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German Pages 712 [714] Year 2021
Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter
Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung
Beihefte Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger
Band 15
Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter Funktion, Wirkung und Spannungsfelder von okkultem Wissen, verborgenen Räumen und magischen Gegenständen Herausgegeben von Stephan Conermann, Harald Wolter-von dem Knesebeck und Miriam Quiering
Der Peer Review wird in Zusammenarbeit mit themenspezifisch ausgewählten externen Gutachterinnen und Gutachtern sowie den Beiratsmitgliedern des Mediävistenverbands e. V. im Double-Blind-Verfahren durchgeführt.
ISBN 978-3-11-069761-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069854-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069860-2 Library of Congress Control Number: 2021931905 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Stephan Conermann, Harald Wolter-von dem Knesebeck, Miriam Quiering Zur Einleitung: Das Geheimnis als gesellschafts- und kulturkonstituierendes Konzept 1
Mystik und Kirche: Vom göttlichen Geheimnis, okkulten Wissen und mystifizierten Orten Wendelin Knoch Die kirchliche Buße Ein ‚Heiliges Zeichen‘ – sacramentum – in der Spannung zwischen Enthüllung 19 und Diskretion Heinz Sieburg Die Offenbarung des Geheimen? Mittelalterliche Gottesurteile als Erkenntnisquelle 27 und ihr Niederschlag in der mittelhochdeutschen Literatur Felix Prautzsch Geheimnis und Offenbarung des Glaubens Zur Konstruktion christlicher Gemeinschaft im legendarischen Erzählen
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Eugenio Riversi Die ‚diskrete‘ Mitteilung des Offenbarten Ekbert von Schönau zwischen der Kritik an der geheimen Lehre der ‚Katharer‘ und der Veröffentlichung der Visionen seiner Schwester Elisabeth 65 Joanna Godlewicz-Adamiec und Paweł Piszczatowski Mystisches Geheimnis zwischen Sprachschöpfung und bildhafter Aussage
89
Vicky Ziegler Geheimnisse und ihre Wahrung in der arabischen Alchemie Okkultes im Werk ‚Die Prahlerei der Steine‘ des Andalusiers Maslama ibn Qāsim al-Qurṭubī 107 Manuel Schwembacher Das Irdische Paradies zwischen Entzogenheit und Immanenz in ‚Il viaggio dei tre 129 monaci al paradiso terrestre‘
VI
Inhalt
Andreas Obenaus Die Geheimnisse des Atlantiks und seine Erforschung im Spiegel mittelalterlicher arabischer Quellen 147 Gerda Brunnlechner Hirschreiter und albanische Hunde als Schlüssel zum göttlichen Schöpfungsplan? Küstenlinienkarte des Mecià de Viladestes von 1413 167
Bedeutung und Funktion sakraler Räume und Gegenstände Anne Schaich Heilige Gefäße unter gutem Verschluss Schränke und Nischen im mittelalterlichen Kirchenraum
191
Wilfried E. Keil Für Jahrhunderte verborgen Der Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig
209
Esther-Luisa Schuster Die heimliche inventio der Reliquien Godehards und Bernwards von Hildesheim 237 im 12. Jahrhundert
Kodikologische Beiträge: Von Buchschlössern und paratextuellen Zwischenräumen Marco Heiles Gesicherte Geheimnisse? Über Buchschlösser und das, was sie verbergen
255
Claudine Moulin Verhüllen und Zeigen Strategien der paratextuellen ‚Anderssichtbarkeit‘ in mittelalterlichen Handschriften 283 Claudia Wich-Reif ‚Marginalisierte‘ Exegese Zwischen-Räume von Bibeln, Bibelkommentaren und Bibelglossaren
303
VII
Inhalt
Geheimnis und Verborgenheit als narratives Mittel in der Literatur Ursula Schaefer Verborgenes im Altenglischen Lexikalische Anmerkungen zu einer kognitiven Metapher Janina Dillig In der Haut des Anderen Das Spiel mit Identität in ‚Salman und Morolf‘
321
339
Antonella Sciancalepore Out in the Wild Imagining Public and Secret Identity Through Animals and Nature in Old 353 French Literature Satu Heiland Der verborgene Blick ins Herz Sehen und Mitleiden im ‚Iwein‘ und ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von 373 Aue Natacha Crocoll Manipulation and Secrecy Hidden Places of Love in ‘La Celestina’
393
Birgit Zacke Mit dem Blick des Voyeurs Die Inszenierung von Heimlichkeit und Intimität im ‚Brüsseler Tristan‘ Susanne Knaeble Perspektivierung des Geheimnisses einer merfaÿm Wer sieht was in der ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen
409
441
Florian M. Schmid (In‐)Schrift und Bild Inszenierungen des Geheimnisses der Genealogie in Handschriften und 463 Inkunabeln der ‚Melusine‘ (1456) des Thüring von Ringoltingen Grażyna Maria Bosy Das celar-Motiv Geheimnis und Verborgenes in der Liebesdichtung der Trobadors
493
VIII
Inhalt
Silvan Wagner Das Geheimnis um den Schwanritter Agnatische und kognatische Herrschaftsbegründung in Konrads von Würzburg Märe 509 Dorothea Weltecke Über die drei Ringe Religiöse Vielfalt und die Brisanz verborgener Wahrheit Anna Hollenbach Das Idealbild einer guten Mutter Verborgenes Wissen in der Chronik Burkhard Zinks
523
545
Wissen ist Macht: Geheimhaltung als strukturelles Merkmal von Bildungs- und Herrschereliten Gerhard Wolf ‚Die Wahrheit erzeugt Verdruss und scheut deshalb das Licht‘ Der frühneuzeitliche Chronist im Zwiespalt zwischen wissenschaftlichem Anspruch, Lehrabsicht und Geheimnisverrat 565 Angelika Kemper Verrätselungen Verborgener Sinn und elitärer Anspruch in der ‚Dimetromachia‘ des Heinrich 587 Fischer Aquilonipolensis Nadine Metzger Vom Geheimmittel zum Allgemeingut? Hiera-Rezepte im frühbyzantinischen Arzneischatz
603
Linda Dohmen Die Geheimnisse der Königin Zur Darstellung von Unzuchtsvorwürfen gegen Herrschergemahlinnen in der karolingischen Historiographie 623 Cybele Crossetti de Almeida Luckard’s Secret oder: Geheimnis und Skandal in der Kölner Führungsschicht 639 Alheydis Plassmann Geheime Verschwörungen gegen König Johann
655
Inhalt
Maike Sach Staatsgeheimnisse und sensibles Wissen am Hof des Großfürsten Strategien zur Kontrolle von Informationen im diplomatischen Verkehr des Moskauer Staates mit Herrschern aus dem Westen um die Wende zur Neuzeit 667 Ortsregister
697
Personenregister
699
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Zur Einleitung: Das Geheimnis als gesellschafts- und kulturkonstituierendes Konzept
Das Geheimnis ist gesellschafts- und kulturkonstituierend, seine „Erfindung“ kann als „der Gründungsakt der Kultur“ bzw. „Vorbedingung und Kennzeichen aller zivilisierten Formen menschlichen Zusammenlebens“ bezeichnet werden.¹ Das 17. Symposium des Mediävistenverbandes, das vom 19.–22. März 2017 in Bonn stattfand, behandelte das umfangreiche Themenfeld „Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter“. Aus den zahlreichen Vorträgen liegt nun eine Auswahl vor, in der Funktion und Bedeutung dieser gesellschaftsdurchdringenden Phänomene aus vielfältiger und multidisziplinärer Perspektive behandelt werden. Grenzen des Wissbaren grenzen das, was in einer Gesellschaft oder Kultur alle (voneinander) wissen, von denjenigen Wissensbeständen ab, die nur Wenigen vorbehalten sind. Das Geheimnis und diese Grenzen sind ebenso konstitutiv für Kulturen wie Grenzziehungen zu solchen Wissensbeständen, die erst durch menschliche Neugier erreichbar werden. Dazu zählen die Arkana der Natur, aber auch als (noch) nicht wissbar verstandene (letzte, religiöse) Dinge, die sich etwa in Offenbarungen nicht vollständig enthüllen (etwa: die Beschaffenheit der jenseitigen Welt, die Attribute Gottes). Das Geheimnis um den wahren Glauben und den göttlichen Schöpfungsplan steht in der Mitte aller religiöser Glaubensgemeinschaften und markiert ein zentrales Abgrenzungsmerkmal gegenüber Andersgläubigen. Gleichzeitig fungiert der eingeschränkte und oft nach Kriterien wie Geschlecht, Alter und Amt hierarchisierte Zugang zum göttlichen Geheimnis als Binnenstruktur der kirchlichen Glaubensgemeinschaft oder mystischer Verbünde. Rituale wie das Gottesurteil oder das Bußsakrament beschreiben Zugänge zum verborgenen Innern der Gläubigen und zum göttlichen Willen und offenbaren ein Spannungsfeld zwischen kirchlicher Öffentlichkeit und göttlichem Geheimnis. Darin bewegen sich auch Sprachen und Schriften, mit denen sakrales und verborgenes Wissen ausgedrückt oder verschleiert wird (etwa durch Geheimschriften). Ferner zeichnen sich Beschreibungen der im Mittelalter noch unbekannten oder gar der transzendenten Welt (etwa: der Atlantik oder der Garten Eden) durch fantasiereiche Mystifizierung aus, die Aufschluss über verbreitete Vorstellungen vom Diesseits und Jenseits geben kann. Verborgenes wiederum kann als Begriff und Phänomen auf den mit Geheimnis eng verbundenen Themenkreis der sakralen Räume und Objekte sowie Aleida Assmann u. Jan Assmann, Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation. Einführende Bemerkungen, in: Dies (Hgg.), Geheimnis und Öffentlichkeit (Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation von Schleier und Schwelle 1), München 1997, S. 7– 16, hier S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110698541-001
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ihrer jeweiligen Funktionen in den Gesellschaften bezogen werden, so etwa auf entzogene Räume in Kirchen oder auf Reliquien. Dass in diesem Band Beiträge aus der Geschichte christlich geprägter Gesellschaften überwiegen, spiegelt die allgemeine Ausrichtung der deutschen Mediävistik wieder. Gleichzeitig reflektieren Artikel etwa aus der Islamwissenschaft die fortschreitende interdisziplinäre Öffnung des Mediävistenverbandes hin zu nicht-europäischen Kulturräumen. Bücher und Texte stellen den Großteil der behandelten Forschungsgegenstände dar. Schon die technische Beschaffenheit von Handschriften kann etwa durch Buchschlösser oder paratextuelle Randbotschaften auf verborgene oder geheime Inhalte hinweisen, zu denen Lesern nur eingeschränkter Zugang gewährt wurde. Die mit den Geheimnissen und dem Verborgenen einhergehenden Grenzen und Grenzziehungen, welche durch Freilegung des Geheimen durchbrochenen werden können, sowie die damit verbundenen Vorstellungen und Bildwelten in ihrer kultur- und gesellschaftskonstituierenden Dimension sind auch ein wiederkehrendes narratives Mittel in der in diesem Band behandelten Literatur. Als privat oder öffentlich gekennzeichnete Räume (etwa: Schlafgemächer, Hof, Wald), Maskierungen und verborgene Identität oder der Blick durchs Schlüsselloch sind häufig anzutreffende Manifestationen dieses Leitmotivs. Eliten als Verwalter und Produzenten des kultur- und gesellschaftskonstituierenden Geheimnisses können im jeweiligen Zentrum der Gesellschaft, etwa am Hof, oder in der Gestalt von Gelehrten erscheinen. Das von ihnen kontrollierte (Geheim‐)Wissen kann dabei als Abgrenzungsmerkmal und Garant ihrer privilegierten Stellung fungieren – etwa bei der Geheimhaltung politischer Skandale oder auch medizinischer Rezepturen. So erlaubt es die Betrachtung frühhumanistischer Texte, Konflikte zwischen humanistischer Wahrheitssuche und sozialen Grenzen zu beobachten, die die Offenlegung oder das Weiterforschen (etwa bei Angelegenheiten adliger Familien oder im Kontext religiöser Vorstellungen) verbieten. Gebündelt werden die Beiträge in fünf Themenfeldern: (1) Mystik und Kirche: Vom göttlichen Geheimnis, okkulten Wissen und mystifizierten Orten, (2) Bedeutung und Funktion sakraler Räume und Gegenstände, (3) Kodikologische Beiträge: Von Buchschlössern und paratextuellen Zwischenräumen, (4) Geheimnis und Verborgenheit als narratives Mittel in der Literatur, (5) Wissen ist Macht: Geheimhaltung als strukturelles Merkmal von Bildungs- und Herrschereliten.
1 Mystik und Kirche: Vom göttlichen Geheimnis, okkulten Wissen und mystifizierten Orten In kaum einem anderen Bereich der Gesellschaft wohnt dem Verborgenen eine so existenzielle Funktion inne wie in Religion und Mystik. Wo Fakten und Augenzeugenschaft hinter dem Glauben an das Unantastbare verschwinden, da nimmt das Geheimnis eine gemeinschafts- und ordnungskonstituierende Rolle ein. So erhalten
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göttliche Weisheit und mystisches Wissen erst durch ihre Unzugänglichkeit ihren charakteristischen Stellenwert, und auch die Kirchenordnung baut im Mittelalter auf einem eingeschränkten Zugang zum göttlichen Schöpfungsplan auf, dessen Schau oftmals nur auserwählten Würdeträgern vorbehalten bleibt. Am Anfang des Kapitels stehen die Beiträge von Wendelin Knoch und Heinz Sieburg, die mit dem Bußsakrament und dem Gottesurteil kirchliche Rituale beschreiben, mit deren Hilfe der verborgene Wille Gottes erkannt und auf Erden umgesetzt werden sollte. Knoch zeichnet in seinem Beitrag eine kurze Geschichte des christlichen Bußsakraments, das sich von einem ursprünglich öffentlichen Bußverfahren, wie es Ps. Dionysius Aeropagita im 6. Jhd. beschreibt, über Petrus Lombardus (12. Jhd.), William von Auxerre (1150 – 1231) und Thomas von Aquin (13. Jhd.) zum intimen Akt zwischen Beichtvater und Büßer entwickelt, wie wir ihn auch heute noch kennen. Das Ausloten zwischen öffentlichem Bekenntnis und verborgener, innerer Bußhaltung offenbart dabei ein lebendiges Spannungsfeld im kirchlichem Diskurs. In seinem Beitrag über mittelalterliche Gottesurteile erforscht Heinz Sieburg anhand ausgewählter Beispiele aus der mittelhochdeutschen Literatur (‚Tristan‘; ‚Iwein‘; ‚Nibelungenlied‘; ‚das heiße Eisen‘) Erscheinungsformen und Ausprägungen, Anwendungskontexte und -motivationen sowie vor allem die Legitimation der Ordale. Sein Fokus liegt dabei insbesondere auf der Feuer- und Bahrprobe. Während die Legitimation der Ordale im Frühmittelalter noch auf dem Ansinnen basierte, den Willen Gottes auf Erden durchzusetzen, werden die Gottesurteile im 13. Jahrhundert gerade dafür an den Pranger gestellt. Kritiker wie Thomas von Aquin beanstanden, dass der Mensch sich nicht anmaßen sollte, ein göttliches Eingreifen und damit eine Einsicht in das göttliche Geheimnis zu erzwingen. Felix Prautzsch, Eugenio Riversi, Joanna Godlewicz-Adamiec und Paweł Piszczatowski beschäftigen sich mit der narrativen Dimension des Geheimnisses in der Kirchengeschichte. Anhand der Überlieferung über die Wundertaten des Apostels Andreas in der ‚Legenda aurea‘ analysiert Felix Prautzsch die zentrale Bedeutung des Geheimen in dem Narrativ frühchristlicher Legendenerzählung. Aufbauend auf Luhmanns Verständnis des Sakralen, das sich durch seine Mystifizierung gegen Trivialisierung schützt, beschreibt Prautzsch das Geheimnis des Glaubens als gemeinschaftskonstituierendes und exklusives Merkmal der christlichen Glaubensgemeinschaft, mit dem sich diese von der Welt der Heiden abgrenzt. Im Vergleich mit der späteren Überlieferung der Andreas-Legende im ‚Passional‘ stellt Prautzsch fest, dass das Geheimnisvolle mit Ausbreitung des Christentums an Bedeutung verliert und in Form des als allgemein bekannt vorausgesetzten Glaubensbekenntnisses von der Gemeinschaft verinnerlicht wurde. In der späteren Rezeption der Legende, so Prautzsch, schwenkt der Fokus daher auf das Wunder als Offenbarung des Geheimnisses. Eugenio Riversi untersucht in seinem Beitrag Ekbert von Schönaus Veröffentlichungen über die Visionen seiner Schwester Elisabeth und seine Kritik an den häretischen Lehren der ‚Katharer‘ im 12. Jahrhundert. Riversi analysiert dabei historischkritisch das Spannungsfeld zwischen geheim und öffentlich, in dem sich Ekberts
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Narrativ bewegt. Ekbert stellt dem christlichen öffentlichen Glauben die mystische Geheimniskrämerei der Häretiker gegenüber, deren unbestreitbares Bibelwissen Ekbert wegen der ihnen fehlenden discretio in gefährliche Irrlehren münden sah. Discretio bezeichnet das intellektuelle Vermögen, die Bibel richtig zu interpretieren und geht mit der hierarchischen Bildungslaufbahn in der katholischen Kirche einher. Als Abt des Benedektinerklosters Schönau stand es Ekbert zu, diese Fähigkeit für sich zu beanspruchen – anders als seiner Schwester Elisabeth, deren Visionen vor ihrer Veröffentlichung von Ekbert geprüft und selektiert wurden. Dabei zeigt Riversi in seiner Analyse, wie die discretio in der Kirchengemeinschaft als strukturierendes Werkzeug zwischen öffentlichem Glauben und göttlichem Geheimnis wirkt. Ausgehend von Paul Tillichs Ausführungen über die Sprachschöpfung und das ekstatische Erleben der Welt durch die Mystik, die sich in einer „logischen Paradoxie“ der Unsagbarkeit mystischer Erkenntis manifestiere, stellen Joanna GodlewiczAdamiec und Paweł Piszczatowski in einer differenzierten Analyse der Sprache der europäischen Mystik im Mittelalter das Spannungsfeld zwischen Ausdrucksvermögen und Unaussprechlichkeit göttlicher Geheimnisse dar. Dabei stellen sie die negative Theologie des Meister Eckhard, der Gott darüber definiert, was und wie er nicht sei und sich damit ganz und gar der Unaussprechlichkeit des göttlichen Geheimnis verschreibt, der bildhaften Sprache der Hildegard von Bingen gegenüber, die versucht, demselben Phänomen Ausdruck zu verleihen. Die Mystik als das Schauen göttlicher Geheimnisse, so Godlewicz-Adamiec und Piszczatowski, schwanke dabei stets zwischen der Grenze des Schweigens und visionärer Sprachschöpfung als Ausdruck des Unsagbaren. Mit Vicky Zieglers Beitrag zur arabischen Alchemie nehmen wir einen Exkurs in die islamische Mystik und die Sprache dieser Geheimwissenschaft vor. Ziegler analysiert das von der Forschung noch unbeachtete Werk ‚Die Prahlerei der Steine‘ von Maslama ibn Qāsim al-Qurṭubī (gest. gegen 1008), das sich durch seine literarische Konstitution in Form der arabischen Rangstreitdichtung von anderen alchemischen Texten abhebt. In dem in Dialogform verfassten Werk diskutieren insgesamt 20 Mineralien in personifizierter Form, wer von ihnen das wertvollste und reinste und damit der begehrte ‚Stein der Weisen‘ sei. Ziegler bemerkt zum einen, dem Autor gelinge durch Rätsel, Decknamen, Allegorien und Zahlenmystik eine Verschleierung des Inhalts auch ohne die Verwendung einer Geheimschrift. Zum anderen verweist sie auf semantische Doppeldeutigkeiten, die verborgene Botschaften enthielten. So interpretiert sie die synthetische Herstellung von Gold als symbolische Darstellung der geläuterten Seele, was auf den okkulten Charakter des Werks hindeute. Das Ende des Kapitels nehmen drei Beiträge über die mystifizierte Darstellung unbekannter Orte ein. Nach Manuel Schwembachers Beitrag über den Garten Eden, beschreiben Andreas Obenaus und Gerda Brunnlechner einmal aus europäischer und einmal aus islamischer Perspektive die Mystifizierung unbekannter Ozeane. Manuel Schwembacher widmet sich in seinem Beitrag der spätmittelalterlichen Vorstellung vom irdischen Paradies – dem verborgenen Garten Eden, der als Berührungspunkt von Himmel und Erde zwar auf der letzteren liegt, den Menschen jedoch
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in seiner göttlichen Verborgenheit prinzipiell unzugänglich ist. Gegenstand seiner Untersuchung bildet die legendenhafte Erzählung ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ – ‚Die Reise der drei Mönche zum Irdischen Paradies‘, die in drei Varianten aus dem 15. und 16. Jahrhundert auf Latein und Italienisch überliefert ist. Im Vergleich zu anderen Mythen, welche das Reiseunterfangen zum verborgenem Paradies spätestens vor den Toren des Gartens scheitern lassen, wird den drei Mönchen in zwei Varianten dieser Geschichte der Eintritt für eine begrenzte Zeit gewährt und sie beschreiben eindrucksvoll ihre fantastische Umgebung. Neben zu erwartenden paradiesischen Zuständen wie unvergänglicher Schönheit, einem beständig wunderbaren Klima und vor Reife strotzenden Früchten, verweist Schwembacher im Vergleich mit anderen Eden umrankenden Mythen auch auf das wiederkehrende Motiv eines sonderbaren Zeitsystems und analysiert ‚Neuerscheinungen‘ wie den Jungbrunnen und den Auftrag, das Erlebte im Kloster niederzuschreiben, den die Mönche für ihre Rückkehr von Enoch und Elias erhalten. Damit zeichnet er ein eindrucksvolles Bild spätmittelalterlicher Vorstellungen vom verborgenen Paradies, von Wundern und Göttlichkeit. Andreas Obenaus analysiert in seinem Beitrag die Beschreibung des Atlantiks in den Berichten islamischer Wissenschaftler aus der Zeit vom 8. bis in das 13. Jahrhundert. Dieser Ozean markierte im islamischen Kulturraum lange die Grenze der bekannten Welt und taucht in der Literatur als ein geheimnisvoller, mythenumwobener Ort auf, an dem man Ruhestätten der Toten, Götterreiche oder Paradiese unterschiedlichster Art vermutete. In den Werken von al-Masʿūdī (10. Jhd.) finden sich erste Andeutungen über eine weitere Erschließung des Ozeans und im 12. und 13. Jahrhundert erwähnen die westislamischen Geographen al-Idrīsī und Ibn Saʿīd alMaġribī die Entdeckung neuer, bislang unbekannter Inseln im Atlantik und leisten damit laut Obenaus einen entscheidenden Beitrag zur Entmystifizierung des Ozeans. Trotzdem, argumentiert Obenaus, kann auch in diesen Berichten entlang geographischer Daten, geheimnisvoller Inseln und mystischer Fabelwesen nicht immer zwischen Fakt und Fiktion unterschieden werden. Die Aura des Geheimnisvollen bleibt bis ins 13. Jahrhundert bestehen. Gerda Brunnlechner untersucht in ihrem Beitrag eine Küstenlinienkarte des Mecià de Viladestes von 1413, in der neben Meeren und Ländern auch mystische Fabelwesen und monströse Menschen eingezeichnet sind. Auf den historischen Kontext und geographischen Wissensstand des Autors verweisend erklärt Brunnlechner verschiedene Interpretationsmöglichkeiten der fantastischen Wesen. Sie markieren auf der Karte unbekannte Territorien, können aber auch dazu dienen, zeitgenössische Vorstellungen über den verborgenen Schöpfungsplan Gottes zu erschließen. Aus ihrer historisch-kritischen Analyse schließt Brunnlechner auf den Wunsch des zum Christentum konvertierten ehemaligen Juden Meciàs nach religiöser Versöhnung der beiden Religionsgemeinschaften, der in seiner Karte Ausdruck finde.
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2 Bedeutung und Funktion sakraler Räume und Gegenstände Nachdem im ersten Kapitel des Bandes die mannigfaltige Funktion von Geheimnissen vor allem für die kirchliche Glaubensgemeinschaft behandelt worden ist, soll im folgenden Kapitel ein näherer Blick auf einen ihrer wichtigen Teilbereiche geworfen werden. Sakrale Räume und Gegenstände wie Reliquien bilden ein zentrales Element des rituellen Instrumentariums der Kirche im Mittelalter. Zu Beginn steht Anne Schaichs Beitrag, die in einer differenzierten Analyse kirchlicher Nischenräume im Mittelalter erläutert, was aus welchem Grund in den verschiedenen Schränken, Wandnischen und Truhen aufbewahrt wurde. Neben sakralen Gegenständen, deren Aufbewahrungsort sich oft nach ihrem Gebrauch im Gottesdienst richtete, boten Kirchen im Mittelalter auch Raum für private Wertgegenstände und erfüllten damit die Funktion moderner Banken. Wilfried Keil und Esther-Luisa Schuster fragen nach der Funktion solcher sakraler Gegenstände und Räume, deren ursprüngliche Bestimmung es war, für immer verborgen zu bleiben. So beschäftigt sich Keil mit dem Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig, der 1955 beim Abriss des Gebäudes gefunden wurde und neben einer eingemeißelten Skulptur der Magdalena eine Inschrift aufweist, die auf das Jahr 1499 datiert ist. Angesichts der dauerhaften Verborgenheit und daraus resultierenden Unsichtbarkeit des Steins, fragt Keil nach dessen Funktion und Adressaten. Er verweist dabei auf die ‚restringierte Präsenz‘ des Grundsteins, der seine Wirkung allein durch das Wissen um seine Existenz entfalte – auch wenn er eigentlich abwesend erscheint. Weiter, argumentiert Keil, beabsichtigten die Stifter mit der Verewigung ihrer Namen auf dem Grundstein, ein bis zum Tag des Jüngsten Gerichts überdauerndes Zeugnis ihrer guten Tat zu hinterlassen. Esther-Luisa Schuster beschreibt die geheimen Graböffnungen der Hildesheimer Bischöfe Godehard und Bernwald kurz vor ihrer Translation und Heiligsprechung im 12. Jahrhundert. Sie fragt dabei nach dem Beweggrund der geheimen Öffnungen und verweist auf das platonische Verständnis von Vergessen, welches in der Wiedererinnerung einen Beweis für das Dasein des Vergessenen erkennt. Damit stelle das Öffnen der Gräber, aus denen der für Reliquien symptomatische Wohlgeruch drang, gleich auf mehreren Ebenen eine Legitimation der Heiligsprechung dar und beschreibe somit weniger ein Geheimnis, das zur Geheimhaltung bestimmt ist, sondern vielmehr ein Mittel, um die Rechtmäßigkeit der Heiligenverehrung festzustellen und den reibungslosen Ablauf der Reliquientranslation zu garantieren.
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3 Kodikologische Beiträge: Von Buchschlössern und paratextuellen Zwischenräumen Marco Heiles, Claudine Moulin und Claudia Wich-Reif behandeln in diesem Kapitel die materielle Ebene diverser Handschriften und gehen der Frage nach, inwiefern diese eine Geheimhaltung bzw. einen eingeschränkten Zugang zu ihren Inhalten impliziert. Heiles betrachtet diese Frage im Hinblick auf Handschriften, die durch Buchschlösser verriegelt wurden. Am Beispiel von insgesamt 42 abschließbaren Büchern aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, die in einem Anhang aufgelistet sind, nimmt er eine differenzierte Analyse der Handschriften vor. Seine Auflistung enthält Amts- und Rechtsbücher, fachliterarische Sammelhandschriften, Stammbücher und Familienchroniken sowie andere kostbare Handschriften, wie beispielsweise Chorbücher. In der Analyse geht Heiles zunächst auf die technische Beschaffenheit und Unterschiede der Buchschlösser ein, um dann aus Inhalt, Adressaten und Fundort der Werke verschiedene Funktionen der Buchschlösser abzuleiten. So argumentiert er, dass diese in den meisten Fällen sehr einfach zu öffnen seien und daher primär eine symbolische Funktion einnähmen, indem sie den Inhalt als geheim, mystisch oder auch besonders wertvoll markieren. Daneben greift Heiles auch Funktionen wie den Schutz vor Nachträgen oder Verschmutzung auf. Claudin Moulin ermittelt Funktionen paratextueller Schreibstrategien und die Anwendung von Geheimschriften in der althochdeutschen Textüberlieferung (700 – 1050). Dabei stellt Moulin fest, dass die Glossen weniger eine Geheimhaltung, sondern vielmehr eine ‚Anderssichtbarkeit‘ beabsichtigen, indem sie sich durch ihre materielle Differenz vom Haupttext abheben oder in den Hintergrund zurücktreten. Das Glossieren begreift Moulin dabei als lebendigen Prozess, in welchem ein Spannungsfeld zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem erzeugt wird, in dem das hintergründig oder durch Geheimschrift vermeintlich Verborgene nicht zwangsläufig auch Geheimes beschreibt, sondern vielmehr von den materiellen Fertigkeiten und der schreibtechnischen Tradition intellektueller Eliten zeugt, die sich bis heute in Redewendungen wie „zwischen den Zeilen“ oder „am Rande bemerkt“ manifestieren. Claudia Wich-Reif widmet sich in einer umfassenden Untersuchung des ‚Essener Evangeliars‘ (vermeintlich) verborgenem Wissen in der Bibelexegese. Das ‚Essener Evangeliar‘ eignet sich laut Wich-Reif durch seine vielschichtige und mehrsprachige Rezeption besonders, um die paratextuellen Zwischenräume aufzuzeigen, in denen sich das ‚Offensichtliche‘ und das zunächst ‚Unsichtbare‘ entfalten. Durch eine genaue Erfassung und eine sorgfältige Analyse der Kommentare und Glossen des Evangeliars stellt sie dar, welches Wissen den Rezepienten offen zugänglich war und an welchen Stellen es sich erst durch entsprechende sprachliche und technische Fachkenntnisse erschließen ließ.
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4 Geheimnis und Verborgenheit als narratives Mittel in der Literatur Geheimnis und Verborgenheit sind wiederkehrende Themen und Leitmotive in der Literatur des Mittelalters. In den Spannungsfeldern ‚sichtbar – verborgen‘ / ‚öffentlich – geheim‘ werden Identität und Charakter der Protagonisten geformt, komplexe Handlungsstränge gesponnen und Leser zu Eingeweihten gemacht. Dichotome Schemata wie das von öffentlichen und privaten Räumen markieren dabei wiederkehrende erzählerische Mittel. Ferner zeigen einige AutorInnen, wie gerade das NichtAuflösen eines Geheimnisses eine narrative Lösung für den Umgang mit heiklen gesellschaftlichen Diskursen bieten kann. Die vorliegenden Beiträge nähern sich diesem umfangreichen Themengebiet aus verschiedenen Perspektiven und anhand von Quellen aus verschiedenen Genres. Neben Texten aus Lyrik, Epik, fiktionaler Prosa und Drama findet man mit Anna Hollenbachs Beitrag auch die narratologische Betrachtung einer Chronik. Den Anfang des Kapitels macht Ursula Schaefer mit einem lexikalischen Beitrag. Darin untersucht sie einige Begriffe aus dem Altenglischen, die ‚Verborgenes‘ bezeichnen und Rückschlüsse auf kognitive Konzepte und Zusammenhänge ihrer Zeit zulassen. Nachdem sie analysiert hat, wie das kognitive Abstractum ‚Verstehen‘ auf den Sinn des ‚Sehens‘ projiziert wird, arbeitet sie heraus, inwiefern diese Projektion vom Sinn des ‚Hörens‘ auf das ‚Sehen‘ verlagert wurde. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen die lyrischen Werke ‚Beowulf‘, ‚Maxims I‘ und ein Rätsel, sowie die darin vorkommenden Termini dyrne und digol, die beide ‚verborgen/geheim‘ bezeichnen, und die ihnen gegenüberstehenden Begriffe undyrne, gesyne und sweotol, die Schaefer mit ‚sichtbar‘ übersetzt. Die Verwendung der Begriffe und die ihnen zu Grunde liegende Semantik zeige, laut Schaefer, dass sie zwar durchweg ‚Verborgenes‘ beschreiben, dies jedoch nur in wenigen Fällen geheim gehaltenes Wissen meint, sondern sich die Bedeutungen in einem viel weiteren kognitiven Rahmen von ‚Verstehen‘ und ‚Erkennen‘ bewegen. Dass die Anzahl von Begriffen, die ‚Verborgenes‘ beschreiben, sich im Laufe der sprachlichen Entwicklung des Mittelenglischen deutlich reduzierte, führt Schaefer zu der Annahme, es habe sich mit dem lexikalischen auch ein kognitiver Wandel in der mittelalterlichen Gesellschaft vollzogen. Janina Dillig, Antonella Sciancalepore und Satu Heiland behandeln in ihren Beiträgen die narrative Inszenierung der Identitätswerdung in ausgewählten Prosatexten aus der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters. Janina Dillig analysiert dazu die Geheimhaltung und Transformation von Identität in der mittelhochdeutschen Erzählung ‚Salman und Morolf‘ aus dem späten 12. Jahrhundert. In dieser schickt König Salman seinen Bruder Morolf in ferne Länder mit dem Auftrag, seine geraubte Frau Salme zurückzubringen. Um sich den fremden Höfen zu nähern, bedient sich Morolf zahlreicher Masken und tritt als Bettler, in der Haut eines alten Juden, als Krüppel, Pilger und Spielmann auf. Diese mehrfache Verschleierung seiner Identität stehe, so Dillig, in klarer Opposition zu den repräsentativen Identitäten
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mittelalterlicher Gesellschaften, die Horst Wenzel als „Kultur der Sichtbarkeit“ beschreibt. Dillig analysiert die Identitätswandel Morolfs aufbauend auf Michel Foucault, für den subjektive Identität die Voraussetzung für die Existenz und Handlungsfähigkeit in einer Gesellschaft bildet und durch die Einfügung in deren Machtordnung (Diskurs) entsteht, und auf Judith Butler, die den Prozess der Subjektivation als irreversibles Unterworfenwerden beschreibt, nach dem die angenommene Identität nicht mehr abgestreift, sondern nur noch transformiert werden kann. Sie beleuchtet vor diesem Hintergrund neben der Maskierung Morolfs, also dem Abstreifen seiner Identität, auch deren notwendige öffentliche Wiederherstellung, um erneut als gesellschaftliches Subjekt existieren zu können. Die Maskierung bleibt dem männlichen Protagonisten vorbehalten und stellt, Dillig zufolge, daher ein genderspezifisches Werkzeug dar, das dazu diene, dessen Handlungs- und Mobilitätsraum zu erweitern. Antonella Sciancalepore analysiert in ihrem Beitrag den Prozess der Identitätswerdung der Protagonisten in drei französischen Werken aus dem Mittelalter: Chrétien de Troyes’ ‚Chevalier au Lion‘, Marie de Frances ‚Lai de Bisclavret‘ und Berouls ‚Tristan‘. Dabei fokussiert sie sich auf das Spannungsfeld zwischen der öffentlichen und geheimen Identität der Hauptfiguren, die im Handlungsverlauf für eine bestimmte Zeit aus der Zivilisation in die Natur entweichen, wo sie eine animalische Identität annehmen, deren Attribute sich nur abseits der Öffentlichkeit entfalten können. Tier und Natur symbolisieren dabei, laut Sciancalepore, eine verborgene Seite des Charakters, die auch nach der Widereingliederung in die Öffentlichkeit bestehen bleibt und durch die Vereinigung von wilder und zivilisierter Persönlichkeit den Prozess der Identitätswerdung vervollständigt. Satu Heiland nimmt eine differenzierte Analyse von Hartmann von Aues Werken ‚Iwein‘ und ‚Der arme Heinrich‘ aus dem späten 12. Jahrhundert vor und stellt dabei den in beiden Erzählungen vorkommenden, schicksalhaften ‚Schlüssellochblick‘ in den Mittelpunkt, der die weitere Handlung und Charakterbildung der Protagonisten maßgeblich beeinflusst. In beiden Fällen trifft der heimliche Blick eine tugendhafte Frau von außergewöhnlicher Schönheit und führt zu einer inneren Läuterung der Hauptcharaktere. Aufbauend auf Aristoteles’ Verständnis des Sehsinns als Quelle der Erkenntnis und hinweisend auf die Hartmann von Aues Werken innewohnende biblische Symbolik und Motivik argumentiert Heiland, dass der heimliche Blick durchs Schlüsselloch den verborgenen Blick auf das Herz symbolisiere, wie er sonst nur Gott zu eigen ist, und damit eine Umkehr von weltlichen zu göttlichen Tugenden wie Selbstlosigkeit, Treue und Mitleid herbeiführe. Natacha Crocoll, Birgitt Zacke, Susanne Knaeble und Florian Schmid veranschaulichen anhand der Geschichten von ‚Calisto und Melibea‘, ‚Tristan und Isolde‘ und der ‚Melusine‘, wie die Autoren durch geschickte narrative Inszenierung einen Spannungsrahmen aufbauen, in dem die für die Hauptfiguren so existenziellen Geheimnisse schrittweise gelüftet werden, bis die völlige Enthüllung zum tragischen Ende der Erzählungen führt. Dabei spielen eine dichotome Raumsymbolik und das narrative Miteinbeziehen der Leser eine zentrale Rolle. Den Anfang macht Natacha Crocoll mit ihrem Beitrag über Fernando de Rojas ‚Tragicomedia de Calisto y Meli-
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bea‘ (1499), in der es um die geheime Liebesbeziehung zwischen den Protagonisten geht, die durch den Zauber der Hexe Celestina aneinandergebunden sind. Crocoll analysiert die narrative Strategie des Erzählers, der die Handlung durch eine oppositionelle Konstellation von privaten, geschützten Räumen und öffentlichen Orten voller Gefahren unterstützt. Dabei arbeitet sie wiederkehrende Symbole heraus – etwa die Tür als Verbindungsmedium oder das Bett als Ort der Geheimnisbewahrung. Das Eindringen in private Räume bzw. deren erzwungene Öffnung im Verlauf der Handlung interpretiert Crocoll im Hinblick auf den historischen Kontext des Autors als Aussage über eine Zeit, in der auch traditionell geschützte Räume keine Sicherheit mehr bieten und Geheimnisse zwangsläufig ohne Obdach bleiben. Birgit Zacke untersucht in ihrem Beitrag, wie Heimlichkeit und Enthüllung in der Brüsseler Überlieferung von Gottfrieds ‚Tristan‘ in Text- und Bildsprache inszeniert werden. Sie arbeitet dabei Motive der Geheimhaltung und Öffentlichkeit heraus, so zum Beispiel den Hof und den Wald, verschlossene und offene Räume oder auch die fehlenden Hände bildlich dargestellter Figuren, die auf deren Unentschlossenheit hindeuten. Der Leser wird, laut Zacke, durch die gezielte Perspektive beider Medien zum Zeugen von Tristan und Isoldes Ehebruch. Das Geheimnis wird stückchenweise auf eine kleine, zum Ende hin anwachsende Gruppe von Mitwissern verteilt. Susanne Knaeble analysiert die narrative Inszenierung des Geheimnisses der Melusine in Thüring von Ringoltingens gleichnamiger Märe. Das Werk zeichnet sich durch einen im Mittelalter weit verbreiteten Stil aus, der modern wirkende erzählerische Elemente enthält. In ihrer Textanalyse zeigt Knaeble, wie das Geheimnis um Melusines Gestalt, die sich jeden Samstag hüftabwärts in eine Schlange verwandelt, stufenweise gelüftet wird, bis sie sich durch die völlige Enthüllung ihres Geheimnisses zur Flucht gezwungen sieht und die Geschichte ihr tragisches Ende nimmt. Knaeble legt verschiedene narrativ angedeutete Handlungsoptionen offen und rekonstruiert, wie und weshalb die Figuren an der Geheimhaltung des für Melusine so lebenswichtigen Geheimnisses scheitern. Dabei tritt, so Knaeble, zwischen ‚Geheimem‘ und ‚Öffentlichem‘ ein für die frühen Prosaerzählungen typischer, doch für die Figuren verborgen liegender ‚Graubereich‘ zu Tage, in dem die Geheimnisentfaltung erzählerisch inszeniert wird. Auch Florian Schmid widmet sich in seinem Beitrag dem Geheimnis der Melusine. Eine Schlüsselszene der Erzählung ins Auge fassend, in der Melusines Sohn Geffroy durch einen schicksalhaften Zufall das Grab seines Großvaters entdeckt und damit zumindest für den Rezipienten das Familiengeheimnis des mütterlichen Fluchs lüftet, untersucht Schmid, auf welche Weise der Autor in Textund Bildsprache das Geheimnis und dessen Entschleierung narrativ in Szene setzt. Anhand der zahlreichen Vor- und Rückverweise in der Geschichte und der oftmaligen Distanz des Wissensstandes über das Geheimnis zwischen Leser und Figuren zeigt Schmid Spannungsfelder auf, in denen das Geheimnis stufenweise gelüftet wird. Dabei untersucht er Verhältnisse von Sichtbarem und Unsichtbarem, Nähe und Distanz, Dauerhaftem und Vergänglichem und – mit Blick auf den Zauber, der Melusine und ihre Schwestern ewig an ihre dämonenhafte Existenz bindet – auch zwischen Leben und Tod, die sich in Text und Bildern manifestieren. Auf die Rezeption der
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Geschichte blickend stellt Schmid fest, dass Text und Bild trotz ihrer verschiedenartigen charakteristischen Kommunikationsformen auch bei den Kompilatoren die Inszenierung und Enthüllung von Melusines Geheimnis unterstützen und auf diese Weise narrativ zusammenwirken. Die folgenden Beiträge von Grażyna Bosy, Silvan Wagner und Dorothea Weltecke behandeln den narrativen Umgang mit sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen in der Literatur des Mittelalters: Es geht um wahre Liebe, um Herrschaftslegitimation und um religiösen Wahrheitsanspruch. Das Geheimnis und vor allem dessen Nicht-Enthüllung bietet dabei eine narrative Lösung für gesellschaftliche Kontroversen. Grażyna Bosy befasst sich mit dem Liebesideal in der französischen Trobadorlyrik. Ehe und romantische Liebe gelten den Dichtern als unvereinbar und so erlangt die fin’amor erst durch ihre Verborgenheit ihren hohen Stellenwert als Ausdruck wahrer Leidenschaft. Nach einer Einführung in den Liebesdiskurs der Trobador analysiert Bosy anhand ausgewählter Textbeispiele die Schlüsselkomponenten dieser vollkommenen Liebe: die Verborgenheit (celar), die Angst vor Entdeckung (paor), die körperliche Lust beim (vermeintlich) letzten Zusammenkommen vor der Trennung (joi) und schließlich den Schmerz der Trennung (dolor). Die Geheimhaltung erweist sich dabei als wichtigste Eigenschaft, denn der Raum der fin’amor liegt außerhalb der öffentlich gelebten Ehe und bleibt damit den Liebhabern vorbehalten. Silvan Wagner beleuchtet in seinem Beitrag das Geheimnis des Schwanritters in der Märe Konrads von Würzburg und dessen Bedeutung für die Lösung der Herrschaftsfolge des Herzogtums Brabant. Die geheimnisvolle Ankunft, die dem Rittter zugeschriebenen Eigenschaften und seine Handlungsweisen lassen ihn, so Wagner, als ein paradoxes Wesen erscheinen, das sich zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit, zwischen Tod und Leben bewegt. Entgegen bisheriger Interpretationsansätze argumentiert Wagner, dass gerade in der Nicht-Auflösung dieses Paradoxons – in der Verborgenheit von Herkunft und Identität des Ritters – die Lösung des Konflikts um die Herrschaftsfolge liege. So erreiche der Erzähler, laut Wagner, durch einen narrativen Sprung in dessen Gegenwart und den Verweis auf gleich vier Herrschaftsgeschlechter, die den Nachkommen des Schwanritters entstammen, eine rückwirkende Legitimation der Herrschaftsfolge, die durch die verborgene Herkunft des Ritters und das (bewusste) Nicht-Nennen der Geschlechter seiner Kinder sowohl kognatischer als auch agnatischer Natur sein könne. Das Geheimnis eröffne damit gleich mehrere Legitimationsquellen, die sich, laut Wagner, nicht ausschließen, sondern gegenseitig verstärken und damit auch ‚bewiesene‘ Abstammungslinien übertrumpfen. Dorothea Weltecke nimmt in ihrem Beitrag eine Analyse von Boccaccios Ringparabel vor, in der es um die Frage nach der ‚wahren‘ Religion geht, wobei diese bis zum Ende unbeantwortet bleibt. Aufbauend auf einer kritischen Betrachtung des bisherigen Forschungsdiskurses, in der Weltecke Interpretationsansätze, die auf interreligiöse „Hybridität“ und „Ambiguitätstoleranz“ verweisen, als unklar und (teils) anachronistisch kritisiert, schlägt sie eine narratologische Analyse anhand von Albrecht Koschorkes Theorie über „Figuren des Dritten“ vor. Hinweisend auf die sozialpolitische Brisanz, die die Frage nach der wahren Religion in Gesellschaften des Mittel-
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alters in sich barg, erklärt Weltecke, dass die Figur des Dritten ein narratives Mittel sei, das dazu dient mit Entscheidungszwängen umzugehen. Seine Funktion sei dabei nicht das Auflösen der Zwänge, vielmehr verweise die Figur des Dritten auf eine komplexe Auseinandersetzung mit kontroversen Themen – in diesem Fall mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen von Religionen im Mittelalter. Weltecke eröffnet damit eine neue Lesart der viel diskutierten Ringparabel, die dazu beitragen soll, moderne binäre Interpretationen zu überwinden. Am Schluss des Kapitels steht Anna Hollenbachs Beitrag über Burkhard Zinks (1396 – 1475) Beschreibung seiner früh verstorbenen und ihm daher unbekannten, mysteriösen Mutter. In den ‚Augsburger Chroniken‘ inszeniere er durch die Betitelung als mein liebe mueter eine liebevolle Beziehung zu ihr, die laut Hollenbach der bisherigen Vorstellung über ein doch eher liebloses Mutterbild im Mittelalter widerspreche und daher einer genaueren Betrachtung bedürfe. Nach einer differenzierten Einführung in den Forschungsdiskurs begründet Hollenbach, dass sie die ‚Augsburger Chroniken‘ als mitunter autobiographisches Werk begreift, welches neben den offenliegenden historischen Informationen auch Einblick in die kulturelle und gesellschaftliche Weltsicht des Autors gebe. Ausgehend von den methodischen Ansätzen Niklas Luhmanns und Georg Simmels zu sozialen Funktionen von Geheimnissen, argumentiert Hollenbach, dass die zwischen historische Ereignisse gestreute persönliche Familiengeschichte einen sozialen Raum zwischen Autor und Leser erzeuge, dessen Funktion Burkhard Zink gezielt zur Konstruktion von Idealbildern und einer Selbstlegitimation in der städtischen Gesellschaft genutzt habe. So erfahre die verstorbene und unbekannte Mutter ihre Idealisierung vor allem im narrativ kontrastierenden negativen Bild der Stiefmutter.
5 Wissen ist Macht: Geheimhaltung als strukturelles Merkmal von Bildungs- und Herrschereliten Der exklusive Zugang zu Geheimnissen und zu Wissen, das der breiten Bevölkerungsmasse verborgen ist, beschreibt ein wichtiges strukturelles Merkmal politischer und intellektueller Eliten, durch das sich diese Gruppen nach außen hin abgrenzen und das ihre übergeordnete Position in der Gesellschaft garantiert. Im ersten Teil des Kapitels veranschaulichen Gerhard Wolf, Angelika Kemper und Nadine Metzger anhand ausgewählter Fallbeispiele den Umgang mit geheimem Wissen bei den Frühhumanisten und in der Medizingeschichte, während sich die nachfolgenden Beiträge von Linda Dohmen, Cybelle Crosetti de Almeida, Alheydis Plassmann und Maike Sach im Bereich politischer Herrschaftssicherung bewegen und Beziehungen zwischen Macht und Geheimnis aufzeigen. Gerhard Wolf beleuchtet am Beispiel der ‚Zimmerischen Chronik‘ aus dem 16. Jahrhundert das Spannungsfeld zwischen humanistischem Wahrheitsanspruch
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und der Wahrung politisch und gesellschaftlich brisanter Geheimnisse, in dem sich der frühneuzeitliche Chronist Froben von Zimmern bewegt. Da sich der Autor als Adeliger und Wissenschaftler sowohl der rationalen Wahrheitsfindung als auch der Aufrechterhaltung der ständischen Ordnung und religiösen Moral verschrieben hat, bringt die Hauschronik – versehen mit methodologischen Überlegungen und lehrenden Absichten – einen eigenständigen Diskurs zum Umgang mit Geheimnissen zustande, der sich, so Wolf, als vielversprechende Forschungsquelle der hybriden Zwischenphase zwischen Mittelalter und Humanismus eigne. Nach einer theoretischen Einführung in den zeitgenössischen Geheimnisbegriff und einer Ausdifferenzierung von drei Kategorien zum Umgang mit Geheimnissen in einer Chronik zeigt Wolf, wo die politischen und moralischen Grenzen im Umgang mit Geheimnissen verlaufen und an welchen Stellen Froben diese bewusst überschreitet, um den neuen humanistischen Idealen zu genügen. Weiter nimmt Wolf Stellung zu Frobens adeliger Herkunft, die ihn durch seine standesgebundene Unabhängigkeit von anderen zeitgenössischen Chronisten abgrenzt, welche er an vielen Stellen als Interessenvertreter ihrer adligen Gönner verurteilt. Angelika Kemper untersucht in ihrem Beitrag einen weiteren frühhumanistischen Text, nämlich das Tugenden und Laster beschreibende Werk ‚Dimetromachia‘ von Heinrich Fischer Aquilonipolensis aus dem Erfurt des späten 15. Jahrhunderts. Sie analysiert dessen komplexen semantischen und metrischen Aufbau und gibt Antwort auf die Frage, worin die mutmaßliche Verschleierung des Inhalts begründet liegt. Hinblickend auf den historischen Kontext frühhumanistischer Kreise, in denen sich auch Aquilonipolensis bewegte, stellt Kemper fest, dass das Werk trotz humanistischer Tendenzen zum einen deutlich in der traditionellen christlichen Morallehre verankert bleibt, sich zum anderen aber durch eine Betonung der Tugenden der Freundschaft und Geselligkeit in der neuartigen Kultur humanistischer Freundeskreise verortet. Die sprachliche Komplexität könne dabei, so Kemper, einerseits als spielerischer Hinweis auf die Doppeldeutigkeit der vermittelten Inhalte und Werte interpretiert werden. Andererseits erhalte das Werk dadurch einen elitären und exklusiven Charakter, der den Zugang für Laien erschwere und somit als Abgrenzungsmerkmal der Bildungsschicht wirke. Die Verankerung in der christlichen Wertetradition und die Verwendung des mittelalterlichen versus retrogradi verweise dabei auf den interimistischen Status des Werks zwischen spätmittelalterlicher und humanistischer Denkschule. Den ersten Kapitelteil abschließend untersucht Nadine Metzger in ihrem Beitrag die Geschichte einer Arzneimittelkategorie – der hierai, die den Arzt Paccius Antiochus zu tiberischer Zeit berühmt gemacht und deren geheime Rezeptur er bis zu seinem Tod gehütet hat. Entlang der Rezeption der hierai durch große Namen der Medizingeschichte wie Scribonius Largus, Galen und Paulos von Aigina und ihrem erfolgreichen Vertrieb bis zum Ende des 7. Jahrhunderts beschreibt Metzger, wie diese Medikamente auch nach der Entschlüsselung und Verschriftlichung ihrer Zubereitung weiterhin eine werbewirksame Aura des Geheimnisvollen und Außergewöhnlichen umgab. Dabei verweist die Verfasserin zum einen auf die – trotz veränderter Zube-
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reitung – beständige Fortführung des Namens hiera, der im Griechischen ‚heilig‘ im Sinne von ‚besonders‘ bedeutet, und erklärt, dass anstelle der Geheimhaltung später eine Legitimation durch die Verbindung mit Namen berühmter Ärzte trat. Weiter, so Metzger, garantierten die komplexe Zubereitung sowie vielfältige und teure Zutaten die fortlaufende Charakterisierung der hierai als herausragende und wundersame Arzneien, deren Zugang der wohlhabenden Elite vorbehalten blieb. Den zweiten Kapitelteil beginnt Linda Dohmen mit einer differenzierten Analyse von überlieferten Unzuchtsvorwürfen, mit denen sich Gemahlinnen des karolingischen Herrschergeschlechts konfrontiert sahen. Sie fokussiert dabei einen Bericht aus dem 9. Jahrhundert von Regino von Prüm, der sich durch eine Anspielung auf die „Geheimnisse der Königin“ von anderen Überlieferungen abhebt und dem sie weitere Texte vergleichend zur Seite stellt. Einleitend liefert Dohmen eine Diskurseinführung über das damalige Verständnis von ‚öffentlich‘ und ‚geheim‘ und verweist auf das Spannungsfeld zwischen Herrschaft und Geheimnis. Die strenge hierarchische Ordnung von Eingeweihten und Ausgeschlossenen bezeichnet sie als „Skala des Geheimen“, welche die Macht- und Herrschaftsordnung der mittelalterlichen Gesellschaft widerspiegele und auf der die Autoren behutsam diplomatisch balancieren müssen. So gilt es einerseits Geheimnisse zu bewahren, um Herrschaft nicht zu gefährden, während die Unzuchtsskandale andererseits eine öffentliche Thematisierung erfordern, um die geschwächte Ordnung wiederherzustellen. Auch Cybele Crosetti de Almeida beschäftigt sich mit einem Unzuchtsvorwurf. In ihrem Beitrag untersucht sie den Skandalfall einer Adelsfamilie im Köln des 15. Jahrhunderts, in dem Luckard von Eilsich, Ehefrau von Johann von Eilsich, bezichtigt wurde, ihren Ehemann zunächst mit einem Anderen betrogen und danach vergiftet zu haben. Crosetti de Almeida untersucht dabei, mit welchen Mitteln und aus welchen Beweggründen die mächtige Familie Luckards, die Wasservasses, versuchten, die Gerüchte um ihre Tochter zu verheimlichen, um während und nach dem Prozess einen Skandal zu vermeiden. Aufbauend auf Foucaults Verständnis von der Kontrolle über Geheimnisse als eine Form von Macht, stellt Crosetti de Almeida fest, dass die Geheimhaltung vor allem das Prestige und damit auch die Macht der Wasservasses sichern sollte. Dabei verweist sie auch auf genderspezifische Aspekte des Skandals um Luckard. Alheydis Plassmann behandelt in ihrem Beitrag die geheime Verschwörung des englischen Hochadels gegen König Johann bei seinem geplanten Feldzug gegen den walisischen Fürsten Llywelyn im Jahr 1212. In einer historisch-kritischen Analyse arbeitet sie die politischen und strukturellen Umstände heraus, welche die geheime Verschwörung beförderten, die letztlich zur Durchsetzung der Magna Charta im Jahr 1215 führten. Als maßgebliche Faktoren nennt Plassmann zum einen die dezentralen Herrschaftsstrukturen, in denen England nur durch eine lose Personalunion mit dem anglo-normannischen Reich verbunden war und die daher oppositionelle Allianzen begünstigten. Zum anderen verweist Plassmann auf die Schwächung von König Johanns Herrschaftslegitimation durch die Ermordung seines Thronfolgers Arthurs I, des Herzogs von Bretagne. Der Band schließt mit Maike Sachs Beitrag über den
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Umgang mit Staatsgeheimnissen am Moskauer Hof im 15. Jahrhundert. Sie fokussiert sich dabei auf das ‚Wie‘ und enthüllt vielfältige Strategien, mit deren Hilfe die eigenen Geheimnisse bewahrt und die der gegnerischen Seite enthüllt werden sollten, um die politischen Ziele des russischen Kaiserreichs durchzusetzen. Dazu skizziert sie zunächst die Außenbeziehungen des Moskauer Staats und dessen politische Interessen, um sodann auf gesellschaftliche Umstände wie mangelnde Sprachkenntnisse auf europäischer Seite einzugehen. Anhand gezielter Fallbeispiele stellt Sach anschließend unterschiedliche Verhüllungs- und Aufdeckungsstrategien vor.
Mystik und Kirche: Vom göttlichen Geheimnis, okkulten Wissen und mystifizierten Orten
Wendelin Knoch
Die kirchliche Buße Ein ‚Heiliges Zeichen‘ – sacramentum – in der Spannung zwischen Enthüllung und Diskretion Abstract: The Middle Ages are an era in which people remained committed to inherited traditions despite fundamental and far-reaching changes. A striking example in the historical context of faith and church is the importance assigned to the Sacrament of Reconciliation (sacramentum poenitentiae). Even the penitent who confesses his sins in front of his parish as Ps. Dionysius Areopagita (6th century), can be sure to have a lasting place in the community of the church. Since also in the Middle Ages the private, religious and ecclesiastical life is still of general interest, the practice of the Sacrament of Reconciliation located in the church still remains officially recognized and protected. We owe the particular theological emphasis placed on the sacramentum poenitentiae, mainly to Petrus Lombardus (12th century) who values the reception of this sacrament as a virtue and, at the same time, justifies its repeatability. Prepared by the Iro-Scottish missionary movement (7th century) and brought into flower by Thomas Aquinas (13th century), William of Auxerre (1150 – 1231) in his ‘Summa Aurea’ focused on the fact that the confession of sins, assigned to the sacramentum poenitentiae and the fulfilment of the penances imposed by the father confessor without external pressure on the penitent, is the sole, private decision of the penitent. Thus, the recourse to the Sacrament of Reconciliation is accepted as publicly carried out, but it is always still a secretly administered and individually received sacrament.The sacramentum poenitentiae in its lasting relevance testifies that God’s justifying gift and undeserved grace continues its presence in the church community around the world beyond the intimacy of personal belief and faith. Keywords: sacramentum poenitentiae (Bußsakrament), Buße, Bekenntnis von Sünden, Reue, Gnade, Rechtfertigung
1 Historisch-theologischer Überblick Die abendländische Theologie- und Geistesgeschichte ist bis zur Gegenwart facettenreich konturiert von Konstanten und von epochalen Umbrüchen. Sie bestimmen den Lebensalltag, der von dem familiären wie dem gesellschaftlichen Umfeld konturiert, eine Prägung durch profane Normen ebenso wie eine christlich geformte kirchliche Praxis einbezieht. In dieser Hinsicht betrachtet, ist das Mittelalter eine Epoche, in der überkommene Traditionen selbst in tiefgreifenden Umbrüchen ihre
Prof. Dr. Wendelin Knoch, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-002
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formende Kraft bewahren.¹ Fokussiert auf Glaube und Kirche, kann ein Blick auf das sacramentum poenitentiae, das Bußsakrament, das eindrucksvoll verdeutlichen.² Er gewichtet, dass das Mittelalter vom Ordnungs-Denken (ordo) geprägt ist, hier maßgeblich bestimmt durch einen unter dem Pseudonym Dionysius-Areopagita bekannten Theologen.³ Seine um 500 nach Chr. verfassten Werke – in Sonderheit sind zu nennen: ‚De divinis nominibus‘ und ‚De coelesti hierarchia‘ sowie ‚De ecclesiastica hierarchia‘ – gehen davon aus, dass sich die weltbestimmende hierarchische Struktur der allumfassenden göttlichen Schöpfermacht verdankt. In der letztgenannten Schrift klärt der Aeropagite, dass die Kirche die himmlische Hierarchie abbilden muss.⁴ In sechs Stufen gegliedert, steht in der Kirche der geistliche Ordo, Bischöfe, Priester und Diakone, an oberster Stelle, gefolgt von den Mönchen und den Gläubigen. Die unterste Stufe, die unmittelbar auf ihrem Fundament aufruht, ist den Katechumenen oder Büßern zugewiesen. Das sind jene, die sich in Reue im Empfang des sacramentum poenitentiae zu ihren Sünden bekennen. ‚Amtlich‘ hier Vergebung erfahrend, ist ihnen ein fester Platz in der Gemeinschaft der Kirche sicher. So wird im Empfang dieses Sakramentes einerseits persönliche Schuld enthüllt, bleibt diese aber andererseits in der Intimität von Bekenntnis und amtlich-diskreter priesterlicher Beurteilung einer öffentlichen Kenntnisnahme entzogen. Diese das Bußsakrament bestimmende Diskretion hat seine Aktualität bis zur Neuzeit gesichert.⁵ Das ist umso bemerkenswerter, da das ‚Geheime‘ ursprünglich dem Verständnis dieses Sakramentes völlig fremd gewesen ist.⁶
2 Der „Sitz im Leben“ (Hermann GUNKEL) In den ersten Jahrhunderten der Christentumsgeschichte war es noch selbstverständlich, dass ein schweres Vergehen gegenüber der Gemeinde in einem einmaligen, Steffen Patzold, Anja Rathmann-Lutz u. Volker Scior (Hgg.), Geschichtsvorstellungen – Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter (Festschrift für H.-W. Goetz), Wien, Köln, Weimar 2012. Gerhard L. Müller, Katholische Dogmatik, Freiburg 1995, hier 4. c) Zur Geschichte des Busakramentes, S. 718 – 721; Christian Vogel u. Ludwig Hödl, Buße (liturgisch-theologisch), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1993), Sp. 1123 – 1144; hier D.Westkirche, Sp. 1130 – 1141. Arthur M. Ritter, Dionysius Areopagita I. Autorenproblem, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1986), Sp.1079 – 1080. Norbert Briskorn, Finsteres Mittelalter?, Mainz 1991, S. 88; Beate R. Suchlar, Dionysius Areopagita, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 3 (1994), Sp. 242 f. (Allgemeiner Überblick) Josef Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im Allgemeinen. Von der Schrift bis zur Scholastik, in: Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. 4 (1980), Fasc. 1a; Zum aktuellen ökumenischen Hintergrund siehe Rosel Oehmen-Vieregge, Die Einzelbeichte im katholischevangelischen Gespräch. Eine theologisch-kanonistische Untersuchung. Bonifatius, Paderborn 2002. Siehe Dorothea Sattler, Bußsakrament, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2 (1994), Sp. 845 – 853, hier Sp. 847– 849; Eva-Maria Faber, Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt, 2002, hier 2. Teil: Spezielle Sakramentenlehre, III. Bußsakrament, 3. Theologiegeschichtliche Entwicklungen, S. 126 – 131.
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nach Zeit und Inhalt fixierten kirchlichen Bußverfahren gesühnt wurde, ein öffentlich vom Schuldigen bekanntes Vergehen, durch ein gewichtiges Bußwerk gesühnt, in einem Rekonziliationsakt als volle Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Glaubenden seinen feierlichen Abschluss gefunden hat. Der hier maßgebende Impuls, die biblische Forderung nach Umkehr und Buße des Sünders, bewahrte auch davor, dieses Sakrament Gott geschenkter Vergebung als bloßes Relikt kirchlich-traditionellen Lebens gänzlich aufzugeben, als sich „unter dem Dach der erfolgreichen kirchlichen Gemeinden des beginnenden 12. Jhds. […] die alte Bußdisziplin der Bischofskirche seelsorglich nicht mehr behaupten (ließ)“.⁷ Die iro-schottische Missionsbewegung hatte dazu den Weg bereitet.⁸ Indem sie auf das biblische Fundament christlicher Lebensformung in der Gemeinschaft der Kirche verwies, konnte nach der ersten Jahrtausendwende gesellschaftlich mit der Ausformung ständischer Strukturen im Aufblühen der Städte der Einzelne einen festen Platz finden, der zugleich seinen individuellen Begabungen und Prägungen Raum bot. Jedoch war diese „Entdeckung der Person“⁹ aber keineswegs im neuzeitlichen Sinne mit einer Trennung der Lebensführung vom aktuell gesellschaftlich-religiösen Umfeld verbunden. Im bürgerlich-städtischen Milieu vollzieht sich der Alltag in ständischer Einbindung „im Schatten der Kathedrale“.¹⁰ Das private Tun und Lassen wird somit auch in seiner religiös-kirchlichen Dimension öffentlich wahrgenommen, gewichtet und beurteilt. Neben Anerkennung und Auszeichnung findet auch ein schuldhaftes, gesellschaftlich relevantes Verhalten öffentlich-rechtliche Ahndung und Strafe. Im Hinblick auf die Kirche bedeutet das, dass sie, unbeschadet ihrer Eigenständigkeit als geistliche Autorität, integraler Teil der Gesellschaft ist, keineswegs randständig. Mit der liturgischen Praxis und den Sakramenten dem gesellschaftlichen Leben integriert, wird kirchlich verortete Beicht- und Bußpraxis als ein Teil des Gemeinwesens anerkannt und geschützt.
3 Theologische Klärungen Hatte die Kirche in Weiterführung römischer Rechtsgrundlagen zu Beginn des 2. Jahrtausends in den heftigen Auseinandersetzungen des sogenannten ‚Investitur-
Ludwig Hödl, Das Zeugnis des Gerhoch von Reichersberg (gest.1169). Zur Reform der sakramentalen Buße im 12. Jhd., in: Rüdiger Althaus, Klaus Lüdicke u. Matthias Pulte (Hgg.), Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche (Festschrift Heinrich J. F. Reinhardt), Essen 2007, S. 525 – 542, hier S. 536. Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 – 900, Stuttgart 1990, hier S. 210 – 215; ders., Irische Mission, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 5 (1996), 590 f. Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg 1993. Gerd Althoff, Hans-Werner Götz u. Ernst Schubert, Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter, Darmstadt 1998.
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streites‘¹¹ mit der Inkraftsetzung eigener Gesetzesbestimmungen auch geklärt,¹² was vor allem die Durchsetzung der Trennung von geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit und die Zurückweisung der Vergabe geistlicher Ämter durch weltliche ‚Potestas‘ betraf, so gelang es der Theologie dieser Epoche, der Scholastik, mit der Ausfaltung der Sakramentenlehre in der Fixierung von deren Siebenzahl der kirchlichen Buße als dem in unverbrüchlicher Diskretion vollzogenen sacramentum besondere Wertschätzung zu sichern.¹³ Petrus Lombardus (ca. 1085 – 1160) hat dazu wegweisend das theologische Fundament gelegt.¹⁴ In seinen bis zur Spätscholastik maßgeblichen ‚Sententiae in IV. Libris distinctae‘, denen er den Ehrennamen des „Magister Sententiarum“ verdankt, führt er die Buße als eines der sieben Sakramente unter der Überschrift „De sacramentis novae legis“ auf. Iam ad sacramenta novae Legis accedamus: quae sunt baptismus, confirmatio, panis benedictionis, id est eucharistia, poenitentia, unctio extrema, ordo, coniugium. ¹⁵ Dabei ist ihm in Unterscheidung vom Sakrament der Taufe wichtig, wie er ausdrücklich feststellt: „Die Taufe ist nur ein Sakrament, Buße heißt hingegen sowohl ein Sakrament wie eine Tugend des Geistes. Es gibt nämlich eine innere Buße und eine äußere Buße. Die äußere ist Sakrament, die innere ist Tugend des Geistes; und jede von beiden ist Ursache der Rechtfertigung und des Heiles.“¹⁶ Deshalb kann im Unterschied zur Taufe dieses Sakrament, in dem innere Reue und äußeres Bekenntnis zusammenklingen, immer wieder empfangen werden. Im Rückgriff auf gewichtige Zeugen der Vätertheologie resümiert der Lombarde: His aliisque pluribus testimoniis evidenter ostenditur per
Ferdinand Seibt, Glanz und Elend des Mittelalters. Eine endliche Geschichte, Berlin 1987, S. 146 – 177; Tillmann Struwe, Investiturstreit, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 479 – 482. Winfried Aymans, Kirchenrecht, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 6 (1997), Sp. 41– 43; Rudolph Weigand, Kirchenrecht, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 6 (1997), Sp. 43 – 47. Josef Finkenzeller, Die Lehre von den Sakramenten im Allgemeinen. Von der Schrift bis zur Scholastik, in: Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. 4 (1980), Fasc. 1a, S. 59 – 61; Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hrsg. v. Peter Hünermann, 37. Aufl. Freiburg 1991, hier S. 1274, Nr. 860 (2. Konzil von Lyon, Glaubensbekenntnis). Günter Koch, Sakramentenlehre II. Eucharistie bis Ehesakrament, Texte zur Theologie, Dogmatik, Graz,Wien, Köln 1991, S. 143. Zur Bedeutung der Theologie des Petrus Lombardus und der Theologen in seinem Strahlkreis siehe Wendelin Knoch, Die Einsetzung der Sakramente durch Christus. Eine Untersuchung zur Sakramententheologie der Frühscholastik von Anselm von Laon bis Wilhelm von Auxerre (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 24), Münster 1983, S. 224– 292. Petrus Lombardus, Sententiae, Liber IV, dist. II, Cap. 1 Spicilegium Bonaventurianum V, Rom 1984, S. 239: „Nun wollen wir uns den Sakramenten des neuen Gesetzes (sc. Bundes) zuwenden. Es sind: Die Taufe, die Confirmatio (sc. Firmung), das Gesegnete Brot, nämlich die Eucharistie, Buße, Letzte Ölung, Weihe (sc. Bischof, Priester, Diakon), Ehe.“ Ebd., dist. XIV, Cap. II, Cap. 1 (74), 2., S. 316: Baptismus tantum est sacramentum, sed poenitentiae dicitur et sacramentum et virtus mentis. Est enim poenitentiae interior, et poenitentiae exterior. Exterior sacramentum est; interior virtus mentis est; et utraquae causa iustificationis et salutis est.
