt schon zu Beginn des Werkes der Fürst seinen Sohn: rihte wol durch sîn [Gottes, A. B.] gebot, V. 258). Dass Gregorius in weltlichen Dingen ein guter Richter ist, hat er bereits als Herzog von Aquitanien bewiesen, nun stellt er diese (herrscherliche) Fähigkeit in den Dienst geistlicher Angelegenheiten. Für eine Verbindung der ritterlichen und der geistlichen Lebensform im Papstamt argumentieren auch Dittmann, Hartmanns Gregorius (wie Anm. 2), bes. S. 237–239 und Werner Röcke, Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns ›Gregorius‹, in: Matthias Meyer / Hans-Jochen Schiewer (Hg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 627–647, hier bes. S. 646.
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Disputation, charakterisiert werden. Da der Abt hier versucht, Gregorius durch Scheingründe vom Auszug abzuhalten, können seine Aussagen nicht als Grundlage für eine Bewertung des Protagonisten herangezogen werden. Ebenso wenig lädt Gregorius in diesen Gesprächen eine besondere Schuld auf sich, die letztlich zu seinem Inzest mit der Mutter führt. Anstatt eine Interpretation des ›Gregorius‹ auf isolierte Äußerungen der Figuren zu stützen, sollte man viel eher auf die Gestaltung dieser groß angelegten Dialogszene als Disputation blicken. Denn mit der disputativen Methode eröffnet das Werk selbst einen Beschreibungshorizont, den man nun für seine Neulektüre nutzen kann. Versteht man das Abtsgespräch als das Zentrum des ›Gregorius‹, kann man die hier verhandelte quaestio auch als Thema des gesamten Textes verstehen. In Hartmanns Werk geht es somit um die Frage, was das richtige Leben für Gregorius ist. Hierdurch wird der ›Gregorius‹ als eine Disputation lesbar, die einen ganz besonderen Präses aufweist: Gott.60 Durch sein Eingreifen in die Vita des Helden formuliert er sowohl die quaestio als auch die determinatio. Dabei bleibt Gott stets im Hintergrund, er ist gewissermaßen die heimliche Hauptfigur in Hartmanns Werk. In der göttlichen determinatio ist der Widerspruch zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Leben in einer höheren Lebensform, im Papsttum, aufgehoben. Der Gegensatz zwischen Mönch und Ritter, an dem die Disputation zwischen dem Abt und Gregorius entbrannt war, offenbart sich dadurch als ein scheinbarer, der nur in der Relativität des menschlichen Erkennens gründet. Eine höhere Vernunft ist dagegen in der Lage, diese Dissonanz zu überwinden.61 Auf welche Lehre aber zielt Hartmanns Erzählung? Gregorius wird natürlich nicht zu einer exemplarischen Figur aufgrund seiner Wahl zum Papst, aber auch keineswegs aufgrund seiner angeblichen Sündhaftigkeit oder seiner übermäßigen Buße. Sucht man eine theologische Botschaft des Werkes, sollte man vielleicht nicht nur auf die Themen der Schuld und Versöhnung blicken. Es wäre ja auch möglich, dass am Helden der Geschichte etwas ganz anderes exemplifiziert werden soll: nämlich das äußerst diffizile 60 In der altfranzösischen Gregoriuslegende ist das Geschehen wie in einem heilsgeschichtlichen Drama angelegt. Gott und der Teufel sind die eigentlichen Akteure, die um die Seele der Figuren kämpfen (vgl. Daniel Rocher, Das Motiv der ›felix culpa‹ und des betrogenen Teufels in der ›Vie du pape Grégoire‹ und in Hartmanns ›Gregorius‹, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 38 [1988], S. 57–66; Kasten, Schwester [wie Anm. 6], bes. S. 403– 404). Hartmann nimmt die Rolle des Teufels so stark zurück, dass Gottes zentrale Position im Werk deutlich in den Vordergrund tritt. 61 Diese Denkfigur ist zentral für die scholastische Methode und geht auf Anselm von Canterbury, dem »Vater der Scholastik«, zurück; vgl. Kasten, Streitgedicht (wie Anm. 14), S. 16; Grabmann, Scholastische Methode (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 333.
Göttlich geleitete Disputation in Hartmanns ›Gregorius‹
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Verhältnis zwischen Freiheit und Determiniertheit im menschlichen Dasein. Denn Gregorius wählt selbst das Leben, das er als das richtige für sich erkannt hat und verteidigt seine Wahl gegen die Angriffe des Abtes. Zugleich wird seine Vita aber auch von Beginn an durch das Eingreifen Gottes bestimmt, letztlich radikal durch die Berufung zum Papst. Gregorius’ Leben steht so zwischen den Polen der Selbstwahl und der Erwählung. Zur Darstellung des Verhältnisses dieser zwei Dimensionen hat Hartmann die Form der Disputation gewählt. So wie der Abt und Gregorius im dialektischen Gespräch frei sind, ist jeder Mensch frei, seine Vernunft zu nutzen und seinen Willen zu tun. Doch geleitet wird alles Tun und Denken letztlich von einer höheren Instanz, die sich aber im Hintergrund hält. Eine Disputation ist eine pädagogische Praxis, eine universitäre Lehrform. Bei der Lektüre des ›Gregorius‹ nimmt der Rezipient folglich gewissermaßen als Zuschauer an dieser Übungsform teil, wodurch ihm Grundzüge dieses Vorgehens und der dialektischen Methode vermittelt werden. Vielleicht könnte man aber auch hier den didaktischen Anspruch des Werkes verorten, und nicht in der Vermittlung bestimmter theologischer Inhalte. Die Figur des guoten sündære wäre so davon befreit, ein Vorbild sein zu müssen. Sie wäre dann zunächst einmal nur ein Widerspruch, ein dialektisches Problem, das einer Lösung harrt. Um eine solche solutio zu finden, bietet Hartmann eine Methode an: die Disputation.
Cordula Kropik
Ich wil dir zwei geteiltiu geben. Der Disput um die Liebe in der ›Heidin‹ B In einem Dialog des lateinischen Traktats ›De Amore‹ stellt eine Dame ihren Gesprächspartner vor folgendes Problem: Angenommen, eine Frau würde sich selbst unter zwei Liebhabern aufteilen und überließe es ihnen, zwischen ihrer oberen und ihrer unteren Körperhälfte zu wählen – welcher von beiden sei in seiner Entscheidung mehr zu loben? Die Antwort fällt sehr bestimmt aus: Ganz offensichtlich sei doch der, der die obere Hälfte gewählt hat, vorzuziehen, denn er strebe nicht nach dem bloß animalischen Liebesglück der unteren Leibeshälfte, sondern nach der höheren, der geistigen Liebe, die ausschließlich Eigenschaft des Menschen sei. Die Fragestellerin widerspricht: Da die Liebe ihren Ursprung in den niederen Trieben habe, tue jedes Paar gut daran, das Fundament seiner Liebe fest im Unterleib zu verankern. Ihr Gegenüber tadelt diese Auffassung als völlig verfehlt und spricht das letzte Wort in gegenteiligem Sinne: Ebenso wie den Himmel über die Erde und das Paradies über die Hölle, müsse man auch die geistige über die körperliche Liebe stellen. Demzufolge habe die Liebe nicht »unten«, sondern »oben« zu beginnen: Während derjenige, welcher nur nach niederen Liebesfreuden strebt, in höchstem Maße zu verachten sei, dürfe, wer die geistige Liebe schon erreicht habe, stufenweise auch zu den leiblichen Freuden vordringen. Die Dame gibt ihm recht und damit ist der Fall für die beiden erledigt. Sie verschwenden keinen Gedanken darauf, wie die beschriebene Teilung in praxi zu denken wäre und welche Konsequenzen sie für alle Beteiligten hätte. Der Autor des Dialogs, der französische clericus Andreas Capellanus,1 ist augenscheinlich nur an den minnetheoretischen Aspekten des Kasus interessiert. Er entwirft einen Disput über einen rein spekula1
Andreae Capellani regii Francorum ›De Amore‹ libri tres (hg. Trojel 1892/1972), hier der achte Dialog des ersten Buches: S. 206–213. Vollständig übersetzt in: Andreas Capellanus, Über die Liebe. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Fidel Rädle, Stuttgart 2006, hier S. 143–147.
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tiven Fall und blendet dabei jene komischen Verwicklungen aus, die das Motiv der geteilten Frau für einen epischen Erzähler erst reizvoll gemacht haben würden. Was aus dem Motiv wird, wenn man es in erzählte Handlung überführt, demonstriert das in vier Fassungen überlieferte mittelhochdeutsche Märe von der Heidin:2 Die älteste Fassung (A/I), das wohl um 1250 entstandene Werk eines nordbayrischen Dichters,3 berichtet, wie ein christlicher Ritter in Liebe zu einer Heidin entbrennt, deren Schönheit und Tugend ihm die Fama zugetragen hat. Er reitet in ihr Land, ficht einen erfolgreichen Kampf gegen ihren Gatten und bringt seine Werbung vor. Er wird zunächst ungnädig abgewiesen, kann die Heidin in einem mehrjährigen kampf- und ruhmreichen Dienst aber umstimmen. Sie ruft ihn zurück und stellt ihn nach einigem Hin und Her vor die bekannte Wahl. Er entscheidet sich für ihre oberen Hälfte, ist aber mit deren Besitz bald nicht mehr zufrieden und erwirbt sich listig auch die untere: Er befiehlt »seiner« Hälfte, dem Ehemann der Heidin jede Gunst zu entziehen. Die Prügelstrafe ihres irritierten Gatten und der Spott ihres Liebhabers bewegen sie dazu, sich schließlich ganz hinzugeben. Daraufhin kehrt der Christ zufrieden in seine Heimat zurück. Die nachfolgenden Fassungen II (ca. 1270/90, bairisch) und III (Ende 13. Jh., bairisch/ ostschwäbisch) sowie, unabhängig von diesen, die ›Heidin‹ B/ IV (Wende 13./14. Jh., ostfränkisch) ergänzen diesen Grundriss im Sinne des Erzählschemas der gefährlichen Brautwerbung: Der Christ entführt die Heidin, lässt sie taufen und heiratet sie.4 Trotz der offensichtlichen Übereinstimmung des zugrunde liegenden Problemfalls ist ein direkter Zusammenhang der mittelhochdeutschen 2
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Ich zitiere Fassung B (IV) nach: Novellistik des Mittelalters (hg. Grubmüller 1996), S. 364–469, Kommentar S. 1153–1171. Für die anderen Fassungen ist nach wie vor auf die Ausgabe Pfannmüllers zurückzugreifen: Die vier Redaktionen der Heidin (hg. Pfannmüller 1911). Zur Datierung und Lokalisierung der Fassungen: Karl-Heinz Schirmer, Art. ›Die Heidin‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 3 (2. Auflage 1981), Sp. 612– 615, sowie Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1157–1159. Gegenüber B weisen die Fassungen II und III noch einige zusätzliche Episoden auf: In II muss sich der Christ eines Rachefeldzugs des Heiden erwehren und versöhnt sich schließlich mit ihm. In III wird die Geschichte mit weiteren Details wie einem Drachenkampf und Beschreibungen höfischen Zeremoniells angereichert. Weil diese beiden Fassungen mit 2625 (II) und 4628 (III) Versen über den von Fischer bei maximal 2000 Versen angesetzten Umfang für Mären hinausgehen, gelten sie als Romane. Auf diese Differenz ist auch die unterschiedliche Nomenklatur der Fassungen (A/ B; II/ III) zurückzuführen: Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, hier S. 58 und Anm. 129. Zur »Romanhaftigkeit« von II und III auch Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bîspeln und Romanen, München 1985, S. 335–389.
Der Disput um die Liebe in der ›Heidin‹ B
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Mären mit dem lateinischen Traktat höchst unwahrscheinlich. Dies gilt zum einen natürlich deshalb, weil das Werk des gelehrten Franzosen zur fraglichen Zeit im deutschsprachigen Raum weder produktive noch rezeptive Wirkung entfaltete.5 Dies gilt zum anderen aber auch, weil sich alle Fassungen der ›Heidin‹ durch eine völlig andere Akzentuierung des Kasus auszeichnen: Nicht die Wahl des Mannes zwischen der oberen und der unteren Körperhälfte seiner Dame steht im Mittelpunkt ihres Interesses, sondern das Dilemma der Heidin, die einerseits ihre Ehre als tugendhafte Ehefrau bewahren und andererseits den treuen Minnedienst ihres Ritters belohnen muss.6 Hinzu kommt in den ersten drei Fassungen das auffallende Desinteresse an Minnekasuistik: Zwar zeigen die Figuren durchaus Ansätze zur Reflexion und Diskussion ihrer dilemmatischen Situation, doch stoßen diese Ansätze nirgends zur Geschlossenheit, geschweige denn zur argumentativen Geschliffenheit des capellanischen Dialogs vor.7 Glaubhafter als eine Übernahme aus ›De Amore‹ oder »vergleichbaren Materialien« erscheint es darum, als Quelle der mittelhochdeutschen Bearbeitungen eine volkssprachige Erzählung ohne dezidiert minnetheoretische Zielrichtung anzunehmen.8
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Die fehlende Rezeption von ›De Amore‹ in der deutschen Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts wird eindrücklich belegt von Alfred Karnein, De Amore in volkssprachlicher Literatur. Untersuchungen zur Andreas-Capellanus-Rezeption in Mittelalter und Renaissance, Heidelberg 1985, bes. S. 154–168 und S. 238ff. Da die ersten Handschriften des Traktats im deutschsprachigen Raum erst ab dem Ende des 14. Jahrhunderts nachweisbar sind, dürfte hier auch eine lateinische Rezeption weitgehend auszuschließen sein (ebd., S. 241f., S. 267ff.). Es ist mithin anzunehmen, dass der Beginn seiner Wirkung tatsächlich erst im 15. Jahrhundert, mit Eberhart von Cersne (›Der Minnen Regel‹ 1404) anzusetzen ist (ebd., S. 249ff.). Zur Verschiebung bzw. Doppelung des Kasus vgl. Ziegeler, Erzählen (wie Anm. 4), S. 342f. So erfahren wir etwa in Fassung A, dass der Ritter nicht weniger als drei Tage lang darüber nachdachte, welhen teil er næme, | der im allerbeste zæme (A V. 875f.) – doch wird uns kein Einblick in diesen Denkprozess gewährt. Die Reflexion der Heidin wird hier zwar expliziert, doch wirkt sie höchst unstimmig: Es wird nicht einmal deutlich, ob ihr Dilemma nun eines zwischen Pflicht und Neigung (A, V. 619ff.) oder eines zwischen der eigenen Ehre und dem Leben des selbstmordbereiten Christen sein soll (A V. 839ff.). Grubmüllers Annahme, dass die ›Heidin‹ »aus Andreas Capellanus oder aus vergleichbaren Materialien« entwickelt sei (Grubmüller, Novellistik, wie Anm. 2, S. 1157), krankt am fehlenden Nachweis dieser »Materialien«. Es scheint nicht zuletzt deshalb angebrachter, mit Karnein – und Schirmer (›Heidin‹, wie Anm. 3, Sp. 613) – als Vorbild für die ›Heidin‹ ein altfranzösisches Fabliau anzunehmen. Karnein rückt die ›Heidin‹ und ›De Amore‹ noch weiter auseinander, indem er vermutet, dass Andreas den Kasus nicht aus diesem Fabliau, sondern »wohl aus dem Umkreis der Streitfragenliteratur« kannte (Karnein, De Amore, wie Anm. 5, S. 162). Kasten hingegen vermutet die altfranzösische Form des jeu-parti als
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Dass dieser Traditionszusammenhang das minnekasuistische Potenzial des Motivs der geteilten Frau gleichwohl nicht völlig verschüttet hat, belegt die jüngste Fassung des Textes: Die ›Heidin‹ B baut die in A nur angedeutete Problematik in zwei umfangreichen Monologen und einigen Dialogen argumentativ aus und verbindet auf diese Weise die schwankhafte Handlung ihrer Vorgängerfassung mit einem kasuistischen Pro und Contra. Obwohl sie so »der theoretischen Diskussion eines Minnekasus wieder näherrückt«,9 ist auch hier keinesfalls an einen sekundären Einfluss von Andreas’ Minnetraktat zu denken. Viel plausibler erscheint die Annahme, dass ihr Dichter seiner Diskussion lediglich dasselbe Darstellungsmuster zugrunde legt. Wie Andreas, so gestaltet auch er seinen Text nach jenen formalen Regeln des Streitgesprächs, die die scholastisch-universitäre Lehrmethode der disputatio ebenso prägen wie volkssprachige und mittellateinische Minnetraktate und Streitgedichte.10 Ein solcher Rückgriff auf die Form des Streitgesprächs, sowohl in seiner volkssprachigen als auch in seiner lateinischen Ausprägung, ist für die mittelhochdeutsche Schwankdichtung nicht ungewöhnlich:11 Das analoge Grundmuster der beiden Formen scheint regelrecht dazu einzuladen, »Schlag und Gegenschlag« in »Rede und Gegenrede« umzusetzen, Wortwitz und Handlungslist füreinander einstehen zu lassen. Obwohl diese Überlegungen der Forschung durchaus nicht fremd sind, hat sie es bisher versäumt, die Konsequenzen zu ziehen. Nahezu einhellig betrachtet sie die ›Heidin‹ B als Vertreterin einer höfischen Minnetheorie Vorbild der ›Heidin‹: Ingrid Kasten, geteiltez spil und Reinmars Dilemma MF 165,37, in: Euphorion 74 (1980), S. 16–54, hier S. 36. MF: Des Minnesangs Frühling, hg. von Karl Lachmann, bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. I: Texte, Stuttgart 381988. 9 Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1158. 10 Dass der Autor der ›Heidin‹ B in diesen Regeln bewandert war, bemerkt auch Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1158. Er verweist dabei auf die Dissertation von Kasten, wo die Beziehungen zwischen Streitgesprächen in deutscher Literatur und verschiedenen anderen literarischen Formen des Streitgesprächs, vor allem der Ekloge, der scholastischen Disputation und dem altfranzösischen jeu-parti nachgezeichnet werden: Ingrid Kasten, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Hamburg 1973, bes. S. 6–39 und S. 228–237. 11 Den Einfluss des Streitgedichts auf das Märe behandelt Schirmer, der ausdrücklich auch auf die mittellateinische Vagantendichtung und das klerikale Schrifttum hinweist: Karl-Heinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle, Tübingen 1969, S. 246–270 und S. 299–307. Auch die der ›Heidin‹ zugrunde liegende Problematik der Teilung zwischen »oben« und »unten« ist in der Märendichtung noch weiter verbreitet: Neben dem Märe von ›des Teufels Ächtung‹ und dem ›Nonnenturnier‹ ist insbesondere auf den ›Rosendorn‹ hinzuweisen, der nach Fischer einen »Grenzfall« zwischen Märe und Rede darstellt: Fischer, Märendichtung (wie Anm. 4), S. 75, vgl. dazu Schirmer, Versnovelle, S. 250–270.