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poenitentiam non semel tantum, sed saepius nos a peccatis surgere, et veram poenitentiam saepius agi. ¹⁷ Diese „pastorale und theologische Wende zum Sakrament der (inwendigen) Buße im 12. Jhd., […] zentral gesteuert von der biblischen Bußbotschaft“,¹⁸ nötigte dazu, mit der Klärung der dem Ordo, genauer den Bischöfen und den von ihnen geweihten Priestern, von Christus übergebenen Vollmacht der Sündenvergebung¹⁹ zugleich deren „Schlüsselgewalt“ (potestas clavium) als amtsgebunden festzuschreiben. Zur Sündenvergebung bevollmächtigt, konnte „vor Ort“ der Priester als „Beichtvater“ nach Annahme des Sündenbekenntnisses dem Poenitenten, Kleriker wie auch einem Laien, die Lossprechung erteilen. Dieses setzt von Seiten des Beichtvaters discretio, also eine angemessene Gewichtung der vom Poenitenten benannten Schuld voraus.²⁰ Im Unterschied zur öffentlichen Buße ist die Erfüllung des Bußwerkes nicht mehr die Voraussetzung für die ‚amtliche‘ Sündenvergebung. An die Stelle der Bußleistung konnten nämlich commutationes treten, konnte die auferlegte Buße durch Stellvertretung umgewandelt bzw. ersetzt, verkürzt oder erleichtert werden.²¹ – Nicht fehlen darf an dieser Stelle der Hinweis, dass Versuche, diesen sakramentalen Schutz der Diskretion zu durchbrechen, Einzelfälle geblieben sind. Sie haben aber weder auf persönlicher Ebene ‚Erfolge‘ gezeitigt noch in gesellschaftlicher Hinsicht zu einem Umdenken bzw. einer Neubewertung dieses Sakramentes geführt.²² – Andererseits war auch nicht auszuschließen, dass der Beichtvater hinsichtlich des Vergehens und der Reue von Seiten des Poenitenten bewusst getäuscht werden kann. In einem solchen Fall ist die priesterliche Lossprechung zwar ‚in sich‘ gültig, bleibt aber für den Poenitenten selbst unfruchtbar, da die ihm zugesprochene Vergebung als göttliches Gnadengeschenk nicht gewährt wird.²³
Ebd: „Mit diesen und mehreren anderen Zeugnissen wird einsichtig gezeigt: Durch die Buße (sc. Das Bußsakrament) stehen wir nicht nur einmal, sondern häufiger von den Sünden auf und werden zur wahren Buße häufiger bewegt.“ Hödl (Anm. 7), 3. Die Reform der kirchlichen Buße, S. 536– 542, hier S. 536. Siehe Mk 2,7– 12; Lk 5,21– 24 in: Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament, Freiburg 2016; vgl. Müller (Anm. 2), S. 718 – 721. Friedrich Kluge, Diskret (discretus), in: Ethymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1967), S. 134. ‚Verschwiegen‘ als neue Bedeutung findet sich erst seit 1771. Christian Vogel, Buße, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1983), Sp. 1135: „Die Kommutationspraxis verdrängt jegliche Bußleistung des Sünders (Fasten, Kasteiung irgendwelcher Art). Es bleibt als actus poenitentiae nur noch das Sündenbekenntnis […]. Einer sofortigen Absolution nach der Beichte steht also nichts mehr im Wege, auch ohne die geringste Bußleistung von Seiten des Beichtkindes. Der Übergang und somit die Entstehung des sakramentalen Bußsakramentes ist mit dem 12. Jhd. abgeschlossen“. Exemplarisch ist hier auf Johannes v. Pomuk (Johannes von Nepomuk) zu verweisen, unter König Wenzel IV. 1393 nach Folterung in der Moldau ertränkt. Siehe dazu: Miloslav Polifka, Johannes v. Pomuk, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 595 – 596. Dazu siehe Müller (Anm. 19), Dogmatik. Die sakramentale Heilsvermittlung, j) Der Empfänger, S. 640.
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Wendelin Knoch
An der Schwelle zur Hochscholastik, die mit Thomas von Aquin (1225 – 1274) und seiner ‚Summa theologiae‘ (1267– 1273) ihre Blüte erreicht,²⁴ ist die Grundstruktur des sacramentum poenitentiae als Einzelbeichte fixiert, von Wilhelm von Auxerre (1150 – 1231) in seiner ‚Summa aurea‘ (1215 – 1229) treffend zusammengefasst.²⁵ Er sei deshalb (in wörtlicher Übersetzung) zitiert (Tractatus VIII, Cap. I): Im Sakrament der Buße sind vier Teile zu beachten: Das Bekenntnis, die Reue, die Wiedergutmachung, die Vergebung der Sünde. Bekenntnis und Wiedergutmachung sind aber nur heilige Zeichen und keine Sache; (also: nicht das Herzstück des Sakramentes); das sind zutiefst und hauptsächlich die heiligen Zeichen der Reue und der Sündenvergebung, da wir um der Vergebung der Sünden willen doch bekennen und Wiedergutmachung leisten. Wahre Reue aber ist heiliges Zeichen und Herzstück des Sakramentes; denn (das Bußsakrament) ist das Sakrament der Sündenvergebung, da (sein Ritus) jene bezeichnet und bewirkt; diese Sündenvergebung ist also das Herzstück im Blick auf Rechtfertigung und Bekenntnis.
Dieses von Thomas v. A. benannte „Herzstück“ des sacramentum poenitentiae begründet die diesem Sakrament eigene, nicht auflösbare Spannung zwischen Enthüllung und Diskretion. Sie klärt zugleich, dass das Beichtsigill (sigillum confessionis)²⁶ nicht nur den Beichtenden und sein Bekenntnis, sondern auch den Beichtvater vor öffentlicher Neugier schützt. Der actus poenitentiae ist und bleibt ‚diskret‘, dem Wort secretus im Sinne des arcanus bedeutungsmäßig zugeordnet. Das im Spenderitus Vollzogene bleibt vor jedem Fremden verborgen. ²⁷
4 Ausblick Der Blick auf das Bußsakrament in dogmengeschichtlicher Perspektive, geschärft durch die Frage nach der Spannung zwischen grundlegender Geheimhaltung und gebotener Enthüllung²⁸, entbirgt Aspekte, die – damals aktuell – ihre Bedeutung bewahrt haben. Das zeigen exemplarisch die der sakramentalen Praxis seinerzeit geltenden kritischen Aussagen des Propstes Gerhoch von Reichersberg (1093 – 1169), Thomas von Aquin, Chronologie und Werkanalyse, Bd. 1, hrsg. v. Klaus Bernarth, Darmstadt 1978, bes. S. 123; Summa theologica. Die deutsche Thomas-Ausgabe, d.-lt., Graz, Wien, Köln 1992. Siehe W. Knoch (Anm. 14), S. 365 – 376; Ed.: Summa Aurea. Spicilegium Bonaventurianum XIX, l.IV, Paris-Rom 1985, S. 59 – 66 u. S. 197. Codex Juris Canonici (lt/d), Kevelar 1983, l. IV., can. 983, § 1, hält fest: „Das Beichtgeheimnis ist unverletzlich“. Franz-Josef Nocke, Buße (Allgemeine Sakramentenlehre 4), in: Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2 (1963), Sp. 306 – 334, hier 316: „Nicht nur das Bekenntnis, sondern auch die Tatsache, dass jemand Büßer ist, soll möglichst geheim bleiben. Das Motiv der Diskretion gewinnt an Bedeutung. So wird aus der öffentlich vor der Gemeinde vollzogenen Buße die geheime, nur noch dem Priester bekannte ,Ohrenbeichte‘. Daher wird die neue Bußform auch ,private Buße‘ genannt.“ Das Sachwörterbuch der Mediävistik, hrsg. v. Peter Dinzelbacher (1992) übergeht die vielschichtige Bedeutung des Geheimen im Mittelalter und begnügt sich lediglich mit einer Erläuterung zum Stichwort „Geheimschrift“.
Die kirchliche Buße
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der als Prälat dem Konvent dieses bedeutenden Augustiner-Chorherrenstiftes vorstand.²⁹ In seinen Bibelauslegungen erinnert der Propst daran, dass jede Schuld auch eine öffentliche, die Gemeinde betreffende Dimension besitzt. So beklagt er in seiner Auslegung zum 31. (32.) Bußpsalm den mangelnden Bußwillen in der Kirche, ablesbar in der üblichen Praxis, es dem Poenitenten zu überlassen, diesen oder jenen Priester als Beichtvater zu suchen und zu finden, der im Akt der discretio ein strafmilderndes Urteil fällte. Zudem möchten, so der Propst, viele Büßer mit irdischen Wohltaten nicht nur ewigkeitliche, sondern auch zeitliche Sündenstrafen erlassen sehen.³⁰ Obwohl Gerhoch nachdrücklich an der Notwendigkeit eines öffentlichen Bekenntnisses von gesellschaftsrelevanter Schuld und deren öffentliche Bestrafung durch kirchlich verhängte Exkommunikation festhielt, die allein durch den Gnadenakt des Bischofs zu lösen war,³¹ übersah er freilich nicht, dass die theologischen Erwägungen zum sacramentum poenitentiae als ‚geheim‘ gespendetem Sakrament der „inwendigen Buße des Herzens“ als Voraussetzung für einen fruchtbaren Empfang dieses Sakramentes die entscheidende Bedeutung zuerkennen. In pastoraler Weitsicht leuchtete damals bereits ein, dass die in der alten Bußordnung für einen fruchtbaren Empfang des sacramentum poenitentiae geforderten Einschränkungen auf Lebenszeit in der veränderten Lebenswelt nicht mehr gefordert werden konnten.³² Dieser historische Befund beweist zudem, dass aktuelle Entwicklungen jederzeit ein Impuls dafür sein können, das in den Schatten des Interesses gestellte sacramentum poenitentiae als ein ‚Heiliges Zeichen‘ in seiner Vielschichtigkeit neu in den Blick zu nehmen. Die kirchliche Buße, als sacramentum gefeiert, lässt sichtbar werden, dass die rechtfertigende Gnade Gottes nicht nur in der Intimität des Glaubens, sondern nicht minder in der biblisch bezeugten und das christliche Credo bezeugenden Glaubensgemeinschaft, der Kirche, als unverdientes Geschenk in der Welt präsent bleibt, den Wert des Diskreten hütend, – ‚geheim‘ und doch ‚öffentlich‘ – ‚amtlich‘ gespendet und empfangen ‚im Zeichen des Kreuzes‘.
Manfred Gerwing, Theologie im Mittelalter. Personen und Stationen theologisch-spiritueller Suchbewegungen im mittelalterlichen Deutschland, Paderborn (u. a.) 2000, S. 106. Hödl (Anm. 7), S. 541; Zur rechtlichen Bedeutung der Umwandlung (commutatio) siehe Helmut Pree, Umwandlung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 10 (2001), Sp. 369 – 370. Hödl (Anm. 7), S. 536 hält dazu fest: „Die alte Bußdisziplin der Bischofskirche […] überlebte in der Exkommunikation als kirchlicher Zensur.“ Siehe Hödl (Anm. 7), S. 535.
Heinz Sieburg
Die Offenbarung des Geheimen? Mittelalterliche Gottesurteile als Erkenntnisquelle
und ihr Niederschlag in der mittelhochdeutschen Literatur Abstract: Ordeals (‘judgements of God’) undoubtedly belong to the alterity side of the Middle Ages. For centuries they were a legal practice for the divine revelation of secret knowledge. They can also be found as a motif in medieval and Middle High German literature, especially in ‘Tristan’, ‘Iwein’, ‘Nibelungenlied’ or even in Stricker’s ‘Das heiße Eisen’. The exemplary cases for trials by fire and the so called Bahrproben can be found therein are to be described and evaluated in this contribution in the context of historical legal practice. Of particular interest is the question of the legitimacy of the ordeals, which is partly raised there. A separate point should be to locate the European judgments of God in a global context and to discuss models of cultural historical derivations. Keywords: Gottesurteil, Mittelhochdeutsche Literatur, Rechtspraxis, Kirchengeschichte
I Das Gottesurteil¹ (auch Ordal und Iudicium Dei genannt) gehört fraglos zur Alteritätsseite des Mittelalters. Aus heutiger Sicht ist die Vorstellung, mittels Feuerproben, Wasserproben oder auch durch Zweikämpfe über Schuld und Unschuld eines Verdächtigen zu entscheiden, abwegig. Sie widerspricht zutiefst dem modernen aufgeklärten Rechtsempfinden. Vor allem wegen ihrer Grausamkeit und (scheinbaren) Irrationalität wirkt die Praxis der Gottesurteile auf uns Heutige verstörend – und ist doch zugleich ein Faszinosum. Ordale sind Teil der europäischen Rechts- und Kulturgeschichte. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sie auch als wiederkehrende Motive der Literatur in Erscheinung treten, so auch in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters.
Als geraffter Überblick aus rechtshistorischer Perspektive empfehlenswert: Wolfgang Schild, Gottesurteil, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl., Bd. 2 (2004), Sp. 481– 491. Prof. Dr. Heinz Sieburg, Universität Luxemburg, Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität, Maison des Sciences Humaines, 11, Porte des Sciences, L-4366 Esch-sur-Alzette, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-003
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„Durch verschiedene, meist am Körper des oder der Verdächtigen vollzogene Verfahren suchte man […] eine übernatürliche Weissagung über ein vergangenes Geschehen zu erhalten“.² In diesem Sinne diente der Gottesbeweis dazu, göttliche Offenbarung über ein sonst nicht erfahrbares Wissen zu provozieren. Ein Fehlschluss wäre, die Ordale (wie landläufig bisweilen behauptet) als sadistische Bestrafungsakte zu werten. Sie waren im Mittelalter fraglos Instrumente der Rechtsfindung, – angewandt als Ultima Ratio, wenn andere Möglichkeiten wie Zeugenbeweis, Eid oder Urkunden nicht anwendbar bzw. vorhanden waren. This was the role of the ordeal. It was lex paribilis, or apparens, or aperta-the ‘manifest proof’. It was a device for dealing with situations in which certain knowledge was impossible but uncertainty was intolerable.³
Augenfällig ist die Verbindung zum Thema Geheimnis. Ordale wurden eben als Hilfsmittel zur Erhellung verborgenen Wissens gesehen. Sie sind in diesem Sinne Schlüssel zur unzugänglichen Wahrheit oder Unwahrheit, zu Recht oder Unrecht. Sie wurden angewandt, um das Geheimnis einer unaufgeklärten Tat zu lüften. Gottesurteile sind aber auch geheimnisvoll in dem Sinne, dass sie über die religiöse Sphäre hinaus in den Bereich des Magischen, der Mantik bzw. des Animismus ausgreifen. Dabei folgen sie durchaus einer im Rahmen einer bestimmten christlichen Vorstellungswelt nachvollziehbaren inneren Logik. Demnach gilt fundamental: Der christliche Gott will das Recht, auch bereits im Diesseits. Da er dieses aber nicht (immer) von sich aus bewirkt, bedarf es der Anrufung im Kontext einer spezifisch religiösen und zugleich rituellen Rahmung. Hierdurch erfolgt der geforderte göttliche Rechts-Erweis, der als gültiger Entscheid für die weltliche Rechtpraxis anerkannt wurde. Die Realität dieser Rechtspraxis lässt sich in unterschiedlichen Quellen nachweisen. Dazu gehört etwa der hochmittelalterliche ‚Sachsenspiegel‘, wo es heißt (Erstes Buch Landrecht XXXIX):⁴ Wer das gluende isen tragen solle. Die ir recht mit dube adir mit roube verloren haben, ab man si dube adir roubes anderweide beschuldiget, si en mogen mit irem eide nicht unschuldig werden. Si haben abir drierleie kore: Daz heize isen zu tragene adir in einen wallenden kessel zu grifene biz zu dem ellenbogen, adir deme kemphen sich zu werende. ⁵
Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006, S. 31. Robert Bartlett, Trial by Fire and Water. The Medieval Judicial Ordeal, Brattleboro, Vermont 1986, S. 33. Sachsenspiegel. Landrecht und Lehnrecht, hrsg. v. Friedrich Ebel, Stuttgart 2012, S. 53. Übersetzung (Heinz Sieburg): „Wer das glühende Eisen tragen soll. Diejenigen, die ihr Recht durch Diebstahl oder Raub verloren haben, die aber des Diebstahls oder des Raubes abermals beschuldigt werden, können nicht durch den Eid unschuldig werden. Sie haben aber dreierlei Wahlmöglichkeiten: Das heiße Eisen zu tragen oder in den Kessel mit siedendem Wasser zu greifen bis zum Ellbogen oder gegen den (Gerichts‐)Kämpfer anzutreten.“
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Der hier genannte Katalog ist keineswegs vollständig. Neben den erwähnten Gottesurteilen finden sich auch andere, jedoch in der allgemeinen Rechtspraxis weniger bedeutende (unblutige) Ausprägungen des Ordals wie Kreuz- und Kerzenprobe, Abendmahl- und Bissprobe.⁶ Gottesurteile wurden (durch gerichtliche Instanzen) meist angeordnet und waren in diesem Sinne Verfolgungsordale, die den Körper des Verdächtigten zum Objekt der Rechtspraxis machten. Sie konnten von einem Beschuldigten im Sinne eines Rechtsbehelfs u.U. als Zuflucht- oder Verteidigungsmittel allerdings auch selbst verlangt werden, wodurch der Beschuldigte in der Subjektposition agierte. Zu den am meisten verbreiteten Gottesurteilen zählt im Mittelalter die Wasserprobe (Kaltwasserprobe): Durch Eintauchen in einen Bottich mit kaltem Wasser, einen Teich oder Fluss sollte die Schuld des (gefesselten, aber etwa durch ein Seil gesicherten) Angeklagten geprüft werden. Hintergrund dieser auch als mantisch (weissagend) zu klassifizierenden Probe ist die Vorstellung, dass das Wasser rein sei und daher den Sünder verschmähe. Tauchte der Beschuldigte unter, war daher seine Unschuld bewiesen. Tauchte dieser nicht unter, galt seine Schuld als nachgewiesen. Aufgrund dieses ‚Tatsachenbeweises‘ erfolgte dann die Freilassung oder Bestrafung. In der Geschichte des christlich-abendländischen Rechts ist das Gottesurteil eine über viele Jahrhunderte angewandte Praxis zur Hervorbringung beweiskräftiger und zugleich rechtsgültiger Evidenzen. Das Frühmittelalter zeigt vor allem eine enge Anbindung an das Recht des Frankenreiches und zugleich eine weitgehende Beschränkung auf dessen Herrschaftsraum.⁷ Die Ausbreitung der Ordal-Praxis steht zunächst im Zusammenhang fränkischer Expansion und der damit einhergehenden Christianisierung. Im Hochmittelalter sind Gottesurteile über den gesamten europäischen Raum verbreitet, wobei ein Umschlag ab dem 13. Jahrhundert erfolgt. Trotz wachsender Skepsis gegenüber den Ordalen und eines 1215 durch das vierte LateranKonzil ergangenen Verbotes lässt sich die Praxis der Gottesurteile noch bis in die frühe Neuzeit verfolgen. Angewandt wurden Gottesurteile bei unterschiedlichsten Delikten wie Diebstahl, Mord, Ehebruch, Sodomie oder auch Häresie. Auch bei Rechtsstreitigkeiten über Besitzverhältnisse konnten sie – als letztes Mittel⁸ – zur Anwendung kommen. In der Regel wurden die Proben verordnet, konnten (wie erwähnt) als Abwehr- oder Verteidigungs-Ordale allerdings auch vom Beschuldigten angeboten wer-
Vgl. Dinzelbacher (Anm. 2), S. 36 – 40. Das widerlegt die zum Teil vertretene These einer ‚pangermanischen‘ Herkunft, wie sie etwa bei Heinrich Brunner (Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2 [1892], S. 400) formuliert ist: „Auf arischer Grundlage erwachsen, waren die Gottesurteile einst eine gemeingermanische Institution. Nichtsdestoweniger weisen die Rechte der fränkischen und nachfränkischen Zeit hinsichtlich der Ordalien weitgehende Verschiedenheiten auf. Man glaubt deshalb ihren germanischen Ursprung bestreiten und bezweifeln zu müssen. Mit Unrecht.“ (Online unter: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/ brunner_rechtsgeschichte02_1892?p=418 [letzter Zugriff am 30.03. 2020]). Sachsenspiegel (Anm. 4), Lehnrecht XL. 3, S. 203: Gotes orteil en muz man abir nicht thun umme keinerhande sache, denn dar man der warheit mit keiner sache in kunde komen kann. Übersetzung (Heinz Sieburg): „Gottesurteile sind aber zu vermeiden, außer die Wahrheit ist nicht auf anderem Weg in Erfahrung zu bringen.“
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den. Dabei kamen zum Teil auch bestimmte (je nach Zeit und Raum unterschiedliche) soziale Selektionskriterien zur Anwendung: So wurde das Tragen des heißen Eisens vor allem gegenüber des Ehebruchs verdächtigten Frauen angewandt.⁹ Der gerichtliche Zweikampf war dagegen vor allem auf Männer bezogen, wobei die Art der Waffen wiederum abhängig von deren sozialem Rang war. Juden und Ausländer wurden von dieser Rechtspraxis oftmals ausgeschlossen.¹⁰ Unter literaturhistorischer und zumal germanistischer Perspektive zeigt sich das Gottesurteil als Motiv in unterschiedlichen literarischen Werken des Mittelalters, gerade auch in der Blütezeit um 1200, so im ,Iwein‘ Hartmanns von Aue, im ,Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg oder im ,Nibelungenlied‘ – ein als solches schon bemerkenswerter Befund. Im Folgenden soll versucht werden, einige wesentliche Aspekte des literatur-, kultur- und rechtsgeschichtlich gleichermaßen interessanten Phänomens Gottesurteile aufzuzeigen. Ziel ist dabei, ausgesuchte literarischen Beispielfälle nicht nur im Zusammenhang der realhistorischen Rechtspraxis zu verordnen, sondern auch im zeitgenössischen Legitimitäts-Diskurs zu situieren sowie, zumindest ansatzweise, auch die interkulturelle Komponente der Gottesurteile zu thematisieren. Dabei erfolgt mit Blick auf die literarische Quellensituation eine weitgehende Beschränkung auf die Feuer- und Bahrprobe.¹¹
II Zu den Feuerproben gehört, neben dem Schreiten über glühende Pflugscharen, zentral das Tragen des glühenden Eisens. Als Verfahren der Rechtsfindung ist es genau geregelt und in ein strenges rituelles Setting integriert. Oft ging dem eigentlichen Gottesurteil ein Eid voraus, den es in der Probe zu bekräftigen oder zu widerlegen galt. Folgender Ablauf kann als musterhaft betrachtet werden: […] man legt ein [gühendes] Eisen mit beiden Enden so auf einen Stein oder ein Eisen, dass der Mann darunter greifen und das Eisen aufheben kann, das er drei Schritte tragen soll. Wirft er es eher nieder, ist er dessen überführt, wessen man ihn beschuldigt hat; dasselbe ist er auch, wenn er sich verbrennt. Die Hand soll man ihm [drei Tage lang] einbinden […]. Die […] Eisen soll man glühend machen, und es soll sie ein Priester mit seinem Segen segnen […] Wenn der Priester an
Vgl. Bartlett (Anm. 3), S. 19. Immer noch aufschlussreich sind im allgemeinen Zusammenhang auch die Aufstellungen europäischer und indischer Rechtstexte bei Adolf Kaegi: Ders, Alter und Herkunft der germanischen Gottesurteile. Zur vergleichenden Rechtsgeschichte, in: Festschrift zur Begrüssung der vom 28. September bis 1. Oktober 1887 in Zürich tagenden XXXIX. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, dargeboten von der Universität Zürich, Zürich 1887, S. 40 – 60, hier insbes. S. 46 – 49.Vgl. auch La preuve, Recueils de la Société Jean Bodin 16 – 19, Brüssel 1963 – 1965 sowie Vickie L. Ziegler, Trial by Fire and Battle in Medieval German Literature, Rochester, New York 2004. Dass in der mittelhochdeutschen Literatur verschiedentlich auch der gerichtliche Zweikampf vertreten ist, etwa im ‚Tristan‘, im ‚Erec‘ oder im ‚Rolandslied‘, soll natürlich nicht bestritten werden.
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die Stelle kommt, wo man das Eisen glühend macht, so soll er die Stätte und das Eisen mit Weihwasser besprengen, um die Betrügereien der Teufel zu vertreiben.¹²
Abb. 1: Tragen des glühenden Eisens. Buchmalerei: Lambacher Rituale, um 1200 (aus Dinzelbacher [Anm. 2], Einlage zwischen S. 128 und 129).
Faktisch war aber nicht die Frage, ob mit der Feuerprobe eine Verbrennung der Haut verbunden war, für die Schuldfindung ausschlaggebend, sondern deren Schwere und der Verlauf des Heilungsprozesses. Eine entsprechende Begutachtung (durch den Priester) erfolgte in der Regel mehrere Tage nach der Probe und eröffnete meist Interpretationsspielräume – und gab dem Klerus zugleich ein wichtiges Machtinstrument in die Hand. Statistisch verwertbares Material über die Häufigkeit der Gottesurteile und deren Ausgang findet sich kaum. Immerhin verweist Dinzelbacher¹³ in diesem Zusammenhang auf Aufzeichnungen des frühen 13. Jahrhunderts im ungarischen Varad. Demnach wurde in 210 von 306 Fällen auf unschuldig erkannt: „Wenn das zu verallgemeinern ist, dann stand die Wahrscheinlichkeit, dieses Ordal zu bestehen, 2 zu 1.“¹⁴
Monumenta Germaniae Historica Formulae 721, zit. nach Dinzelbacher (Anm. 2), S. 33 – 34. Dinzelbacher (Anm. 2), S. 35. Ebd.
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Einer Feuerprobe muss sich auch Isolde in Gottfrieds Minneroman ‚Tristan‘ unterziehen. Im Kern geht es bei diesem Werk um eine unheilvolle Dreiecksbeziehung zwischen der Königin Isolde, die, ausgelöst durch einen magischen Minnetrank, in Liebe mit Tristan verbunden, gleichzeitig aber mit König Marke verheiratet ist. Das Gottesurteil erfolgt im Rahmen einer öffentlichen Gerichtsverhandlung in Anwesenheit zahlreichen Würdenträger. Isolde wird zunächst abverlangt, ihre (vermeintliche) Unschuld zu beeiden. Diese Probe kann die Protagonistin mittels einer List noch bestehen.¹⁵ Sodann fordert Marke Isolde auf, das glühende Eisen zu tragen. Wörtlich heißt es¹⁶: „Vrouwe“ sprach der künec dô […] „nu nemet das îsen ûf die hant“ […] „âmen!“ sprach die schoene Îsôt. in gotes namen greif si’z an und truog ez, daz si niht verbran. ¹⁷
Das Textbeispiel ist umso interessanter, als es nicht nur ein zentraler literarischer Beleg für die Praxis des Gottesurteils ist, sondern dieses Rechtsmittel zugleich infrage stellt. Denn objektiv ist Isolde (als Ehebrecherin) schuldig. Dass sie dennoch unverletzt bleibt, ist daher nicht leicht zu erklären. Der Erzählerkommentar liefert nur scheinbaren Aufschluss, indem nämlich Gott als ‚wetterwendisch‘ dargestellt wird. dâ wart wol g’offenbaeret und al der werlt bewaeret, daz der vil tugenthafte Crist wintschaffen alse ein ermel ist. er vüeget unde suochet an, dâ man’z an in gesuochen kan, alse gevuoge und alse wol, als er von allem rehte sol. erst aller herzen bereit, ze durnehte und ze trügeheit. ist ez ernest, ist ez spil, er ist ie, swie sô man wil. ¹⁸
Durch eine mit ihrem Liebhaber Tristan vereinbarte List leistet sie einen dem Wortlaut nach wahrheitsgemäßen, der Sache nach aber unwahren Eid. Gottfried von Straßburg, Tristan. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort v. Rüdiger Krohn, Bd. 1, 11. Aufl. Stuttgart 2006, Text, V. 1– 9982 und Bd. 2, 9. Aufl., Stuttgart 2007, Text,V. 9983 – 19548, und Bd. 3, 7. Aufl. Stuttgart 2005, Kommentar, Nachwort und Register, hier V. 15.724, -27, -30 – 32. Übersetzung: „Der König erwiderte: ‚Herrin […] Nehmt nun das Eisen in die Hand.‘[…] ‚Amen!‘, sagte die schöne Isolde. In Gottes Namen fasste sie es an und trug es, ohne sich zu verbrennen.“ Gottfried von Straßburg, Tristan (Anm. 16), V. 15.733 – 44. Übersetzung: „Da wurde offenkundig und der Welt bewiesen, dass der allmächtige Christus nachgiebig wie ein Mantel im Wind ist. Er schmiegt und passt sich an, wenn man ihn richtig zu bitten versteht, so fügsam und gut, wie er es mit allem Recht
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Die ebenso berühmte wie viel zitierte Passage vom wintschaffen (wetterwendischen oder handtierlichen) Crist irritierte die Forschung von Anfang an: „Vor allem die ältere Forschung registrierte den Erzählerkommentar […] mit Empörung und sprach von Blasphemie“.¹⁹ Gerade das Skandalträchtige des Erzählerkommentars, seine zumindest vordergründige radikale Infragestellung christlich-mittelalterlicher Grundgewissheiten, rückt die Textstelle in das Zentrum, macht sie zur „Nagelprobe“²⁰ der Tristan-Interpretation. Dembeck²¹ liest sie als „semiotische Grundsatzerklärung […], die die Problematik ‚korrekter‘ Rezeption radikalisiert“. In Mayers materialreicher komparatistischer Untersuchung gilt „diese Gottesurteilsszene als ein Kulminationspunkt mittelalterlichen Lebens und Denkens zu dem Allerinteressantesten in dem Schrifttum jener Zeit.“²² Es würde zu weit führen, die Forschungsdebatte um den wintschaffen crist vollständig nachzuzeichnen.²³ Festzustellen bleibt: Interpretationen und Kommentare zu dieser Stelle finden sich viele, eine einheitliche Linie in ihnen nicht. Wie auch immer man die Stelle dreht und wendet, das Gottesurteil als historische Rechtspraxis wird darin desavouiert. Gottfrieds von Straßburg Kommentar fällt in eine Zeit, in der die Praxis des Gottesurteils insgesamt zunehmend kontrovers beurteilt wird. Das gilt im Übrigen auch für Gottfrieds ‚Nahbereich‘, die Stadt Straßburg. Deren Bischof, Heinrich II. von Veringen (gest. 1223), ein Verfechter der Gottesurteile, wurde im Januar 1212 von päpstlicher Seite vor deren Einsatz ausdrücklich gewarnt.²⁴ Der Klerus war dem Gottesurteil gegenüber demnach keineswegs durchgängig positiv eingestellt. Die Ordale wurden von den Kritikern als eine frevlerische, zugleich aber auch als einfältige Anmaßung aufgefasst, in die Geheimnisse Gottes eindringen zu wollen. Oder sie wurden als eine Art Zwingzauber betrachtet, mit dessen Hilfe Gott verfügbar gemacht werden sollte: „Gottesurteile werden von ihnen als tentatio Dei eingestuft, da Gott hier zu einer Stellungnahme durch eine Art Wunder gezwungen werden solle.“²⁵ Gerade die Nähe zu magischen Praktiken diskreditierte die Gottesurteile in den Augen der Skeptiker, zu
soll. Jedem ist er behilflich bei Aufrichtigkeit wie bei Betrug. Ob ernst oder im Spaß, immer so, wie man ihn sich wünscht.“ Monika Schulz, Gottfried von Straßburg, ‚Tristan‘, Stuttgart 2017, S. 108. Walter Haug, Gottfried von Straßburg „Tristan“. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie, in: Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. IVG-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 1, Tübingen 1986, S. 41– 52, hier S. 49. Till Dembeck: Der wintschaffene (wetterwendische) Christus und die Transparenz der Dichtung in Gottfrieds „Tristan“, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, 10/3 (2000), S. 493 – 507, hier S. 493. Johann Jakob Meyer, Isoldes Gottesurteil in seiner erotischen Bedeutung. Ein Beitrag zur vergleichenden Literaturgeschichte, Berlin 1914, hier S. 74. Einen aktuellen Überblick vermittelt Schulz (Anm. 19), S. 115 – 116. Vgl. daneben auch Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007, insbes. S. 78 – 81. Vgl. Tomasek (Anm. 23), S. 180. Sarah Neumann, Der gerichtliche Zweitkampf: Gottesurteil – Wettstreit – Ehrensache, Ostfildern 2010, S. 66.
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denen namentlich etwa Gregor von Tours, der Lyoner Erzbischof Agobard, William Rufus, Petrus Cantor oder auch Thomas von Aquin zu zählen sind. Argumente gegen die Praxis der Gottesurteile finden sich bereits im Frühmittelalter, nehmen an Gewicht im weiteren Verlauf und insbesondere ab der Mitte des 11. Jahrhunderts aber immer mehr zu und führen schließlich zu einer grundsätzlichen Ablehnung dieser Praxis.²⁶ Gründe hierbei waren, neben den bereits genannten, auch die (trotz einzelner Referenzen im Alten Testament²⁷) insgesamt schwache Legitimation durch die Bibel. Eine göttlich geoffenbarte Praxis ergibt sich daraus jedenfalls nicht, schon eher erweist sich das Gottesurteil als Menschenwerk. Zugleich wurde argumentiert, die Unergründlichkeit und damit das Geheimnis Gottes sei nicht zu vereinbaren mit einem auf Berechenbarkeit basierenden, mechanistisch ablaufenden Verfahren. Auch galt den Kritikern als fraglich, inwieweit göttliche Gerechtigkeit und menschliches Recht (bzw. Sünde und Verbrechen) eins-zu-eins gesetzt werden könnten. Wie etwa sollte Gott urteilen bei jemandem, der seine Schuld vor der Probe gebeichtet hatte? Selbst da, wo an der Legitimität der Gottesurteile nicht gezweifelt wurde, wurde deren Manipulierbarkeit durch magische ‚Störquellen‘ wie Amulette und dergleichen befürchtet, sodass zumindest Gegenmaßnahmen zu treffen waren. Etwa die, dass sich die Verdächtigen nackt der Probe unterziehen mussten (siehe Abb. 2). Die Furcht vor der Manipulierbarkeit des Gottesurteils ist nicht leicht nachvollziehbar, wenn andererseits Gott als allmächtig und willentlich Recht schaffend vorgestellt wurde.
III „Das manipulierte Gottesurteil stellt ein altes Erzählmotiv dar.“²⁸ Ein Beispiel hierfür findet sich in der Verserzählung ‚Das heiße Eisen‘ des mittelhochdeutschen Dichters Stricker. Inhaltlich geht es in diesem ‚Ehestandsmäre‘ darum, dass eine Ehefrau – anscheinend aus einer Laune heraus – von ihrem Mann als Beweis seiner ehelichen
Vgl. Bartlett (Anm. 3), S. 70 – 102. Dazu zählt das ‚Eifersuchtsordal‘ (AT, Buch Numeri 5, 11– 31), wonach im Rahmen eines priesterlichen Rituals ‚Bitterwasser‘ an des Ehebruchs verdächtigte Frauen verabreicht werden soll, dessen Wirkung über Schuld oder Unschuld Auskunft gibt: „Sobald er sie das Wasser hat trinken lassen, wird das fluchbringende Wasser in sie eindringen und bittere Schmerzen bewirken, falls sie unrein und ihrem Mann untreu geworden ist: Es wird ihren Bauch anschwellen und ihre Hüften einfallen lassen, sodass die Frau in ihrem Volk zum sprichwörtlichen Beispiel für einen Fluch wird. Wenn sie aber nicht unrein geworden, sondern rein ist, dann wird sich zeigen, dass sie unschuldig ist, und sie kann weiterhin Kinder bekommen“ (Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg, Basel, Wien 2013). Hinzuweisen ist mit Bezug auf den gerichtlichen Zweikampf zudem auf den ebenfalls im Alten Testament geschilderten Sieg Davids gegen Goliath (vgl. 1. Sam. 17). Auf die ‚drei jungen Männern im Feuerofen‘ aus 3. Buch Daniel (AT) wird weiter unten noch eingegangen. Tomasek (Anm. 23), S. 180.
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Treue die Probe des glühenden Eisens einfordert (trac mir daz heize îsen ²⁹). Im Vergleich zum ‚Tristan‘ und der realhistorischen Praxis auffällig ist die Verlagerung der Feuerprobe in die private Sphäre einer Ehegemeinschaft. Auch fehlt hier die sonst übliche rituell-religiöse Einbindung im Sinne der Beteiligung eines Priesters, wenngleich eine explizite Bezugnahme auf Gott an einigen Stellen erfolgt. Wie Isolde im ‚Tristan‘ besteht auch der Ehemann in Strickers Märe das Gottesurteil. Aber auch hier ist dessen Aussagegehalt mehr als fragwürdig, nicht, wie bei Isolde, wegen der (vermeintlichen) Unkalkulierbarkeit Gottes, sondern aufgrund eines Verfahrenstricks: Der Mann hatte sich nämlich mit einem (vor den Augen der Frau verborgenen) Holzspan in seiner Hand gegen die Verbrennung gewappnet. Die nichtsahnende Frau ist jetzt von der Treue und Aufrichtigkeit ihres Mannes überzeugt: sie sprach: „ich wil dir iemer jehen daz du dich wol behalden hâst und alles valsches âne stâst.“ ³⁰
Ob der Mann tatsächlich frei von Ehebruch ist oder nur an der Urteilskraft der Feuerprobe zweifelt, bleibt unbeantwortet. Seine Trickserei macht ihn gegenüber seiner Frau jedenfalls zum listigen Betrüger, umso mehr, als sie dadurch vom Gegenteil überzeugt wird und ihn generell für arglos hält (alles valsches âne). Stricker dreht die Schraube jetzt aber weiter. Denn nun nötigt der Mann seine Frau ebenfalls zum FeuerOrdal. Diese versucht zunächst wortreich, sich der Probe zu entziehen, gibt nach und nach sogar den Ehebruch mit sechs Männern zu, – muss aber schließlich doch das glühende Eisen in die Hand nehmen. Resultat ist die völlige Verstümmelung ihrer Hand: daz îsen nam si ûf die hant und wart alsô sêre verbrant, daz si schrei in grôzer ungehabe: ouwê mir ist die hant abe!“ ³¹
Die Ehefrau hat sich – trotz ihres Geständnisses – als schuldig gemäß der Logik des Gottesurteils erwiesen. Resultat ist, dass sie von ihrem Ehemann verflucht und ihr weiteres Leid angedroht wird. Das vom Aufbau her eher schlichte, mit Blick auf die darin enthaltenen Bedeutungsdimensionen aber hochkomplexe Märe wirft unter-
Zitiert wird hier und folgend nach der Ausgabe Fischer/Janota: Der Stricker: Das heiße Eisen, in: Verserzählungen I, hrsg. v. Hanns Fischer. 5., verb. Aufl. besorgt v. Johannes Janota, Tübingen 2000, S. 37– 50, hier S. 40. Ebd., S. 84– 86. Übersetzung (Heinz Sieburg): „Sie sagte: ‚Ich will dir immer zusagen, dass du dich stets richtig verhalten hast und ohne jeden Falsch bist.‘“ Das heiße Eisen (Anm. 29), Z. 173 – 176. Übersetzung (Heinz Sieburg): „Sie nahm das Eisen in die Hand und verbrannte sich so sehr, dass sie vor großem Schmerz schrie: ‚Ach weh, meine Hand ist verloren!‘“
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schiedliche Fragen auf, – etwa die zum Geschlechterverhältnis.³² Vor allem aber ist es interessant in Hinblick auf die Legitimität der Gottesurteile. Die Frage der Autorintention ist hier – ebenso wie bei Gottfried – letztlich nicht zu klären. Eine kritische Reserve wegen der geschilderten Manipulierbarkeit, nicht zuletzt aber auch wegen der Herübernahme in das unernste Schwank-Genre ist jedenfalls auch hier nicht von der Hand zu weisen.³³ Durch Papst Innozenz III. (IV. Laterankonzil von 1215) werden die Gottesurteile auch offiziell geächtet und die Beteiligung der Geistlichen an Ordalen untersagt. Wenig später (1231) verbietet Friedrich II. für Sizilien das Gottesurteil und begründet dies durch ihre Vernunftwidrigkeit.³⁴ Das verhindert aber nicht, dass Gottesurteile (auch mit kirchlichem Segen) weiter praktiziert wurden. Die nur zögerliche Durchsetzung des Verbotes hängt sicherlich zusammen mit der nicht überall gleichermaßen anerkannten Autorität bzw. Durchsetzungsstärke päpstlicher (und weltlicher) Gewalt. Widerstände ergaben sich auch aufgrund handfester Interessen. Nicht zu unterschätzen ist nämlich die Bedeutung der Gottesurteile als klerikales (und weltliches) Herrschaftsinstrument. Zugleich waren Ordale eine nicht unwesentliche Einnahmequelle des Klerus: The power and revenue which clerics obtained from trial by ordeal help to explain why, even after a century and a half of papal condemnation and learned criticism, many priests and prelates continued to countenance the practice and, indeed, did so well into the thirteenth century.³⁵
IV Gerade in Bezug auf die Feuerproben ist auf ein weiteres, aus heutiger Sicht besonders irritierendes Moment aufmerksam zu machen. Wie oben bereits mehrfach angedeutet, wurden Gottesurteile keineswegs nur gegen den Willen eines Beschuldigten angewandt, sondern konnten von diesem auch als Rechtsbehelf, als Zuflucht- und Verteidigungsmittel eingefordert werden – und waren in diesem Sinne Abwehrordal. Ziel ist hier die Reinwaschung von einem unbegründeten Schuldvorwurf. Eher als Kuriosum zu sehen ist die Feuerprobe des heiligen Franz von Assisi. Hier geht es im Kern um eine Gotteserprobung.
Hierzu etwa Andrea Schallenberg, „ist ez ein si oder ein er?“ Geschlechterbilder in spätmittelalterlichen Verserzählungen, in: Heinz Sieburg (Hg.), ‚Geschlecht‘ in Literatur und Geschichte, Bilder – Identitäten – Konstruktionen, Bielefeld 2015, S. 129 – 153. Vgl. hierzu auch Ines Heiser, Wunder und wie man sie erklärt. Rationale Tendenzen im Werk des Strickers, in: Klaus Ridder (Hg.), Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur, Blaubeurer Kolloquium 2006. In Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Eckart Conard Lutz, Berlin 2008, S. 161– 176. Vgl. Bartlett (Anm. 3), S. 76. Bartlett (Anm. 3), S. 94.
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Bei weiteren Reisen im Rahmen des 5. Kreuzzuges gelang es Franziskus zwar 1219, in Ägypten zu predigen, jedoch nicht, den Sultan el Malik el Kamil bei einer Begegnung im September in Damiette – dem heutigen Dumyat – in Ägypten zu bekehren. Franziskus bot den muslimischen Priestern die Feuerprobe an: er sei bereit, durch ein Feuer zu schreiten um zu beweisen, welcher Glaube der richtige sei. Der Sultan jedoch wagte diese Entscheidung nicht.³⁶
Die von Franz antizitierte Wirkung des Elementes Feuer wurde von den Verfechtern des Gottesurteils als Ausweis der Macht des christlichen Gottes verstanden. Ähnlich ist auch die Geschichte von den drei jungen Männern im Feuerofen im 3. Buch Daniel (Altes Testament) zu verstehen. König Nebukadnezzar lässt drei Juden als Strafe dafür, dass sie die heidnischen Götter nicht anbeten, in einen Feuerofen werfen. Durch den Beistand Gottes (bzw. eines Engels) sind diese jedoch vor den Flammen gefeit: Aber der Engel des Herrn war zusammen mit Asarja und seinen Gefährten in den Ofen hinabgestiegen. Er trieb die Flammen des Feuers aus dem Ofen hinaus und machte das Innere des Ofens so, als wehte ein taufrischer Wind. Das Feuer berührte sie gar nicht; es tat ihnen nichts zuleide und belästigte sie nicht.³⁷
Hier ist die Zügelung des Elementes als ein Machtbeweis des christlichen Gottes gedeutet. Eine so gelagerte Beweiskraft hat das Feuer aber auch da, wo in Märtyrerlegenden die Standhaftigkeit der verfolgten Christen gegen die ihnen zugefügten Qualen geschildert wird. Gezeigt wird hier, die an pagan-animistische Vorstellungen erinnernde ‚Bezwingung‘ der Elemente, hier des Feuers. Indirekt wird hierin bereits ein Zusammenhang mit vorchristlichen bzw. ‚heidnischen‘ Vorstellungen erkennbar. Bevor hierauf näher (s. unten VI.) eingegangen wird, soll im Folgenden die im Rahmen der mittelhochdeutschen Literatur relevante Bahrprobe thematisiert werden.
V Die sogenannte Bahrprobe ist ein besonderer Fall des Ordals. Ob es sich dabei um ein Gottesurteil im eigentlichen Sinne handelt, ist nämlich zweifelhaft. Hintergrund ist hier die magisch zu nennende Vorstellung, der Tote verrate selber den Mörder, oder anders gesagt, die Vorstellung eines ‚lebenden Leichnams‘. Das Blut des Toten, so die Annahme, schreie nach Gerechtigkeit. Angenommen wurde, dass beim Hinzutreten des Mörders der Leichnam erneut zu bluten beginne. Erste Belege für die Bahrprobe im deutschsprachigen Raum sind – interessanterweise – literarische Quellen. Sowohl im Artusroman ‚Iwein‘ als auch im heldenepischen ‚Nibelungenlied‘ werden entsprechende Handlungen geschildert. Eine Anbindung an einen christlich-göttlich Joachim Schäfer, Artikel Franziskus von Assisi, in: Ökumenischen Heiligenlexikon, Stuttgart 2018, http://www.heiligenlexikon.de/BiographienF/Franziskus_von_Assisi.htm (letzter Zugriff am 10.08. 2017). Die Bibel (Anm. 27), Dan. 3, 49 – 50.
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motivierten Wirkmechanismus erfolgt hier, wenn überhaupt, allenfalls ansatzweise (Daz ist ein michel wunder; „Das ist ein großes Wunder“ ³⁸).³⁹ Im ‚Iwein‘ heißt es: Nû ist ein dinc geseit vil dicke vür die wârheit, swer den andern habe erslagen, und wurder vür in getragen, swie langer dâ vor wære wunt, er begunde bluoten anderstunt. ⁴⁰
Im ‚Nibelungenlied‘ findet sich an entsprechender Stelle: Si buten vaste ir lougen. „swelher sî unschuldic, der sol zuo der bâre dâ bî mac man die wârheit
Kriemhilt begonde jehen: der lâze daz gesehen; vor den liuten gên. harte schiere verstên.“ ⁴¹
Dem folgt als Erzählerkommentar: Daz ist ein michel wunder; swâ man den mortmeilen sô bluotent im die wunden, dâ von man die schulde
vil dicke ez noch geschiht: bî dem tôten siht, als ouch dâ geschach. dâ ze Hagene gesach. ⁴²
Im ‚Nibelungenlied‘ wird so der Beweis geführt, dass Hagen, wie von Kriemhild vermutet, der Mörder ihres Mannes Siegfried ist. Im ‚Iwein‘ zeigt das Aufbrechen der
Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text v. Karl Bartsch u. Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übers. und kommentiert v. Siegfried Grosse, Stuttgart 2002, hier V. 1044, 1. Über die Einbettung der Bahrprobe in den Zusammenhang von Magie und Wunder in der mittelalterlichen Literatur vgl. Heinz Sieburg, Magie und Wunder. Elemente und Funktionen des Übernatürlichen in der epischen mittelhochdeutschen Literatur um 1200, in: Ders., Rita Voltmer, Britta Weimann (Hgg.), Hexenwissen. Zum Transfer von Magie- und Zauberei-Imaginationen in interdisziplinärer Perspektive, Trier 2017, S. 181– 193. Hartmann von Aue, Iwein. Urtext und Übersetzung, hrsg. v. Georg F. Benecke, Karl Lachmann u. Ludwig Wolff, 7. Aufl., hier Z. 1355 – 60. Übersetzung und Anmerkungen v. Thomas Cramer. 3. Aufl. Berlin, New York 1981. Übersetzung: „Nun wird uns eine Sache glaubhaft versichert: Wenn jemand einen andern erschlagen hat, und dieser wird an jenem vorbeigetragen, so beginnt er von neuem zu bluten und sei er auch noch so lange vorher schon verwundet worden.“ Nibelungenlied (Anm. 38), V. 1043. Übersetzung: „Sie leugneten hartnäckig. Kriemhild fing von neuem an: ‚Jeder, der unschuldig ist, lasse dies sehen: er soll vor allen Leuten zu der Bahre gehen. Dabei wird man die Wahrheit sehr schnell erkennen.‘“ Nibelungenlied (Anm. 38), V. 1044. Übersetzung: „Das ist nämlich ein großes Wunder, das sehr oft auch heute noch geschieht. Wo immer man den Mordbefleckten bei dem Toten sieht, so bluten dessen Wunden, wie es auch da der Fall war. Deshalb sah man, daß die Schuld bei Hagen lag.“
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Wunden des getöteten Ascalon dessen Frau Laudine, wie auch der gesamten Burgbevölkerung, die Gegenwart des Schuldigen, nämlich Iwein, an. Während aber Hagen sich der Bestrafung aufgrund der Komplizenschaft des Burgundenhofes (zunächst) entziehen kann, entgeht Iwein der Verfolgung durch einen unsichtbar machenden magischen Ring. Dass die Bahrprobe aber auch in der Realität praktiziert wurde, lässt sich durch jüngere chronikale Quellen plausibel machen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Kriminalfall des Hans Spieß, von dem Valerius Anselm in seiner ‚Berner-Chronik‘ (in einem Eintrag unter dem Jahr 1503)⁴³ berichtet und der in der ‚Luzerner Chronik‘ des Diebold Schilling (Luzern 1513) auch illustriert widergegeben ist (s. Abb. 2). In Anselms ‚Berner Chronik‘ heißt es: Von einem wunderbaren Mord-Handel Diß Jahrs im Höwmonat hat Hans Spieß, ein Krieger, Hurer, Spiler, Brasser, im Luzern-Gebiet, in Ettiswyler Kilchhöri uf einem Hof gesessen, sin fromme Husfrow Margret am Bett ersteckt, und sie, als selb gestorben, nach voriger Gewohnheit früh verlassen. Doch so war deruf ihn der Argwohn so groß, daß er g‘fangen zu Willisau fast hart gestreckt, doch ab keiner Marter nüt verjach, und aber von Größe wegen des Argwohns, da ward mit Recht erkennt, daß man das Wyb, so da 20 Tag zu Ettiswyl im Kilchhof war gelegen, söllte usgraben, uf ein Baar legen, und ihne beschoren und nackend darüber führen, und da sin rechte Hand uf sie legen, und einen gelehrten Eyd by Gott und allen Heiligen schweren, daß er an disem Tod kein Schuld hätte. Und also, da diß elend, grusam Ansehen war zugericht, daß er sie mocht sehen, je nächer er hinzugieng, je meh sie wie w o r g e n d zum Mund us einen Schum uswarf; und da er gar hinzukam, und sollt schweren, da entfärbt sie sich und fieng an ze bluten, daß’s durch die Baar niderrann, da fiel er nieder uf sine Kniee, bekannt öffentlich sin Mord, und begehrt Gnad. Da ward sie wieder in Herd, und er nach Verdienst mit Recht uf’s Rad gelegt, starb da willig und r ü w e n d. Mord, wie man spricht, blybt nit verborgen, noch ungerochen; wann das Blut Abels schryt vom Erdrych uf zu Gott.
Nimmt man den Bericht als glaubhaft, wurde die Bahrprobe – freilich in besonderen Ausnahmefällen – noch im frühen 16. Jahrhundert praktiziert. Deutlich ist hier die Anlage als Gottesurteil, ablesbar durch die Eidformel (by Gott und allen Heiligen) sowie den Verweis auf das nach Gott schreiende Blut Abels. In der bildhaften Darstellung sind zudem Kirchhof und Priester als christliche Rahmung erkennbar. Für die späte Datierung des Berichts spricht der Verweis auf die Folter („Marter“), der Hans Spieß zunächst unterzogen wurde. Das Ordal als reguläre Rechtspraxis des Mittelalters wurde nämlich insgesamt ersetzt durch die Folter und das so erzwungene Schuldeingeständnis des Beschuldigten.
Die Berner Chronik des Valerius Anselm, Bd. 2, hrsg. v. Historischen Verein des Kantons Bern, Bern 1886, S. 393.
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Abb. 2: Bahrprobe des Gattenmördres Hans Spieß. Buchmalerei, Luzerner Chronik des Diebold Schilling, 1513 (aus Dinzelbacher [Anm. 2], Einlage zwischen S. 128 und 129).
VI Geheimnisvoll, zumindest aber rätselhaft ist der Ursprung des Gottesurteils, und zwar sowohl bezogen auf das Alter wie auf den Ursprungsraum. Als gesichert kann gelten, dass die Verbindung des Ordals mit dem christlichen Glauben, also im hier bislang vorgestellten Sinne des mittelalterlichen christlichen ‚Gottes‘-Urteils, nur eine, und zwar späte Ausprägung neben anderen ist. Ordale lassen sich als epochen- und kulturübergreifende Phänomene nachweisen: „They crop up in the laws of Hammurabi and in the judical practice of modern Kenya; men have undergone the ordeal from Iceland to Polynesia, from Japan to Africa.“⁴⁴ Schon Jacob Grimm weist in den ‚Deutschen Rechtsalterthümern‘ auf den vorchristlichen Ursprung, das hohe Alter und die weite Verbreitung hin: „Heidnischen ursprungs und aus dem höchsten alterthum scheinen alle Gottesurtheile.“⁴⁵ Und weiter: „Ihr alter bestätigen auch ähnliche prüfungen, die wir bei andern heiden und selbst bei wilden völkern antreffen.“⁴⁶ Ordale sind demnach interkulturelle Phänomene, und das in einem sehr umfassenden Sinne. Bereits früh vertreten wurde die Annahme, das Gottesurteil sei indogermanischen Ursprungs. So verwies Kaegi Ende des 19. Jahrhunderts auf Übereinstimmungen mit historischen indischen Rechtspraktiken, insbesondere mit Blick auf das Tragen des glühenden Eisens oder der Wasserprobe.⁴⁷ Aber auch dieser Rahmen ist wohl zu eng gesetzt, worauf bereits ebenfalls im späten 19. bzw. im frühen 20. Jahrhundert mit Blick
Bartlett (Anm. 3), S. 2. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Göttingen 1828, S. 909. Ebd., S. 910. Kaegi (Anm. 10).
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auf Parallelen bei den mongolischen Kalmücken oder ‚afrikanischen Stämmen‘ hingewiesen wurde. So berichtet etwa Post 1886 mit Bezug auf Afrika von der auch dort bekannten – gegenüber dem oben geschilderten Ablauf allerdings modifizierten – Praxis der Bahrprobe: In einigen Distrikten Benguelas wird bisweilen die Leiche des Verstorbenen durchs Dorf getragen, bis sie selbst die Hütte des Mörders bezeichnet, indem die Träger behaupten, daß dieselbe nicht weiter wolle. Dann kann der Angeklagte sich nur noch durch das Ordal des Bulongotranks retten.⁴⁸
Dieser Bulongotrank ist eine Ausprägung des gemäß Post – zu seiner Zeit – weit verbreiteten Giftordals zu sehen, – wobei die Ähnlichkeit mit dem im Alten Testament geschilderten Bitterwasser-Ordal⁴⁹ auffällig ist. Der Verdächtige muss ein Gift trinken. Anhand der auftretenden Symptome wird dann über dessen Schuld oder Unschuld befunden. Post sieht diese – wie auch die Bahrproben – als bewusst manipulierte Verfahren, „ein von Zauberpriestern und Häuptlingen geschmiedetes Komplott gegen bestimmte unliebsame Persönlichkeiten“.⁵⁰ Im 19. Jahrhundert schien der ethnologische Blick auf Afrika⁵¹ besonders geeignet, um die Hintergründe und Motivationen der Ordale ‚in Vivo‘ zu beobachten und zu enträtseln, insbesondere weil man sich dadurch Aufschluss über die europäische (Vor‐)Geschichte der Gottesurteile erhoffte. Hier sind wir im Stande, in das ganze Getriebe hineinzuschauen, in welches sie gehören, und wir dürfen den Schluß ziehen, daß auch bei uns dereinst einmal eine soziale Organisation geherrscht hat, welche mit der Organisation des afrikanischen Zauberpriestertums Ähnlichkeit gehabt haben muß. So werfen die Studien über die Sitten der Naturvölker glänzendes Sonnenlicht auf das bisher in unheimliches Halbdunkel gehüllte Reich unsrer eigenen Vorgeschichte und gewähren uns erst die volle Freude an den mühsam errungenen Schätzen unsrer heutigen Kultur.⁵²
Albert Hermann Post, Zaubereiprozesse und Gottesurteile in Afrika, in: Deutsche Geographische Blätter, Bd. 9 (1886), S. 300 – 320, hier S. 305. Dort heißt es auf S. 308: „Die gewöhnlichsten aller afrikanischen Ordalien sind die Giftordalien, bei denen Aufgüsse giftiger Pflanzen getrunken werden. Aus der Wirksamkeit des Giftes auf die Person, welche dasselbe trinkt, wird ein Schluß auf deren Schuld oder Unschuld gemacht. Der Ausgang des Ordals hängt immer vom Zauberpriester ab, welcher die verschiedene Wirkung größerer oder geringerer Quantitäten bestimmter Pflanzengifte genau kennt, sich im Besitz von Gegenmitteln befindet, und durch lange Gewöhnung selbst große Quantitäten von Gift vertragen kann, um sich selbst nötigenfalls von einem gegen ihn selbst entstehenden Verdacht reinigen zu können.“ Vgl. Anm. 27. Post (Anm. 48), S. 307. Ebd., S. 319: „In Afrika, dem klassischen Weltteile der Gottesurteile existieren sie noch heutzutage in ihrer ganzen grausigen Lebenskraft“. Ebd., S. 319 – 320.
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Die so zutage getretene ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘⁵³ konnte in ein kulturanthropologisches Entwicklungsmodell überführt werden, bei dem das mittelalterliche Gottesurteil nur als eine spezifische Stufe in einer Folge vorgängiger Stadien zu werten war. Entsprechend verfährt Erler, der die Gottesurteile des Mittelalters als Folge der Umwertung bzw. Verschiebung bestimmter Vorstellungsgehalte deutet, die gleichzeitig zu Uminterpretationen von Auffassungen des Rechts, der natürlichen Elemente, aber auch der göttlichen Macht geführt haben soll. Die Anfänge des Gottesurteils liegen demnach in einer ‚vorrechtlichen‘ Phase, für die eine Gleichsetzung von Macht und Recht galt. Das Recht war demgemäß (zunächst) an den Stärkeren (als den Besseren) gebunden, wobei die Wahrheit demgegenüber als eine noch nachrangige Kategorie gegolten haben soll. Beim Ordal, so Erler, erweist sich das Recht des Stärkeren im Duellum, dem Gerichts-Zweikampf oder dadurch, dass er sich etwa dem Feuer gegenüber als unverletzbar bzw. als unempfindlich zeigt. Auf dieser Stufe bestimmt noch nicht die Vorstellung des Eingreifens eines gerechten Gottes den Ausgang, sondern die Macht des Stärkeren, der in der Lage ist, Bedrohungen abzuwehren, mit höheren Mächten im Bunde zu sein und die Elemente zu beherrschen. Hierdurch erweist er sich aber letztlich als dem Recht enthoben, genießt Immunität, die ihn vor weiterer Verfolgung schützt. Er ist gefeit. Dieser Machtbeweis des Stärkeren ist verbunden „mit dem vorrechtlichen Unterton, daß der Mächtige immun ist und die Rechts- und Schuldfrage vor ihm verschmilzt“.⁵⁴ Der Verfolgte steht damit jenseits von Gut und Böse. Er ist der Interessensphäre des diesseitigen Daseinskampfes entrückt; er hat Anteil an den höheren Mächten, denen der Mensch nur in bejahender Verehrung begegnen oder ausweichen kann.⁵⁵
Dies schließt die Verbindung von Stärke und Unschuld natürlich nicht grundsätzlich aus. Im Sinne des mittelalterlichen Gottesurteils wird diese aber eher durch die Umkehrung wirksam, – nicht, dass der Starke unschuldig ist, sondern dass Unschuld Stärke generiert. Die Elemente erscheinen jetzt, so immer noch der Argumentationsgang Erlers – nicht mehr allein als Bedrohung, sondern sind zum Medium geworden, das Auskunft gibt über die Wahrheit. Und diese Vorstellung erzeugt die Zuversicht, das Gottesurteil als ein legitimes Instrument der Rechtsfindung zu akzeptieren oder sich diesem sogar willentlich – im Sinne des Abwehrordals – zu stellen: „In der
Dinzelbacher (Anm. 2), S. 30 verweist mit Bezug auf ‚außereuropäische Völker‘ auf eine „teilweise bis heute, es existieren sogar Filmaufnahmen“, bestehende Praxis der Ordale. Adalbert Erler, Der Ursprung der Gottesurteile, in: Paideuma, Mitteilungen zur Kulturkunde, Bd. 2., H. 1/2 (1941), S. 44– 65, hier S. 55. Mit Blick auf das Erscheinungsdatum ist eine gewisse Reserve diesem Text gegenüber zunächst sicherlich angezeigt. Allerdings ist Erler als anerkannter Rechtshistoriker und etwa als Mitherausgeber des ‚Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte‘ (ab 1964) wohl über alle Zweifel erhaben. Unabhängig davon gilt, dass ein „Rückschreiben germanophilnationalistischer Weltanschauung in historische Zeiten […] in den 1930/40er Jahren von der nationalsozialistischen Forschung aufgenommen [wurde]“, Neumann (Anm. 25), S. 14. Erler (Anm. 54), S. 56.
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Regel wird nur der Unschuldige es wagen, sich zum Ordal zu erbieten; der Schuldige wird seiner Kraft nicht trauen und sie daher auch nicht besitzen.“⁵⁶ Hierdurch ist der Schritt vom Abwehrordal zum Unschuldsbeweis vollzogen. Dabei ist das Eingreifen Gottes, ein göttlicher Wink, erforderlich. Dieses wird aber nicht durch die Bemächtigung einer göttlichen Kraft oder eines Elementes bewirkt, sondern durch die bittende Unterwerfung unter Gott: „So läutert sich das Gottesurteil zu den höchsten Stufen gläubiger Religiosität empor, während seine Wurzeln in dem dunklen Erdreich frühreligiöser und frührechtlicher Auffassungen ruhen.“⁵⁷
VII Gottesurteile sind – und dies gilt nicht weniger für die in der frühen Neuzeit in Europa weit verbreiteten Hexenprozesse – ein weltweites, kulturübergreifendes und damit interkulturelles Phänomen. Sie sind an dem Übernatürlichen, Numinosen, Magischen gegenüber offene Vorstellungswelten gekoppelt. Von einem rationalen Standpunkt aus und vor dem Hintergrund des modernen Rechts wirken sie oft inhuman, grausam und abstoßend. Dass sie (auch) Teil der europäischen Rechts- und Kulturgeschichte sind, ist unzweifelhaft, ebenso, dass die hier zu beobachtende Einkleidung in ein christliches Weltbild nur eine spezifische Variante neben anderen ist. Als Motiv der mittelalterlichen mittelhochdeutschen Literatur macht aber gerade die Situierung in einem vielschichtigen Kulturzusammenhang ihren Reiz aus. Dem heutigen Leser sind sie nicht allein ein Fenster in die eigene (europäische) Vergangenheit des Mittelalters, in der sie uns als befremdliche Praxis entgegentreten. Gottesurteile sind vielmehr Formen der Erkenntnisgewinnung, die noch sehr viel weiter in die Vergangenheit zurückzureichen scheinen und gleichzeitig auch mit entfernten Kulturkreisen verbunden sind. An den Offenbarungswert der Ordale werden ‚wir Aufgeklärten‘ sicher nicht mehr glauben können, deren doppelbödige Faszination bleibt davon jedoch unberührt.
Ebd., S. 62. Ebd., S. 65.
Felix Prautzsch
Geheimnis und Offenbarung des Glaubens Zur Konstruktion christlicher Gemeinschaft im legendarischen Erzählen Abstract: The dialectic of mystery and revelation of faith is at the heart of all religious communication and therefore fundamentally inscribed in legendary storytelling. Among its elementary narrative operations is the positioning of the narrative dance, which, through various degrees of participation in the narrative, creates an asymmetrical we/they constellation and negotiates the limits of faith: while the mystery of the faith of which the saint preaches and which he symbolically represents in his sanctification is always already apparent to the Christian audience, the pagans remain ‘blind’ to Christian truth if they do not accept and recognize it in becoming believers themselves. Using the example of the legend of the apostle Andrew, who preaches the ‘mystery’ of the cross to the pagan governor who is persecuting him, which he then claims to accomplish in martyrdom itself, this article examines the narrative construction of Christian community as a community of believers in the knowledge and acceptance of faith. A comparison of the different versions of the legend of Andrew in the ‘Legenda aurea’ and in the vernacular ‘Passional’ shows how what is negotiated in diegesis opens up to the extradiegetic community of reception and constitutes it as a community of believers. Keywords: Legendarisches Erzählen, Martyrium, religiöse Kommunikation, mysterium, Heiligkeit, Heidentum, communio sanctorum, Gemeinschaft der Gläubigen
1 Vom ‚Mysterium des Kreuzes‘ Vom Apostel Andreas, dem in der kirchlichen Tradition als dem ‚Erstberufenen‘ ein Ehrenrang innerhalb der Zwölferschar zukommt, wird in der ‚Legenda aurea‘, der großen und maßgeblichen Legendensammlung des lateinischen Mittelalters, berichtet, wie er nach der Himmelfahrt des Herrn in Skythien und Bithynien, also wohl in der Dobrudscha und in Kleinasien, den christlichen Glauben verkündet, und unter Aufbietung zahlreicher herausragender Wunder, darunter gar die Auferweckung vierzig Ertrunkener, etliche Heiden bekehrt. Schließlich sei er nach Achaia, also Griechenland, gelangt und totam eam ecclesiis implevit ac populus ad fidem Christi convertit („erfüllte […] das ganze Land mit Kirchen und bekehrte die Leute zum Glauben
Dr. Felix Prautzsch, Technische Universität Dresden, Institut für Germanistik, 01062 Dresden, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-004
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Christi“).¹ Unter den Bekehrten ist auch die Frau des Prokonsuls Ägeas, der daraufhin nach Patras eilt und die dortigen Christen zwingen will, den heidnischen Göttern zu opfern. Doch tritt ihm der Apostel entgegen, lehnt diese Forderung als Götzendienst ab und kehrt sie um, indem er nun seinerseits den heidnischen Statthalter auffordert, sich zum christlichen Gott zu bekehren. Zwischen beiden entspinnt sich daraufhin ein heftiges Streitgespräch über die Wahrheit der christlichen Botschaft, dessen tödliche Dramatik gleich zu Beginn markiert wird, wenn der Heide dem Apostel, als einem berufenen Nachfolger Christi in der Verkündigung, entgegnet: Ista vana Iesus vester praedicans crucis patibulo est affixus. („Diesen Unsinn hat euer Jesus gepredigt und ist deshalb ans Kreuz geschlagen worden.“)² Denn dass Christus zur Rettung der Menschheit freiwillig ans Kreuz gegangen sei, will er nicht glauben. Andreas versucht ihm dies mit fünf Belegen aus den Evangelien zu beweisen, beglaubigt seine Argumentation sogar mit seiner eigenen Augenzeugenschaft des Leidens und der Auferstehung Christi, beruft sich schließlich aber darauf, quod mysterium crucis magnum esset („daß das Geheimnis des Kreuzes groß sei“).³ Ägaes erwidert darauf, man könne das nicht ein mysterium nennen, denn es sei ein supplicium, also eine Strafe beziehungsweise Hinrichtung, und ergänzt mit ironischer Polemik: Wenn Andreas seinen Worten nicht gehorche, würde er ihn dieses mysterium selber kennen lernen lassen.⁴ Der Apostel lässt sich davon natürlich nicht schrecken und entgegnet, wenn er das Kreuz fürchten würde, würde er auch seinen Ruhm nicht predigen; er wolle aber das mysterium der Kreuzes verkünden, damit Ägaes daran glauben und errettet werden könne.⁵ Aber auch die Predigt des Heiligen über das Geheimnis des Leidens, mysterium passionis (LA 112), und die fünf Gründe, warum es sinnvoll und notwendig sei, können den heidnischen Statthalter nicht überzeugen. Der Fortgang der Auseinandersetzung folgt schließlich ganz den hergebrachten Mustern christlicher Märtyrerlegenden: Auf das Verhör folgen Folter und Kreuzigung, letztere in besonders brutaler Form, denn der Apostel wird nicht ans Kreuz genagelt, sondern an Händen und Füßen nur daran gebunden, damit er länger leide. Andreas aber begrüßt das Martyrium und wehrt die umstehende Menge ab, die es noch abwenden will, weil er doch unschuldig sei.
Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Goldene Legende. Lateinisch–Deutsch, hrsg. von Bruno W. Häuptli (Fontes Christiani Sonderband), Freiburg 2014, S. 110. Im Folgenden unter Angabe der Seite des lateinischen Textes zitiert. Ebd., S. 110. Ebd., S. 112. Wobei die Übersetzung von ‚Mysterium‘ mit Geheimnis einseitig und problematisch ist, wie ich im Folgenden zeigen werde. Vgl. ebd., S. 112: Mysterium dici non potest, sed supplicium. Veruntamen nisi dictis meis obtemperaveris, ipsum mysterium te faciam experiri. Vgl. ebd., S. 112: Si crucis patibulum expavescerem, crucis gloria non praedicarem. Audire autem te volo mysterium crucis, si forte credas agnitum, ut salveris.
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Schon von weitem grüßt er das Kreuz mit einem Hymnus, der das mysterium der Erlösung durch den Kreuzestod Christi weiter verdichtet: Salve crux, quae in corpore Christi dedicata es et ex membris eius tamquam margaritis ornata. Antequam te ascenderet dominus, timorem terrenum habuisti, modo vero amorem caelestam obtinens pro voto susciperis. („Sei gegrüßt, Kreuz, das du dem Leib Christi geweiht und mit seinen Gliedern wie mit Perlen geschmückt bist. Bevor der Herr dich bestieg, enthieltest du irdischen Schrecken, nun aber, da du himmlische Liebe birgst, nehme ich dich gerne auf mich.“)⁶ Das christliche Zeugnis und Bekenntnis, so wird hier deutlich, geht also nicht in der Verkündigung des Glaubens im Wort auf, sondern meint gerade auch das Eintreten dafür mit dem eigenen Leben. Das Kreuz steht dabei nicht nur sinnbildlich oder pars pro toto für die Botschaft des christlichen Glaubens, vielmehr stellt es als solches ganz konkret das Grundprinzip und den Kern des Christentums dar.⁷ Entsprechend bleibt das mysterium crucis in der Andreaslegende kein abstrakter Gegenstand eines bloß rhetorischen philosophischen Disputs, sondern führt in der Erzählung zu einer existentiellen Entscheidung, die die Scheidung von Glaube und Unglaube, von Christentum und Heidentum offenbar macht: Das ‚Wort vom Kreuz‘ muss dem Heiden Ägeas als ‚Torheit‘ erscheinen,⁸ weil er die ihm inhärente paradoxale Logik – wonach die Kreuzigung Christi zu dessen Auferstehung führte und davon ausgehend der irdische Tod des Gläubigen in seiner Nachfolge den Beginn des ewigen Lebens bedeutet – nicht begreifen kann oder nicht annehmen will; mangels dieser Erkenntnis bleibt ihm die Botschaft des christlichen Glaubens insgesamt unzugänglich. Für Andreas hingegen wird gerade die aus christlicher Sicht nur vordergründige Paradoxie in der Konfrontation mit dem heidnischen Christenverfolger zum
Ebd., S. 114. Die Kreuzform, die in der Ikonographie seit dem späten Mittelalter mit dem Apostel und darüber hinaus schließlich mit seinem Namen allgemein verbunden ist, formt das alte Christussymbol des griechischen χ nach und vergegenwärtigt damit das mysterium crucis, das im Martyrium des Jüngers seine konsequente Fortsetzung und konkreten Ausdruck findet, auf bildliche Weise. Zunächst trägt Andreas allerdings, nicht als individuelles Attribut, sondern wie alle Märtyrer, als Zeichen des Todes für Christus und seine Herrlichkeit ein Handkreuz, später ein Vortragskreuz. Das lateinische Kreuz als Triumphzeichen und nicht als Marterwerkzeug bleibt in seiner Ikonographie in Frankreich und Italien bis Anfang des 15. Jahrhunderts vorherrschend, in der deutschen, spanischen und niederländischen Kunst findet sich das Andreaskreuz seit 1300 und wird im Laufe des 15. Jahrhunderts zur ausschließlichen mit Andreas verbundenen Kreuzform, auch wenn es in der Gegenreformation als Irrtum abgetan wird.Vgl. Martin Lechner: Andreas (Apostel), in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5 (1974), Sp. 138 – 152, hier Sp. 141– 143. Mit der Scheidung von Glaube und Unglaube angesichts der ‚Botschaft vom Kreuz‘ schreibt sich die Andreaslegende in das entsprechende paulinische Denkmuster ein, das die vermeintliche Torheit für die zum Glauben Berufenen zum Ausdruck der Kraft und Weisheit Gottes erklärt, angesichts derer sich die ‚Weisheit der Welt‘ als die eigentliche Torheit entlarven müsse (1. Korinther 1, 18 – 25). Die Bibel zitiere ich im Folgenden nach: Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta, hrsg. v. Robert Weber u. Roger Gryson, Stuttgart 2007. Für die deutsche Übersetzung zitiere ich: Die Luther-Bibel, Revision 1984.
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zentralen Antrieb für die höchste Form der Nachfolge, die größtmögliche symbolisch wie real zu verstehende Christusförmigkeit im Martyrium. Im Martyrium soll dabei das mysterium crucis et passionis für alle, die es annehmen wollen, offenbar werden, deshalb und nicht etwa aus eigennützigem Streben nach der Heiligkeit – so zumindest die Inszenierung der Legende – begrüßt Andreas es voll Freude: Zwei Tage, so heißt es in der ‚Legenda aurea‘, habe der Apostel lebendig am Kreuz gehangen und 20 000 Menschen gepredigt. Noch und gerade vom Kreuz herab verkündet er also den christlichen Glauben und die Umstehenden erkennen in ihm offenbar nicht den verurteilten Verbrecher und zu Recht Sterbenden, sondern den Heiligen. Als die umstehende Menge sich schließlich gegen Ägeas zu wenden droht, weil ein so heiliger, sanftmütiger und frommer Mann wie Andreas solches nicht erleiden dürfe, will der heidnische Statthalter ihn vom Kreuz herabholen lassen. Doch gelingt das seinen Leuten nicht, denn ihre Arme erlahmen, und Andreas spricht zu ihm, dass er nicht lebend vom Kreuz herabsteigen werde, da er der himmlischen Herrlichkeit schon so nahe sei: Iam enim video regem meum, qui me exspectat. („Denn schon sehe ich meinen König, der mich erwartet.“)⁹ Und als die Menge ihn schließlich selbst vom Kreuz herabholen will, betet er zu Gott, er möge ihn von der Last seines irdischen Leibes befreien, und unter einem überwältigenden Glanz vom Himmel gibt er seinen Geist auf. Die Frau des Ägeas sorgt schließlich für die ehrenvolle Bestattung des Leichnams, der Heide selbst aber wird von einem Dämon gepackt und stirbt vor aller Augen. Auch die Bestrafung, die ewige Verdammnis des Christenverfolgers, der bis zuletzt das mysterium nicht erkennen will, das doch wahrnehmbar vor ihm steht, ist sichtbarer Teil des öffentlichen Aktes des Martyriums und verhandelt vor aller Augen, intradiegetisch wie extradiegetisch, die Grenzen des Glaubens. Das mysterium crucis bleibt darin keine bloße Formel, gewinnt vielmehr eine narrative Funktion dergestalt, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens nicht nur postuliert wird, sondern sich in der Handlung selbst erweist, also erzählerisch prozessualisiert wird. Das zielt nun aber wesentlich auf das textexterne Publikum des Martyriums und die funktionale Einbindung einer solchen Legende in eine religiöse Kommunikationssituation, in der sich die Gläubigen zu denjenigen zählen dürfen, die im Martyrium des Apostels das mysterium crucis erkennen – während es den Heiden, zuvorderst dem antichristlichen Eiferer Ägeas, verborgen oder rational uneinsichtig bleibt.
2 Erzählen vom Geheimnis des Glaubens Die dynamische Dialektik von Geheimnis und Offenbarung des Glaubens, die sich im gläubigen Mitvollzug beziehungsweise der Entscheidung der Gläubigen konkretisieren muss, ist dem legendarischen Erzählen grundlegend eingeschrieben. Denn es will
Jacobus de Voragine, Legenda aurea (Anm. 1), S. 114.
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einerseits die immer schon geglaubte – und außerliterarisch im Kult verbürgte – Heiligkeit des Heiligen vergegenwärtigen, muss diese dazu andererseits aber in seiner Vita prozesshaft darstellen, also narrativ ‚beweisen‘, indem sie zeigt, wie sich in seinem Leben der Durchbruch der Transzendenz in die Immanenz ereignet.¹⁰ Narratologisch betrachtet ist das ein paradoxes Unterfangen und das gilt nicht nur im Hinblick auf die persönliche Heiligkeit des Protagonisten der Legende, sondern gerade auch für den inneren Gehalt seiner Botschaft: Denn wie sollte glaubhaft von etwas erzählt werden, woran im Letzten nur geglaubt werden kann, das ein Geheimnis oder mysterium ¹¹, jedenfalls der menschlichen Verfügbarkeit entzogen ist und bleiben muss, weil es sonst seine transzendente Bedeutung verlöre? Dass der Tod eines Heiligen nicht seinen Sterbetag markiert, sondern seinen eigentlichen Geburtstag, dass auf das Martyrium die Aufnahme in die communio sanctorum, die himmlische Gemeinschaft der Heiligen, folgt, kann wohl behauptet und erzählt werden – zu beweisen ist es nicht. Und nur in der gläubigen Annahme entfaltet diese Botschaft ihre Wirkung. Ein solches Sprechen über oder Erzählen vom Geheimnis ist aber nun der Kern religiöser Kommunikation überhaupt und hat in ihr eine zentrale Funktion. Denn systemtheoretisch betrachtet beruht Religion auf der grundlegenden Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz. Religiös ist Kommunikation mit Luhmann immer dann, „wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrach-
So die narrative Logik des legendarischen Erzählens, wie sie Peter Strohschneider ausgehend von Niklas Luhmanns Modell religiöser Kommunikation entwickelt hat und seitdem die germanistisch-mediävistische Legendenforschung bestimmt. Vgl. Peter Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Alexius‘, in: Gert Melville u. Hans Vorländer (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 109 – 147, hier S. 113. Die Gleichsetzung des griechischen Begriffs μυστήριον mit dem deutschen Wort ‚Geheimnis‘ im Sinne von secretum ist eine auf Luther zurückgehende Reduktion des eigentlich Gemeinten. Denn das christliche ‚Geheimnis‘ ist gerade eines, das nicht verborgen bleiben, sondern ganz im Gegenteil offenbart und gewusst werden soll. Im Umfeld des Neuen Testaments bezeichnet μυστήριον keine Arkandisziplin im Sinne der antiken Mysterienreligionen, sondern eine Offenbarung, die sonst nicht zugänglich ist, aber nun mit größtmöglicher Öffentlichkeit kundgetan werden soll. Was bislang in Gott ‚verborgen‘ war, soll ‚jetzt‘ allen kundgetan werden, so begründet auch Paulus sein Amt als Apostel unter den Heiden: quæ data est mihi in vos, ut impleam verbum Dei: mysterium, quod absconditum fuit a sæculis, et generationibus, nunc autem manifestatum est sanctis eius (Kolosser 1, 25 – 26, „Ihr Diener bin ich geworden durch das Amt, das Gott mir gegeben hat, dass ich euch sein Wort reichlich predigen soll, nämlich das Geheimnis, das verborgen war seit ewigen Zeiten und Geschlechtern, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen“, ganz ähnlich auch in Epheser 3, 5 – 9 [Anm. 8]). Dieses sogenannte ‚Revelationsschema‘ betont in seiner temporalen Akzentuierung der Dialektik von Geheimnis und Offenbarung die heilsgeschichtliche Wende in Christus. So erkennt wiederum Paulus, im Anschluss an die Rede von der Weisheit der Welt, die eine Torheit vor Gott sei (vgl. Anm. 8), im gekreuzigten Christus das offenbarte Geheimnis Gottes (1. Korinther 2, 1– 7 [Anm. 8]). Vgl. Elke Kruitschnitt u. Guido Vergauwen: Geheimnis, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, 3. Aufl. (1995), Sp. 355 – 356, hier Sp. 355; Michael Theobald, Mysterium, II. Biblisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, 3. Aufl. (1998), Sp. 577– 579, hier Sp. 579.
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tet“¹², zum Beispiel eben dann, wenn das Sterben im Martyrium nicht als Niederlage, sondern als Sieg verstanden wird. Die Funktion der Transzendenz beziehungsweise der ihr zugrundeliegenden Unterscheidung ist dabei Sinngebung. Diese geschieht zunächst vor allem in der „Einschränkung von Kommunikation durch die Form des Geheimnisvollen“, das sich nicht allen immer und gleichermaßen erschließt: „Das Sakrale distinguiert und schützt sich selbst durch die Form des Geheimnisses gegen Trivialisierung.“¹³ Der Vorteil der Darstellung des Sakralen als eines Geheimnisses besteht in ihrer Doppeldeutigkeit, denn das Wahrgenommene wird verfremdet, zugleich aber im Zustand des Wahrnehmbaren gehalten. Auf diese Weise kann das Geheimnis in der Kommunikation vorausgesetzt werden: „Es bleibt ein Mysterium, das es, wie man zeigen kann, gibt. Man sieht es, weil auch andere es sehen.“¹⁴ Damit wird auch das Problem umgangen, dass Geheimnisse in der Kommunikation nie konstruiert, sondern immer nur dekonstruiert, erraten und verraten – oder eben in der religiösen Eigenlogik: ‚enthüllt‘ und ‚offenbart‘ – werden können: „Sie können nicht ohne performativen Widerspruch als Artefakt der Kommunikation dargestellt werden.“¹⁵ Der Ausweg liegt darin, dass das Geheimnis als Widerspruch oder Paradox dargestellt wird. So ist ja auch das Martyrium, das des Andreas’ wie als Denkfigur insgesamt, Gegenstand einer paradoxen Sinngebung – Tod gleich Leben, Niederlage gleich Sieg –, in der sich das ‚Mysterium des Kreuzes‘ konkretisiert. Zugleich aber gilt: „Solange das Mysterium im Bereich des Wahrnehmbaren gehalten bleibt, kann man sich noch gut vorstellen, daß die Unterscheidung kollabiert“¹⁶, dass das Sakrale also nicht nur repräsentiert wird, sondern sich selbst offenbart, soll heißen: sich ‚ereignet‘ und wirksam wird. Mit der Vorstellung einer Vergegenwärtigung des Heils aber ist die höchste Form religiöser Sinngebung erreicht: Die Transzendenz manifestiert sich in der Immanenz und verleiht allem innerweltlichen Geschehen seinen Sinn. Diese Funktion des Geheimnisses in der religiösen Kommunikation lässt sich nun auch dezidiert narratologisch formulieren, wenn man danach fragt, wer eigentlich vom Geheimnis erzählt und für wen er es erzählt. Denn wie beispielsweise Albrecht Koschorke in seiner Verbindung von Kulturtheorie und Narratologie herausgearbeitet hat, ist eine der elementaren narrativen Operationen die Positionierung der Erzählinstanz, die etwas wahrnimmt und davon spricht, und dabei über verschiedene
Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hrsg. v. André Kieserling (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1581), Frankfurt a. M. 2002, S. 77. Ebd., S. 60 – 61. Ebd., S. 61. Ebd. Ebd. Wenn Luhmann in seinen Ausführungen nicht zwischen ‚Mysterium‘, ‚Geheimnis‘ und dem ‚Geheimnisvollen‘ unterscheidet, dann wohl sicher einerseits deshalb, weil es ihm nicht um eine ontologische Beschreibung geht, sondern um die Funktionsweise des mit diesen Begriffen Bezeichneten in der Kommunikation. Andererseits zeigt er sich damit in seiner Logik der religiösen Kommunikation dem christlichen Offenbarungsverständnis auf entscheidende Weise verhaftet, vgl. Anm. 11.
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Grade der Partizipation am Erzählten eine asymmetrische Wir/Sie-Konstellation entwirft.¹⁷ Denn das in einer Erzählung Mitgeteilte ist nicht unbedingt an jeden gerichtet und nicht von jedem zu verstehen, nicht jeder wird gleichermaßen einbezogen. Es geht also auch um Grade der Wahrnehmungsfähigkeit, der Subjektfähigkeit, die den einzelnen Akteuren in der Handlung zugestanden wird. In der Verhandlung von Optionen der Inklusion und Exklusion konstruieren Erzählungen auf diese Weise eine „Wir-Gemeinschaft“, die wohl fast immer mit der „Gruppe der ‚Guten‘“ übereinstimmt.¹⁸ Und das gilt sowohl textintern als textextern, denn was die Erzählinstanz intradiegetisch als Gemeinschaft konstruiert, betrifft und umfasst auch die extradiegetische Rezeptionsgemeinschaft. So ist Wahrnehmung als Kategorie einer kulturtheoretisch argumentierenden literaturwissenschaftlichen Analyse auf zwei Ebenen zu verorten: „auf der Ebene zwischen dem Rezipienten und dem Text einerseits und auf der textinternen zwischen den Figuren andererseits (wobei nicht zu übersehen ist, daß beide Ebenen ineinander greifen)“.¹⁹ Für die Konstruktion der christlichen Gemeinschaft als Gemeinschaft der Gläubigen, sowohl in der Legende selbst als auch diese auf ihr im gläubigen Mitvollzug vereintes Publikum hin überschreitend, bietet sich jedenfalls gerade die Form des Geheimnisses an, Inklusion und Exklusion in die entworfene „Wir-Gemeinschaft“ zu verhandeln und religiösen Sinn im Luhmannschen Sinne zu prozessieren, also herzustellen und zu vermitteln. Denn in der gläubigen Annahme der Glaubenswahrheiten, die überhaupt erst ihr Offenbarwerden ermöglicht, oder eben ihrer blinden Ablehnung werden die Grenzen des Heils sichtbar, nicht nur innerhalb der Erzählung der Legende, sondern in der existenziellen Entscheidung jedes Menschen. Gerade den christlichen Märtyrerlegenden ist solch eine Konfrontation von Glaube und Unglaube grundlegend eingeschrieben, in der Begegnung eines Heiligen mit den Heiden verdichten sie diese exemplarisch und fast schon ins Symbolhafte. Das Christliche erscheint hier nicht als solches ‚an sich‘, sondern in seiner Behauptung gegenüber dem Heidentum.²⁰ Denn das Martyrium ist ein öffentlicher Akt und in seinem Wesen untrennbar mit der missionarischen Sendung der Apostel und der nachfolgenden Christen verbunden. Es geht dabei nicht nur und zumindest im ur-
Vgl. Albrecht Koschorke,Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, S. 84– 96. Vgl. ebd., S. 90 – 91, Zitate S. 91. Ingrid Kasten, Wahrnehmung als Kategorie der Kultur- und Literaturwissenschaft, in: John Greenfield (Hg.), Wahrnehmung im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio international 15 e 16 de Novembro de 2002, Porto 2004, S. 13 – 36, hier S. 9 – 20. Vgl. dazu Felix Prautzsch, Der heilige Franziskus vor dem Sultan. Erzählen von religiösen Gegensätzen und die Ästhetik der Legende, in: Olivia Kobiela u. Lena Zschunke (Hgg.), Himmlisch, irdisch, höllisch. Religiöse und anthropologische Annäherungen an eine historisierte Ästhetik, Würzburg 2019, S. 295 – 335, besonders S. 299 – 306, sowie insgesamt den Ansatz meiner Dissertation Felix Prautzsch, Heilige und Heiden im legendarischen Erzählen des 13. Jahrhunderts. Formen und Funktionen der Aushandlung des religiösen Gegensatzes zum Heidentum (Literatur – Theorie – Geschichte. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 20), Berlin, Boston 2021.
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sprünglichen und eigentlichen Verständnis nicht vordergründig um eine Form der Selbstheiligung, sondern um ein Zeugnis vor der Welt, dass die kategoriale Scheidung von Glaube und Unglaube, von Christen und Heiden erkennbar werden lässt, indem es im mysterium crucis die christliche Wahrheit, als das ‚Geheimnis‘ des Glaubens, offenbar macht. Narrativ entfaltet wird dies in einer „paradoxale[n] Logik der Inversion von Gegensätzen“, wonach „[i]m Zeichen des Martyriums […] Schwäche zu Stärke, Schmerz zu Lust, Niederlage zum Sieg, Tod zum Leben“ wird,²¹ ganz so wie Andreas unter transzendenten Gesichtspunkten seinen Tod am Kreuz in der Nachfolge Christi als Teilhabe an dessen mysterium passionis versteht, das aber nicht am Kreuz endet, sondern zur Auferstehung beziehungsweise der Aufnahme des Heiligen in die himmlische Gemeinschaft mit Gott führt. Der rein immanenten heidnischen Logik muss dies freilich als Torheit oder gar Wahn erscheinen, wenn sie nicht bereit ist, sie im Glauben als die höhere Wahrheit anzunehmen, die alle weltlichen Kategorien übersteigt und entwertet.²² Nicht nur in der Andreaslegende, sondern auch in vielen anderen Legenden, findet sich eine solche Auseinandersetzung mit den ‚Ungläubigen‘, die entweder ‚blind‘ gegenüber der durch den Heiligen bezeugten Wahrheit sind und diese ‚verstockt‘ ablehnen oder aber das mysterium, das Geheimnis des Glaubens, erkennen und sich bekehren. Denn der Logik des christlichen Gegensatzes zum Heidentum entspricht, dass die Heiden nicht von vornherein verdammt und exkludiert sind, sondern immer auch und noch die Möglichkeit haben, sich zu bekehren, damit des Geheimnisses teilhaftig und in die Wir-Gemeinschaft inkludiert zu werden. Beides hat seine narrative und identitätsstiftende Funktion: der bis zum Schluss blindwütige Christenverfolger und die angesichts des standhaften Bekenntnisses des Märtyrers Neu-Konvertierten, die mitunter gleich ihrerseits bereitwillig ins Martyrium gehen, um den neuen Glauben zu bezeugen.²³ Und es ist sicher kein Zufall, dass gerade die Frauen verstockter heidnischer Statthalter oder deren Kerkermeister und Henker selbst sich bekehren. Sie alle sind Exempelfiguren für die existentielle Entscheidung, die die christliche Botschaft verlangt. Denn so wie diesen im Zeugnis des Märtyrers das Geheimnis des Glaubens offenbar wird, so sollen es auch die Rezipienten der Legende annehmen, die in der Ansprache der Legende zur Gemeinschaft der Gläubigen werden. Andreas Kraß, Der heilige Eros des Märtyrers. Eine höfische Georgslegende des deutschen Mittelalters, in: Ders. u. Thomas Frank (Hgg.), Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums (Fischer Taschenbuch 18109), Frankfurt a. M. 2008, S. 143 – 168, hier S. 166. Der heidnische Vorwurf, der christliche Glaube sei ein Wahn, ist topisch. So gelten schon Plinius dem Jüngeren in seinem Brief als Legat in Bithynien und Pontus an Kaiser Trajan Anfang des 2. Jahrhunderts die Christen als in einem Wahn (amentia) Befangene. Vgl. Theofried Baumeister, Gott oder die Götter? Das Martyrium als Gewissensfrage im frühen Christentum, in: Mariano Delgado (Hg.), Ringen um die Wahrheit. Gewissenskonflikte in der Christentumsgeschichte (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 15), Freiburg (Schweiz) u. a. 2011, S. 95 – 108, hier S. 97. Zu dieser doppelten Funktion der Heiden als Zeugen des Martyriums vgl. Prautzsch, Heilige und Heiden (Anm. 20), S. 149 – 152.
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3 Konfrontation von Glaube und Unglaube Das ist nun allerdings nicht erst eine spezifische Funktion des mittelalterlichen legendarischen Erzählens, sondern gründet in dessen Ursprüngen in der frühchristlichen Märtyrerliteratur. Die apoykryphen Apostelakten sind dabei neben apologetischen Schriften und den eigentlichen Märtyrerakten als eine eigene Form der komplexen Selbstdefinition des noch jungen Christentums des 2. und 3. Jahrhunderts gegenüber der herrschenden heidnischen Mehrheitsgesellschaft und griechisch-römischen Kultur zu verstehen: Während die Apologien einem systematischen philosophisch-diskursiven Ansatz folgen und sich bemühen, die Inhalte der neuen Religion in Übereinstimmung mit und gar als Erfüllung der überkommenen Philosophie darzustellen, erweisen sich die Erzählungen von Märtyrern und Aposteln als eine Form narrativer Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung, die gerade die Erfahrung religiöser Konfrontation in Ablehnung und Verfolgung bearbeitet.²⁴ Die Apostelakten sind ein Korpus von fünf Schriften, die zwischen 150 und 220 entstanden und jeweils einem Apostel gewidmet sind, darunter auch die nicht mehr vollständig in der griechischen Originalfassung erhaltenen ‚Acta Andreae‘, auf welche – über Zwischenstufen – die Andreaslegende der ‚Legenda aurea‘ zurückgeht. Diese Texte zeichnen sich neben dem besonderen Rang ihrer Protagonisten, die ja als unmittelbare Zeugen der Auferstehung Christi dazu berufen sind, den Glauben in der Welt zu verbreiten, gegenüber den Märtyrerakten durch einen deutlich fiktionalen Charakter aus – ihre narrativen Struktur und Motive greifen die des antiken Romans auf – und erscheinen daher als historisch noch weit weniger glaubhaft.²⁵ Für das zeitgenössische Publikum wie in der späteren Tradierung ist dieser Unterschied aber nicht so einfach auszumachen beziehungsweise von untergeordneter Relevanz, denn die Apostel gelten bald allesamt und ganz selbstverständlich als Märtyrer, diese folgen wiederum gerade dem Ideal der Apostel in der Verkündigung des Glaubens in der Nachfolge Christi, falls nötig bis in den Tod. Der hagiographische Stil ist beiden Textsorten, ausgehend vom narrativen Kern und inhaltlich bestimmenden Motiv des Martyriums, ohnehin gemeinsam. Die Vorstellung des Martyriums als Glaubenszeugnis im Sterben für Gott, das im Moment des Todes mit der Aufnahme des Sterbenden in die himmlische communio sanctorum belohnt wird, bietet dabei nicht nur eine kompensatorische Gegenerzählung angesichts der erlittenen Verfolgungen, sondern ermöglicht mehr noch eine triumphale Umkehrung, wenn sie die Hinrichtung in eschatologischer Dimension zu einem Machterweis des Christentums über die heidnische Ohnmacht erklärt: „The martyrs not only resist the Roman temporal power but also place themselves in a
Vgl. Helen Rhee, Early Christian Literature. Christ and Culture in the Second and Third Centuries (Routledge Early Church Monographs), London, New York 2005, S. 1– 2, außerdem Prautzsch, Heilige und Heiden (Anm. 20), S. 104– 112.. Vgl. Rhee (Anm. 24), S. 3 – 4.
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higher tribunal than their earthly persecutors by pronouncing God’s eschatological judgement upon the persecutors.“²⁶ Dieses Schema realisieren die Apostelakten in einer besonderen narrativen Zuspitzung: Die zentrale Botschaft in der Erzählung von den Reisen und Wundertaten, der Verkündigung und Verfolgung und schließlich dem Märtyrertod der jeweiligen Apostel ist die Keuschheit. Die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum wird als Streit zweier Männer um dieselbe Frau in einem ‚apostolischen Dreiecksverhältnis‘²⁷ inszeniert, wobei die Liebe zwischen dem Apostel und der Frau eines heidnischen Würdenträgers natürlich eine geistliche ist, die zu ihrer Bekehrung und Enthaltsamkeit führt – was wiederum der eigentliche Anlass für die Verfolgung des Apostels ist. Wegen ihrer enkratitischen, leibfeindlichen, dualistischen und doketischen Tendenzen haben die Apostelakten gerade in gnostischen und manichäistischen Kreisen ihre Verbreitung gefunden, wurden daher aber von der offiziellen Kirche abgelehnt, auch wegen ihrer offensichtlich fantastischen Elemente. Eusebius von Caesarea, der die Andreasakten in seiner ‚Kirchengeschichte‘ Anfang des 4. Jahrhunderts erstmals erwähnt, nennt sie „Fiktionen von Häretikern“, die „als völlig fehl und als religionswidrig“ zu verwerfen seien.²⁸ Andere Autoren hingegen sind ganz offensichtlich weniger kritisch in ihrer Einschätzung; der ‚Liber de miraculis de Beati Andreae Apostoli‘, den Gregor von Tours kurz vor seinem Tod 593 verfasst hat, verbreitet die Andreasakten im Westen, bietet den Martyriumsschluss aber nur stark gekürzt. Der Andreaslegende der ‚Legenda aurea‘ liegt neben dem Neuen Testament in diesem Teil vor allem die älteste lateinische Bearbeitung der Andreasakten zugrunde, eine ‚Passio Andreae‘ aus dem 5./6. Jahrhundert,²⁹ der sie vielfach wörtlich folgt, ganz so wie es dem kompendienhaften Charakter dieses Legendars entspricht, das das überlieferte Geschehen dennoch ihrem spezifischen Funktionszusammenhang entsprechend umgestaltet. Dieser ist entgegen den Annahmen in der älteren Forschung, die in der weit verbreiteten und vielfach rezipierten ‚Goldenen Legende‘ ein Erbauungsbuch für Laien, gar das ‚Volksbuch‘ des Mittelalters schlechthin zu sehen können glaubte, zunächst einmal im klerikalen Bereich zu suchen. Als Verfasser der ‚Legenda aurea‘ gilt der hochrangige Dominikaner und spätere Erzbischof von Genua Jacobus de Voragine, wobei eher von einem Redaktionskreis
Ebd., S. 186: „Die Märtyrer widersetzen sich nicht nur der römischen weltlichen Macht, sondern stellen sich auch vor ein höheres Tribunal als ihre irdischen Verfolger, indem sie Gottes eschatologisches Urteil über die Verfolger verkünden.“ (Übersetzung Felix Prautzsch). Rhee spricht (ebd., S. 132) von einem „apostolic love triangle“. Eusebius von Caesarea: Kirchengeschichte, hrsg. v. Heinrich Kraft, Übersetzung von Philipp Haeuser (1932), durchgesehen von Hans-Armin Gärtner, 6. Aufl., München 2012, S. 176 (III, 25, 7). Vgl. Jacobus de Voragine, Legenda aurea (Anm. 1), S. 101, Anm. 112. Zur lateinischen Überlieferung der Andreasakten vgl. Jean-Marc Prieur u. Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, hrsg. v. Wilhelm Schneemelcher, 5. Aufl., Tübingen 1989, S. 93 – 137, hier S. 95 – 96.
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auszugehen ist, der in den Jahren um 1264 diese Legendensammlung erstellt, die einzelnen Erzählungen dabei aber nicht nur wiedergibt, sondern auch scholastischexegetisch kommentiert und mit ausführlichen Erläuterungen zu den einzelnen Festen in den Lauf des Kirchenjahres einordnet. Das entspricht ganz der Zielsetzung des Predigerordens, der wie die anderen Bettelorden eines seiner Betätigungsfelder in der volkssprachigen Predigt und Unterweisung findet und dabei hagiographische Stoffe katechetisch-paränetische Zwecke nutzt. Ihre weite und rasche Verbreitung verdankt die ‚Legenda aurea‘ schließlich ihrer Verwendung als Handbuch für Predigtübungen im weit verzweigten dominikanischen Schulsystem, das sich bald auch dem Säkularklerus und damit breiten geistlichen Kreise öffnet.³⁰ Erst diese Verbreitung im lateinisch-kirchlichen Bereich schafft die Voraussetzung für die vielfältigen Adaptionen in allen europäischen Volkssprachen. Mit ihrer Konfrontation von Glaube und Unglaube im Disput zwischen Apostel und heidnischem Statthalter folgt die ‚Legenda aurea‘ sehr nah ihrer Vorlage, nimmt aber einige signifikante Umstellungen vor. Auf den Vorwurf des Ägeas, die christliche Lehre sei Wahn und Aberglaube, also gleich zu Beginn der Auseinandersetzung, antwortet Andreas in der ursprüngliche(re)n Fassung mit dem Ausruf: O si uellis scire misterium crucis, quam rationabili caritate auctor humani generis pro restauratione nostra hoc crucis patibulum non inuitus sed sponte suscepit. („Oh wenn du nur das Mysterium des Kreuzes erkennen wolltest, das der Schöpfer des menschlichen Geschlechts aus vernünftiger Liebe zu unserer Wiederherstellung an diesem Kreuz nicht gegen seinen eigenen Willen, sondern freiwillig erduldet hat.“)³¹ Gleich zu Beginn ist hier als die Rede vom ‚Mysterium‘ des Kreuzes, das zugleich Ausdruck der ‚vernünftigen‘, also heilslogisch, aus gläubiger Sicht sub specie aeternitatis, höchst nachvollziehbaren Liebe Gottes zu seiner Schöpfung ist. Den Inhalt des Disputs übernimmt die ‚Legenda aurea‘ sehr getreu ihrer Vorlage, gliedert die darin entwickelte Argumentation aber logisch in scholastisch-rubriziender Weise. Dabei löst sie sich von der engen Dialogstruktur aus Frage und Vorwurf des Heiden sowie Antwort und Verteidigung des Apostels, wenn sie die fünf Beweise für das freiwillige Leiden Christi sowie die weiteren fünf für den Wert des Leidens, die erst hier zum mysterium passionis erklärt werden, jeweils in monologischer Reihe anordnet. Auch die Art der Zuspitzung des Disputs übernimmt die ‚Legenda aurea‘ aus der älteren ‚Passio‘: Auf die Predigt über das mysterium passionis entgegnet Ägeas, solches könne Andreas seinen Leuten erzählen, die das glauben; entweder er opfere den allmächtigen Göttern oder aber er müsse am Kreuz sterben. Darauf antwortet der Apostel ihm mit einem bildhaften – und intradiegetisch gedacht – für den Heiden
Vgl. Barbara Fleith, Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen ‚Legenda aurea‘ (Subsidia hagiographica 72), Brüssel 1991, S. 429. Acta Apostolorum Apocrypha, Ps. 2, Vol. 1: Passio Andreae, Ex actis Andreae, Martyria Andreae, Acta Andreae et Matthiae, Acta Petri et Andreae, Passio Bartholomaei, Acta Ioannis, Martyrium Matthaei, hsrg. v. Maximilien Bonnet, Leipzig 1898, S. 1– 37, hier S. 3. Im Folgenden zitiert als „Passio Andreae“, die Übersetzungen stammen von mir.
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kaum zu entschlüsselnden Hinweis auf das eucharistische Mysterium: Omnipotenti deo agnum immaculatum cottidie offero, qui, postquam a toto populo comestus fuerit, vivus et integer persevaret. („Dem allmächtigen Gott opfere ich täglich ein makelloses Lamm, das unversehrt weiterlebt, nachdem es vom Volk verzehrt worden ist.“)³² In der ‚Passio Andreae‘ findet sich das noch ausführlicher, wenn Andreas davon spricht, dass er das Lamm in altare crucis, („auf dem Altar des Kreuzes“)³³, opfere und das Volk sein Fleisch esse und sein Blut trinke. Als Ägeas wissen will, wie das zugehe, erhält er von Andreas zur Antwort, er müsse in die Rolle des Schülers treten, um zu erkennen, woraufhin er diesem droht, er werde das Wissen mit Folter erzwingen – womit in der ‚Legenda aurea‘ der Disput abbricht und am nächsten Morgen mit dem Martyrium beschlossen wird. Das ist in der ‚Passio‘ wiederum noch ausführlicher und eindringlicher gestaltet, Andreas’ Aufforderung erscheint in direkter Rede: Si uis discere quomodo potest hoc fieri, adsume formam discipuli, ut possis doceri quod quaeris. („Wenn du wissen willst, wie dies geschehen kann, werde mein Schüler, damit dich gelehrt werden kann, wonach du fragst.“)³⁴ Auch hier droht Ägeas ihm daraufhin mit Folter, aber die Szene gipfelt in einer letzten Rede des Apostels, die die Bedingungen für die Erkenntnis des Glaubens explizit macht: Er wundere sich, dass ein weiser Mann so töricht spreche und meine, ihn durch die Folter dazu bringen zu können, das göttliche Opfer offen darzulegen, zumal er dessen mysterium bereits gehört habe: audisti mysterium crucis, audisti mysterium sacrificii („du hast das Mysterium des Kreuzes gehört, du hast das Mysterium des Opfers gehört“).³⁵ Wenn Ägeas an Christus als den Sohn Gottes und wahren Gott glauben würde, wolle er ihm darlegen, wie es zugehe, dass das Lamm geopfert und verzehrt werde, aber doch unversehrt bleibe und ewig herrsche. Als der Heide ihn schließlich fragt, ob er tatsächlich behaupte, dass dieses Lamm ab omni populo („vom ganzen Volk“) verehrt werde, obwohl es getötet wurde, endet Andreas mit den programmatischen Worten: Si credideris ex toto corde tuo, discere poteris, si non credideris, penitus numquam tu ad indaginem huius ueritatis adtinges. („Wenn du von ganzem Herzen glaubst, wirst du in der Lage sein zu erkennen, wenn du nicht glaubst, wirst du niemals bis ins Innerste zur Erforschung dieser Wahrheit gelangen.“)³⁶ Die Erkenntnis der Mysterien von Kreuz und Opfer, die der Apostel dem neutestamentlichen Auftrag entsprechend frei verkündet,³⁷ setzt den Glauben – oder zumindest die Bereitschaft dazu – und die Unterweisung voraus. In der ‚Legenda aurea‘ erscheint dieser Aspekt nicht mehr. Die Frage nach dem Wie der Erkenntnis des ‚Mysteriums‘, nach dem Verhältnis von Geheimnis und Offenbarung des Glaubens, scheint nicht mehr relevant beziehungsweise wird nicht
Jacobus de Voragine, Legenda aurea (Anm. 1), S. 112. Passio Andreae (Anm. 31), S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14– 15. Ebd., S. 15. Vgl. oben Anm. 11.
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mehr explizit gemacht, weil sie im christlichen-klerikalen Binnendiskurs als bekannt vorausgesetzt werden kann. Das Geschehen interessiert weniger im Hinblick auf die Form der religiösen Konfrontation und die Möglichkeiten der Bekehrung der Heiden zum christlichen Glauben, als vielmehr in seinem exemplarischen Gehalt zur Selbstvergewisserung der Gemeinschaft der Gläubigen, welche die Erkenntnis und Offenbarung des Glaubens schon immer als Faktum für sich beansprucht, demgegenüber ihre Wirkweise und Bedingungen zurücktreten. Dass das Geheimnis des Glaubens dem Publikum im Erzählen offenbar wird, ist dabei stets schon vorausgesetzt. Glaube und Erkenntnis erscheinen als objektives Geschehen und keiner weiteren Begründung bedürftig – ebenso wie der Unglaube und die Blindheit der Heiden.
4 Gemeinschaft der Gläubigen Die intradiegetisch entworfene Inklusion in die Wir-Gemeinschaft der Gläubigen und Exklusion der Ungläubigen, die sich an der Partizipation am Erzählten in Form der Erkenntnis des Mysteriums und der Annahme des Glaubens festmacht, setzt sich also in der Rezeptionsgemeinschaft der Legende fort. Die narrative Operation der Unterscheidung von Glaube und Unglaube ist unter den Bedingungen mittelalterlichen Legendenerzählens freilich eine nur noch rhetorische, oder anders: eine katechetische, paränetische und erbauliche. Denn es geht nun längst nicht mehr um die Verarbeitung einer tatsächlichen Konfrontation mit dem Heidentum, sondern um die Stiftung und Bestätigung christlicher Gemeinschaft in der immer wieder zu vergegenwärtigenden Überwindung des heidnischen Unglaubens: einerseits im historischen Sieg der Kirche über das Heidentum und seine tödlichen Verfolgungen mit der Bekehrung des Römischen Reiches, andererseits und wohl noch wesentlicher in der überzeitlichen Dimension dieses Gegensatzes in der frommen Hinwendung zum Heil, die jeder Gläubige für sich und stets neu zu vollziehen hat. Die Semantik des Begriffes conversio und seines deutschen Äquivalents ‚Bekehrung‘ umfasst bezeichnenderweise beides: den äußeren, kollektiven oder persönlichen, Glaubenswechsel wie die innere ‚Umkehr‘.³⁸ Wie sehr dabei im legendarischen Erzählen das Geheimnis beziehungsweise die Offenbarung und die Annahme des Glaubens zur gemeinsamen Mitte wird, in der sich die christliche Gemeinschaft begründet – und die letztlich auch die Grenzen zwischen klerikaler Experten- und volkssprachiger Laienkommunikation aufbricht, indem sie, zumindest in der Rezeptionssituation im Vortrag der Legende, eine umfassende, gänzlich inklusive Gemeinschaft aller Gläubigen konstituiert –, wird in der Fassung
Vgl. William H. C. Frend, Art. ‚Bekehrung I. Alte Kirche und Mittelalter‘, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 5 (1980), Sp. 440 – 458. Außerdem Prautzsch, Heilige und Heiden (Anm. 20), S. 275 – 279.
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der Andreaslegende im mittelhochdeutschen ‚Passional‘ deutlich.³⁹ Denn dieses Ende des 13. Jahrhunderts entstandene erste und in seiner Zeit wirkungsreichste deutsche Legendar beruht zwar vor allem auf der ‚Legenda aurea‘ beziehungsweise anderen lateinischen Vorlagen,⁴⁰ übersetzt diese aber wiederum nicht einfach, sondern überträgt sie in die Volkssprache und vermittelt sie damit in einen laikalen Gebrauchszusammenhang. Seine primäre Funktion und Verbreitung findet das ‚Passional‘ im Leben des Deutschen Ordens, wo es offenbar zur Tischlesung für die adligen, nicht klerikal gebildeten und daher auch nicht des Latein mächtigen, wohl aber mit den volkssprachig-höfischen Erzählmusterm vertrauten Laienbrüder dient. Entsprechend treten die scholastisch-exegetischen Elemente gegenüber dem Narrativen zurück, allein schon dadurch, dass die nüchterne lateinische Prosa in Reimpaarverse aufgelöst wird, in der die Legenden nun unter gänzlichen anderen Bedingungen neu erzählt werden und mit allgemein lehrhafter Tendenz christliche Glaubensinhalte vermitteln und im geistlichen Leben unterweisen. Auch hier geht es im Streitgespräch zwischen Andreas und Ägeas um die Wahrheit des christlichen Glaubens, doch scheint diese nicht mehr in der Form des Geheimnisses gefasst, sondern als Frage von wahrer und falscher Lehre verhandelt. Gleich zu Beginn, wo der Vertreter der heidnischen Obrigkeit dem Christen in der ‚Legenda aurea‘ noch vor allem Aberglauben vorwirft,⁴¹ spricht Ägeas den Apostel mit der vorwurfsvollen Frage an: bistu der valsche man […], der daz volc wendest um und crefteclichen irretum sewest an den luten. ⁴² Bist du der betrügerische Mann […], der das Volk verführt und ungeheuerliche Irrlehre unter den Leuten säst?
Vgl. Hans-Georg Richert, ‚Passional‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 7 (1989), Sp. 331– 340; Volker Zapf, ‚Passional‘, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 1 (2011), Sp. 902– 907. Das ‚Passional‘ besteht aus drei Teilen: Buch III bietet die ‚eigentlichen‘ Heiligenlegenden und folgt dabei maßgeblich der ‚Legenda aurea‘, die auch Grundlage für die Apostellegenden in Buch II ist, das wiederum meist gemeinsam mit den Marienlegenden in Buch I und unabhängig von Buch III überliefert wird. Ich zitiere nach: Passional. Buch II: Apostellegenden, hrsg. v. Annegret Haase, Martin Schubert u. Jürgen Wolf (Deutsche Texte des Mittelalters 91, 2), Berlin 2013, die Übersetzungen stammen von mir. Jacobus de Voragine, Legenda aurea (Anm. 1), S. 110: Tu es Andreas, qui superstitiosam praedicas sectam („Du bist Andreas, der die abergläubische Irrlehre verkündet“). Passional (Anm. 40), V. 23746 – 23749.
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Andreas hält ihm entgegen, den Römern sei die Wahrheit, also die christliche Lehre, noch unbekannt.⁴³ Wo der heidnische Statthalter in der ‚Legenda aurea‘ von ista vana spricht, schilt er den Christen hier fast der Lüge: swaz du sagest, Andreas, daz ist gar sunder wisheit als ein fabula geseit nach der valschaften art, di uch jener hat gelart, den die juden viengen und an ein cruce hiengen. ⁴⁴ Was du das erzählst, Andreas, das ist gänzlich ohne Weisheit wie ein Märchen gesagt auf die betrügerische Weise, die euch der gelehrt hat, den die Juden gefangen und an ein Kreuz gehängt haben.
Die theologisch-dogmatische Beweisführung mit der Aufzählung von Gründen für das freiwillige Leiden Christi sowie den Sinn und die Notwendigkeit des Leidens überhaupt ist aufgelöst in freie und ausführliche Erläuterungen, die das Heilsgeschehen laienkatechetisch anschaulich darstellen. Vor allem ist nirgendwo mehr von einem Geheimnis die Rede. Den Gedanken vom mysterium crucis äußert Andreas überhaupt nicht, Ägeas antwortet nur, er habe des cruces ere ⁴⁵ zu sehr gelobt und für dieses Lob wolle er ihn am Kreuz verhöhnen.⁴⁶ Genau den Begriff der ere greift Andreas dann auf, wenn er den Heiden im Glauben unterweisen und zur Bekehrung bewegen will: du salt mir des getruwen: ob du des cruces ere entpfiengest in rechter lere, daz were an selde din gewin. vernim den nutzhaften sin durch waz uns Crist wart gesant […]⁴⁷ Du sollst mir das glauben, dass du, wenn du die Ehre/Verehrung des Kreuzes in rechter Unterweisung annimmst, das Heil gewinnst. Höre die nutzbringende Erkenntnis, wozu uns Christus gesandt worden ist […]
Die innere Dimension von Geheimnis und Offenbarung des Glaubens sowie die Bedingungen der Erkenntnis der Glaubenswahrheiten treten zurück hinter die Frage der richtigen Lehre, deren Annahme eine eher äußere Angelegenheit zu sein scheint, eine Sache des Willens und der Nützlichkeit. Das Geheimnis wird dabei offenkundig als offenbar und allen einsichtig vorausgesetzt. Es geht nicht mehr darum, ob die
Vgl. ebd., V. 23759 – 23763. Ebd., V. 23782– 23788. Ebd., Vers 23865: „die Ehre/Verehrung des Kreuzes“. Vgl. ebd., Vers 237871– 23784. Ebd., Vers 23890 – 23895.
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Wahrheit des Glaubens verborgen bleibt oder überhaupt erkannt werden kann, sondern sie steht schon längst fest und ist greifbar. Es geht nur noch darum, ob die richtige Lehre angenommen wird, aber auch das ist nur auf der intradiegetischen Ebene relevant und auch hier entfaltet diese Frage keine Dramatik. Der Heide ist nur noch ein Relikt der vergangenen Zeit, der zeigt, dass das alles auch einmal anders möglich war, als der Glaube noch ein Geheimnis weniger war, nicht allgemein geteilte Offenbarung. Es scheint, als bräuchte es keine „Einschränkung von Kommunikation durch die Form des Geheimnisvollen“⁴⁸ mehr, keinen Selbstschutz des Sakralen, denn dieses ist allen gemeinsam und in der Kommunikation dekonstruiert. Die damit einhergehende Objektivierung – im Sinne von Allgemeingültigkeit im Hinblick auf die christliche Rezeptionsgemeinschaft – des Erzählten ermöglicht aber zugleich seine Verinnerlichung in der Perspektivierung des Erzählens, also der narrativen Vermittlung und Inszenierung, die sich im ‚Passional‘ vor allem in der durch den höfischen Erzählstil geprägten Wahrnehmungssteuerung konkretisiert. Über die den Akteuren der Handlung zugesprochene Wahrnehmungsfähigkeit hinsichtlich der darin verhandelten Glaubenswahrheiten und der Heiligkeit ihr Protagonisten wird die ‚Wir-Gemeinschaft‘ der Rezipienten als Gemeinschaft der Gläubigen konstruiert. Die intradiegetische wie extradiegetische Vorbildfunktion des heiligen Apostels wird dabei gleich zu Beginn seiner Verkündigung in Achaia betont, zugleich aber mit dem Begriff der christlichen lere verknüpft, die er nicht nur dort erfolgreich verbreitet: Alsus was Andreas dem Lande gar ein spiegel glas, beide an lere und an zucht. sines samen hohe vrucht, den er in gotes lobe uz warf, wart mit tugenden vil scharf in den landen hi und da. ⁴⁹ Auf diese Weise war Andreas dem Land ein Spiegel sowohl in der Unterweisung als auch im Vorbild. Die hohe Frucht seines Samens, den er zu Gottes Lob auswarf, wurde mit aller Macht klar erkennbar überall in den Ländern.
Insgesamt folgt die Darstellung des ‚Passionals‘ in enger Anlehnung an die ‚Legenda aurea‘ der Dialogstruktur des Verhörs des Apostels durch Ägeas, die keinen Platz für ausführlichere Erzählerkommentare zu lassen scheint. Dafür werden die inquit-Passagen regelmäßig zur Rezeptionslenkung genutzt: Andreas ist der vil gute, der mit lieplichem mute / sprach do vrolich zu im ⁵⁰ („der Tugendhafte, der mit freundlicher Gesinnung freundlich sprach zu ihm“), dem Heiden, der sinen spot („seinen Spott“) mit der Verkündigung des Apostels treibt, der dafür als der gotes gewere („der Zeuge
Siehe oben Anm. 13. Passional (Anm. 40), V. 23655 – 23661. Ebd., V. 23877– 23879.
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Gottes“) gilt.⁵¹ Gegenüber dem knapp berichtenden und ‚neutralen‘ Erzählstil der ‚Legenda aurea‘ lässt der Erzähler im ‚Passional‘ auf diese Weise in der Glaubenskonfrontation seine Parteinahme deutlich erkennen, auch in seiner Anteilnahme angesichts des standhaften Bekenntnisses und Leidens des Andreas. Er inszeniert sich dabei selber als Teil der in andächtigem Mitvollzug vereinten Rezeptionsgemeinschaft, der dieser aber als allwissender Beobachter Einblicke ins Innenleben des Heiligen zu geben vermag: Mit willen und mit mute bevalch sich dirre gute in unsers herren hute. Als sines herzen grute brante in steter glute nach der vreuden vlute, di er do obene weste. ⁵² Aus freien Stücken und entschlossen befahl sich dieser Gute der Behütung unseres Herren an. Die ganze Kraft seines Herzens brannte in beständiger Glut nach der überströmenden Freude, die er dort oben wusste.
Ausführlich wird zudem die Geißelung des Apostels visualisiert, bei der der Rezipient dem Geschehen unmittelbar folgen soll, wenn dem Glaubenszeugen, der sich dabei in der Nachfolge Christi sieht, dem ich doch nicht vil lonen kan, / daz er durch mich hat getan / an siner martere alzu groz ⁵³ („dem ich doch kaum entgelten kann, was er mit seinem übergroßen Leiden für mich getan hat“), zuerst die Kleider vom Leib gerissen werden, sodann nacket festgebunden und mit scharfen besmen ⁵⁴ („mit scharfen Ruten“) geschlagen wird. Diese affektive, christlich-gläubige Wahrnehmung kontrastiert der grausam-sadistische Blick des heidnischen Verfolgers: alsus tet er in villen / nach sinem bosen willen / uns sach daz vrolichen an ⁵⁵ („auf solche Weise ließ er ihn schinden nach seinem bösen Willen und sah es fröhlich an“). Die Wahrnehmung des geistlichen Gehalts des Geschehens wird aber nicht nur über die Positionierung und Vermittlung des Erzählers operationalisiert, sondern auch mittels der Figurenrede des Apostels selbst. So zum Beispiel, wenn dieser in der Beschreibung des Passionsgeschens hymnisch-liturgisch ausruft: o, der selige tot, / den ihm daz vrone cruce bot, / der sal gebenediet sin! ⁵⁶ („Oh, der selige Tod, den ihm das heilige Kreuz bereithielt, der soll gesegnet sein!“), und damit bereits die Grenzen der intradiegetischen Kommunikation auf das christliche Publikum der Legende hin
Ebd., V. 23956 und 23958. Ebd., V. 23975 – 23981. Ebd., V. 24011– 24013. Ebd., V. 24017– 24019. Ebd., V. 24021– 24023. Ebd., V. 23841– 23843.
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sprengt, das er ein andermal implizit in seine Erklärung des Glaubens als Gemeinschaft der Gläubigen aufnimmt, die im Kreuz die höchste Freude erblicken: nu sich, des cruces ere sal ich immer mere loben gar mit werdikeit, wand uns dar an ist bereit der hoesten vreuden gewin. ⁵⁷ Nun sieh, die Ehre/Verehrung des Kreuzes soll ich mit Würde immer weiter loben, weil uns darin der Gewinn der höchsten Freude bereitet ist.
Die Rezeptionsgemeinschaft als Gemeinschaft der Gläubigen im Mitvollzug des Martyriums wird exemplarisch vor allem aber über die intradiegetischen Zeugen konstruiert, und dabei ergänzen und überlagern sich schließlich Erzähler- und Figurenrede. Als man Andreas zum Kreuz zerrt, heißt es mit deutlicher Wertung: daz volc alumme zu trat / und schouweten disen unvuc ⁵⁸ („das Volk trat ringsumher dazu und betrachtete diesen Frevel“). Es gibt aber genug Leute, die mit stetes herzen craft / an des gelouben herschaft / waren vesteclich bekumen ⁵⁹ („die mit der beständigen Kraft ihres Herzen standhaft zur Herrschaft des Glaubens gekommen waren“), und die nun, als sie vom Martyrium des Apostels hören, mit kühnem Mut öffentlich auftreten, um ihn weinen und lautstark bekunden, dass es Unrecht sei, das unschuldige Blut dieses Mannes zu vergießen. Der sieht diese vrunt („Freunde/Verwandten“) seinerseits lieplich („freundlich“) an, nennt sie gutlich („gütig“) die lieben gotes kint ⁶⁰ („lieben Kinder Gottes“) und bittet sie, das Klagen zu beenden, weil er das Martyrium vollenden will, so wie es auch schon die ‚Legenda aurea‘ berichtet. Hier aber nun öffnet sich die Ansprache des Apostels, wenn der Erzähler sein imaginäres Publikum direkt anspricht und zum Hören auffordert: nu solt ir horen wunder, welche manheit an dem alden lac und wie cleine er des erschrac, daz man sin leben underbrach. ⁶¹ Nun sollt ihr das Wunder hören, welche Tapferkeit der Alte bewies und wie wenig es ihn zu schrecken vermochte, dass man sein Leben beendete.
Die Rede des Andreas an die umstehenden Gläubigen in der Erzählung findet ihre Entsprechung in den Worten des Erzählers an sein Publikum, was man sich zumal in der Vortragssituation noch einmal gedoppelt vorstellen darf, wenn die Worte nun auch
Ebd., V. 23919 – 23923. Ebd., V. 24056 – 24057. Ebd., V. 24059 – 24061. Ebd., V. 24077– 24079. Ebd., V. 24096 – 24099.
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dem extradiegetischen Publikum gelten. Im Weiteren umfasst die Wahrnehmungslenkung auf diese Weise auch die konkrete Perspektive auf das vorgestellte Geschehen, wenn die Rezipienten dem Blick des Andreas auf das Kreuz folgen, es also letztlich durch ihn sehen, bevor er es im Kreuzhymnus preist: die ougen er zume cruce warf, daz er vrolich an sach, da bi er dies wort sprach sunder allez bleichen. ⁶² Den Blick richtete er auf das Kreuz, das er frohen Mutes betrachtete, wobei er diese Worte sprach ohne nur im Geringsten bleich zu werden.
Seine Verkündigung vom Kreuz herab wird nicht nur berichtet, sondern wiederum vergegenwärtigend ‚vor Augen‘ gestellt: nu secht an di minne / des himmelischen tolkes ⁶³ („nun betrachtet die Liebe des himmlischen Zeugen“), wobei tolke den Dolmetscher bezeichnet, ebenso im übertragenen Sinne die Auslegung oder Erklärung. In seiner Verkündigung aber ebenso in seinem Vorbild und seiner Liebe bezeugt er die himmlische Wahrheit, verkörpert sie. Die das Kreuz umstehenden Gläubigen weinen deshalb nicht nur um ihn als die getruwen kind tunt, / den ir vater wirt benumen ⁶⁴ („wie die treuen Kinder es tun, denen ihr Vater genommen wird“), wobei diese affektive Gemeinschaft wiederum alle Gläubigen umfassen kann, sondern seine Heiligkeit zeigt sich ihnen im Moment seines Todes in einer Lichterscheinung, die ihn auf paradoxe Weise zugleich der Sichtbarkeit enthebt: do quam uf in ein liechter blic, in der maze also dic, daz die, die bi im waren, ze schouwene sin enparen an offenlicher kunde. wol ein halbe stunde daz liecht in alumme schein. ⁶⁵ Da fiel ein heller Schein auf ihn, der war so breit, dass die, die bei ihm waren, nicht in der Lage waren, ihn offen wahrnehmbar zu sehen. Eine halbe Stunde lang hüllte das Licht ihn ein.
Heiligkeit ist in dieser wundersamen Erscheinung metonymisch vermittelt, sie zeigt sich denen, die bi im waren ⁶⁶ („die bei ihm waren“), am Körper des Heiligen selbst, der Ebd., V. 24108 – 24111. Ebd., V. 24178 – 24179. Ebd., V. 24228 – 24229. Ebd., V. 24289 – 24295. Während die ‚Legenda aurea‘ hier wieder distanziert und gewissermaßen aus der Totale berichtet: Jacobus de Voragine, Legenda aurea (Anm. 1), S. 116: His dictis splendor nimius de caelo veniens dimidia hora eum circumdedit, ita ut nullus eum videre posset („Nach diesen Worten kam ein überwältigender Glanz vom Himmel und umgab ihn eine halbe Stunde lang, so daß keiner ihn sehen konnte“).
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dabei dennoch entdifferenziert erscheint und jeder irdischen Ordnung enthoben. Die Transzendenz bricht hier in die Immanenz herein, ereignet sich und wird wahrnehmbar in ihr, bleibt dem menschlichen Blick dennoch entzogen: Man sieht, gleißend hell, und sieht doch zugleich – nichts. In der ‚Passio Andreae‘ heißt es: prae ipso splendore oculi non possent humani aspicere ⁶⁷ („angesichts dieser Helligkeit war das menschliche Auge nicht in der Lage, etwas zu erkennen“). Die menschlichen Augen können das Heilige selbst nicht wahrnehmen, aber dem Erzähler und seinem Publikum ist das Wunder ein sichtbares Zeichen des Glaubens, dessen Bedeutung für die Gläubigen offenkundig ist und das daher keiner weiteren Erklärungen bedarf. Das Heilige ist hier ein „Mysterium, das es, wie man zeigen kann, gibt. Man sieht es, weil auch andere es sehen.“⁶⁸ So endet die Andreaslegende des ‚Passionals‘ in einer geistlichen moralisatio, die Erzähler und Publikum in einer Rezeptionsgemeinschaft umfasst und auf das Gedächtnis und die Anrufung des Heiligen als Fürsprecher vor Gott verpflichtet: wir suln vlizeclich zu im keren mit der andacht, wand er ist da hin gebracht, da er uns wol mac gevrumen und mit gebete underdrumen. ⁶⁹ Wir sollen mit Beflissenheit unsere Andacht auf ihn richten, weil er dorthin gebracht worden ist, wo er uns wohl helfen und mit seinem Gebet etwas bewirken kann.
Die Erkenntnis des Glaubens, wie er im Martyrium des heiligen Apostels Andreas und seinem Nachvollzug des mysterii crucis sichtbaren Ausdruck gewinnt, ist in seiner liturgischen Vergegenwärtigung und Anrufung zur gemeinsamen Mitte geworden. Nicht in der diskursiven Verhandlung von Glaubensinhalten als Geheimnis, sondern in der wundersamen Bestätigung der Heiligkeit des Glaubenszeugen und seiner heilsvermittelnden Funktion erscheint der Selbstschutz des Sakralen in der Form des Geheimnisvollen wieder in sein Recht gesetzt. Indem das Wunder aber zugleich von allen als Zeichen des Heiligen verstanden wird, ist die narrative Konstruktion der christlichen Wir-Gemeinschaft an ihr Ziel gelangt – als Gemeinschaft der Gläubigen, die das intradiegetische Geschehen auf die extradiegetische Rezeptionsgemeinschaft hin überschreitet.
Passio Andreae (Anm. 31), S. 34. Siehe oben Anm. 14. Passional (Anm. 40), V. 24352– 24356.
Eugenio Riversi
Die ‚diskrete‘ Mitteilung des Offenbarten Ekbert von Schönau zwischen der Kritik an der geheimen Lehre der ‚Katharer‘ und der Veröffentlichung der Visionen seiner Schwester Elisabeth Abstract: The monk Ekbert von Schönau experienced the tension between the historical and cultural ‘axes’ hidden–revealed and secret–public when he was confronted with two difficult tasks requiring him to exercise the superior intellectual and ethical virtue of discretio. On the one hand, he was looking after his sister Elisabeth’s ‘public relations’. The first publication of her visions had resulted in a variety of reactions, in some cases negative ones. Exercising discretio concerned the selection of subjects mentioned in Elisabeth’s private visions, and their publication. On the other hand, Ekbert was concerned with the radical challenge presented by the heretics he called “Cathars”. In his book against these heretics, he contrasted the public nature of the Christian faith with the traditionally heretical secrecy and hidden nature of the Cathars’ doctrine. In this case the discretio had the explicit function of understanding the message of the Bible correctly, and implicitly it allowed the correct interpretation of Christian practices (for instance marriage). According to Ekbert, it was discretio that ultimately allowed the Christian message to be correctly and successfully imparted within the church. Keywords: Elisabeth von Schönau, Eckbert von Schönau, Katharer , Häresie, discretio, Visionen, Offenbarungen, kulturelle Achsen
Quia vitam propriam me melius nullus scire potest, sed eam alius me multo melius secundum discretionem disponere potest. Debemus itaque vitam nostram spiritualium virorum, et maxime praelatorum discretioni committere, qualibus novimus ipsum Dominum claves regni coelorum commisisse. ¹
Richard von Sankt Viktor, Adnotationes Mysticae in psalmos, hrsg. v. Jean-Paul Migne (Patrologia Latina 196) Paris 1855, Sp. 363 – 364: „Zwar kann niemand besser als ich [mein] eigenes Leben kennen, aber ein anderer kann es besser als ich entsprechend seiner Urteilskraft einordnen. Deshalb müssen wir unser Leben der Urteilskraft jener spirituellen Menschen, vor allem der Vorsteher, anvertrauen, denen – wie wir wissen – Gott selbst die Himmelsschlüssel gegeben hat.“ (Übersetzung Eugenio Riversi). Dr. Eugenio Riversi, Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte, Konviktstraße 11, 53113 Bonn, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-005
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1 Spuren eines öffentlichen Skandals „Es geschah an einem Tag des Monats Juli: ich, Elisabeth, hatte mich an einen abgelegenen Ort zurückgezogen und widmete mich den Gebeten“. In diesem locum secretum erschien plötzlich ein Engel vor Elisabeth von Schönau, der sie seit einiger Zeit besuchte. Er kündigte ihr an: Wisse, dass der Teufel zu dieser Zeit die Macht von Gott übernehmen wird, die Menschen gegeneinander aufzubringen, damit sie sich gegenseitig umbringen. Die Sonne wird rot gefärbt werden und von der Finsternis bedeckt: Es wird gewiss nichts anderes als ein großes Blutvergießen und ungeheure Traurigkeit im christlichen Volk sein. Danach wird die giftspritzende Schlange unsichtbar die Menschen töten, und es wird eine lange Zeit der Trübsal auf der Erde geben, so dass jeder, der sich unversehrt retten kann, Gott zum ewigen Lob verpflichtet sein wird. Wenn ich dir erzählen würde, was anschließend geschehen wird, weiß ich, dass du es vor lauter Furcht nicht ertragen können würdest.²
Es liegt nahe, dass die Botschaft des Engels mit dem Beginn des Weltendes hätte assoziiert werden können. Dies lehnte Elisabeth jedoch in einem Brief an Hildegard von Bingen ab, der im dritten Buch der Visionensammlung von Elisabeth überliefert ist. „Sie verleumdeten mich, ich hätte über den Gerichtstag prophezeit, was zu tun ich mir gewiß nie herausgenommen habe, weil dessen Anbrechen sich dem Wissen aller Sterblichen entzieht“.³ Hier spiegelt sich die am weitesten verbreitete Position im christlichen eschatologischen Denken wider: eine antiapokalyptische Haltung, die vor allem von Augustinus vertreten worden ist.⁴ Das Weltende ist ein mysterium, das nur der allwissende Gott kennt, im Gegensatz zu weiteren himmlischen Geheimnissen, die
Ferdinand W. E. Roth, Aus einer Handschrift der Schriften der heil. Elisabeth von Schönau, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 36 (1911), S. 220 (Übersetzung Eugenio Riversi): Factum est in una dierum mensis Iulii: ego Elysabeth secesseram in locum secretum et intendebam orationibus. […] Et subiecit dicens: Scito, quoniam in tempore illo accepturus est sathanas potestatem a deo concitandi homines adversum se invicem, ut mutuo sese interficient. Sol rubore suffundetur et tenebris obducetur, quod quidem alium non erit, nisi multi sanguinis effusio et immensa tristicia in populo Christiano. Post hec coluber saniei missor invisibiliter homines interfecturus est, eritque tribulatio magna in terra, ita ut perpetue laudis debitor sit domino omnis, qui vita incolumi evaserit. Si autem, que post hec cito ventura sunt, tibi enarrem, scio, quod pre timoris magnitudine subsistere non poteris. Vgl. die englische Übersetzung in: Elisabeth of Schönau, The Complete Works, hrsg. v. Anne L. Clark (The Classics of Western Spirituality), New York, Mahwah (NJ) 2000, S. 282– 283, Anm. 89. Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen der heiligen Elisabeth und die Schriften der Aebte Ekbert und Emecho von Schönau, hrsg. v. Ferdinand W. E. Roth, 2. Aufl. Brünn 1886, S. 71: De iudicii die me prophetasse diffamaverunt, quod certe nunquam facere presumpsi, cum omnium mortalium cognitionem effugiat eius adventus. Vgl. die deutsche Übersetzung: Elisabeth von Schönau, Werke. Eingeleitet, kommentiert u. übers. v. Peter Dinzelbacher, hrsg. von der Katholischen Kirchengemeinde St. Florin, Kloster Schönau, Paderborn u. a. 2006, S. 83. Vgl. zur komplexen Position Augustinus im Kontext der frühen christlichen Theologie: Brian E. Daley, Apocalypticism in Early Christian Theology, in: Encyclopedia of Apocalypticism, Bd. 2., New York 1999, S. 3 – 47, bes. 29 – 33.
Die ‚diskrete‘ Mitteilung des Offenbarten
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Gott Elisabeth offenbart (celestia sacramenta oder in anderen Kontexten: celestia secreta; secreta domini, que ab oculis mortalium abscondita sunt; oder abscondita a seculis archana dei).⁵ Dieser Brief stellt darüber hinaus eine aussagekräftige kommunikative Situation dar, die in das Spannungsfeld zwischen den ‚Achsen‘ verborgen/ offenbart sowie geheim/öffentlich einführt.
Abb. 1: Unterscheidung zweier hypothetischer ‚Achsen‘ verborgen/offenbart und geheim/öffentlich, die aus der historisch-kulturellen Semiosphäre extrapoliert werden.
Der Text wird nämlich zu einem Gewebe von Wörtern, die den einschlägigen semantischen Bereich aufzeigen: auf der einen Seite abscondere, occultare, tacere, verbum habere absconditum, silentio tegere; auf der anderen manifestare, manifestus esse, revelare, palam annuntiare, clamare fortiter, divulgare. Auch durch die häufige Verwendung dieser Wörter teilt der Brief mit, dass die oben zitierte Vision höchstwahrscheinlich zum öffentlichen Skandal (occasio fame) wurde. Ihre Verbreitung verursachte nicht nur Gerüchte in der Bevölkerung, sondern auch pauschale Verurteilungen durch Geistliche, die Elisabeth verspotteten und verleumdeten.⁶ Weiter schreibt Elisabeth an Hildegard:
Vgl. den zweiten einleitenden Abschnitt des ersten Visionenbuchs: Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 5: „Es wurde ihr nämlich gewährt, im Geiste entrafft zu werden und die Geheimnisse des Herrns zu schauen (videre visiones secretorum domini), die vor den Augen der Sterblichen verborgen sind (que ab oculis mortalium abscondita sunt).“; Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 1. Vgl. dazu auch den Bericht über den Tod Elisabeths in Susann El Kholi, Ekberts von Schönau Trostschreiben De obitu Domine Elisabeth. Eine Quelle zu Elisabeth von Schönau, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 52 (2000), S. 347: „Durch dich stand für die Erde der Himmel offen (apertum), und die seit Ewigkeit verborgenen Geheimnisse Gottes (abscondita a seculis archana dei) strömten durch das Werkzeug deiner Stimme zu uns herab, und kostbarer als Gold, süsser als Honig waren deine Worte“; Ekbert von Schönau, De obitu domine Elisabeth, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 264. Für den Ausdruck celestia sacramenta siehe unten Anm. 5 und Anm. 46 (celestia secreta). Bekanntlich gehört das Wort sacramentum dem hier relevanten semantischen Feld des Verborgenen an: Laut Petrus Lombardus, der hier Isidor von Sevilla folgte, bedeutete sacramentum auch sacrum secretum (Petrus Lombardus, Sententiae in IV libris distinctae, Bd. 2, IV, I, 2, II, Grottaferrata 1981, S. 232). Das Wort sacramentum in Elisabeths Texten gilt auch als übliches Synonym des Wortes mysterium: vgl. Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 57 (sacramentum visionis); Elisabeth von Schönau, Liber viarum Dei, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 90 (mysterium visionis). Vgl. Anne L. Clark, Elisabeth of Schönau. A Twelfth-Century Visionary, Philadelphia 1992, S. 14– 15; in einem breiteren Kontext: Sabina Flanagan, Twelfth-Century Apocalyptic Imaginations and the Coming of the Antichrist, in: The Journal of Religious History 24 (2000), S. 57– 69, bes. 62– 63.Vgl. schon
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Wie Ihr durch andere gehört habt, vergrößerte der Herr sein Erbarmen mit mir mehr als ich verdiente oder je verdienen könnte: so sehr, daß er sich herabließ, mir auch einige himmlische Geheimnisse des öfteren zu offenbaren. Er bedeutete mir sogar durch seinen Engel häufig, was über sein Volk in diesen Tagen kommen werde, wenn sie nicht ob ihrer Bosheiten Buße täten, und befahl, daß ich dies offen verkündige. Ich aber bemühte mich, dies alles, soweit ich konnte, zu verbergen, um Hochmut zu vermeiden und nicht als Urheberin von Neuigkeiten zu erscheinen. Als ich also in gewohnter Weise an einem Sonntag in der Entraffung des Geistes war, stand der Engel des Herrn bei mir und sprach: Warum verbirgst du Gold im Schmutz? Dies ist das Wort Gottes, das durch deinen Mund auf die Erde gesandt wurde, nicht, damit es verborgen werde, sondern damit es zum Lob und Ruhm unseres Herrn offenbar gemacht werde und zur Erlösung seines Volkes.⁷
Der Engel strafte Elisabeth mit fünf Geißelschlägen und befahl ihr, nach der neunten Stunde die Vision offen zu legen. Daher ließ Elisabeth die magistra der weiblichen Gemeinschaft ein Büchlein holen, das sie in ihrem Lager versteckt hielt. Darin waren ihre Erfahrungen teilweise aufgezeichnet. Das Büchlein wurde dem Abt übergeben – er war der Vorsteher, weil Schönau ein sogenanntes Doppelkloster war – und Elisabeth enthüllte ihm alles, auch das, was sie nicht aufgeschrieben hatte: darunter auch die Vision „über die große Rache Gottes, die […] in kurzem über die ganze Welt kommen werde“.⁸ Gleichzeitig bat sie ihn darum, diese Vision zu verschweigen. Der Abt befahl ihr jedoch zu Gott zu beten, um zu ergründen, ob diese Offenbarung ‚veröffentlicht‘ werden müsse. Bei der nächsten Ekstase, von der Elisabeth im Brief berichtet, befahl ihr der Engel, der Welt die folgende Botschaft – einen Aufruf zur Buße – wiederzugeben: „Geht hinaus, jener hat euch gerufen, der euch aus Erde gebildet hat, und sprecht: Tut Buße, denn das Reich Gottes ist nah!“⁹ Der Abt fing an, den Anfang des Briefes an Hildegard in Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 83: „[…] bekenne ich, daß ich wirklich eine Wolke der Bedrängnis neulich in meinem Denken empfangen habe wegen des leeren Geredes der Leute, die viel über mich schwätzen, was nicht wahr ist. Doch das Gerede des gemeinen Volkes würde ich leicht ertragen, wenn nicht auch die, die in der Ordenstracht einherwandeln, meinen Geist sehr bitter mit Trauer erfüllten. Denn auch die, ich weiß nicht von welchen Stacheln getrieben, verlachen die Gnade des Herrn in mir, und scheuen sich nicht, darüber, was sie nicht wissen, frech zu urteilen. Ich höre auch, daß manche Briefe, die sie [besser: einige; Anm. d.Verf.] aus ihrem eigenen Sinn geschrieben haben, unter meinem Namen zirkulieren lassen.“; Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 70. Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 83 – 84; Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 71: Sicut per alios audistis, magnificavit dominus misericordiam suam mecum supra, quam meruerim, aut mereri ullatenus possim, in tantum, ut et celestia quedam sacramenta michi frequenter revelare dignatus sit. Significavit etiam mihi per angelum suum frequenter, qualia ventura essent super populum suum in his diebus, nisi agerent penitentiam de iniquitatibus suis, atque, ut palam hec annuntiarem, precepit. Ego autem, ut arrogantiam evitarem, et ne auctrix novitatum viderer, in quantum potui, omnia hec studui occultare. Cum igitur solito more quadam dominica die essem in mentis excessu, astitit mihi angelus domini dicens: Quare abscondis aurum in luto? Hoc est verbum dei, quod per os tuum missum est in terram, [propter facies distortas] non, ut abscondatur, sed ut manifestetur ad laudem et gloriam domini nostri, et salvationem populi sui. Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 84. Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 71– 72.