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capellanischer Prägung. So expliziert etwa Hans-Joachim Ziegeler: »Alle Versionen zielen […] daraufhin, vorbildliches Verhalten eines ritterlichen Werbers im Dienst um eine Dame zu demonstrieren und den Konflikt der Dame zwischen den Verpflichtungen gegenüber Ehemann und Werber im Sinne höfischer Minnedoktrin zu lösen«.12 Daneben wurde zwar auch schon früh das »eristische Gepräge des Dialogs und des Monologs bemerkt«;13 man hat die rhetorisch-dialektische Gestaltung der ›Heidin‹ B aber stets lediglich als Vehikel zur Explikation des minnetheoretischen Kasus, als Instrument zur »rationalen Durchdringung des Werbungs- und Entscheidungsproblems« betrachtet.14 Das ist zwar insofern nachvollziehbar, als ja die Diskussion um den Verhaltenskodex der höfischen Liebe auch in deutschsprachiger Lyrik und Epik lebhaft geführt wurde – die Selbstverständlichkeit, mit der hier vor dem Hintergrund einer vermeintlich fest umrissenen Minnedoktrin argumentiert wird, geht aber deutlich zu weit.15 12 Ziegeler, Erzählen (wie Anm. 4), S. 343. Ähnlich auch Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1158 und Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter, Tübingen 2006, S. 172–174. Am entschiedendsten in den Bann der capellanischen Minnetheorie wird die ›Heidin‹ B von Schirmer gestellt: Versnovelle (wie Anm. 11), S. 193–202. In einem etwas anderen Kontext erscheint sie bei Hufeland – dessen Interpretation indes nicht überzeugen kann (vgl. dazu Anm. 13): Klaus Hufeland, Der auf sich selbst zornige Graf. ›Heidin IV‹ als Manifestation der höfischen Liebe, in: Rüdiger Schnell (Hg.), gotes und der werlde hulde. Festschrift für Heinz Rupp, Bern 1989, S. 135–163, sowie: ders., Die mit sich selbst streitende Heidin, in: Gert Rickheit / Sigurd Wichter (Hg.), Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, Tübingen 1990, S. 3–24. 13 So Pfannmüller, Redaktionen (wie Anm. 2), S. 224, der aber nicht auf eventuelle Einflüsse des Streitgedichts eingeht. Das tut auch Hufeland nicht, der die Monologe der ›Heidin‹ B als literarische Umsetzungen des rhetorischen genus iudiciale und als »rhetorische Fachliteratur höchsten Formats« wertet: Hufeland, Der auf sich selbst zornige Graf (wie Anm. 12), S. 163 und S. 137. Seine an sich interessante Herangehensweise scheitert aus zwei Gründen: Erstens löst er die ›Heidin‹ B aus ihren Bezügen zum zeitgenössischen literarischen Umfeld und zweitens begründet er nicht überzeugend, weshalb ihre rhetorischen Elemente ausgerechnet dem juristischen Diskurs angehören sollten – beide Punkte begründen sich wohl daraus, dass Hufeland die ›Heidin‹ B ausschließlich mit Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik (München 1960) liest, das bekanntlich vor allem der antiken Rhetorik verpflichtet ist. 14 Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1158. 15 Mit einer solchen verbindlichen Minnedoktrin oder -theorie ist nicht nur deshalb nicht zu rechnen, weil der Traktat des Andreas Capellanus in Deutschland zur fraglichen Zeit nicht rezipiert wurde, sondern vielmehr auch deshalb, weil es die höfische Liebe, wie Schnell betont »als System, als stringente Theorie nicht gegeben hat«. Das Wesen der höfischen Liebe bestand demnach nicht im Befolgen einer irgendwie gearteten Minnetheorie, sondern in der in den Texten geführten Diskussion über das Ideal rechten Liebens: Rüdiger Schnell, Die ›höfische‹ Liebe als ›höfischer‹ Diskurs über die Liebe, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Curialitas. Studien zu Grundlagen der höfisch-ritterlichen Kultur, Göttingen 1990, S. 231–301, hier S. 236ff.
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Zudem wird sich im Folgenden herausstellen, dass man bei einer Betrachtung unter diesem Aspekt die eigentliche Pointe des Textes nicht erfasst: In der ›Heidin‹ B wird nämlich nicht wie bei Andreas Capellanus ein Problem innerhalb des Regelwerks höfischer Liebe, sondern das Konzept höfischer Liebe überhaupt diskutiert. Und der Hintergrund dieser Diskussion ist keineswegs ein von der Minnedoktrin vorgeschriebener Ablauf von Minnewerbung, Dienst, Prüfung und Lohngewährung, sondern die Form der disputatio selbst. Dabei zeichnet sich die ›Heidin‹ B insbesondere dadurch aus, dass sie anders als andere Mären Elemente des Streitgesprächs nicht einfach als Gesprächszenen in die Handlung einsetzt, sondern den Ablauf des Disputs in den Gang der Handlung überträgt. Mit anderen Worten: Anstelle den Disput der beiden Protagonisten zum Teil ihrer Handlung zu machen, macht sie die Handlung selbst zum Disput. Die Dynamik des Geschehens wird vom dialektischen Ringen zweier Kontrahenten um die Lösung einer quaestio bestimmt, wobei der zugrunde liegende Kasus nicht bloß in Worten, sondern darüber hinaus mit vollem Körpereinsatz erörtert wird.
I. Disput in Worten und Taten Wodurch also wird in der ›Heidin‹ B die Handlung zum Disput? Die Beantwortung dieser Frage erfordert einen Zugriff sowohl auf den Inhalt als auch auf die Komposition des Textes – ich setze darum doppelt an. Zuerst sei auf eine strukturelle Dissonanz hingewiesen, die, wie Karl-Heinz Schirmer feststellt, »der Handlungsführung der ›Heidin‹ […] etwas eigentümlich Widersprüchliches« verleiht.16 Der Text ist nach zwei inkompatiblen literarischen Mustern gestaltet: dem der Minne- und dem der Brautwerbung. Während die Werbung um eine verheiratete Frau und die minnekasuistische Wahl zwischen deren oberer und unterer Leibeshälfte eine charakteristische Minnehandlung konstituieren, gehören die Orientfahrt des Helden und vor allem seine in den Fassungen II, III und B ausgeführte Hochzeit mit der Umworbenen zum Brautwerbungsschema. Inkompatibel ist diese Verbindung deshalb, weil die Brautwerbung eigentlich »die Heimführung eines unverheirateten Mädchens« verlangt, der Minnedienst an einer verheirateten Frau hingegen »zwar Lohngewährung, nicht aber den Ehebund« anstrebt.17
16 Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 193. 17 Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 193.
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Bemerkenswert ist nun, dass das Brautwerbungsschema in Fassung B, anders als in II und III nicht erst am Ende, sondern gleich zu Beginn des Textes wirksam ist. Nur hier behauptet der Protagonist, ein linksrheinischer Graf, eine hervart unternehmen zu wollen (V. 226), nur hier macht er sich vor seiner Abreise Sorgen um bürge und […] lant (V. 185) und nur hier zieht er nicht los, ohne den Beschluss durch seine dienstliute beraten zu lassen (V. 237ff.). All diese Motive sind typische Bestandteile des Brautwerbungschemas.18 Zugleich aber verkündet der Graf mehrfach, nâch âventiure rîten zu wollen, was auf eine Minnewerbung hinweist (V. 302, ähnlich V. 171).19 Dieses unverbundene Nebeneinander der Erzählmuster am Textbeginn bewirkt, dass man sich schon hier fragen muss: Will der Graf nun eigentlich um die Minne der Heidin werben oder will er sie heiraten? Man ist zweifellos zuerst geneigt, dieses Problem eher auf einen schon in den Vorgängerfassungen angelegten kompositorischen Defekt denn auf eine intendierte Problematisierung zurückzuführen. Doch werden wir gleich feststellen, dass die strukturelle Dissonanz eine thematische Entsprechung in der Handlung findet – freilich in modifizierter Form: Denn in der Handlung spielt die Frage nach Minne- oder Brautwerbung zunächst keine Rolle; Minne und Aventiure stehen ganz klar im Zentrum. Der Graf reist von Turnier zu Turnier, bis er schließlich ins Land des Heiden gelangt. Er ist so offenkundig als Minneritter unterwegs, dass ihn die Heidin, als sie um die Beendigung seines Kampfes mit ihrem Gatten bittet, ganz selbstverständlich im Namen seiner vrouwe (V. 542) anspricht. Sie scheint also unmittelbar erfasst zu haben, dass sie, soll ihre Bitte gewährt werden, auf den zentralen Wert des fahrenden Ritters verweisen muss. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass sie im Folgenden bei diesem Thema bleibt: Im Namen seiner vrouwe spricht sie die Einladung aus, in der Burg ihres Ehemanns zu verweilen (V. 652) und nach seiner vrouwe erkundigt sie sich während eines höfischen Plauderstündchens (V. 729f.). Sie kommt dem Gast entgegen, indem sie seine Sprache spricht, ja, sie lässt sich so weit auf ihn ein, dass sie sich mit der Zusage, ihm beim Erwerb sei18 Vor allem die Beratungsszene ist konstitutiv für das Brautwerbungsschema; die Heerfahrt des Brautwerbers ist eine Option neben seiner Reckenfahrt oder einer Botenfahrt: Vgl. dazu Christian Schmid-Cadalbert, Der ›Ortnit‹ AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985, bes. S. 88–92. Der Gedanke, dass ein scheidender Herrscher einen würdigen Vertreter benennen muss, ist zwar nach Schmid-Cadalbert nicht notwendig, findet sich aber etwa auch im ›König Rother‹ (hg. Stein/ Bennewitz 2000), V. 726ff. 19 Vom Nebeneinander zweier Handlungsmuster zeugt auch die Tatsache, dass die Leute des Grafen, die zuerst entsprechend dem Brautwerbungsschema dienstman waren (V. 266, vgl. V. 247, V. 290), bald als jene knehte (V. 376) angesprochen werden, die Aventiureritter bisweilen mit sich führen.
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ner Dame behilflich zu sein, geradezu selbst ausliefert (V. 774ff.). Als der Graf schließlich mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis seine Werbung vorbringt, scheint sein Spiel deshalb schon fast gewonnen zu sein (V. 793ff.). Angesichts der bis dahin so bereitwilligen Kooperation mutet das plötzliche Erschrecken der Heidin, ihre abrupte und resolute Zurückweisung der gräflichen Werbung merkwürdig an. Dies gilt umso mehr, als diese Zurückweisung durchaus nicht, wie Schirmer glaubt, als Zurückhaltung einer höfischen Dame zu deuten ist, die, wie es die höfische Minnedoktrin fordert, »den spontanen Willen des Mannes zu läutern und ihn zur Bewährung anzuspornen« sucht, um ihm erst dann schrittweise entgegenzukommen.20 Es fällt vielmehr im Gegenteil auf, dass die Heidin gerade hier, wo bei Andreas Capellanus das Werbegespräch erst seinen Anfang nehmen würde, den Diskurs der höfischen Liebe jäh verlässt, ja, dass sie sich mit zunehmender Vehemenz gegen ihn absetzt. Sie hält der Minneklage des Grafen – ›wan dû mit der minne strâle | mich hâst in daz herze troffen.‹ (V. 808f.) –, seiner Bitte um Erhörung und seiner Zusicherung ewigen Dienstes – ›nû lâ mich niht in dirre nôt! | daz wil ich biz an mînen tôt | gerne verdienen umbe dich‹ (V. 833–835) – weder fehlende Minnewürdigkeit noch die Forderung längerer Bewährung entgegen. Stattdessen verweist sie darauf, ihre êre als Ehefrau und die zuht […] reiner wîbe (V. 862–864) behalten zu wollen. Sie setzt also Minne und Ehe ebenso kontradiktorisch nebeneinander, wie beim Aufbruch des Grafen die Erzählmuster von Minne- und Brautwerbung kontradiktorisch nebeneinanderstanden. Doch die Heidin begnügt sich nicht damit, die Werbung einfach abzuweisen – sie zieht darüber hinaus auch ihre ethische Berechtigung in Zweifel: Als der Graf darauf verweist, dass sein treuer Minnedienst ihren Lohn geradezu gebiete (›sî müeste im genædic wesen‹, V. 877), unterstellt sie ihm unlautere Absichten: ›wan ir trieget mit listen‹ (V. 893). Aus ihrer Rede geht hervor, dass sie nicht allein seiner Liebe, sondern dem Minnediskurs überhaupt misstraut. Sie hält die Worte des Grafen für eine bloße Überredungsstrategie, für eine hässliche list mit dem Ziel, sie dem spot (V. 912) preiszugeben, sie, wie vor ihr wohl schon andere, mit valsche zu belügen (V. 914). Es dürfte evident sein, dass sie spätestens jetzt nicht mehr im Diskurs höfischer Liebe, sondern über ihn spricht: Sie begreift ihn als betrügerisches (schâch-)spil (V. 918f.), das mit den Mitteln guoter rede (V. 959) gespielt wird und das sie explizit mit dem Begriff des Streitgesprächs, des strîtes belegt (V. 972, V. 1030).21 Der Graf versuche, so lässt sich ihr Vorwurf zusammenfassen, sie mittels einer geradezu sophistischen 20 Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 195. 21 Zur Terminologie: Kasten, Streitgedicht (wie Anm. 10), S. 1.
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Scheinargumentation von einer falschen Wahrheit zu überzeugen, um sie ihrer Ehre zu berauben. Gegen Ende des Gesprächs prallen seine Argumente (aufrichtiger) Minnewerbung und ihr Vorwurf (betrügerischen) Wortgeklingels besonders eindrucksvoll aufeinander. Der Graf beschließt eine eloquente Ankündigung seines baldigen Ablebens an gebrochenem Herzen (V. 964ff.) mit der Versicherung: ›des müget ir gelouben wol.‹ Die Heidin entgegnet: ›ir sît strîtes vol‹ (V. 971f.). Und die kluge Heidin weiß auch, sich mit gleichen Mitteln zu wehren. Dem Vorwurf des durch sie verschuldeten (Liebes-)Tods hält sie die gefährliche Lebensweise des Grafen entgegen: Wenn überhaupt, dann sei es diese, die ihm den (Kampf-) Tod bringen werde (V. 1015ff.). Sie stellt seiner Beispielargumentation vom Liebestod Pyramus’ und Thisbes (V. 895ff.) eine eigene gegenüber: Selbst wenn er stärker als Dietrich, Hagen und Ecke wäre, würde ihr Mann ihn gleichwohl erschlagen (V. 934ff.). Und sie widerlegt sein einleitendes Vergleichsargument mit einem ähnlich strukturierten Gegenvergleich, indem sie den von ihm apostrophierten Liebespfeil – da ihr Liebespfeil ihn verwundet habe, treffe sie die moralische Verpflichtung, ihn auch zu heilen (V. 808ff.) – zum Stachel seines Begehrens umdeutet: ›iuch sticht lîht ein dorn in den vuoz, | des welt ir iu machen buoz | und welt in mir stechen în: | des mac niht gesîn!‹ (V. 1037–1040). Diese Gegenrede der Heidin ist es, die die Werbung zum Disput macht und zwar in doppelter Hinsicht: Zunächst einmal begreift sie, wenn sie das Liebeswerben des Grafen und seine im Minnediskurs formulierte Argumentation zur bloßen Überredungsstrategie, zum strît, erklärt, die höfische Liebe als Übung in der ars disputandi. Ihrer Ansicht nach ist das ganze System höfischer Liebe demnach nichts als ein rhetorisches spil, das sie ganz dezidiert nur so lange mitspielt, wie es nicht auf ihre gesellschaftliche Ehre übergreift. Damit setzt sie dem nur imaginierten Wert der höfischen Liebe den höheren, weil »realen« Wert ehelicher Treue entgegen. Sie macht deutlich, dass sie denjenigen, der das Gesellschaftsspiel »Minne« in die Realität überführen will, für einen eigennützigen Betrüger hält, der so die Erfüllung seines Begehrens erschleichen will. Auf diese Weise aber stößt sie außerdem einen Disput an, in dem die höfische Liebe nicht mehr Medium, sondern Gegenstand ist: Sie macht aus dem strît innerhalb des Systems höfischer Liebe einen strît über die höfische Liebe. Und dieser strît bezieht sich nicht nur auf Worte, auf jene Argumentation also, mit der der Graf seine Werbung durchsetzen will. Denn neben dem strît der Worte lehnt sie auch die aktive Form der Minnewerbung, den Dienst im ritterlichen Kampf klar ab. Ihrer Ansicht nach setzt der Graf durch sein verbales Drängen nicht nur ihre Ehre, sondern im Kampf auch sein Leben und das seiner Gegner leichtsinnig aufs Spiel (V. 973ff.).