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diese Vision kirchlichen Würdenträgern und religiösen Menschen offen zu legen, die sich teilweise dem Engel gegenüber misstrauisch zeigten. Daher zwang der Abt Elisabeth, ihren Gesprächspartner nach seiner eigenen Identität zu fragen: Er müsse schwören, dass er ein echter Engel Gottes sei. Dieser bestätigte der Nonne seine Identität, zeigte sich dann aber beleidigt, bis er sich nach mehreren den heiligen Engeln gewidmeten Gottesdiensten der ganzen Gemeinschaft mit ihr aussöhnte. Der Abt, der gebeten wurde, vor einer Gemeinschaft zu predigen, ließ Elisabeth nochmals den Engel befragen, ob diese Buß- und Bedrohungsbotschaft (verbum comminationis) hätte weiterverbreitet werden dürfen. Die Versicherungen des Engels reichten aber nicht aus, um Elisabeths scheinbar unbegründete Ankündigung einer allem Anschein nach ‚apokalyptischen‘ Strafe Gottes zu rechtfertigen. Daher musste man in der Öffentlichkeit, in der die Nachricht sich verbreitet hatte, Stellung nehmen.¹⁰ Offensichtlich zielte Elisabeths Brief an Hildegard darauf ab, die eigene Unschuld zu bekunden und die berühmte Visionärin von Bingen als Fürsprecherin zu gewinnen: „[D]amit auch Ihr meine und unseres Abtes Unschuld erkennt und anderen offenlegen könnt.“¹¹ Die höchstwahrscheinliche Antwort Hildegards bot Anlass, um über die conditio derer zu sprechen, die die Gabe der Prophezeiung erhalten hatten. Eine conditio, die sie zwar zu Sprachrohren Gottes machte, aber auch sie nicht dem Elend des Menschen und der Verführung ‚der alten Schlangen‘ entzog. Das war gleichzeitig eine Ermahnung für Elisabeth, der indirekt, aber klar widersprochen wurde: „Und das Himmlische sollen sie dem überlassen, der himmlisch ist, da sie ja selbst Vertriebene sind, unkund des Himmlischen“. Auch diese prophetisch begabten Menschen könnten nicht die caelestia sacramenta erkunden, sondern nur wie eine Tuba die Geheimnisse Gottes besingen.¹²
Ebd., S. 72– 74. Zur Ermutigung des Engels, mit dem Predigen fortzufahren: Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 86: „Wahrlich selig sind die, welche die Worte deiner Ermahnung hören und sie befolgen und keinen Anstoß an dir nehmen werden. Dies aber wirst du ihm vorschlagen, daß er die Linie, die er bisher bei der Predigt verfolgte, nicht verändern solle.“ Teil des Skandals war die Offenbarung präziser Plagen: Ebd., S. 86: „Welche Plagen aber der Welt bevorstünden, hat er keineswegs in irgendeiner seiner Predigten erzählt, wie er verleumdt wurde.“ Das geschah durch Briefe, die jemand im Namen des Abtes geschrieben hatte, und die in Köln öffentlich verlesen wurden: Ebd., S. 86: „Zu jener Zeit schickte jemand, ich weiß nicht von welchem Eifer verführt, Briefe unter dem Namen des Herrn Abtes in die Stadt Köln, was diesem, wie Gott weiß, nicht bekannt war, in denen gewisse schreckliche Drohungen gelesen wurden, die das ganze Volk hörte.“ Der Brief Elisabeths an Hildegard enthält auch die zusätzliche Versicherung des Engels, dass die Strafe nicht stattgefunden hatte, weil Gott von der Bußhaltung vieler besänftigt worden war: Ebd., S. 86: „Sei nicht traurig oder verwirrt, wenn das nicht an dem Tag, den ich dir als Termin angegeben habe, geschieht, was ich vorher gesagt habe, weil der Herr durch die Wiedergutmachung von vielen versöhnt wurde. […] Ich sagte ihm: Was also, mein Herr, werde ich nicht allen zum Gespött dienen, unter denen dieses Wort verbreitet worden ist? Er sprach: Alles, was dir bei dieser Gelegenheit geschiet, sollst du geduldig und gutwillig ertragen!“ Ebd., S. 86; Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 74. Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), Anhang, S. 187– 188; Hildegard von Bingen, Epistolarium, Bd. 2, hrsg. v. Lieven Van Acker, (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis XCIa), Turnhout 1993, CCI, S. 456 – 457; Hildegard von Bingen, Briefe/Epistolae, übers. und eingeleitet v. Sr. Walburga
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Leider erlauben die wenigen und oft unsicheren Quellen nicht, die Beziehung zwischen Elisabeth und Hildegard genauer zu beschreiben. Zwar imitierte Elisabeth die Visionärin von Rupertsberg, aber eine häufig angenommene ‚Freundschaft‘ ist nicht so selbstverständlich, wie es oftmals unterstellt wird. Abgesehen von einem kurzen Hinweis auf einen Besuch Elisabeths bestand der Briefwechsel zwischen den beiden höchstwahrscheinlich nur aus diesen zwei Briefen und die Antwort Hildegards war letztendlich und überwiegend eine kritische Ermahnung an die Nonne von Schönau.¹³ Man weiß nicht, welche Rolle in dieser besonderen Situation der nicht benannte ‚Tröster‘ von Elisabeth spielte, der am Anfang des Briefes erwähnt wird und der bereits zuvor Kontakt mit Hildegard aufgenommen hatte. Deshalb lässt sich auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um Ekbert handelte, den Bruder Elisabeths, der damals in das Kloster Schönau eintrat und dort eine Art ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ für die Kommunikation der religiösen Erfahrung seiner Schwester übernahm, indem er, unter anderem, aus der ersten Fassung der Visionensammlung Elisabeths den kompromit-
Storch, hrsg. v. der Abtei St. Hildegard, Beueron 2012, S. 328: „Höre, o meine besorgte Tochter! Die Menschen, welche die Eingebung Gottes so unterweist , sucht die ehrgeizige Einflüsterung der alten Schlange ein wenig heim. Denn sobald diese Schlange einen besonders schönen Edelstein erspäht, zischt sie gleich und sagt: Was ist das? – Und sie quält ihn mit vielen Erbärmlickheiten des leidenschaftlichen Herzens, die über die Wolken fliegen möchten, als wären sie Götter, wie auch sie es tat. Jetzt höre nochmals! Die danach verlangen, Gottes Werke zu vollbringen, mögen stets beachten, dass sie tönerne Gefäße sind – weil sie Menschen bleiben – und immer ihren Blick darauf richten, was sie sind und was sie sein werden. Das Himmlische sollen sie dem überlassen, der himmlisch ist, weil sie selbst Verbannte sind und das Himmlische nicht kennen.Vielmehr künden sie die Geheimnisse nur wie eine Posaune, die bloß den Ton von sich gibt und nicht erzeugt. Aber ein Anderer bläst hinein, damit sie einen Ton wiedergibt.“ Vgl. auch Kathryn Kerby-Fulton u. Dyan Elliott, Self-Image and the Visionary Role in Two Letters from the Correspondence of Elizabeth of Schönau and Hildegard of Bingen, in: Vox Benedictina 2 (1985), S. 204– 223. Die Darstellung einer spirituellen Freundschaft bzw. Nähe ist sehr verbreitet; vgl. z. B. Raoul Manselli, Il secolo XII: religione popolare ed eresia, Rom 1983, S. 251– 260 („amicizia spirituale“); Clark (Anm. 6), S. 21– 24 („Elisabeth also deepened her friendship with Hildegard“). Man könnte eher von einem imitierenden und gleichzeitig konkurrierenden Verhältnis – einer aemulatio – ausgehen, das Elisabeths Anspruch auf eine Hildegard ähnliche Position im religiösen Feld besser entsprechen würde; Elisabeth (und ihr Bruder Ekbert) suchten darüber hinaus nach einer legitimierenden Anerkennung durch Hildegard: Die kurze Erwähnung des Besuchs hatte überwiegend die Funktion, die Abfassung des ‚Buches der Gotteswege‘ – eine von Hildegards Scivias inspirierte Reihe von thematischen Visionen – zu ‚akkreditieren‘; vgl. Elisabeth von Schönau, Liber viarum Dei, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 91. Zum Briefwechsel zwischen Hildegard und Elisabeth vgl. Lieven Van Acker, Der Briefwechsel zwischen Elisabeth und Hildegard von Bingen, in: Marc Van Uytfanghe u. Roland Demeulenaere (Hgg.), Aevum inter utrumque. Mélanges offerts à Gabriel Sanders (Instrumenta patristica XXIII), S. 409 – 417, der zeigt, dass der angebliche zweite Brief Hildegards an Elisabeth eine andere Empfängerin hatte, und dass sich in einem anderen Brief eine vermutliche Anspielung auf Elisabeth findet. Man muss aber auch betonen, dass Texte der beiden Visionärinnen schon sehr früh zusammen tradiert und sogar verwechselt wurden: In der Überlieferung wird der sogenannte zweite Brief Elisabeths an Hildegard als Antwort (responsio) auf die Vision Hildegards über die Häretiker bezeichnet; tatsächlich war das jedoch kein Briefaustausch, sondern eine Reaktion auf den Brief Hildegards.
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tierenden und angeblich missverstandenen Text über die Strafe Gottes strich bzw. umformulierte,¹⁴ den erwähnten Brief an Hildegard in das Korpus der Visionen einfügte und anschließend einen sich explizit auf Hildegard berufenden Text zusammensetzte.¹⁵ Die Verbreitung der religiösen Erfahrung seiner Schwester verlangte ‚Diskretion‘.¹⁶ Um die Funktion dieser weit übergreifenden und vielseitigen ethischen und intellektuellen Tugend an einigen prominenten Stellen der Texte, die Ekbert
Der Verweis auf den unbenannten ‚Tröster‘: Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 70. Elisabeths Text über eine apokalyptische Strafe findet man nur in der höchstwahrscheinlich ersten überlieferten Fassung ihrer Visionen, die den aussagekräftigen Titel ‚Liber de temptationibus‘ trägt. Zur sehr komplexen und umfangreichen handschriftlichen Überlieferung der Werke Elisabeths: Kurt Köster, Elisabeth von Schönau. Werk und Wirkung im Spiegel der mittelalterlichen handschriftlichen Überlieferung, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 3 (1951), S. 243 – 315, bes. 256 – 264 (über die Handschriften der Fassung B); Ders., Das visionäre Werk Elisabeths von Schönau. Studien zu Entstehung, Überlieferung und Wirkung in der mittelalterlichen Welt, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 4 (1952), S. 79 – 113, bes. 86 – 89 (über die Fassung B); vgl. Clark (Anm. 6), S. 137– 145: 139, die Kösters chronologischer Reihenfolge der Fassungen A und B zu Recht widerspricht. Im Abschnitt 78 der späteren Fassungen des ersten Visionenbuches taucht eine überarbeitete Version der Vision mit einigen Passagen auf, die man auch im Brief an Hildegard wiederfindet. An dieser Stelle ist aber ein zusätzliches Detail dieser überarbeiteten Vision relevant: Das im Bett versteckte Büchlein, das auf Wunsch Elisabeths von der magistra der Frauengemeinschaft abgeholt worden sei, habe Ekbert dagelassen. Ganz klar wird anschließend betont, dass die Geschwister sich entschlossen hätten, die Visionen bis zum Tod Elisabeths geheim zu halten: Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 46: „und ich machte unserer Meisterin ein Zeichen, welche allein um mein Geheimnis wußte, daß sie das zu mir bringen solle, was ich heimlich unter meinem Bette verborgen hatte, nämlich einen Teil des vorliegenden Büchleins, das du, mein Bruder, bei mir zurückgelassen hattest. Ganz fest nämlich, so wie wir es abgesprochen hatten, hatte ich den Vorsatz gehabt, bis zu meinem Lebensende diese Schriften alle zu verbergen.“; Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 38.Vgl. auch den Aufruf zur Buße im Abschnitt 70: Ebd., S. 33. Manchmal werden die Abschnitte 20 und 21– 28 des dritten Visionenbuchs in der Edition von Ferdinand Roth als die zwei weiteren bekannten Briefe Elisabeths an Hildegard betrachtet. Es liegt jedoch kein starkes Argument vor, um in diesen Abschnitten zwei Briefe statt eines einzigen Textes zu lesen, und genausowenig, um darin einen echten Brief an die Visionärin von Rupertsberg zu erkennen. Es könnte sich eventuell um eine spirituelle Epistel handeln, die von der Figur Hildegards inspiriert wurde und sogar eine ‚Aneignung‘ ihrer Vision von den Häretikern darstellt. Laut Dinzelbacher handelt es sich „ursprünglich eher um mehrere, hier kontaminierte Schreiben“, Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 83, Anm. 38; vgl. Elisabeth of Schönau, The Complete Works (Anm. 2), S. 291, Anm. 218. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass ausgerechnet die zentrale christliche Tugend der discretio das Hauptthema von Hildegards Brief ist, der lange Zeit für einen zweiten Text an Elisabeth gehalten wurde, jedoch seit dreißig Jahren in der Forschung nicht mehr als solcher gilt. Zwar war die Empfängerin dieses Briefs wahrscheinlich eine andere, aber manche seiner Abschriften wurden in einem Zweig der extrem komplexen Überlieferung der Werke Elisabeths absichtlich so vorgestellt und sogar überarbeitet, um die Visionärin aus Schönau als Empfängerin darzustellen. Vgl. Van Acker (Anm. 11); vgl. den Brief in: Hildegard von Bingen, Epistolarium (Anm. 12), CXCVIII, S. 450 – 451, wo als Zielort (mit Fragezeichen) St. Thomas an der Kyll erwähnt wird.
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‚editiert‘ oder verfasst hat, wird es nach einer kurzen Einleitung auf den nächsten Seiten gehen.
2 Ekbert und Elisabeth: eine Einleitung Dieser Skandal und der Briefwechsel zwischen den beiden Frauen datieren aus der Mitte der 50er Jahre des 12. Jahrhunderts.¹⁷ Elisabeth, geboren 1129, war Nonne im Doppelkloster Schönau im Taunus.¹⁸ Seit 1152 gestaltete sich ihr körperliches und seelisches Unbehagen als Visionserfahrung, die am Anfang eher unheimliche Aspekte beinhaltete.¹⁹ 1155 trat ihr Bruder, Ekbert, früher Kanoniker in Bonn, in das Kloster seiner Schwester ein und steuerte seitdem ihre religiöse Erfahrung.²⁰ Unter seinem Einfluss richteten sich die Visionen immer häufiger auf theologisch oder kultisch relevante Fragen: Folge dieser Zusammenarbeit war nicht nur die Kontrolle der manchmal noch auftauchenden, beunruhigenden Inhalte – zum Beispiel das problematische Bild der Weiblichkeit der menschlichen Natura Christi ²¹ –, sondern auch die Veröffentlichung sehr erfolgreicher thematischer Zyklen von Visionen: das ‚Buch der Gotteswege‘ (1156 – 1157), das ‚Buch der Offenbarungen über das heilige Heer der Kölner Jungfrauen‘ (1156 – 1157) und ‚Über die Auferstehung Mariens‘ (1156 – 1159).²²
Vgl. Clark (Anm. 6), S. 154, Anm. 26, für die Datierung der Vision auf den Juli der Jahre 1152– 1154. Die Prophezeiung betraf das Jahr 1155, in dem Karfreitag mit der Verkündigung zusammenfiel (am 25. März): ein Umstand, dem ein besonderes apokalyptisches Potential beigemessen wurde. Außer der schon mehrmals zitierten Biographie von Anne L. Clark vgl. Kurt Köster, Elisabeth von Schönau, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 488 – 494; Ann L. Clark, Elisabeth of Schönau, in: Alastair Minnis u. Rosalynn Voaden (Hgg.), Medieval Holy Women in the Christian Tradition (c. 1100 – c. 1500) (Brepols Collected Essays in European Culture 1), Turnhout 2010, S. 371– 391. Zum Kloster Schönau vgl. Joachim Kemper, Das benediktinische Doppelkloster Schönau und die Visionen Elisabeths von Schönau, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 54 (2002), S. 55 – 102. Vgl. Clark (Anm. 6), S. 68 – 100; Peter Dinzelbacher, Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn u. a. 1993, S. 78 – 101; Felix Heinzer, Imaginierte Passion – Vision im Spannungsfeld zwischen liturgischer Matrix und religiöser Erfahrung bei Elisabeth von Schönau, in: Andreas Bihrer u. Elisabeth Stein (Hgg.), Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, München, Leipzig 2004, S. 463 – 475. Vgl. Kurt Köster, Ekbert von Schönau, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 436 – 440; Manselli (Anm. 13), S. 227– 246; und hierzu vor allem: Uwe Brunn, Des contestataires aux „cathares“. Discours de réforme et propagande antihérétique dans les pays du Rhin et la Meuse avant l’Inquisition (Collection d’Études Augustiniennes – Série Moyen Age et Temps Modernes 41), Paris 2006, S. 207– 217. Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 60 – 62. Zur Zusammenarbeit zwischen Ekbert und Elisabeth vgl. Anne L. Clark, Repression or Collaboration: The Case of Elisabeth und Ekbert von Schönau, in: Scott L. Waugh u. Peter D. Diehl (Hgg.), Christendom and its Discontents. Exclusion, persecution, and rebellion, 1000 – 1500, Cambridge 1996, S. 151– 167; Clark (Anm. 6), S. 50 – 67; Dies., Holy Woman or Unworthy Vessel? The Representations of Elisabeth of Schönau, in: Catherine M. Mooney (Hg.), Gendered Voices. Medieval Saints and their
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Gleichzeitig arbeitete Ekbert an den sogenannten ‚Tagebüchern‘ Elisabeths, deren Veröffentlichung zu einer lebenslangen Editionsarbeit wurde und dabei gewissermaßen ein work in progress blieb. In einleitenden Abschnitten dieser schließlich in drei Bücher aufgeteilten Sammlung der Visionen Elisabeths wurden verschiedene Aspekte der Glaubwürdigkeit der Visionen betrachtet; darunter auch die discretio, die für die Deutung und Veröffentlichung ihrer religiösen Erfahrung erforderlich waren. Die lateinische discretio, die ‚Unterscheidungs- bzw. Urteilskraft‘, ist ein sehr komplexer Grundbegriff, dem in den verschiedenen Kontexten der mittelalterlichen Kultur zentrale Funktionen in vielen ‚Handlungsbereichen‘ zugewiesen wurden. Die antike Tradition einer praktischen Klugheit als einer übergeordneten und regulierenden Charakter- und gleichzeitig Verstandestugend wurde von Anfang an oft ins christliche Denken übernommen und theologisch überarbeitet: Besonders einflussreich war die Ausgestaltung der discretio in der monastischen Tradition, die von Cassianus und von der Benediktsregel geprägt wurde.²³ Im 12. Jahrhundert wurde über die discretio intensiv nachgedacht: Sie spielte eine wichtige Rolle bei Bernhard von Clairvaux sowie bei den Viktorinern, insbesondere bei Richard von Sankt Viktor. Auch im Denken Hildegards von Bingen kam der discretio eine absolut zentrale und vielseitige Funktion im christlichen Glauben bzw. in der einschlägigen Theologie zu.²⁴ Wie schon angedeutet, nimmt im Fallbeispiel der religiösen Erfahrung Ekberts und Elisabeths von Schönau die vielseitige discretio auch in der breiten Dimension von „Geheimnis und Verborgenem“ eine gewisse Rolle ein, die als Geschichtsproblem des Symposiums aufgeworfen wurde.²⁵ Eben die besondere Perspektive der regulie-
Interpreters, Philadelphia 1999, S. 35 – 51. Zum Vergleich mit anderen ähnlichen Situationen siehe: John Coakley, Women’s Textual Authority and the Collaboration of Clerics, in: Alastair Minnis u. Rosalyn Voaden (Hgg.), Medieval Holy Women (wie. Anm. 18), S. 83 – 104. Zu Elisabeths Werken vgl. Köster (Anm. 14); Clark (Anm. 6), S. 28 – 49; Elisabeth of Schönau, The Complete Works (Anm. 2), S. 7– 20. André Cabassut, Discrétion, in: Dictionnaire de spiritualité, Bd. 3 (1957), Sp. 1311– 1330; François Dingjan, La discrétion dans les apophtegmes des Pères, in: Angelicum 39 (1962), S. 403 – 415; Ders., Discretio: Les origines patristiques et monastiques de la doctrine sur la prudence chez Saint Thomas d’Aquin (Van Gorcum’s theologische bibliotheek 38), Freiburg (Schweiz) 1967; Grazia Mangano Ragazzi, Obeying the Truth: Discretion in the Spiritual Writings of Saint Catherine of Siena, Oxford, New York 2014, S. 107– 150. Zu Bernhard von Clairvaux: Christoph Benke, Unterscheidung der Geister bei Bernhard von Clairvaux (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 4), Würzburg 1991, bes. S. 217– 229; zu Richard von Sankt Viktor: Mangano Ragazzi, Obeying the Truth (Anm. 23), S. 124– 130; zu Hildegard vgl. Margot Schmidt, ‚Discretio‘ bei Hildegard von Bingen als Bildungselement, in: James Hogg (Hg.), Spiritualität heute und gestern (Analecta Cartusiana 35), Bd. 2, Salzburg 1983, S. 73 – 94; Francesco Santi, La „discretio“ nella consapevolezza mistica di Ildegarde di Bingen, in: Mariano dell’Omo u. a. (Hgg.), Sodalitas. Studi in memoria di Don Faustino Avagliano (Miscellanea Cassinese 86), Bd. 2, Montecassino 2016, S. 1017– 1030. Zur Definition des Geheimen und der Verborgenheit in der christlichen theologischen Tradition vgl. Elke Kruttschnitt u. Guido Vergauwen, Geheimnis, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4 (1995), Sp. 355 – 356; Irénée-Henri Dalmais, Mystère et mystères, in: Catholicisme, Bd. 9 (1982),
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renden Maßstabsfunktion, die die discretio auch in diesem Fall beinhaltete, erlaubt es, die zwei bereits angedeuteten ‚Achsen‘ verborgen/offenbart sowie geheim/öffentlich zu imaginieren, durch die zwei nicht übereinstimmende Prozesse beschrieben werden können: der der Offenbarung, die von Gott ausgeht, und der der Veröffentlichung bzw. der Auslegung der Offenbarung, für die die Menschen verantwortlich sind.²⁶ Im von der Kreuzung dieser Achsen erzeugten Spannungsfeld hat Ekbert an der ‚Veröffentlichung‘ der Visionen seiner Schwester gearbeitet.
Abb. 2: Orthogonalisierung der ‚kulturellen‘ bzw. ‚semiotischen‘ Achsen verborgen/offenbart und geheim/ öffentlich – funktionaler Querschnitt des religiösen Feldes – Verortung der religiösen Erfahrung.
Das war jedoch für Ekbert nicht das einzige Problem in diesem Spannungsfeld. Damit verbunden war eine Herausforderung, mit der er sich schon seit Jahren beschäftigte: die der Häretiker, die sich ‚heimlich‘ in den rheinischen Gebieten verbreiteten. Gegen sie schrieb er einen aus Predigten bestehenden ‚Traktat‘, einen der ersten gegen die Häretiker im Hochmittelalter überhaupt, in dem die Bezeichnung ‚Katharer‘ neu verwendet wurde. Hier taucht ebenfalls die Funktion der discretio auf.²⁷
Sp. 920 – 928; Jean-Marie Aubert, Secret, in: Catholicisme, Bd. 13 (1993), Sp. 981– 986. Vgl. auch: Barbara Faes de Mottoni, „Et audivit arcana verba, quae non licet homini loqui“. Arcani, segreti e misteri nella teologia all’inizio del ’200: Roberto Grossatesta, Guglielmo d’Auxerre, Rolando di Cremona, in: Micrologus. Natura, Scienze e società Medievali 14 (2006), S. 59 – 64, siehe jedoch auch den Band insgesamt, der sich monographisch dem Thema „Il Segreto/The Secret“ widmet. Zu diesem Spannungsfeld im Allgemeinen vgl. Peter von Moos, ‘Occulta cordis’. Contrôle de soi et confession au moyen âge, in: Médiévales 29 (1995), S. 131– 140 und in: Médiévales 30 (1996), S. 117– 137. Spezifischer vgl. den wichtigen Aufsatz: Christel Meier, Von der ‚Privatoffenbarung‘ zur öffentlichen Lehrbefugnis. Legitimationsstufen des Prophetentums bei Rupert von Deutz, Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau, in: Gert Melville u. Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10), Köln, Weimar, Wien 1998, S. 97– 123, bes. 118 – 122 über Elisabeth. Zu den Tätigkeiten Ekberts von Schönau im Kampf gegen die Häretiker vgl. Brunn (Anm. 20), S. 210 – 217. Eine solche Herausforderung wurde laut Brunn nur von Ekbert klar wahrgenommen. Der Fokus anderer Stellungnahmen gegen die Heterodoxie lag in der Verteidigung der Amtskirche gegenüber der Kritik am Klerus. Vgl. jetzt auch Ders., Schall und Rauch. Der Name „Katharer“ und das Gespenst der ketzerischen Gegenkirche vom Mittelalter bis in die neueste Zeit, in: Catherine Maurer u. Catherine Vincent (Hgg.), La coexistence confessionnelle en France et en Europe germanique et orientale: du Moyen âge à nos jours (Chrétiens et sociétés. Documents et mémoires 27), Lyon 2015,
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3 Ekbert und die Herausforderung der ‚Katharer‘ Ekbert verfasste das Buch gegen die Häresien der ‚Katharer‘ (Liber contra haereses catharorum oder Sermones) wahrscheinlich zwischen seinem Klostereintritt und dem Jahr 1164/1165.²⁸ Er widmete es dem Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, der mit Ekbert seit der Zeit seiner Ausbildung befreundet war. Die ‚Veröffentlichung‘ dieser Sammlung der Predigten folgte selbstverständlich nicht zufällig auf die Verurteilung und Verbrennung einer Gruppe von Häretikern in Köln im Sommer 1163.²⁹ Im Widmungsbrief schrieb Ekbert: In Eurer Diözese geschieht es häufig, dass gewisse Häretiker aufgegriffen werden, die sich heute insbesondere durch ihre Irrtümer auszeichnen. Es handelt sich dabei um jene, die gemeinhin (vulgo) Katharer genannt werden: Dieser Menschenschlag ist für den katholischen Glauben sehr schädlich […]. Sie verfügen über gute Kenntnisse der Passagen der Heiligen Schrift, die sie auf irgendeine Weise mit ihren Sekten in Übereinstimmung zu bringen scheinen, und mithilfe dieser Passagen können sie ihre Irrtümer verteidigen und die katholische Wahrheit angreifen: Sie beteiligen sich jedoch überhaupt nicht am korrekten Verständnis, das in den heiligen Worten ver-
S. 27– 58; und im allgemeineren Kontext vgl. Ders., Dialectique, dualité christologique et monisme institutionnel. La construction d’un monde sans division… avec les „manichéens“ en marge (de Grégoire VII à Innocent III), in: Franck Mercier u. Isabelle Rosé (Hgg.), Aux marges de l’hérésie. Inventions, formes et usages polémiques de l’accusation d’hérésie au Moyen Âge, Rennes 2017, S. 85 – 110, bes. 96 – 98. Aber vgl. auch: Robert Harrison, Eckbert of Schönau and Catharism: A Reevaluation, in: Comitatus. A Journal of Medieval and Renaissance Studies 22/1 (1991), S. 41– 54. Zum Thema der ‚Katharer‘ vgl. den jüngst erschienenen Sammelband: Antonio Sennis (Hg.), Cathars in Question (Heresy and Inquisition in the Middle Ages 4), York 2016, der die aktuelle Debatte über die ‚Katharer‘ und die laufende historiographische Revision vorstellt; siehe auch: Pilar Jiménez-Sanchez: Les catharismes modèles dissidents du christianisme médiéval (XIIe–XIIIe siècles), Rennes 2008; Malcolm Barber, The Cathars. Dualistic Heretics in Languedoc in the High Middle Ages, 2. Aufl., London u. a. 2013. Im vorliegenden Beitrag hat man sich für die Beibehaltung der Bezeichnung ‚Katharer‘ entschieden, weil die erste Konstruktion dieser hochmittelalterlichen häretischen Identität eben Ekbert und seinem ‚Traktat‘ zugeschrieben werden kann: zum Problem der Bezeichnung vgl. Peter Biller, Goodbye to Catharism?, in: Antonio Sennis (Hg.), Cathars in Question (Heresy and Inquisition in the Middle Ages 4), York 2016, S. 275 – 277. Eckbertus Schonaugiensis, Sermones adversus pestiferos foedissimosque Catharorum, qui Manichaeorum haeresim innovarunt, damnatos errores ac haereses, hrsg. v. Jean-Paul Migne (Patrologia Latina 195) Paris 1855, Sp. 11– 96 (und ein Excerptum aus den Texten von Augustinus, Sp. 97– 102). Vgl. zum Text die ausführliche Beschreibung von Brunn (Anm. 20), S. 275 – 333; zur Datierung: ebd., S. 218 – 219. Vgl. Brunn (Anm. 20), S. 197– 207; und auch Mario Kramp, 1143 und 1163: Ketzer in Köln. Der rheinische Katharismus und die Anfänge der organisierten Ketzerverfolgung durch die katholische Kirche, in: Geschichte in Köln 35 (1994), S. 5 – 32; Heinz Finger, Häresien und Bekämpfung in den rheinischen (Erz‐)Bistümern im Mittelalter, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 208 (2005), S. 57– 86: 65 – 71.
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borgen liegt und das sich einzig und allein mit großer Unterscheidungskraft (discretio) erschließt.³⁰
Hier kommt die discretio ein erstes Mal vor. Damit ist die intellektuelle Fähigkeit gemeint, die das richtige Verständnis der Heiligen Schrift erlaubt: discretio als Funktion der korrekten Exegese.³¹ Diese betont Ekbert nochmals in der Predigt über die Totenpflege: „Die Wörter der Heiligen Schrift müssen mit großer Unterscheidungskraft (discretio) betrachtet werden: Sonst können sie den Leser an vielen Stellen verstören und für ihn sogar zu einer todbringenden Sache werden.“³² In der ersten Textstelle ist die discretio darüber hinaus spezifisch mit der Auslegung der verborgenen Bedeutungen der christlichen Offenbarung verbunden, die die Bibel charakterisieren. Ekbert betrachtet darüber hinaus in den Predigten verschiedene kontroverse Themen und entwickelt Argumente gegen die von den ‚Katharern‘ vertretenen Deutungen der Heiligen Schrift und gegen ihre Lehre. Das war alles andere als einfach, weil sie ihren Glauben verborgen hielten und im Geheimen verbreiteten.³³ Dieser Aspekt, der sich zu einer traditionellen Kennzeichnung der Häretiker entwickelt, bildet ein Hauptmotiv der ersten Abschnitte seines ‚Traktates‘ und wird in Ekberts Wahrnehmung zum distinktiven Merkmal der ‚Katharer‘ im Gegensatz zur Öffentlichkeit der christlichen Offenbarung. In seiner ersten Predigt behauptete Ekbert: Wir haben schon viele Spuren von Pseudopropheten bemerkt, die sich an versteckten kultischen Orten als Christus bezeichnen. Da sind einige geheimnisvolle (latibulosi) Menschen, die Verdorbene und Verderber sind, die sich lange Zeit versteckt haben und die in vielen einfältigen und dummen Menschen heimlich den christlichen Glauben verdorben haben […]. Diese bezeichnet
In vestra dioecesi frequenter contigit deprehendi quosdam haereticos, qui diebus istis plurimum notabiles sunt in erroribus suis. Hi sunt quos vulgo Catharos vocant: gens perniciosa nimis Catholicae fidei […]. Muniti sunt verbis sacrae Scripturae, quae aliquo modo sectis eorum concordare videntur, et ex eis sciunt defendere errores suos, et oblatrare Catholicae veritati: rectae autem intelligentiae, quae in sacris verbis latet, et non sine magna discretione agnoscitur, nimis expertes sunt. Eckbertus, Sermones (Anm. 27), Sp. 12– 13 (Übersetzung Eugenio Riversi). Die falsche Auslegung der Bibel ist eine der häufigsten Kennzeichnungen der Häretiker: HansWerner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert), Bd. 2, Berlin 2013, S. 613 – 615. Verba sanctae Scripturae cum magna discretione animadvertenda sunt: alioquin in multis locis perturbare nimium possunt lectorem, suntque ei vasa mortis, quoniam saepe in uno eodemque dicto diversae significationes intelligi possunt, quarum una ad veritatem, alia pertineat ad falsitatem. Eckbertus, Sermones (Anm. 27), Sp. 57 (Übersetzung Eugenio Riversi).Vgl. auch ebd., Sp. 20 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Gebt nicht das Heiligtum den Hunden, und werft nicht eure Perlen vor die Säue. O verächtliche Grobiane (rustici), ihr sollt nicht diese [heiligen] Worte für eure Verteidigung übernehmen, weil ihr sie nicht richtig versteht (discernitis).“ „Wahrhaftig erfuhren wir alle diese Dinge über alle diejenigen, die man heutzutage Katharer nennt.“ Ebd., Sp. 17– 18 (Übersetzung Eugenio Riversi).
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unsere Germania als Katharer, Flandern als piphles und Gallia als Texerant wegen des Weberhandwerks.³⁴
Die ‚Katharer‘ trafen sich laut Ekbert in Werkstätten, Kellern und anderen unterirdischen und versteckten Orten, wo sie im Geheimen ihre Lehre vermitteln und ihre Rituale pflegten: Nur dort manifestiere sich Christus im Glauben und im Kult. Es handele sich jedoch um geheime Schändlichkeiten (secretae turpitudines) und Schweinereien (secretae spurcities).³⁵ Laut Ekbert ist deshalb die Dimension des Geheimnisses kennzeichnend für die Häretiker, mit denen er sich beschäftigt, und diesen Aspekt findet man auch schon in den zwei Stellen der früheren Werke Elisabeths, die sich mit den ‚Katharern‘ befassen.³⁶ Es ist also nur konsequent, dass Ekbert dann in der ersten einleitenden Predigt polemisch die gegensätzliche, öffentliche Dimension der christlichen Religion betont. Ach Katharer, hinterlistiges Volk, ihr behauptet, dass man nirgendwo anders als in euren versteckten kultischen Orten (penetralia) nach Christus suchen muss. Sagt mir, wann der Herr die Entscheidung traf, in euren Ecken (anguli) versteckt (absconditus) sein zu wollen. Ihr sagt, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens nur euch bekannt ist und nur bei euch versteckt (abscondita) ist.³⁷
Sed de pseudoprophetis, qui dicunt esse in penetralibus Christum, jam multa percipimus. Ecce enim quidam latibulosi homines perversi et perversores, qui per multa tempora latuerunt, et occulte fidem Christianam in multis stultae simplicitatis hominibus corruperunt […] Hos nostra Germania, Catharos; Flandria, Piphles; Gallia, Texerant, ab usu texendi appellat. Eckbertus, Sermones (Anm. 27), Sp. 13 (Übersetzung Eugenio Riversi). Ebd., Sp. 13 – 14 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Wie der Herr über sie vorhersagte, sagen sie, dass Christus an versteckten kultischen Orten (penetralibus) sei, weil sie sagen, dass der wahre Glauben Christi und dessen wahrer Kult nirgendwo anders als in ihren Zusammenkünften (zu finden) sei, die in Kellern und in Webereien stattfinden, oder in vergleichbaren unterirdischen Behausungen.“ Für den Ausdruck secretae turpitudines siehe ebd., Sp. 15 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Ich werde nicht gänzlich unbeachtet lassen, was ich von einem zuverlässigen Mann gehört habe, der aus ihrer Gesellschaft austrat, als er deren Unglauben und ihre geheimen Schändlichkeiten (secretis turpitudinibus) erkannte.“ Für den Ausdruck secretae spurcities siehe ebd., Sp. 18 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Die, die als Katharisten bezeichnet wurden, wurden wegen einiger geheimer Schweinereien (secretas spurcitias), die insbesondere sie begingen, für schändlicher als die übrigen gehalten.“ Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 87. Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 74: „Aber auch ich erinnere mich bei mir, daß es mir einmal erschien, es würden Giftschlangen in die Kirche Gottes kommen, die im Geheimen (secreto) die Kirche Gottes zerfleischen wollten. Und dies, verstehe ich, bezieht sich auf jene Katharer, die die Kirche Gottes jetzt im Geheim (occulte) täuschen.“; Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 123. Elisabeth von Schönau, Liber viarum dei, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 104: „Viele Häresien gibt es in unseren Tagen, doch verborgen (occulte), und viele Häretiker, die im Verborgenen (latenter) gegen den katholischen Glauben kämpfen und ihm viele abspenstig machen. Da fragte ich ihn und sagte: Mein Herr, was sprichst du von jenen, die man Katharer nennt, die angeblich das Leben der Verheirateten gänzlich ablehnen?“ Eckbertus, Sermones (Anm. 27), Sp. 18 (Übersetzung Eugenio Riversi): O Cathari plebs angulosa, qui non alibi nisi in vestris penetralibus Christum esse quaerendum aestimatis. Dicite mihi, quando iniit
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Der Erlöser habe aber die Wahrheit nicht versteckt. Obwohl er manchmal seinen Jüngern abseits von Menschenmengen etwas offenbart habe, das sie nicht sofort öffentlich machen sollten – eine Art von ‚Diskretion‘, die von Christus ausgeübt wurde –, sage er auch, dass sie es später veröffentlichen müssten. Außerdem hätten seine Jünger nicht nur an abgelegen Orten gepredigt, und nicht nur vor dem Volk, sondern auch vor Königen und Fürsten. Zu allen Menschen, wie Paulus behauptet.³⁸ Ekbert argumentiert stringent weiter und erklärt, dass der geheime Kult der ‚Katharer‘ sowie die Verborgenheit der Lehre auf Angst gegründet seien.³⁹ Unter Bezugnahme auf zwei weitere Themen deutet er auch an, dass es zwei Niveaus ihrer Lehre gäbe, d. h. einerseits öffentlichere und andererseits verborgenere Begründungen ihres Glaubens: zum Beispiel anhand des Verbotes, Fleisch zu essen, und anhand der Praxis der
hoc consilium Dominus, vellet esse absconditus in angulis vestris? Dicitis quoniam veritas Christianae fidei vobis solis sit nota, et apud vos solos abscondita. Eckbertus, Sermones (Anm. 27), Sp. 18 – 19 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Aber wir wissen, dass der Herr und Erlöser sie [die Wahrheit des christlichen Glaubens] nicht versteckt (abscondit) hat, wie es in Seinen Worten offensichtlich ist (patet), die er unmittelbar vor seiner Passion vor dem Hohepriester der Juden ausgesprochen hat: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen und habe nichts im Geheimen (in occulto) gesprochen (Jo 18, 20). Er sagte deshalb nichts, von dem er wollte, dass es verborgen (occultum) bleibe. Denn auch wenn er den Jüngern manchmal abseits von Menschenmengen etwas sagte, das sich nicht eignete, um zu jenem Zeitpunkt öffentlich (manifesta) gemacht zu werden, sprach Er sie allerdings [so] an: Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet im Licht, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern (Mt 10, 27). Denen befahl er auch nach Seiner Auferstehung: Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung (Mk 16, 15). Über sie sagte der Evangelist auch: Sie aber zogen aus und verkündeten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte das Wort durch die Zeichen, die es begleiteten (Mk 16, 20). Sie predigten nicht in abgelegenen Orten, nicht in Kellern oder in Webereien, aber die Schrift sagt: Sie predigten an allen Orten, nicht nur vor dem Volk, sondern auch vor den Königen und den Fürsten der ganzen Welt, wie es über sie geschrieben ist: In die ganze Welt ist ihr Schall gedrungen (Röm 10, 18). Der Herr wollte nicht, dass Seine Lehre von Paulus geheim gehalten wird (celari), da er sagte: Dieser ist mir ein auserwähltes Werkzeug: Er soll meinen Namen vor Völker und Könige und die Söhne Israels tragen (Apg 9, 15). Paulus selbst glaubte, dass die Wahrheit des Evangeliums vor keiner Art von Mensch geheim gehalten (celandam) werden sollte, als er sagte: Griechen und Nichtgriechen, Gebildeten und Ungebildeten bin ich verpflichtet; deshalb bin ich, soviel an mir liegt, bereit, auch euch in Rom das Evangelium zu verkünden (Röm. 1, 14– 15).“ Der Titel der ersten einleitenden Predigt lautet: „Über die Tatsache, dass die christliche Lehre nicht zu verbergen sei“ (Übersetzung Eugenio Riversi). Ebd., Sp. 19 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Ihr wart immer versteckt (absconditi) und verbergt (occultastis) eure Lehre, und deshalb habt ihr euer Licht unter den Scheffel der Furcht gesetzt, und nie zeigt (manifestatis) ihr sie jemandem, von dem ihr fürchtet, dass er euch öffentlich anzeige (manifestos). Lange Zeit – fünfzehn Jahre, wie man sagt – verbergt (occultatis) ihr selbst vor denjenigen, die zu euch kommen, euren Glauben – durch den ihr hofft, gerettet zu werden – sowie eure verborgenen Taten (occulta opera), solange bis ihr sie geprüft habt, so dass ihr von ihnen erwarten könnt, dass sie euch nicht verraten.“
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Taufe.⁴⁰ Das Flüstern sei das wirksame, verführerische und verfängliche Mittel der Verbreitung dieser ketzerischen Lehre.⁴¹ Im Gegensatz dazu wird die Öffentlichkeit des christlichen Glaubens von Ekbert stark betont. Er verwendet nicht nur die häufigen neutestamentarischen Bilder der ‚Stadt‘, die hoch auf dem Berg nicht verborgen sein kann, und der Öllampe, die man nicht unter einen Eimer stellt, sondern er historisiert seine Argumentation auch, indem er in der zweiten einleitenden Predigt die Öffentlichkeit der Kirche anhand der Geschichte der Christianisierung zeigt.⁴² Des Weiteren zeige eben diese Geschichte, dass die angeblich immer versteckten ‚Katharer‘ nicht die auserwählten Träger der göttlichen Botschaft seien.⁴³ Selbstverständlich sind diese Geheimhaltung und diese Verborgenheit der Lehre der ‚Katharer‘ durch die Wahrnehmung von Ekbert vermittelt, die auf traditionellen, spätantiken Kennzeichen der Häresie basiert; d. h. man kann ihre religiöse Erfahrung nicht unmittelbar erfassen und ihre Einstellungen gegenüber der göttlichen Offen-
In Bezug auf das Fleischverbot: Ebd., Sp. 14– 15 (Übersetzung Eugenio Riversi) „Und sie drücken diese Erklärung offenkundiger aus (manifestius dicunt), aber an ihren versteckten Orten sagen sie das, was noch schlimmer ist […].“. In Bezug auf die Taufe: Ebd., Sp. 15 (Übersetzung Eugenio Riversi) „Es gibt jedoch etwas anderes, das sie darüber [über die Taufe] allgemeiner, aber [auch] heimlicher (occultius) sagen […].“ Ebd., Sp. 30 : Talia jam longo tempore latenter susurraverunt, lustrantes ubique domos seductibilium hominum, et multas in his temporibus infelices animas, ut audivimus, captivas ducunt retinaculis susurri pessimi. Ebd., Sp. 16. Vgl. auch: Scio unum ex susurris vestris, novi verbum occultae sapientiae vestrae. Vgl. auch: Ebd., Sp. 37, 40, 45, 46, 50. Ebd., Sp. 21– 25: 24. Vgl. auch ebd., Sp. 21 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Hört nun vom Glauben und von der Gnade, zu der wir uns bekennen und die wir öffentlich (in manifesto) predigen, wie sie in uns kamen, und wie die Kirche Gottes, deren Glieder wir dank Seiner Gnade sind, erhöht und offenbar gemacht (in manifesto posita) wird.“. Auch in diesem Abschnitt kommen manifestum und manifestare vor, die zentrale Schlüßelwörter des Werkes von Ekbert sind. Ebd., Sp. 19 – 20 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Für alle – Gute wie Böse, Auserwählte wie Sünder – wollte Gott daher offenbar machen (innotescere), was der Glaube und die Institutionen der Christen seien, so dass sich niemand wegen Unkenntnis entschuldigen könnte. […] Allen Menschen müssen die Heilsworte offenkundig (manifeste) gesagt werden, ohne deren Kenntnis niemand sich retten kann, und niemand kann als solch ein Hund oder Schwein beurteilt werden, dass die (Heilsworte) vor ihm versteckt werden (occultari) müssten.“ Der Titel der zweiten einleitenden Predigt lautet (Übersetzung Eugenio Riversi): „Über das Wachstum und die Offenbarung des katholischen Glaubens“. Ebd., Sp. 19 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Wie ich gesagt habe, predigten die heiligen Apostel öffentlich (in manifesto) die Heilslehre, und taten (Wunder‐)Zeichen, indem sie die Toten auferweckten, den Blinden das Augenlicht gaben und jedwede Schwäche im Namen Christi vertrieben, sowie ertrugen, sich kreuzigen zu lassen, durch das Schwert ermorden und durch verschiedene Martyrien töten zu lassen, um ein Zeugnis der Wahrheit abzulegen. Wenn ihr aber Apostel Christi seid, wie ihr sagt, warum wart ihr so lange Zeit versteckt (latuistis)? Wenn ihr die Kirche Gottes seid, wie ihr sagt, warum wandertet ihr bis zu diesen Zeiten immer im Geheimen (in abscondito)?“; Ebd., Sp. 20 – 21 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Ihr sagt jetzt: Noch ist unsere Zeit nicht gekommen, in der wir sichtbar werden (manifestari) müssen; aber bereits jetzt beginnen wir, offen (palam) zur Welt zu sprechen. Es wird noch eine Zeit geben, in der Gott Seine Kirche, d. h. uns, erheben wird, und in der sich in uns erfüllt, was der Herr über Seine Kirche sagt: ‚Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.“
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barung und deren Veröffentlichung nicht direkt beobachten. Man kann jedoch darüber hinaus in unseren Quellen, insbesondere an einer relevanten Stelle des Buches der Gotteswege, feststellen, dass Elisabeth (und Ekbert) auch einige öffentlich sichtbare, angeblich sehr fromme Verhaltensweisen und Konzeptionen der Häretiker bemerkt. Elisabeth fragt: Und ich sagte: Herr, was oder wie ist ihr Glaube und ihr Leben? Er antwortete: Verkehrt ist ihr Glaube, und ihre Werke noch schlimmer.Wieder sagte ich: Vor den Augen der Menschen scheinen sie dennoch gerecht und werden gelobt, als ob sie gute Werke täten. So ist es, antwortete er. Sie verstellen ihr Antlitz, als ob sie ein gerechtes und unschuldiges Leben führten, und dadurch ziehen sie viele an sich und verführen sie. Innerlich sind sie voll von höchst üblem Eiter.⁴⁴
Das gehört zweifelsohne ebenfalls zu den traditionellen Darstellungen der Häretiker als Betrüger und Heuchler,⁴⁵ gleichzeitig jedoch fügt sich ein solcher Topos – wie immer – in ein besonderes Textgefüge und in einen spezifischen Kontext ein: nämlich den Elisabeths, Ekberts und der Genese ihrer Texte. Ein Kontext, in dem der von den ‚Achsen‘ verborgen/offenbart sowie geheim/öffentlich erzeugte Raum besonders problembelastet und empfindlich war: nicht zuletzt, weil die Visionen Elisabeths auf die Reform der Lebensweisen des Klerus abzielten.⁴⁶ In diesem Kontext versteht man auch die erwähnte Funktion der discretio als einer Art institutioneller ‚Rationalität‘, die das richtige Verständnis der christlichen Botschaft in der Bibelexegese sowie in der Lehre über die Praxis – zum Beispiel über die Ehe – ermöglicht und implizit die Formen ihrer öffentlichen Verbreitung regelt. In diesem Sinn war die discretio relevant auch in der Veröffentlichung der Visionen Elisabeths.
Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 122 – 123. Elisabeth von Schönau, Liber viarum dei, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 104– 105: Et dixi: Domine, que vel qualis est fides eorum aut vita? Respondit: Prava est fides eorum, et opera peiora. Rursus dixi: Videntur tamen in conspectu hominum iusti, et laudantur, quasi sint bonorum operum. Ita est, inquit. Facies suas simulant, quasi iuste et innocentis vite sint, ac per hec multos ad se trahunt et seducunt, intrinsecus autem pessima sanie pleni sunt. Viele Aspekte des Bildes der Häretiker in den Texten Ekberts und Elisabeths entsprechen den herkömmlichen Vorstellungen; vgl. Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen (Anm. 31), S. 600 – 635; zur Heuchelei: Ebd., S. 622– 623. Vgl. auch Sita Steckel, Falsche Heilige. Feindbilder des ‚Ketzers‘ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters, in: Alfons Fürst u. a. (Hgg.), Von Ketzern und Terroristen. Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern, Münster 2012, S. 17– 43. Das deutlichste Beispiel findet man im Brief an die Bischöfe von Trier, Köln und Mainz, denen das Buch der Gotteswege geschickt wurde: Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 143. Elisabeth von Schönau, Liber viarum dei, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 122: „Bessert Euch selbst und wendet Euch ab von euren Irrtümern und vernehmt diese heilige und göttliche Ermanhnung nicht unwillig, da dies nicht von Menschen erfunden wurde!“
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4 Ekbert und die Veröffentlichung der Visionen Elisabeths Das Problem der öffentlichen Glaubwürdigkeit Elisabeths liegt auch den einleitenden Abschnitten des zweiten Buches der Visionen zugrunde, in denen das Fortdauern ihrer visionären Erfahrung beschrieben wird: Die Hand Gottes wirke noch auf Elisabeth. Denn sie [die Hand Gottes] wird nicht von dem Gemurre jener zurückgehalten, die sich groß schätzen und verachten, was schwächer scheint; sie scheuen nicht davor zurück, die Reichtümer seiner Güte in ihr zu verlachen. Für sie ist dennoch zu fürchten, daß sie mit ihrem Gemurre das Wort des Familienvaters hören werden, der sagt: Ist dein Auge schlecht, weil ich gut bin? Dies ist jenen anstößig, daß in diesen Tagen der Herr besonders im schwachen Geschlecht sein Erbarmen zu vergrößern sich herabläßt.⁴⁷
Wie im Alten Testament werde dieses Zeitalter wieder von Mitgliedern des ‚schwachen Geschlechts‘ geprägt, die vom Geist Gottes erfüllt würden. Anschließend musste Ekbert jedoch die Weiterentwicklung der religiösen Erfahrung Elisabeths rechtfertigen. Am Ende des ersten Buches der Visionen, fast unmittelbar nach der überarbeiteten Fassung der Vision, die den Skandal verursacht hatte, kündigte der Engel Elisabeth an, dass sie bis zum Ende ihrer Tage keine „heilige[n] Visionen“ mehr sehen würde, weil Gott ihr das damit verbundene Leid barmherzig ersparen wolle. Allerdings musste Ekbert, der die abschließenden Teile des ersten Buches wahrscheinlich im Hinblick auf den Skandal ‚herausgegeben‘ hatte, genau erklären, was diese Veränderung bedeutete, indem er und Elisabeth weitere, eigentlich ähnliche Visionen sammelten und publizierten. Dies schien zunächst im Widerspruch zur Ankündigung des Engels zu stehen. Doch Ekbert deutete die Worte des Engels und unterschied zwischen verschiedenen Visionen: Die, die nicht mehr vorkommen werden, seien diejenigen, die besondere caelestia secreta behandelten. Aber, wie ich meine, wollte er damit, daß er ‚heilige‘ sagte, speziell jene Visionen der himmlischen Geheimnisse (caelestia secreta) verstanden wissen, die sie wie durch ein geöffnetes Tor im Himmel an den höchsten Feiertagen und häufig an den Sonntagen zu schauen gewohnt war. Von
Elisabeth von Schönau,Werke (Anm. 3), S. 49; Elisabeth von Schönau, Liber secundus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 40 : Non enim cohibetur murmuratione eorum, qui magnos se estimantes et que videntur infirmiora spernentes, divitias bonitatis eius in illa subsannare non formidant. Quibus tamen metuendum est, ne cum murmuratore audituri sint verbum patris familias dicentis, an oculus tuus nequam est, quia ego bonus sum? Hoc illos scandalizat, quod in his diebus plurimum in sexu fragili misericordiam suam dominus magnificare dignatur. Anschließend werden mit Hulda, Debora, Judith und Jahel beispielhaft starke Frauen des alten Testaments erwähnt.
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jener Zeit an nämlich, von der an jene Rede an sie erging, hörten Visionen dieser Art bei ihr völlig auf.⁴⁸
Zu dieser Gruppe gehörte wahrscheinlich auch die überarbeitete Vision der apokalyptischen Strafe, die Ekbert am Ende des ersten Buches hinzugefügt hatte, wie ihre Einführung vermuten lässt. Am Festtag des seligen Cyriacus, der auf einen Sonntag fiel, zerrte ich meine matten Glieder vom Bett auf, nachdem ich sechs Tage lang mit jener Erschöpfung krank gewesen war, die bei mir Visionen großer Dinge vorherzugehen pflegt, und zog mich zum Gebet an einen verborgenen Ort zurück.⁴⁹
Immerhin befindet sich diese Unterscheidung zwischen den Visionen in einer komplexen textuellen Architektur, einer Brücke zwischen dem ersten und zweiten Buch der Visionen, der eine strategische Funktion in der Veröffentlichung der religiösen Erfahrung Elisabeths zukommt.⁵⁰ Insbesondere hatte sie eine apologetische Tendenz inne und bestätigte die große Verantwortung Ekberts für die Verbreitung der Visionen. Außerdem scheint der Ausdruck caelestia secreta einerseits eine aussagekräftige Anspielung auf die Konzeption der Prophezeiung bei Elisabeth und Ekbert zu sein. Am Anfang des dritten Buches, in der Auslegung der komplexen Vision der himmlischen Stadt, werden die Patriarchen und die Propheten sowie die Verkündiger der Offenbarung im Neuen Testament vom Engel so beschrieben: Und er zeigte auf die, die saphirfarben waren und sehr ähnlich dem heiteren Himmel, wobei er sagte: Dies sind die heiligen Patriarchen und Propheten, Gottesdiener, mit denen der Herr im Alten Testament vertraulich sprach und ihnen seine himmlischen Geheimnisse (caelestia secreta) reichlich offenbarte. Und er blickte auch jene an, die diesen ähnlich waren, aber etwas leuch-
Elisabeth von Schönau,Werke (Anm. 3), S. 49; Ebd., S. 40 – 41: Sed ut arbitror in eo, quod ait sanctas, intelligi voluit specialiter visiones illas celestium secretorum, quas velut per ostium apertum in celo in maximis sollempnitatibus et frequenter in dominicis diebus videre consueverat. Ab illo enim tempore, ex quo dictus est ad eam sermo ille, omnino apud eam cessaverunt visiones huiusmodi. Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 46; Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 37: In festivitate beati Ciriaci, que erat in dominica die, cum sex diebus egrotassem eo languore qui visiones rerum magnarum in me solet precedere, traxi egra membra de lectulo, et veni in locum secretum orationis gratia. Vgl. den zweiten einleitenden Abschnitt des ersten Buches: Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 1. Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 1: „Es wurde ihr nämlich gewährt, im Geiste entrafft zu werden und die Visionen der Geheimnisse des Herrn (visiones secretorum domini) zu schauen, die vor den Augen der Sterblichen verborgen (abscondita) sind. […] Häufig nämlich, und geradezu gewöhnlicherweise kam über sie an den Sonntagen und anderen Festtagen zu jenen Stunden, in denen die Andacht der Gläubigen am heißestem brennt, ein in der Herzgegend, sie wurde von heftiger Angst erfaßt und ruhte schließlich wie entseelt […].“ Die ‚Geschichte‘ der Fassung dieser ‚Gelenkstelle‘ zwischen dem ersten und dem zweiten Buch der Visionen ist noch komplexer, wie die Überarbeitung und schließlich die Streichung von Ekberts Gebet Tua sunt zeigt. Vgl. Clark, Holy Woman (Anm. 22), S. 40.
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tender und mit weißen Linien beschrieben, wobei er sagte: Dies sind die heiligen Priester des Neuen Testamentes und großen Konfessoren, auch sie sind himmlisch der Gesinnung und dem Leben nach, doch ist ihre Lehre leuchtender als die der vorhergehenden Propheten.⁵¹
Andererseits war eben der Zugang zu dieser himmlischen Dimension ein Schwerpunkt des oben erwähnten Briefwechsels zwischen Elisabeth und Hildegard. Wie bereits gezeigt, hatte Letztere die Schwester Ekberts allgemein ermahnt, dass die von Gott inspirierten Menschen eigentlich keinen Zugang zum Himmlischen an sich haben können: „Die Himmlische sollen sie dem überlassen, der himmlisch ist, weil sie selbst Verbannte sind und das Himmlische nicht kennen.“⁵² Das war höchstwahrscheinlich eine Antwort auf den Anspruch Elisabeths, Kenntnis der caelestia sacramenta zu besitzen, wie sie am Anfang des Briefes an Hildegard behauptete, vor allem wenn diese Kenntnis einer verborgenen göttlichen Dimension das Weltende betraf. Nun war Ekberts Deutung der Ankündigung des Engels eine Art nachträgliche ‚Kurskorrektur‘ in der religiösen Erfahrung seiner Schwester und eine Neuausrichtung in deren öffentlicher Verbreitung. Eine ‚Kurskorrektur‘, die auf einer Unterscheidung der Visionen seiner Schwester basierte und die der Ermahnung Hildegards entsprach. In diesem aus der vielschichtigen Überlieferung der Texte Elisabeths herausgenommenen Geflecht von Passagen kann man die Unterscheidungs- und Steuerungsfunktion der discretio erkennen, die explizit in einigen Überlegungen Elisabeths am Anfang des ersten Buches der Visionen thematisiert wird. Dort, in einer weiteren, aus drei Abschnitten bestehenden, textuellen Konstruktion Ekberts, folgt als dritter Teil eine Art Aufruf Elisabeths an ihren Bruder, der ihre spirituell intime Beziehung zum Ausdruck bringt. Du erbittest von mir, Bruder, und dazu bist du gekommen, dass ich dir die Barmherzigkeiten des Herrn erzähle, die in mir zu wirken er sich gemäß dem Wohlgefallen seiner Gnade herabgelassen hat. Ich bin ganz bereit dazu, deiner Liebe in allem zu willfahren, denn dies hat auch meine lange begehrt, daß es möglich wäre, mich mit dir über all dieses zu besprechen und dein Urteil zu hören. […] Wenn jenes Wort, von dem du gehört hast, allgemein bekannt wird – wie es schon teilweise durch einige unvorsichtige Brüder, weiß Gott, gegen meinen Willen, bekannt wurde – was wird man dann, glaubst du, im Volk über mich reden?⁵³
Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 70; Elisabeth von Schönau, Liber tercius visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 59: Et demonstrans eos, qui saphirini coloris erant, et simillimi sereno celo, aiebat: sunt sancti patriarche et prophete servi dei, quibus familiariter locutus est dominus sub priore testamento et secreta sua celestia eis copiose revelavit, et ambulaverunt coram ipso corde perfecto, tanto amplius ad patriam celestem suspirantes, quanto eam per spiritum sanctum plenius contuebantur. Eos quoque, qui his similes erant, sed aliquanto lucidiores e lineis albis descripti aspiciens dixit: Hi sunt sancti pontifices novi testamenti magnique confessores animo et vita etiam ipsi celestes, sed doctrina eorum lucida magis, quam precedentium prophetarum. Hildegard von Bingen, Briefe (Anm. 12), S. 328. Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 6; Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 2: Petis a me frater, et ad hoc venisti, ut enarrem tibi misericordias domini, quas secundum beneplacitum gratie sue operari dignatus est in me. Promptum quidem est in me per omnia dilectioni tue satisfacere, nam et hoc ipsum diu desideravit anima mea, ut daretur mihi conferre tecum de
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Der letzte Teil des Zitats ist wahrscheinlich noch eine Anspielung auf den oben erwähnten Skandal. Das verbum, von dem auch Ekbert hörte, wurde von unvorsichtigen Brüdern in der Öffentlichkeit verbreitet, die Elisabeths religiöse Erfahrung nicht mit Diskretion behandelten. Der sich aus der Verbreitung der Visionen ergebende Ruhm könnte unterschiedliche unpassende Stellungnahmen gegenüber der religiösen Erfahrung Elisabeths mit sich bringen, die sich eigentlich für ein ‚verstecktes Leben‘ entschieden hatte (que elegi esse in abscondito). Einige könnten ihr eine gewisse Heiligkeit zuweisen, andere ihre Anmaßung tadeln, das Wort zu ergreifen, und wieder andere die unzuverlässige weibliche oder sogar teuflische Herkunft ihrer Worte kritisch betonen. Zudem verursachte ihr die Entscheidung des Abtes, ihre Visionen niederschreiben zu lassen, große Ängste, obwohl einige weise Zeitgenossen behaupteten, dass die Verbreitung ihrer Erfahrung gottgewollt sei, um auch andere Christen zu erbauen. Elisabeth stimmte dieser Meinung zu, weil das Schweigen für sie zur unerträglichen Qual wurde und die Veröffentlichung der Visionen im Gegensatz dazu eine Erleichterung darstellte.⁵⁴ Anschließend fuhr sie fort: Aber ich gestehe, dass ich so noch nicht ganz sicher bin, was ich am Ehesten tun sollte. Denn ich verstehe sowohl, daß es für mich gefährlich wäre, die großen Taten Gottes zu verschweigen, als ich auch sehr fürchte, es werde noch gefährlicher sein zu sprechen. Ich verstehe nämlich, dass ich zu wenig Unterscheidungskraft (discretio) habe, um genügend unterscheiden (discernere) zu können, was von dem, was mir geoffenbart wird, mitgeteilt werden soll, und was dagegen mit Schweigen geehrt werden muß. Und siehe, unter all diesem bin ich der Gefahr ausgesetzt zu sündigen.⁵⁵
Hier, in den Worten Elisabeths, wird das Spannungsfeld zwischen den zwei ‚Achsen‘ verborgen/offenbart sowie geheim/öffentlich deutlich und konkret. Nicht die ganze ‚Privatoffenbarung‘ Gottes an Elisabeth – d. h. was im Prinzip nicht mehr verborgen ist – darf veröffentlicht werden, sondern nur ein Teil, während ein anderer geheim gehalten werden muss. Diese Entscheidung trifft man auf der Basis der discretio, die Elisabeth ihrer Meinung nach nicht in ausreichendem Maße besaß. Erst mit dem Eintritt Ekberts ins Kloster sei Elisabeth beruhigt worden. Ihm habe sie endlich ohne Vorbehalt ihre innere Erfahrung enthüllen können.
omnibus his, ac tuum audire iudicium. […] Si verbum istud, de quo audisti, in commune prodierit, sicut per quosdam incautos fratres, novit deus, contra voluntatem meam ex parte iam prodiit, quis putas de me sermo erit in populo? Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 2– 3. Elisabeth von Schönau,Werke (Anm. 3), S. 7; Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 3: Sed fateor, quia nec sic adhuc omnino certificata sum, quid potissimum agere debeam. Nam et tacere magnalia dei pericolosum michi esse intelligo, et loqui periculosius fore pertimesco. Minus enim discretionis me habere cognosco, quam ut sufficiam discernere, quid ex his, que mihi revelantur, dici conveniat, quid vero silentio honorari oporteat. Et ecce inter hec omnia in periculo delinquendi posita sum.
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Jetzt aber, weil du nach dem Willen des Herrn aus der Ferne zu mir geschickt worden bist, will ich mein Herz nicht vor dir verbergen, sondern dir das eröffnen, was an mir gut und böse ist. Auch sei das, was geschehen soll, in dein und des Herrn Abtes Urteil (discretio) gelegt.⁵⁶
Die Unterscheidungskraft (discretio), die die öffentliche Bekanntmachung des Offenbarten betraf, stand nicht Elisabeth zu, sondern ihrem Bruder als ausgebildetem Geistlichen und – ebenfalls institutionell – dem Abt, obwohl Letzterer wahrscheinlich einer der Unvorsichtigen war, die die ‚apokalyptische‘ Vision Elisabeths anfangs verbreitet hatten.⁵⁷
5 Schluss In einem kurzen biographischen Text über Ekbert von Schönau schrieb Emecho, sein Nachfolger als Abt des Klosters Schönau: Er hat alle großen Taten sorgfältig durchsucht, die unser Herr mit ihr (Elisabeth) ausgeführt hat: die, die er dem Vorteil der Gläubigen zusammentreffend fand, schrieb er nieder; die aber, die er für die Leser als unvorteilhaft erkannte, verschwieg er durchaus.⁵⁸
Elisabeth von Schönau,Werke (Anm. 3), S. 7; Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 3: Et nunc, quia domini voluntate ad me de longinquo directus es, non abscondam cor meum a te, sed ea, que sunt de me bona et mala, tibi aperiam. Deinde, quid fieri conveniat, in tua et domni abbatis discretione positum sit. Im letzten Teil dieses Abschnittes berichtet Elisabeth von der Wirkung der Hand Gottes auf ihren Körper: Ebd. S. 3 – 4. Eigentlich wird in Ekberts Bericht über den Tod seiner Schwester die discretio Elisabeth zwei Mal zugesprochen: Ihre vom Heiligen Geist inspirierte Vergebung aller Kränkungen der anderen Nonnen und ihre Erniedrigung vor ihnen – deren magistra sie war – (Ekbert von Schönau, De obitu, in: Die Visionen [Anm. 3] S. 269) und ihre Ermahnungen an externe Besucher (Ebd., S. 276) zeigen Elisabeths Teilhabe an dieser klugen Tugend trotz ihrer schweren Erkrankung. Emecho, Die Lebensbeschreibung Abt Ekberts von Schönau, in: Die Visionen (Anm. 3), S. 348 (Übersetzung Eugenio Riversi): Qui universa magnalia, que dominus noster cum ipsa operatus est, diligenter perscrutans, ea que fidelium utilitati congruere videbat, conscripsit, ea vero, que legentibus non prodesse sciebat, omnino reticuit. Vgl. auch: Simon Widmann, Vita Eckeberti, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 11 (1886), S. 448 – 449. Vgl. auch den aussagekräftigen Brief Ekberts an Reinhold von Reinhausen, in dem Elisabeths Bruder weitere Gründe für die Weglassung der Visionen erwähnte (z. B. das mangelnde Pergament): Die Visionen (Anm. 3), S. 318 (Übersetzung Eugenio Riversi): „Ich sage aber, dass ich erlaubt habe, dass viele hervorragende und bewundernswerte Dinge, die auch zur Erbauung von vielen hätten dienen können, in Vernachlässigung (in neglegentiam) geraten: manchmal wegen der Bosheit der Verleumder, die Ekel und Untätigkeit in mir hervorrief, manchmal wegen der Beschäftigung in der Verwaltung des Klosters, und manchmal wegen des Mangels an Pergament.“ Auch in diesem Brief spricht Ekbert von den visiones celestium secretorum seiner Schwester.
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Diese rückblickende Darstellung beschreibt deutlich die Aufgabe, die Ekbert bei der Veröffentlichung der Visionen seiner Schwester übernommen hat.⁵⁹ Diese Aufgabe setzt implizit eine Urteils- bzw. Unterscheidungskraft voraus, die man als discretio definieren kann. Die discretio kommt explizit in den ersten Worten Elisabeths in ihrer Visionensammlung vor. Bei aller Vorsicht wegen der Komplexität der aufeinanderfolgenden Fassungen ihrer Werke und deren Überlieferung ist diese Erwähnung der discretio erhellend für die Deutung der Zusammenarbeit zwischen Elisabeth und Ekbert. Laut Elisabeth komme jenem die endgültige Entscheidung über die Veröffentlichung der Visionen und die einschlägige Verantwortung zu. Er verfügte im Übrigen über die nach der damaligen Vorstellung der discretio erforderlichen Kenntnisse,⁶⁰ die ihm unter anderem erlaubten, die Worte des Engels zu deuten, die in der wichtigen ‚Gelenkstelle‘ zwischen Ende des ersten und Anfang des zweiten Buches letztendlich die neue Ausrichtung der Visionen Elisabeths ankündigten oder, besser gesagt, nachträglich rechtfertigten. Es ging darin um ihren Zugang zu den himmlischen Geheimnissen. Laut dieser Darstellung sei der Zugang zu jener verborgenen Dimension der Offenbarung Gottes für Elisabeth bis zum Ende ihrer Tage teilweise nicht mehr möglich gewesen. Es handelte sich gleichzeitig um eine zusätzliche ‚außermenschliche‘ Versicherung für die Öffentlichkeit, dass sich ein Skandal wie der von der angeblichen Prophezeiung einer ‚apokalyptischen‘ Strafe nicht mehr wiederholen würde. Darüber hinaus entsprach diese Änderung der Ermahnung Hildegards: Sie war nicht nur für Elisabeths Erfahrung das maßgebende Vorbild, sondern sie wurde höchstwahrscheinlich wegen dieses Skandals als potentielle Garantin für Elisabeths Glaubwürdigkeit vor der Öffentlichkeit miteinbezogen. Und auch Hildegard schränkte Elisabeths Anspruch auf den Zugang zu der himmlischen Dimension ein. Was die ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ Ekberts in diesem Kontext noch interessanter macht, ist die Tatsache, dass er sich gleichzeitig mit einer radikalen Herausforderung im Spannungsfeld zwischen den zwei ‚Achsen‘ verborgen/offenbart sowie geheim/ öffentlich konfrontiert sah. Die verborgene Lehre und die Geheimhaltung der Häretiker, die er als ‚Katharer‘ bezeichnete, stellte er auf polemische Art und Weise in den ersten Abschnitten seines ‚Traktats‘ der öffentlichen Dimension des christlichen Glaubens entgegen. Dieses in der Tradition verankerte Merkmal der Häresie wird von Ekbert immer wieder kritisch thematisiert. Schon ihre ‚versteckte‘ Geschichte stelle
Zum allgemeinen kommunikativen Prozess der Verschriftlichung der religiösen Erfahrung von Mystikerinnen vgl. Caroline Emmelius,Verborgene Wahrheiten offenbaren.Verschriftlichungsprozesse in frauenmystischen Texten zwischen Subversion und Autorisierung, in: Caroline Emmelius u. a. (Hgg.), Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 2004, S. 47– 65, bes. 49 – 54. Schmidt (Anm. 23), S. 75 – 76: „Als Vorstufe erfordert sie [die discretio] die Kenntnis allgemeiner Grundsätze, Regeln und Rechte, um zu einem Rechtsurteil im Sinne der diiudicatio zu kommen. Sie erfordert Kenntnis von der Wirklichkeit des Lebens, worin sich das Handeln abspielen und auswirken muß“. Insbesondere in Bezug auf die Konzeption der discretio des zeitgenössischen Richard von Sankt Viktor.
Die ‚diskrete‘ Mitteilung des Offenbarten
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ihren anmaßenden Anspruch auf die Bewahrung und die Übermittlung der wahren christlichen Botschaft infrage. Diese polemische Betonung der Verborgenheit und der Geheimhaltung der ‚Katharer‘ bildet eine Art Pendant zu den laut Ekbert tückischen Formen ihres öffentlichen Auftretens, die auch in den traditionellen Darstellungen der Häresie angesiedelt waren: einerseits ihre frommen Verhaltensweisen, die sehr christlich aussahen, und andererseits ihre Kenntnisse der Heiligen Schrift, durch die sie im Fall einer Auseinandersetzung mit den Vertretern der Amtskirche ihre Meinungen gut verteidigen konnten. Gerade dies sei eine Schande – so Ekbert an Rainald von Dassel –, auch weil die ‚Katharer‘ trotz ihrer verkehrten Gelehrsamkeit nicht die erforderliche Urteilskraft besäßen. Nur die discretio, die hier wieder explizit vorkommt, erlaube das richtige Verständnis der Bibel, insbesondere der in ihr verborgenen Bedeutungen.
Abb. 3: Ekberts (und Elisabeths) Wahrnehmung der religiösen Erfahrung Elisabeths und der ‚Katharer‘ im funktionalen Querschnitt verborgen/offenbart und geheim/öffentlich.
Im ausgewählten Geflecht der oben genannten Texte über die religiösen Erfahrungen Ekberts und Elisabeths von Schönau kommt der discretio als rationaler Unterscheidungskraft eine strategische Funktion in einigen ausschlaggebenden Passagen zu. Sie wirkt als eine intellektuelle Tugend, die das richtige Verständnis erlaubt, die erforderlichen Unterscheidungen lenkt und die Entscheidungen bestimmt. Den Häretikern, die nur scheinbar die biblische Offenbarung richtig begreifen und mitteilen, steht sie nicht zur Verfügung. Im Unterschied zu Hildegard kann auch Elisabeth nicht auf die discretio zurückgreifen, da sie dem gelehrten Bruder und dem Abt die Verantwortung der Veröffentlichung ihrer privat offenbarten Visionen überlässt.⁶¹ Als
Im Übrigen waren es Ekbert und der Abt, die die Veröffentlichung gefördert haben, die Elisabeth lieber geheimgehalten hätte: Elisabeth von Schönau, Werke (Anm. 3), S. 6. (Elisabeth von Schönau, Liber primus visionum, in: Die Visionen [Anm. 3], S. 2): „Obwohl sie nämlich den Fragenderen deshalb Vieles verheimlichte (occultaret), weil sie sehr furchtsam und von sehr demütiger Gesinnung war, wurde sie gezwungen, diesem, als er allem eingehend nachforschte und es dem Gedächtnis überliefern wollte, aus geschwisterlicher Liebe und dem Befehl des Abtes alles vertraulich zu erzählen.“. So wird ein strukturelles Problem gelöst, das explizit für die spätere weibliche Mystik thematisiert wurde:
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Vertreter der Amtskirche verfügen sie über die discretio, weil Ekbert ein sehr gut ausgebildeter Kleriker auf dem Weg zur einen erfolgreichen geistlichen Karriere war, bevor er Mönch wurde, und Hidelin als Abt von Schönau sie rein institutionell nach der benediktinischen Regel zu besitzen hat. Die Träger der discretio und ihre Anwendung in der Mitteilung bzw. Vermittlung der Offenbarung erhellen in diesem Fallbeispiel prägnant die Struktur des damaligen Spannungsverhältnisses, das von den historisch bedingten semiotischen ‚Achsen‘ verborgen/offenbart und geheim/öffentlich erzeugt wurde, sowie den Anspruch auf dessen Kontrolle von Seiten der Amtskirche im religiösen Feld.
nämlich das der Anerkennung und Legitimierung der Offenbarung dieser weiblichen religiösen Erfahrungen. Vgl. zum Beispiel: S. Klaus Grubmüller, Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechtild von Magdeburg, in Johannes Janota u. a. (Hgg.), Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 335 – 348: 337– 338.
Joanna Godlewicz-Adamiec und Paweł Piszczatowski
Mystisches Geheimnis zwischen Sprachschöpfung und bildhafter Aussage Abstract: The exceptional quality of religious language, especially one connected to mysticism, consists in expressing what is essentially inexpressible. Mysticism conceived of as a mystery (from gr. μυστικός) oscillates between two extremes: expression and inexpressibility. The paper seeks to explore the issue of the potential of mysticism in language creation the result of which is a new form of expression to provide utterance to an ultimately inexpressible mystery. The paper will also discuss the role of the visual aspect of the images as such. The analysis of the mystical language in the article is presented on the basis of two partly contradictory and partly complementary examples: on the one hand, the negative theology of Meister Eckhart, and, on the other, the pictorial language of Hildegard von Bingen, which tended to transpose the unspeakable content into concrete pictures –illustrations in the manuscripts or even in autonomous works of sculpture. Keywords: Sprachschöpfung, Bildhaftigkeit, negative Theologie, Mystik, Unsagbarkeit, Schweigen
1 Positionsbestimmung In seinen Berliner Vorlesungen analysiert der Theologe Paul Tillich den Ursprung der mystischen Sprachschöpfung in Bezug auf die altindische Religion, „die vedische Religion der Inder, die die Wurzel der höchsten Form der Mystik geworden ist, des Brahmanismus, des Buddhismus, in gewisser Weise auch des Hinduismus“.¹ Tillich bringt in seinen Ausführungen die Sprachschöpfung und das ekstatische Moment des religiösen Welterlebens zusammen, ein Sachverhalt, dem im Folgenden nachgegangen werden soll, indem Tillichs Prämissen, die er in Bezug auf die frühesten Phasen der historischen Religionsbetrachtung formulierte, auf die Analyse der mittelalterlichen Mystik übertragen werden. Dieser inhaltliche Sprung sei zuerst dadurch gerechtfertigt, dass Tillich selbst nahelegt, dass jenes Sprachempfinden bis heute noch „in großen Kunstwerken“ begegne, und zweitens, dass er im Anschluss an seine
Paul Tillich, Berliner Vorlesungen I 1919 – 1920. Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. 12, hrsg. v. Erdmann Sturm, Berlin, New York 2001, S. 489. Prof. Dr. Joanna Godlewicz-Adamiec, Universität Warschau, Institut für Germanistik, ul Dobra 55, 00–312 Warszawa, [email protected] Prof. Dr. Paweł Piszczatowski, Universität Warschau, Institut für Germanistik, ul Dobra 55, 00–312 Warszawa, [email protected] Fälschlicherweise wurde der Name der Autorin Joanna Godlewicz-Adamiec in der Print-Ausgabe mit einem zweiten Vornamen abgedruckt. Dies wurde im E-Book korrigiert. Wir entschuldigen uns für den Fehler. https://doi.org/10.1515/9783110698541-006
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Ausführungen zu der altindischen Religion, geradezu in einem Atemzug von „einem mystischen Geheimnis“ und „einer logischen Paradoxie“ spricht: Das alles ist im letzten Grunde nur verständlich von dieser Dialektik des Religiösen her, daß es nur in einer Form sein kann, aber um der überragenden Bedeutung des Gehaltes willen in einer in sich gebrochenen Form, in einem ekstatischen Stammeln, in einem mystischen Geheimnis, in einer logischen Paradoxie.²
Somit wird das Verhältnis vom mystischen Erlebnis und dessen Versprachlichung unter dem Gesichtspunkt der Schöpfung einer neuen Sprache gesehen, einer Sprache freilich, die sich an der Grenze zum Schweigen materialisiert und aus der Sprachlosigkeit herausgeht. Mystische Erfahrungen der göttlichen (transzendenten) Wirklichkeit, die das gewöhnliche Bewusstsein und die rationale Erkenntnis übersteigen, werden aus allen Völkern und Religionen berichtet. Allerdings lassen sich – so Schwaiger – einige Differenzen doch beobachten. Im Unterschied zu nichtchristlichen Erscheinungsformen, wie etwa im Buddhismus, wird in der christlichen Mystik der individuelle Personenkern nie ganz ‚ausgelöscht‘, auch nicht in der Ekstase (griechisch = Entrückung), sondern bleibt stets gewahrt, während im Buddhismus die Berichte über die Aufklärung relativ selten sind.³ Laut Joanna Tokarska-Bakir drücken die Berichte großer Meister des Buddhismus die Grenzerfahrung in einer radikalen Sprache aus: Das Subjekt verschwindet ganz und es bleibt nur das strahlende hierophante All.⁴ Der westlichen Mystik und ebenso auch der Mystik der christlichen Kirchen des Ostens geht es wiederum, so Lhermitte, um die Vereinigung des Menschen mit Gott, wobei die Eigentümlichkeit zu beachten ist, dass Gott vor allem durch die heilige Dreieinigkeit dargestellt wird.⁵ Gershom Scholem, der die Kabbala, d. h. die jüdische mystische Tradition wissenschaftlich erforscht hat, weist in seiner bahnbrechenden Schrift „Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen“ darauf hin, dass es nie Mystik an sich gibt, sondern immer Mystik von etwas, Mystik einer bestimmten religiösen Form, das heißt Mystik des Christentums, Mystik des Islams oder Mystik des Judentums.⁶ Dem Wort ,Mystik‘, das in seiner substantivischen Form erst seit dem 17. Jahrhundert anzutreffen ist, liegt das griechische Verb μυω (Mund und Augen schließen) zugrunde, von dem das Adjektiv μυστικός (geheimnisvoll) und das Substantiv μυστήριον (Geheimnis; wird insbesondere im Zusammenhang mit gehei-
Ebd. Georg Schwaiger, Mönchtum, Orden, Klöster.Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1993, S. 327– 328. Joanna Tokarska-Bakir, Wyzwolenie przez zmysły. Tybetańskie koncepcje soteriologiczne, Toruń 2014, S. 53. Jean Lhermitte, Echte und falsche Mystiker. Luzern 1953, S. 26. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1980, S. 6.
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men Mysterienkulten verwendet) abgeleitet sind.⁷ Mystisches als Geheimes wurzeln demnach etymologisch im Nicht-Sprechen-Können (oder -Dürfen in Bezug auf die geheimen Mysterien), oszillieren aber permanent zwischen den Polen von Unaussprechlichkeit und Aussage, was Alois M. Haas in seiner Schrift „Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik“ hervorhebt.⁸ Daher wird im Folgenden die Analyse der mystischen Sprache an diesem Oszillieren zwischen Sprachverzicht und innovativer Sprachschöpfung fokussiert und exemplarisch dargestellt: einerseits an der negativen Theologie Meister Eckharts, andererseits an der bildhaften Sprache Hildegards von Bingen, die dazu neigte, das Unaussprechliche in konkrete Bilder – Illustrationen zum Text in den Handschriften oder sogar in autonome Werke der Plastik – zu transponieren.
2 Unaussprechliches im Diskurs der spekulativen Mystik des Mittelalters – ‚sagen‘ und ‚zeigen‘, ,sprechen‘ und ,schweigen‘ Die Tradition der apophatischen Theologie von Pseudo-Dionysius Areopagita und Meister Eckhart ist wohl die wichtigste Form der spekulativen Mystik, welche auf jegliche positive Aussagen über Gott verzichtet und nur noch negativ von ihm spricht; nicht also darüber, wie oder was er sei, da er in seiner absoluten – um es nach Meister Eckhart zu nennen – „Abgeschiedenheit“ unerkennbar bleibt und sich auch in keinerlei Weise offenbart, sondern nur noch, wie und was er nicht sei. So spricht PseudoDionysius in seiner ,Mystischen Theologie‘ etwa von Gott: Er ist weder Seele noch Geist; hat weder Einbildung noch Meinung, Vernunft- oder Verstandeserkenntnis; Er ist weder Wort noch Verstehen, wird weder ausgesprochen noch erkannt; Er ist weder Zahl noch Ordnung, weder Größe noch Kleinheit, weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit; Er steht weder noch ist er in Bewegung oder ruht; Er hat weder Vermögen noch ist Er Vermögen oder Licht; Er lebt nicht noch ist Er Leben; Er ist kein Einzelwesen, nicht Aion oder Zeit, Er ist nicht geistig berührbar, nicht Wissen oder Wahrheit, nicht Königtum oder Weisheit, weder Eines noch Einheit noch Gottheit noch Güte.⁹
Die Sprache der mystischen Apophasis kulminiert in der Metapher des Nichts Gottes, in der Alois M. Haas eine sprachliche Sprengkraft sieht, die er an Texten u. a. von
Vgl. Hans-Peter Kampfhammer, Das Geheimnis mystischer Zustände. Klinische und neurobiologische Aspekte, in: Daniel Sollberger, Jobst Böning, Erik Boehlke u. Gerhard Schindler (Hgg.), Das Geheimnis, Berlin 2016, S. 106. Vgl. Alois M. Haas, Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a. M. 2007. Dionysius Areopagita, Über alles Licht erhaben. Die Werke, übers. v. Edith Stein, Kavelaer 2015, S. 18.
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Johannes Scotus Eriugena, Meister Eckhart, Heinrich Seuse und Mechthild von Magdeburg veranschaulicht.¹⁰ Dabei bezieht sich Haas auf Hans Blumenbergs Begriff der „Sprengmetaphorik“, den er in seinen „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ bei mystischen Texten anwendet.¹¹ Es handelt sich um eine solche Handhabung der Sprache, welche alle der Semantik der Wörter zugehörigen Referenzen außer Kraft setzt und auf Unvorstellbares, Widersprüchliches und Paradoxes, an die „Quadratur des Kreises“ des Casanus¹² etwa, verweist: Die negative Theologie der Spätantike und des Christentums, wo es neuplatonische Prägung hat, machte eine neue Sprache notwendig. Freilich kann man sagen, daß eine Theologie, die über Gott überhaupt nichts auszumachen zu können glaubt, im Grunde gar keine Sprache brauche. Aber zwischen Stummheit und Verstummen soll hier gerade eine wesentliche Differenz gesehen werden; es ist das, was die docta ignorantia meint.¹³
In Anlehnung an Ernst R. Curtius spricht Blumenberg von „Metaphern, welche die Anschauung vergewaltigen“, fügt aber gleicht hinzu, dass sein Projekt weiter gefasst sei: Was wir ‚Sprengmetaphorik‘ nennen wollen, leistet mehr: es zieht die Anschauung in einen Prozeß hinein, in dem sie zunächst zu folgen vermag (z. B. den Radius eines Kreises verdoppelt und immer weiter vergrößert zu denken), um aber an einem bestimmten Punkt (z. B. den größtmöglichen bzw. unendlichen Radius eines Kreises zu denken) aufgeben […] zu müssen. […] Das Sprengmittel dieser Metaphorik ist der Unendlichkeitsbegriff, ihr nachhaltiges Modell die für hermetisch ausgegebene Formel aus dem ,Liber XXIV philosophorum‘: Deus est sphaera infinita, cuius centrum ubique, circumferentia nusquam est. ¹⁴
Cusanus verfolgt auf diese Weise seine Strategie, die göttliche Transzendenz als coincidentia oppositorum aufzufassen, indem er die Gegensätze durch Annihilationen der (geometrischen) Denkfigur in Eins führt und zwar auf dem Weg des Experimentierens. Blumenberg konkludiert: „Experimentieren heißt hier: z. B. den Radius eines Kreises unendlich klein werden zu lassen, wodurch die Figur zum Punkt wird, also ihr ,Wesen‘ aufgibt, oder ihn unendlich groß werden zu lassen, wodurch der Kreisumfang in die Gerade übergeht und die Figur gleichfalls aufhört, sie selbst zu sein.“¹⁵ Wo also der klassische Idiom der Apophatik den negativen Weg eines Weder-Noch geht, Vgl. Alois M. Haas, Das Nichts Gottes und seine Sprengmetaphorik, in: Ders., Mystik im Kontext. München 2004, S. 86 – 104. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998, S. 178 – 183. Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia. Die gelehrte Unwissenheit, in: Ders., Philosophischtheologische Werke. Lateinisch – deutsch, Bd. 1, hrsg. v. Paul Wilpert u. Hans G. Senger, Hamburg 2002, S. 37– 69; vgl. auch Tom Müller, Bedeutung und Rezeption der mathematisch-naturwissenschaftlichen Ansätze des Nikolaus von Kues, in: Das Mittelalter – Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 19/1 (2014), S. 89 – 94. Blumenberg (Anm. 11), S. 179. Ebd., S. 179 – 180. Ebd., S. 181.
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wendet sich Cusanus dem koinzidierenden Sowohl-Als-Auch. In beiden Fällen aber steuert die Sprache das Denken an dessen äußerste Grenzen und verortet sich somit in einem Bereich der spekulativen Referenzlosigkeit. Einen ähnlich „sprengenden“ Charakter weisen auch paradoxe Konzepte des Sehens in der Finsternis, Umnachtung und Blindheit, wie sie etwa bei Juan de la Cruz (‚Noche oscura del alma‘) anzutreffen sind, aber durchaus auch in der Rheinländischen Mystik des deutschen Mittelalter¹⁶ und Cusanus.¹⁷ Die Vision Gottes kann nur in tenebrae erfolgen, wo die Augen blind werden und wo man nichts/Nichts sieht.¹⁸ Haas veranschaulicht das, indem er Cusanus’ Schrift ‚De visione Dei‘ zitiert, wo interessanter Weise die Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht als Selbstspiegelung aufgefasst wird: Wenn es wahr ist, dass das göttliche Antlitz „das Urbild und die Wahrheit aller Angesichte“ ist, „so sieht jedes Angesicht, das in Dein Angesicht schauen kann, nichts anderes oder von sich Verschiedenes, weil er seine eigene Wahrheit sieht“. Die Nicht-Identität zwischen Urbild und Abbild besteht einzig darin, dass dieses nicht wirklich jenes selbst ist: dass es aber von diesem sein Sein bekommt, ist es gnadenhaft ermächtigt, das „Urbild aller Angesichte“ […] „im Rätsel“, bloß und frei vom sichtbarem Licht, d. h. in Finsternis zu schauen.¹⁹
3 Bildhaftigkeit der mystischen Sprachen und die Transponierung von Wort zu Bild bei Hildegard von Bingen Die christliche Mystik kann, wie es Dinzelbacher vorgeschlagen hat, als eine Frömmigkeitsform definiert werden, die im Streben nach „unmittelbarem Kontakt mit Gott“ durch persönliche Erfahrung besteht. Das Trachten des Mystikers ist somit nach dem Schauen Gottes und dem Sein in Gott gerichtet, der zum Objekt des Erlebens wird
Vgl. Haas (Anm. 8), S. 471– 532. Vgl. Alois M. Haas, Nikolaus von Kues als mystischer Theologe, in: Ders., Mystik im Kontext. München 2004, S. 262– 278. Vgl. Meister Eckhart, Werke II, hrsg. v. Niklaus Largier. Frankfurt a. M. 2008, S. 65, wo Meister Eckhart in Bezug auf Paulus’ Bekehrungsszene schreibt: Paulus stount ûf von der erden, und mit offenen ougen ensach er niht‘. Mich dünket, daz dis wörtelîn vier sinne habe. Ein sin ist: dô er ûfstuont von der erden, mit offenen ougen sach er niht, und daz niht was got; wan, dô er got sach, daz heizet er ein niht. Der anders in; dô er ûfstuont, dô ensach er niht wan got. Der dritte: in allen dingen ensach niht wan got. Der vierde: dô er got sach, dô sach er alliu dinc als ein niht. (Mich dünkt, daß dies Wörtlein vierfachen Sinn habe. Der eine Sinn ist dieser: Als er aufstand von der Erde, sah er mit offenen Augen nichts, und dieses Nichts war Gott; denn, als er Gott sah, das nennt er ein Nichts. Der zweite Sinn (ist): Als er aufstand, da sah er nichts als Gott. Der dritte: In allen Dingen sah er nichts als Gott. Der vierte: Als er Gott sah, da sah er alle Dinge als ein Nichts). Haas (Anm. 17), S. 275.
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und nicht des Denkens, wie in der Theologie.²⁰ Die christliche Mystik ist mit der Beschauung und Betrachtung²¹ eng verbunden, überschreitet sie aber durch die genannte unmittelbare Erfahrung Gottes.²² Mystische Erfahrung ist in jedem Fall, so Alois M. Haas, eine persönliche Erfahrung, die das Zentrum der Schau, der Ekstase oder der unio mystica abgibt. Der Gegenstand Gott ist sprachlich nicht kommensurabel, da er jede Möglichkeit überragt, ihn in menschlichen Kategorien auszudrücken.²³ Zu den Gefahren, die jeder Mystik mitgegeben sind, gehört nach Wentzlaff-Eggebert, die Tatsache, dass jenes, was unsagbar ist und nur bildlich geschaut werden kann, dem einzelnen und nicht der Masse gehört. Die Gemeinschaft steht dann in der Funktion des Empfangens, Annehmens und Lernens unter Verzicht auf dem eigen gebahntem Weg zu Gott.²⁴ In den mystischen Texten sowohl christlicher als auch nichtchristlicher Herkunft kann nach Haas die Differenz zwischen dem Vertrauen in die Ausdrucksfähigkeit der Sprache und der ihr gegenüber sich je neu erweisenden Inkommensurabilität des Gegenstandes, um den es sich zentral handelt, auffallen.²⁵ Die Geschichte mystischen Sprechens ist, so Neumiester, die Geschichte eines immer neuen Experimentierens an der Grenze zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, zwischen Versuchen der Annäherung an das Unfassbare und Verzicht darauf – immer in Anerkennung unüberbrückbaren Distanz zwischen Immanenz und Transzendenz. Jeder Versuch eines Brückenschlags zwischen diesseitiger Immanenz und metaphysischer Transzendenz hat es mit der Sprache zu tun, näher hin mit der Unmittelbarkeit der Transzendenz.²⁶ Neben sprachlichen Experimenten spielt die Bildhaftigkeit in der Mystik eine prägnante Rolle.²⁷ Herbet Kunisch stellt fest, dass die beiden Hauptzüge der mystischen Sprache Bildlichkeit und Vergeistigung sind ²⁸ und Kersting meint sogar: „Das Bilddenken überhaupt ist eine zentrale Frage jeder wissenschaftlichen Beschäftigung
Peter Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn 1994. S. 10; vgl. auch: Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Stuttgart 1981, S. 53. Schwaiger unterscheidet Beschauung und Betrachtung: Schwaiger (Anm. 3), S.111: „Sie können Vorstufen und zugleich Bestandteil der mystischen Versenkung in Gott sein.“ Ebd., S. 327. Alois M. Haas, Die Verständlichkeit mystischer Erfahrung, in: Walter Haug u. Wolfram SchneiderLastin (Hgg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, Tübingen 2000, S. 18 – 19. Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit. Einheit und Wandlung ihrer Erscheinungsformen, Berlin 1969, S. 21. Haas (Anm. 23), S. 19. Sebastian Neumiester, Die Sprache als Weg in die Transzendenz, in: Peter Strohschneider, Literarische und religiöse Kommunikation im Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin, New York 2009, S. 930. Vgl. dazu Alois M. Haas, Unsichtbares sichtbar machen. Christlich-mystische Bildtheorie, in: Ders., Mystik im Kontext. München 2004, S. 105 – 123. Herbert Kunisch, Spätes Mittelalter (1250 – 1500), in: Friedrich Maurer u. Heinz Rupp (Hgg.), Deutsche Wortgeschichte, Bd. 1, Berlin, New York 1974, S. 305.
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mit der deutschen Mystik, wobei es um die sprachliche und/oder bildkünstlerische Umsetzung des visionär Geschauten oder spekulativ Erfahrenen geht“.²⁹ Kersting weist auf unterschiedliche Varianten der Verhältnisse zwischen Bildern und Bildhaftigkeit der mystischen Sprache hin: Anders als Hildegard, deren Visionen nach ihrem Erlebnis illustriert worden sind, empfängt Margarethe Ebner ihr Gesicht erst durch die Anregung durch ein Bild. Ein ähnlicher Umgang mit Bildern ist im Beten Heinrich Seuses zu erkennen. Eine Zeichnung der ewigen Weisheit trägt er immer mit sich, um vor ihr seine Andacht zu halten. Die Ausstattung seiner Kapelle mit Motiven wie dem Namen Jesu, dem Rosenbaum des zeitlichen Leidens und dem Baum der weltlichen und geistlichen Minne ist ihm ein Herzensanliegen.³⁰
Das Bild sei in der Mystik einerseits das einzige Medium zur Bekundung von Gefühlen, andererseits aber bildet und markiert es die Grenze zum Menschlichen.³¹ Die Mystik macht die Anschauungsglut des Bildes bewusst, die das Göttliche, Ganz-Andere, mit der inneren Sicht verschmilzt. Erst die Inbrunst, mit der die minnende Seele sich den himmlischen Minner leibhaft vor das innere Auge stellt und nun überfließt in andrängenden Bildern der Sprache, steigert jene längst geübte Kunst des bildlichen Ausdrucks so ins Lebenswichtige, daß Bild nunmehr auch als Wortbild ins Sprachbewußtsein übergeht.³²
In einer Vision können geheime und bisher verborgene Inhalte dem Mystiker zuteilwerden, was Dinzelbachers Auffassung entnommen werden kann, denn es kann von einer Vision gesprochen werden, wenn ein Mensch das Erlebnis hat, aus seiner Umwelt auf außernatürliche Weise in einen anderen Raum versetzt zu werden, er diesen Raum beziehungsweise dessen Inhalte als beschreibbares Bild schaut, diese Versetzung in Ekstase (oder im Schlaf) geschieht, und ihm dadurch bisher Verborgenes offenbar wird.³³
Der seelische Antrieb ist meistens noch nicht tiefwirkend oder noch nicht Besitz genug, um eine poetische Umschreibung des visionären Vorgangs zu veranlassen,³⁴ auch wenn nach Wentzlaff-Eggebert in der ekstatischen Mystik der Weg zur Wortgebung kürzer als in der spekulativen scheint:
Martin Kersting, Text und Bild im Werk Heinrich Seuses. Untersuchungen zu den illustrierten Handschriften des Exemplars, Diss., Mainz 1987, S. 4. Ebd., S. 6. Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Versuch einer Morphologie der metaphorischen Formen, Bd. 1, Marburg 1960, S. 16. Ebd., S. 12. Dinzelbacher (Anm. 20), S. 29. Wentzlaff-Eggebert (Anm. 24), S. 22.
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In der spekulativen Mystik könnte man das Wort (bzw. den Gedanken) fast als Medium und Bereich des Erlebens auffassen, das jedoch schwer in die Sphäre realer Mitteilbarkeit eingeht. In der ekstatischen Mystik wird das Wort notwendige Reaktion auf das in der visio erfahrene Wunder der Gottbegegnung, das in seiner affektiven Kraft zur Verkündung treibt und dennoch letztlich unbeschreibbar ist.³⁵
Fuchs ist überzeugt, dass der Sonderfall der Mystik nicht sei, dass sie mit Unabbildbarkeit psychischer Vorgänge im Medium der Kommunikation zu tun hat. Eher lässt sie sich davon überraschen und verfährt, als käme es auf die richtige Repräsentation ihrer Erfahrungsbestände an.³⁶ Die Bildhaftigkeit der Sprache mittelalterlicher Mystiker kann das Zitat aus einem Brief Hildegards von Bingen an Bischof Heinrich von Lüttich gut veranschaulichen: Das lebendige Licht sagt: Die Wege der Schrift zielen auf den hohen Berg, wo Blumen und kostbare Gewürzkräuter wachsen, wo das Wehen eines sanften Windes ihnen starken Duft entlockt, wo Rosen und Lilien mit leuchtendem Antlitz prangen. Dieser Berg war nicht sichtbar wegen der Schatten, die die lebenspendende Luft vernebelten. Denn der Sohn des Allerhöchsten hatte die Welt noch nicht erleuchtet. Da ging Er, der Sonnenstrahl, aus der Morgenröte hervor und erhellte die Welt, und alle Völker sahen die Gewürzkräuter des Bergs. Der Tag war herrlich durchstrahlt und ein liebliches Raunen hob an.³⁷
Das für die Mystik durchaus typische Bild der Gottheit als Licht, das vor allem von Mechthild von Magdeburg bekannt ist, wird hier nicht metaphysisch als Licht der Offenbarung dargestellt, sondern in der für Hildegard charakteristischen kosmischen Manier als Sonnenlicht, das das Pflanzenwachstum gedeihen lässt. Die archaische agrar-vegetative Metaphorik der ins Blumig-Duftende transformierten Fruchtbarkeit, mit einem Berg als axis mundi im Zentrum, trägt dabei deutlich hierogamischen Züge einer Vereinigung von Himmel und Erde durch die Vermittlung des Sonnenstrahls. Das Übernatürliche tritt in die geschaffene Natur hinein. Hildegards von Bingens umfangreiches Wissen in Theologie, Philosophie, Heilkunde, Natur- und Weltkunde sowie ihre Kenntnisse und Schaffen auf dem Gebiet der Musik sind getragen von der Schau. Sie erfasst schauend die Dinge in ihrem Wesen nicht mit der Ratio, sondern mit dem Intellekt, und der Intellekt begreift die Dinge
Ebd., S. 23. Niklas Luhmann u. Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1989, S. 93. Hildegard von Bingen, Briefwechsel. Hrsg., übers. und kommentiert v. Adelgundis Führkötter, Ordo Sancti Benedicti, Salzburg 1990, S. 65.
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durch das Schauen im Gegensatz zum diskursiven Denken der Ratio,³⁸ was sich in der Bildhaftigkeit der Sprache abspielt. Diese Bildhaftigkeit scheint häufig auf einer genauen Beobachtung der Natur zu fußen – auch wenn im allgemeinen tierkundliches Wissen im Mittelalter vor allem angelesenes und nicht empirisches Wissen bedeutete. Diese Tendenz kommt in einer Passage aus der Schrift De operatione Dei zum Vorschein: „Im Körper des Menschen will die Seele ja bleiben, wie sie ihn auch nur in seinen Säften finden kann. Das verhält sich so, wie auch die Biene in ihrem Stock die Wabe mit dem Honig bildet, bald einen reineren, bald einen mehr verunreinigten“.³⁹ Die Wabe erscheint auch in der Beschreibung des Universums: „Die Erde liegt in der Mitte des Luftraumes wie die Wabe inmitten des Honigs“.⁴⁰ Gemäß der Mikro- und Makro-Kosmos-Idee entspricht es der Stelle der Seele im diesseitigen Ringen.⁴¹ In ‚Scivias‘ befindet sich hingegen ein Vergleich mit Fischen: „Dann sah ich schwarze Kindlein nahe der Erde durch die Luft daherschwimmen wie Fische im Wasser“.⁴² Diese Passagen beweisen, dass schwierige Inhalte, die sich nicht einfach in Worten fassen lassen, mit aus dem Alltag bekannten Bildern aufgefasst werden können. Experimentieren mit der Sprache, um das Unaussprechliche auszusprechen, kann bei Hildegard von Bingen ausdrucksvoll am Beispiel der Darstellung von Tugenden und Lastern näher beobachtet werden, die in der Kultur des Mittelalters⁴³ sowie gerade in Hildegards Schriften sehr relevant sind und deren Darstellungsweise komplex und differenzierend ist. Während Mechtilds von Magdeburg Darstellungsweise von Erotik dominiert wird, zeigen Hildegards Werke die Inspiration des germanischen Ideals eines Kriegers. Auf dieser Ebene identifiziert sich die Mystikerin mit dem Schöpfer und versteht sich als sein Fähnrich. Ihrer Meinung nach bildet Kämpfen eine Pflicht, während Führungsqualitäten und -aktivitäten nicht nur Männer charakterisieren.⁴⁴ Die Idee des Kampfes zwischen Tugenden und Lastern bleibt in der längeren Tradition, da die mittelalterliche Literatur zu Laster und Tugendkatalogen umfangreich ist. Nachdem Augustinus zahlreiche Vergleiche auf Grundlage der Siebenzahl vorgenommen hatte, beschrieb Prudentius in seinem in der Folgezeit einflussreichen Werk ‚Psychomachia‘ einen Kampf zwischen personifizierter Tugend und Sünde im seelischen Widerstreit sowie den Sieg der christlichen Tugenden über die heidnischen
Adelgundis Fuhrkötter, Einführung, in: Hildegard von Bingen, Briefwechsel, nach den ältesten Handschriften und nach den Quellen erläutert v. Adelgundis Fuhrkötter, Salzburg 1965, S. 13 – 15. Hildegard von Bingen, Welt und Mensch. Das Buch „De operatione Dei“, hrsg., aus dem Genter Kodex übers. und kommentiert v. Heinrich Schipperges, Salzburg 1965, hier S. 100. Ebd., S. 138. Ebd. Hildegard von Bingen, Wisse die Wege. Scivias, hrsg., übers. und bearbeitet v. Maura Böckeler, Salzburg 1954, S. 159. Vgl. Christine Kasper, Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren. Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 547), Göppingen 1995. Vgl. Frances Beer, Women and Mystical Experience in the Middle Ages. Woodbridge 1992, S. 17.
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Laster.⁴⁵ Im Mittelalter behauptet sich die Vorstellung von einem Kampf zwischen Tugenden und Lastern neben der systematischen Behandlungsweise der christlichen Tugendlehre, die die Form eines Stammbaumes der Tugenden und Laster (‚Speculum morale‘ von Vincenz von Beauvais,⁴⁶ ‚Summa‘ von Thomas von Aquin⁴⁷) aufnimmt. Die Literatur des Mittelalters kennt unterschiedliche Auffassungen der Thematik. Bonifatius führt in einem Gedicht die einzeln redenden Tugenden und Laster ein,⁴⁸ Theodulf schildert in einem nur als Fragment erhaltenen Dokument den Kampf der Tugenden gegen die Laster,⁴⁹ Roswitha von Gandersheim verherrlicht die im Klosterleben wichtigsten Tugenden, das Thema ist relevant im Werk ‚Hortus deliciarum‘ der Herrad von Landsberg, das illustriert war. In den Schriften von Hildegard – ‚Scivias‘ und ‚Ordo virtutum‘ – taucht das Motiv des Kampfes an der entscheidenden Stelle auf: In ‚Scivias‘ wird die Seele als Krieger dargestellt und die gesamte Weltgeschichte wird als Rettungskampf angesehen.⁵⁰ Im zweiten großen Visionswerk Hildegards ‚Liber Vitae Meritorum‘ wird die dramatische Handlung dargestellt: eine gewaltige Szenerie, auf der die grotesken Erscheinungen der 35 Laster zu Wort kommen, denen die 35 Tugendkräfte ihre Antwort geben. In sechs Visionen schaut die Mystikerin den Kampf bzw. die Konfrontation zwischen Tugenden und Lastern: Die Laster sind personifizierte Boten des Teufels, die Tugenden lassen als Lichterscheinungen nur ihre Stimmen vernehmen.⁵¹ Die Laster treten in fünf Gruppen auf: im ersten Buch erscheinen die ersten sieben (Weltliebe, Ausgelassenheit, Vergnügungssucht, Herzenshärte, Feigheit, Zorn und Ausschweifung); im zweiten Buch acht (Schlemmerei, Engherzigkeit, Gottlosigkeit, Lüge, Streitsucht, Schwermut, Maßlosigkeit, Verstocktheit); im dritten Buch sieben (Hochmut, Missgunst, Ruhmsucht, Ungehorsam, Unglaube, Verzweiflung, Wollust); im vierten Buch acht (Ungerechtigkeit, Stumpfsinn, Gottvergessenheit, Unbeständigkeit, Sorge für das Irdische, Verschlossenheit, Habsucht, Zwietracht) und im fünften Buch fünf (Spott Markus Mueller, Beherrschte Zeit: Lebensorientierung und Zukunftsgestaltung durch Kalenderprognostik zwischen Antike und Neuzeit, mit einer Edition des Passauer Kalendars, Kassel 2009, S. 256. Digitalisat: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1– 150220 (letzter Zugriff am 12.02. 2020). Thomas von Aquin, Summa theologica (Die deutsche Thomas-Ausgabe), hrsg. v. Theodor Karl Lieven, Graz u. a. 1933. Von Bonifatius stammt eine didaktische Rätseldichtung über zehn Tugenden und zehn Laster: Vgl. Bernhard Sowinski, Lehrhafte Dichtung des Mittelalters, Stuttgart 1971, S. 24. Noch als Bischof hat er zwanzig Rätselgedichte über Tugenden und Laster geschrieben, was als Beleg dafür gelten kann, dass er Freude am Versbau gehabt haben muss. Vgl. Lutz E. von Padberg, Bonifatius. Missionar und Reformer, München 2003, S. 24. Vgl. Nikolaus Staubach, Hercules an der ‘Catedra Petri’, in: Hagen Keller u. Nikolaus Staubach (Hgg.), Icologia sacra. Mythos, Bildkunst, und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas, Berlin 1994, S. 390. Wolfgang Stammler, Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittelalter, Berlin 1962, S. 92. Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen, München 2009, S. 101.
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sucht, Umherschweifen, Magische Kunst, Geiz, Weltschmerz). Hildegard von Bingen erblickt die verschiedenen Laster in leibhaftiger Gestaltung. Sie sind personifiziert,⁵² was sowohl der literarischen und ikonographischen Tradition entspricht als auch die Bildhaftigkeit der Sprache bereichert. Den personifizierten Lastern antworten die Tugenden, die in der christlichen Ikonographie den ersten Rang unter den Personifikationen einnehmen, nur mit körperloser Stimme, eine Stimme von oben erklärt die Figuren und ihre allegorischen Attribute.⁵³ Die abstrakten Begriffe werden mit Bildern dargestellt, die um eine symbolische Erklärung ergänzt werden. So ist die freche Ausgelassenheit wie ein Hund, der zu streunen pflegt, der auf den Hinterpfoten steht und dessen Schwanz hin- und her wedelt:⁵⁴ Wenn die Menschen die Welt lieben und ihr verhaftet sind, dann zeigt sich das Streben meistens auch in ihrer äußeren Haltung. Das ist so wie bei einem Hund, der zu streunen pflegt, weil der Mensch in seiner Leichtfertigkeit jedem Gefallen und Vergnügen nachläuft, um dabei viele Leute zu fangen und zu täuschen gleich einem Hund, der nach allem schnappt.⁵⁵
Um die breite Palette an symbolischen Eigenschaften darzustellen werden komplizierte Bilder der komplexen Wesen eingeführt. So hat beispielsweise der Hochmut keine Arme und Hände, an jeder Schulter ragt der Flügel einer Fledermaus heraus, weil diese sich im Himmel und auf Erden nur trügerisch eine Verteidigung aufbauen, denn sie macht sich nicht den rechten Flug der Gerechtigkeit zu eigen, sondern nur die trügerische, nächtliche Täuschung. Beine und Füße dieser Gestalt hängen direkt an der Brust wie die Beine und Füße einer Heuschrecke, da sie in einer derartigen Geschwollenheit die Hindernisse ihres Weges aufzeigt und vorführt.⁵⁶ Viele Bilder fußen auf den in der Natur beobachteten oder symbolischen Eigenschaften der Tiere, es erscheinen aber auch Bilder anderer Art. Eine besondere Erscheinung bildet die Verstocktheit, die einem Turm glich, der in seiner Höhe ein Schutzdach trägt, in dem sich drei Fenster befinden.⁵⁷ Da im mystischen Werk Hildegards ‚Liber Vitae Meritorum‘ Bildlichkeit als Erzählmittel sehr relevant ist, kann es zum Nachdenken bringen, dass keine illustrierten Handschriften des Werkes bekannt sind. Die Schrift ist in drei Handschriften des 12. Jahrhunderts erhalten geblieben, von denen die älteste aus Dendermonde ist,⁵⁸ die möglicherweise unter den Augen Hildegards entstanden sein dürften; weitere Fassungen finden sich in Handschriften des 13. Jahrhunderts.⁵⁹ Es kann jedenfalls nicht verwundern, dass von anderen mystischen Texten der Bene-
Hildegard von Bingen, Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste – Liber Vitae Meritorum, hrsg., übers. und kommentiert v. Heinrich Schipperges, Freiburg, Basel, Wien 1997. Ebd., S. 15. Ebd., I, 2, S. 31. Ebd., I, 81, S. 59. Ebd., III, 4, S. 134 und III, 42, S. 151. Ebd., II, 24, S. 95. Dendermonde, St.-Pieters & Paulusabdij, Klosterbibliothek, Codex 9 (Codex Villarenser). Heinrich Schipperges (Anm. 51), S. 13.
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dikterin illustrierte Handschriften bekannt sind, was bedeutet dass solche bilderreichen, in visuellen Vorstellungen sich konstituierenden Werke wie Hildegards in ihrer Überlieferung auch zur Illustrierung des Textes Anreiz geboten haben.⁶⁰ Während allen drei Werken Hildegards die grandiose symbolische Schau zu Eigen ist, die Welt, Mensch und Gott umgreift und alles Sichtbare zum Sinnbild des Unsichtbaren, Göttlichen wird,⁶¹ wurden für zwei der drei Visionswerke, den ‚Scivias‘ und den ‚Liber divinorum operum‘, Bilderhandschriften geschaffen: der Rupertsberger und der Salemer ‚Scivias‘ sowie der Luccaer ‚Liber divinorum operum‘. Auch wenn sich die Mystikerin oft weigerte, ihre Visionen niederzuschreiben, war die Sprache in den Darstellungen der Tugenden und Laster bei Hildegard so bildhaft, dass sie möglicherweise Einfluss auf autonome Werke der Plastik hatte.⁶² Wissenschaft, Kunst und Literatur gehen in der Zeit des Mittelalters von den Klöstern aus⁶³ und viel weist darauf hin, dass Gedankengut Hildegards, die zu den faszinierendsten und beeindruckendsten Frauengestalten des 12. Jahrhunderts gezählt wird,⁶⁴ großen Einfluss auf die Vorstellungswelt hatte. Ihr Schaffen bildete für verschiedene Werke eine Inspiration. Vermuten lassen sich Verbindungen mit Hildegards Schaffen und autonomen Werken: die Freisinger Bestiensäule und die Säulen in Prämonstratenserinnenklöstern in Strelno (Strzelno) in Polen. In der bildnerischen Darstellung der Freisinger Bestiensäule, die im Auftrag von Bischof Otto des II. geschaffen wurde, sieht Stammler eine mögliche Verbindung mit literarischen Werken Hildegards von Bingen:⁶⁵ „Vielleicht haben schließlich den Bischof zur Wahl dieses Themas auch damals aktuelle Bücher bewogen: die der Hildegard von Bingen“.⁶⁶ In Hildegards Schriften ‚Scivias‘ und ‚Ordo virtutum‘ kehrte das Kampfmotiv an entscheidender Stelle wieder. In der christlichen Ikonographie wurden die Tugenden zunächst gestaltlich dargestellt und waren durch Inschriften zu identifizieren, ab dem 9. Jahrhundert erhielten sie charakteristische Attribute, die nach und nach kanonisch wurden. Die Laster nehmen in der bildenden Kunst sowohl dämonische als auch
Zum Thema der illustrierten Handschriften vgl. u. a. Hella Frühmorgen-Voss, Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst, München 1975. Sankt Hildegards Leben dem Volke erzählt, hrsg. v. Abtei St. Hildegard Eibingen, Mainz 1946, S. 47– 48. Christel Meier, Zum Verhältnis von Text und Illustration im überlieferten Werk, in: Anton Philipp Brück (Hg.), Hildegard von Bingen 1179 – 1979. Festschrift zum 800. Todestag der Heiligen, Mainz 1979, S. 159. Elisabeth Schraut u. Claudia Opitz, Frauen und Kunst im Mittelalter, Ludwigshafen/Rh. 1984, S. 30. Friedhelm Jürgensmeier, St. Hildegard ‚prophetissa teutonica‘, in: Anton Philipp Brück (Hg.), Hildegard von Bingen 1179 – 1979. Festschrift zum 800. Todestag der Heiligen, Mainz 1979, S. 273. Vgl. Stammler, (Anm. 50), S. 92; Hella Frühmorgen-Voss, Wechselbeziehungen. Zu Wolfgang Stammlers Aufsatzsammlung „Wort und Bild“, in: ders., Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst, München 1975, S. 11. Ebd.
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menschliche Gestalt an; sie wurden zudem auch in genrehaften Alltagszenen oder in exemplarischen Episoden aus Geschichte und Mythologie veranschaulicht.⁶⁷ Das Thema der personifizierten Tugenden und Laster erfreute sich speziell in der romanischen Kunst des Nordens besonderer Beliebtheit, während in Italien die ruhig mit ihren Attributen dargestellten mündlichen Figuren den Tugenden vorgezogen wurden. Es sind umfangreiche Bildprogramme von Lastern und Tugenden an romanischen und gotischen Kirchenfassaden und -portalen zu finden.⁶⁸ Im ‚Scivias‘ steht die Seele als Kämpferin in der Disharmonie von Geist und Leib und es kommt zum Sieg über den Teufel. Ein zweiter Kampf ist mit dem Antichrist zu bestehen bis zur Schlusskatastrophe und das gesamte Weltgeschehen wird von Hildegard als Kampf um die Erlösung gesehen. Eine bedeutende Rolle spielt die Thematik des Kämpfens auch im Werk ‚Ordo virtutum‘, in dem dieses Thema in Einzelbildern durchgeführt wurde. Die vier Tugenden Demut, Liebe, Gottesfurcht, Gehorsam vereinen sich, um der Seele den Weg zu Gott gegen die widerstrebenden Mächte des Teufels und der Hölle freizukämpfen. Tugenden spielen in Hildegards Werk eine bedeutende Rolle: „O wonnevolle Gottheit, o liebliches Leben, möchte ich in dir das Gewand der Herrlichkeit tragen, und das zurückempfangen, was ich im ersten Erscheinen verlor. Nach dir seufze ich, und alle Tugenden rufe ich an“.⁶⁹ Dabei stellt Stammler die Frage, ob es Zufall sei, dass auf der Freisinger Säule gerade vier Kämpfer sind, oder liegt hier vielleicht eine Erinnerung an Hildegards Schilderung vor. Der Forscher analysiert und bezieht diese plastische Darstellung auf das literarische Schaffen Hildegards: Behält man diese eindrucksvollen Sätze im Ohr, dann wird auch die bisher so vielumstrittene weibliche Gestalt mit dem Blütenzweig klar: es ist die menschliche Seele, um deren Freiheit die vier Tugenden mit den Dämonen der Sünde und des Bösen streiten; oder es ist die himmlische Liebe, die schirmend bei den Kämpfern schwebt, wie sie in den Visionen der Hildegard selbst als Mädchen mit einem Blütenzweig erscheint.⁷⁰
Ähnlich wie bei der Freisinger Bestiensäule kann bei den im 12. Jahrhundert entstandenen Säulen in Prämonstratenserinnenklöstern in Strelno eine vermutliche Inspiration von Hildegards Schaffen gespürt werden. Für diese Darstellung, die eine ikonographische Einheit bildet, sind trotz der Popularität der Thematik keine direkten Analogien zu anderen visuellen Werken zu finden. In der mittelalterlichen Kunst war die Darstellung sowohl der Kardinalsünden als auch der Kardinaltugenden verbreitet und die mittelalterliche christliche Theologie hat vier klassischen Tugenden (Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Weisheit bzw. Gottesfurcht) um drei religiöse erweitert:
Frank Büttner u. Andrea Gottdank, Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten, München 2006, passim. Mueller (Anm. 45), S. 256. Hildegard von Bingen, Reigen der Tugenden (Ordo Virtutum). Ein Singspiel, hrsg., übertragen, eingeleitet von der Abtei Sankt Hildegard, Eibingen im Reingau, Berlin 1927, S. 78. Stammler, (Anm. 50), S. 92.
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Glaube, Hoffnung und Liebe, manchmal auch Demut und Reinheit, die in Darstellungen – wie oben erwähnt wurde – meistens personifiziert und als allegorische Gestalten erscheinen. Dem System der sieben Tugenden wurde im Mittelalter die gleiche Zahl der Laster gegenübergestellt. Tugenden und Laster wurden traditionell anders gezeigt als auf der Darstellung in Strelno. In der ikonographischen Tradition war eher eine dynamische Redaktion verbreitet, wo der Kampf und Sieg einer Tugend über ein Laster gezeigt wurde, während dieses Laster festgetreten und mit einer Lanze oder einem Schwert durchgestochen wurden. Der besondere Charakter der Dekoration der Säulen in Strelno weist auf andere Quellen der Inspiration als ikonographische Muster hin, vermutlich literarische Quellen. Obwohl Darstellungen von isolierten Tugenden aus dem 12. Jahrhundert bekannt sind, unterschieden sie sich wesentlich von denjenigen aus Strelno. Die Tugenden sind zwar statisch dargestellt, aber sie sind nicht in Sphären geteilt. Die polnische Kunsthistorikerin Teresa Mroczko meint, dass man für den Fall, wenn keine ikonographischen Analogien zu finden seien, die Initiative des Programms vom Bildzyklus in Strelno im literarischen Bereich suchen könnte, wobei verschiedene theologische und moralisierende Traktate die Grundlage bilden könnten. Unter vielen literarischen Werken, die Inspiration und Muster der Dekoration in Strelno bilden konnten, könnten neben dem Traktat ‚Speculum virginis‘ (um das Jahr 1130), in dem zwei Bäume – rechts der Baum der Tugend und links der Baum des Lasters – beschrieben wurden, was der Platzierung der Personifikationen auf den Säulen in Strelno entspricht, auch zwei Bücher von Hildegard von Bingen – ‚Scivias‘ und ‚Reigen der Tugenden‘ (‚Ordo Virtutum‘) – genannt werden.⁷¹ Im Werk ‚Scivias‘ erscheint das Motiv der Säule der Menschlichkeit des Heilands. Diese Säule umfasst die Tugenden: Demut, Liebe, Gottesfurcht, Glaube, Hoffnung und Reinheit.⁷² Im Theatermysterium ‚Reigen der Tugenden‘ tritt eine Gemeinschaft von 16 Tugenden auf, die von der Demut dominiert werden. Tugenden im literarischen Text sind in drei Gruppen aufgeteilt: „Die Virtutes ziehen paarweise ein und stellen sich im Vordergrund halbkreisförmig in drei getrennten doppelreihigen Chören auf“.⁷³ Dieser Stil, der auf traditionelles Reihensystem hinweist, zeigt jedoch einige Modifikationen: „Bei Hildegard bilden fünf solcher Reihen von redenden Paaren den Kern der ersten fünf Teile des Lebensbuches, darunter sind 18 Paare, die denen des conflictus entsprechen.“⁷⁴ In der Dekoration der Südsäule in Strelno können Parallelen zur Darstellungsart von Tugenden in Hildegards Werk gefunden werden. Diese plastische Darstellung ordnet Personifikationen in drei Gruppen an.⁷⁵ Bis heute stellt die erhalten gebliebene Dekoration des Paares von Ostsäulen des Hauptschiffes eine vielfältige,
Teresa Mroczko, Polska sztuka przedromańska i romańska. Warszawa 1988, S. 128 – 129. Hildegard von Bingen, Wisse die Wege. Scivias, ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Maura Böckeler. Salzburg 1954, III, 8, S. 270 – 287. Hildegard von Bingen (Anm. 68), S. 76. Hans Liebeschütz, Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen. Leipzig, Berlin 1930, S. 37. Mroczko (Anm. 70), S. 128 – 129.
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komplizierte Einheit von metaphorischer Aussage dar. An den Säulen werden die Personifikationen von Tugenden und Lastern in einer anderen Redaktion dargestellt, als zu jener Zeit häufiger realisiert wurde. Ähnlich wie in der literarischen Darstellung Hildegards, wo Tugenden und Laster statisch zusammengestellt wurden, stellen die Säulen in Strelno ein Komplex von einzelnen personifizierten Tugenden und Lastern dar. Sie wurden in ausgesonderten Feldern dargestellt, die in waagerechte Steifen gestellt werden und der Bedeutung entsprechend auf zwei Säulen verteilt wurden. Die beiden Säulen bilden ein großes, logisches Denkprogramm.⁷⁶ Bei den Säulen sind eindeutige Aufteilungen zu bemerken: Jede wurde durch Friese aus Palmetranken in drei Streifen von gleicher Größe aufgeteilt.⁷⁷ Die Streifen zwischen den Friesen sind mit figurativer Dekoration ausgefüllt, die in architektonischen Rahmen angelegt wurden. Die Streifen von menschlichen Gestalten wechseln sich mit Streifen floraler Ornamente ab.⁷⁸ Sichtbar ist ein eindeutiges Ausrahmen jeweiliger Darstellungen sowohl durch waagerechte ornamental-florale Aufteilungen, als auch senkrechte architektonische Elemente. Figuren wurden im Hintergrund von halbkreisförmig geschlossenen Arkadennischen dargestellt.⁷⁹ Die Nordsäule umfasst ausschließlich Darstellungen von Personifikationen der Laster, die sich dank verschiedener Attribute meistens erkennen lassen: Neid mit einer Schlange, Mord in Gestalt eines Ritters mit Schwert, Zorn in Gestalt einer Frau, die sich an den Haaren reißt, Hochmut in Gestalt einer Frau, die Haarzöpfe präsentiert, Meineid in menschlicher Gestalt mit gehobener linker Hand, Götzendienst, Wollust, Ausgelassenheit in Gestalt eines Mannes in einer kurzen Tunika, der eine Hand mit einer Glocke hochhebt, Fressgier. Die Tugenden erscheinen als von Lastern getrennte Darstellungen, sind aber mit ihnen zusammengestellt – dadurch, dass sie in derselben Weise an der Nordsäule erschienen. An der Nordsäule gibt es auch individuelle Darstellungen von Tugenden: Reinheit mit Zepter, christliche Freude mit Gottes Hand, Gerechtigkeit mit Waage, Besonnenheit mit Buch, Geduld in der Ermahnungsgeste.⁸⁰ In Strelno kann die Verbindung mit Hildegards Schaffen sowohl in Bezug auf die Thematik als auch im Konzept der Darstellung vermutet werden.
4 Das Wort aus dem Schweigen bei Meister Eckhart Wie bereits angekündigt, vertritt die spekulative Mystik der radikalen Apophase eine geradezu entgegengesetzte Position angesichts der Darstellbarkeit des Geheimen. Diese äußert sich in zwei grundlegenden Denkmodellen: Einerseits mündet sie in der
Jan Białostocki, Sztuka cenniejsza niż złoto. Opowieść o sztuce europejskiej naszej ery, Bd. 1, Warszawa 1991, S. 147. Przemysław Trzeciak, José Pijoan u. a., Sztuka świata, Bd. 3, Warszawa 1993, S. 438. Zbigniew Świechowski, Sztuka romańska w Polsce. Warszawa 1990, S. 37. Bożena Kowalska (Hg.), Dzieje sztuki polskiej. Warszawa 1987, S. 15. Mroczko (Anm. 70), S. 129.
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Auffassung des Wortes als Neuschöpfung aus dem Nichts, wodurch die ,Präexistenz‘ der Sprache als Kommunikationssystem unwesentlich wird, andererseits im Postulat des Schweigens als ,Seelenruhe‘ in Gott jenseits aller Namensgebung.⁸¹ Gerade in dieser Polarisierung der Gegensätze, die zu einer offenen Paradoxie eskaliert, manifestiert sich die wahre ,Abgeschiedenheit‘ der geheimen (Un‐)Wirklichkeit Gottes. Für Meister Eckhart ist demnach – so Kreuzer – „jede ‚Wortgeburt‘ […][eine] ,Gottesgeburt‘“:⁸² Der vater selber der enhœret niht dan diz selbe wort, er erkennet niht dan diz selbe wort, er entsprichet niht dan diz selbe wort, er engebirt niht dan diz selbe wort. In disem selben worte hœret der vater und bekennet der vater und gebirt der vater sich selben und ouch diz selbe wort und alliu dinc und sîne gotheit al ze grunde. ⁸³
Die schöpferische Kraft des ewig geborenen und gebärenden göttlichen Wortes, die Eckhart in der oben zitierten 49. Predigt, an die johanneische Logos-Theologie anknüpfend, feststellt, ist gleichsam auch die Geburt des Menschen in seiner Gottesebenbürtigkeit, denn in diesem worte sprichet der vater mînen geist und dînen geist und eines jeglichen menschen geist glîch dem selben worte. ⁸⁴ Ohne die Sprache ist also nichts da, selbst das Unaussprechliche nicht, obgleich die Sprache keinerlei Zugang zu ihm haben kann. Dieses paradoxe Denken kommt bei Eckhart etwa in der Anlehnung an Augustinus zur Sprache, wenn er sagt: Ich spriche, daz got sî ungesprochen. Nú sprichet sant Augustínus, daz got ensî ungesprochen; wan wære er ungesprochen, daz selbe wære ein spruch, wan ist er mê ein swigen dan ein. ⁸⁵ In dem Sinne, wenn Gott das Schweigen mehr eigen ist als das Sprechen und dass er „unausgesprochen“ sei, bereits ein unzulässiger Verstoß gegen die Grenzen der apophatischen Nicht-Erkenntnis ist, so kann man wohl Kreuzer Recht geben, wenn er sagt, dass in der Eckhart’schen Dialektik von Schweigen und Sprechen das, „was als ,Unaussprechliches‘ Sprache zu transzendieren scheint […] keine Grenze der Sprache, sondern ihr Grund“ sei.⁸⁶ Die Sprache ist ein einziges Ausdrucksmittel des Schweigens, nur in ihr und durch ihr Wort kann das göttliche Nichts geboren werden.
Vgl. Meister Eckhart, Werke (1), hrsg. v. Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 2008, S. 386. Johann Kreuzer, Gottesgeburt und Rückkehr zur eigenen Endlichkeit, in: Klaus Jacobi (Hg.), Meister Eckhart: Lebensstationen – Redesituationen, Berlin 1997, S. 272. Meister Eckhart (Anm. 81), S. 515: „Der (göttliche) Vater selbst hört nichts als dieses nämliche Wort, er erkennt nichts als dieses selbe Wort, er spricht nichts als dieses selbe Wort, er gebiert nichts als dieses selbe Wort. In diesem Wort hört der Vater und erkennt der Vater und gebiert der Vater sich selbst und auch dieses selbe Wort und alle Dinge und seine Gottheit ganz bis auf den Grund […]“ Ebd., S. 517: „in diesem Wort spricht der Vater meinen Geist und deinen Geist und eines jeglichen Menschen Geist demselben Worte gleich.“ Ebd., S. 387: „Ich sage, dass Gott unausgesprochen ist. Nun sagt Sankt Augustinus, dass Gott nicht unausgesprochen sei; denn, wäre er unausgesprochen, so wäre eben dies (= dass ich dies aussage) eine Aussage, denn er ist mehr ein Schweigen als ein Sprechen.“ Kreuzer (Anm. 82), S. 273.
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Rein literatur-ästhetisches gesehen, nimmt die Darstellung dieser Geburt bei Eckhart oft recht surreal anmutende Züge an, wie etwa in einem Fragment der Predigt 71, wo es heißt: Ez dúhte einen menschen als in einem troume – ez was ein wachender troum –, wie ez swanger würde von nihte als ein vrouwe mit einem kinde, und in dem nihte wart got geborn; dér was diu vruht des nihtes. Got wart geborn in dem nihte. ⁸⁷ Das intensive religiöse Erleben der Mystikerinnen und Mystiker sollte – neben den oben dargestellten komplexen Sprachstrategien – durch konkrete Wort-Neubildungen erlebbar oder zumindest nachvollziehbar werden. Besonders die Werke von Meister Eckhart und ,Das Fließende Licht der Gottheit‘ von Mechthild von Magdeburg sind in diesem Zusammenhang intensiv erforscht und ausgewertet worden.⁸⁸ Die Position Meister Eckharts, obgleich sie an die alt- und neutestamentlichen Vorstellungen von der schöpferischen Kraft des göttlichen Wortes und dessen Transzendenz angelehnt bleibt, hat etwas Archaisches an sich, was unter Tillichs zu Anfang des Beitrags angeführte Konzeption des ekstatischen Wort-Schöpfens – als Schöpfung d e s Wortes und d u r c h d a s Wort mit gleichzeitigem Machtanspruch über das Numinose – subsumieren lässt. Interessant ist dabei, dass die mystische Vorstellungskraft – wollte man Tillichs Prämissen folgen – an anthropologische Paradigmen heranreicht, die einen fundamentalen Gründungscharakter aufweisen. Dies wäre übrigens auch bei Cusanus’ Denkfigur der coincidentia oppositorum der Fall, die für Mircea Eliade das kulturunabhängige Grundprinzip jeglicher archaischer Vorstellungen des Heiligen darstellt.⁸⁹
5 Resümee Resümierend lässt sich sagen, dass das mystische Erlebnis eine Begegnung mit dem unerkennbaren Geheimen schlechthin ist und die mystische Sprache, die zwischen Unaussprechlichkeit und sprachschöpferischer Potenz schwankt, diesem Erlebnis gerecht zu werden versucht. Dabei rekurriert die Sprache und die in ihr gekleidete Vorstellungskraft der Mystikerinnen und Mystiker auf archetypische und transkulturell aufzufassende Paradigmen der ekstatischen Sprachschöpfung sowie der performativen Schöpfung durch die Sprache. Für mystische Handhabung der Sprache ist
Meister Eckhart (Anm. 18), S. 73: „Es deuchte (einmal) einen Menschen wie in einem Traume – es war ein Wachtraum –, er würde schwanger vom Nichts wie eine Frau mit einem Kinde, und in diesem Nichts ward Gott geboren; der war die Frucht des Nichts. Gott ward geboren in dem Nichts.“ Vgl. Klaus von Heusinger u. Sabine von Heusinger, Aus der lateinischen Fachsprache zur deutschen Mystik. Der lange Weg der Suffixe -ung und -heit, in: Jürg Niederhauser u. Kirsten Adamzik (Hgg.), Wissenschaftssprache und Umgangssprache, Frankfurt a. M. 1999, S. 59 – 79. Zu der Bedeutung dieser Konzeption für das religionsgeschichtliche Denken Eliades vgl. Shafique Keshavjee, Mircea Eliade et la coïncidence des opposés, ou, L’existence en duel, Bern, Berlin 1993; vgl. John Valk, The Concept of the Coincidentia Oppositorum in the Thought of Mircea Eliade, in: Religious Studies 28 (1992), S. 31– 41.
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immer ein Oszillieren an der Grenze des Schweigens, des Paradoxen und Widersprüchlichen charakteristisch, sei es in der spekulativen Apophatik oder in der visionären Erlebnismystik. Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei Metaphern und Denkmodelle, die durch Wort- und Bildkombinationen das Weitentfernte zusammenbringen, oder die Begriffs- und Referenzsprache gänzlich transzendieren. Das Verhältnis zwischen ,Sagen‘ und ,Zeigen‘, das die Metaphorizität der Sprache mitbestimmt, kann allerdings auch auf die visuelle Darstellungsweise bezogen werden, indem die allegorische Ikonizität eines materiellen Bildes dem Unaussprechlichen einen symbolischen Ausdruck verleiht.
Vicky Ziegler
Geheimnisse und ihre Wahrung in der arabischen Alchemie Okkultes im Werk ‚Die Prahlerei der Steine‘ des Andalusiers Maslama ibn Qāsim al-Qurṭubī Abstract: Occultism and the secret are heavily intertwined. As Bachmann and Hoffmeier asserted, alchemy can be considered a secret science from two different perspectives. On the one hand, alchemists made use of several means like Decknamen, symbols and cryptographic alphabets to codify their scripts and on the other hand the secret resembled the aim of their intellectual efforts. This applies to alchemy in the Islamicate world too, which contributed substantially to the development of alchemy in the European Middle Ages. This paper focuses on an – up to now – disregarded alchemical work – ‘The Boasting of Stones’, which contains a dialogue between different alchemical matter and minerals respectively. ‘The Boasting of Stones’ has not been edited yet, as it is the case of many Arabic alchemical writings. Despite this, it can be regarded as an important alchemical script because of its literary constitution. Dialogues are not a rarity in Arabic alchemical writings, but dialogues written in the form of the Arabic dispute prose. About 20 anthropomorphic characters compete against each other to determine which of them is the philosopher’s stone that had been highly praised by previous alchemists. In addition to this exceptional literary conception, this paper sheds light on the methods and means the author utilizes to hide alchemical knowledge from an unworthy reader. Keywords: Alchemie, der Stein der Weisen, Maslama ibn Qāsim al-Qurṭubī, Rangstreitprosa, Decknamen
1 Einleitung Wisse, mein weiser Bruder, der du nach den göttlichen Wissenschaften und den Naturgeheimnissen verlangst, dass es für alles eine Ursache gibt. Das, was mich dazu veranlasste dieses Buch zu verfassen, welches ich als eine propädeutische Einführung niederschrieb und den Namen ‚Rangstufe des Weisen‘ gab, ist, dass ich die Menschen heutzutage sehe, wie sie sich der Weisheit zuwenden und sich mit der Philosophie beschäftigen, dabei aber in der Steppe der Unwissenheit umherirren und in der Flut der Irreführung umhertreiben. Sie lesen, was sie nicht verstehen und verlangen, was sie nicht wissen. Als dann die Weisheit ihre Pforten zu ihnen verschloss und die Philosophie zwischen sich und ihnen ihren Schleier legte und ihre Verbindung zu ihnen durch-
Vicky Ziegler, M.A., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Brühler Straße 7, 53119 Bonn, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-007
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schnitt, gaben sie sich damit zufrieden, ihre äußeren Worthüllen weiterzutragen, anstatt sich an ihren Vorteilen zu erfreuen und sie zu verurteilen, anstatt von ihren Erträgen zu profitieren.¹
Dieser kurze Auszug stammt aus dem Buch ‚Die Rangstufe des Weisen‘ (Rutbat alḥakīm), welches nach Maribel Fierro von dem Andalusier Maslama ibn Qāsim alQurṭubī in den Jahren 339/950 bis 342/953² verfasst wurde.³ Im Mittelalter wurden ‚Die Rangstufe des Weisen‘, ‚Das Ziel des Weisen‘ (Ġāyat al-ḥakīm), dessen lateinische Übersetzung unter dem Titel ‚Picatrix‘ auch im mittelalterlichen Europa äußerst bekannt war,⁴ und andere Bücher desselben Autors dem berühmten andalusischen Astronomen und Mathematiker Abū l-Qāsim Maslama ibn Aḥmad al-Maǧrīṭī (gest. gegen 398/1007) zugeschrieben.⁵ Im letzten Jahrhundert bestritt man diese Zuordnung und gab stattdessen als Autor der Bücher Pseudo-Maǧrīṭī an.⁶ In diesem Artikel wird die vorher erwähnte modernere Theorie Maribel Fierros angewandt, die unter anderem von Godefroid de Callataÿ und Sébastien Moureau unterstützt wird.⁷ Hierbei wird hingegen der Standpunkt vertreten, dass eine abschließende Feststellung bezüglich der Autorenschaft erst dann gegeben werden kann, nachdem alle Werke des Autors von der ‚Stufenleiter des Weisen‘ und vom ‚Ziel des Weisen‘ ausreichend untersucht wurden. ‚Die Rangstufe des Weisen‘ nimmt innerhalb des alchemischen Oeuvres Maslamas die bedeutendste Stellung ein. Aus diesem stammt wie bereits erwähnt der oben zitierte Auszug. Maslama deutet mit den dort verwendeten Worten die „göttlichen Wissenschaften“ und die „Naturgeheimnisse“ insbesondere auf die Alchemie hin. Denn das Anliegen der Alchemisten ist es, die Gesetze der Natur bzw. die Gesetze, nach denen Gott diese Welt erschuf, zu ergründen, um selbst das reinste aller Metalle, das Gold, aus unedlen Metallen zu gewinnen. Gleichzeitig ist dieses Ziel an die Läu-
Maslama al-Qurṭubī, The Book of the Rank of the Sage. Rutbat al-ḥakīm by Maslama al-Qurṭubī, hrsg. v. Wilferd Madelung (Corpus Alchemicum Arabicum 4), Zürich 2016, S. 15. Das Datum wird in dieser Arbeit zuerst nach der islamischen Zeitrechnung angegeben, gefolgt von der Datumsangabe des gregorianischen Kalenders hinter dem Schrägstrich. Vgl. Maribel Fierro, Bāṭinism in al-Andalus. Maslama b. Qāsim al-Qurṭubī (d. 353/964). Author of the Rutbat al-ḥakīm and the Ghāyat al-ḥakīm (Picatrix), in: Studia Islamica 84/2 (1996), S. 87– 112, hier S. 93. Vgl. Hellmut Ritter, Einführung, in: Pseudo-Maǧrīṭī, „Picatrix“ Das Ziel des Weisen, übers. v. Hellmut Ritter u. Martin Plessner (Studies of the Warburg Institute 27), London 1962, S. XX–LVIII, hier S. XX. Vgl. Eric John Holmyard, Maslama al-Majrīṭī and the Rutbatu’l-ḥakīm, in: Isis 6/3 (1924), S. 293 – 305, hier S. 294. Vgl. Ritter (Anm. 4), S. XXI. Siehe hierzu Godefroid de Callataÿ u. Sébastien Moureau, Towards the Critical Edition of the Rutbat al‐ḥakīm. A Few Preliminary Observations, in: Arabica 62 (2015), S. 385 – 394 und ebd., Again on Maslama Ibn Qāsim al-Qurṭubī, the Ikhwān al-Ṣafāʾ and Ibn Khaldūn. New Evidence from Two Manuscripts of Rutbat al‐ḥakīm, in: al-Qanṭara 37/2 (2016), S. 329 – 372.
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terung der eigenen Seele gekoppelt, da durch die Erkenntnis, wie Gott diese Welt schuf, die Seele erlöst werden kann.⁸ Da das Wissen dieser Naturgeheimnisse in den falschen Händen großen Schaden verursachen könnte, sahen sich die Alchemisten gezwungen, ihre Schriften für Außenstehende unverständlich niederzuschreiben. Der oben zitierte Abschnitt verdeutlicht einerseits, dass bereits die Zeitgenossen Maslamas die Inhalte der Alchemie nicht erschließen konnten, andererseits weist er auf die Ablehnung hin, die viele Gelehrte der Alchemie entgegenbrachten. Maslama führt diese Ablehnung bzw. Verurteilung der Alchemie auf die Ignoranz ihrer „Feinde“ zurück. Diese „ignoranten Feinde“ hingegen sahen in den Alchemisten Häretiker und gefährliche Magier.⁹ Die Alchemie gilt wohl bis heute als die okkulte Wissenschaft des Mittelalters schlechthin. Sie ist jedoch schon seit der Antike in zweierlei Hinsicht als Geheimwissenschaft zu verstehen. Einerseits waren die Alchemisten mit äußerster Anstrengung darauf bedacht, ihre Werke derartig verwickelt und von Decknamen durchdrungen niederzuschreiben, dass nur der Adept das Gemeinte verstehen konnte, andererseits stand das Geheimnis an sich im Zentrum ihrer intellektuellen Bemühungen.¹⁰ Manfred Ullmann fasst in der Einleitung seines Buchs „Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam“ verschiedene Methoden zur Geheimniswahrung zusammen. Neben der Verwendung von Decknamen, deren Bedeutungen nur dem Eingeweihten bekannt waren, und der Aufspaltung der Theorien auf verschiedene Werke, wurden Geheimtinten und kryptographische Alphabete verwendet. Dabei bemerkt Ullmann, dass Geheimalphabete selten angewandt wurden und dass einige der kryptographischen Alphabete, wie sie der Alchemist und Magier Ibn Waḥšīya im 9. Jahrhundert festgehalten hat, spontan erfunden wurden.¹¹ Wie aber genau der okkulte Charakter eines arabisch-alchemischen Textes ausgeprägt ist und welche Methoden zur Wahrung des Geheimnisses angewandt wurden, soll im Folgenden beispielhaft anhand des Buchs ‚Die Prahlerei der Steine‘ von Maslama ibn Qāsim al-Qurṭubī dargestellt werden. Zwar fällt die Verwendung von Geheimalphabeten und Geheimtinten in diesem Fall eindeutig weg, jedoch sollen weitere Methoden der alchemistischen Geheimniswahrung zu Ullmanns Aufzählung ergänzt werden. Um auf das Okkulte und die im Text verwendeten Methoden einzugehen, ist es unerlässlich vorweg Inhalt, Aufbau und verwendete Erzähltechnik zu behandeln. Ebenfalls sollen die Figurenwelt, die Terminologie und die inhaltliche
Vgl. Jost Weyer u. Karl Gabers (Hgg.), Quellengeschichtliches Lesebuch zur Chemie und Alchemie der Araber im Mittelalter, Hamburg 1980, S. 56. Einer der bekanntesten Gegner der Alchemie ist der Historiker Ibn Ḫaldūn, welcher im 8./14. Jahrhundert lebte. Siehe hierzu Mushegh Asatrian, Ibn Khaldūn and the Occult, in: Iran & the Causasus (2003), S. 73 – 123, hier S. 104– 109. ʿAbd ar-Raḥmān ibn Ḫaldūn, Taʾrīḫ Ibn Ḫaldūn, Bd. 1, hrsg. v. Ḫalīl Šaḥāda, Beirut 2001, S. 655 – 663. Vgl. Manuel Bachmann u. Thomas Hofmeier, Geheimnisse und Alchemie, Basel 1999, S. 9. Vgl. Manfred Ullmann, Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam (Handbuch der Orientalistik, 1. Abteilung, Ergänzungsband 4, Zweiter Abschnitt), Leiden, Köln 1972, S. 2– 4.