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Indem sie sie als spil auffasst, stellt die Heidin die höfische Liebe überhaupt infrage: Sie widerspricht der Geltung ihrer Argumente ebenso wie der Geltung ihrer Handlungsstandards. Wenn man diesen Einspruch als erstes Gegenargument (contra) in einem Streit um den Geltungsanspruch der höfischen Liebe auffasst, dann konstituiert die Heidin damit einen Disput, in dem die Werbung des Grafen in Wort und Tat die erste These (pro) ist. Von hier aus betrachtet scheint auch ein erklärendes Licht auf die strukturelle Dissonanz am Beginn des Textes. Denn mit ihrer Argumentation gegen die höfische Liebe antwortet die Heidin nicht nur auf die Werbung des Grafen, sondern auch auf jene Frage – Liebe oder Ehe? –, die das unverbundene Nebeneinander von Minnewerbung und Brautwerbungsschema dort aufgeworfen hatte. Es erscheint mithin legitim zu sagen, dass das Pro und Contra des Disputs im Widerspruch der Handlungsmuster am Textbeginn nicht nur gespiegelt und vorweggenommen, sondern in gewisser Weise auch von diesem angeregt worden ist. Oder anders gesagt: Der Graf und die Heidin verhandeln eine quaestio, die in der Komposition des Textes angelegt ist. Sie erscheinen mithin als Kontrahenten (respondens, opponens) in einem vom Text selbst präsidierten Disput.22 Und da die quaestio dieses Disputs vom Text nicht in Worten, sondern in Handlungsmustern formuliert wird, erscheint es nur konsequent, wenn die Kontrahenten ebenfalls nicht nur in Worten, sondern auch mit Taten disputieren. So ist es zu begründen, dass das Muster der Minnewerbung, das, vom Grafen ausagiert, im Disput das Pro darstellte, durch das Contra der Heidin jäh gestoppt wird: Er wird nicht, wie es dieses Muster erwarten ließe, zu weiterer Bewährung in ihren Dienst aufgenommen, sondern rundheraus abgewiesen. Ihr Abschied ist mehr als deutlich: ›blâst ein horn! | iuwer dienst ist verlorn‹ (V. 1035f.).
II. Distinctio der Heidin Dass der Graf trotz dieser unmissverständlichen Absage genau da weitermacht, wo er aufgehört hatte, dass er weiterhin im Namen der höfischen Liebe kämpft und siegt, dabei aber den Namen der Geliebten geheimhält und ihr treu bleibt (V. 1045ff.) – all das dürfte die Heidin nur dann von ihrer Meinung abbringen, wenn es ihm auf diese Weise zugleich gelingt, 22 Grundsätzliches zur Rollenverteilung der disputatio: Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 866–880, hier Sp. 866f., Fidel Rädle, Art. ›Disputatio‹, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 376–379, hier S. 377f.
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ihren Widerspruch zu entkräften. Sie hatte seine Werbung abgewiesen, weil sie die höfische Liebe und ihre Pflichten als Instrument nur zur Schädigung, nicht aber zum Erwerb von êre ansah. Er muss ihr nun beweisen, dass Minne und Minnedienst ganz im Gegenteil sehr wohl relevante, gesellschaftlich anerkannte Werte sind. Und weil dieser Beweis mit Worten nicht zu erbringen ist (denn eine Behauptung gesellschaftlicher Anerkennung wäre in diesem Fall nichts als plattes Eigenlob), bleibt dem Grafen nichts weiter übrig, als Taten sprechen und dann die Stimme der Gesellschaft von seinem Ansehen Zeugnis ablegen zu lassen. Ob der Graf diesen Zusammenhang erkannt hat, ob er an eine besonders strenge Prüfung der Heidin glaubt oder seinen Dienst aus bloßer Lebensmüdigkeit fortsetzt, ist aus dem Handlungsbericht nicht klar ersichtlich.23 Die Heidin jedenfalls verfolgt mit großem Interesse, was ihr die Fama zuträgt: doch diu vrouwe wunnesam | die geste vaste fragete | daz man ir mære sagete (V. 1104–1106). Doch anstatt, wie es ihr am liebsten gewesen wäre, zu vernehmen, dass der Graf, wie von ihr vorhergesagt, unehrenhaft zu Tode gekommen sei – daz er wære ermort | oder zu tôde erstochen (V. 1108f.) – und damit sein ihrer Meinung nach unverschämtes Ansinnen vergolten habe – sô würde an im gerochen | irez herzen ungemach (V. 1110f.) –, singt die Fama nichts als sein Lob: ›ez vert ein helt in dem lande | ân aller slahte schande. | […] er dient einer vrouwen.‹ (V. 1113–1122). Seine Ehre steht damit der ihren (V. 121ff.) in nichts nach. Da also der Graf durch seinen treuen Minnedienst ebenso viel gesellschaftliches Ansehen erlangt wie sie durch Schönheit und Tugend (V. 132), bleibt der Heidin nichts anderes übrig, als die höfische Liebe in ihrer Werthaftigkeit anzuerkennen. Ihr Gegenargument hat sich damit im Beweis durch Augenschein als nichtig erwiesen. Diese Einsicht liefert den Anstoß für den folgenden Monolog (V. 1153–1282), in dem sie ihre fundamentalen Zweifel am System der höfischen Liebe zurücknimmt. Hatte sie dem Grafen zuvor unterstellt, mit listen zu triegen (V. 893, vgl. V. 930ff.), so räumt sie nun ein: ›jâ tuot er niht als ein diep, | der verholn stelen vert‹ (V. 1174f.). Besonders deutlich wird ihr Positionswechsel daran, dass sie den Vorwurf der untriuwe, der zuerst den Grafen traf (›ir ungetriuwer kristen‹, V. 929), nun gegen sich selbst kehrt (›dû […] ungetriuwez wîp‹, V. 1153). Denn während sich die gräfliche untriuwe aus der Missachtung des Gebots ehelicher Treue ergab, ist von einer untriuwe der Heidin nur in Bezug auf die Normen der höfischen Liebe zu sprechen. Und indem 23 Für die zweite Möglichkeit (Bewährungsprobe) plädiert Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 197. Die dritte könnte man dem Text selbst entnehmen: nû widerstuont im daz leben | und wære gerne gewesen tôt. (V. 1094f.)
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sie ihre resolute Zurückweisung, die Verweigerung jeder Hoffnung auf Erhörung (lieber wân, V. 1163), als ungeslaht (V. 1154), ja, gar als schult (V. 1168) bezeichnet, erkennt sie die Pflichten einer Minnedame in vollem Umfang an. Dass die Heidin ihre ablehnende Haltung aufgibt, bedeutet aber noch lange nicht, dass sie den Grafen nun erhören könnte. Zwar hat er ihr Argument gegen den Geltungsanspruch der höfischen Liebe widerlegt. Daneben bleibt jedoch der Geltungsanspruch ehelicher Normen und Werte, auf den sie sich zuerst berufen hatte, unvermindert bestehen. Höfische Liebe und Ehe existieren mithin gleichwertig und unvereinbar nebeneinander. Dies ist die Grundsituation und zugleich der Gegenstand des Monologs der Heidin, eines Monologs, der zwar durchaus »dem Muster höfischer Konfliktmonologe« folgt,24 der zugleich aber explizit als regelgerechte disputatio mit Argumenten pro und contra dargestellt und bezeichnet wird: Nû sulle wir an disem wîbe merken | einen schœnen strît, | […] ein wîle sprach si ›ja‹, ein wîle ›nein‹ (V. 1264–1267). Dabei werden die gegensätzlichen Standpunkte einander unvermittelt gegenübergestellt. Das mehrmalige Hin und Her wiederholt im Wesentlichen die Positionen des vorherigen Gesprächs, ohne dass irgendeine Lösung absehbar wäre: Einerseits verlangt treuer Minnedienst Lohn und verbietet es, den verdienstvollen Minnediener dem Liebes- oder Kampftod auszuliefern (V. 1176ff., V. 1216ff.). Andererseits wäre dieser Lohn Verrat am nicht minder verdienstvollen und treuen Ehemann25 und würde darum völlig zu Recht den Verlust der eigenen Ehre nach sich ziehen (V. 1184ff., V. 1240ff.). Das Dilemma, vor das die Heidin sich hier gestellt sieht, ist altbekannt – es ergibt sich aus dem fundamentalen Antagonismus zwischen den Handlungsnormen der höfischen Liebe und denen der (höfischen) Gesellschaft:26 So versucht auch die Gräfin von Bêâmunt im ›Mauricius von Craûn‹, um nur ein nah verwandtes Beispiel zu nennen, sich mit Ver24 So Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 199, vgl. Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1167 (Komm. zu V. 1265). Beide berufen sich auf die Untersuchung von Ilse NoltingHauff, Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman, Heidelberg 1959. 25 ›ouch hât dîn herre liep | niht gevarn als ein diep | und hât dich für ein werdez wîp | und hât einen alsô reinen lîp | und ist alsô schœne als er | und brichet kurzlîch sîniu sper, | und minnet dich vür elliu wîp.‹ (V. 1195–1201) 26 Vgl. dazu die Ausführung von Schnell: »Schon innerhalb der ›höfischen‹ Literatur und innerhalb der ›höfischen‹ Wertewelt häufte sich ein vielschichtiges Konfliktpotential auf, da in den Zielvorstellungen der ›höfischen‹ Liebe Ideale anvisiert waren, die mit den Normen der Adelswelt nicht in Einklang zu bringen waren. So stehen wir vor dem Paradoxon, dass die ›höfische‹ Gesellschaft eine literarische Utopie fördert, die ihren praktizierten Wertvorstellungen z. T. erheblich widersprach.« Schnell, ›höfische‹ Liebe (wie Anm. 15), bes. S. 288–293, hier S. 288f.
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weis auf ihre Ehre ihrer Minnepflicht zu entziehen.27 Derselbe Antagonismus wird in einem Lied Hartmanns von Aue verhandelt, in dem eine Dame spricht: ›Die friunde habent mir ein spil | geteilet vor, dêst beidenthalben verlorn: | […] sî jehent, welle ich minne pflegen, | sô müeze ich mich ir bewegen‹.28 Dieser zweite Beleg ist deshalb besonders interessant, weil er mit dem Begriff des geteilten spils auf das jeu-parti verweist, die altfranzösische Form eines minnekasuistischen Streitgesprächs, das auch auf die ›Heidin‹ B eingewirkt haben könnte:29 Wie im jeu-parti steht auch ihre Protagonistin vor einer »Entscheidung zwischen zwei in gleicher Weise unangenehmen Möglichkeiten in Liebesdingen, die [sie] in ihrem Für und Wider […] erörtert.«30 Anders als im jeu-parti üblich, findet die Heidin allerdings einen durchaus originellen Ausweg aus ihrem Dilemma:31 Sie handelt nicht, wie von der Forschung gemeinhin angenommen, nach den Regeln der höfischen Minnedoktrin und »unterwirft sich« schon gar nicht den Forderungen.32 Vielmehr ersinnt sie durch die Selbstteilung eine Möglichkeit, den Grafen zu erhören und zugleich ihre Ehre zu bewahren. Man würde nun allerdings die intellektuellen Fähigkeiten der Heidin unterschätzen, wenn man ihre Teilung in obere und untere Körperhälfte für den platten Versuch hielte, sich nicht für einen der beiden Männer entscheiden zu müssen. Anders als in Fassung A findet die Teilung hier nämlich nicht zwischen dem Ehemann und dem Grafen (vgl. A V. 906ff.), sondern zwischen diesem (›daz bezzer teil sol wesen dîn‹, V. 1365) und der Heidin selbst (›daz erger lâz wesen mîn‹, V. 1366) statt.33 Der Gatte der 27 ›ez erfunden morgen lîhte | drî oder viere | … unser beider brûtlouft. | sô wære mîn êre verkouft | umb harte kleinen gewin.‹ Mauricius von Craûn (hg. Klein 1999), V. 1356–1362. Einen Strukturvergleich der Kasus beider Texte unternimmt Ziegeler, Erzählen (wie Anm. 4), S. 340–343. 28 Hartmann von Aue MF 216,8–13 (hg. Moser/ Tervooren, 381988). 29 Zur Form des jeu-parti Kasten, Streitgedicht (wie Anm. 10), S. 21–29. Kasten relativiert zwar die von Schirmer geäußerte Ansicht, dass die Verwendung des Begriffs vom geteilten spil in jedem Fall eine Bekanntheit der deutschen Dichter mit der Gattung des jeu-parti voraussetze (Schirmer, Versnovelle, wie Anm. 11, S. 249f.), hält aber just in diesen beiden Fällen einen Einfluss für wahrscheinlich: Kasten, Streitgedicht (wie Anm. 10), S. 29–39 und Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 8), S. 20–39, bes. S. 36–39. 30 Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 247f. 31 Das jeu-parti zeichnet sich im allgemeinen durch Ergebnislosigkeit aus – die Gleichwertigkeit der Alternativen erlaubt keine Entscheidung: Kasten, Streitgedicht (wie Anm. 10), S. 27f. Schon dieser Unterschied weist darauf hin, dass die Nähe der ›Heidin‹ B zur Form des jeu-parti nicht allzu groß sein kann. 32 So Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 199. Er führt weiter aus: »Die Bedenken gegen die Verletzung der ehelichen Treue und den Verlust der êre haben nur die Funktion, die Kontrastposition zu höfischem Verhalten anzuzeigen, die es zu überwinden gilt«. 33 Schon Pfannmüller stellte fest, dass »bei der ganzen Teilung des Heiden mit keiner Silbe erwähnt« wird: Pfannmüller, Redaktionen (wie Anm. 2), S. 207.
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Heidin spielt hier deshalb keine Rolle, weil es nicht mehr in erster Linie um die Frage geht, welcher der beiden Männer ihren Leib besitzen darf, sondern um den Ausgleich zwischen zwei Systemen, der höfischen Liebe und der Ehe – und damit zwischen den Positionen des Disputs. Dieses Verständnis des Textes ergibt sich vor allem aus der Beobachtung, dass die beiden Systeme sich in den Worten der Kontrahenten unvereinbar gegenüberstehen, obwohl sie sich auf dieselben Werte berufen. Das heißt, derselbe Wert impliziert, je nachdem auf welches System er bezogen wird, ganz unterschiedliche Handlungsanweisungen, die, wenn man sie befolgt, im jeweils anderen System zum Verlust just dieses Wertes führen. Wenn also die Heidin den Antrag des Grafen ablehnt, um ihre zuht als Ehefrau zu bewahren (V. 863), dann widerspricht das, wie sie später erkennt, den zühten der höfischen Liebe, die ein gewern erfordert hätten (V. 1165). Umgekehrt verlangt zwar, wie der Graf meint, mit zühten ausgeführter Minnedienst den Lohn der Dame (V. 870); ihn zu fordern widerspricht indes, wie die Heidin betont, seiner zuht gegenüber einer verheirateten Frau (V. 884). Der untriuwe des gräflichen Liebeswerbens in Bezug auf den Wert ehelicher Treue steht, wie schon gesagt, die untriuwe der Heidin als Minnedame gegenüber; diese untriuwe aufzuheben würde freilich im Gegenzug bedeuten, dem Gatten die triuwe zu brechen (V. 1248). Dasselbe Prinzip wird auch auf den Begriff der êre angewendet: Im ersten Gespräch lässt sich die Heidin nicht auf die dilemmatische Wahl zwischen dem Leben des Grafen (›sol ich verliesen mînen lîp?‹ V. 881) und der eigenen Ehre (›ich wil mîner êre pflegen‹, V. 886) ein, sondern weist stattdessen darauf hin, dass der lebensgefährdende Minnedienst auch der êre des Grafen nicht zuträglich sei (V. 982). Und als dieser gleichwohl den prîs im Minnedienst (V. 1177) erhalten hat, begreift sie, dass sie, will sie nicht als Ehefrau beide an lîp und an êren […] geschant sein (V. 1208f.), den Grafen und seine Minne underwegen lassen muss und zwar: an êren und an lîbe (V. 1262f.). Sie muss demnach nicht, wie noch in Fassung A (A V. 841ff.), zwischen (seinem) lîp und (ihrer) êre wählen, sondern zwischen zwei einander ausschließenden Systemen, die beide gleichermaßen êre verleihen – und die beide gleichermaßen Anspruch auf ihren lîp machen: Der Minnedienst des Grafen verlangt von ihr eine Hingabe, deren Gewährung sie dem Ehemann ungenæme machen würde (V. 1205). Höfische Liebe und Ehe beruhen, so ist zu schließen, zwar nominell auf denselben Werten, diese Werte sind aber in ihrer Bedeutung zu unterscheiden. Es gibt nicht einfach eine êre, eine triuwe und eine zuht, sondern jeweils deren zwei: Ehe-êre und Minne-êre, Ehe-triuwe und Minne-triuwe, Ehe-zuht und Minne-zuht. Diese Operation der Unterscheidung zweier Bedeutungen eines Wortes ist der scholastischen Disputationstechnik
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unter der Bezeichnung distinctio bekannt. Die distinctio gehört zu jenen dialektischen Mitteln, die unter Einfluss der aristotelischen Topik und Sophistik ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Eingang in die ars disputandi fanden und mit deren Hilfe (scheinbare) Schwierigkeiten aufgelöst werden konnten.34 Die Heidin scheint die Kunst der distinctio ebenfalls zu beherrschen: In der folgenden Handlung wird deutlich, dass sie die Teilung ihres lîbes als gleichbedeutend mit der Unterscheidung von zweierlei êren begreift. Als der Graf, nachdem er stolzer Besitzer des oberen Teils geworden ist, argumentiert, dass ihrer êre (V. 1526) und das heißt: ihrer Ehre als Minnedame, auch ein weiteres Entgegenkommen gut anstünde, wehrt sie mit Verweis auf ihre Ehre als Ehefrau ab: ›Wie möht ich danne an êren genesen?‹ (V. 1530). Offenbar hat sie der Minne-êre den oberen und der Ehe-êre den unteren Teil ihres Körpers zugewiesen. Die Entscheidung der Heidin, ihren lîp zu teilen, ist demnach so zu deuten: Basierend auf der Einsicht, dass ein lîp nicht zweierlei êren dienen kann, sucht und findet sie im dialektischen Mittel der distinctio einen Weg (guote list, V. 1273), den Widerspruch zwischen den beiden Positionen des Disputs, zwischen Ehe und Liebe, aufzulösen. Doch verwendet sie ihre distinctio nicht bloß zur Unterscheidung zweier Wertsysteme – stattdessen begreift sie den eigentlich rein sprachlogischen Akt des distinguere als Handlungsanweisung und setzt so die dialektische Auflösung des Problems als Unterteilung ihrer selbst wieder in Handlung um. Sie schlichtet den strît, oder, um noch einmal auf die Formulierung des geteilten spils zurückzukommen, sie teilt das spil, indem sie sich selbst teilt. Dieser Gedanke könnte auch der Formulierung zugrunde liegen, mit der sie den Grafen vor die Wahl zwischen »oben« und »unten« stellt: ›ich wil dir zwei geteiltiu geben‹ (V. 1350). Ob sie ihm damit die Entscheidung über die Zuweisung ihrer Körperhälften an die beiden Wertsysteme wirklich überlässt, darf freilich bezweifelt werden. Zwar stürzt sie ihn in einen weiteren Konfliktmonolog (V. 1388–1454), in dem er wiederum in mehrfachem Pro und Contra die Vorteile der Hälften gegeneinander abwägt. Im Gegensatz zur Heidin ist sein Konflikt aber keiner zwischen zwei äquivalenten Wertsystemen, sondern einer zwischen Pflicht und Neigung. Wenn der Graf daher im Sinne des Disputs den höheren Wert der Minne beweisen will, muss er sich 34 Vgl. dazu Ludwig Hödl / F. Hoffmann, Art. ›Distinktion‹, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1127f. und James P. Zappen, Art. ›Distinctio‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 888–891. Zu den historischen Hintergründen vgl. insbesondere auch Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd. II, Freiburg 1911, S. 9–27 und passim. Zur Verwendung der distinctio im mittelhochdeutschen Streitgedicht: Kasten, Streitgedicht (wie Anm. 10), bes. S. 225–227.
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wohl oder übel gegen seine Neigung – ›daz underst [teil ist] bezzer vil. | wie ob ich ez nemen wil?‹ (V. 1396–1398) – entscheiden und seiner êre als Minnewerbender gemäß handeln: ›jâ wær ez ein michel schande, | swâ man ez in dem lande | hœrte oder ûz quæme, | daz ich daz underste teil næme‹ (V. 1425–1428). Am Ende konstatiert er resigniert, dass die Heidin wohl auf genau dieses Ergebnis spekuliert hatte: ›sô lâz ouch ir den strît | und nim, daz dâ oben lît‹ (V. 1453f.).
III. Narrative determinatio Die Wahl zwischen der oberen und der unteren Körperhälfte der Minnedame, die bei Andreas Capellanus der Ausgangspunkt des Disputs war, ist damit in der ›Heidin‹ B zu dessen vorläufigem Endpunkt geworden: Sie ist nicht mehr in erster Linie als quaestio im Disput um die »richtige«, körperliche oder geistige, Liebe, sondern als Auflösung des Konflikts zwischen Ehe und Liebe zu begreifen. Oder besser gesagt: als Versuch einer Auflösung, denn die Heidin hat ihre Rechnung ohne den Grafen gemacht, der seine Werbung mit dem Besitz der oberen Hälfte keineswegs als erhört ansieht. Er versteht die Teilung zunächst lediglich als Zwischenstation auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel. Er glaubt – und mit ihm der Großteil der Forschung –, dass die Heidin ihn noch immer auf die Probe stellt (›si hât dich versuochet dâ mite‹, V. 1445) und ihm zugleich gradatim entgegenkommt.35 Erst nachdem er leidvoll erfahren musste, dass sie zu keinen weiteren Kompromissen bereit ist – dass sie ihre Hälfte weder tauscht (V. 1518ff.) noch ihrer Minne-êre oder seines Liebesleids wegen hergibt (V. 1524ff.) – und, schon gänzlich verzaget, aufgeben will (V. 1566f.), kommt ihm die rettende Idee. Anstatt die Geliebte weiterhin mit Worten 35 Der Graf denkt: ›wenne dich dîn vrouwe hete vol | gehelset mit ir armen, | … sî müest dir wesen untertân | mit allem ir lîbe‹ (V. 1404–1409). Schirmer expliziert im Sinne von Andreas Capellanus: »Die Heidin kommt seinen Wünschen zunächst nur ›schrittweise‹ (gradatim) entgegen und legt ihm eine neue Bewährungsprobe auf, indem sie ihn vor die minnekasuistische Entscheidung stellt« (Schirmer, Versnovelle, wie Anm. 11, S. 201). Obwohl Ziegeler die im Sinne der capellanischen Minnetheorie »harmonisierende Deutung« der ›Heidin‹ B rügt (Ziegeler, Erzählen, wie Anm. 4, S. 343), zielt seine Bemerkung zu diesem Punkt in die gleiche Richtung: »Das Angebot der Wahl ist mithin eine weitere Aufgabe im Dienst des Werbers um die Dame« (ebd., S. 342). Auch Kasten spricht von einer »Bewährungsprobe, die der gewitzte Bewerber glücklich zu bewältigen sucht« (Kasten, geteiltez spil, wie Anm. 8, S. 37). In gewisser Weise stimmt die Annahme einer Bewährungsprobe auch: Begreift man die Handlung als (beinahe) schemagerecht ablaufende Minnewerbung, dann erscheint das Hindernis, das die Heidin dem Grafen in den Weg stellt, tatsächlich als solche – nur hatte sie ihre Teilung nicht so gemeint!
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von ihrem Entschluss abbringen zu wollen, nimmt er die Teilung für bare Münze und versetzt sich so in die Lage, diese als Auflösung der quaestio zu widerlegen. Er nutzt die Verfügungsgewalt über die obere Hälfte der Heidin, indem er »seinen« Augen verbietet, den Heiden anzusehen, »seinen« Ohren, ihm zuzuhören, »seinem« Mund, ihm vernünftig zu antworten und »seinen« Armen, ihn zu umfangen. Da dies ihrer Auflösung nicht widerspricht, muss die Heidin sich der Anordnung fügen und so nimmt die Handlung ihren vorhersehbaren Verlauf. Nachdem sie volle sieben Tage lang das »üble Weib« gespielt hat,36 glaubt ihr liebender Gatte, dass seine liebe vrouwe […] gar den sin […] verlorn habe (V. 1651f.) und versucht, sie mittels einer gehörigen Tracht Prügel wieder zu demselben zu bringen. Das gelingt auch – allerdings auf andere Weise als vom Heiden beabsichtigt. Denn angesichts der ganz realen Schmerzen, die seine Schläge bewirken, wird der Heidin klar, dass die Teilung ihres lîbes ein rein theoretisches Konstrukt ist. Spätestens, als der Graf sarkastisch bemerkt, dass sie keinen Grund zur Klage habe, weil ja nicht ihr, sondern sein Teil der eigentlich Leidtragende sei – ›jâ wurden si geslagen mir‹, | sprach er, ›ûf den rücke mîn‹ (V. 1732f.) –, muss sie einsehen, dass ihre distinctio nicht zu halten ist: Ihr lîp gehört vollständig ihr und sie muss in jedem Fall selbst über ihn verfügen. Die Argumentation der Heidin ist damit ein zweites Mal an der »Praxisprobe« gescheitert. Während zuerst der reale Ruhm des Grafen ihr Postulat von der gesellschaftlichen Wertlosigkeit seines Minnedienstes widerlegt hatte, muss sie nun am eigenen Leibe erfahren, dass alle Kniffe der ars disputandi das Dilemma zwischen Ehe und höfischer Liebe nicht auflösen können. Wenn sie nun ihren Irrtum einsieht und den Disput voll und ganz im Sinne des Grafen beschließt – sî sprach: ›wir suln slâfen gân!‹ (V. 1744) –, dann gibt nicht nur sie selbst sich geschlagen. Sie konzediert zugleich, dass die scheinbar so scharfen Instrumente der Dialektik, mit denen sie in einem reinen Wortstreit zweifellos erfolgreich gewesen wäre, sich in der Realität der Handlung als stumpf, ja, als unsinnig erweisen. In diesem Sinne ist die ›Heidin‹ B zweifellos auch als ironischer Seitenhieb gegen eine Disputationskunst zu lesen, deren theoretischer Charakter dadurch bewiesen wird, dass ihre spitzfindigen Argumente in praktischer Umsetzung nichts als Absurdität erzeugen.37
36 Zum Motiv etwa Schirmer, ›Heidin‹ (wie Anm. 3), Sp. 614. 37 Ich modifiziere und korrigiere damit für diese Fassung eine Aussage von Ziegeler, der behauptet, alle Versionen der ›Heidin‹ zielten darauf hin, vorbildliches Verhalten in der höfischen Liebe zu demonstrieren – »nicht ohne ironische Seitenhiebe gegen eine Minnetheo-
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Trotzdem würde es zu weit führen, diesen ironischen Seitenhieb gegen die ars disputandi als Hauptaussage des Textes zu begreifen. Denn wiewohl der Versuch der Heidin, Ehe und höfische Liebe durch eine dialektische Distinktion miteinander zu vereinbaren, ganz klar missglückt, ist ihre Position deswegen keineswegs erledigt. Der Ausgleich zwischen Ehe und höfischer Liebe findet nur auf anderer Ebene statt: Ich komme damit auf das oben besprochene Nebeneinander von Brautwerbungsschema und Aventiure am Beginn des Textes zurück, das sich, wie schon gesagt, in der Handlung zunächst nicht fortsetzt: Hier dominiert das Muster der Minnewerbung, das, obwohl sich die Heidin hartnäckig weigert »mitzuspielen«, über die obligatorischen Stationen der Werbung und der langjährigen Bewährung schließlich zum vorgegebenen Ziel, der Erhöhrung führt. Ganz am Ende aber, ausgerechnet in dem Moment, da der Graf an seinem Ziel angekommen ist und sich der ganzen Minne der Heidin erfreut, »kippt« die Handlung zurück ins Brautwerbungsschema: Anstatt sich, wie man es von einem Minnediener nach der Erhörung erwarten sollte, von seiner Dame zu verabschieden, nimmt er sie mit in sein Land, wo er sie taufen lässt und heiratet. Was ist der Grund für diesen plötzlichen Umschlag? Ist er, wie Schirmer zu vermuten scheint, eine eigentlich überflüssige Verlängerung des Minnekasus über sein Ziel hinaus? Oder ist er als willkürlicher Verstoß gegen die capellanische Minnelehre zu verstehen, der zufolge ein Minneverhältnis nicht die Ehe im rechtlichen Sinne sprengen darf?38 Folgt man der Logik des Disputs zwischen dem Grafen und der Heidin, dann bietet sich eine andere, plausiblere Deutung an: Der Graf bringt die Heidin von ihrem Entschluss zur Selbstteilung ab – vordergründig zweifellos deshalb, um sie ganz zu erringen. Seine Widerlegung ihrer distinctio bezieht sich allerdings nicht nur, wie er vielleicht glauben mag, auf ihren lîp, sondern darüber hinaus auch auf jene Unterscheidung, die der distinctio ursprünglich zugrunde lag. Indem er beweist, dass ihr lîp nicht teilbar ist, beweist er zugleich, dass auch höfische Liebe und Ehe – jene Systeme also, zwischen denen sie sich aufgeteilt hatte – nicht voneinander zu trennen sind. Die Konsequenz lautet: Indem er die Geliebte ganz erringt, macht er sie zu seiner (Ehe-)Frau. Diese Konsequenz wird zwar von den Figuren selbst nicht explizit formuliert, aber ganz selbstverständlich angenommen. So fällt insbesondere auf, dass die zuvor sorgfältig unterrie, deren theoretischer Charakter eben dadurch bewiesen wird, daß man einen ihrer Kasus in einer als wirklich vorgestellten Handlung einmal mit allen Konsequenzen durchspielt.« Ziegeler, Erzählen (wie Anm. 4), S. 343. 38 Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 193f.
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schiedenen Diskurse von Ehe und höfischer Liebe plötzlich vollkommen harmonieren: Nun stellt sich heraus, dass zugleich der Graf herre (V. 1779) und die Heidin vrouwe (V. 1783), dass er ihr und sie sein eigen sein kann (V. 1784, V. 1792). Zudem ist es dem Grafen offenbar möglich, der Heidin biz an den tôt zu dienen (V. 1785) und sie des ungeachtet darüber zu belehren, wie sie für ihn leben kann (V. 1779ff.). Die Heidin hat offenbar völlig vergessen, dass sie Ehe und Liebe eben noch für unvereinbare Widersprüche gehalten hatte, und der Graf scheint sich nicht mehr daran erinnern zu können, dass er im Werbegespräch nur um die Minne und nicht um die Hand der Heidin gebeten hatte. Stattdessen verkündet sie nun geradewegs, mit dem Grafen von hinnen varn zu wollen (V. 1804f.) – und er akzeptiert es anstandslos. Auf diese Weise endet als Brautwerbung, was als Minnewerbung begonnen hatte, oder besser gesagt, es zeigt sich, dass die Minnefahrt von Anfang an eigentlich eine Brautwerbungsfahrt gewesen ist! Damit löst sich auch die strukturelle Dissonanz am Beginn des Textes auf: Musste man sich anfangs noch fragen, ob der Graf um die Minne der Heidin werben oder sie heiraten wolle, wird nun klar, dass beide Alternativen letztlich auf dasselbe hinauslaufen. Vom Ende her betrachtet muss es scheinen, als wäre die Minnefahrt des Grafen im Grunde nichts als eine Brautwerbungslist gewesen.39 Ich möchte daher abschließend festhalten, dass das Nebeneinander von Braut- und Minnewerbung in der ›Heidin‹ B durchaus kein kompositorischer Defekt ist. Vielmehr dient es dazu, den Inhalt des Disputs zwischen dem Grafen und der Heidin in die Formebene zu transponieren. Auf diese Weise wird die quaestio des Disputs, die, verallgemeinert formuliert, danach fragt, welches von beiden, Liebe oder Ehe, den größeren Wert besitze, nicht von den Kontrahenten, sondern vom Text selbst zuerst formuliert. Der Text, oder besser gesagt, seine Komposition, erscheint deshalb als Präses, als Leiter des Disputs, dessen Aufgabe es ist, die quaestio vorzugeben, den Disput zu überwachen und diesen am Ende durch seine eigene 39 Nun erweist sich, dass die gesamte Handlung doppelt, also auch auf das Brautwerbungsschema hin, zu lesen ist: Dass der Graf seinen Mannen das eigentliche Ziel seiner Reise verschwiegen hat (V. 206ff.), erscheint nun als eine Variante der listigen Werbung – ebenso wie die Protagonisten des Brautwerbungsschemas sich bisweilen als Kaufleute verkleiden, »verkleidet« er sich erst als Heer-, dann als Aventiurefahrer. Er hat seine Überlegenheit gegen den »Brautvater« (den Heiden) bewiesen, es folgen Werbungsgespräch (»Kemenatenszene«, hier das Minnegespräch mit der Heidin) und die Bewährung des Werbers in einer Art »zweitem Kursus« – zum Schema Schmid-Cadalbert, Brautwerbungsdichtung (wie Anm. 18), bes. S. 92f. Ansätze zu dieser Sichtweise finden sich auch bei Grubmüller, Novellistik (wie Anm. 2), S. 1157.