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Themenvielfalt betrachtet werden, wobei das Verhältnis zwischen Religion und Alchemie sowie die Zitate von griechischen und arabischen Gelehrten in gesonderten Kapiteln Betrachtung finden. Zuallererst sollen Angaben zum einzig bis heute erhaltenen Textzeugen des Buchs gegeben werden.
2 Die Prahlerei der Steine 2.1 Angaben zum Manuskript Die vorliegende Untersuchung des Werks ‚Die Prahlerei der Steine‘ beruht auf einem Manuskript, das heute in der Süleymaniye Bibliothek unter der Registernummer 002237 Süleymaniye Bağdatlı Vehbi, mit dem Autorennamen el-Mecriti, Mesleme b. Ahmed al‐Kurtubi el-Endelüsi el-Hakim, Ebü’l-Kasm und dem Titel Müfaharatü’l Ahcar vorzufinden ist. Auf der Vorderseite des Deckblatts vom Manuskript ist angegeben, dass das Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘ von Maslama ibn Aḥmad ibn abī Ṣāliḥ ibn Wiḍḍāḥ al-Maǧrīṭī verfasst wurde, zuzüglich einiger Lebensdaten und deren Quellen. Der Rückseite des Deckblattes ist zu entnehmen, dass das Manuskript ebenfalls ein Gedicht (qaṣīda) eines anderen wichtigen Andalusiers enthält – Qurāḍat al-ʿasǧad fī l-ḥaǧar al-mufrad (Der Goldspan im einzigartigen Stein) von Muḥammad ibn ʿAlī ibn ʿArabī Muḥyī ad-Dīn. Dieses trägt mit großer Sicherheit eigentlich den Titel Qurāḍat al-ʿasǧad fī maʿrafat al‐ḥaǧar al-mufrad (Der Goldspan in der Kenntnis vom einzigartigen Stein). Auf dieser Rückseite ist ebenfalls eine Notiz, die am 10. Raǧab 1322/19. September 1904 angefertigt wurde, vorhanden, nach der das Buch von ʿAbd al-Wahhāb ibn ʿAbd al-Maʿbad ad-Dūrī, der den Zunamen al-Wahbī trägt, einer Bibliothek in Bagdad gestiftet wurde. Der Name der Bibliothek ist nicht angegeben. Die Vermutung liegt nahe, dass der Name ursprünglich mit roter Tinte angegeben werden sollte, was jedoch versäumt wurde. Die Materialbeschaffenheit des Manuskripts unterscheidet sich stark vom Deckblatt und lässt darauf schließen, dass das Manuskript zu einem früheren Zeitpunkt als 1904 angefertigt wurde. Bedauerlicherweise ist in ihm kein Kolophon vorhanden, wodurch eine Datierung schwierig ist. Eine jüngere Hand hat zur Übersichtlichkeit an den Rändern der älteren Blätter die Figurenwechsel in roter Farbe markiert. Der Kopist verwendete ein etwas nachlässiges nasḫī. ¹² Auf den 39 Blättern sind durchschnittlich pro Seite zwischen 16 – 19 Zeilen geschrieben. Nachlässig wurde auch mit dem Manuskript umgegangen: Der Einband und das letzte Blatt des Buchs fehlen. Eine jüngere Hand hat den Inhalt des verlorenen Blattes mit einem Bleistift an den Rand der letzten noch vorhandenen Seite geschrieben. Die Rekonstruktion des Textes wird nicht
Eine arabische Schriftart, die insbesondere für das Kopieren von Büchern im östlichen arabischen Kulturraum seit Ende des 4/.10. Jahrhundert verwendet wird. Vgl. Adam Gacek, Arabic Manuscripts. A Vademecum for Readers, Leiden, Boston 2009, S. 162.
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nur durch die Tatsache erschwert, dass es sich bei dem vorher beschriebenen Manuskript um einen codex unicus handelt, sondern auch durch einige Auslassungen und viele Schreibfehler, die vermuten lassen, dass Arabisch nicht die Muttersprache des Kopisten war.¹³ Fuat Sezgin ordnet das Werk ‚Die Prahlerei der Steine‘ demselben Autor zu, der das Buch ‚Die Rangstufe des Weisen‘ verfasste.¹⁴ Der Grund hierfür ist, dass, wie gerade angegeben, der Kopist des Manuskripts den Astronomen Maslama alMaǧrīṭī als Autor des Buchs vermerkt und dass die okkulten Werke ‚Die Rangstufe des Weisen‘ und ‚Das Ziel des Weisen‘ die gleiche Zuordnung aufweisen. Ullmann erwähnt in seinem bereits vorher genannten Buch, dass Maslama ein Steinbuch (Kitāb al-Aḥǧār) verfasst hat, von dem heute nur noch ein Fragment in den Bodleian Libraries und Zitate bei al-Ǧildakī¹⁵ vorhanden sind.¹⁶ In diesem Fragment ist sichtbar, dass es sich bei dem ‚Buch der Steine‘ um ein Steinbuch im klassischen Sinne handelt.¹⁷ Der Autor nennt hier die Bezeichnungen einiger Steine, deren Vorkommen und ihre sympathischen Eigenschaften. Das Fragment stimmt an keiner Stelle mit dem Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘ überein. Interessanterweise trifft dies nicht auf den ersten Teil eines Zitates von al‐Ǧildakī zu, welchen Ullmann übersetzt hat.¹⁸ Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Abschnitt im Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘ in wörtlicher Rede aus der Sicht eines Minerals wiedergegeben wird.¹⁹ AlǦildakī zitiert also nicht aus dem ‚Buch der Steine‘, von dem ein Auszug in den Bodleian Libraries aufbewahrt ist. Es bleibt daher die Frage offen, ob es sich bei der ‚Prahlerei der Steine‘ um eine Art Umschreibung eines Sachtextes aus einem anderen ‚Buch der Steine‘ zur Rangstreitprosa handelt.
2.2 Inhalt, Aufbau und Erzähltechnik Fol. 4r–5v: Das Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘ beginnt mit einer kurzen Vorrede, die wie auch die anderen Bücher Maslamas mit einer längeren Lobpreisung Gottes beginnt, welche zu den kosmologischen und ontologischen Vorstellungen Maslamas überleitet. Anschließend werden die verschiedenen Handwerke der Menschen the-
Beispielsweise schreibt der Kopist auf fol. 5r des Werks taḥta ḏālika l-qamari (unter diesem Mond) anstelle von taḥta falaki l‐qamari (unter der Mondsphäre), kaifa yakūnu ʿilmahā wa-tadbīrahā (wie ihre Wissenschaft und Anwendung ist) anstelle von kaifa yakūnu ʿamalahā wa-tadbīrahā (wie ihre Praxis und Anwendung ist) oder auf fol. 34r sāʿatuhu (ich hele ihm) anstelle von sāʿadtuhu (ich helfe ihm). Vgl. Fuat Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, Bd. 4: Alchimie, Chemie, Botanik, Agrikultur bis ca. 430 h., Leiden 1971, S. 298. ʿIzz ad-Dīn Aidamir ibn ʿAlī al-Ǧildakī (gest. im 8./14. Jahrhundert) ist einer der wichtigsten späteren Alchemisten des islamischen Kulturraums. Siehe hierzu Ullmann (Anm. 11), S. 237– 242. Vgl. ebd., S. 122 – 123. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Kitāb al-Aḥǧār, Oxford, Bodleian Libraries, Marsh 452, fol. 60v–63r. Vgl. Ullmann (Anm. 11), S. 123. Vgl. ebd., S. 123; Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār, Istanbul, Süleymaniye, Bağdatlı Vehbi 002237, fol. 12r.
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matisiert, wobei die Alchemie die edelste Kunstfertigkeit sei. Maslama schreibt über die griechisch-hellenischen Alchemisten, dass jeder Gelehrte über einen anderen Stoff sprach, ob er nun tierisch, pflanzlich oder mineralisch sei, um die Inhalte der Alchemie vor den Unwürdigen zu verschleiern. Einig war man sich dabei das aus der Alchemie resultierende „Stein“ zu nennen. Nun sprachen die Philosophen aber über viele Dinge, die letztendlich alle als Steine bezeichnet wurden. Außerdem verwendeten sie Symbole und Decknamen, wobei jeder von ihnen einen bestimmten Stein rühmte. Von eben dieser Problematik handelt das Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘, wobei der Autor selbst erwähnt, dass er das Stilmittel der Personifikation aus didaktischen Gründen anwendet: Ich werde auch in diesem Buch etwas hiervon erwähnen [,dass die Philosophen viele Symbole bzw. Decknamen verwendeten, aber dasselbe meinten]. Das werde ich jedoch durch die Zungen der Steine selbst zum Ausdruck bringen […] damit dies für den Zuhörer leichter zu verstehen ist.²⁰
Fol. 5v: Anschließend setzt der Prolog der Erzählung ein, der wie bereits die Vorrede mit einer Lobpreisung Gottes beginnt. Es wird davon berichtet, dass ein heftiger Streit unter den Steinen entflammt, da jeder von sich selbst behauptet, der Stein der Weisen zu sein. Zustande kam diese Uneinigkeit, weil jeder einzelne von ihnen von den Weisen gelobt wurde. Sie kommen erst zur Ruhe, nachdem sie den Entschluss fassen, einem Schiedsrichter die Entscheidung zu übertragen. Fol. 5v–7v: Daraufhin beginnt der Hauptteil damit, dass sich die Steine zum Korund begeben, der nur widerwillig die Rolle des Schiedsrichters übernimmt. Einerseits sind für ihn Gold und Silber aufgrund ihrer Reinheit und folglich auch höheren Stellung eher dazu berechtigt zwischen den Steinen zu richten, andererseits fürchtet sich der Korund vor dem Zorn der verlierenden Partei, dem ein Schiedsrichter stets nach der Urteilsfällung ausgeliefert ist. Fol. 7v–24v: Dem Gold gelingt es jedoch den Korund zu überzeugen und die erste Runde beginnt mit den sieben Steinen, welche den Planeten zugeordnet werden – Gold, Quecksilber, Blei, Kupfer, Eisen, Zinn und Silber. Abgesehen von Gold und Silber bezeichnet sich jeder Stein selbst als der beste: Sie prahlen mit ihren positiven Eigenschaften, während sie den vorangegangenen Kontrahenten verunglimpfen und als unbrauchbar beschreiben. Der Korund fällt das erste Urteil, nachdem er jeden Stein hat schwören lassen, sein Urteil zu akzeptieren. Er entscheidet, dass das Gold, dann das Silber und schließlich das Blei die wichtigsten Steine seien. Das Quecksilber bricht als erster seinen Schwur und verlangt vom Korund auch über die anderen Steine ein Urteil zu fällen, woraufhin diese dem Quecksilber zustimmen. Also lässt der Korund nach einer intensiven Beratung mit dem Gold die anderen Steine vortreten.
Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār, ebd., fol. 5v: Wa-anā aḏkuru aiḍan fī hāḏā l-kitābi šaiʾan min ḏālika. Wa-aǧʿaluhu ʿalā lisāni l-aḥǧāri bi-nafsihā […] Li-yakūna ḏālika aqraba ilā fahmi s-sāmiʿ.
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Fol. 24v–33r: Nach einer zweiten Runde, in der sich die sieben Steine Schwefel, ‚Arsenik‘,²¹ Salmiak, Salz, ‚Kalisalz‘, ‚Natron‘ und ‚Talk‘²² mit ihren positiven Eigenschaften und den negativen ihres Vorgängers vorstellen, entscheidet der Korund, dass der Schwefel und das ‚Arsenik‘ die wichtigsten Steine von ihnen seien. Nachdem sich das ‚Magnesia‘²³ zu Wort meldet und sowohl auf seine wichtige Bedeutung als auch auf die des ‚Markasits‘²⁴ und des Lapislazuli für die Alchemie hinweist, gesteht ihnen der Korund diese bedeutende Stellung zu. Fol. 33r-36v: Die dritte Runde wird vom Haar und den Körpersäften Blut, Galle, Sperma sowie Urin bestritten, die sich als Ursprung der Steine vorstellen. Der Korund urteilt über die Körpersäfte jedoch, dass sie allesamt unrein wären, da sich der Mensch schließlich auch waschen müsse, wenn sie von ihm austräten.²⁵ Dem Haar komme keine Bedeutung zu, da der Mensch auch ohne es existieren kann. Fol. 36v–39v: Zuletzt stellen sich Ei, Kamel, Huhn, Schnecke und roter Hahn miteinander konkurrierend vor, wobei der Streit zwischen dem roten Hahn und der Schnecke derartig eskaliert, dass die Schnecke dem Hahn ein Auge ausschlägt. Die anderen Steine versuchen beschwichtigend einzugreifen und verlangen von der Schnecke Reue kundzutun. Letztlich wird dem Hahn geraten, sich nicht der Schnecke zu nähern, da auch sie ein Symbol für den Stein der Weisen sei. Fol. 39v: Auf der letzten Seite des Manuskripts wird lediglich am Rand angegeben, dass das Buch an dieser Stelle schließt und dass das in der Vorrede Versprochene behandelt wurde, wodurch sich der Rahmen zur Vorrede schließt. Ein Epilog zur Erzählung ist nicht vorhanden, wobei unklar ist, ob dieser ursprünglich nicht vorgesehen war oder verloren gegangen ist. Durch den Kopisten wurde das Buch in drei Abschnitte gegliedert: Der erste Abschnitt endet während der ersten Runde, bevor der Korund eine Entscheidung trifft, der zweite nachdem das Gold den Korund dazu aufgefordert hat, auch die anderen Steine vortreten zulassen, bevor die zweite Runde beginnt, und der dritte Abschnitt umfasst die letzten drei Runden. Zusätzlich wird ein Figurenwechsel zumeist durch die gedehnte Schreibung des Wortes qāla (er sagte), welches jeder wörtlichen Rede voransteht, angedeutet. Ob dies die ursprüngliche Gliederung des Buches ist, kann ohne weitere Textzeugen nicht festgestellt werden. Die Erzählung ‚Die Prahlerei der
Einige Stoffe werden in einfachen Anführungszeichen angegeben, da die Übersetzungen nicht vollkommen mit den arabischen Äquivalenten übereinstimmen. Mit Arsenik sind die Arsensulfide Realgar und Auripigment gemeint. Vgl. Julius Ruska, Erläuterungen, in: Al-Rāzī’s Buch Geheimnis der Geheimnisse (Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin Bd. 6), Berlin 1937, S. 40. Hiermit könnte auch Glimmer und Marienglas gemeint sein. Vgl. ebd., S. 46. Hiermit könnten verschiedene Manganoxide gemeint sein. Vgl. ebd. S. 43. Hiermit sind vermutlich die Metall-farbigen Sulfide der Schwermetalle gemeint. Vgl. ebd., S. 43. Je nachdem welcher Körpersaft austritt, ist für den Muslim eine bestimmte rituelle Reinigung unabdingbar, damit er den islamischen Riten nachgehen kann. Vgl. Georges-Henri Bousquet, Ghusul, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 2 (1991), Sp. 1104, Clifford E. Bosworth, Wuḍūʾ, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 11 (2002) Sp. 218 – 219.
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Steine‘ ist der Gattung der Rangstreitdichtung zuzuordnen, die auch, wie es auf das vorher erwähnte Buch zutrifft, in Prosaform auftreten kann.²⁶ Dies wird allein durch das im Titel enthaltene Wort „Prahlerei“ (mufāḫara) deutlich, welches im Arabischen neben den Wörtern munāẓara und muḥāwara als Bezeichnung für die Rangstreitdichtung gilt. Mufāḫara ist das Verbalsubstantiv des Verbs fāḫara, was „an Ruhm wetteifern“, aber auch „prahlen“ bedeutet. So handelt es sich hierbei um „eine literarische Gattung, bei der belebte und unbelebte Dinge redend auftreten und in einem Streitgespräch um den Ruhm kämpfen, die vorzüglichsten Eigenschaften zu besitzen.“²⁷ Es wird angenommen, dass sich die arabische Rangstreitdichtung trotz des Vorhandenseins dieser Literaturgattung bei früheren Kulturen wie die der Sumerer autochthon herausgebildet haben könnte.²⁸ Nichtsdestotrotz soll an dieser Stelle auf die Ähnlichkeit der Erzählung ‚Die Prahlerei der Steine‘ zur griechischen Komödie ‚Die Frösche‘ des Aristophanes verwiesen werden. In dieser Komödie tritt der Gott Dionysos in der Unterwelt als Schiedsrichter auf, um zu entscheiden, ob Euripides oder Aischylos der bessere Dichter ist.²⁹ Mit der Parallele zur griechischen Komödie bzw. Tragödie³⁰ sind nicht nur die Figur des Schiedsrichters und der Wettstreit zwischen den Konkurrenten gemeint, sondern auch die Einheit von Zeit und Handlung, so wie sie Aristoteles als Bedingung der Tragödie festhält.³¹ In der Erzählung liegt ein linearer Handlungsverlauf vor. Auch stimmt die Erzählzeit nahezu mit der erzählten Zeit überein bis auf die Überlegungen der Steine insbesondere des Korunds, die zeitraffend in einem Satz abgekürzt werden. Ebenfalls wird der Eindruck einem Theaterstück beizuwohnen durch den neutralen Erzähler hervorgerufen, der insgesamt stark in den Hintergrund tritt, und durch das Überwiegen der Dialoge zwischen den Figuren im Text. Es wird nicht beschrieben, was im Inneren der Figuren vorgeht und auch ihr äußerliches Verhalten und Handeln werden nur knapp dargestellt. Als Ort des Geschehens wird lediglich angegeben, dass die Steine in einem Gericht maǧlis um den Korund versammelt sind.³² Weitere Hin-
Vgl. Ewald Wagner: Die arabische Rangstreitdichtung und ihre Einordnung in die allgemeine Literaturgeschichte, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse (1962), Wiesbaden, S. 442. Ebd., S. 437. Vgl. ebd., S. 468; John N. Mattock, The Arabic Tradition. Origin and Developments, in: Gerrit J. Reinink u. Herman L. J. Vanstiphout (Hg.), Dispute Poems and Dialogues in the Ancient and Mediaeval Near East. Forms and Types of Literary Debates in Semitic and Related Literatures (Orientalia Lovaniensia Analecta 42), Leuven 1991, S. 154. Vgl. Bernhard Zimmermann, Die griechische Tragödie. Eine Einführung, München 1992, S. 7. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Tragödie und Komödie ist der, dass die Komödie eine „Nachahmung von zwar schlechteren Menschen [ist] – aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern zum Unschönen gehört das Lächerliche.“ Aristoteles, Poetik, übers. v. Arbogast Schmitt, Darmstadt 2008, S. 8. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. Maslama al-Qurubī (Anm. 19), fol. 12r.
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weise auf den Ort, aber auch auf den Zeitraum des Geschehens sind in der Erzählung nicht enthalten.
2.3 Figurenwelt, Terminologie und inhaltliche Themen Was bei der Inhaltsangabe sicherlich Verwunderung hervorruft, ist die Verwendung des Wortes aḥǧār (Steine) nicht nur für Minerale, die man auch heutzutage als Steine bezeichnen würde, sondern auch für Metalle, Salze und organische Stoffe. Ullmann weist in seinem Buch „Die Natur- und Geheimwissenschaften“ darauf hin, dass das Wort aḥǧār (Steine) oft als Oberbegriff für alle Substanzen verwendet wurde, die dem Mineralreich zuzuordnen sind.³³ Jedoch liegt die Vermutung näher, dass Maslama alle Stoffe als Steine bezeichnet, da er auch in der Vorrede seines Buchs erwähnt, dass die Weisen verschiedene Substanzen erwähnten, um das alchemistische Wissen zu verschlüsseln. Einig waren sich alle Weisen, dem Gegenstand, mit dem sich die Alchemie beschäftigt, die Bezeichnung „Stein“ zu geben: Sie [= Die Weisen] konnten sie [= die Alchemie] nur geheim halten, indem sie alles Seiende der sublunaren Welt an Mineralien, Pflanzen und Tieren erwähnten. Jeder von ihnen sprach über etwas, das ihm nahe lag, sei es über Tiere oder andere Dinge. Alle von ihnen einigten sich darauf, das, wovon diese Kunst ist, ‚Stein‘ zu nennen.³⁴
So könnte man dies als Hinweis deuten, dass es sich bei dem Stein der Weisen nicht im eigentlichen Sinne um einen Stein handeln muss. Dafür spricht ebenfalls das ‚Buch des Steins‘ von Ǧābir ibn Ḥayyān, der als bedeutendster arabischer Alchemist gilt.³⁵ In diesem Buch wird Folgendes erwähnt: Er [= der Stein] ist die Materie der Alchemie und ihr Gegenstand, auf dem das Verfahren angewandt wird […]. Die Beschreibung [des Steins] der Alten unterschied sich bezüglich ihrer äußeren Erscheinung, während sie in Bezug auf ihr Inneres übereinstimmend war.³⁶
Vgl. Ullmann (Anm. 11), S. 95. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 5r: Wa-mā qadarū ʿalā satrihā illā ḥattā ḏakarū ǧamīʿa l-mauǧūdāti taḥta ḏālika [Korrektur: falaki] l-qamari mina l-maʿdini wa-n-nabāti wa-lḥayawāni. Wa-takallama kullu minhum ʿalā mā aḥabba immā fī l-ḥayawāni au ġairihi. Wa-aǧmaʿū kulluhum ʿalā tasmiyat aš-šaiʾ allatī [Korrektur: allaḏī] takūnu minhu hāḏihi ṣ-ṣināʿa ḥaǧaran. Ob die Person Ǧābir ibn Ḥayyān tatsächlich der Autor der Schriften ist, die ihm zugeschrieben werden, ist genauso wie der Verfassungszeitraum dieser Werke recht umstritten. Siehe hierzu das Kapitel „Rückblick auf die Diskussion um Person und Werk von Ǧābir“ in: Sezgin (Anm. 14), S. 175 – 231. Ǧābir ibn Ḥayyān, Ṯalāṯūn kitāban wa risālatan fī l-kīmiyāʾ wa-l-iksīr wa-l-falak wa-ṭ-ṭabīʿa wa-lhaiʾa wa-l-falsafa wa-l-manṭiq wa-s-siyāsa, hrsg. v. Aḥmad Farīd al-Mazyadī, Beirut 2006, S. 87: Wa-lḥaǧaru wa-huwa māddatu ṣ-ṣanʿati wa-mauḍūʿuhā allaḏī ʿalaihi yaqaʿu t-tadbīru […] wa-lamma kāna waṣfu l-qudamāʾi li-l-ḥaǧari waṣfan muḫtalifān fī ẓāhiri, wa in kāna muttafiqan fī bāṭinihi.
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Im Buch ist weiterhin beschrieben, dass der Stein der Weisen von einigen Philosophen dem Pflanzenreich zugeordnet wird, andere wiederum sehen ihn als mineralischen oder tierischen Stoff. Maslama folgt ansonsten der Klassifikation der mineralischen Substanzen, wie sie im ‚Großen Buch der Spezifischen Eigenschaften‘ von Ǧabir ibn Ḥayyān festgehalten ist. Dieser untergliederte das Mineralreich in Geister (arwāḥ), Metalle (aǧsād) und andere Mineralien (aǧsām).³⁷ Die Verwendung des Wortes Geister, womit die färbenden und vor dem Feuer flüchtenden Stoffe gemeint sind, geht auf die griechische Alchemie zurück.³⁸ Dass sich Maslama an diese Klassifikation hält, wird beispielsweise durch das Quecksilber (ziʾbaq) deutlich, welches über sich selbst sagt: „Ich bin ein guter fliehender Geist […]“.³⁹ Ǧābir ibn Ḥayyān zählt neben dem Quecksilber Salmiak, ‚Arsenik‘, Schwefel und Kampfer zu den Geistern⁴⁰ wie auch Maslama in seinem Werk ‚Das Buch des Gartens‘ (Kitāb ar-rauḍa)⁴¹ Der färbende Charakter der Geister kommt im Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘ durch die Aussage des Salmiaks zum Ausdruck: Ich bin das Reine der Verschmutzungen. Ich tauche die Farben tief in die Ohnmacht [Korrektur: in das Innere] der Körper. Indessen [Korrektur: Ich] bin derjenige, der in den Büchern der Vorangegangenen ‚Wasser‘ genannt wird. Es ist dasjenige, das die Färbung des Safrans und anderer Stoffe in die Kleidung bringt. Dann trocknet es und die Färbung bleibt in der Kleidung zurück.⁴²
Maslama verwendet in seinem Buch auch die Wörter aǧsād und arwāḥ,⁴³ was auf eine terminologische Unterscheidung zwischen Metallen und anderen Mineralien wie die färbenden und vor dem Feuer flüchtenden Stoffe seitens Maslamas schließen lässt. Einige der vorher erwähnten mineralischen Stoffe wurden in Anführungszeichen angegeben, da die damaligen Bezeichnungen nicht immer mit dem Gemeinten der modernen Bezeichnungen übereinstimmen.⁴⁴ Bei manchen Bezeichnungen, die in der Inhaltsangabe mit einfachen Anführungszeichen versehen wurden, wurde in den Fußnoten angegeben, was unter ihnen heute zu verstehen ist. Diese Angaben orientieren sich an den Erklärungen von Julius Ruska, die allerdings auf das Werk ‚Das Buch der Geheimnisse‘ von ar-Rāzī bezogen sind.⁴⁵ Die Entscheidung, ob Maslama Vgl. Paul Kraus, Jābir ibn Ḥayyān. Contribution à l’histoire des idées scientifiques dans l’Islam, Bd. 2: Jābir et la science grecque, Paris 1942, ND Hildesheim 1989, S. 18 – 19. Vgl. Julius Ruska (Anm. 21), S. 36. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 9r: Ana rūḥun laṭīfun ṭāʾirun […]. Vgl. Kraus (Anm. 37), S. 19. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Kitāb ar-Rauḍa, Istanbul, Süleymaniye, Hacı Beşir Ağa 000505, fol. 74r. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 27r: Ana naqyīu ǧamīʿi l-ausāḫ. Ana muġauwiṣu l-aṣbāġi fī iġmāʾi [Korrektur: aʿmāqi] l-aǧsād. Wa-innamā [Korrektur: ana] al-musammā fī kutubi l-mutaqaddimīna al-māʾ. Li-anna l-māʾa huwa allaḏī yuwaṣṣilu ṣ-ṣabġa z-zaʿfarāni [Korrektur: ṣabġa z-zaʿfarāni] wa-ġairahu ilā ṯ-ṯaubi. Ṯumma yaǧifu l-māʾu wa-yabqā ṣ-ṣabġu fī ṯ-ṯaubi. Vgl. ebd., fol. 31r. Vgl. Ruska (Anm. 21), S. 35. Vgl. ebd., S. 35 – 54. Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyāʾ ar-Rāzī gilt neben Ǧābir ibn Ḥayyān als der wichtigste arabischschreibende Alchemist.
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wirklich das gleiche unter den Bezeichnungen verstand wie ar-Rāzī, sollte einem Mineralogen übertragen werden. Im Folgenden wird auf die 27 allesamt anthropomorphen Figuren der Erzählung, ihre Namen, ihre Eigenschaften und die Themen, welche von ihnen aufgegriffen werden, näher eingegangen. Einige Figuren und Themen finden eine intensivere Berücksichtigung als andere, da in diesem Artikel nicht genügend Raum für eine vollständige Analyse zur Verfügung steht.
2.3.1 Figuren der ersten Runde Der Wettkampf der ersten Runde wird zwischen dem Quecksilber, Blei, Kupfer, Eisen und Zinn ausgetragen. Gold und Silber kommen hier neben Korund und Bergkristall ebenfalls zu Wort, sind aber nicht in den Wettkampf mit einzubeziehen, da kein Zweifel unter den Mineralien besteht, dass es sich bei diesen um die wertvollsten Steine handelt. Schließlich ist das Ziel der Weisen, Gold und Silber synthetisch zu erzeugen. Der Korund bekleidet das Amt des Schiedsrichters, welches ihm von den anderen Steinen aufgetragen wird, da er selbst nicht zu den Steinen zählt, die von den Philosophen genannt und gelobt wurden. Neben dem Diamanten gilt seine Varietät, der Rubin, als einer der wertvollsten Edelsteine nach at-Tīfāšī,⁴⁶ der das populärste Steinbuch der Araber im 7./13. Jahrhundert verfasste.⁴⁷ Da die anderen Steine erwähnen, dass sein Name für tiefrote Chemikalien verwendet werde, handelt es sich bei dem Korund in der Erzählung um diese Varietät.⁴⁸ Er ist auffallend bescheiden und akzeptiert seine Position im Weltsystem, die niedriger angesiedelt ist als die des Goldes und des Silbers. Er legt ein frommes Verhalten zutage, prahlt nicht und drückt seinen Missmut über das größte Laster der Menschen, die Lügenhaftigkeit, aus. Vom Gold lässt er sich beraten, das wiederum seinen zögerlichen Urteilsfindungen nicht wiederspricht, jedoch verschiedene Sachverhalte erklärend hinzufügt. Insgesamt gilt für die Erzählung, umso wertvoller und damit auch reiner ein Stein ist, desto vorzüglicher sind seine Charaktereigenschaften und sein Verhalten. Die Urteilsfindung rechtfertigt der Korund teilweise mit kosmologischen bzw. kosmogonischen Ansichten. So komme dem Blei neben dem Gold und dem Silber die wichtigste Stellung zu, da der Saturn, dem er zugeordnet wird, der erste Planet sei, der von Gott erschaffen wurde. Darüber hinaus thematisiert der Korund die Entstehung der Mineralien. Diese hätten ursprünglich allesamt Gold werden sollen, doch der Einfluss von äußeren Faktoren wie Zeit und Ort sowie das Einwirken der Planeten hielt sie davon ab. Ihre ausgeglichene Zusammensetzung aus Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit werde durch diese Faktoren manipuliert und verunrei Vgl. Armin Schopen u. Karl W. Strauß, Einleitung, in: Aḥmad ibn Yūsuf at-Tīfāšīs ‚Buch der königlichen Steine‘. Eine Mineralienkunde für die arabischen Herrscher des 7./13. Jahrhunderts, übers. und mit Anmerkungen versehen v. Armin Schopen und Karl W. Strauß, Wiesbaden 2014, S. XV. Vgl. Julius Ruska u. Olaf Kahl, Al-Tīfāshī, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 10 (2000), Sp. 476. Vgl. Maslama al-Qurṭubī (Anm. 19), fol. 6v.
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nigt, wodurch die verschiedenen Mineralien mit ihren mannigfaltigen Qualitäten zustande kämen. Das Entstehen der unterschiedlichen Mineraliensorten wird ebenfalls vom Bergkristall aufgegriffen, der sich jedoch nicht am Wettkampf beteiligt. Er weist auf seine Artverwandtschaft zum Korund hin, obwohl es sich bei ihm um ein weniger wertvolles Mineral handelt. Beide seien so geschaffen, dass sie hätten Gold werden sollen. Durch äußere Einflüsse sei es dazu gekommen, dass die Trockenheit im Korund überwiegt. Trotzdem sei er dem Gold sehr ähnlich, weshalb die Übertragung des Amts als Schiedsrichters an ihn gerechtfertigt sei. Dem stimmt das Gold zu und fordert den Korund dazu auf, das Amt des Schiedsrichters zu bekleiden. Das Gold ist sich seiner gehobenen Stellung durchaus bewusst, so sagt es: „Ich bin der Erhabenste, der Oberste, der Höchste, der Beste, der Schönste und der Ausgeglichenste unter den Steinen“.⁴⁹ Die Ausgeglichenheit bezieht sich auf die Zusammensetzung der Primärelemente Wärme, Feuchtigkeit, Kälte und Trockenheit im Gold; alle anderen Steine stünden unter ihm und seien mangelhaft aufgrund ihrer aus dem Gleichgewicht geratenen Zusammensetzung. Nach ihm komme das Silber, in welchem jedoch die Kälte überwiege. Dem Korund und dem Gold kommt der größte Sprechanteil in der Erzählung zu. Das letztgenannte Mineral übernimmt die Funktion des Beraters und des Allwissenden in der Erzählung. So werden von ihm alchemistische Rezepte erwähnt und die Etymologie von Worten erklärt. Der Ursprung des Wortes Naturen ṭabāʾiʿ sei auf das Wort „Prägung“ (ṭabʿ) zurückzuführen, worunter der Abdruck eines Siegelrings im Wachs zu verstehen sei. Das Bild, welches im Siegelring eingraviert sei, werde auf das Wachs übertragen. Genauso wirken die Gestirne auf die sublunare Welt ein, sodass diese von den Gestirnen geprägt wird und daher werde das Beeinflusste auch Naturen (ṭabāʾīʿ) genannt.⁵⁰ Weiterhin erklärt das Gold, wie die Steine den Planeten zuzuordnen seien, was zur Anschaulichkeit in der folgenden Tabelle angegeben ist. Dabei sind die Planeten nach Maslamas Vorstellung, die mit dem Weltbild des Ptolemäus übereinstimmt, an Hand ihrer Entfernung zur Erde geordnet. Das Gold nennt dabei die griechischen Namen der Planeten und ihre Primärqualitäten, welche auf die ihnen zugeordneten Steine zu übertragen sind. Hinter den Bezeichnungen sind die arabischen Äquivalente, so wie sie im Buch ‚Die Prahlerei der Stein‘ geschrieben sind, eingetragen.
Maslama al-Qurṭubī (Anm. 19), fol. 20v: Fakuntu aǧallahā wa-arfaʿahā wa-aḥsanahā wa-aǧmalahā wa-aʿdalahā. Vgl. ebd., fol. 24r.
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Tabelle 1: Die Planetenmetalle entsprechend der Schrift ‚Die Prahlerei der Steine‘ Metall/Geist
Planet
griechische Bezeichnung der Planeten
Qualität
Blei (usrub)
Saturn (zuḥal)
Kronos (ikrūnus)
kalt, trocken
Zinn (ānuk)
Jupiter (muštarī)
Zeus (ǧāwus)
kalt, feucht
Eisen (ḥadīd)
Mars (mirrīḫ)
Ares (āris)
warm, trocken
Gold (ḏahab)
Sonne (šams)
Helios (īkiyūs)
warm, feucht
Kupfer (nuḥās)
Venus (zuhara)
Aphrodite (aṭiyāniyā)
warm, trocken
Quecksilber (ziʾbaq)
Merkur (ʿuṭārid)
Hermes (armīs)
kalt, feucht
Silber (fiḍḍa)
Mond (qamar)
Selene (sīs)
kalt, trocken
Die Termini, die Maslama hier verwendet, weichen in Bezug auf das Blei und Zinn zu der Terminologie Ǧābir ibn Ḥayyāns ab, der für das Blei ar-raṣāṣ al-usrub und für das Zinn ar‐raṣāṣ al-qalʿī verwendet.⁵¹ Jedoch gibt das Gold an, dass das Zinn auch qalʿī genannt werde. Bei den arabischen Schreibweisen der griechischen Planeten/Götternamen ist nicht klar, ob diese auch so im Original geschrieben wurden. Die Schreibweise der Göttin Selene Sīs ähnelt mehr der ägyptischen Gottheit Isis, die bekanntermaßen auch als Mondgöttin auftritt. Weiterhin sind Maslamas Darlegungen immer von kosmologischen Vorstellungen aber auch von der Zahlenmystik, die in einem späteren Kapitel der vorliegenden Arbeit ausführlicher behandelt wird, durchdrungen. Das Quecksilber ist das erste Mineral, welches als Wettkämpfer auftritt, ihm folgen das Blei, das Kupfer, das Eisen und das Zinn, die anders als das Gold durch die negative Charaktereigenschaft „Prahlerei“ gezeichnet sind. Jedes von ihnen betrachtet sich selbst als den Stein der Weisen und den vorherigen Konkurrenten als minderwertig. Während die äußere Erscheinung der Figuren nicht beschrieben wird, wird anhand der Figuren auf die Färbung, die Festigkeit und die Eigenschaften der Mineralien eingegangen, aber auch auf ihre Verwendung zur Herstellung von Medikamenten und ihren Nutzen für die Menschen. Die Färbung eines Metalls wird auf die Dominanz einer bestimmten Primärqualität zurückgeführt, so sei das Kupfer wegen seiner starken Trockenheit rot. Ebenfalls wird die Fähigkeit des Quecksilbers mit Metallen Amalgamverbindungen einzugehen dargestellt. Das Quecksilber zählt jedoch nach Maslama zu den färbenden Geistern und nicht zu den Metallen. Zur Erklärung der Ursache, weshalb einige Mineralien miteinander Verbindungen eingehen und mit anderen nicht, werden ebenfalls die Planeten herangezogen. Die Beständigkeit der Kupfer-Zinn-Legierung wird mit der Liebe zwischen Jupiter und Venus erklärt. Genauso schwer wie zwei Liebende voneinander zu trennen seien,
Vgl. Paul Kraus (Hg.), Jabir ibn Ḥayyan. Essai sur l’historie des idées scientifiques dans l’Islam, Bd. 1: Textes choisis, Paris 1935, S. 62.
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seien auch Zinn und Kupfer untrennbar. Durch das Aufgreifen der Liebe zwischen Jupiter/Zinn und Venus/Kupfer wird sogleich auf die Sündhaftigkeit eingegangen. Die Nächstenliebe sei die von Gott erwünschte Liebe, die Liebe zwischen den Liebespaaren sei jedoch verpönt und eine Sünde, weshalb beide Steine auch nicht zu den wertvolleren zählen können. Durch das Quecksilber wird ebenfalls die Entwicklung des Menschen angesprochen. Es vergleicht sich selbst mit dem Spermium, aus dem der Mensch entsteht, da auch die anderen Steine aus ihm hervorgehen. Das Blei erwidert zugleich, dass dem Quecksilber nur in Verbindung mit dem Schwefel diese Bedeutung zukomme. Hierdurch wird auf die Schwefel-Quecksilber-Theorie verwiesen, nach der alle Mineralien aus Schwefel-Quecksilber-Gemischen unter dem Einfluss der Planeten hervorgegangen seien.⁵² Auch das Silber, welches als letzte Figur in der ersten Runde erscheint, greift dieses Thema auf, vergleicht jedoch die Entwicklung eines Menschen mit der der Alchemie. Zuerst sei der Mensch ein formloses Spermium. Dann wird es in der Gebärmutter gespalten und keimt, wobei sich langsam eine Form herausbildet. Anschließend werden die verschiedenen Gliedmaßen ausgeprägt usw. Auch in der Alchemie gäbe es ein Spermium, eine Gebärmutter, etwas, das kocht, und etwas, das die Teile nach einem bekannten System zusammenführe. Wie bereits erwähnt, steht bereits vor dem Urteil fest, dass das Silber den zweiten Rang nach dem Gold einnimmt.
2.3.2 Figuren der zweiten Runde In der zweiten Runde kommt es zum Wettkampf zwischen den Geistern (Schwefel, ‚Arsenik‘, Salmiak), den Salzen (Speisesalz, ‚Kalisalz‘), den Steinen (‚Talk‘, ‚Magnesia‘) und einem ‚Borat‘ (‚Natron‘). Auch sie stellen ihre Eigenschaften und Nutzen für den Menschen vor, behaupten von sich das wichtigste Mittel zur Färbung eines Stoffes in Gold oder Silber zu sein und denunzieren ihre Kontrahenten.Während jedoch in der ersten Runde oftmals die kosmologischen Vorstellungen zur Erklärung der Eigenschaften der ‚Steine‘ im Vordergrund stehen, wird in der zweiten Runde intensiver auf die Menschen, ihre Laster, ihre Qualen im Höllenfeuer und die Ausprägung der Primärqualitäten in den Lebewesen eingegangen. Das Salmiak tadelt das ‚Arsenik‘ für seine maßlose Prahlerei: „Jeder Mensch muss das Schicksal erkennen, welches ihm Gott verliehen hat und hierfür dankbar sein.“⁵³ Hier wird ein wichtiges Prinzip angesprochen, das in der gesamten Erzählung deutlich hervortritt und zwar, dass jeder Mensch und jede Substanz von Gott ein bestimmtes Schicksal und damit auch einen bestimmten Platz im Weltsystem zugesprochen bekommen habe, welchem nicht zuwider gehandelt werden sollte. In dem bereits zuvor Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 278. Maslama al-Qurṭubī (Anm. 19), fol. 26v: Al-wāǧibu ʿalā kulli insānin an yaʿrifa qadara mā anʿama allāh ʿalaihi wa-yaškura ʿalā ḏālika.
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erwähnten ‚Buch des Gartens‘ von Maslama ist eine Rangfolge der Menschen vorgegeben: Die edelsten Menschen seien die Propheten, danach kämen die Imame und die Kalifen gefolgt von den Weisen, den Befehlshabern und Herrschern.⁵⁴ Abgesehen vom vorherbestimmten Schicksal der Geschöpfe, geht das Salmiak in einem längeren Abschnitt auf das Thema „Aufstieg der Seele in den Himmel“ und „Abstieg der Seele in die Hölle“ ein, wodurch die Verbundenheit der synthetischen Herstellung des Goldes mit der Reinigung der Seele hervortritt. Im ‚Buch des Gartens‘ beschreibt Maslama deutlicher, dass der Stein verbrannt werden müsse, um von seinen Unreinheiten befreit zu werden, so wie die Seele im Höllenfeuer brennen müsse, um von ihren Sünden befreit zu werden.⁵⁵ Das ‚Kalisalz‘ thematisiert die Fortpflanzung der Tiere und welche Einflüsse für die Entstehung der drei Naturreiche und deren spezifische Charakteristika entscheidend sind. Die dabei erwähnten Thesen, wie das Einwirken der All-Seele, des All-Intellekts und der vier Primärqualitäten sind den Vorstellungen der Lauteren Brüder⁵⁶ entlehnt.⁵⁷
2.3.3 Figuren der dritten Runde Anders als in den beiden vorherigen Runden wird der Wettkampf der dritten Runde von Substanzen, die den Lebewesen zuzuordnen sind, bestritten: Das Haar, die Galle, das Blut, das Sperma, der Urin. Es verwundert nicht, dass hierbei noch intensiver auf den Menschen eingegangen wird. Vom Haar wird der Mensch als Mikrokosmos bezeichnet, da sich in ihm der Kosmos widerspiegle. Nach der Vorstellung Maslamas, die von den griechischen Philosophen abgeleitet ist, bestehe der Kosmos aus einem AllIntellekt, einer All-Seele, den Planetensphären und der Welt, welche wiederum aus den drei Naturreichen bestehe. Ebenfalls verfüge der Mensch über fünf Sinne und den Intellekt, mit dem er die anderen Tiere für sich nutzbar machen kann.⁵⁸ Verwunderlich ist nicht nur, dass sich das Haar als der Herr der Steine sieht, sondern auch, dass das Wort „Haar“ fortlaufend mit „Dichtung“ vertauscht wird. Beide Wörter werden im Arabischen gleich geschrieben, lediglich die Vokalisierung unterscheidet sich (šaʿr für das Haar und šiʿr für die Dichtung). Einerseits wird erwähnt, dass der Mensch ohne ihn kahlköpfig sei, womit nur das Haar gemeint sein kann, andererseits wird vor seiner Gefahr gewarnt, womit nur die ‚lügnerische‘ Dichtung gemeint sein kann. Aufgelöst wird das Rätsel um diese Vertauschung nicht.
Vgl. Maslama al-Qurṭubī (Anm. 41), fol. 62v. Vgl. ebd., fol. 70v. Von ihnen stammt das enzyklopädische Werk ‚Die Abhandlungen der Lauteren Brüder‘, welches nicht nur auf al-Qurṭubī großen Einfluss hatte, sondern auch auf viele andere Gelehrte der islamischen Welt des Mittelalters.Vgl.Yves Marquet, Ikhwān al-Ṣafāʾ, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 3 (1986), Sp. 1071– 1076. Vgl. Maslama al-Qurṭubī (Anm. 19), fol. 29r–30r, Vgl. Ullmann (Anm. 11), S. 77. Vgl. Maslama al-Qurṭubī (Anm. 41), fol. 60v–61v.
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Die Galle erwähnt, dass die vier Körpersäfte die Plätze der Primärqualitäten im Menschen einnehmen: Schleim und Schwärze stehen für Erde und Wasser, Blut und die Galle für Luft und Feuer. Das Sperma geht auf den Schöpfungsmythos und die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies durch die List des Teufels (Iblīs) ein. Alle Körpersäfte bezeichnen sich wie auch das Haar als Herr der Steine, was vom Korund dementiert wird.
2.3.4 Figuren der vierten Runde In der vierten Runde, die an Obskurität kaum noch zu überbieten ist, treffen fünf Figuren aufeinander: Das Ei, das ‚Kamel‘, das Huhn, der rote Hahn und die Schnecke. Sie sind alle als Allegorien zu betrachten, die allerdings schwer interpretierbar sind. Die Vermutung liegt nahe, dass die Figuren den Stein der Weisen bzw. dessen verschiedene Stadien repräsentieren, was sich am Ei und Kamel nachweisen lässt. Dem Ei kommt in der Alchemie eine herausragende Rolle zu und mit ihm auch den Vögeln.⁵⁹ Einerseits spiegelt es das Universum wider, was im ‚Buch des Gartens‘ ausführlicher beschrieben wird. Dort heißt es, dass der All-Intellekt alles umschließe, was unter ihm ist wie die Eierschale eines Eis. Anschließend käme die All-Seele, die ebenfalls alles umgebe, was unter ihr ist wie die dünne Schalenhaut eines Eis. Ihr folgen die Materie bzw. die Planetensphären, die mit dem Eiklar gleichzusetzen wären, und schließlich die Erde, die sich mit dem Eidotter vergleichen ließe.⁶⁰ Darüber hinaus schlüpft das Küken aus einem Ei ohne Hinzugabe einer weiteren Substanz, lediglich die Brutwärme wird benötigt. Genauso verhalte es sich mit dem Stein der Weisen, der nur den Wärmezufluss benötige, um zur Vollendung zu kommen.⁶¹ All diese Vorstellungen wurden von der griechischen Alchemie abgeleitet, die wiederum von Ei-Mythologien anderer Kulturen beeinflusst wurde.⁶² Im Falle der Figur des ‚Kamels‘ ist zu erwähnen, dass das hierfür verwendete arabische Wort laṭīm ebenfalls für einen Vollwaisen stehen kann oder für eine Pferdeart.⁶³ Dass es sich womöglich um ein Kamel handelt, könnte man der Aussage des ‚Kamels‘ entnehmen, dass es in den Wüsten und Einöden lebe; sich selbst schreibt es aber den Vögeln zu. Dies wird vom Huhn bestritten, welches meint, dass es für das Auseinandersetzen der Kräfte und das Auflösen der Teile steht. Seit der antiken Alchemie werden verschiedene Phasen zur Herstellung des Steins der Weisen angenommen, von denen insbesondere die vier Phasen Schwärzung, Weißung, Gelbung und Rötung bis in die Alchemie des mittelalterlichen Europas
Vgl. Bachmann (Anm. 10), S. 92. Vgl. Maslama al-Qurṭubī (Anm. 41), fol. 60v. Vgl. ebd., fol. 65v. Vgl. Bachmann (Anm. 10), S. 92– 94. Murtaḍā az-Zabīdī, Tāǧ al-ʿarūs, Bd. 17, hrsg. v. ʿAlī Šīrī, Kuwait 1993, S. 250 – 251.
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überliefert sind.⁶⁴ Maslama behandelt in seinem ‚Buch des Gartens‘ die vier Phasen Weißung, Schwärzung, Lösung und Bindung, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Aufgrund der vorher genannten Behauptung des Huhns könnte man davon ausgehen, dass das Kamel die Phase „Lösung“ repräsentiert. Vermutlich handelt es sich bei den anderen Figuren ebenfalls um die verschiedenen Phasen bzw. Stadien des Steins der Weisen.
2.4 Verhältnis zwischen Religion und Alchemie An mehreren Stellen zuvor ist die Verbundenheit der Kunst von der Alchemie bzw. von der Herstellung des Steins der Weisen mit dem religiösen Ziel der Seelenläuterung angedeutet worden. Diesem religiösen Element wird in diesem Artikel im Gegenteil zu den anderen inhaltlichen Themen ein gesondertes Kapitel gewidmet, auch weil das Verhältnis zwischen der Alchemie und Religion von Außenstehenden als spannungsgeladen betrachtet wird. Die Ursache hierfür ist in der Nähe der Alchemie zur Magie zu finden, die an zahlreichen Stellen im Koran als Anrufung des Bösen gesehen wird.⁶⁵ Ebenso ist das Ziel die Herstellung von synthetischem Gold und damit inbegriffen die persönliche Bereicherung des Alchemisten sowie die ‚unverschämte‘ Annahme, Gott nachahmen zu können und selbst als Schöpfer aufzutreten, aus einer religiösen Perspektive durchaus problematisch. Maslama versäumte in seinen Werken jedoch nicht die alchemische Kunst als gottgewollte intellektuelle Anstrengung eines frommen Gläubigen zu rechtfertigen, was Paula Carusi in ihrem Artikel „Alchemia islamica e religione; la legittimazione difficile di una scienze della natura“ anhand seiner Werke ‚Die Stufenleiter des Weisen‘ und ‚Das Ziel des Weisen‘ nachwies.⁶⁶ So verwundert es auch nicht, dass die Lobpreisung Gottes einen großen Anteil des Textes ‚Die Prahlerei der Steine‘ ausmacht. Nahezu alle 27 Figuren huldigen Gott in unterschiedlicher Länge zu Beginn ihrer Rede, wobei die Ehrerbietung häufig in den theoretischen Anschauungen des Autors mündet. Als Beispiel hierfür wird die Glorifizierung Gottes durch das Quecksilber zitiert: Dank sei Gott, dem Einen, dem Immerwährenden, dem Urewigen, dem Ewigen, der vor allen Zeiten, Substanzen und Farben existierte, dem Schöpfer der Menschen und der Dämonen, dem Barmherzigen, dem Wohltätigen, dem Schöpfer der Geschöpfe mit ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit, dem Produzenten der Produkte mit ihren unterschiedlichen Formen. Er schuf alles in dieser Welt derart, dass die Geschöpfe unterschiedliche Gestalten und verschiedene Rang-
Vgl. Carl G. Jung, Psychologie und Alchemie (Carl G. Jung, Gesammelte Werke 12), Düsseldorf 1995, S. 267– 268. Siehe hierzu beispielsweise Koran, Sure 113, Vers 4: „[…] und vor dem Bösen der Frauen, die auf Knoten spucken, […]“. Hartmut Bobzin (Übers.), Der Koran, München 2010, S. 594. Paula Carusi, Alchimia Islamica e Religione. La Legittimazione Difficile di una Scienza della Natura, in: Oriente Moderno (2000), S. 461– 489.
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stufen, die einen höher als die anderen, annahmen. Er, gepriesen sei er, ist einzigartig, während alle Geschöpfe als Paare erschaffen wurden […]. Er schuf die Geschöpfe unter der Sphäre des Mondes von vier verschiedenen Naturen, von ihnen sind alle Geschöpfe […].⁶⁷
Bereits hier ist eine Verbindung zwischen Religion und den Theorien der Vorsokratiker erkennbar, die für Maslama nicht problematisch ist. In der zuvor erwähnten Stufenleiter der Menschen, die von Gott vorgegeben sei, nehmen die Weisen und Philosophen den dritten Platz hinter den Kalifen und Imamen ein. Der Vorstellung Maslamas nach können auch diese ihr Wissen ohne die göttliche Unterstützung erlangen. Zudem wird sowohl der Sündenfall im Buch angesprochen als auch die Qualen, welche der sündhafte Mensch beziehungsweise seine Seele im Höllenfeuer zu erleiden hat.⁶⁸ Das Brennen im Höllenfeuer wird mit der Verbrennung des Steins der Weisen, kurz bevor er seine Vollendung findet, gleichgesetzt, denn nur durch die Verbrennung kann er von seinen Unreinheiten befreit werden.⁶⁹ Abgesehen hiervon sind einige Aussagen mit Zitaten aus dem Koran belegt. Beispielsweise bezeugt das Eisen seinen großen Nutzen für den Menschen durch den Koranvers 25 der Sure vom Eisen:⁷⁰ „Wir sandten das Eisen herab – in ihm steckt gewaltige Kraft, doch auch Nutzen für die Menschen“.⁷¹ Aber auch der Urin rechtfertigt seinen Tadel dem Sperma gegenüber durch Bezug auf den Koran:⁷² „Schufen wir euch nicht aus verächtlichem Wasser und brachten es dann zu einem sicheren Platz“.⁷³ Jedoch ist merkwürdig, dass der Korund über die Magnesia sagt, sie sei die „zehn“, die von den Weisen erwähnt wurde. Diese sagten, dass einer zehn bewältigen kann und die Magnesia stehe hierbei für die „zehn“.⁷⁴ Abgesehen davon, dass das Gemeinte undeutlich bleibt, ist die Vorstellung von der Möglichkeit, dass einer zehn überwinden kann, normalerweise darauf bezogen, dass wenige Muslime eine Überzahl an Ungläubigen durch die Hilfe Gottes besiegen können⁷⁵, was ebenfalls in der Sure al-Anfāl (Die Beute) angedeutet wird.⁷⁶ Häufig ist dies eine Anspielung auf die Schlacht von
Maslama al-Qurṭubī (Anm. 19), fol. 8r : Al-ḥamdu li-llāhi l-wāḥidi ṣ-ṣamdi l-qadīmi s-sarmadi [Korrektur: s-sarmudī] llaḏī kāna qabla d-duhūri wa-l-azmāni wa-l-ǧawāhiri wa-l-alwāni ḫāliqu l-insi wal-ǧān al-ḥanāni l-manāni ḫāliqu l-maḫlūqāti bi-ḫtilāfi auṣāfihā wa-ṣāniʿi l-maṣnūʿāti maʿa iʾtilāfi aškālihā faǧaʿala ǧamīʿ mā fī hāḏā l-ʿālami muḫtalafa l-ḥālāti wa-mutafāwata d-daraǧāti murtafiʿa baʿaḍihim ʿalā baʿaḍin fa-huwa subḥānahu farada wa-ǧamīʿu l-maḫlūqāti zauǧun […] fa-ḫalaqa lmauǧūdāta taḥta falaki l-qamari min al-arbaʿi ṭabāʾiʿi l-muḫtalafāt minhā ǧamīʿu l-mukauwināti mina laǧsāmi. Vgl. ebd. fol. 14v, 27v. Vgl. ebd. fol. 27v; Maslama al-Qurṭubī, Kitāb ar-Rauḍa (Anm. 41), fol. 77v. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 13v. Koran (Anm. 65), S. 486. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 35v. Koran (Anm. 65), S. 541. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 33r. Šaiḫ Zādah, Ḥāšiyat Šaiḫ Zādah ʿalā Tafsīr al-Qāḍī al-Baiḍāwī, Bd. 2, Istanbul 1995, S. 415. Koran, 8:66.
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Badr (2/624), bei der das muslimische Heer trotz seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit die gegnerischen Mekkaner besiegen konnte.⁷⁷
2.5 Zitate griechischer und arabischer Gelehrte Abgesehen von Versen aus dem Koran sind in der Erzählung Zitate von griechischen und arabischen Alchemisten sowie Dichtern vorzufinden. Dabei handelt es sich um Apollonios von Tyana,⁷⁸ Ḫālid ibn Yazīd⁷⁹, Ḏu n-Nūn,⁸⁰ Ibn Duraid⁸¹ und Abū l-ʿAlāʾ ibn Sulaymān.⁸² Dass nun der letztgenannte Dichter, der mit vollem Namen Abū l-ʿAlāʾ Aḥmad ibn ʿAbd Allāh ibn Sulaimān al-Maʿarrī heißt, zitiert wird, ist von besonderem Interesse. So handelt es sich bei diesem um einen berühmten abbasidischen⁸³ Dichter, der neun Jahre nach dem Tode Maslamas, also im Jahre 363/973, geboren wurde.⁸⁴ Auch wenn eine Interpolation nicht vollkommen auszuschließen ist, passt dieses Zitat inhaltlich genau zu der Stelle, an welcher es auftritt: Der Korund tadelt die Körpersäfte für ihre Überheblichkeit und zitiert: „O, wie seltsam, wie oft das Gute als minderwertig bezeichnet wird. O, welch Kummer, wie oft das Minderwertige als gut erscheint.“⁸⁵ Somit ist nicht auszuschließen, dass ‚Die Prahlerei der Steine‘ erst nach dem Ableben Maslamas verfasst wurde.
2.6 Methoden der Geheimniswahrung In dem Werk ‚Die Prahlerei der Steine‘ steht der Stein der Weisen als Geheimnis im Mittelpunkt. Es dürfe auf Grund seines zerstörerischen Potenzials nicht preisgegeben werden⁸⁶ – ein Standpunkt, der bereits seit der Antike von den Alchemisten vertreten wird. Eric John Holmyard schreibt hierzu:
Vgl. William Montgomery Watt, Badr, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 1 (1986), Sp. 867– 868. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 37r. Die ihm zugeschriebenen Werke zählen zu den bedeutendsten Quellen der arabischen Alchemie. Vgl. Sezgin (Anm.14), S. 77. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 34r. Der umayyadische Prinz soll der erste arabische Alchemist gewesen sein. Vgl. Sezgin (Anm. 14), S. 120. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 38v. Ḏu n-Nūn war ein berühmter ägyptischer Mystiker und Alchemist, der 246/860 verstarb. Vgl. Sezgin, ebd., S. 273. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 25v. Vgl. ebd., fol. 36r. Die Abbasiden sind eine Kalifen-Dynastie, welche von 132/750 – 656/1258 bestand. Vgl. Gibb (Anm. 77), ʿAbbāsids, Sp. 5 – 23. Vgl. Pieter Smoor, al-Maʿarrī, in: The Encyclopaedia of Islam, Bd. 5 (1986), Sp. 927– 935; Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrī, Saqaṭ az-Zand, Beirut 1975, S. 194. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 36r : Fawā ʿaǧaban kam yuddaʿī al-ḥubbu [Korrektur durch jüngere Hand: al-faḍlu] nāqiṣun, wa-wā asafan kam yuhiru n-naqṣun fāḍilun. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 5r.
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For reasons of safety, therefore, as well as from a cupidity that did not wish to share knowledge that might prove invaluable, the alchemists used to describe their theories, materials, and operations in enigmatical language efflorescent with allegory, metaphor, allusion, and analogy.⁸⁷
Abgesehen davon sollten auch die Mittel erwähnt werden, welche nach Ullmann insbesondere die arabische Alchemie betreffen und die bereits in der Einleitung des Artikels umrissen wurden: Die Verwendung von Decknamen, Geheimtinten und kryptographischen Alphabeten sowie das Aufspalten der Theorien auf verschiedene Werke, was Ullmann insbesondere für den Ǧābir-Corpus festhält. Doch auch das Buch ‚Die Prahlerei der Steine‘ ist ohne die Kenntnis der anderen Werke Maslamas nicht interpretierbar. Einerseits verweist er in der Vorrede auf seine anderen Bücher, in denen das entsprechende Thema ausführlicher dargestellt sei,⁸⁸ andererseits sind insbesondere die Figuren der letzten Runde nur durch Hinzuziehen anderer Bücher Maslamas, vor allem des Werks ‚Das Buch des Gartens‘, auslegbar. Weiterhin treten in der Erzählung Decknamen auf, die als solche deutlich gekennzeichnet sind. So sagt der Schwefel über sich selbst, dass er die Braut der Steine und das Gold mit den beiden Flügeln sei.⁸⁹ Ebenfalls wird darauf hingewiesen, dass das Zinn (ānuk) auch qalʿī und das Blei (usrub) auch abār genannt werden,⁹⁰ womit vermutlich auf die verschiedenen Terminologien jener Zeit hingewiesen wird. Das Erkennen, ob es sich bei einer Bezeichnung um einen Decknamen handelt, ist dann problematisch, wenn das Wort nicht derart auffällig ist wie beispielsweise das vorher erwähnte Gold mit den beiden Flügeln. So trägt das Salmiak auch den Decknamen ‚Wasser‘ (al-māʾ). Maslama erklärt, dass das Salmiak die Färbung in eine Substanz einleite, wie das Wasser die Färbung des Safrans in die Kleidung bringe.⁹¹ Einige andere Decknamen werden nicht erläutert, wie etwa der Deckname ‚gelber König‘ des Zinns⁹² oder die vorher erwähnte ‚Braut der Steine‘ für den Schwefel. Im Falle der vierten Runde wird auch der starke allegorische Charakter der Alchemie Maslamas deutlich. Es wird angedeutet, dass es sich bei der ‚Schnecke‘ um eine Allegorie für den Stein der Weisen handelt.⁹³ Für was genau das Huhn und der rote Hahn stehen, ist schwerer erkennbar. Aber auch von Rätseln wird Gebrauch gemacht. Das Quecksilber behauptet von sich: „Ich bin maskulin mit dem maskulinen Geschlecht und feminin mit dem femininen Geschlecht.“⁹⁴ Die Planeten haben auch nach den Vorstellungen der Lauteren Brüder ein bestimmtes Geschlecht: Mond,Venus sowie Mars sind weiblich und Sonne, Jupiter sowie Saturn männlich; Merkur, dem das
Eric John Holmyard, Alchemy, 1957, ND New York 1990, S. 16. Vgl. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 4r. Vgl. ebd., fol. 25r. Vgl. ebd., fol. 20v. Vgl. ebd., fol. 27r. Vgl. ebd., fol. 15v. Vgl. ebd., fol. 39v. Ebd., fol. 9r: Anā ḏakarun maʿa ḏ-ḏukūri wa unṯā maʿa l-ināṯi.
Geheimnisse und ihre Wahrung in der arabischen Alchemie
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Quecksilber zugeschrieben wird, ist dabei ein Zwitterwesen.⁹⁵ Folglich wird durch das Rätsel auf die Fähigkeit des Quecksilbers angespielt, mit allen Metallen Amalgamverbindungen einzugehen. Andere Rätsel sind wiederum kryptischer. So meint das Blei: „Ich bin das Gleichnis des Geglichenen, ich bin das Symbol des Symbolisierten. Wer mein Gleichnis kennt und mein Symbol symbolisiert, stärkt das Wissen.“⁹⁶ Zudem treten an etlichen Stellen im Text zahlenmystische Elemente auf,⁹⁷ welche dem Text ebenfalls einen okkulten Charakter verleihen. Ein einfaches Beispiel hierfür ist durch den Korund gegeben, welcher über den Menschen meint: „In ihm sind fünf Fünftel vorhanden nach der Zahl der fünf sinnlichen Wahrnehmungskräfte im Kopf.“⁹⁸
3 Abschließende Bemerkungen Wie bereits zuvor angemerkt, macht das Geheimnis um den Stein der Weisen den Kern der Erzählung aus. Er ist es auch, für den sich alle anthropomorphen Figuren im Text halten. Zwar fällt der Korund Entscheidungen darüber, welche von den Mineralien und den anderen Figuren edler sind. Eine Aufklärung, worum es sich bei dem Stein genau handelt, lässt der Text aber missen. Durch Rätsel, Decknamen, Allegorien und Zahlenmystik gelingt es dem Autor auch ohne Verwendung einer Geheimschrift oder Geheimtinte die Erzählung an einigen Stellen vollkommen unverständlich zu gestalten. Nach seiner Vorstellung trifft dies natürlich nur auf den Außenstehenden zu. Da die erste Runde des Wettkampfes mehr als die Hälfte der Erzählung ausmacht, ist anzunehmen, dass für Maslama der Kenntnis von den Metallen, ihren Eigenschaften und ihrer Beschaffenheit sowie von der Metallurgie die größte Bedeutung zukommt. Zugleich stellt der Sündenfall des Menschen bzw. der Seele einen weiteren Schwerpunkt der Erzählung dar. Die synthetische Erzeugung des Goldes und die Läuterung der Seele sind in der Erzählung in undeutlicher Weise miteinander verknüpft, was ebenfalls den okkulten Charakter des Werks verstärkt. Leider sind viele Stellen im Text schwer verständlich, nicht nur des Inhalts und des okkulten Charakters wegen, sondern auch aufgrund der mangelhaften und unsauberen Abschrift. Dessen ungeachtet handelt es sich bei ‚Die Prahlerei der Steine‘ um ein bedeutendes und einzigartiges Werk der arabischen Alchemie. Zwar waren erwiesenermaßen Dialoge in der arabisch-islamischen Alchemie ein beliebtes Mittel zur Wissensvermittlung,⁹⁹ Werke in Form der Rangstreitdichtung zur Alchemie, in denen das Stil-
Vgl. Ullmann (Anm. 11), S. 348. Maslama al-Qurṭubī, Mufāḫarat al-aḥǧār (Anm. 19), fol. 10v: Anā miṯālun ʿalā mamṯūlin, anā ramzun ʿalā marmūzin. Faman ʿarafa miṯlī wa-ramaza ʿalā ramzī, faqad qawwā l-ʿilm. Siehe beispielsweise: Ebd., fol. 23v, 24r, 34v. Ebd., fol. 36v: Wa-qad ḥaṣalat fīhi ḫamsatu aḫmāsin ʿalā ʿadadi ḫamsi ḥawāssi r-raʾs. Siehe hierzu Regula Forster, The Transmission of Secret Knowledge. Three Arabic Dialogues on Alchemy, in: Al-Qanṭara 37/2 (2016), S. 399 – 422.
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mittel der Personifikationen auf alle Figuren einer Erzählung ausgeweitet wird, sind jedoch weniger bekannt. Weitere Studien zum Buch bzw. die Suche nach weiteren Textzeugen sind daher wünschenswert.
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Das Irdische Paradies zwischen Entzogenheit und Immanenz in ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ Abstract: The reality and actual physical existence of the Earthly Paradise, which was identified with the Garden of Eden, was de facto undisputed throughout the Middle Ages. This very first garden was seen as a place deeply enriched by the propinquity of God, full of wonders, beauty and eternal harmony. However, as a consequence of the Fall of Man and the exposed geographic location of the garden far in the East of the known world, it was considered to be both unreachable and inaccessible for mankind. Therefore, in many literary works, a noticeable tension between hiddenness and immanence is a characteristic feature of the Earthly Paradise. This becomes particularly clear in those literary depictions of different genres, which describe travellers’ journeys to the theoretically unreachable place. Among these voyagers Seth, Alexander the Great and Saint Brendan with his companions are the most well known, but with the exception of the latter in some versions of his story, all of them fail to walk through the gate of paradise and have to stay outside the Garden of Eden. This article discusses the late medieval legendary account ‘Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre’ – ‘The three monks passage or journey to the Earthly Paradise’, which is transmitted in three versions. In two of them the holy pilgrims do not only reach the walls of Eden, but are allowed to enter the garden and to see its beauty and wonders. The gardens description in the third version is a remarkable passage, which is combining several motifs from other accounts and enriching the garden with new elements. Keywords: Irdisches Paradies, Eden, Reise, Legende, Brandan, Gottfried von Viterbo
1 Wege zum unerreichbaren Ort Der Garten Eden als das Irdische Paradies – ein Ort unvergänglicher Schönheit, Harmonie, Vollkommenheit und Lebensfreude¹ – wurde seit seiner Verschriftlichung
Paradiesische Gefilde unterschiedlicher Ausprägung sind anthropologische Konstanten; erwähnt seien lediglich der Edelsteingarten im ‚Gilgamesch-Epos‘ sowie das Elysium und die Gärten der Hesperiden im klassischen Altertum. Dazu Hans Martin von Erffa, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und Ihre Quellen, Bd. 1, München 1989, S. 52– 53; Jean Manuel Schwembacher Mag., Universität Salzburg, Interdisziplinäres Zentrum für Mittelalter und Frühneuzeit (IZMF), Erzabt-Klotz-Straße 1, 5020 Salzburg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-008
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im zweiten Kapitel der Genesis zu einem „wirkmächtige[n] Topos“², der kontinuierlich aufgegriffen wurde und dementsprechend lange Traditionen erzählerischer, theologischer und künstlerischer Auseinandersetzungen vorweisen kann. Sehr früh bilden sich dabei eine ganze Reihe von narrativen Konstanten heraus, welche die Inszenierung und Wahrnehmung dieses Ortes wesentlich prägen. Zu diesen Konstanten gehört beispielsweise die Hervorhebung der Entzogenheit und prinzipiellen Unzugänglichkeit des Irdischen Paradieses, die sich wenig überraschend darin manifestiert, dass kaum ein Mensch diesen göttlichen Ort erreicht oder ihn gar betreten kann. Dennoch gibt es eine Reihe von Reisenden – darunter Adams Sohn Seth, Alexander der Große oder der Mönch Brandan mit seinen Gefährten, die dem Garten Eden sehr nahekommen und ihn – zumindest in einigen Fassungen des Brandanstoffes – auch für eine begrenzte Zeit betreten können. In der Regel bleibt ihnen allerdings der Weg über die Schwelle der Paradiespforte – und damit die Möglichkeit den Ort zu sehen und dessen Wunder zu beschreiben – versperrt. Im Zentrum des vorliegenden Beitrags nun steht die legendenhafte Erzählung ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ – ‚Die Reise der drei Mönche zum Irdischen Paradies‘, welche in drei Varianten in spätmittelalterlichen Manuskripten auf Latein und Italienisch überliefert ist. Die relative Unbekanntheit dieser Texte scheint ihrer späten Entstehung beziehungsweise Überlieferung geschuldet, obgleich die dritte Variante in einer ganzen Reihe von Codizes vertreten ist. Sie sind jedoch durchaus spannend und aufschlussreich, weil die reisenden Mönche in zwei von den drei Varianten das Paradies nicht nur erreichen, sondern ihnen auch Einlass gewährt wird. Die Paradiespassagen zeichnen sich durch Freude am Fabulieren sowie an Schilderungen des Gartens en détail aus und befriedigen gewissermaßen imaginative Lücken, indem sie vermeintlich mehr von dem göttlichen Ort preisgeben als andere Darstellungen. Der Auseinandersetzung mit ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ werden einige für die Erzählung relevante wesentliche mittelalterliche Vorstellungen über das Irdische Paradies vorangestellt. Als Schauplatz des Sündenfalles ist der Garten Eden ein zentraler Ort der Heilsgeschichte, der als auf Erden real existierend imaginiert wurde. Dabei bleibt der von Göttlichkeit durchtränkte Garten sowohl auf Grund seiner Imaginationsaffinität als auch seiner Spekulationen notwendig machenden Entzogenheit von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben.