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Lösung, die determinatio abzuschließen.40 In diesem Sinne ist es auch zu deuten, dass der letzte Schritt der Handlung, die Hochzeit der Protagonisten, in ihrem Disput nicht mehr expliziert wird: Nachdem die distinctio der Heidin vom Grafen widerlegt und von diesem das scheinbar letzte Wort im Sinne der Minne gesprochen worden ist, ist es der Text selbst, der ihren Disput durch eine, in seiner Komposition verankerte Auflösung determiniert und die vormals getrennten Systeme von höfischer Liebe und Ehe endgültig zusammenführt. Diese zweite Auflösung ist es, die die Position des Textes im literarischen Diskurs über die höfische Liebe markiert: Sie vermittelt die Erkenntnis, dass Liebe und Ehe ebenso wenig zu unterscheiden sind, wie man die zwei Hälften eines Körpers voneinander trennen kann. Es ist indessen nicht zu übersehen, dass mit dieser Auflösung das dem Text zugrunde liegende Problem nicht wirklich gelöst ist. Denn während der minnewerbende Graf sich am Ende als glücklicher Ehemann wiederfindet, bleibt der düpierte Ex-Gatte der Heidin als weinender Dritter zurück. Weil aber der seine Frau ebenfalls innig liebt, müsste er im Prinzip dasselbe Anrecht auf sie haben wie sein christlicher Konkurrent. Der Religionswechsel der Heidin kann daher vielleicht als rechtliche Legitimation der Trennung gelten;41 unter moralischem Aspekt jedoch erscheint er als eine Ausflucht, die den Anspruch des Heiden auf seine Frau bestenfalls oberflächlich kaschiert. Bemerkenswert ist, dass dieser Aspekt durchaus nicht stillschweigend übergangen, sondern im Gegenteil in einem großen Schlussmonolog des Heiden (V. 1815–1880) noch hervorgehoben wird. Wenn demnach, so muss man sich fragen, der Heide am Ende in demselben Liebessehnen zurückbleibt (›überladen mit herzensêre | bin ich und wunt an mînen tôt‹, V. 1876f.), das zu Beginn den Grafen zu seinem Aufbruch veranlasst hatte (›wirt aber diu vrouwe dir niht bekant, | sô maht dû verliesen dîn leben‹, V. 186f.) – wieso sollte er dann nicht mit gleichem Recht wie 40 Zum normalen Ablauf eines Disputs: Marti, Disputation (wie Anm. 22), Sp. 866ff. und Rädle, Disputatio (wie Anm. 22), S. 378. 41 Vgl. dazu Schirmer, Versnovelle (wie Anm. 11), S. 194, der auf die Parallelen in Wolframs ›Willehalm‹ (Gyburg) und ›Parzival‹ (Gahmuret-Belacane) verweist. Bemerkenswert ist, dass die Religionsproblematik in der ›Heidin‹ B nicht die geringste Rolle spielt – es scheint beinahe, als sei die Heidin nur deshalb keine Christin, damit ihre Ehe für die Verbindung mit dem Grafen auflösbar ist. Da die Religionszugehörigkeit der Heidin in diesem Sinne rein funktional gesetzt ist, kann der Text wohl kaum, wie dies Classen in einer gefährlich psychologisierend-anachronistischen Lektüre versucht, als signifikant für die Einstellung seines Publikums gegenüber »religious and racial conflicts« begriffen werden: Albrecht Classen, Die ›Heidin‹, A Late-Medieval Experiment in Cultural Rapprochement between Christians and Saracens, in: Medieval Encounters 11 (2005), S. 50–70, hier S. 50.
Der Disput um die Liebe in der ›Heidin‹ B
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vormals der Graf losziehen und sein reinez wîp (V. 1825) zurückgewinnen? Der Text lässt diese Möglichkeit offen, indem er die im Brautwerbungsschema mögliche Revanche des Unterlegenen weglässt. Auf diese Weise stellt er es jedem frei, das abschließende »und sie lebten glücklich bis an ihr Ende« (V. 1891–1896) zu streichen und die Geschichte unter umgekehrtem Vorzeichen fortzusetzen.42 Man könnte sich also vorstellen, dass einige Zeit später dem Heiden die Kunde von der schönen Christin zu Ohren kommt. Er könnte sich auf den Weg machen, einen erfolgreichen Kampf gegen ihren christlichen Gatten fechten, seine Werbung vorbringen …
42 Dass eine solche Umkehrung für einen mittelalterlichen Autor durchaus denkbar war, beweist der ›Nußberg‹ (in: Gesammtabenteuer 1, hg. von der Hagen 1850, S. 445–447): Das fragmentarisch überlieferte Märe des späten 13. oder frühen 14. Jahrhunderts erzählt, wie die Frau eines christlichen Ritters einen heidnischen Gefangenen befreit und mit diesem entflieht. Den ›Nußberg‹ als Reaktion auf die ›Heidin‹ zu lesen, erscheint mir aber schwierig; deutlicher sind Bezüge zu Wolframs ›Willehalm‹ und zu ›Salman und Morolf‹. Vgl. dazu: Hans-Joachim Ziegeler, Art. ›Rafold, Heinrich‹ in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7 (2. Auflage 1989), Sp. 974–976.
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Dialektik im ›Ackermann‹ Die disputatio, das institutionalisierte wissenschaftliche Streitgespräch, ist nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, sondern, gerade im Blick auf die Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, auch literaturgeschichtlich von Bedeutung. Ein Text, der dem literarischen Umfeld der Disputation zugerechnet werden kann, ist der ›libellus ackerman‹ des Johannes von Tepl, entstanden um 1400.1 Der Autor war studierter Jurist, tätig als Stadtschreiber und Schulrektor in der nordböhmischen Stadt Saaz, später als Notar in der Prager Neustadt.2 Der Text ist von seiner Konstellation her an die sog. »Todesdialoge« angelehnt, das heißt an literarisch inszenierte Begegnungen eines menschlichen Sprechers mit dem personifizierten Tod.3 Der ›libellus ackerman‹ verwickelt einen Witwer (der sich selbst als Ackermann bezeichnet, dessen Pflug aber gemäß einem alten Topos die Schreibfeder ist) mit dem Tod in eine Auseinandersetzung (der Vorspruch nennt sie einen krieg) über den Tod der Ehefrau. Der Textaufbau ist alternierend: Der Ackermann schiltet den Tod, im Gegenzug verantwurt [rechtfertigt] sich der Tod (Überschrift 2f.). Dieser Streit unterliegt dabei einer eigentümlichen und komplexen Dynamik: Die anfangs harsche Entgegensetzung geht über in eine Debatte über das Wesen des Todes, der Ackermann bittet sogar um Rat, wie er seiner Trauer Herr werden soll, die Ratschläge des Todes münden allerdings in eine erneute Konfrontation. Ein Urteil des 1
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Zitiert nach der Ausgabe: Johannes von Tepl, Der Ackermann (hg. Kiening 2002). Ergänzend wird die Ausgabe von Karl Bertau herangezogen: Johannes de Tepla, Epistola cum Libello ackerman und Das büchlein ackerman. Bd. 1: Text, Bd. 2: Kommentar (hg. Bertau 1994). Einen Überblick über die ältere Forschung bietet Gerhard Hahn, Der Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl, Darmstadt 1984; für die neuere Forschung maßgeblich: Christian Kiening, Schwierige Modernität. Der ›ackerman‹ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen 1998. Kiening, Nachwort zur Ausgabe, in: Ackermann (hg. Kiening 2002), S. 159ff. Als Studienorte des Autors hat man übrigens neben Prag unter anderem Bologna und Paris erwogen. Dies sind bspw. der ›Dialogus mortis cum homine‹, die ›Visio Polycarpi‹ und der ›Tractatus de crudelitate mortis‹. Letzterer wird sogar als Vorlage des ›Ackermann‹ diskutiert. Zum Vergleich des Ackermanndialogs mit dieser Texttradition siehe Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 192ff.
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göttlichen Richters beendet den Streit (Kapitel 33), dem sich ein Gebet des Ackermanns (Kapitel 34) anschließt. Der Text hat in seiner langen und kontroversen Forschungsgeschichte ganz unterschiedliche Einschätzungen und Einordnungen erfahren; gattungspoetologisch galt er als Rechtsstreit, als Streitgespräch in der conflictus-Tradition oder als Form der consolatio. Daneben findet sich in der Forschungsliteratur des Öfteren auch die Bezeichnung ›Disputation‹.4 Betrachtet man die Verwendungsweise indes genauer, so zeigt sich, dass dieser Begriff meist in einem weiten, nichttechnischen Sinne verwendet wird: ›Disputation‹ (oder auch ›Disput‹) erscheint dann austauschbar mit dem notorisch vieldeutigen Begriff des Streitgesprächs.5 Man bezieht sich mit diesem Begriff auf die Gesprächsorganisation in utramque partem und eine als »philosophisch« apostrophierte Thematik des Textes, wobei man vielleicht noch einrechnet, dass der Autor dem Schulkontext entstammt, weshalb ihm die universitäre Praxis der Disputation vertraut gewesen sein muss. Diese Bezüge sind natürlich ziemlich vage. Jedoch finden sich in der Ackermannforschung durchaus auch spezifischere Bezugnahmen auf die institutionalisierte Form des wissenschaftlichen Streitgesprächs. Mir scheinen dabei vor allem zwei Ansätze von Interesse zu sein:
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Nur einige Beispiele der meist nur punktuellen Bezugnahmen: Franz H. Bäuml bspw. spricht von der »Sic-et-Non-Methode« im ›Ackermann‹ (Franz H. Bäuml, Rhetorical Devices and Structure in the ›Ackermann aus Böhmen‹, Berkeley 1960, S. 119); Pavel Trost davon, dass die ungleiche Auseinandersetzung der Mensch-Tod-Dialoge im ›Ackermann‹ in eine »assertorische Disputation« verwandelt sei (Pavel Trost, Anmerkungen zum Ackermann aus Böhmen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 1987, S. 112–114, hier S. 113). In englischsprachigen Publikationen wird der ›Ackermann‹ ohnehin als »disputation« bezeichnet, ohne dass sich damit konkrete poetologische Vorannahmen verbinden. Vgl. Joerg O. Fichte, Der Ackermann aus Böhmen – Experience Becomes Art – A Poetic Response To Death, in: P. Boitani (Hg.), Writers and Intellectuals in fourteenth century Europe, Tübingen 1986, S. 178–190. Auch Christian Kiening hat den ›Ackermann‹ zurückgebunden an »Typen der lebendigen und sachlich anspruchsvollen disputatio, in dem Problemexponierung und Wahrheitssuche im Mittelpunkt stehen.« (Christian Kiening, Hiob, Seneca, Boethius. Traditionen dialogischer Schicksalsbewältigung im ›Ackermann aus Böhmen‹, in: Wolfram-Studien XIII 1994, S. 207–236, hier S. 210). Kiening bezieht sich hierbei freilich nicht auf die akademische Disputation, sondern auf die Traditionslinie des sokratischen Dialogs, repräsentiert etwa durch den ›Dialogus Ratii‹ des Eberhardus von Ypern. Die Wechselbeziehung zwischen diesen Typen wäre ein eigenes Thema. Zum Streitgespräch vgl. Gustav Bebermeyer, Art. ›Streitgedicht, Streitgespräch‹, in: Reallexikon der Literaturgeschichte 4 (1984), S. 228–245. Christian Kiening, Art. ›Streitgespräch‹, in: Reallexikon der Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 525–529.
Dialektik im ›Ackermann‹
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Zum einen sind die Überlegungen von Antonin Hruby und Hellmut Rosenfeld zu nennen,6 die eine Vorlage für den ›Ackermann‹ und den alttschechischen ›Tkadleček‹ (der gewöhnlich als Derivat des ›Ackermann‹ gilt) nachzuweisen suchen. Diese Vorlage habe den Charakter einer scholastischen Disputation besessen, ebenfalls zwischen einem menschlichen Sprecher und dem Tod. Gegenstand seien jedoch philosophische Doktrinen, insbesondere die im Mittelalter kontroverse, weil häresieverdächtige Weltewigkeitslehre gewesen.7 Hruby verweist dazu auf eine ganze Reihe von Passagen, die auf eine peripatetische oder thomistische Inspiration des Textes hindeuten. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Kapitel 31, das sich nicht nur durch die charakteristisch syllogistische Argumentationsform auszeichnet, sondern vor allem die fragliche aristotelische Weltewigkeitslehre zitiert, wonach des einen zuruttung [Verfall] des andern berung [Entstehung] sei und alle sach auff ewigkeyt gepauwet sind (31,26ff.). Einen anderen Ansatz verfolgt hingegen Karl-Heinz Schirmer, der die disputatio vor allem aus form- und gattungsgeschichtlichen Erwägungen mit dem ›Ackermann‹ in Verbindung bringt.8 Schirmer zufolge kommt der »scholastischen Disputationstechnik« für die Ausbildung des volkssprachigen Streitgesprächs des Mittelalters generell entscheidende Bedeutung zu.9 Das literarische Modell bildet für ihn Theoduls ›Egloga‹, in der die Sprecherrollen einer »werthierarchischen Abstufung« (einem Wahrheitsoder Wissensgefälle) unterliegen.10 Schirmer bindet dieses Modell an die disputatio zurück: Ein autoritativer Satz oder eine Glaubenswahrheit wird mit Einwänden konfrontiert (videtur quod non), die anschließend widerlegt werden (sed contra) gemäß dem Verfahren der responsio ad obiectiones.11 6
Antonín Hruby, Der ›Ackermann‹ und seine Vorlage, München 1971; Hellmut Rosenfeld, ›Der Ackermann aus Böhmen‹, scholastische Disputation von 1370 oder humanistisches Wortkunstwerk von 1401?, in: Hellmut Rosenfeld, Ausgewählte Aufsätze zur deutschen Heldendichtung und zur Namenforschung, zur Todes- und Totentanzdichtung, zum Volksdrama und zur Wechselwirkung von Kunst und Dichtung im Mittelalter, Göppingen 1987, S. 239–245. 7 Hruby, Vorlage (wie Anm. 6), S. 143. Hruby nimmt übrigens einen deutschen Disput an (ebd., S. 206); Rosenfeld geht dagegen von einer lateinischen Disputation aus (Rosenfeld, Disputation wie Anm. 6, S. 243). 8 Karl-Heinz Schirmer, Zur Funktionalität der Streitgesprächsgattung im ›Ackermann‹, in: Klaus Matzel / Hans-Gert Roloff (Hg.), Festschrift für Heinz Kolb, Bern u. a. 1989, S. 569–590. 9 Schirmer, Funktionalität (wie Anm. 8), S. 570. Schirmer verweist auf die nach wie vor grundlegende Arbeit von Ingrid Kasten, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, Hamburg 1973. 10 Schirmer erinnert an Hartmanns ›Klage‹. Vgl. dazu auch den Beitrag von Anja Becker in diesem Band. 11 Schirmer, Funktionalität (wie Anm. 8), S. 571.
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In der Übertragung dieses Modells auf den Ackermanndialog fungiert der Ackermann als Opponent (das heißt, er nimmt die zu widerlegende Scheinposition ein bzw. die Rolle der stultitia), der Tod als Respondent (das heißt, er verkörpert die ratio, die autoritative Tradition, die auch mit dem Autorstandpunkt konvergiert). Beide Ansätze weisen spezifische Probleme auf: Einmal abgesehen davon, dass Hrubys und Rosenfelds Hypothesenkonstruktion methodologisch zu Recht kritisiert worden ist,12 macht die Themenvielfalt des ›Ackermann‹ gerade in Verbindung mit dem tschechischen Text eine philosophische Disputation über Tod und Weltewigkeit als Vorlage unplausibel.13 Schirmers Ableitung des ›Ackermann‹ aus dem ›Egloga‹-Modell hingegen erscheint ausgesprochen deduktiv; das diffizile Verhältnis von Klage und Einsicht, Machtdemonstration und Belehrung, das den ›Ackermann‹ kennzeichnet, ist mit dem Schema der scholastischen Disputation nicht zu erfassen. Es verwundert nicht, dass sowohl Hruby als auch Schirmer auf eine Kontaminationshypothese zurückgreifen, sei sie textgenealogischer (»poetische Bearbeitung«),14 sei sie poetologischer Art (Gattungskontamination mit dem rhetorischen genus iudiciale).15 Beide Ansätze indizieren die Nähe des ›Ackermann‹ zur akademischen disputatio, ohne eine direkte Ableitung erweisen zu können. Damit aber stellt sich die Frage aufs Neue, wie das Verhältnis des ›Ackermann‹ zur disputatio zu beschreiben ist.
12 Dazu Maurice O’Connell Walshe, ›Der Ackermann aus Böhmen‹: Quellenfrage und Textgestaltung, in: Wolfgang Harms / L. Peter Johnson (Hg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters – Hamburger Colloquium 1973, Berlin 1975, S. 282–292. Des Weiteren Christoph Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Zürich / München 1988, S. 342ff. 13 In diese Richtung zielt auch die Kritik von Hahn, Ackermann (wie Anm. 1), S. 102: »Würde man alle gemeinsamen Stellen – also auch die Aussagen über die Mann-Frau-Beziehung – , in denen der T[kadleček] ausführlicher, präziser, akzentuierter darstellt, dem UrA[ckermann] zuschreiben, ergäbe sich ein einigermaßen monströses literarisches Gebilde. In dem philosophischen Weltewigkeitsdisput wäre eine lange Exempelreihe für eheliche Treue eingearbeitet gewesen, die Beziehung der Streitenden wäre ständisch expliziert und akzentuiert gewesen«. 14 Hruby, Vorlage (wie Anm. 6), S. 151. 15 Schirmer, Funktionalität (wie Anm. 8), S. 578.
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I. Der ›Ackermann‹ zwischen Dialektik und Rhetorik Zur Beantwortung dieser Frage erscheinen mir weniger die historisch stark divergierenden Formen16 oder die vielfältigen Inhalte als vielmehr die Methode der Disputation der geeignete Ansatzpunkt zu sein, also ihre spezifischen Ziele und Verfahrensweisen. Es geht, mit anderen Worten, um die Dialektik, wiederum ein notorisch vieldeutiger Begriff, der hier jedoch im Sinne der bene disputandi scientia verstanden werden soll.17 Ziel der Dialektik ist demnach die Wissensbildung und -prüfung, das bedeutet in erster Linie die Unterscheidung von wahren und falschen Urteilen (ars discernendi verum a falso).18 Ihre Gegenstände finden sich sowohl im Bereich der Erkenntnis als auch der Ethik.19 Das Verfahren basiert auf einem schon bei Aristoteles beschriebenen Frage-Antwort-Spiel.20 Ihren Ausgang nimmt die Disputation von einem allgemeinen, in utramque partem diskutierbaren Satz (einem Problem), der sogenannten quaestio infinita: Beispielsweise von der Frage, ob die Ehe etwas Gutes sei oder das Gegenteil; oder: ob der Glaube mit menschlichen Vernunftargumenten gestärkt werden müsse oder das Gegenteil.21 Die quaestio besteht also aus einer Affirmation und einer kontradiktorischen Negation. Aus dieser Alternative ergeben sich die Redepositionen von Proponent und Opponent, im universitären Rahmen tritt dazu der Disputationsleiter (praeses), der die Diskussion zusammen16 Hanspeter Marti, Art. ›Disputation‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 866–880, hier Sp. 866: »Die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen sowohl der mündlichen als auch der schriftlichen D[isputation] läßt keine allgemeingültige Beschreibung ihres Ablaufs bzw. ihrer Gattungsmerkmale zu«. 17 Diese Bestimmung der Dialektik nach Aug. dialect. I, 1409b (hg. Jackson/Pinborg 1975), ähnlich auch die Definition bei Boet. in top.Cic. I, 1043A (PL 64, 1039–1074); beide Zitate nach Isabel J. Tautz, Art. ›Dialektik: Spätantike; Mittelalter‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 567–576, hier Sp. 568f. 18 Zitiert nach Tautz, Dialektik (wie Anm. 17), Sp. 573; Vgl. Aug. c.Cresc. I,15: qui enim disputat, verum discernit a falso (hg. Petschenig 1909); zitiert nach Marti, Disputation (wie Anm. 16), Sp. 873. Des Weiteren Abaelard, der daraus den Führungsanspruch der Dialektik ableitet: Haec autem est dialectica, cui quidem omnis veritatis seu falsitatis discretio ita subiecta est, ut omnis philosophiae principatum dux universae doctrinae atque regimen possideat. (Petrus Abaelardus, Dialectica [hg. Rijk 1956], S. 470). 19 Aristot. top. 104b (übers. Rapp/Wagner 2004). 20 Dazu Christoph Rapp / Tim Wagner, Einleitung, in: Aristoteles, Topik (übers. Rapp/Wagner 2004), S. 17f. 21 Beide Beispiele aus Abaelards ›Sic et non‹: Quaestio 1: Quod fides humanis rationibus sit adstruenda, et contra. Quaestio 135: Quod nuptiae bonae sint, et contra. (Petrus Abaelardus, Sic et Non [hg. Henke/Lindenkohl 1851/1981], S. 18 bzw. S. 359). Davon zu unterscheiden ist der Funktionstyp der juristischen Disputation, in der Anwendungsprobleme anhand fiktiver causae erörtert wurden. Vgl. Hanspeter Marti, Art. ›Controversia‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 380–384.
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fasst und entscheidet. Die Alternative gibt die Grundstruktur der Auseinandersetzung vor, in der Gründe pro und contra aufeinander bezogen werden. Dabei lassen sich systematisch ein inventiver Aspekt der Argumentationsfindung und ein logischer Aspekt der Prüfung und gegebenenfalls der Widerlegung der Gegengründe unterscheiden, was sich im dialektischen Gespräch in einer Frage- und einer Beweisphase realisiert.22 Der Antagonismus von Ackermann und Tod ist anderer Art. Das liegt zum Teil natürlich daran, dass der Text in der Tradition des literarischen Streitgesprächs fiktional codiert ist, das heißt Repräsentativfiguren bzw. allegorische Personifikationen einander gegenüberstellt. Spezifisch ist der ›Ackermann‹ insofern, als der menschliche Sprecher, der ›Ackermann‹ genannte Witwer, hier nicht (wenigstens nicht nur) als Vertreter eines abstrakten Prinzips agiert, sondern als persönlich Betroffener. Während in den traditionellen Mensch-Tod-Dialogen das allgemeine Problem der eigenen Sterblichkeit moraldidaktisch thematisiert wird, geht es hier um den Verlust der guten Ehefrau, der topischen uxor bona; zu berücksichtigen ist also die Dimension der Trauer.23 Dieser Verlust wird mit dem Tod als der personifizierten Verlustursache verhandelt, dem der Ackermann mit einer doppelsinnigen Klage gegenübertritt. Insofern nun der Ackermann gegen den Tod Klage führt, scheint die gerichtliche Rhetorik mit ihrem Wechselverhältnis von Anklage (accusatio) und Verteidigung (defensio) maßgeblich zu sein und in der Tat weisen die einzelnen Kapitel eine komplexe rhetorische Disposition auf.24 Man hat daher versucht, den ›Ackermann‹ auch im Ganzen aus dem rhetorischen genus iudiciale abzuleiten.25 Dagegen steht allerdings die dialogische Struktur des Textes: Der Text entfaltet sich nicht als fortlaufende Rede (wie etwa in den Plädoyers der antiken controversia), sondern als oratio intercisa, das heißt, er folgt einem streng alternierenden Prinzip, das gewissermaßen Miniaturreden miteinander konfrontiert. Im Vergleich mit der Gerichtsrede wird auch ein zweiter Unterschied sichtbar: In der Gerichtsoder Beratungsrede versuchen beide Parteien, einen Dritten (Richter, Volksversammlung) zu überzeugen, demgegenüber sind die Kontrahenten 22 Ekkehard Eggs, Art. ›Logik‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001), Sp. 419– 614, hier Sp. 438. 23 Vgl. dazu u. a. Werner Röcke, Die Faszination der Traurigkeit. Inszenierung und Reglementierung von Trauer und Melancholie in der Literatur des Spätmittelalters, in: Claudia Benthien / Ingrid Kasten (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 100–118. 24 Bertau (wie Anm. 1), S. 20ff. 25 Karl Heinz Borck, Juristisches und Rhetorisches im ›ackerman‹, in: Zeitschrift für Ostforschung 12 (1963), S. 401–420.
Dialektik im ›Ackermann‹
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im ›Ackermann‹ über 32 Kapitel aufeinander verwiesen. Der Dritte, der nach Lage der Dinge nur Gott sein kann, wird zwar mehrfach benannt, er wird vom Tod als Legitimationsinstanz in Anspruch genommen und vom Ackermann sogar ausdrücklich als Richter angerufen, doch nicht als Leiter eines Verfahrens, den es zu überzeugen gälte (einmal abgesehen von der Frage, inwieweit Gott beeinflussbar wäre), sondern als Exekutor von Strafen. Der Streit endet zwar mit einem göttlichen Urteil, dabei spielt jedoch die juristische Alternative zwischen Strafe und Belohnung (poena/ praemium) bezeichnenderweise keine Rolle.26 Wenn der Tod dem initialen Vorwurf des Ackermanns, ein mörder zu sein (1,2), den Anspruch entgegenhält: Rechtvertig wollen wir werden, rechtvertig ist unser gefert (2,23f.), so geht es keineswegs darum, einen Richter zu überzeugen (der gar nicht angesprochen ist), sondern sein Gegenüber, den Ackermann, zu einem Eingeständnis zu zwingen.27 Genau darin wird der Text auf die Grundsituation der disputatio transparent, ohne dem Gattungsmuster im strengen Sinn zugeordnet werden zu können. Die Struktur des Streits zwischen Ackermann und Tod erweist sich daher als überaus ambivalent. Schon Konrad Burdach hatte in seinem 1917 erschienenen voluminösen Kommentar – nicht ohne eine gewisse Resignation im Hinblick auf seine eigene These vom Ackermann als Strafprozess – festgestellt, dass »das Gespräch zwischen Kläger und Beklagtem […] immer mehr den Charakter des gerichtlichen Streits verliert, und in eine wissenschaftliche Disputation übergeht«.28 Burdachs Feststellung erscheint mir in doppelter Hinsicht interessant: Zum einen lässt sie sich lesen als Hinweis auf eine konstitutive Rolle der Dialektik für die Prozessualität des Ackermanndialogs, zum andern verweist sie auf die Übergänglichkeit von Rhetorik und Dialektik überhaupt. Zwar sind beide Rede- und Denklehren differenziert hinsichtlich materia, usus und finis, jedoch besitzen sie einen gemeinsamen Kern, der sich definieren lässt, »als eine in Kontroversen Zustimmung erzeugende Strategie aufgrund topischer Basisübereinstimmung«.29 In der dialektischen Auseinandersetzung ist der 26 Vgl. Hahn, Ackermann (wie Anm. 1), S. 86f. 27 Zum dialektischen Verfahren vgl. u. a. Eleonore Stump, Dialectic, in: David L. Wagner (Hg.), The Seven Liberal Arts in the Middle Ages, Indiana 1983, S. 126f., S. 131. 28 Alois Bernt / Konrad Burdach (Hg.), Der Ackermann aus Böhmen. Einleitung, kritischer Text, vollständiger Lesartenapparat, Glossar, Kommentar, Berlin 1917, S. 170. Burdach trifft diese Feststellung immerhin schon in seinem Kommentar zu Kap. 2. Vgl. auch ebd., S. 372. 29 Peter von Moos, Rhetorik, Dialektik und »civilis scientia« im Hochmittelalter, in: Johannes Fried (Hg.), Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter, München 1997, S. 133–156, hier S. 137. Des Weiteren vgl. Peter von Moos, Geschichte als Topik, Hildesheim 1996, S. 258ff.
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Gegner selbst zu überzeugen, ist also einer des anderen Richter, während in der rhetorischen Persuasion ein Dritter (im juristischen Kontext der Richter) angesprochen ist. Der Dialektik ist die allgemeine infinite Fragestellung (quaestio/Thesis), der Rhetorik der konkrete (durch »Umstände« gebildete) finite Fall (causa/Hypothesis) zugeordnet.30 Beide Problemstellungen gehören aber in den gemeinsamen Aktionsraum der Topik und sind ineinander transformierbar: So entspricht der Hypothesis: »Soll Cato heiraten?« die Thesis: An vir sapiens ducat uxorem. Der usus der Dialektik ist die oratio intercisa (also die disputatio), derjenige der Rhetorik hingegen die monologische Rede (oratio continua). Freilich ist die Rhetorizität der Disputation ebenso zu berücksichtigen31 wie die prinzipiell dialogische Verfasstheit rhetorischer oratio.32 Dieser Gesichtspunkt der Übergänglichkeit beider Disziplinen scheint mir auch für den ›Ackermann‹ von Bedeutung zu sein. Statt also ein abstraktes Schema der Disputation auf den Text zu projizieren, sollen im Folgenden vielmehr konkrete Formen und Funktionen dialektischer Rede im ›Ackermann‹ untersucht werden, besonders im Blick auf den menschlichen Sprecher. Es geht dabei nicht einfach nur um den phänomenologischen Aufweis »disputatorischer« Elemente in einem Streitgespräch um 1400, sondern auch um ihre Funktionalisierung und Kontextualisierung im Dialogverlauf. Besondere Aufmerksamkeit wecken dabei jene Passagen, die in der Ackermannforschung mit den Attributen »scholastisch« oder »dialektisch« versehen worden sind.
II. Verfahren und Aufweis einer doppelbödigen Argumentation Die Auseinandersetzung zwischen Ackermann und Tod vollzieht sich zu Beginn als ein mehr oder minder »planvolles Aneinandervorbei«:33 Der emotionalisierte Ackermann insistiert auf seiner Klage, wogegen der Tod kühl seine Macht demonstriert und die Berechtigung der Klage bestreitet (in Bertaus Schema: dolor vs. potentia).34 In der Mitte des Gesprächs lassen sich jedoch erste Verschiebungen der Gespächssituation erkennen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Ackermannrede in Kapitel 15, dessen Signi30 Von Moos, Rhetorik (wie Anm. 29), S. 136f. Diese Einteilung basiert auf Boethius, De topicis differentiis IV (PL 64) 1205 C–1206 C, 1208, 1215 A. 31 Vgl. Marti, Disputation (wie Anm. 16), Sp. 868. 32 Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart 1996, S. 70. 33 Gerhard Hahn, Die Einheit des Ackermann aus Böhmen, München 1963, S. 44. 34 Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 20. Zum Tod im ›Ackermann‹ vgl. Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 208ff.
Dialektik im ›Ackermann‹
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fikanz darin besteht, dass es anstelle der Klage erstmals eine »scharfsinnige Rechnung« setzt,35 die sich durch eine »artifiziell-scholastische Logik« auszeichnet.36 Man kann dies gewissermaßen als einen Rationalisierungsschub auffassen, das heißt als Zeichen, dass kompositorisch »eine Phase größerer Distanz, strengerer Kühle und höherer Reife« auf Seiten des Ackermanns eingeleitet worden sei, der sich aus seiner anfänglichen Affektverhaftung zu lösen beginne.37 Aus der oben eröffneten Perspektive dürfte es sich daher lohnen, dieses Kapitel genauer zu betrachten. Eingeleitet wird die Ackermannrede interessanterweise durch einen Betrugsvorwurf gegen den Tod: Beschonter [beschönigender] außrede bedarf wol schuldiger man. Also tut jr auch. Suss vnde sawer, lind vnd hert, gutigscharpff [gütig und scharf ] pflegt jr euch zu beweisen den, die jr meint zu betrigent [betrügen]. Des ist an mir schein worden, wye sere ir euch beschonet. (15,1f.)
Dies gilt noch als Beleg »misstrauischer Unsicherheit« gegenüber dem Tod.38 Als Beleg für die Rationalisierungsthese wird die folgende Argumentation betrachtet: Doch weyss ich, das ich der erenfollen, durchschonen [ganz und gar Schönen] von ewer swinden [grausamen] vngenade wegen kumberlich emberen [schmerzlich entbehren] muß. Auch weyß ich wol, das solliches gewaltes sunder gott vnde ewer niemant ist gewaltigt. So bin jch von gott also nicht geplaget, wann hett ich mißgefarn [gesündigt] gen gott, als leyder dick [oft] geschehen ist, das hett er an mir gerochen [gerächt] oder es hett mir widerbracht die wandelsan [ausgeglichen die Unwandelbare]. Jr seyt der vbelteter! (15,5-11)
Dieser Beweisführung liegt ein Schluss zugrunde, der sich sich aussagenlogisch wie folgt schematisieren lässt: Entweder A oder B, Nicht-A, also B. Es handelt sich also um einen disjunktiven Syllogismus (modus tollendo ponens). Dem schließt sich folgende Fragereihe an: Hirvmbe west ich gern, wer jr wert, was jr wert, wo ir doch wert, von wann ir wert, warzu jr tuchtig wert, das jr so uil gewalts hapt vnd an ensagen mich also gefordert, meynen wunnenreychen anger geödt [verwüstet], meynen starcken turen [Turm] vntergraben vnde gefellet hapt. (15,11-17)
35 Hahn, Einheit (wie Anm. 33), S. 51. 36 Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 217. 37 Hahn, Einheit (wie Anm. 33), S. 52. Zustimmend Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 217. 38 Hahn, Einheit (wie Anm. 33), S. 50.