Delumeau, History of Paradise. The Garden of Eden in Myth and Tradition. Translated from the French by Matthew O’Connell, Chicago 2000, S. 5 – 9. Claudia Benthien und Manuela Gerlof, Topographien der Sehnsucht. Zur Einführung, in: Claudia Benthien und Manuela Gerlof (Hgg.), Paradies. Topographien der Sehnsucht, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 7– 27, hier S. 7.
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2 Eden – das Irdische Paradies Die Gleichsetzung des Irdischen Paradieses, der terra beata mit dem Garten Eden beruht wesentlich auf Aurelius Augustinus (354– 430), der den in der Genesis beschriebenen Garten³ sowohl als einen real auf Erden bestehenden Ort als auch als signum mit Verweischarakter beschrieben hatte.⁴ Seine Autorität sanktioniert in der Folge die Vorstellung der realen Existenz des Irdischen Paradieses, welches als hermetisch abgeriegelter Weltenbereich weit im Osten lokalisiert wurde.⁵ Die Situierung im Osten beruht auf der Übersetzung des im Hebräischen dem gan-beEden – „ein Garten in Eden“ zugeordneten miqedem als in/ab oriente – „im Osten gelegen“; eine geographische Zuweisung, die sich etwa in der Septuaginta, aber auch in der Vetus
Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch-deutsch. Bd. 1: Genesis – Exodus – Leviticus – Numeri – Deuteronomium, hrsg. v. Andreas Beriger,Widu-Wolfgang Ehlers und Michael Fieger, Berlin, Boston 2018, S. 16 – 17, Gen 2, 8 – 15: [P]lantaverat autem Dominus Deus paradisum voluptatis a principio in quo posuit hominem quem formaverat produxitque Dominus Deus de humo omne lignum pulchrum visu et ad vescendum suave lignum etiam vitae in medio paradisi lignumque scientiae boni et mali. Et fluvius egrediebatur de loco voluptatis ad inrigandum paradisum qui inde dividitur in quattuor capita nomen uni Phison ipse est qui circuit omnem terram Evilat ubi nascitur aurum et aurum terrae illius optimum est ibique invenitur bdellium et lapis onychinus et nomen fluvio secundo Geon ipse est qui circuit omnem terram Aethiopiae nomen vero fluminis tertii Tigris ipse vadit contra Assyrios fluvius autem quartus ipse est Eufrates tulit ergo Dominus Deus hominem et posuit eum in paradiso voluptatis ut operaretur et custodiret illum. „Der Herr, Gott, hatte aber einen Lustgarten gepflanzt von Anfang an, in den er den Menschen setzte, den er geformt hatte. Und der Herr, Gott, brachte aus dem Boden jeden Baum hervor, schön anzusehen und schmackhaft zu essen; auch den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und den Baum des Wissens um Gut und Böse. Und ein Fluss ging aus von dem Ort der Lust, um den Garten zu bewässern, der sich von dort in vier Ströme teilt. Der eine hat den Namen Pischon – er ist es, der um das ganze Land Hawila herumgeht, wo das Gold entsteht. Und das Gold jenes Landes ist das beste, und dort wird die Weinpalme gefunden und der Stein Onyx. Und der zweite Fluss hat den Namen Gihon – er ist es, der um das ganze Land Äthiopien herumgeht. Der Name des dritten Flusses aber ist Tigris; er fließt in Richtung der Assyrer. Der vierte Fluss aber ist der Eufrat selbst. Der Herr, Gott, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Lustgarten, damit er ihn bearbeite und bewache.“ Reinhold R. Grimm, Paradisus Coelestis. Paradisus Terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200 (Medium Aevum. Philologische Studien 35), München 1977, S. 17; Augustinus’ zentrale Passagen in James Dauphine, Du Paradis Terrestre, in: Centre Universitaire d’Etudes et des Recherches Médiévales d’Aix (Hg.),Vergers et Jardins dans l’ Univers Médiéval. Aixen-Provence 1990, S. 89 – 96, hier S. 90 – 91; Delumeau (Anm. 1), S. 18 – 19. Zu verschiedenen theologischen Ausdeutungen des Paradieses auch Hans-Werner Goetz, Gott und die Welt: Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. Teil I, Bd. 2, II Die materielle Schöpfung. Kosmos und Welt, III Die Welt als Heilsgeschehen (Orbis mediaevalis 13.2), Berlin, Boston 2012, S. 89 – 110; zu Augustinus S. 90, 95. Alessandro Scafi, Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth, London 2006, S. 36 – 40; Manuel Schwembacher, Reisen zum Irdischen Paradies. Mittelalterliche Annäherungen, Interaktionen und göttliche Gaben an Edens Grenze, in: Christa Agnes Tuczay (Hg.), Jenseits. Eine mittelalterliche und mediävistische Imagination. Interdisziplinäre Ansätze zur Analyse des Unerklärlichen (Beihefte zur Mediaevistik 21), Frankfurt a. M. 2016, S. 115 – 135, hier S. 117.
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Latina findet: Plantavit quoque Dominus hortum in Eden ab oriente ⁶. Hieronymus dagegen hatte in seiner Vulgata miquedem nicht räumlich, sondern zeitlich als a principio – „am Anfang“ übersetzt⁷: Plantaverat autem Dominus Deus paradisum voluptatis a principio ⁸. Hieronymus fügte dem Wort paradisus auch die Spezifizierung voluptatis – „der Freuden“ hinzu, da im Hebräischen Eden „Freude“ bedeutet; in anderen Übersetzungen bezeichnet Eden einen spezifischen Ort, eben den „Garten in Eden“ oder den „Garten Eden“.⁹ Die Situierung des Irdischen Paradieses im Osten wird von den meisten mittelalterlichen Autoren weitergetragen; die geographischen Umstände, welche für die Unerreichbarkeit des Gartens verantwortlich sind, werden dabei unterschiedlich geschildert. Den meisten gemein ist, dass das Irdische Paradies auf einem überaus hohem Berg liegt, einer Erhebung, die so weit in den Himmel ragt, dass selbst die Sintflut dem Garten Eden nichts anhaben konnte.¹⁰ Beda Venerabilis beispielsweise isoliert das Irdische Paradies zusätzlich durch einen breiten Wüsten- und Meeresstreifen von den restlichen Erdmassen.¹¹ Die keltisch-insulare Tradition lokalisiert das Irdische Paradies gerne auf einer Insel wie etwa in der ‚Navigatio Brendani‘ und anderen Fassungen des Brandanstoffes.¹² Die unmittelbare Umgebung des Paradieses wird entweder als überaus lieblich geschildert, als eine Gegend, in der die dort lebenden Menschen von der Ausstrahlung des Paradieses profitieren oder aber, ganz konträr – als ein unwirtliches und raues Gebiet, welches voll von Gefahren und Schrecken ist.¹³ Auch hinsichtlich der Größenerstreckung finden sich unterschiedliche Meinungen, diese reichen von einer großen umfriedeten Region wie etwa bei Brandan, der mit seinen Gefährten vierzig Tage die Paradiesinsel durchwandert, ohne an dessen Grenzen zu gelangen¹⁴ – bis hin zu einem recht überschaubaren von einer Mauer umfangenen Areal.¹⁵ Diese in der Regel präsente Mauer wird hinsichtlich ihrer Gestalt durchaus variationsreich ima Gen 2, 8 (Anm. 3); Vetus Latina, hier zitiert nach: Franciscus Szdellar, Dissertationes Selectae Historico-Chronologico-Biblicae Super Vetus Testamentum, Graz 1730, S. 33. Scafi (Anm. 5), S. 35. Auch Angelomus von Luxeuil deutet a principio als Anfang. Goetz (Anm. 4), S. 97. Gen 2, 8 (Anm. 3). Scafi (Anm. 5), S. 35. Delumeau (Anm. 1), S. 44. Die betreffende Passage bei Grimm (Anm. 4), S. 80 – 81; Alessandro Scafi, Die Vermessung des Paradieses. Eine Kartographie des Himmels auf Erden, Darmstadt 2015, S. 44. Zur isola arcana del Paradiso Arturo Graf, Miti, Leggende e Superstizioni del Medio Evo. Bd. 1: Il mito del Paradiso Terrestre. Il Riposo dei Dannati. La credenza nella Fatalità, Bologna 1964, S. 97– 98. Graf (Anm. 12), S. 20 – 21. Carl Schröder, Sanct Brandan. Ein lateinischer und drei deutsche Texte, Erlangen 1871, S. 35; Benedeit, The Anglo-Norman voyage of St Brendan, hrsg. v. Ian Short u. Brian Merrilees, Manchester 1979, S. 74; John O’Meara u. Jonathan Wooding, The Latin Version, in: William R. G. Barron and Glyn Sheridan Burgess (Hgg.), The Voyage of Saint Brendan. Representative Versions of the Legend in English Translations with Indexes of Themes and Motifs from the Stories, Exeter 2005, S. 62– 63. Dazu Graf (Anm. 12), S. 18; Schwembacher (Anm. 5), S. 126.
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giniert: Die Palette der Baumaterialien reicht von nicht genauer definiertem Mauerwerk über Gold, Silber oder Bronze bis hin zu Kristall, Diamanten oder anderen Edelsteinen; sie kann aber auch von einem alles anderem als soliden Material, von Feuerflammen, die eine unüberwindbare Grenze bilden, geformt werden.¹⁶ Diese Vorstellung hat ihren Ursprung im in Genesis 3, 24 genannten Flammenschwert des Cherub. Isidor von Sevilla erwähnt beispielsweise in seinen ‚Etymologiae‘, dass die Feuerflammen bis in den Himmel lodern: Cuius loci […] septus est enim undique romphea flammea, id est muro igneo accinctus, ita ut eius cum caelo pene iungat incendium. ¹⁷ In den meisten Beschreibungen verfügt der Garten selbst neben dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen und dem Baum des Lebens nicht nur über alle erdenklichen frucht- und blütetragenden Pflanzen, sondern ist, wie bereits in Gen 2, 10 – [E]t fluvius egrediebatur de loco voluptatis ad inrigandum paradisum qui inde dividitur in quattuor capita – Ursprungsort der vier Paradiesflüsse, welche oft aus einer gemeinsamen Quelle oder einem Brunnen hervortreten. Edelsteine und Edelmetalle finden sich in opulenten Mengen innerhalb der Paradiesmauern, wo, ebenfalls kaum überraschend, ein beständig ideales, wohltemperiertes Klima sowie gleichmäßiges Tageslicht die Sinne erfreut. Manchmal wird das Paradies auch als burg- oder stadtähnliche Anlage beschrieben – eine Vorstellung, die sich an die Beschreibung des
Graf (Anm. 12), S. 18 – 19. Gervasius von Tilbury etwa nennt um 1100, in Anlehnung an Isidor von Sevilla, eine in den Himmel ragende Feuerwand als Begrenzung des Irdischen Paradieses: Delumeau (Anm. 1), S. 46. Isidor von Sevilla, Etymologiae XIV, iii, 2– 4. http://www.thelatinlibrary.com/isidore/14.shtml (letzter Zugriff am 01.02. 2017): [2] Paradisus est locus in orientis partibus constitutus, cuius vocabularum ex Graeco in Latinum vertitur hortus: porro Hebraice Eden dicitur, quod in nostra lingua deliciae interpretatur. Quod utrumque iunctum facit hortum deliciarum; est enim omni genere ligni et pomiferarum arborum consitus, habens etiam et lignum vitae: non ibi frigus, non aestus, sed perpetua aeris temperies. [3] E cuius medio fons prorumpens totum nemus inrigat, dividiturque in quattuor nascentia flumina. Cuius loci post peccatum hominis aditus interclusus est; septus est enim undique romphea flammea, id est muro igneo accinctus, ita ut eius cum caelo pene iungat incendium. [4] Cherubin quoque, id est angelorum praesidium, arcendis spiritibus malis super rompheae flagrantiam ordinatum est, ut homines flammae, angelos vero malos angeli submoveant, ne cui carni vel spiritui transgressionis aditus Paradisi pateat. „[2] Das Paradies ist ein im Osten gelegener Ort; dessen Name – übersetzt aus dem Griechischen ins Lateinische – ‚Garten‘ [hortus] bedeutet. Im Hebräischen wiederum wird er Eden genannt, was in unserer Sprache als ‚Genüsse’ [deliciae] gedeutet wird. Die Verbindung beider Namen ergibt ‚Garten der Genüsse’ [hortus deliciarum], denn jede Art von Gehölzen und fruchttragenden Bäumen ist an diesem Ort zu finden, auch der Baum des Lebens. Dort ist es weder kalt noch heiß, sondern die Luft ist beständig von milder Wärme. [3] Und in dessen Mitte bricht eine Quelle hervor, die den ganzen Hain bewässert und sich als Ursprung vierer Flüsse aufteilt. Der Zutritt zu diesem Ort ist nach dem Sündenfall versperrt; denn er ist überall von einem Flammenschwert umgeben, also von einer Feuermauer umzäunt, deren Brand beinahe bis in den Himmel reicht. [4] Auch Cherubim, ein Engelswachposten, ist eingesetzt, um das Herannahen böser Geister über das Flammenschwert abzuwehren, sodass Flammen die Menschen, und Engel die bösen Engel vertreiben, damit der Zugang des Paradieses weder Fleisch noch Geist zum Überschreiten offensteht.“ Alle Übersetzungen der lateinischen und italienischen Textpassagen in diesem Artikel stammen – sofern nicht anders angegeben – vom Autor des Beitrags.
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Himmlischen Jerusalems anlehnt und damit stärker auf das zukünftige Paradies verweist.¹⁸ Das Irdische Paradies ist ein von Immanenz¹⁹ getränkter Ort: Hier manifestiert sich die Gegenwärtigkeit Gottes auf Erden in einer verdichteten Form, es ist als Beispiel par excellence für die Wunder der Schöpfung durchdrungen von Göttlichkeit. Gleichzeitig ist dieser heilsgeschichtlich bedeutende Ort integraler Bestandteil der Erde, ist ihr quasi innewohnend, gleichzeitig aber dem menschlichen Zugriff entzogen. Auffallend ist in diesem Zusammenhang das in manchen Texten präsente komplexe Zeitsystem im Irdischen Paradies, welches sich von dem Rest des Erdenkreises unterscheidet. Als verlorenes Paradies avanciert es zu einem Kulminationspunkt von Begehrlichkeiten mittelalterlicher Imagination.
3 Paradiesreisende Ungeachtet der – oder vielleicht gerade wegen der maximalen Abgrenzung und prinzipiellen Unerreichbarkeit des Irdischen Paradieses offerieren eine Reihe von Texten unterschiedlicher Genres Darstellungen von Annäherungen und Grenzinteraktionen mit diesem geheimnisvollen Ort und seinen Repräsentanten.Während für die meisten Reisenden, wie bereits angedeutet, der beschwerliche Weg vor den Mauern Edens endet und ihnen der Einlass verwehrt wird, ist es für einige wenige nicht nur erreich-, sondern auch betretbar. Die Palette jener, die an die Pforten des Paradieses gelangen, könnte kaum breitgefächerter sein: Sie reicht von gläubigen Pilgern bis hin zum wagemutigen Alexander dem Großen, der dort mit seinen Ambitionen scheitert.²⁰ Adams Sohn Seth erreicht Eden als Bittsteller, wird zwar abgewiesen, aber erhält eine heilsgeschichtlich relevante Gabe.²¹ Auch manche Angehörige des Mönchstums erreichen das Paradies, einigen wenigen wird der Zutritt gewährt – etwa in manchen Bearbeitungen des Brandanstoffes, in denen der Heilige mit seinen Gefährten einen
Graf (Anm. 12), S. 19. Ein Beispiel für ein Paradies mit stadtähnlichen Strukturen bietet Gottfried von Viterbo in seinem ‚Pantheon‘. Der vom lat. immanere „anhaften, darin bleiben“ hergeleitete Terminus wird hier in dem Sinne von Innewohnen und Enthaltensein verwendet: göttliche Gegenwart umfasst oder manifestiert sich in der materiellen Welt. Alexandri Magni Iter ad Paradisum. Ex Codd. Mss. Latinis primus, hrsg. v. Julius Zacher, Königsberg 1859, S. 21– 23; Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und kommentiert v. Elisabeth Lienert, Stuttgart 2007, Paradiesepisode S. 520 – 537, V. 6280/6728 – 6564/7007; zu Alexanders Reise zum Irdischen Paradies Goetz (Anm. 4), S. 109; Schwembacher (Anm. 5), S. 122 – 126, S. 131– 132. Jean de Mandeville, Reisen. Reprint der Erstdrucke der deutschen Übersetzungen des Michel Velser (Augsburg, bei Anton Sorg, 1480) und des Otto von Diemeringen (Basel, bei Bernhard Richel, 1480/81), hrsg. und mit einer Einleitung versehen v. Ernst Bremer u. Klaus Ridder, Hildesheim, Zürich, New York 1991, S. 201; zu den Legendenvarianten von Erffa (Anm. 1), S. 115 – 117 und S. 404– 406; Schwembacher (Anm. 5), S. 120 – 122, S. 131.
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geführten Rundgang durch den Garten bekommt²² oder in der ‚Reisefassung‘, in der einer seiner Gefährten regelrecht ins Paradies verschleppt wird.²³ Im Gegensatz zu Brandans Reise, die seit dem 10. Jahrhundert als ‚Navigatio Sancti Brendani Abbatis‘ schriftlich fassbar und in Varianten in vielen europäischen Sprachen greifbar ist, hat jener ‚Viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ – obgleich in einer Reihe von Handschriften tradiert – eine geographisch eingeschränktere Rezeption erfahren, die sich auf die italienische Halbinsel beschränkt und in Abschriften des 15. und 16. Jahrhunderts auf uns gekommen ist.
4 ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ ist in drei voneinander in unterschiedlichem Maße divergierenden Fassungen überliefert, von denen die älteste, auf Latein verfasste Version die Reise der drei Mönche, welche Theofilo, Sergio und Hygino genannt werden oder Variationen dieser Namen tragen, mit der Legende des San Macario verknüpft, die unter dem Titel ‚Vita fabulosa S. Macarii Romani, servi dei, qui inventus est juxta Paradisum‘ in den ‚Acta Sanctorum‘ zum 23. Oktober ediert wurde.²⁴ Von einem mesopotamischen Kloster brechen die drei Männer auf, um den Ort zu schauen, ubi caelum terrae se coniungit ²⁵ – wo sich der Himmel mit der Erde verbindet. Der Fokus der Erzählung liegt auf den Abenteuern und mirabilia, welche sich auf ihrer Route offenbaren, einer Route, welche sie zunächst ins Heilige Land und nach Indien, daraufhin zu Kynokephalen und Pygmäen, schließlich in eine Reihe gefährlicher Orte, darunter das Tal der Drachen, führt. In der Nähe des Irdischen Paradieses lebt San Macario, der den Mönchen sein Leben erzählt und attestiert, dass sie sich Eden nicht weiter nähern können: [a]b isto loco ultra ad paradisi loca non potest ire homo carne vestitus. ²⁶ Nach ihrer Heimkehr bezeugen sie die Vita des Macario. Diese erste Variante bleibt den Topoi der Unerreichbarkeit und Unbetretbarkeit des Irdischen Paradieses verhaftet und reiht sich so in die große Gruppe jener
Benedeit, Le Voyage de Saint Brendan. Übers. und eingeleitet von Ernstpeter Ruhe unter Mitarbeit v. Barbara Beck und Stephanie Lippert (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 16), München 1977, S. 130 – 135, V. 1709 – 1807. Schwembacher (Anm. 5), S. 127– 128, 132. Schröder (Anm. 14), S. 169 – 171; Sankt Brandan. Zwei frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck von Anton Sorg (um 1476) und Die Brandan-Legende aus Gabriel Rollenhagens ‚Vier Bücher Indianischer Reisen’, hrsg. v. Rolf D. Fay, Stuttgart 1985, S. 18; Schwembacher (Anm. 5), S. 126 – 130, 132– 133. Acta Sanctorum octobris, Bd. 58 (1869), S. 566 – 574; Abdruck bei Giuliana Ravaschietto, Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre (Pluteus Testi 5), Alessandria 1997, S. 63 – 72; zu San Macario Graf (Anm. 12), S. 84– 86 mit einer Liste von Handschriften, die San Macarios Vita überliefern, in Anm. 21, S. 178. Acta Sanctorum octobris (Anm. 24), S. 566. Acta Sanctorum octobris (Anm. 24), S. 569.
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Texte ein, deren Protagonisten vor ihrem Ziel scheitern. Dem entgegen offerieren die beiden anderen Varianten Alternativen, in denen es den Reisenden erlaubt ist, einige der Geheimnisse Edens zu schauen und zu erkunden. Die zweite Fassung der Erzählung ist auf Italienisch toskanischer Färbung singulär in einer Miszellaneenhandschrift des 15. Jahrhunderts, welche eine Reihe lateinischer und italienischer Texte verschiedener Genres vereinigt, überliefert.²⁷ Von dem Wunsch getrieben le meravigliose cose di Dio ²⁸, die wunderbaren Werke Gottes zu sehen – eine Motivation, die bereits der Brandanstoff kennt – und dem Bestreben, nebst des Ortes, wo sich Himmel und Erde vereinigen, auch das Irdische Paradies zu besuchen, brechen die drei Mönche von Rom aus Richtung Osten auf. Die Reisenden entdecken zudem einen in den Fluten des Tigris treibenden wunderbaren Ast²⁹, welcher aus dem irdischen Paradies stammt und sie veranlasst, dem Flusslauf zu folgen. In dieser Fassung werden eine Reihe von Stationen und Begegnungen auf der Reise geschildert, die in Umfang und Menge jene der ersten Variante übertreffen; so treffen die Mönche auf eine größere Anzahl an Wundervölkern, darunter Kyklopen, Skiapoden, Kranichmenschen und Riesen, besuchen das Reich des Priesterkönigs Johannes und erreichen schließlich den Paradiesberg. Dieser ist überwuchert von früchtetragenden Bäumen, Rosen und anderen Blumen; melodie del Paradiso ³⁰ erklingen von der Höhe; die Paradiestür selbst ist verschlossen. Intensives Beten ruft einen Cherub herbei, der sie – weil es Gott gefällt – einlässt. Enoch und Elias begrüßen die drei Mönche und führen sie durch Eden, verweisend auf den Lebensbaum, das Versteck Adams und Evas nach dem Sündenfall und andere, nicht genauer bezeichnete Schönheiten. Obgleich es den Mönchen scheint, dass sie nur wenige Tage im Paradies verbrachten, offenbart ihnen der Engel, dass 700 Jahre vergangen seien und sie nun nach Rom zurückkehren müssen. Die Beschreibung des Irdischen Paradieses in dieser
Florenz, Bibliotheca Riccardiana, Ms. Riccardiano 683, fol. 164r–179v; Edition in Ravaschietto (Anm. 24), S. 3 – 24. Unter den in der Handschrift überlieferten lateinischen Texten finden sich die ‚Genealogia Romuli et Remi’ und das ‚Liber Phisiologi de natura animalium’ von Bartolomeo Corona; unter den italienischen der Gesang ‚I paladini di Francia’, Gedichte von Petrarca, die biblische Legende von ‚Tobia e di Tobbiolo’ – letztere unmittelbar vor der ‚Istoria di quelli tre monaci che andarono al Paradiso Terrestre’ situiert – sowie der ‚Memoriale toscano’ von Odorico da Pordenone, der im Überlieferungskontext an die Erzählung der reisenden Mönche anschließt. Ravaschietto (Anm. 24), S. 1– 2. Ravaschietto (Anm. 24), S. 3. Ravaschietto (Anm. 24), S. 4– 5: [V]edemo venire giù per questa acqua uno ramo d’albero pieno di fiori e di pomi, et le fronde erano d’ oro purissimo; et noi allora prendemo quello ramo et traemolo fuori dell’ acqua: et di quello ramo venia tanto odore che mai non fue sì grande odore di spezie: et gli pomi erano hodorifichi a mangiare […]. Et […] dicemo: ‚Questo ramo dìe venire di qualche santo luogo.’ „Wir sahen auf diesem Gewässer einen Ast eines Baumes flussabwärts treiben, voll von Blüten und Äpfeln, und die Blätter waren aus reinstem Gold; und wir nahmen diesen Ast aus dem Wasser: und von diesem Ast kam so viel Wohlgeruch, stärker als der Duft eines jeden Gewürzes: und die Äpfel waren duftend zu essen […]. Und wir sagten: ‚Dieser Ast muss von einem heiligen Ort kommen.‘“ Ravaschietto (Anm. 24), S. 22.
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zweiten Fassung fällt noch relativ knapp aus; im Vergleich dazu wird der Garten des Priesterkönigs Johannes³¹ mit mehr Details ausgestattet. Dem gegenüber offeriert die dritte, ebenfalls in italienischer Sprache tradierte Variante des Stoffes – die zugleich auch die verbreitetste ist³² – eine erstaunlich umfangreiche Beschreibung des Gartens Eden. Die dritte Variante unterscheidet sich von den beiden vorherigen im Besonderen durch das Fehlen der einzelnen Stationen der Reise; erwähnt wird lediglich, dass die drei namentlich nicht genannten Mönche ein Jahr unterwegs sind und sich von Manna und wohlschmeckenden Früchten ernähren und dass ihnen der Weg ob der Vorfreude des Wunderortes keine Mühe bereitet – ogni fatica lor pareva diletto ³³. Sie bewältigen also ohne körperliche Mühen oder emotionale Anspannung den Weg, der von himmlischem Wohlwollen begleitet ist – fällt ihnen doch die Nahrung in Form von Manna zu, so wie den Israeliten auf ihrer Wanderschaft durch die Wüste.³⁴ Wie in der zweiten Variante ist es ein wunderbarer, in einem neben ihrem mesopotamischen Kloster gelegenen Fluss treibender Zweig, der in ihnen den Wunsch erweckt, dessen Ursprungsort zu schauen. Dieser Ast von außergewöhnlicher Gestalt – un ramo d′albero molto svariato e di molti colori ³⁵ – mit Blättern von Azuritblau bis Silber, von Vermilionrot bis Gold schillernd, eine Fülle wohlschmeckender Früchte tragend³⁶, ist beredtes Zeugnis von den Wundern der Schöpfung Gottes. Die Reisenden folgen dem Flussverlauf, bis sie den Fuß jenes bewaldeten Berges erreichten, auf dessen Spitze sich das Irdische Paradies erstreckt. Wie die Intensität Ravaschietto (Anm. 24), S. 19 – 20. Die dritte Variante ist beispielsweise in Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Italien 97, fol. 36v–39r und dem Ms. Italien 665, fol. 2r-6v sowie in Bologna, Biblioteca universitaria, Ms. 1798 überliefert. Die Handschrift aus Bologna edierte Zambrini 1861: Leggenda del viaggo di tre santi monaci al paradiso terrestre. Pubblicata per cura di Francesco Zambrini, in: Miscellanea di Opuscoli inediti o rari dei secoli XIV e XV, Bd. 1: Collezione di opere inedite o rare dei primi tre secoli della lingua. Pubblicata per cura della R. Commissione per testi di lingua nella provincia dell’Emilia, Torino 1861, S. 161– 179; den Text aus dem Ms. Italien 97 Giuseppe Mazzatinti, Inventario dei manoscritti italiani delle biblioteche di Francia, Bd. 2, Rom 1887, S. 68 – 75; Nachdruck in Ravaschietto (Anm. 24), S. 73 – 77. Alle drei genannten Handschriften stammen aus dem 15. Jahrhundert und beinhalten vor allem legendarische Heiligenriten und Gebetstexte; das Ms. Italien 97 beispielsweise unter anderem die ‚Vita di San Gerolamo’, ‚Lo sermone che fece sancto Bernardo ad uno che volea fare penitentia’ oder die Erzählung des ‚Cardenale da Sancto Eusebio’. Zambrini (Anm. 32), S. 166. 2. Mos 16, 1– 36 (Anm. 3). Zambrini (Anm. 32), S. 165. Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Italien 97, fol. 36v: [V]edeno venire su per lo fiume uno ramo de arboro multo variato et contrafatto do colure pero che luna fronda pare doro et lautra de argento et lautra de fine azuro et lautra verde et lautra vermiglia et lautre negra. Et cusse erano quiste fronde tucte variate luna dallautra de quillo ramo loquale era pino de pume et fructi dellectivoli da mangiare. „Sie sahen flussabwärts einen Ast eines Baumes herantreiben, sehr verschiedenartig und kunstreich an Farben; dergestalt dass ein Blatt aus Gold zu sein schien, ein anderes aus Silber, ein weiteres Azuritblau, eines Grün, eines Vermilionrot, eines Schwarz. Und so waren diese Blätter jenes Astes – der voll von Äpfeln und ergötzlichen Früchten zum Essen war – allesamt voneinander verschieden.“
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des Engelsgesanges steigert sich die überbordende Vegetationsfülle mit jedem Höhenmeter; ebenso die Fröhlichkeit und Freude, welche die Nähe des Paradieses den Mönchen beim Aufstieg spendet³⁷; es strahlt über die umfriedenden Mauern hinaus. Verschlossen ist die vom Cherub bewachte Paradiestür. Die Mönche setzen sich hin um den Engel zu betrachten und avevano tanta allegrezza e gaudio di vedere lo spendore e la chiarezza che usciva del volto di questo Angiolo, che quasi parevano uomini insensibili e fuori di sè, tanto erano le somme bellezze che erano in quello Angiolo ³⁸. In einem Akt des freudespendenden Voyeurismus, der sich über fünf Tage und Nächte hinzieht, verlieren sich die Mönche in der Schönheit des Engels. Sie erleben einen prolongierten extatischen Moment vor den Pforten des Paradieses; eine quasi entrückende Schau der vollkommenen Schönheit, einer Schönheit, die nur von Gott selbst übertroffen werden kann. Der Engel strahlt dergestalt, dass la notte pareva la sua faccia pur luce di sole. ³⁹ Nach fünf Tagen des ununterbrochenen Betrachtetwerdens richtet der Cherub schließlich das Wort an die drei Männer und gewährt ihnen die gewünschten drei Tage Eintritt ins Paradies. Während sie noch die Bewegung des Himmelsrades und dessen wunderbare Töne genießen⁴⁰, kommen die von Gott nach Eden versetzten Enoch und Elias auf die Besucher zu; erstaunt – denn: giammai non ci venne piú uomo che fusse in carne, se non voi ⁴¹ an diesen Ort. Enoch wurde nach Gen 5, 22– 24 ob seiner Frömmigkeit in den Himmel versetzt; nach mittelalterlicher Auffassung hat er wie Elias seinen Platz im Irdischen Paradies.⁴² Die beiden ehrwürdigen Männer erbieten sich, die Mönche durch das Paradies zu führen. Natürlich sehen die Mönche den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sowie den Baum des Lebens, von dem einst Seth ein Ast zum Einpflanzen gegeben wurde; ihnen wird aber auch ein weiterer herausragender Baum gezeigt, dessen Früchte ewige Jugend und sofortige Genesung von Krankheiten bewirken⁴³ – also ein veritabler Baum der Gesundheit – sowie ein vierter Baum, dessen überaus große Blätter in den unterschiedlichsten Farben leuchten. Dessen Früchte wiederum lassen Hunger und Durst
Zambrini (Anm. 32), S. 167. Zambrini (Anm. 32), S. 167.: „Sie empfanden so viel Fröhlichkeit und Wonne die Herrlichkeit und Klarheit zu sehen, die vom Angesicht des Engels emanierte, dass die Männer beinahe leichtsinnig und überschwänglich schienen, dergestalt waren die höchsten Schönheiten, die diesem Engel innewohnten.“ Zambrini (Anm. 32), S. 167– 168. „Die Nacht schien auf seinem Gesicht pures Sonnenlicht zu sein.“ Zambrini (Anm. 32), S. 168: [V]iddeno voltare la ruota del cielo che sempre si volgeva con uno bellissimo suono.“ Sie sahen, wie sich das Himmelsrad mit einem wunderschönen Klang beständiglich drehte.“ Zambrini (Anm. 32), S. 169: „Nie mehr ist ein in Fleisch gehüllter Mensch hierher gekommen, bis auf euch.“ Elias’ Entrückung ist beschrieben in 2. Sm 2, 11 (Anm. 3). Zambrini (Anm. 32), S. 170: [U]n altro albero che chi ne mangiava none infermava e none invecchiava giammai, e s’egli era infermo, si guariva incontanente. „Ein weiterer Baum, von dem jener, der davon aß nie krank wurde und nie alterte, und falls er krank war, unmittelbar geheilt wurde.“
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auf ewig versiegen. Der fünfte⁴⁴ Baum, der explizit genannt wird, ist schließlich l’albero della grazia ⁴⁵ – der Baum der Gnade, überaus groß, belaubt mit goldenen und silbernen Blättern, die jenen des Feigenbaums ähneln; Heimat unzähliger kleiner, rotgefiederter Vögel, deren leuchtende Farbe den Baum wie mit Kerzen bestückt erscheinen lässt und voll mit überaus wohlschmeckenden Früchten. Jegliche Pflanze und jeder Stein – natürlich finden sich nur Edelsteine in Eden – verfügen über speziali virtudini ⁴⁶; viele der Blumen erscheinen zudem wie überzogen mit d’oro battuto, e molti d’ariento puro, e molti d’ariento e d’oro mescolatamente ⁴⁷. Edelmetalle wie Edelsteine, Inbegriffe des Kostbaren, tragen wesentlich zum Glanz des Irdischen Paradieses bei. Sieben verschiedene Brunnen beziehungsweise Quellen nennt die Paradiesbeschreibung explizit: zunächst einen Brunnen, dessen Wasser vor dem Altern bewahrt beziehungsweise Körper auf dreiunddreißigeinhalb Jahre verjüngt.⁴⁸ Das Motiv des Jungbrunnens ist selten direkt mit dem Irdischen Paradies verbunden; ein solcher wird in manchen Texten im Reich des Priesterkönigs Johannes lokalisiert, etwa in den ‚Nouvelles de la terre de Prestre Jehan‘.⁴⁹ Des Weiteren liegt ein Brunnen inmitten einer blühenden Wiese, dessen Wasser wie Balsam wirkt; es vermag den Körper zu erfrischen und von allen Gebrechen zu heilen; zugleich stillt der Wohlgeruch des Wassers, welcher sich in der gesamten Umgebung ausbreitet, jeglichen Wunsch nach Nahrung.⁵⁰ Aus vier weiteren Brunnen entspringt je einer der Paradiesflüsse, die im
Graf nennt nur vier Bäume, Graf (Anm. 12), S. 28. Zambrini (Anm. 32), S. 172: E poi viddeno l’albero della grazia, il quale era grandissimo, […] e le foglie sue parevano d’oro e d’ariento, grande a modo di foglia di fico; e li pomi suoi erano tanto dilettevoli a mangiare, che parevano lavorati confetti; tant erano dolci e saporosi a mangiare […]. E questo albero si era pieno di uccellini piccolini, et avevano le penne rosse come carboni di fuoco accesi […]; e cantavano tutti a una voce; et era quello canto si dilettevole et amoroso, che veramente pareva canto celestiale degli angioli di Paradiso. „Und dann sahen sie den Baum der Gnade, der überaus groß war […] und seine Blätter schienen aus Gold und Silber zu sein, groß wie Feigenblätter; und seine Äpfel waren so köstlich zu essen, dass sie wie verarbeitete Zuckermandeln schienen; so süß und schmackhaft zu essen […]. Und dieser Baum war voller überaus kleiner Vögel, deren Federn so rot wie glühende Kohlen waren […]; und sie alle sangen mit einer Stimme: und dieses Lied war dermaßen entzückend und liebevoll, dass es wirklich wie der himmlische Gesang der Engel des Paradieses schien.“ Zambrini (Anm. 32), S. 170. Zambrini (Anm. 32), S. 171: „Aus gehämmertem Gold, und viele aus purem Silber, und viele vermischt aus Silber und Gold.“ Zambrini (Anm. 32), S. 169: [U]na fontana molto chiara, che chi beveva di quell’ acqua non invecchiava mai, e chi era vecchio tornava in gioventudine di trentatrè anni e mezzo. „Ein sehr klarer Brunnen, bei dem jener, der von diesem Wasser getrunken hatte, niemals alterte und jener, der alt war, in die Jugend von dreiunddreißigeinhalb Jahren zurückkehrte.“ Zu der in verschiedenen Kulturkreisen präsenten Vorstellung eines Jungbrunnens Graf (Anm. 12), S. 31– 32. Delumeau (Anm. 1), S. 80 – 81 und 135; Zitat auf S. 81: „[T]he fountain is filled with the grace of God and the Holy Spirit. And anyone able to bathe in this fountain, even though he be two hundred or a thousand years old, will return, in appearance, to the age of thirty.“ Zambrini (Anm. 32), S. 171.
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weiteren Verlauf quasi den gesamten Erdenkreis umspannen. Die Nennung der vier großen Flüsse, die, wie in Gen 2, 10 – 14 geschildert, vom Paradies ausgehend die bewohnte Welt erreichen, bildet eine konstante Tradition bei Beschreibungen von Eden; allerdings ist es zumeist eine Quelle beziehungsweise ein Brunnen, aus dem alle vier Flüsse hervorgehen, wie etwa bei Isidor von Sevilla.⁵¹ Auch der siebte Brunnen, den die Mönche bestaunen können, ist schließlich von besonderer Art; diesmal hinsichtlich seiner Bewohner: E poi viddeno una fontana lunga uno quinto miglio, et era ampia secondo che rispondeva alla grandezza, et era piena di pesci, i quali cantavano tanto dolcemente, che quasi ogni creatura umana vi sarebbe dormentata, tanto era soave e dolce a udire! ⁵² In der Paradiesbeschreibung im ‚Viaggio dei tre santi monaci‘ sind eine Reihe von Aspekten bemerkenswert: zunächst ist der Umfang der Schilderung an sich ungewöhnlich, welche neben der allgemeinen Beschreibung der Vegetation und Fauna sowie der Witterungsverhältnisse auch die Spezifizierung von fünf Bäumen und sieben Brunnen oder Quellen umfasst. Die wunderbaren Bäume und Brunnen, die zum Teil Schwächen des menschlichen Körpers – wie Alterung, Krankheiten und Gebrechen, Müdigkeit, Hunger und Durst – beheben oder auf Dauer zu stillen vermögen, unterstreichen den opulenten Charakter des Ortes, dessen Schönheiten und Wunder in ihrer Perfektion einander Konkurrenz machen und quasi einander zu überbieten scheinen. In dieser an Wundervollem und Geheimnishaften teilhabend lassenden Umgebung ist es kaum erstaunlich, dass die Fülle der Eindrücke, welche alle Sinne ansprechen, beinahe für den menschlichen Geist überlastend wirkt; insbesondere Geruchs- wie Geschmacks- und Sehsinn werden von der Umgebung aufs Höchste gefordert⁵³. Nicht überraschend ist alles im Paradies geprägt von Beständigkeit und einem immerwährenden Zustand höchster Perfektion ohne jegliche Anzeichen von Verfall – ogni cosa pareva che stesse e mantenesse in suo stato ⁵⁴ – absent sind überreife oder faulende Früchte, Gewürm, Hässlichkeiten jeglicher Art. Diese Beständigkeit steht in Relation mit der speziellen Zeitkonzeption dieses Ortes, wo il tempo non vi si misurava mai, perchè ivi non era mai notte ⁵⁵: So verlieren die Mönche jegliches Zeitgefühl. Als sie nach gefühlten drei Tagen Aufenthalt in Eden aufgefordert werden, ins Kloster zurückzukehren, offenbaren ihnen Enoch und Elias, dass sie bereits seit dreihundert
Isidor von Sevilla, Etymologiae XIV, 3. http://www.thelatinlibrary.com/isidore/14.shtml (letzter Zugriff am 01.02. 2017): [3] E cuius medio fons prorumpens totum nemus inrigat, dividiturque in quattuor nascentia flumina.; Delumeau (Anm. 1), S. 44. Zambrini (Anm. 32), S. 172: „Und dann sahen sie einen Brunnen, der eine fünftel Meile lang war und eine Breite hatte, die der Länge entsprach; und er war voller Fische, die so süß sangen, dass beinahe jedes menschliches Geschöpf darüber einschlafen würde, so dermaßen lieblich und süß war es zu hören!“ Zambrini (Anm. 32), S. 171. Zambrini (Anm. 32), S. 171: „Alles schien in seinem Zustand zu bleiben und ihn zu bewahren.“ Zambrini (Anm. 32), S. 172: „Die Zeit wurde da nie gemessen, weil es dort nie Nacht war.“
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Jahren⁵⁶ im Paradies weilen und nunmehr genug Schönheiten einer vita beata ⁵⁷ geschaut haben. Enoch und Elias geben den Reisenden genaue Anweisungen: Im Kloster angekommen, sollen sie die dortigen Mönche auffordern, im Hochaltar nach einem versteckten Buch zu suchen, in welchem ihre Namen und das Aufbruchsdatum verzeichnet sind; außerdem sollen sie ihnen kundtun, dass ihre Leiber nach vierzig Tagen zu Staub zerfallen und Engel ihre Seelen holen werden, um in die santissima vita beata ⁵⁸ – das heiligste glückselige Leben – einzugehen. Genau so trägt es sich zu und der Abt lässt einen Altar zur Verehrung der duftenden, heiligmäßigen⁵⁹ Asche der Mönche errichten. Für die Mönche besteht absolute Notwendigkeit zurückzukehren, nicht nur weil das Irdische Paradies nicht dauerhaft für sie zugänglich sein kann; nicht nur um Zeugnis vom wunderbaren Paradies abliefern zu können, sondern auch um durch den Vorbildcharakter ihres heiligmäßigen Lebens und insbesondere durch die publikumswirksame Heimholung ihrer Seelen andere Menschen zu beeinflussen. Diese Kriterien sind auch bereits für den Brandanstoff relevant und finden sich dort wieder.⁶⁰ Eindrücklich ist das in der Erzählung einen herausragenden Stellenwert einnehmende Motiv der autonom verlaufenden Zeit in dem von göttlicher Hand geschaffenem Garten – die wenigen Tage, welche die Mönche sich im Irdischen Paradies wähnen, entsprechen mehreren Jahrzehnten beziehungsweise Jahrhunderten außerhalb der Paradiesmauern. Mit dem Durchschreiten der Paradiespforte, die dem Übertreten einer magischen Schwelle gleichkommt, begeben sich die Mönche in eine dimensione spazio-temporale differente da quella terrena. ⁶¹ Dieser sfasamento temporale ⁶², diese „Zeitverwirrung“ impliziert, dass die Mönche, solange sie sich an diesem Ort aufhalten, Teil an der Ewigkeit haben. Eine solche Zeitkonzeption ist vergleichbar mit jener andersweltlicher Reiche, etwa jenen von Feen: „L’autre monde et le monde des humains obéissent à des lois différentes et inconciliables. Quand un mortel quitte son univers pour le royaume des fées, il passe du règne de l’éphémère à
Die Anzahl der im Paradies verbrachten Jahre variiert in einzelnen Fassungen; so weilen die Mönche beispielsweise in der im Florentiner Ms. Riccardiano 683 überlieferten Version 700, im Pariser Ms. Italien 97 nur 70 Jahre im Paradies. Zambrini (Anm. 32), S. 174. Zambrini (Anm. 32), S. 175. Zambrini (Anm. 32), S. 178: [D]elli loro corpi santissimi si fu fatto cenere, della quale si veniva sì grande odore, che pareva che tutto il modcado del mondo si fosse sparto nel monasterio. „Deren heiligste Körper wurden zu Asche verbrannt, von der ein so starker Wohlgeruch ausging, dass es schien, als ob aller Muskat der Welt im Kloster verstreut worden wäre.“ Wohlgeruch ist untrügliches Zeichen von Heiligkeit. Dazu Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers (Mittelalter-Forschungen 48), Ostfildern 2014, S. 154– 158. Schwembacher (Anm. 5), S. 132. Ravaschietto (Anm. 24), S. 53: „Eine Raum-Zeit-Dimension, die sich von der irdischen unterscheidet“ Eleonora Vincenti in Ravaschietto (Anm. 24), S. X.
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celui de l’éternité, il échappe au temps. Regagnant le monde des humains, il retrouve le temps et la mort.“⁶³ Auch den Mönchen bleibt nach dem Verlassen des Irdischen Paradieses und der Rückkehr in die Heimat nur mehr eine kurze Frist, bevor sie zu Staub zerfallen. Während in der im Ms. Riccardiano 683 überlieferten Fassung die Mönche den erstaunlichen Umstand, dass sie bereits seit 700 Jahren im Irdischen Paradies weilen, ohne jegliche Rückfrage akzeptieren, wollen jene in der dritten Fassung den Grund ihrer unveränderten äußeren Gestalt wissen: [C]ome pote essere questo che nuj siamo stati LXX anni in quisto sancto luoco imperoche a nuj pare de essere in quella etate che nuj eramo quando nuj since intraimo? ⁶⁴ Daraufhin offenbaren ihnen Enoch und Elias, dass dies auf den Genuss von Früchten vom Baum der ewigen Jugend und dem Wasser des Jungbrunnens zurückzuführen sei: vuy si haviti mangiato de quillo pumo che non lassa invecchiare et haviti bivuta dell acqua che vechiecza fa tornare in joventute. ⁶⁵ Ein möglicher Grund jedoch, warum die Zeit im Irdischen Paradies anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als außerhalb, wird mit dem Verweis auf die ewig währende und damit zeitentbundene vita beata ⁶⁶ nur angedeutet. Das Motiv der anders verlaufenden Zeit findet sich neben anderen mittelalterlichen Legenden, wie jener des Sankt Felix,⁶⁷ auch in modernen Erzählungen; so hat es beispielsweise der Mediävist C. S. Lewis in seinen ‚Chronicles of Narnia‘, die unter anderem von mittelalterlicher Reiseliteratur inspiriert sind, für das magische Land Narnia⁶⁸ aufgegriffen. Die legendenhafte Erzählung ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ ist von einer Reihe von Traditionen beeinflusst, von denen einige, wie etwa der Umstand, dass die Mönche das Paradies betreten dürfen und ihnen einige der besonderen Sehenswürdigkeiten im Garten gezeigt werden, aus dem reichen Brandanstoff herrüh-
Laurence Harf-Lancner, Les fées au Moyen Age. Paris 1984, S. 210. Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Italien 97, fol. 38v: „Wie kann das sein, was wir siebzig Jahre an diesem heiligen Ort verbracht haben; es uns aber erscheint, dass wir uns in jenem Zustand befinden, den wir hatten als wir ihn betraten?“ Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Italien 97, fol. 38v: „Ihr habt von jenem Apfel gegessen, der nicht altern lässt und habt von dem Wasser getrunken, das Alter in Jugend kehrt.“ Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. Italien 97, fol. 38v: [E]t siti stati in quisto monte santificato et haviti veduto de molte cose de la vita beata. „Ihr seid auf diesem heiligen Berg gewesen und habt viele Aspekte des gesegneten Lebens gesehen.“ „Sehen“ impliziert hier „teilhaben“. In der spätmittelalterlichen, deutschsprachigen Bearbeitung der Legende des heiligen Felix wird ein Zisterzienser in das Himmlische (und nicht das Irdische) Paradies entrückt; während dieser vermeint, dort eine Stunde zu verbringen, ist auf Erden ein Jahrhundert vergangen. Edition in Friedrich Heinrich von der Hagen, Gesamtabenteuer, Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und PfaffenMären, Stadt- und Dorfgeschichten, Schwänke,Wundersagen und Legenden, Bd. 3, Stuttgart, Tübingen 1850, S. 613 – 623; Graf (Anm. 12), S. 89 – 90. Der Zeitverlauf in Narnia hat allerdings keinen Einfluss auf jenen der Erde. Clive Staples Lewis, The King, the Witch and the Wardrobe. London 1950, S. 39: „If there really is a door in this house that leads to some other world (and I should warn you that this is a very strange house, and even I know very little about it) – if, I say, she had got into another world, I should not be at all surprised to find that the other world had a separate time of its own; so that however long you stay there it would never take up any of our time.“
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ren; während andere – beispielsweise der im Wasser treibende Ast aus dem Paradies – auch in den Legendenkreisen um Alexander den Großen⁶⁹ vorkommen. Daneben enthält die um 1191 vollendete lateinische Chronik ‚Pantheon‘ des Gottfried von Viterbo eine Schilderung, die zahlreiche Parallelen zu dem spätmittelalterlichen ‚Il viaggio dei tre monaci al paradiso terrestre‘ aufweist.
5 Paradiesreisende im ‚Pantheon‘ Gottfrieds von Viterbo Gottfried berichtet von Mönchen, die das Paradies erreichen, von dort aber erst Jahrhunderte später wieder zurückkommen. Diese Erzählung hat Gottfried in der in drei Fassungen überlieferten Weltchronik im Abschnitt über Enoch und Elias integriert, dem eine allgemeine Beschreibung des Irdischen Paradieses vorausgeht. Die Mönche brechen per Schiff von der britischen Insel auf, da sie – [m]ira per Oceanum multa videre volunt ⁷⁰ – viele Wunder im Ozean sehen wollen. Sie entdecken einen goldenen Berg, den sie besteigen und nach einem Tag des Wanderns eine Stadt erreichen, die mit einer goldenen Mauer umfriedet ist. Als sich das zunächst verschlossene Tor am Tag darauf öffnet, gewahren sie zunächst niemanden in der goldenen Stadt bis sie eine Menschenmenge von rund einhundert Personen sehen, der zwei Presbyter vorstehen, die niemand anders als Enoch und Elias sind. Diese offenbaren den Reisenden, dass Gott ihr König ist, ihre Leiber durch cibo coelesti ⁷¹, von himmlischer Speise, genährt werden und die Zeit an diesem Ort anders verläuft, sodass die Mönche bei der Rückkehr senes eritis, quum venietis ibi. ⁷² So tritt es ein: Bei
Beispielsweise entdeckt Alexander im ‚Iter ad Paradisum’ im Ganges treibende wunderbare Blätter – arborum folia permaxima – die in ihm den Wunsch wecken, das Paradies zu erreichen: nichil perfeci in mundo, totiusque ambitionis nichili pendo, nisi hujus voluptatis particium permeruero (Zacher [Anm. 20], S. 20); „Nichts habe ich in der Welt vollendet, und alles Streben beurteile ich als nichtig, wenn ich nicht hingelangen werde, um an dieser Lust teilzuhaben.“ Dazu Graf (Anm. 12), S. 116 – 117. Gottfried von Viterbo, Pantheon, in: Germanicorum Scriptorum, qui rerum a germanis per multas aetates gestarum historias vel annales posteris reliquerunt, Tomus alter quo coninentur Gotefridi Viterbiensis Pantheon,Werneri Rolewinkii Fasciculus temporum … Ex Bibliotheca Ioannis Pistorii Nidani …, hrsg. v. Andreas Wechel Erben und Claude de Marne, Frankfurt 1613, Sp. 79. Digitalisat unter http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1– 14364 (letzter Zugriff am 10. August 2017). Gottfried von Viterbo (Anm. 70), Sp. 80. In eindrücklichen Worten schildern Enoch und Elias das Vergehen der Zeit, Gottfried von Viterbo (Anm. 70), Sp. 80: Annis tercentum senuerunt corpora rebus, / Sicut et in vestris novimus esse locis. / In patria vestra pueri dudum senuerunt, / Quos matres post discessum vestrum genuerunt, / Nullus et ex ipsis cras ibi vivus erit. / Septima progenies hominum, vel sexta, recessit, / Terra novis populis et regibus undique cessit, / Vosque senes eritis, quum venietis ibi. „Die Körper sind durch die Umstände dreihundert Jahre gealtert, gleichwie die euren auch überaus jung erscheinen. In eurer Heimat sind Kinder längst gealtert; die Mütter haben nach eurem Fortgang geboren keiner von jenen wird dort selbst
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Manuel Schwembacher
ihrer Rückkehr finden sich die entsetzten Mönche nicht mehr zurecht, erkennen die Stadt und ihr Kloster sowie die dortigen Brüder nicht wieder und sind selbst drastisch gealtert.⁷³ Der Auftakt erinnert an die Motivation Brandans in der ‚Navigatio‘, ebenso wie die Begegnung mit Enoch und Elias; Gottfried nennt den insularen Mönch allerdings nicht – weder im Kontext der Paradiesbeschreibungen, noch an einer anderen Stelle des ‚Pantheon‘; auch differieren einige Aspekte der Erzählung stark vom Brandanstoff. Auf Grund der Verbreitung des ‚Pantheon‘ ist es durchaus möglich, dass Gottfrieds Schilderung eine Inspirationsquelle für die zweite und dritte Fassung des ‚Viaggio dei tre santi monaci al paradiso terrestre‘, zumindest in einer Reihe von Punkten ist; zugleich aber wird mit der detailreichen Beschreibung der Wunder des Irdischen Paradieses ein anderer Akzent gesetzt oder – wenn man so will – eine Lücke geschlossen. Einerseits greifen die spätmittelalterlichen Varianten des ‚Viaggio‘ eine Reihe von Elementen von Gottfrieds Darstellung auf: die exponierte Berglage des Paradieses, das Warten vor dem verschlossenen Tor, die Begegnung mit Enoch und Elias, die den Reisenden ihre Zukunft prophezeien, die Notwendigkeit den Ort wieder zu verlassen um Zeugnis ablegen zu können, das vom Rest des Erdenkreises differierende Zeitsystem und damit zusammenhängend die lange zwischen Aufbruch und Rückkehr der Mönche liegende Zeitspanne sowie die Eintragungen in einem alten Buch im Kloster, welche die Geschichte der Reisenden bestätigen. Andererseits werden daneben auch deutlich andere Akzente gesetzt: nicht edelsteinbesetzte Goldarchitektur, die an die Ikonographie des Himmlischen Jerusalems erinnert, sondern botanische Naturwunder prägen das Irdische Paradies der spätmittelalterlichen Fassungen; die Mönche altern nicht bei ihrer Rückkehr, da sie vom Baum der ewigen Jugend gegessen und vom Jungbrunnen getrunken haben; zudem wird ihnen der baldige Übergang in die vita beata prophezeit und erfüllt.
6 Résumé Die legendarische Erzählung des ‚Viaggio dei tre monaci nel paradiso terrestre‘ gehört zu den wenigen Texten, in denen die Protagonisten das dem menschlichen Zugang normalerweise entzogene Irdische Paradies nicht nur erreichen, sondern auch be-
künftig am Leben sein. Die siebte oder sechste Generation der Menschen ist zurückgewichen; die Erde überall neuen Völkern und Königen zugefallen. Und ihr werdet Greise sein, wenn ihr dorthin gelangt.“. Gottfried von Viterbo (Anm. 70), Sp. 81: Non loca, non homines, non cognover loquelam, / Eruptis lachrymis secum tenuere querelam, / Nam sibi non patria; non homo notus erat. / Ipsi qui fuerant hodie forma iuveniles, / Mane senescentes sunt pelle piloque seniles; / Decrepitos, viles, se miserosque vident. „Weder Orte, noch Menschen, noch die Art zu Sprechen waren erkennbar; einen Ausbruch von Tränen brachte die Klage mit sich, denn weder Heimat noch Mensch war bekannt. Sie selbst, welche heute noch von jugendlicher Gestalt gewesen waren, sind seit dem Morgen alt geworden an Haut und Haar. Sie sehen sich altersschwach, wertlos und unglücklich.“
Das Irdische Paradies zwischen Entzogenheit und Immanenz
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treten und erkunden dürfen und dabei in besonderem Maße die Nähe des Schöpfers erfahren. Die dritte Fassung der Legende überwindet zudem die ansonsten vielfach anzutreffende narratologische Knappheit hinsichtlich der Schilderung des Irdischen Paradieses und offeriert eine alle Sinne ansprechende Reise durch den Paradiesgarten. Die Erzählung gibt eindrückliches Zeugnis von der Wirkmächtigkeit des Irdischen Paradieses als Kulminationspunkt der irdischen Schöpfung. Sie illustriert – als ein Beispiel von einer Reihe von Schilderungen unterschiedlicher Genres – das Bestreben nach der Erfahrung, der Wiedererlangung der Zugänglichkeit dieses Ortes, der obgleich prinzipiell für die Menschheit verloren doch nicht als vollständig entzogen erhofft wird.
Andreas Obenaus
Die Geheimnisse des Atlantiks und seine Erforschung im Spiegel mittelalterlicher arabischer Quellen Abstract: Following the establishment of Islamic realms along the shores of the Atlantic Ocean during the early eighth century, Muslim scholars started to show an increasing interest in this ocean. Especially in descriptive geographical writings, it was presented as the western part of a circumferential sea surrounding the whole world. Based on existing medieval sources, the present article summarises the changing concept of the Atlantic Ocean in medieval Muslim academic circles and presents an insight into the scattered mentions of early Muslim attempts of its exploration. Muslim scholars, like their ancient predecessors and their Christian coevals, construed this ocean as the limit of the known world and a place of mystery. Therefore, in the extant sources, factual reports on seaports, anchorages and well-established sea lanes along the Iberian and Maghrebian Atlantic shores mingle with warnings about the perils of this ocean as well as peculiar tales about magical objects, fabulous creatures and mythical islands. From the works of al-Masʿūdī a tenth-century Muslim scholar of Middle Eastern origin, derive first vague hints about the exploration of the Atlantic Ocean by Muslim seamen. During the twelfth and thirteenth centuries geographers from the West of the Islamic world, like al-Idrīsī and Ibn Sa̔īd alMaġribī, even mention the discovery of unknown (is)lands. Hence, the veil of mystery seemed to disappear. But actually, fact and fiction are greatly mixed in these narratives, thus, making it difficult to clearly distinguish between myths and real achievements concerning the exploration of the Atlantic. Keywords: Muslimische Herrschaftsgebiete am Atlantik, islamische Atlantikerkundung und Atlantikseefahrt, mythische Atlantikinseln, mittelalterliche geografische Atlantikkonzepte, Wundererzählungen
1 Einleitung Der große Ozean im Westen, also der heutige Atlantik, bildete in der Vorstellung antiker als auch mittelalterlicher Gelehrter der Alten Welt die Grenze des bekannten Erdkreises in westlicher Richtung. Konkretes Wissen über diesen Ozean, wie über seine Ausdehnung oder seine Beschaffenheit, war in den vor allem mediterranen Zentren antiker Bildung zwar kaum vorhanden, dennoch nahm der Atlantik einen fixen Platz im gängigen Weltbild dieser Zeit ein. Richtung untergehender Sonne geDr. Andreas Obenaus, Universität Wien, Institut für Geschichte, Universitätsring 1, 1010 Wien, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-009
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Andreas Obenaus
legen kam ihm in den mythischen Vorstellungen zahlreicher prähistorischer, antiker und selbst noch mittelalterlicher Kulturen eine bedeutende Rolle zu, so zum Beispiel als Ort der Wohnstätten der Toten, des Reiches der Götter oder eines – wie auch immer gearteten – Paradieses. Den Atlantik umgab daher bis zu seiner systematischen Erforschung in der frühen Neuzeit eine Aura des Unbekannten und des Geheimnisvollen. Sagenhafte Inseln, wie die Fortunatae Insulae oder die Hesperidum Insulae, wurden dort seit der Antike lokalisiert. Zu ihnen gesellten sich unter anderem die Insulae Sancti Brendani in den Vorstellungen mittelalterlicher Gelehrter des christlichen Raumes.¹ Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Unkenntnis nahm der Atlantik ebenso in stärker wissenschaftlich geprägten Abhandlungen der Antike und des Mittelalters einen besonderen Platz ein. So führte der im zweiten Jahrhundert tätige alexandrinische Gelehrte Klaudios Ptolemaios in seiner ‚Geōgraphikḕ Hyphḗgēsis’ (‚Γεωγραφικὴ Ὑφήγησις‘), die als Standardwerk der mathematischen Geografie der Antike gilt, rund 8000 Orte der ihm bekannten Welt mit Längen- und Breitenangaben an, die man zur Erstellung einer Weltkarte mittels geeigneter Projektion nutzen konnte. Den prinzipiell willkürlich wählbaren Anfangsmeridian für die Zählung der Längengrade legte er dabei in den äußersten Westen der ihm bekannten Welt – und somit in den Atlantik. Als konkreten Bezugsort bestimmte er jene eingangs erwähnten mythischen Atlantikinseln, die in den griechischen Quellen als Makárōn nȇsoi (Μακάρων νῆσοι) und im Lateinischen als Fortunatae Insualae bekannt sind. Dieses System der Längengradzählung, bei dem sich gleichsam Wissenschaft und Mythologie treffen, sollte in Folge – abgesehen von Konkretisierungen durch die spätmittelalterliche Identifikation der Fortunatae Insulae mit den Kanaren – bis ins späte 19. Jahrhundert erhalten bleiben.² Auch über erste Versuche der Erforschung dieses geheimnisvollen Ozeans während der Antike und des Mittelalters wissen wir heute nur unzureichend Bescheid. Phöniziern, Iren, Wikingern, Genuesen, Basken oder Portugiesen wird in der modernen Forschung aufgrund verstreuter Hinweise in schriftlichen Quellen gerne ein gewisser Anteil daran zugeschrieben. Unbestritten, weil archäologisch bestätigt, sind dabei die Erfolge der Wikinger, die im Verlauf des Frühmittelalters mit ihren Schiffen von Skandinavien aus über Island nach Grönland gelangten und spätestens um 1000 die Küsten Neufundlands erreichten. Ihr Wissen über den nördlichen Atlantikraum und das neuentdeckte Land im Westen verbreitete sich in Europa jedoch so gut wie
Vgl. Hans Biedermann, Mythen, Fabelstoffe und Kenntnisse der Europäer über Inseln und Länder im Westen jenseits der Säulen des Herakles, in: Charles Verlinden u. Eberhard Schmitt (Hgg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 1), München 1986, S. 1– 11. Vgl. Oswald A. W. Dilke, The Culmination of Greek Cartography in Ptolemy, in: John B. Harley u. David Woodward (Hgg.), Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean (The History of Cartography 1), Chicago, London 1987, S. 177– 200, hier S. 184, 190.
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nicht und ging im Endeffekt sukzessive verloren.³ Weiter im Süden lassen sich erst ab dem beginnenden Spätmittelalter eindeutig belegbare Aktivitäten von Seeleuten aus den christlichen Reichen des westlichen Mittelmeerraums und der Iberischen Halbinsel nachweisen, die zu einer schrittweisen Erforschung des Atlantikraums westlich und südlich der Straße von Gibraltar führten und im Endeffekt die europäische Expansion einleiteten.⁴ Weitgehend unbeachtet blieb jedoch bisher in der wissenschaftlichen Forschung die Tatsache, dass auch die islamische Welt während des Mittelalters über eine beachtliche Atlantikzone, die sich vom westlichen Maghreb bis auf die Iberische Halbinsel erstreckte, verfügte.⁵ Berichte über (vermeintliche) Kenntnisse vom Atlantik, speziell seiner Geheimnisse und Gefahren, sowie Erzählungen von Erkundungsversuchen fanden daher nicht nur in antiken sowie in mittelalterlich-christlichen, sondern ebenso in arabischen Quellen einen gewissen Niederschlag, dem in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden soll.⁶
2 Der Atlantikraum der mittelalterlichen islamischen Welt Über den Beginn und die Frühphase muslimischer Herrschaft am Atlantik existieren heute keine zeitgenössischen Quellen mehr. Spätere arabische Werke des neunten bis 14. Jahrhunderts geben bestenfalls ein lückenhaftes und vermutlich bereits verklärtes Bild der Ereignisse wieder. Folgt man aber diesen späten Berichten, so sollen musli-
Zu den nordatlantischen Entdeckungsfahrten der Wikinger siehe aktuell Rudolf Simek,Vinland! Wie die Wikinger Amerika entdeckten, München 2016; Vgl. ebenso Karl A. Wipf, Die Wikinger an der nordamerikanischen Ostküste: Leif Erikssons Expedition nach Vínland (1000/1001), in: Charles Verlinden u. Eberhard Schmitt (Hgg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 1), München 1986, S. 29 – 37. Zur archäologisch nachgewiesenen Wikingersiedlung in L’Anse aux Meadows auf Neufundland siehe u. a. Helge Ingstad u. Anne-Stine Ingstad, The Viking Discovery of America. The Excavations of a Norse Settlement in L’Anse aux Meadows, New York 2001. Vgl. Felipe Fernández-Armesto, Before Columbus. Exploration and Colonization from the Mediterranean to the Atlantic, 1229 – 1492, Philadelphia 1987, S. 151– 202; Andreas Obenaus, Genuesen, Katalanen, Portugiesen. Die Anfänge der europäischen Atlantikexpansion, in: Alexander Marboe u. Andreas Obenaus (Hgg.), Seefahrt und die frühe europäische Expansion (Expansion – Interaktion – Akkulturation. Globalhistorische Skizzen 15), Wien 2009, S. 93 – 122. Eine wichtige Ausnahme bildet hier der französische Mediävist Christophe Picard. Siehe vor allem Christophe Picard, L’océan Atlantique musulman: De la conquête arabe à l’époque almohade, Paris 1997. Dieser Artikel baut zu weiten Teilen auf eigenen Vorarbeiten auf. Siehe speziell Andreas Obenaus, Islamische Perspektiven der Atlantikexpansion (Mittelmeerstudien 3/1 u. 2),Wien, Berlin 2013; Andreas Obenaus, Die mittelalterliche islamische Welt und der Atlantik. Geographische Konzepte und frühe Erkundungsversuche, in: Friedrich Edelmayer u. Gerhard Pfeisinger (Hgg.), Ozeane. Mythen, Interaktionen und Konflikte (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder 16), Münster 2017, S. 75 – 92.
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Andreas Obenaus
mische Truppen in den frühen 680ern im Rahmen eines großangelegten Feldzugs durch den Maghreb im heutigen Marokko zum ersten Mal den Atlantik erreicht haben.⁷ Weitere Feldzüge gegen, aber auch Bündnisse mit einheimischen Berbergruppen führten dann dazu, dass in den nachfolgenden Jahrzehnten die islamische Herrschaft im Maġrib al-aqṣā, ungefähr das heutige Nordmarokko, so weit gesichert werden konnte, dass zwischen 710 und 712 bereits mehrere muslimisch-berberische Armeen die Straße von Gibraltar querten und auf der Iberischen Halbinsel landeten. Das durch innere Konflikte geschwächte Reich der Westgoten fiel diesem Ansturm überraschend schnell zum Opfer und al-Andalus, jenes muslimische Herrschaftsgebiet auf der Iberischen Halbinsel, entstand.⁸ Somit existierte ab dem frühen achten Jahrhundert ein islamischer Herrschaftsraum am Atlantik, der von den heutigen Küsten Marokkos, über den Südwesten Spaniens bis weit nach Portugal reichte. Abgesehen von den spärlichen Informationen zur Eroberung dieser Gebiete wissen wir heute wenig über den frühen islamischen Atlantikraum, seine wichtigsten Hafenstädte oder gar maritime Aktivitäten. Dieses Bild ändert sich erst durch eine äußere Bedrohung um die Mitte des neunten Jahrhunderts. So traf im Jahr 844 ein erster Angriff der Wikinger die atlantischen Küstenzonen der westlichen islamischen Welt. In diesem Zusammenhang werden in den arabischen Quellen auch einige der überfallenen oder mit Abwehrmaßnahmen betrauten muslimischen Hafenorte genannt. Zu ihnen zählten unter anderem Lissabon, Sevilla, Cádiz, Algeciras und südlich der Straße von Gibraltar auch Asilah. Die lokalen muslimischen Machthaber – in al-Andalus die Dynastie der Umaiyaden und im Maġrib al-aqṣā jene der Idrīsiden – waren anfangs von diesen Vorstößen sicher überrascht. Sie reagierten jedoch rasch auf die neue, äußere Bedrohung, verstärkten ihre Küstenverteidigung und waren somit gegen spätere Überfälle besser gerüstet.⁹ Ab dem zehnten Jahrhundert wird die Quellenlage zum muslimischen Atlantikraum kontinuierlich besser. Zeitgenössische geografische Werke geben uns einen ersten Einblick in das Geflecht an größeren und kleineren Atlantikhafenstädten, das entlang der Küstengebiete vom heutigen Marokko bis nach Portugal entstand. Der ostislamische Gelehrte Ibn Ḥauqal, der von 947 bis 951 den Maghreb und die Iberische Halbinsel bereiste, ist einer der ersten, der in seinem ‚Kitāb ṣūrat al-arḍ‘ den musli-
Ein früher, aber kurzer Bericht über diese Ereignisse findet sich im ‚Kitāb al-Futūḥ’ des al-Balāḏurī aus dem späten neunten Jahrhundert. Siehe al-Balāḏurī, The Origins of the Islamic State – Kitāb Futūḥ al-Buldān, übers. v. Philip K. Hitti, New York 1916, S. 359. Ausführlicher, aber mit legendenhaften Anklängen ist dann zum Beispiel die Erzählung in Ibn al-Aṯīrs ‚Al-Kāmil fī ʾt-taʾrīḫ’ aus dem frühen 13. Jahrhundert. Siehe Ibn al-Aṯīr, Annales du Maghreb et de l’Espagne, übers. v. Edmont Fagnan, Algier 1901, S. 20 – 23. Vgl. dazu auch Philippe Sénac u. Patrice Cressier, Histoire du Maghreb médiéval, VIIe-XIe siècle, Paris 2012, S. 28 – 29. Vgl. Hugh Kennedy, Muslim Spain and Portugal: A Political History of Al-Andalus, London 1996, S. 1– 16. Vgl. Picard (Anm. 5), S. 71– 76; Kennedy (Anm. 8), S. 47– 48; Andreas Obenaus, Islamische Perspektiven der Atlantikexpansion. Der islamische Atlantikraum des mittelalterlichen Abendlandes (Mittelmeerstudien 3/1), Wien, Berlin 2013, S. 39 – 49.