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Diese Reihe fußt auf dem traditionellen rhetorischen Frageschema;39 man mag in diesem Zusammenhang auch an die scholastische Zirkumstanzenlehre denken, die auf diesen topischen Fragekatalog zurückgeht und deren Funktion in der präziseren Einschätzung menschlichen Handelns liegt, insbesondere in buß- und pastoraltheologischer Funktion.40 Relevant ist hier vor allem die bewusst systematische Herangehensweise. Den Schluss des Kapitels 15 bildet eine Anrufung des göttlichen Richters, mit der Aufforderung, Gott möge den Tod als falschen richter bestrafen (15,28), es lasse sich nit unrechters dann der todt in der Schöpfung finden (15,23). Die hier wiedergegebene Argumentation des Ackermanns ist zwar formal korrekt, textfunktional aber merkwürdig redundant. Der Ackermann scheint hier mit großem Aufwand das Offensichtliche abzuleiten, nämlich dass der Tod für den Verlust seiner Frau verantwortlich ist, was ja von Beginn an offenkundig ist und vom Ackermann im einleitenden Satz zudem selbst konstatiert wurde. Auch die Fragereihe erscheint überflüssig, insofern der Ackermann damit »für die Anklagerede etwas nach[holt]«, so Karl Bertau, »was eigentlich längst hätte festgestellt sein müssen« – und zum Teil auch schon längst thematisiert worden ist.41 Nun bildet Kapitel 15 aber die Replik auf die voraufgegangene Rede des Todes in Kapitel 14, die ja gleich zu Beginn als Betrug gekennzeichnet wird. Der Tod versucht in Kapitel 14, das Hinscheiden der Ehefrau als Wohltat und Gnadenakt zu erweisen:42 Seine Argumentation basiert auf dem Topos der Gnade des frühen Todes: Das haben gelobt, das haben begert alle weissagen, wann sie sprachen, am besten zu sterben, wann am besten zu leben (14,10ff.). In einem zweiten Argumentationsschritt wird die uxor bona des Ackermanns zu einer seligen marterjnn stilisiert, zu einer QuasiHeiligen, deren guttet auch der Ackermann teilhaftig werden könne. Der 39 Gemäß dem bekannten Merkvers: Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando. Die Überlieferung der Fragereihe scheint früh gestört worden zu sein, denn die drei mittleren Fragen (was jr wert, wo ir doch wert, von wann ir wert) sind in den Handschriften nicht überliefert, abgesehen von einer Handschrift, in der sich die vierte Frage findet. Die Ackermannforschung ergänzt die Fragereihe aus einem späteren Druck. Bertau vermutet, dass im Archetyp nur die beiden äußeren, »juristischen Fragen« gestanden haben. Eigenartig ist auch, dass der Tod in Kap. 16 Antworten auf gar nicht gestellte Fragen gibt. Diese für die Interpretation durchaus bedeutsame Problematik kann hier nicht vertieft werden. Vgl. Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 280, S. 296f., des Weiteren Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 217, Anm. 122. Kiening verweist auf den ›Dialogus mortis cum homine‹, der ebenfalls mit dem inventio-Schema operiert (ebd., S. 197ff.). 40 M. Laarmann, Art. ›Umstand‹, in: Lexikon des Mittelalters 8 (2003), Sp. 1211–1212. Vgl. Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 217: Der Ackermann bewege sich hier in »scholastischen Denkbahnen«. 41 Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 280. 42 14,6f.: Jr ist gutlich vnd genedigclich gescheen.
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Tod bietet dem Ackermann sogar seine Fürsprache an: Bürge wolten wir werden, jr guttat würdestu genissen (14,27f.). Von Kapitel 14 her gedacht, scheint es das Ziel der Argumentation in Kapitel 15 zu sein, den einleitenden Betrugsvorwurf zu untermauern. Das erinnert an die Ursprungsfunktion der Dialektik, Scheinargumentationen zu widerlegen. Das Kapitel 15 steht damit im Kontext einer umfassenden und komplexen Transformation des Ackermanndialogs, die hier nur angerissen werden kann. Das Wechselspiel zwischen der clage des Ackermanns (im Doppelsinn von lamentatio und accusatio) und der Selbstrechtfertigung und Machtdemonstration des Todes wird schon früher, nämlich erstmals in der Todesrede von Kapitel 10 unterbrochen. Der Tod wechselt hier die Strategie: Er stellt nicht mehr in einer sozialen Semantik die eigene Macht zur Schau, sondern stellt qua Einsicht in der naturen gewurcken […], jn jrdische wandlung (10,2f.) die allgemeine Vergänglichkeit vor Augen. Mercke, wie die lustigen rosen vnd die starckriechenden lilien jn dem garten, wie die krefftigen würcze [Kräuter] vnd die lustgebenden blumen jn den awen, wie die veststenden stein vnd die hochgewachsen pawm jn wildem gefilde, wie die kraffthabenden beren vnd die starckwaldigen [mächtigen] lewen jn enttrischen [unheimlichen] wustungen, wie die hochgewachssen starcken rechken [Helden], behenden, abentewerlich, hochgelarten vnde allerley meysterschafft wolvermügenden lewte vnde wie alle jrdische creatuer, wie kunsstig, wie lustig, wie starck sie sein, wie lang sie sich enthalten, wie lang sie es treiben, müssen zu nichte werden vnd vervallen allenthalben. Vnd wann nu alle menschengeslechte, die gewesen sein oder noch werden, müssen von wesen zu nichtwesen kommen, es sollt die gelubde [Geliebte], die du beweynest, genissen, das jr nicht geschee als andern allen vnd allen andern als jr? (10,5ff.)
Die logische Basis ist ein rhetorisch verkürzter Syllogismus (Enthymem): Alle Lebewesen müssen sterben, ergo auch deine Frau (es sollt die gelubde, die du beweynest, genissen, das jr nicht geschee als andern allen vnd allen andern als jr?). Folglich ist die Klage des Ackermanns sinnlos bzw. nichtig (enwicht, 10,23). In seiner Antwort konfrontiert der Ackermann die rhetorisch hergestellte evidentia der Vergänglichkeit mit der Evidenz seiner Trauer. Hier taucht zum ersten Mal der Betrugsvorwurf auf: Gaukelweise traget ir mir vnder [gaukelt etwas vor], falsch tragt ir mir ein vnd wellet mir mein vngehewer sinneleit, vernunftleit vnd herzeleit aus den augen, aus den sinnen vnd aus dem mute slahen [schlagen]. Ir schaffet nit, wann mich rewet mein verserig [schmerzender] verlust, die ich nimmer widerbringen mag [wiedergewinnen kann]. (11,2f.)
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Der Tod hingegen verfolgt seine Strategie einer logischen Problemauflösung auch in Kapitel 12, indem er ironisch ein Dilemma konstruiert: Sage vns: do du am ersten dein loplich weip namest, vandestu sie from oder machestu sie frum? Hastu sie frumme gefunden, so such vernünfftigclichen: du vindest noch vil reiner frommer frauwen auf dem ertereich, der dir eine zu der ee werden mag. Hastu sie aber frum gemachet, so frewe dich: du bist der lebendig meyster, der noch ein frumes weyp geziehen und gemachen kann. (12,11ff.)
Kurzum: Eine gute Ehefrau sei zu ersetzen, weshalb der Verlust eben nicht unwiederbringlich sei.43 Was der Tod hier vorführt, stellt eine Sonderform rhetorisch-dialektischer Argumentation dar: die consolatio, das heißt rationale Prüfung der Trauer zum Zweck der Auflösung (oder wenigstens Milderung) des Schmerzes.44 Die Rollenmöglichkeiten des Trostbedürftigen (consolandus) sind einschlägig: Entweder lässt er sich mehr oder minder willig auf die rationale Argumentationslinie ein (wie beispielsweise in Boethius’ paradigmatischer ›Consolatio Philosophiae‹) oder die Stimme des Trauernden wiederholt hartnäckig ihre Klage, was der schematischen Opposition von Schmerz (dolor) und Vernunft (ratio) entspricht, wie sie beispielsweise in ›De remediis‹ des Ps.-Seneca oder bei Petrarca zu finden ist. Im Ackermanndialog stellt sich die Situation komplizierter dar: Da der Tröster zugleich die Ursache des Verlustes ist, sind Klage und Anklage im Diskurs des Ackermanns ebenso ineinander verschränkt wie Tröstung und Rechtfertigung im Diskurs des Todes. Der consolandus verweigert sich der Auflösung und hält bewusst an der doppelsinnigen Klage fest. Das Insistieren auf der Klage, die fortgesetzte Verweigerung des Klägers erzwingt aber zugleich die Neuformulierung seines Diskurses, der nunmehr das Verfahren des Gegners zu integrieren versucht. Kapitel 13 bezieht sich eingangs ebenfalls auf einen objektiven Begründungszusammenhang (das heißt auf das, was er weiß), wobei aber anstelle der vom Tod in Anspruch genommenen Weisheit, das heißt der Erkenntnis der natürlichen Zusammenhänge, die Unterscheidung von Recht und Unrecht tritt:
43 Ein klassisches Argument, das Johannes von Tepl wahrscheinlich ›De remediis‹ des Ps.Seneca entnommen hat. 44 Zur consolatio einschlägig: Peter von Moos, »Consolatio«. Studien zur mittelalterlichen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, München 1971/1972.
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Wie stumpf ich bin, wie wenig ich han zu synnenreichen meystern gezocket [in etwa: wie wenig weise ich auch bin], dannoch weyß ich wol, das jr meyner eren rauber, meyner frewden diep, meyner guten lebtag steler, meyner wünnen vernichter vnd alles des, das mir wünnsam leben gemacht vnde gelübt, zurstorer [Zerstörer] seyt. (13,4ff.)45
In diesem Zusammenhang ist die Argumentation in Kapitel 15 zu betrachten: Auch hier operiert der Ackermann auf der Basis dessen, was er weiß, und gelangt so zu einer juristischen Zuschreibung (vbelteter). Der Ackermann übernimmt damit das Verfahren logischer Prüfung, das seine Klage ins Stocken gebracht hat, und kehrt es gegen seinen Kontrahenten, um die Wahrnehmung des Unrechtscharakters des Todes zu verteidigen.46 In Kapitel 15 konzentriert er sich dabei auf die Frage nach der gewalt, hier im Doppelsinn von ›Gewalt‹ und ›Kompetenz‹ (15,7f.: das solliches gewaltes sunder gott vnde ewer niemant ist gewaltigt). Wenn sich der Tod in Kapitel 14 als Wohltäter und Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits präsentiert, verschleiert er den Gewaltaspekt des Verlusts der uxor bona. Die umständliche Beweisführung in Kapitel 15 hat die Funktion, diesen Gewaltaspekt explizit zu machen und den Tod als Gewalttäter zu entlarven (vbelteter). Der Fragekatalog zielt nun auf die Legitimation des Todes (das jr soviel gewalts hapt), dem Ackermann diesen tort zuzufügen. Gerade hier zeigt sich jedoch die Doppelbödigkeit der Auseinandersetzung, denn befragt wird eine allegorische Figur, das heißt, ihr Status ist sowohl personal als auch abstrakt. Der Text changiert mithin zwischen der finiten und der infiniten Ebene, die Legitimationsfrage wird transparent auf das allgemeine dialektische Problem der Gerechtigkeit des Todes. In der Selbstexplikation des Todes, die sich am Fragekatalog abarbeitet, wird die traditionelle Todeskonzeption mit ihrer Identität von Recht und Macht brüchig:47 Die Antwort auf die Wesensfrage legt die Liminalität des Phänomens und damit den Konstruktionscharakter der Figur offen, wenn der Tod erklärt: Wir sein nichts vnd sein doch etwas […] des wesens ende, des nicht wesens anfang, ein myttell zwüschen jn baiden. Wir seyn ein geschicht, das alle lewt fellet [zu Fall bringt] (16,13f.). Die daraus resultierende Bestimmung des Modus des Todes als unfassbar (16,23: vnbeschedenlich) schlägt sich nieder in folgender Figuration: Pitagoras gleycht vns zu eynes 45 Vgl. des Weiteren 13,22f.: Ich brufe, barmherczigkeyt wont bey euch nit. 46 Eine primär psychologisch orientierte Beschreibung, die den ›Ackermann‹ nach dem Modell der »Trauerarbeit« begreift und in Kap. 15 eine sichtbare Reifung und Distanzierung der Ackermanns ausmachen will, verfehlt für gewöhnlich diesen Punkt. 47 Vgl. auch Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 218ff.
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mannes schein [Erscheinung], der hett baseliscen augen, wanderten in allen enden der welte, vor des gesichte sterben must alle lebendige creatuer (16,34f.). Nicht zuletzt dadurch wird der Anspruch auf rechtuertigkeyt [Rechtfertigung und Rechtsförmigkeit] (16,11), bekräftigt im Schnitterbild, das den locus a persona liefert (herr Tot, rechter würkender meder [der Sensenmann], 16,5), konterkariert. Der Ackermann fokussiert in seiner Replik (Kapitel 17) genau diese anarchische, gewaltförmige Agilität des Todes und stellt zugleich seine Klage in einen übergreifenden Kontext, wenn er konstatiert: doch hewet euwer sengenß [Sense] neben recht. […] Jr hapt alle [das heißt die guten und achtbaren Leute] vnde meyn zarte ermordet, die snöden [Bösen] seint noch alda (17,7 und 22f.). Die Frage nach der Gerechtigkeit des Todes mündet letztlich in eine Aporie.
III. Von »der dissuasio zur quaestio« Für den zweiten Teil des Textes, namentlich für die Kapitel 18 bis 30, ist in der Forschung des Öfteren der Begriff »Disputation« in Anschlag gebracht worden.48 Allerdings sind auch hier die konkreten Umstände zu beachten: Die Klage des Ackermanns ist durch eine Forderung nach Wiedergutmachung (19,26: genugen thun) ersetzt worden, die sich als Bitte um Unterweisung konkretisiert: so ergeczent [entschädigt] mich und vnterweysent mich, wie ich widerkome [überwinde / entschädigt werde] meynes grossen herczeleydes (19,16 f.). In dieser eigentümlichen Formulierung sind Ratbegehren und Entschädigungsforderung auf ambivalente Weise verklammert. Die Frage nach dem herczeleydt (21,9), also die Trauer des Ackermanns, ist der Ausgangspunkt der folgenden Auseinandersetzung. Der Text greift damit auf das in Kapitel 15 eingeführte Modell von Frage und Antwort zurück, die Rollenstruktur allerdings erscheint im Sinne eines Lehrgesprächs verändert.49 Der (signifikanterweise wiederholten) Bitte um Rat seitens des Ackermanns folgen zwei Lehrreden des Todes; als Lehr- bzw. Beratungsreden erfüllen sie die Aufgabe einer dissuasio, dem Abraten von einer Handlung oder Haltung, die, zumal im stoischen Kontext, nicht selten die Form einer regelrechten Abschreckung annimmt. Die Trauer erfährt ihre Einordnung in die vier Hauptaffekte der stoischen Lehre: frewde, leyt, vorcht vnd hoffnung, die als Störungen (perturbationes) des inneren Gleichgewichts
48 Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 20. Vgl. das obige Zitat von Burdach. 49 Bäuml, Devices (wie Anm. 4), S. 59.
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negativiert werden.50 Der Tod fokussiert dabei das Implikationsverhältnis von Freude bzw. lieb und Trauer bzw. leydt (22,22ff.) und empfiehlt daher die Annihilierung der Affekte: Wer alle lieb nit auß dem herczen treyben will, der muß gegenwertigs leyt all zeyt tragen. Treybe auss dem herczen, auß den synnen vnde auß dem mut liebes gedechtnüß, allzuhant wirdestu traurens vberhaben [ledig sein]. (22,29ff.)
In seiner Replik in Kapitel 23 konzediert der Ackermann zunächst: in der lenge wird man gewar der warheit […]. Ewere spruch seint süß 51 vnd lustig, des ich nu etwas empfinde (23,1). Diese warheit wird jedoch relativiert, indem unter Verweis auf die alten Römer zu einer Verteidigung der soeben infrage gestellten lieb ausgeholt wird. Die Argumentation ist komplex, eine zentrale Rolle spielt die Mehrdeutigkeit des mittelhochdeutschen Ausdrucks lieb [Freude, Wohlgefallen, Freundlichkeit, Liebe], das die Basis für eine Neukontextualisierung abgibt. In Kapitel 23 wird lieb durch die Synonymenreihe frewde, lieb, wünne vnde kurzweil charakterisiert (23,3f.). Aus dem Affekt, das heißt einer innersubjektiven Vorstellung, die sich mit gewissen Dingen verbindet, ist eine außersubjektive Teilhabe geworden.52 Bezug genommen wird auf eine höfisch-aristokratische Lebensform, die in einer für die mittelalterliche, insbesondere für die höfische Literatur typischen Manier auf die Antike projiziert wird, weshalb sich der Ackermann auf die Römer als spezifische Autorität berufen kann: des will ich mich ziehen [halten] an die Romer, die haben es selbs getan vnde haben das jre kinder gelert, das sie lieb jn eren haben, turnyren, stechen, tanczen, wettlaufen, springen, vnd zuchtige hubscheit treiben sollten bei mussiger weil, auff die rede, das sie die weil boßheyt weren vberhaben. (23,5f.)
In der Forschung gilt diese Argumentation des Ackermanns als »schwach«; es scheint, als könne sich der Ackermann nur durch einen argumentativen »side step« der Beweisführung des Todes entziehen.53 Systematisch gesehen, verweist die Rede des Ackermanns aber auf einen impliziten Zusammenhang von Ethik, Sozialität und Empfindungsfähigkeit. Im Kontext der höfischen Gesellschaft erscheint das individualethisch ausgerichtete apathia-Ideal dysfunktional: Die Auslöschung der lieb verhält sich analog zu dem in den höfischen Romanen wiederholt problematisierten Verlust der 50 Der Text rekurriert damit auf die quattuor passiones bei Boethius: gaudia, dolor, spes, timor; vgl. Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 416f. 51 Mit der Kennzeichnung süß wurde der Effekt der Todesreden auch in Kap. 15 gekennzeichnet, dort ist sie verknüpft mit sawer und verhält sich funktional zum unterstellten Betrug. 52 Vgl. Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 437 zur Semantik von frewde. 53 Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 429. Bäuml, Devices (wie Anm. 4), S. 78f.
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höfischen vröude, er führt zu einem Welt- bzw. Gesellschaftszustand, der ethisch wie ästhetisch als vbel (23,3f.) charakterisiert werden muss (womit der Rat im Übrigen der impliziten Verpflichtung der Beratungsrede auf das utile zuwiderläuft). Durch diesen Bezug auf die höfische Lebensform erfährt aber auch das mehrdeutige liebes gedechtnüß eine Neubewertung als memoria, ebenfalls eine Kategorie aus dem aristokratischen Kontext, die nunmehr für das Trauerproblem produktiv gemacht werden kann, nämlich als erinnerndes Gedenken an die Ehefrau.54 Somit wird der eingangs als autoritative warheit apostrophierte »Ratschlag« des Todes, das Austreiben von liebes gedechtnüß, zur probablen These, die in utramque partem diskutierbar ist. Im Hinblick auf das Kommunikationsverhältnis ergibt sich eine grundlegende Ambivalenz: Das Strukturschema des Lehrgesprächs quaestio (hier Bitte um Rat) – responsio (Rat, Belehrung) wird um ein Glied erweitert, sodass sich die Folge quaestio – responsio – obiectio ergibt, womit die Auseinandersetzung in den Modus einer disputatio überführt wird, in welcher der Ackermann die Rolle des Opponenten erhält. Indem der Text auf diese Weise die konsolatorisch-didaktische Sprecherhierarchie öffnet, vollzieht er den Schritt »von der dissuasio zur quaestio«.55 Der Diskurs des Todes ist daher auf seine Ausgangsoperation zurückgeworfen: auf das dialektisch-rhetorische Aufbrechen der »Verblendung«. Der in Kapitel 23 evozierte Glanz der höfischen Kultur wird in Kapitel 24 topisch mit dem Elend des menschlichen Daseins kontrastiert. Das entspricht dem Verfahren des contemptus mundi, also der klerikalen Weltverachtung, die sich ja historisch vornehmlich gegen die aristokratische Lebensform richtete. Die menschliche miseria wird wiederum konfrontiert mit der menschlichen dignitas, der wiederum mit dem Verweis auf die Nichtigkeit der menschlichen Künste erneut eine Variante der Vergänglichkeitstopik begegnet.56 Der Text ist in der Folge in Lob- und Scheltreden organisiert.57 Eine Reprise erfährt die Disputationssituation in Kapitel 27, in dem der Ackermann die Frage nach einer Wiederverheiratung und 54 23,27: Ist sie mir leiplichen tot, in meyner gedechtnüß lept sie mir doch ymmer. Vgl. Kiening, Modernität (wie Anm. 1), S. 349. 55 Vgl. Detlef Roth, Von der dissuasio zur quaestio. Die Transformation des Topos An vir sapiens ducat uxorem in Wittenwilers ›Ehedebatte‹, in: Euphorion 91 (1997), S. 377–396. 56 Der Text zitiert hier ›De miseria‹ des Lotario de Segni (Lothar von Segni [Papst Innozenz III.], Vom Elend des menschlichen Daseins [hg. Geyer 1990), S. 42ff.]. Vgl. auch Heinrich von Melk, Von des todes gehugede (hg. Bein 1994), V. 483ff., wo die aristokratische Lebensform einer ähnlichen Kontrastierung unterzogen wird. 57 Vgl. das Begleitschreiben des ›Ackermann‹, worin dies als rhetorische Leistung herausgestellt wird: ibidem rerum, ymmo quoque vnius et eiusdem rei laus cum vituperio continentur. Text des Briefes in: Ackermann (hg. Kiening 2002), S. 82,13f.
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damit das oben erwähnte klassische Disputationsthema aufgreift (an uxor ducenda), das er mit einem Lob des Ehestandes verbindet, worauf der Tod in Kapitel 28 mit einem topischen Rekurs auf die Beschwerlichkeiten der Ehe (molestiae nuptiarum) antwortet.58
IV. Die abschließende Widerlegung des Todes Der sozusagen klassische Beleg für scholastische Argumentation im ›Ackermann‹ ist das Kapitel 31, die abschließende Rede des menschlichen Sprechers.59 Dieses Kapitel hat die Form eines doppelten Syllogismus: Der Ackermann versucht zunächst, seinen Kontrahenten eines Selbstwiderspruchs zu überführen. Eygene rede verteylt dick einen man vnd sunderlich eynen, der yczund eins und darnach ein anders redt. Jr hapt vor gesprochen, jr seytt etwas vnd doch nicht ein geyst vnde seytt des lebens ende vnd euch seint alle jrdische lewt empfolhen [anvertraut]. So sprecht jr nun, wir mussen alle dohin und jr todt, bleybt hie herre. Zwu widerwartige [widersprüchliche] reden mügen miteinander nit ware wesen [können nicht beide wahr sein]. Sullen wir von leben alle dohin scheyden vnd alles jrdisch leben soll alles end haben, so mercke ich: wann nymmer leben ist, so wyrt nymmer sterbens vnd todes. (31,2ff.)
Der Ackermann bezieht sich damit auf die Schlussworte des Todes in Kapitel 30: Die vor waren, die seint all dohin; du vnde alle, die nu seyntt oder noch werdent, müssent all hinach. Dannoch bleyb wir Tot, hie herre! (30,30ff.). Dieser Herrschaftsanspruch des Todes wird in Verbindung gebracht mit der oben erwähnten transitorischen Selbstbestimmung in Kapitel 16,13ff.: Wir sein nichts vnd sein doch etwas. Deshalben nichts, wann wir weder leben weder wesen noch gestalt noch vnterstent [Substanz] haben, nicht geyst sein, nicht sichtigclich, nit greyffenlich sein. Deshalben etwas, wann wir sein des lebens ende, des wesens ende, des nicht wesens anfang, ein myttell zwüschen jn baiden.
58 Zu diesem Topos vgl. Roth, dissuasio (wie Anm. 55) sowie ders., An uxor ducenda. Zur Geschichte eines Topos von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, in: Rüdiger Schnell (Hg.), Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998, S. 171–232. 59 Vgl. Hruby, Vorlage (wie Anm. 6), S. 127ff.; Schirmer, Funktionalität (wie Anm. 8), S. 581: »Der Einwand des Ackermanns, daß zwei einander widersprechende Aussagen nicht wahr sein können, ist eine typische obiectio, wie sie in der scholastischen Disputation vom Opponenten gebracht wurde«.
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Die Argumentation des Ackermanns in Kapitel 30 ist, wie sich im Vergleich zeigt, schon deshalb prekär, weil er den Tod stark verkürzt zitiert. Formallogisch lässt sich zudem einwenden, dass die Argumentation des Ackermanns unzulässig ist, denn aus der Aussage: »Jeder muss eines Tages sterben.«, wird hier gefolgert: »Es gibt (genau) einen Tag, an dem jeder sterben muss.« In der modernen Logik ist dieser Fehlschluss als »Quantorenschwindel« bekannt.60 Doch auch hier ist der rhetorische Kontext zu beachten. Die Pointe besteht darin, dass nunmehr auf logischem Wege bewiesen werden soll, was der Ackermann im ersten Teil des Dialogs mit der wiederholten Verfluchung des Todes antizipiert hat: die Verdammnis des Todes. Hierzu benutzt der Ackermann erneut einen disjunktiven Syllogismus:61 Wo koment jr dann hin, herre Tot? In hymel müget jr nit wonen, der ist gegeben den guten geysten; kein geyst seyt jr nach ewer rede; wann jr dann nymmer auff erden zu schaffen hapt vnd die erde nymmer weret, so müst jr gerichtes [geradewegs] in die helle. (31,11ff.)
Das Ziel dieser Argumentation ist die Widerlegung und somit Entwertung des gegnerischen »doppelbödigen« Diskurses insgesamt, der bündig als widersprüchliche wechselrede bzw. wanckelred identifiziert wird, nach der sich niemand richten könne und die den Ackermann lediglich von seiner clag schrecken solle (31,17 bzw. 31,30ff.). An dieser Stelle zeigt sich, was man als den Spieleinsatz des Ackermanndiskurses bezeichnen könnte: Es gilt, die Klage aufrechtzuerhalten. Der Dekonstruktion des Herrschaftsanspruchs des Todes entspricht dabei auf der infiniten Ebene die Relativierung des Phänomens: Zum einen in ethischer Hinsicht, indem der Ackermann gegen das Prinzip der Vergleichgültigung die moralischen Basisdifferenzen einklagt, wobei er sich auf die bonitas der göttlichen Schöpfung bezieht: Sollten alle jrdische dinge so bose, snode vnd vntuchtig sein beschaffen vnde gewürcket? […] Tugent lieb gehabt, boßheyt gehasset, sünde vbersehen [be60 Dieser Begriff nach Arnold Oberschelp, Logik für Philosophen, Mannheim 1992, S. 115. Möglicherweise liegt der ›Ackermann‹-Stelle ein ähnlicher Schluss, allerdings mit Blickrichtung in die Vergangenheit, aus Thomas’ ›Summa theologica‹ zugrunde: Summa theologica I, quaestio 2, art. 3: Invenimus enim in rebus quaedam quae sunt possibilia esse et non esse, cum quaedam inveniantur generari et corrumpi, et per consequens possibilia esse et non esse. Impossibile est autem omnia quae sunt, talia esse, quia quod possibile est non esse, quandoque non est. Si igitur omnia sunt possibilia non esse aliquando nihil fuit in rebus. – Also ungefähr: Etwas, dessen Nichtexistenz möglich ist, existiert auch zu irgendeiner Zeit nicht. Wenn es aber auf schlechthin alles zutreffen sollte, dass seine Nichtexistenz möglich ist, dann muss es eine Zeit gegeben haben, zu der tatsächlich nichts existierte. (Thomas von Aquin, Summa theologica, hg. vom Katholischen Akademikerverband 1934, S. 46). 61 Vgl. Hruby, Vorlage (wie Anm. 6), S. 127f.
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merkt] vnde gerochen hat got bis her (31,18ff.). Zum andern auf der kosmologischen Ebene, insofern der Tod im Wechselverhältnis von corruptio und generatio gewissermaßen verschwindet, wofür die erwähnte, hier Platon zugeschriebene »Weltewigkeitslehre« die autoritative Basis abgibt.62 Damit kehrt der Ackermann den vom Tod in Kapitel 10 vorgebrachten Hinweis auf die unablässige jrdische wandlung gegen diesen selbst (10,4).63 Dieser abstrakten Relativierung des Todes unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit wird freilich in der letzten Todesrede Kapitel 32 die konkrete Kontingenz der conditio humana gegenübergestellt, dem ewigen Wechsel die unleugbare corruptio der menschlichen Existenz. Das Schlussurteil führt diese beiden Perspektiven zusammen und bezieht sie zurück auf Gott. Darin wird die Ambivalenz der Gesprächssituation noch einmal deutlich, denn der göttliche Richter erscheint in einer Doppelfunktion: Er fungiert zum einen als oberster Lehnsherr, der die Streitparteien ob ihrer Anmaßung tadelt, zum andern als Schiedsrichter (dem praeses der Disputation vergleichbar), der auch Grund zum Lob findet: Yedoch der kryg ist nicht gar ane sach, jr habent beide wol gefochten: den zwinget leyt zu clagen, den die anfechtung des clagers die weyßheit zu sagen. Darumb clager, hab ere, Tod, syge! (33,19f.). Eine eindeutige Entscheidung (determinatio) ist diese Adresse nicht. Die Interpretation ist schon deshalb schwierig, weil die Begriffe »Ehre« und »Sieg«, die ansonsten in der mittelhochdeutschen Semantik in einer Äquivalenzbeziehung stehen, hier in Opposition gebracht sind. Die Verwendung dieser Termini unterstreicht allerdings den agonalen Charakter des Textes: Es ist ein dialektischer Wettkampf, dessen Artistik der Schiedsrichter Beifall zollt. Dennoch wird der Ackermann zuletzt auf das »Hergebenmüssen« verpflichtet.64 Es ist bezeichnend, dass der Text nicht mit diesem Urteil, sondern mit einem Gebet des Ackermanns seinen Abschluss findet, das als Antwort auf das göttliche Urteil die Verstorbene Gott anheimgibt.
62 Grundlage ist Aristot. gen.corr. 338a1,17–338b5,20; Kiening weist darauf hin, dass der Ackermann die häretische Aussage über die Ursprungslosigkeit der Welt vermeidet (Kiening, Kommentar [wie Anm. 1], S. 137f.). 63 Hruby, Vorlage (wie Anm. 6), S. 86. Der Ackermann unternimmt damit disputationstechnisch betrachtet eine sogenannte inversio; vgl. Marti, Disputation (wie Anm. 16), Sp. 867. 64 Yeder mensch dem tode das leben, den leyp der erden, die sele vns pflichtig ist zu geben (33,23f.). Vgl. Bertau, Kommentar (wie Anm. 1), S. 657f.
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VI. Schlussbetrachtung Obwohl der hier vorgenommene Überblick notgedrungenermaßen skizzenhaft bleiben muss, erlaubt er es, die Rede vom ›Ackermann‹ als einer disputatio zu präzisieren. Die Analogie ist vor allem eine methodische im Hinblick auf die topische Argumentationsweise und den rhetorisch-dialektischen Doppelcharakter des Textes, in dem die Verlustproblematik in utramque partem diskutiert wird. Dennoch wird man den Text nicht einfach unter den Begriff der Disputation subsumieren können. Die Differenz ist nicht nur eine formale, sondern vor allem eine funktionale. Die (akademische) Disputation ist als eine wahrheitsorientierte Kommunikationsform definiert (qui enim disputat, verum discernit a falso),65 das heißt, sie verfolgt das Ziel, die gestellten Probleme logisch aufzulösen. Gerade dies wird man für den ›Ackermann‹ nicht behaupten können, insofern es nämlich in diesem Text gerade nicht um eine logische Auflösung oder Beilegung des Konflikts zwischen Ackermann und Tod geht, sondern eher darum, den Dissens zur Geltung zu bringen und ihn auf ein angemessenes Niveau zu heben. Damit aber bewegt sich der ›Ackermann‹ in der Grauzone der Dialektik, die immer auch eristische Funktionsmöglichkeiten besitzt.66 Interessanterweise wird diese Ambivalenz auch im ›Ackermann‹ selbst reflektiert: In Kapitel 26, in dem der Tod die Nichtigkeit der menschlichen Künste hervorhebt, ist unter anderem von der Loyca die Rede, bekanntlich ein mittelalterliches Synonym für die ars dialectica. Sie, der warheyt vnd vnwarheyt fürsichtige entscheiderjnn, hilfet do nit mit jrem verdackten verslahen [versteckten Verdrehung], mit der warheyt verleitung krümerey [Verbiegung und Krümmung] (26,11f.). Aristoteles, dem es nicht zuletzt um die Grenzziehung zwischen Dialektik und Eristik zu tun ist, zielt auf dieses Problem, wenn er die Disputation ausdrücklich als ein ›gemeinsames Werk‹ bezeichnet: Verhielten sich die Teilnehmer hingegen unkooperativ und »starrsinnig«, so entstünden daraus ›Redewettkämpfe statt dialektischer Unterredungen‹.67 Aus dieser Sicht ist der ›Ackermann‹ ein solcher Redekampf, da die Kontrahenten kein »gemeinsames Werk« zu Ende bringen können, sondern unterschiedliche Spieleinsätze verfolgen. Der menschliche Sprecher versucht dabei, gegenüber dem personifizierten Tod Recht zu 65 Aug. c.Cresc. I,15; zitiert nach Marti, Disputation (wie Anm. 16), Sp. 873. Vgl. auch Tautz, Dialektik (wie Anm. 17), Sp. 573. 66 Vgl. Manfred Lossau, Art. ›Dialektik: Antike‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 560–567, hier Sp. 564 zu Aristoteles’ Unterscheidung der antilogischen Rede in Dialektik und Eristik. 67 Aristot. top. 161a19–24 (übers. Rapp/Wagner 2004).
Dialektik im ›Ackermann‹
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behalten; dabei geht es allerdings nicht um eine fixe Position, die nur expliziert werden müsste, sondern um einen fortgesetzten dynamischen Neuentwurf. Darin besteht, so scheint mir, der innovative Impuls des Textes. Der ›Ackermann‹ erscheint aus dieser Perspektive als ein Redeexperiment, das mitunter auch »paralogisch« verfährt, das heißt Argumentationsmöglichkeiten erprobt, auch wenn sie an der Grenze des logisch Zulässigen angesiedelt sind – und auf diese Weise die Tradition dialektisch problematisiert.68
68 Ein ähnlicher Befund bei Kiening, Hiob (wie Anm. 4), S. 211, der diese Suche allerdings nicht rhetorisch versteht, sondern auf eine »radikale Subjektivität« zurückführt. Der Begriff der »Paralogie« spielt auf J.-F. Lyotards postmodernes Problemdenken an. Ausführlich habe ich diese Überlegungen in meiner demnächst zu veröffentlichenden Dissertation entwickelt: Die Poetik des Widerstreits im ›Ackermann‹ des Johannes von Tepl, Diss. masch. Humboldt-Universität zu Berlin 2008.