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mischen Atlantikraum – zur Blütezeit des umaiyadischen Kalifats von Córdoba – ausführlicher beschreibt. So finden sich in seinem Werk Erwähnungen von zahlreichen Hafenorten, günstigen Ankerplätzen oder Buchten, die zumindest von Lissabon im Norden bis Salé im Süden reichen. Ebenso gibt er vereinzelte Hinweise zu wichtigen Schiffsverbindungen zwischen dem Maghreb und der Iberischen Halbinsel als auch den auf diesen Routen gehandelten Waren.¹⁰ Ähnliche Beschreibungen existieren dann auch aus dem elften und zwölften Jahrhundert. Der andalusische, aus Huelva-Saltés stammende muslimische Geograf al-Bakrī zeigt in seinem 1068 fertiggestellten ‚Kitāb al-masālik wa-l-mamālik‘, dass der muslimische Atlantikraum den Kollaps des umaiyadischen Kalifats offensichtlich unbeschadet überstanden hatte. Ganz im Gegenteil brachten die konkurrierenden Taifa-Reiche auf der Iberischen Halbinsel als auch das im Süden des heutigen Marokko entstehende Reich der Almoraviden durchaus positive Entwicklungsschübe mit sich. So sind die Ausführungen zu Hafenorten, Anlegeplätzen oder Seehandelsverbindungen im islamischen Atlantikraum bei al-Bakrī viel umfangreicher und ausführlicher als noch bei Ibn Ḥauqal. In südlicher Richtung stellt nun auch nicht mehr Salé den letzten genannten, bedeutenden Hafenort dar, sondern die Beschreibungen reichen bis zum Mündungsgebiet des Wādī Nūn und des Wādī Draʿa im äußersten Süden des heutigen Marokko.¹¹ Wiederum rund ein Jahrhundert später bestätigte im Prinzip der aus Ceuta stammende muslimische Gelehrte al-Idrīsī in seinem zwischen 1138 und 1154 am Hof des christlichen Königs Roger II. von Sizilien abgefassten geografischen Werk namens ‚Nuzhat al-muštāq‘ die Beschreibungen al-Bakrīs zum islamischen Atlantikraum. Gegen Ende der almoravidischen Herrschaft im Westen der islamischen Welt bietet al-Idrīsī jedoch ein noch ausführlicheres Bild von den Hafenorten, den Handelswaren und der muslimischen Seefahrt am Atlantik, wobei er darüber hinaus mit Erzählungen von Erkundungsfahrten und sagenhaften Inseln auf diesem Ozean aufwartet.¹² Noch unerwähnt bleibt bei al-Idrīsī aber die Tatsache, dass die christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel ab der Mitte des zwölften Jahrhunderts bereits größere und dauerhafte Erfolge bei der Rückeroberung atlantischer Küstengebiete des islamischen al-Andalus verzeichneten. So gelang es dem aufstrebenden Königreich Portugal im Jahr 1147 Lissabon, einen der nördlichsten islamischen Atlantikhäfen, dauerhaft zu unterwerfen. Spätestens in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts wurde dann der Südwesten der Iberischen Halbinsel immer mehr zum Kampfgebiet zwischen portugiesischen und muslimischen Marineverbänden als auch Landarmeen, wobei sich anfangs das Kräfteverhältnis eher die Waage hielt. Das neue westislamische
Ibn Ḥauqal, La configuration de la terre – Kitāb ṣūrat al-arḍ, Bd. 1, übers. v. Johannes Hendrik Kramers u. Gaston Wiet, Paris, Beirut 1964, S. 75 – 78, 114– 115. Al-Bakrī, Description de l’Afrique septentrionale par Abou-obeïd-el-Bekri, übers. v. William Mac Guckin de Slane, Paris 1965, S. 175 – 176, 202– 209, 212– 222. Al-Idrīsī, La première géographie de l’Occident, hrsg. und übers. v. Henri Bresc u. Anneliese Nef, Paris 1999, S. 69 – 73, 125 – 178, 245 – 269.
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Großreich der Almohaden, dessen Herrschaft sich über den gesamten Maghreb sowie den Süden der Iberischen Halbinsel erstreckte, setzte sich zunächst erfolgreich gegen die christlichen Reiche aus dem Norden zur Wehr. Nach der schweren Niederlage bei Las Navas de Tolosa im Jahr 1212 gegen eine vereinte christliche Armee war für Portugal und Kastilien aber der Weg zur dauerhaften Eroberung des islamischen Atlantikraums bis zur Straße von Gibraltar offen. Dieser Prozess wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts nach der Eroberung solch bedeutender muslimischer Hafenstädte wie Alcácer do Sal (1217), Sevilla (1248), Silves (1249) und Faro (1249) abgeschlossen.¹³ Diese Ereignisse fanden dabei auch im geografischen Werk des aus Granada stammenden Zeitgenossen Ibn Sa̔īd al-Maġribī einen gewissen Niederschlag. In seinem wahrscheinlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts fertiggestellten ‚Kitāb baṣt alarḍ fī l-ṭūl wa l-arḍ‘ beschreibt er die Seefahrt sowie die Hafenorte am Atlantik durchaus ähnlich detailliert wie rund ein Jahrhundert vor ihm al-Idrīsī. Dass viele der vormals islamischen Häfen von al-Andalus sich nun unter christlicher Herrschaft befanden und christliche Schiffe in diesen Gebieten zunehmend präsent waren, lässt er jedoch nicht unerwähnt.¹⁴ Ohne Zweifel war mit diesen schmerzhaften Verlusten um die Mitte des 13. Jahrhunderts die Blütezeit des islamischen Atlantikraums vorüber. Das reguläre islamische Seehandelsnetz, dass im elften und zwölften Jahrhundert zumindest von Mittelportugal bis in den Süden des heutigen Marokkos gereicht hatte, hatte nun im Prinzip seinen gesamten nördlichen Teil eingebüßt. Islamische Seeleute betrieben zwar weiterhin, jedoch in viel bescheidenerem Umfang von den westmaghrebinischen Häfen aus Atlantikseefahrt. Gerade den Fernhandel sowie in Folge auch die Erforschung dieses Ozeans übernahmen hingegen spätestens ab dem 13. Jahrhundert zunehmend christliche Seeleute der aufstrebenden Reiche der Iberischen Halbinsel und des westlichen Mittelmeerraums.
3 Vorstellungen vom Atlantischen Ozean So wie das christliche Europa übernahm auch die islamische Welt am Beginn des Mittelalters grundlegende geografische Konzepte aus dem reichhaltigen Erbe der griechisch-römischen Antike. Geografische Kenntnisse waren für ein Großreich, wie das umaiyadische und später abbasidische Kalifat, von hoher Bedeutung und so verwundert es nicht, wenn an den Herrscherhöfen der ostislamischen Welt bereits im achten und frühen neunten Jahrhundert Übersetzungen sowie Bearbeitungen von griechischen und zu einem geringeren Teil auch lateinischen geografischen Werken stark gefördert wurden. Die islamische Welt war somit früh einerseits mit den de Vgl. Kennedy (Anm. 8), S. 231– 272; Obenaus (Anm. 9), S. 110 – 121. Juan Vernet Ginés, España en la Geografía de Ibn Sa̔īd al-Magribī, in: Tamuda. Revista de investigaciones marroquíes 6 (1958), S. 307– 326; Juan Vernet Ginés, Marruecos en la Geografía de Ibn Sa̔īd al-Magribī, in: Tamuda. Revista de investigaciones marroquíes 1 (1953), S. 245 – 263. Vgl. Obenaus (Anm. 9), S. 121– 129.
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skriptiven geografischen Schriften der Antike und andererseits durch die Übersetzung der Abhandlungen eines Klaudios Ptolemaios genauso mit einer stärker mathematisch geprägten Geografie und Kartografie vertraut. Auf diesem Fundament bauten muslimische Gelehrte ihr Wissen auf und konnten es im Laufe der Jahrhunderte durch Berichte aus der weiträumigen islamischen Welt sowie eigenständige Forschungsleistungen erweitern.¹⁵ Der Atlantik bildete dabei in den Vorstellungen sowohl des islamischen als auch des christlichen Kulturkreises während des Mittelalters den westlichen Teil eines riesigen, die gesamte bekannte – aus Europa, Afrika und Asien bestehende – Landmasse umgebenden Ozeans. Die östlichen Teile davon würde man nach heutigem Verständnis mit dem Indischen beziehungsweise Pazifischen Ozean identifizieren. Der am häufigsten verwendete Begriff für diesen alles Land umschließenden Ozean war laut den erhaltenen arabischen Quellen des Mittelalters al-baḥr al-muḥīṭ, also umfassender Ozean. Weitere von islamischen Geografen verwendete Bezeichnungen wie al-baḥr uqiyānūs al-muḥīṭ oder einfach nur al-baḥr uqiyānūs verweisen eindeutig auf das griechische Wort Ὠκεανός (Ōkeanós) und dürfen als Beleg für das antike Erbe gesehen werden.¹⁶ Zusätzlich verfügte die wortreiche arabische deskriptive Geografie aber auch über Begriffe wie al-baḥr al-muẓlim (dunkler Ozean), al-baḥr al-ẓulumāt (finsterer Ozean) oder auch al-baḥr al-aḫḍar (grüner Ozean), die manche muslimische Gelehrte austauschbar für al-baḥr al-muḥīṭ verwendeten.¹⁷ Bei anderen hingegen wurde damit eine genauere Unterteilung dieses umfassenden Ozeans vorgenommen. Gerade diesen zweiten Aspekt – eine Verfeinerung des Konzepts des Weltozeans – erkennt man eindeutig im ‚Kitāb al-ǧaʿrāffiya‘ des im zwölften Jahrhundert lebenden, vermutlich aus Almería stammenden Gelehrten al-Zuhrī.¹⁸ Er griff – laut eigener Aussage – dafür auf heute leider verlorene Vorlagen aus dem frühen neunten Jahrhundert zurück, die im Auftrag des abbasidischen Kalifen al-Maʾmūn in Bagdad entstanden waren. Diesem Konzept folgend ging al-Zuhrī davon aus, dass die gesamte bekannte Landmasse von einem umfassenden Ozean (al-baḥr al-muḥīṭ) umschlossen sei, wobei dieser wiederum von einem noch größeren, finsteren beziehungsweisen
Vgl. Evelyn Edson, Emilie Savage-Smith u. Anna-Dorothee von den Brinken, Der mittelalterliche Kosmos. Karten der christlichen und islamischen Welt, Darmstadt 2005, S. 90 – 91; Ahmet T. Karamustafa, Introduction to Islamic Maps, in: John B. Harley u. David Woodward (Hgg.), Cartography in the Traditional Islamic and South Asian Societies (The History of Cartography 2/1), Chicago, London 1992, S. 3 – 11, hier S. 4. So zum Beispiel bei den im späten neunten beziehungsweise frühen zehnten Jahrhundert tätigen ostislamischen Gelehrten Ibn Rustah und al-Masʿūdī. Siehe Ibn Ḫurdāḏbih, Ibn al-Faqīh al-Hamaḏānī u. Ibn Rustah, Description du Maghreb et de l’Europe au IIIe = IXe siècle. Extraits du Kitâb al-Masâlik wa’l Mamâlik, du Kitâb al-Buldân et du Kitâb al-A‛lâq an-nafîsa, hrsg. u. übers. v. Mahammed HadjSadok, Algier 1949, S. 67; al-Masʿūdī, Les prairies d’or, Bd. 1, übers. v. Charles Pellat, Paris 1962, S. 105 – 106. So zum Beispiel al-Masʿūdī. Siehe al-Masʿūdī (Anm. 16), S. 106. Al-Zuhrī, El mundo en el siglo XII, übers. v. Dolors Bramon, Sabadell 1991, S. 4– 7.
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schwarzen Ozean (al-baḥr al-ẓulumāt beziehungsweise al-baḥr al-aswad)¹⁹ umgeben wäre. Der Sinn hinter dieser Unterteilung erschließt sich aus al-Zuhrīs weiteren Erklärungen. So wird der äußere, finstere Ozean als im Prinzip unbekannt und für Schiffe unbefahrbar dargestellt, da es dort weder Wellengang noch Winde gibt und auch keine Sonne scheint. Der innere, das bekannte Festland umfassende Ozean hingegen ist durch Wellengang, Wind und Gezeiten bewegt und wird somit von der Schifffahrt genutzt. Die Ausdehnung dieses inneren, umfassenden Ozeans vom Festland bis zum Beginn des äußeren, finsteren Ozeans gibt al-Zuhrī mit rund 800 Parasangen, 2400 Meilen oder auch 420 Schiffstagesreisen bei günstigem Wind an.²⁰ Ohne Zweifel steckt hier also der andalusische Geograf einen Seefahrtsbereich am umfassenden Ozean – und somit auch am Atlantik – ab, der weit über das Konzept von Küstenschifffahrt hinausgeht. Von anderen muslimischen Geografen wurde der umfassende Ozean zusätzlich noch in Teilmeere untergliedert. Diese wurden laut dem ostislamischen Gelehrten alBīrūnī (973 – 1048) gerne nach den angrenzenden Festlandgebieten benannt.²¹ So findet sich in manchen geografischen Werken der Begriff al-baḥr al-maġrib, also Meer des Maghreb oder Meer des Westens, gelegentlich auch mit dem zuvor bereits erwähnten, durch das griechische Erbe beeinflussten Begriff al-baḥr uqiyānūs gleichgesetzt. Dieses Teilmeer des umfassenden Ozeans würde dabei am ehesten unserer modernen Idee des Atlantiks entsprechen. Über seine Ausdehnung merkt zum Beispiel Ibn Rustah im späten neunten Jahrhundert an, dass man von ihm nur die Küstenregionen von Abessinien (al-arḍ al-Ḥabaša)²² bis zur Bretagne (al-barṭīniya) kennt, wobei er trotzdem auch die Britischen Inseln (al-ǧazāʾir al-barṭīniya) erwähnt.²³ Bei späteren islamischen Geografen findet sich ein generell ähnlicher Kenntnisstand. Unterschiede zeigen sich jedoch einerseits in der Genauigkeit der beschriebenen Atlantikgebiete sowie andererseits zum Teil in der Ausdehnung. So reichen die groben Kenntnisse eines al-Idrīsī um die Mitte des zwölften Jahrhunderts Richtung Norden schon bis zu den Küsten Skandinaviens und Richtung Süden bis ungefähr zum Mündungsgebiet des Senegal.²⁴ Im Werk des ostislamischen Kompilators Šams al-Dīn al-Dimašqī (1256 – 1327) finden sich dann sogar vage Hinweise auf den Golf von Gui-
Al-Zuhrī verwendete diese Begriffe scheinbar austauschbar. Siehe al-Zuhrī (Anm. 18), S. 7. Vgl. Fuat Sezgin, Mathematische Geographie und Kartographie im Islam und ihr Fortleben im Abendland (Geschichte des arabischen Schrifttums 10/1), S. 126 – 129. Die zuletzt genannten Distanzangaben wurden in der Fachliteratur durchaus unterschiedlich umgerechnet mit Werten von 4800 km bis 3400 km. Dazu: Andreas Obenaus, Islamische Perspektiven der Atlantikexpansion. Islamische und christliche Atlantikerkundung im Mittelalter (Mittelmeerstudien 3/2), Wien, Berlin, 2013, S. 181. Al-Bīrūnī, In den Gärten der Wissenschaft, übers. v. Gotthard Strohmaier, Leipzig 1988, 2. verbesserte Aufl. Leipzig 1991, S. 86. Damit war ganz allgemein Subsahara-Afrika gemeint. Ibn Rustah (Anm. 16), S. 67. Al-Idrīsī (Anm. 12), S. 69 – 73, 458 – 464.
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nea.²⁵ Ab dem frühen 14. Jahrhundert floss dann aber kaum noch neues Wissen über den Atlantikraum in die geografischen Abhandlungen des islamischen Kulturkreises ein. Der vorhandene Kenntnisstand wurde in den heute bekannten spätmittelalterlichen Schriften generell nur mehr tradiert, während neue Konzepte bestenfalls aus lateinisch-christlichen Quellen übernommen wurden.²⁶
4 Geheimnisse, Gefahren und Wunder des Atlantiks Es sind vor allem die deskriptiven geografischen Schriften der mittelalterlichen islamischen Welt, die mit Informationen über den Atlantik aufwarten – oft als Teilaspekt der Darstellung des Systems der Weltmeere oder auch in Verbindung mit der Beschreibung seiner afrikanischen und europäischen Küstengebiete. Bei der Lektüre dieser Texte fällt einem aber rasch auf, wie stark hier wissenschaftliche Fakten und reale Geschehnisse mit mythischen Erzählungen und Aberglauben in Verbindungen treten. Der französische Mediävist und Islamwissenschaftler Christophe Picard bezeichnete daher in seinem 1994 erschienen Artikel „Récits merveilleux et réalité d’une navigation en Océan atlantique chez les auteurs musulmans“ diese Erzählungen sehr treffend als „un mélange tres ‚médiéval‘, si l’on peut dire, de réalités et de faits imaginaires.“²⁷ Der Grund für diese Mischung liegt sicher zu einem Teil im Unwissen über diesen Ozean begründet, ist aber andererseits auch mit dem literarischen Genre dieser Texte verknüpft. So gehört ein Großteil der deskriptiven geografischen Schriften der mittelalterlichen islamischen Kultur dem breiten Spektrum der adab-Literatur an, der es nicht nur darum ging, reines Fachwissen zu vermitteln, sondern Bildung für eine Leserschaft gehobener Herkunft in einer ansprechenden, durchaus unterhaltsamen Form zu vermitteln. Dabei kam dem Aspekt der Wunder, arabisch ʿaǧāʾib, bei vielen muslimischen Autoren und vor allem Kompilatoren deskriptiver geografischer Werke eine wichtige Rolle zu, so dass dieser Begriff oft bereits im Titel der Werke²⁸ auftrat und heute mitunter als Bezeichnung für ein eigenes Genre von arabischen Wundererzählungen Verwendung findet. Geheimnisse, Gefahren und Wunder bilden also bei der Mehrzahl an relevanten Quellen einen integralen Bestandteil. Dabei siedelten die Verfasser diese Erzählungen natürlich am einfachsten dort an, wo das konkrete
Al-Dimašqī, Manuel de la Cosmographie du Moyen Âge, übers. v. August Ferdinand Mehren, Kopenhagen 1874, ND Amsterdam 1964, S. 172– 173. Siehe dazu unter anderem den Schlussteil des Kapitels über reale und fiktive Atlantikinseln. Christophe Picard, Récits merveilleux et réalité d’une navigation en Océan Atlantique chez les auteurs musulmans, in: Miracles, prodiges et merveilles au Moyen Âge. XXVe congrès de la S.H.M.E.S, Paris 1995, S. 75 – 87, hier S. 76. Als zwei Beispiele ließen sich hier die geografischen Schriften ‚Kitāb al-mu̔rib̔an ba̔ḍ ῾ağāʾib almaġrib’ des Granadiners Abū Ḥ āmid al-Ġarnāṭī (ca. 1080 – 1170) oder auch ‚Nuḫbat al-dahr fī ῾ağāʾib albarr wa al-baḥr’ des Damaszeners Šams al-Dīn al-Dimašqī (1256 – 1327) anführen.
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Wissen sowieso eher dünn war, also an den Grenzen der ‚bekannten Welt‘ und somit nicht nur, aber gerade auch im Atlantikraum.²⁹ Die Geheimnisse des Atlantiks waren laut den arabischen geografischen Quellen von unterschiedlicher Natur. Sie ergaben sich aber grundsätzlich aus dem geringen Wissen über die Ausdehnung und Beschaffenheit dieses Ozeans als auch die seiner Festlandküsten und möglichen Inselwelten. Ein weitverbreiteter Topos der arabischen geografischen Literatur zum westlichen Ozean findet sich dabei in der Warnung vor seinen Gefahren. Diese wurden zwar selten ausführlich beschrieben, umfassten laut al-Bīrūnī und al-Dimašqī aber Dunkelheit, Nebel, widrige Wind- und Strömungsverhältnisse sowie das Unwissen über günstige Fahrtrouten.³⁰ Die Warnung davor ist beziehungsweise war laut den Autoren hingegen durchaus gegenständlich sichtbar und zwar in Form von einer oder auch mehreren Säulen, Stelen, Figuren oder gar Leuchttürmen, die in mythischen oder antiken Zeiten von Herakles beziehungsweise Alexander dem Großen an den Ufern des Atlantiks oder auch auf einigen vorgelagerten Inseln errichtet wurden, um den Seeleuten anzuzeigen, dass hier die Grenze des bekannten und schiffbaren Meeres liegt.³¹ Aus eigener Anschauung war aber keinem der Autoren so eine Säule bekannt, da diese sich entweder an entlegenen Orten befanden oder nicht mehr existierten. So verfügte auch Cadíz nach einhelliger Meinung über eine solche Säule, die laut al-Zuhrī eher einem Leuchtturm mit einer Statue an der Spitze glich und angeblich im Jahr 1145/46 im Zuge der Aufstände gegen die Herrschaft der Almoraviden zerstört worden war. Al-Zuhrī ist auch der einzige muslimische Geograf, der in diesem Leuchtturm von Cadíz weniger eine Warnung vor den Gefahren des Atlantiks und eine Begrenzung für die Seefahrt sah, als mehr eine Navigationshilfe für Schiffe, die vom Mittelmeerraum kommend in südlicher Richtung die Atlantikhäfen des Maghreb oder in nördlicher Richtung jene der Iberischen Halbinsel ansteuerten.³² Diesen warnenden Hinweisen vor den Gefahren des westlichen Ozeans stehen nun andererseits Erzählungen über seine Wunder gegenüber, die sich oft eingebettet in Tatsachenberichte über seine bekannten Küstengebiete und Atlantikhäfen wiederfinden. So sollen laut verschiedenen muslimischen Autoren an den Atlantikküsten wertvolle Substanzen, wie Ambra, Gold, Aetit sowie diverse magische Steine, in großen Mengen und guter Qualität zu finden sein.³³ Andere wiederum, wie al-Zuhrī, berichten über scheinbar reale Geschehnisse, wie den Thunfischfang der Seeleute von
Vgl. Picard (Anm. 27), S. 75 – 76. Vgl. al-Bīrūnī, The Book of Instruction in the Elements of the Art of Astrology, hrsg. u. übers. v. Robert Ramsay Wright, London 1934, S. 121; al-Dimašqī (Anm. 25), S. 172– 173. Für die Errichtung dieser Säulen durch Herakles sprechen sich zum Beispiel al-Masʿūdī und alBīrūnī aus. Siehe al-Masʿūdī (Anm. 16), S. 105 – 106; al-Bīrūnī (Anm. 21), S. 86 – 87. Im Gegensatz dazu nennt al-Idrīsī Alexander den Großen als Erbauer. Siehe al-Idrīsī (Anm. 12), S. 98 – 99. Al-Zuhrī (Anm. 18), S. 160 – 161. Vgl. al-Bakrī, Geografia de España – Kitāb al-masālik wa-l-mamālik, übers. v. Eliseo Vidal Beltrán, Zaragoza 1982, S. 38; al-Idrīsī (Anm. 12), S. 99 – 100; al-Dimašqī (Anm. 25), S. 174– 175.
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Tarifa, um dieser Erzählung jedoch auch eine fantastische Note in Form eines diese Fische anziehenden Amulettes beizufügen.³⁴ Gänzlich in die Welt des Fantastischen und der Wunder gleiten dann manche muslimische Gelehrte ab, wenn sie über mythische Atlantikinseln oder weiter entfernte Küstenregionen berichten. Hier nehmen plötzlich auch Zauberer, Monster und sonstige Fabelwesen ihren fixen Platz ein – oft jedoch mit einem dezenten Hinweis auf bereits lange vergangene Zeiten.³⁵
5 Reale und fiktive Atlantikinseln In allen bedeutenden geografischen Schriften des mittelalterlichen islamischen Kulturkreises finden sich Berichte über Inseln im westlichen Ozean. Der Atlantik war für die überwiegende Mehrheit der islamischen Gelehrten trotz seiner enormen Ausdehnung zweifellos kein ‚leerer‘ Ozean. So gibt al-Idrīsī – sich dabei auf das Werk des Klaudios Ptolemaios stützend – die Anzahl der Atlantikinseln sogar mit 27 000 an. Manche dieser Inseln waren laut seiner Aussage bewohnt, andere hingegen unbewohnt,³⁶ wobei von ihm aber nur ein geringer Bruchteil tatsächlich beschrieben wurde. Zu dieser enormen Zahl an Atlantikinseln gehörten – aus heutiger Sicht gesprochen – einerseits real existierende nordwesteuropäische Inseln, wie Irland oder Großbritannien, über die man verglichen mit den Gelehrten des christlichen Abendlandes aber viel schlechter informiert war, als auch andererseits verschiedene, angeblich der Iberischen Halbinsel und dem nordwestlichen Afrika vorgelagerte Inseln, bei denen sich mehrheitlich fantastische Berichte mit einigen möglicherweise konkreten Informationen mischten. Zu den typischen Vertretern dieser mythischen Atlantikinseln in mittelalterlichen arabischen Quellen zählen die sogenannten ǧazāʾir al-ḫālidat (ewige Inseln), ǧazāʾir al-saʿādāt oder auch ǧazāʾir al-suʿāda (glückselige Inseln). Diese leiteten sich von antiken Vorstellungen von sagenhaften, durch eine üppige Vegetation und ein angenehmes Klima gesegnete Inseln westlich von Afrika oder der Iberischen Halbinsel her. In griechischen und lateinischen Quellen wurden sie zumeist als Μακάρων νῆσοι (Makárōn nȇsoi) oder Fortunatae Insulae bezeichnet. Sie bestanden laut Plinius Secundus (erstes Jahrhundert) und Ptolemaios (zweites Jahrhundert) aus insgesamt sechs Inseln und stellten den westlichsten Ort der damals vermeintlich bekannten Welt dar. Dass in diesen Erzählungen frühe, wenn auch sehr vage, Kenntnisse von den Kanaren
Al-Zuhrī, Kitāb al-ǧa̔rāfiyya, hrsg. v. Mahammed Hadj-Sadok, in: Bulletin d’études orientales 21 (1968), S. 7– 312, hier S. 185; Vgl. dazu Picard (Anm. 27), S. 83 – 84. Speziell al-Idrīsī berichtet in seinem ‚Nuzhat al-muštāq’ von einigen solcher mythischen Atlantikinseln mit Monstern und Fabelwesen. Siehe al-Idrīsī (Anm. 12), S. 125 – 129. Siehe al-Idrīsī (Anm. 12), S. 129.
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oder vom Madeira-Archipel verarbeitet wurden, wird in der modernen Forschung allgemein akzeptiert.³⁷ Die frühe islamische Geografie übernahm die antiken Vorstellungen von solchen mythischen Atlantikinseln zur Gänze und auch unreflektiert. Dies verwundert kaum, wenn man bedenkt, dass alle heute noch erhaltenen frühen islamischen geografischen Abhandlungen von ostislamischen Gelehrten stammen, die den Atlantik nicht aus eigener Anschauung kannten. So werden diese Inseln der Glückseligen unter den hier noch austauschbaren Bezeichnungen ǧazāʾir al-ḫālidat, ǧazāʾir al-saʿādāt oder auch ǧazāʾir al-suʿāda zum Beispiel von den ostislamischen Gelehrten Ibn Ḫuradāḏbih, Ibn Rustah oder al-Masʿūdī erwähnt und zum Teil kurz beschrieben.³⁸ Selbst noch der aus dem andalusischen Huelva-Saltés stammende al-Bakrī verließ sich primär auf lateinische Vorlagen, wobei er diese Inseln sogar Furṭunātaš nennt, was einer arabischen Variante des lateinischen Namens gleichkommt.³⁹ Erst mit dem Werk al-Idrīsīs ändert sich dieses Bild. Die Anzahl der beschriebenen Atlantikinseln nimmt bei ihm, wie zuvor bereits erwähnt, enorm zu und eigene arabische Namen und Erzählungen, die nicht aus antiken Werken stammen, sind klar erkennbar. Die von ihm ǧazāʾir al-ḫālidat benannten Inseln der Glückseligen sind zwar weiterhin antiken Vorgaben folgend sechs an der Zahl und finden sich über den Atlantikraum vom heutigen Senegal bis Marokko verstreut. Darüber hinaus tauchen in seinem Werk aber auch weitere Inseln auf, die speziell im Abschnitt über die atlantische Küstenzone des Maghreb erwähnt werden und ganz klar mit ʿaǧāʾib, also Wundern und Kuriositäten, in Zusammenhang stehen. So beschreibt er unter anderem eine ‚Insel der Menschenfresserinnen‘ (ǧazīrat al-saʾālī), auf der menschenartige Kreaturen leben, die mit Meeresungeheuren zu kämpfen haben, weiters eine bewohnte ‚Insel der Flehenden‘ (ǧazīrat al-mustaškīn), die in alten Zeiten von einem Drachen heimgesucht wurde, der jedoch von Alexander dem Großen auf Bitten der Bevölkerung zur Strecke gebracht wurde, oder eine ‚Insel der zwei magischen Brüder‘ (ǧazīrat al-aḫwayn al-sāhirayn), auf der zwei mit Zauberei vertraute Brüder lebten, die Piraterie in den umliegenden Gewässern betrieben und zur Strafe von Gott in Felsklippen verwandelt wurden.⁴⁰ Weitere Inseln im Werk des al-Idrīsī, wie eine ‚Insel der Vögel‘ (ǧazīrat al-ṭuyūr) oder eine ‚Insel der Schafe‘ (ǧazīrat al-ġanam) lassen auch Parallelen zu Berichten über sagenhafte Atlantikinseln aus dem christlichen Europa, wie aus dem Erzählkreis über die Atlantikfahrten des Heiligen Brendan, erkennen.⁴¹ Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Passagen, die auf solche Wundererzäh-
Vgl. Antonio Santana Santana u. a., El conocimiento geográfico de la costa noroccidental de África en Plinio: la posición de las Canarias, Hildesheim, Zürich, New York 2002; Biedermann (Anm. 1), S. 6 – 7; Obenaus (Anm. 20), S. 186 – 189. Ibn Ḫurdāḏbih, Ibn al-Faqīh al-Hamaḏānī u. Ibn Rustah (Anm. 16), S. 15, 67; al-Masʿūdī (Anm. 16), S. 75. Al-Bakrī (Anm. 11), S. 214. Al-Idrīsī (Anm. 12), S. 69, 98 – 99, 125 – 129. Vgl. Picard (Anm. 27), S. 79.
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lungen verzichten und zu weiten Teilen real wirken. Dazu gehört al-Idrīsīs Bericht über die Abenteurer von Lissabon und deren Erkundung von Atlantikinseln⁴², auf die im nachfolgenden Kapitel noch näher eingegangen wird, oder auch seine Erwähnung einer geplanten, aber im Endeffekt nicht durchgeführten Flottenexpedition während der Herrschaft des almoravidischen Herrschers ʿAlī ibn Yūsuf ibn Tāšfīn (1106 – 1143), die eine Insel vor der Küste der heute marokkanischen Hafenstadt Safi zum Ziel gehabt hätte.⁴³ Solche Mitteilungen nähren die Vermutung, dass man um die Mitte des zwölften Jahrhunderts in den Atlantikhäfen des Maghreb doch vielleicht konkrete Kenntnisse von den Kanaren oder der Madeiragruppe hatte. Ein weiteres, von den antiken und frühislamischen Vorlagen abweichendes Bild der Atlantikinseln findet sich rund ein Jahrhundert nach al-Idrīsī auch im Werk des Ibn Sa̔īd al-Maġribī. Bei ihm treten zum ersten Mal die Begriffe ǧazāʾir al-ḫālidat und ǧazāʾir al-saʿādāt nicht mehr als austauschbare Bezeichnungen für ein und dieselbe Inselgruppe auf. So berichtet er – ganz den antiken Vorgaben folgend – zwar von sechs Inseln, die zu den ǧazāʾir al-ḫālidat gehören, erwähnt aber gleich im Anschluss auch 24 Inseln der ǧazāʾir al-saʿādāt, die laut seiner Aussage zwischen der nordwestafrikanischen Festlandküste und den ǧazāʾir al-ḫālidat liegen. Weitere Informationen zu diesen hier offensichtlich unterschiedlichen Inselgruppen gibt Ibn Sa̔īd alMaġribī jedoch nicht, da man – laut seiner eigenen Aussage – nur Legenden über diese erzählt.⁴⁴ Mit dem späten 13. beziehungsweise frühen 14. Jahrhundert setzte – parallel zum Niedergang des islamischen Atlantikraums – schließlich eine gänzlich neue Phase im Hinblick auf fiktive oder auch reale Kenntnisse von Inselwelten im westlichen Ozean ein. Es waren nun nicht mehr nur islamische Seeleute, die diese Regionen des Atlantiks befuhren, sondern zunehmend auch solche aus dem christlichen Europa. Diese begannen spätestens um die Mitte des 14. Jahrhunderts die Kanaren und vielleicht auch schon den Madeira-Archipel zu erforschen und versuchten, manche dieser Inseln bereits in Besitz zu nehmen.⁴⁵ Der muslimischen Welt blieb diese christliche Expansion natürlich nicht verborgen. So berichtet der aus Tunis stammende Universalgelehrte Ibn Ḫaldūn (1332– 1406), dass um die Mitte des 14. Jahrhunderts christliche Seeleute die ǧazāʾir al-ḫālidat erreichten, die Einheimischen⁴⁶ bekämpften, aus-
Al-Idrīsī (Anm. 12), S. 267– 268. Ebd., S. 128. Englische Übersetzung der Quellenstelle nach Ibn Sa̔īd al-Maġribī in Nehemia Levtzion u. John F. P. Hopkins (Hgg.), Corpus of Early Arabic Sources for West African History, Cambridge 1981, ND 3. Aufl. Princeton 2011, S. 183 – 184; Vgl. Juan Vernet Ginés, Textos arabes de viajes por el Atlántico, in: Anuario de Estudios Atlánticos 17 (1971), S. 401– 427, hier: S. 412; Obenaus (Anm. 20), S. 195. Vgl. Obenaus (Anm. 20), S. 271– 303; Biedermann (Anm. 1), S. 6 – 7. Die Hauptinseln der Kanaren waren wahrscheinlich bereits in prähistorischen Zeiten von Berbern aus Nordwestafrika besiedelt worden, wobei beschränkter Zuzug auch noch während der Antike und des Mittelalters erfolgt sein könnte. Vgl. dazu David Abulafia, The Discovery of Mankind. Atlantic Encounters in the Age of Columbus, New Haven, London 2008, S. 51– 54; Obenaus (Anm. 20), S. 273 – 274.
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raubten und in Folge als Sklaven an der maghrebinischen Atlantikküste verkauften.⁴⁷ Dabei lassen sich aus dieser Erwähnung des Ibn Ḫaldūn zwei klare Schlüsse ziehen. Einerseits waren mit den ǧazāʾir al-ḫālidat der islamischen Geografie spätestens zu dieser Zeit eindeutig die Kanaren gemeint. Andererseits hatten christliche Seeleute ihre islamischen Kollegen bei der Erforschung des Atlantiks nun endgültig überflügelt.
6 Erzählungen von Atlantikerkundungen Hochseefischerei, Seehandel, Piraterie und maritime Kriegszüge bilden jene Aktivitäten muslimischer Seeleute, die mit Hilfe der erhaltenen arabischen und zum Teil lateinischen Quellen aus dem Zeitraum vom neunten bis zum 14. Jahrhundert im bekannten Atlantikraum vor den Küsten Marokkos und der Iberischen Halbinsel eindeutig nachweisbar sind. Ein weiterer Aspekt, nämlich jener der Erforschung dieses Ozeans über diese regulär genutzten Seefahrtszonen hinaus, spielt jedoch ebenso eine gewisse, wenn auch viel bescheidenere Rolle in den deskriptiven geografischen Schriften des islamischen Kulturkreises. Berichte von Erkundungsfahrten finden sich gelegentlich als Beiwerk in den Kapiteln zum westlichen Teil des umfassenden Ozeans und seinen Inselwelten und warten ebenso häufig mit Erwähnungen von Geheimnissen und Wundern auf. Selten werden dabei von den Autoren zeitgenössische Ereignisse beschrieben. Hinweise auf Informanten, Quellen oder gar eine grobe zeitliche Einordnung fehlen zumeist gänzlich. Zumindest lassen sich diese Erzählungen aber grundsätzlich in zwei große Gruppen einteilen. Einerseits wird von beabsichtigten Fahrten, die der Erforschung des Atlantiks oder offiziellen Missionen auf diesem Ozean dienten, berichtet und andererseits von unbeabsichtigten Fahrten, die durch schlechte Sichtverhältnisse, Sandbänke oder Unwetter zu Stande kamen. Der älteste, heute bekannte Hinweis in einem arabischen Werk auf eine beabsichtigte Atlantikerkundung stammt aus einer ostislamischen Quelle. Es handelt sich dabei um das Mitte des zehnten Jahrhunderts fertiggestellte ‚Murūǧ al-ḏahab‘ des alMasʿūdī. Dieser erwähnt darin beiläufig, Kenntnis von verschiedenen erfolgreichen, als auch gescheiterten Entdeckungsfahrten am Atlantik zu haben, die er angeblich in einem anderen seiner Werke namens ‚Aḫbār al-zamān‘, das jedoch nicht erhalten ist, genauer beschrieben hat. Als Beispiel führt er kurz eine Atlantikfahrt einiger junger Leute aus Córdoba unter der Führung eines gewissen Ḫašḫāš an, die laut seiner Aussage nach einiger Zeit am Atlantik wohlbehalten und mit Beute beladen zurückkehrten. Details über diese Erkundungsfahrt liefert al-Masʿūdī jedoch nicht. Lapidar merkt er nur an, dass diese Erzählung allen Bewohnern von al-Andalus bekannt ist.⁴⁸
Ibn Ḫaldūn, The Muqaddimah. An Introduction to History, Bd. 1, übers. v. Franz Rosenthal, London 1958, S. 116 – 117. Al-Masʿūdī (Anm. 16), S. 106.
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Umfangreicher und auch konkreter sind hingegen zwei Erzählungen aus dem ‚Nuzhat al-muštāq‘ des al-Idrīsī. Eine davon berichtet von der Atlantikerkundung von acht Abenteurern aus Lissabon, die in westlicher Richtung am Atlantik zuerst eine Insel, auf der nur Schafe existierten, erreichten und dann in Folge in südlicher Richtung eine von Menschen bewohnte vorfanden. Von den nicht Arabisch sprechenden Inselbewohnern wurden die Abenteurer gefangen genommen. Nach kurzer Zeit ließ man sie aber wieder frei und brachte sie sogar mit einem Boot an die maghrebinische Küste in die Gegend von Safi.⁴⁹ Eine konkrete Datierung oder auch Hinweise auf die Quellen seiner Erzählung fehlen bei al-Idrīsī. Trotzdem wurde dieser Bericht in der historischen Forschung oft angeführt, jedoch kontrovers diskutiert. So weist gerade der letzte Teil der Erzählung eher auf reine Fiktion hin. Eigenständige Kontakte der Kanarenbewohner mit dem maghrebinischen Festland gelten nämlich für den Zeitraum des Mittelalters als unwahrscheinlich. Weiters wurde auch die Erwähnung der Schafsinsel wiederholt als Entlehnung aus dem christlichen Sagenkreis um die Atlantikfahrten des Heiligen Brendan interpretiert. Die grundlegenden geografischen Angaben hingegen wurden von manchen HistorikerInnen als vage Kenntnis vom maghrebinischen Atlantikraum gesehen. Dabei wäre die Schafsinsel als Hinweis auf den Madeira-Archipel und die bewohnte Insel als Teil der Kanarengruppe zu verstehen.⁵⁰ Die zweite Erzählung von al-Idrīsī wurde bereits weiter oben angesprochen. Es handelt sich um den Hinweis auf eine geplante, aber im Endeffekt nicht durchgeführte almoravidische Flottenexpedition vom Hafen von Safi aus zu einer nicht näher identifizierbaren Atlantikinsel.⁵¹ Dieses für al-Idrīsī zeitgenössische Ereignis scheint ein kurzes Schlaglicht auf die aktuellen Kenntnisse islamischer Seeleute von Atlantikinseln westlich der Festlandküste des Maghreb zu werfen. Aufgrund des Nichtzustandekommens des Unternehmens fehlen aber weitere Details. Von Ibn Diḥya (ca. 1150 – 1235), einem Gelehrten aus Valencia, stammt schließlich noch ein längerer Bericht über die Reise eines andalusischen Diplomaten namens al-Ġazāl Richtung Norden. Es wird erzählt, dass diese Fahrt aufgrund der Wikingerüberfälle auf al-Andalus im Jahr 844 unternommen wurde. Dabei soll al-Ġazāl von dem an der Algarve gelegenen Hafenort Silves aus über den Atlantik Richtung Norden bis an den Hof eines Wikingerherrschers und in Folge auch wieder zurück gelangt sein.⁵² Dieser Bericht Al-Idrīsī (Anm. 12), S. 267– 269. Deutsche Übersetzung in Alfred Schlicht, Al-Idrīsīs Beschreibung einer Entdeckungsfahrt auf dem Atlantik (vor 1147), in: Charles Verlinden u. Eberhard Schmitt (Hgg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 1), München 1986, S. 37– 40, hier S. 38 – 40. Vgl. Richard Hennig, Terrae incognitae. Eine Zusammenstellung und kritische Bewertung der wichtigsten vorkolumbianischen Entdeckungsreisen an Hand der darüber vorliegenden Originalberichte, 200 – 1200 n.Chr. Bd. 2, 2. verbesserte Aufl. Leiden 1950, S. 427– 432; Picard (Anm. 27), S. 77– 78; Schlicht, (Anm. 49), S. 37– 38. Al-Idrīsī (Anm. 12), S. 128. Deutsche Übersetzung dieser Erzählung in: Georg Jacob (Hg.), Arabische Berichte von Gesandten an germanische Fürstenhöfe aus dem 9. und 10. Jahrhundert, Berlin, Leipzig 1927, S. 37– 42.
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wurde in der Forschung ähnlich kontrovers diskutiert wie jener zu den Abenteurern von Lissabon. Speziell die große zeitliche Distanz zwischen dieser diplomatischen Mission und der Abfassung des Berichts darüber sowie die Ähnlichkeiten mit einer weiteren Erzählung über eine diplomatische Mission des al-Ġazāl nach Konstantinopel ließen Zweifel am Wahrheitsgehalt aufkommen. Dennoch treten so gut wie keine rein fiktiven Elemente in dieser Erzählung auf. Namhafte Experten, wie Christophe Picard, sind deswegen auch der Meinung, dass diese Seereise durchaus stattgefunden haben könnte, wobei er als mögliches Ziel Dänemark nennt.⁵³ Zu den Erzählungen von unbeabsichtigten Atlantikerkundungen, die durch Natureinflüsse zu Stande kamen, zählen vor allem drei Berichte. Der älteste stammt vom Ibn Saʿīd al-Maġribī (1213 – 1286) und handelt von einem gewissen Ibn Fāṭima, der – möglicherweise zu Lebzeiten des Autors – von Nūl Lamṭa, einem Hafenort weit im Süden des heutigen Marokko, aus in See stach. Durch Dunkelheit und Sandbänke wurde sein Schiff vom Kurs abgebracht. Man musste schließlich in ein Beiboot wechseln und irrte am Atlantik umher. Erst in einer großen Bucht bei einem leuchtenden Berg erreichte man das Festland. Dort traf man auf Berber vom Stamm der Ğudāla, bei denen die Seeleute einige Zeit blieben, bis sie wieder Richtung Norden nach Nūl Lamṭa zurückkehren konnten. Eine Identifikation dieses leuchtenden Berges mit den Kalkklippen des Kap Blanc im heutigen Grenzgebiet zwischen Westsahara und Mauretanien wurde in der Forschung wiederholt vorgeschlagen. Gestützt wird diese Vermutung durch die Erwähnung von Sandbänken, die sich in der Nähe dieses Kaps befinden, als auch von Berbern vom Stamm der Ğudāla, deren Siedlungsgebiete im heutigen Mauretanien lagen. Dennoch weist diese Erzählung auch wundersame Elemente auf. So soll unter anderem der leuchtende Berg laut Auskunft der einheimischen Berber aus Giftschlangen bestanden haben.⁵⁴ Von al-Dimašqī (1256 – 1327) wiederum ist ein kurzer Bericht über eine unbeabsichtigte Fahrt von Seeleuten aus al-Andalus zu den ǧazāʾir al-saʿādāt erhalten. Diese Erzählung ist dabei sehr allgemein gehalten und enthält weder Hinweise zur Datierung noch zum konkreten Abfahrtsort, den beteiligten Personen, der Fahrtroute, der Dauer oder ähnlichem. Grundsätzlich berichtet al-Dimašqī aber, dass andalusische Seeleute während eines Unwetters die Orientierung verloren und zu den Inseln der Glückseligen verschlagen wurden. Diese erforschten sie und traten dabei in Kontakt mit den Einheimischen. Nach einem kurzen Aufenthalt gelang ihnen unter vielen Mühen, dafür aber mit wertvoller Fracht beladen, die Rückkehr nach al-Andalus. Dort wurden aufgrund ihrer Erzählungen weitere Schiffe ausgerüstet, die diese Inseln suchen sollten, wobei keines davon erfolgreich war.⁵⁵ Von al-ʿUmārī (1301– 1349) schließlich stammt die letzte hier relevante Erzählung. Dabei handelt es sich um die Erwähnung einer weiteren unwetterbedingten Fahrt, die Vgl. Picard (Anm. 5), S. 33 – 34; Picard (Anm. 27), S. 78. Siehe Vernet Ginés (Anm. 44), S. 412– 414.Vgl. Obenaus (Anm. 20), S. 230 – 239; Picard (Anm. 5), S. 34– 35. Al-Dimašqī (Anm. 25), S. 176.
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einem gewissen Muḥammad ibn Rāġano, einem Bewohner der andalusischen Hafenstadt Almería und scheinbar einem Zeitgenossen von al-ʿUmarī, widerfuhr. Dieser war in Handelsgeschäften zu einem nicht näher genannten Atlantikhafen des Maghreb unterwegs, wobei sein Schiff aufgrund eines Unwetters weit in den Süden abgetrieben wurde. Als man schließlich bei einem Küstenort an Land gehen konnte, merkte man, dass die Bevölkerung dort bereits nur mehr aus Schwarzen bestand. Mit ihrer Hilfe konnte man dann aber über den Landweg und in mehreren Etappen wieder bis in den Maghreb und ans Mittelmeer zurückreisen.⁵⁶ Sollte diese Erzählung, die relativ frei von rein fiktiven Elementen ist, tatsächlich zutreffen, dann hätte dieser Kaufmann aus Almería zumindest die Gebiete um das zuvor bereits erwähnte Kap Blanc und die Bucht von Arguin erreicht – also jene Gebiete, in denen rund ein Jahrhundert später portugiesische Seeleute zum ersten Mal auf eine vornehmlich schwarze Bevölkerung stoßen sollten.⁵⁷
7 Schlussbetrachtungen Der Atlantik, als westlicher Teil eines umfassenden oder auch dunklen Ozeans, wurde in der mittelalterlichen islamischen deskriptiven Geografie gerne als ein unbekannter, gefährlicher und schwer zu befahrender Ozean dargestellt – voller Geheimnisse, Wunder und Kuriositäten. Dieses Bild, das primär ostislamische Gelehrte auf antiken Vorgaben beruhend bereits in frühislamischer Zeit geprägt hatten, wurde auch im westislamischen Raum weiter tradiert. Dem entgegen stehen jedoch verschiedene kurze Berichte über eine sich schrittweise entwickelnde islamische Atlantikseefahrt und Atlantikerkundung, die speziell in westislamischen Quellen des Hochmittelalters heute bruchstückhaft erkennbar ist. Eine Art regulär genutzter islamischer Atlantikraum, in dem Küstenschifffahrt vorherrschte, nahm dabei schon ab dem frühen 8. Jahrhundert Gestalt an, wobei die am besten dokumentierte Phase vom neunten bis zum 13. Jahrhundert andauerte. In diese Blütezeit fällt auch die größte Ausdehnung der islamisch dominierten Seefahrtzone am Atlantik, die laut den erhaltenen schriftlichen Quellen zumindest von den Mündungen des Douro und Tejo auf der Iberischen Halbinsel bis zu jenen des Wādī Nūn und des Wādī Dra̔a im südwestlichen Maghreb reichte. Bedeutende Hafenorte entwickelten sich und florierten zu dieser Zeit im Westen der islamischen Welt. Zu ihnen zählten in al-Andalus unter anderem Lissabon, Alcácer do Sal, Silves, Faro, Huelva-Saltés, Sevilla, Cádiz oder Algeciras, von denen einige ab dem beginnenden Spätmittelalter noch eine wichtige Rolle im Rahmen der Frühphase der europäischen Atlantikexpansion spielen sollten. Südlich davon setzten im westlichen Maghreb
Al-῾Umarī, Masālik el abṣār fi mamālik el amṣār – L’Afrique, moins l’Égypte, übers. v. Maurice Gaudefroy-Demombynes, Paris 1927, S. 82– 83. Vgl. Obenaus (Anm. 20), S. 308 – 309.
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Hafenorte wie Ceuta, Tanger, Asilah, Salé, Safi, Essaouira oder im äußersten Süden auch Nūl Lamṭa, nahe dem heutigen Guelmim, diese islamische Atlantikfassade fort. Schriftliche Hinweise auf eine Erforschung des Atlantiks über diese regelmäßig von islamischen Seeleuten genutzte Zone hinaus sind hingegen spärlich und neigen zum Geheimnisvollen und Sagenhaften. Eine Unterscheidung zwischen reiner Fiktion – im Sinne von unterhaltsamen Wundererzählungen für die gebildete Leserschaft dieser meist geografischen Abhandlungen – und realen Elementen fällt dabei schwer. Nach Norden hin bestätigen aber nicht nur arabische, sondern auch lateinische Quellen das wiederholte Auftauchen von islamischen Kriegs- und Piratenflotten im Golf von Biskaya,⁵⁸ während vereinzelte Kontakte zur See bis zu den Küstengebieten Nordeuropas aufgrund des Berichts über die Gesandtschaftsreise des al-Ġazāl zumindest möglich scheinen. Richtung Süden war die islamische Welt durch zahlreiche Karawanenrouten mit Subsahara-Afrika gut verbunden. Der Seeweg entlang der nordwestafrikanischen Küste war aufgrund widriger Meeresströmungen, ungünstiger Windverhältnisse sowie dem Fehlen von geeigneten Ankerplätzen und bedeutenden küstennahen Siedlungen vom Wādī Dra̔a bis zur Bucht von Arguin äußerst unattraktiv.⁵⁹ So darf es nicht verwundern, wenn nur zwei erhaltene Quellenstellen über unbeabsichtigte Fahrten dorthin, möglicherweise bis zum Kap Blanc, berichten. Der Atlantik Richtung Westen schließlich ist jenes Gebiet, das am meisten Raum für Spekulationen lässt. Eine gewisse Kenntnis von und sporadische Kontakte mit Inseln der Kanarengruppe oder des Madeira-Archipels durch islamische Seeleute liegen aufgrund der nautischen Fähigkeiten und geografischen Gegebenheiten im Bereich des Möglichen, werden aber durch sagenhafte Berichte über diverse Inseln vor der Küste des Maghreb nicht ausreichend fundiert. Sollten diese Inseln durch islamische Seeleute während des Mittelalters tatsächlich mitunter angelaufen worden sein, dann stellten sie aber offensichtlich kein ausreichend lohnendes Ziel dar.⁶⁰ Zu einer dau So beklagt die im frühen zwölften Jahrhundert verfasste ‚Historia Compostelana’ wiederholte muslimische Piratenangriffe aus den Hafenorten Sevilla, Huelva-Saltés, Silves und Lissabon auf die christlichen Atlantikküsten von Galicien bis zu den Pyrenäen. Siehe Historia Compostelana, hrsg. v. Emma Falque, Madrid 1994, S. 244– 245, 339. Vgl. Christophe Picard, L’éventualité de relations maritimes musulmanes dans l’océan Atlantique (IXe-XIIIe siècles), in: Afrique du Nord antique et médiévale. Spectacles, vie portuaire, religions. Actes du Ve colloque international sur l’histoire et l’archéologie de l’Afrique du Nord, Paris 1992, S. 409 – 416, hier S. 409. Im Gegensatz dazu bildeten die neu- oder wiederaufgefundenen Kanaren und der Madeira-Archipel für christliche Seeleute und Entdecker des Spätmittelalters einen nicht unwichtigen Zwischenstopp auf ihrer Suche nach sagenhaften Orten – wie der Mündung eines ‚Goldflusses’ – entlang der westafrikanischen Atlantikküste. Dazu u. a. Gisela Schmitt, Die Suche des Katalenen Jacme Ferer nach dem Goldfluss an der westafrikanischen Küste (1346), in: Charles Verlinden u. Eberhard Schmitt (Hgg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 1), München 1986, S. 53 – 55; Pierre Bontier u. Jean Le Verrier, The Canarien, or Book of the Conquest and Conversion of the Canariens in the year 1402, by Messire Jean de Béthencourt, hrsg. u. übers. v. Richard Henry Major (Works issued by the Hakluyt Society Ser. 1, 46), London 1872, S. 102– 109. Aus islamischen Quellen ist so ein Interesse jedoch unbekannt. Dies könnte
Atlantik und seine Erforschung im Spiegel mittelalterlicher arabischer Quellen
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erhaften islamischen Präsenz oder gar Okkupation dieser Inseln kam es nämlich sicher nie. Dies blieb christlichen Abenteurern, Seeleuten und Missionaren vorbehalten, die diesen langwierigen Prozess spätestens um die Mitte des 14. Jahrhunderts begannen und nach zahlreichen Rückschlägen erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts abschließen konnten.⁶¹ Eine Mélange aus Fiktion und Fakten über den Atlantik blieb im Endeffekt – speziell auch in der arabischen Literatur – während des gesamten Mittelalters erhalten. Dennoch leistete gerade der westislamische Kulturkreis bis ins 13. Jahrhundert hinein seinen Anteil daran, diesen Schleier des Geheimnisvollen ein Wenig zu lüften.
also mit ein Grund dafür gewesen sein, warum die möglicherweise auch bei muslimischen Seeleuten bekannten Atlantikinseln vor der marokkanischen Küste von diesen im Unterschied zur späteren christlichen Konkurrenz selten angelaufen und im Endeffekt nie besiedelt beziehungsweise erobert worden waren. Vgl. Fernández-Armesto (Anm. 4), S. 151– 222; Obenaus (Anm. 20), S. 271– 303.
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Abb. 1: Der nordwestafrikanische Atlantikraum. Bearbeitung des Autors nach Charles Verlinden u. Eberhard Schmitt (Hgg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion 1), München 1986, S. 236.
Gerda Brunnlechner
Hirschreiter und albanische Hunde als Schlüssel zum göttlichen Schöpfungsplan? Küstenlinienkarte des Mecià de Viladestes von 1413 Abstract: This article aims to show the wide interpretation of the multilayered meanings of Mecià de Viladestes’s marine chart and to present it not only as a means of communication but also as a moral interpretation of the world. The map shows at its northern end representations of monstrous people and animals. Amongst them are gigantic dogs, strong enough to fight elephants, and an acephalic hunter riding a stag. These are quite unusual features not often found on comparable maps; in fact Mecià’s representations are some of the first cases on maps of north Mediterranean origin. Border areas in general present the opportunity to interpret nature in order to bring into accord the physical world and its spiritual meanings. Particularly, the depictions of monsters may help to understand the world, as according to Isidore of Sevilla they are a sign from God. At the time when the map was made, the world of Mecià, a Majorcan converso, was in turmoil; fierce contention over the line of succession to the throne of Aragón had taken place, three popes were competing for legitimacy, Vincent Ferrer was unsettling the country with sermons about the imminent coming of The End of Times, the Jews were increasingly hard pressed and mass conversions took place. In 1413 a public religious dispute started, chaired by Benedict XIII, with the intention to prove the Jewish religion to be false. Considering this context, this article studies the above mentioned representations, comparing them mainly with other maps, but also with artwork, literature and prophecies of the time. Keywords: Aragón, Eschatolgie, Kartographie, Mecià de Viladestes, Prophetie Die berühmte, um 1300 im norddeutschen oder angelsächsischen Umfeld entstandene Ebstorfer Weltkarte wurde zwar im 2. Weltkrieg zerstört, ist uns aber heute noch durch mehrere – wenn auch nicht ganz unproblematische – Fotografien zugänglich. Im Bereich von Indien findet sich darauf folgender Text: Est animal, quod dicitur ibex, duo cornua habens, quorum tanta vis est ut, si ab alto montis demissum fuerit, corpus eius totum his duobus cornibus sustentetur illesum. Significat autem
Anmerkung: Dieser Beitrag wurde durch Stipendien der Gerda Henkel Stiftung, des Deutschen Historischen Instituts in Rom, des Centro Tedesco di Studi Veneziani in Venedig und der FernUniversität in Hagen unterstützt, wofür ich herzlich danke. Gerda Brunnlechner, M.A., FernUniversität in Hagen, Historisches Institut, Universitätsstr. 33B, 58084 Hagen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-010
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eruditos homines, qui duorum testamentorum consonantia quidquid adversi eis acciderit, quasi quodam salubri temperamento temperare solent et velud duobus cornibus fulti bona que perpetrant veteris ac ewangelice lectionis atestatione sustentant.¹
Zwei Ebenen werden berührt: Auf der einen – der buchstäblichen – wird ein Tier durch seine zwei Hörner vor physischen Verletzungen bewahrt, auf der anderen – der allegorischen – werden Gelehrte durch das Wissen um die zwei Testamente dabei unterstützt, Gutes zu bewirken.² Beweggrund für solche Interpretationen auf mehreren Bedeutungsebenen war der Wunsch, die von Gott geschaffene, als zeichenhaft verstandene Welt und ihre verborgenen Bedeutungen zu entschlüsseln.³ Auch wenn es kaum ähnlich explizite Belege für diese Auslegungspraxis auf mappae mundi,⁴ den oft kreisrunden heilsgeschichtlich ausgerichteten Weltkarten, gibt, herrscht in der For-
Transkription und Übersetzung: Hartmut Kugler (Hg.), Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden, Bd. 1: Atlas, Berlin 2007, Nr. 12/4: „Das ist ein Tier namens Steinbock. Es hat zwei Hörner, die so stabil sind, daß damit beim Sturz von einem hohen Berg der ganze Körper unverletzt abgefangen wird. Es bezeichnet die Gelehrten, die mit der Übereinstimmung der beiden Testamente alles, was ihnen entgegensteht, zu einem guten Ausgleich bringen und gleichsam auf zwei Hörner gestützt das Gute, das sie vollbringen, durch Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments abstützen.“ Original zerstört, 358 x 356 cm, geostet. Die Inschrift wurde unter Rückgriff auf ‚De bestiis et aliis rebus‘ des Ps.-Hugo von St. Viktor rekonstruiert von Uwe Ruberg, Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in: Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte, Interdisziplinäres Colloquium 1988 (Acta humaniora), Weinheim 1991, S. 319 – 346, hier S. 345. Ein korrespondierendes Bild, sollte es je existiert haben, ist nicht erhalten. Bei Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX. Tomus II: Libros XI–XX continens, hrsg. v. Wallace M. Lindsay (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis 2), Oxford ND 1962, 12, 1, 17 findet sich der durch seine Hörner geschützte Steinbock, bei Verecundus Iuncensis, Commentarii super cantica ecclesiastica. Carmen de satisfactione paenitaentiae, hrsg. v. Roland Demeulenaere (Corpus Christianorum Series Latina 93), Turnhout 1976, super cant. Az. 22 und in einigen Versionen des ‚Physiologus‘ die Versinnbildlichung der beiden Testamente durch das Geweih; vgl. Florence McCulloch, Medieval Latin and French Bestiaries (Studies in the Romance Languages and Literatures 33), überarb. Aufl., Chapel Hill 1962, S. 84– 85. Zur Interpretation vgl. Uwe Ruberg, Mappae mundi des Mittelalters im Zusammenwirken von Text und Bild. Mit einem Beitrag zur Verbindung von Antikem und Christlichem in der ‚principium‘- und ‚finis‘-Thematik auf der Ebstorfkarte, in: Christel Meier u. Uwe Ruberg (Hgg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 550 – 592, hier S. 585; Margriet Hoogvliet, Pictura et Scriptura. Textes, images et herméneutique des ‘Mappae mundi’ (13e–16e siècle) (Terrarvm Orbis 7), Turnhout 2007, S. 186 – 187, 255. Vgl. Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 2. Aufl., Darmstadt 1983, S. 6 – 7; Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981, S. 61– 63; Johannes Fried, Awaiting the Last Days. Myth and Disenchantment, in: Albert I. Baumgarten (Hg.), Apocalyptic Time (Numen book series. Studies in the history of religions 86), Leiden, Boston, Köln 2000, S. 283 – 303, hier S. 284. Vgl. Evelyn Edson, The World Map 1300 – 1492. The Persistence of Tradition and Transformation, Baltimore 2007. Zum Begriff vgl. Patrick Gautier Dalché, La ’descriptio mappe mundi’ de Hugues de Saint-Victor, Paris 1988, S. 92– 95.
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schung doch weitgehend Konsens, dass sie, im mehrfachen Schriftsinn deutbar, Heilsgeographie darstellen.⁵ Ganz anders wird das jedoch für Küstenlinienkarten⁶ gesehen, also Karten des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres mit – für unser modernes Auge – gut erkennbaren Küstenverläufen. Diese auf Erfahrungswissen basierenden Karten sind spätestens seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert in Gebrauch⁷ und werden im Allgemeinen als Ergebnis jahrhundertelanger seefahrerischer Praxis angesehen.⁸ Die wissenschaftliche Diskussion um ihre Entstehung, Erstellung und Nutzung ist noch nicht abgeschlossen, Zusammenhänge zu den nordeuropäischen mappae mundi sind unklar.⁹ Die folgenden Ausführungen werden von der Überzeugung getragen, dass die künstliche Unterscheidung zwischen heilsgeschichtlich orientierten mappae mundi
Vgl. Felicitas Schmieder, Heilsgeographie versus „realistische Darstellung der Welt“ auf den ‚Mappae Mundi‘ des Mittelalters?, in: Nathalie Bouloux, Anca Dan u. Georges Tolias (Hgg.), Orbis disciplinae. Hommages en l’honneur de Patrick Gautier Dalché, Turnhout 2017, S. 125 – 138, hier S. 132; Hoogvliet (Anm. 2), S. 247– 248. Ein weiteres Beispiel allegorischer Auslegung auf der katalanischen Weltkarte aus den 1450ern Modena, Biblioteca Estense Universitaria, C. G. A. 1, Pergament, Durchmesser 113 cm, drehbar, ca. 1450 – 1460, vgl. Hoogvliet (Anm. 2), S. 260; Transkription und Übersetzung vgl. Il Mappamondo Catalano Estense: Facsimile dell’originale conservato presso la Biblioteca Estense di Modena. Die katalanische Estense-Weltkarte. Faksimile des in der Estensischen Bibliothek von Modena aufbewahrten Originals. Commentario, Bd. 2, hrsg. v. Ernesto Milano u. Annalisa Battini, Dietikon-Zürich 1995. In Anlehnung an Tanja Michalsky, Felicitas Schmieder u. Gisela Engel, Einleitung: Aufsicht – Ansicht – Einsicht, in: Dies (Hgg.), Aufsicht – Ansicht – Einsicht. Neue Perspektiven auf die Kartographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit (Frankfurter Kulturwissenschaftliche Beiträge 3), Berlin 2009, S. 7– 17, hier S. 9 wird in diesem Beitrag der Begriff ‚Küstenlinienkarte‘ genutzt, da er gegenüber modernen Seekarten abgrenzt und den Begriff portulan vermeidet, der für schriftliche Navigationsinstruktionen, oft aber auch irrig für Karten verwendet wird und so die Unterschiede zwischen den Medien verwischt. Grundlegend vgl. Tony Campbell, Portolan Charts from the Late Thirteenth Century to 1500, in: John Brian Harley u. David Woodward (Hgg.), The History of Cartography. Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean, Chicago 1987, Bd. 1, S. 371– 463; Stellungnahme zum neueren Forschungsstand vgl. Patrick Gautier Dalché, Les cartes marines: origines, caractères, usages. À propos de deux ouvrages récents, in: Geographia Antiqua, 20/21 (2011/12), S. 215 – 227. Vgl. Patrick Gautier Dalché, Carte marine et portulan au XIIe siècle. Le Liber de existencia riveriarum et forma Maris Nostri Mediterranei (Pise, circa 1200) (Collection de l’Ecole Française de Rome 203), Rome 1995, S. 36 – 37, der argumentativ begründet, warum es Küstenlinienkarten ab Ende des 12. Jhd. gegeben hat. Die älteste erhaltene Küstenlinienkarte, die Pisaner Karte, wird zwischen 1256 und 1311 datiert, vgl. Philipp Billion, Graphische Zeichen auf mittelalterlichen Portolankarten. Ursprünge, Produktion und Rezeption bis 1440, Marburg 2011, S. 157. Vgl. Piero Falchetta, The Use of Portolan Charts in European Navigation during the Middle Ages, in: Ingrid Baumgärtner u. Hartmut Kugler (Hgg.), Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte (Orbis Mediaevalis 10), Berlin 2008, S. 269 – 276, hier S. 270. Der Entstehungsprozess von Küstenlinienkarten – wie auch Produktion und Gebrauch des Kartentyps insgesamt – ist umstritten. Generell lässt sich feststellen, dass die Kartenmacher ihr Wissen aus verschiedensten, auch jüdischen und arabischen Quellen bezogen; mündlich durch Stefan Schröder als Ausblick auf seine noch ausstehende Habilitationsschrift kommuniziert.
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Abb. 1: Küstenlinienkarte, Mecià de Viladestes 1413, Paris, Bibliothèque nationale de France, dép. Cartes et plans, GE AA-566 (RES), Pergament, 84,5 x 118 cm, drehbar. Mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France, Paris.
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und angeblich ‚pragmatischen‘ Küstenlinienkarten für die Forschung eher hinderlich ist.¹⁰ Anhand der katalanischen Küstenlinienkarte des Mecià de Viladestes von 1413¹¹ (Abb. 1) werden symbolische Deutungsmöglichkeiten von Kartenelementen aufgezeigt und die Überlegung angeregt, ob das Kartenmachen als Ausdeutung der von Gott geschaffenen Welt verstanden werden kann, die das Ziel verfolgt, Teile des vor den Menschen verborgenen göttlichen Schöpfungsplans auszuleuchten. Dazu werden zunächst zwei im nordöstlichen Randbereich situierte, für die Karte jedoch zentrale Darstellungen vorgestellt und anhand ihrer Quellen und ihrer Platzierung auf der Karte der entsprechende Wissenshintergrund erschlossen. Zur Kontextualisierung wird kurz das Verhältnis zwischen Kartenmachern und aragonischem Königshaus näher beleuchtet, um dann die beiden Darstellungen anhand bekannter Vorstellungen der Zeit, wie sie sich im ‚Physiologus‘, in jüdischer Literatur und in eschatologischen Schriften und Prophetien finden, mit dem Königshaus in Bezug zu setzen. Die Kunsthistorikerin Sandra Sáenz-López Pérez interpretiert die Karte als Zusammenschau einer auf fundiertem Wissen über das Judentum basierenden, vielfältigen religiösen Geographie.¹² Darauf aufbauend möchte ich versuchen, die Karte als Teil eines Diskurses zu verstehen: als Stellungnahme zu den sozialen und religiösen Auseinandersetzungen der Zeit, als Praxis entlang gesellschaftlicher Grenzen.¹³ Denn der Kartenmacher Samuel Corchos / Mecià de Viladestes (*1370, fl. 1413 – 1423) war ein converso und der Druck auf conversos nahm zur Zeit ihrer Erstellung zu. Mecià war genau wie sein Lehrherr, der jüdische Kartenmacher Cresques Jefuda / Jaume Ribes im Umfeld der Progrome von 1391 auf einen neuen Namen getauft worden.¹⁴ Viele der conversos, die von den aragonischen Königen mit der Steuerschuld der aufgelösten jüdischen institutionellen Gemeinschaften belastet und als separate soziale Gruppe
Gegen diese Unterscheidung argumentiert Patrick Gautier Dalché, Un problème d’histoire culturelle: perception et représentation de l’espace au Moyen Âge, in: Médiévales, 18 (1990), S. 5 – 15, hier S. 14. Paris, Bibliothèque nationale de France, dép. Cartes et plans, GE AA-566 (RES), Pergament, 84,5 x 118 cm, drehbar, 1413, digitale Reproduktion http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b55007074s.r=Mecia +de+Viladestes.langDE (letzter Zugriff 8.06. 2017). Kurze Beschreibung und tlw. Transkription vgl. José Manuel Gironés Guillem, El Portulano de Mecià de Viladestes. Un antiguo tesoro de Valldecrist, de nuevo resplandeciente, in: James Hogg, Alain Girard u. Daniel Le Blévec (Hgg.), La Cartuja de Valldecrist (1405 – 2005). VI Centenario del inicio de la Obra Mayor (Analecta Cartusiana 233), Segorbe 2008, S. 183 – 208. Vgl. Sandra Sáenz-López Pérez, La pluralidad religiosa del mundo en el siglo XV a través de la carta náutica de Mecia de Viladestes (1413), in: Anales de Historia del Arte 22, Núm. Esp. (2012), S. 389 – 404, hier S. 395, 404. Zur Analyse dieser Karte als Teil des Diskurses um die Fahrten entlang der westafrikanischen Küste vgl. Gerda Brunnlechner, In Search of Prester John and the ‘River of Gold’. Mecià de Viladestes’ Map and Late Medieval Knowledge about Africa, in: Journal of Transcultural Medieval Studies 5/2 (2018), S. 261– 294. Vgl. José Maria Quadrado, La judería en Mallorca en el siglo XIV, Prólogo-estudio de Juan Muntaner Bujosa, Cronista oficial de la Ciudad de Palma, Palma de Mallorca 1967 (Erstveröffentl. 1886), S. 63, 85.
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behandelt wurden, lebten weiterhin in den Judenvierteln und entwickelten in jüdischer Kontinuität stehende Strukturen und Identitäten.¹⁵ 1413, als Mecià seine Karte anfertigte, fand auf dem Mallorca direkt gegenüberliegenden katalanischen Festland, in Tortosa, unter Vorsitz Papst Benedikts XIII. (1394– 1417) eine aufsehenerregende Religionsdisputation zwischen Juden und Christen statt, welche jüdische Konversionen beförderte und gleichzeitig die Unvereinbarkeit der Positionen der Diskutanten aufzeigte.¹⁶ Benedikt XIII., zur Zeit der Disputation nur einer von drei konkurrierenden Päpsten, war angesichts abnehmender Anhängerschaft bereits 1409 in seine Heimat Aragón geflüchtet. Sein ehemaliger Arzt, der converso Yehssua ha Lorqui / Jéronimo de Santa Fe, führte die Disputation für die christliche Seite.¹⁷ Er war von Vinzenz Ferrer (1350 – 1419) getauft worden. Vinzenz, ein Dominikanermönch aus Valencia mit engen Verbindungen zu Königshaus und Papst, hatte sich der Missionierung der Juden verschrieben. Parallel zu der durch seine Schriften inspirierten Disputation durchzog er das Land mit einer hochemotionalen missionierenden Predigtkampagne.¹⁸ Ein Jahr zuvor hatte sich, mit Unterstützung Benedikts und Vinzenz‘, mit Ferdinand I. (1412– 1416) nach zweijährigen Auseinandersetzungen eine neue Dynastie, die kastilischen Trastámara, in Aragón durchgesetzt.¹⁹ Ferdinand, der bisher immer wieder Juden unterstützt und geschützt hatte, begann wohl unter dem Einfluss von Vinzenz damit,
Vgl. Natalie Oeltjen, Kings, Creditors and Converts. The Impact of Royal Policy and Corporate Debt on the Collective Identity of Majorcan Conversos after 1391, in: Sefarad, 73/1 (2013), S. 133 – 164, hier S. 161– 163; David Nirenberg, Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München 2015, S. 232– 234. Die Einladungen erfolgten bereits im Jahr 1412 an die aljamas, Teilnehmer hatten sich einzufinden bis 15. Januar 1413, erste Sitzung am 7. Feb. 1413, Ende 13. Nov. 1414. Vgl. Hyam Maccoby, The Tortosa Disputation, 1413 – 14, and its Effects, in: Luc Dequeker u.Werner Verbeke (Hgg.), The Expulsion of the Jews and their Emigration to the Southern Low Countries (15th–16th c.) (Mediaevalis Lovaniensia 1/26), Leuven 1998, S. 23 – 34, hier S. 28 – 29; Ángel Alcalá Galve, Cristianos y judíos en Aragón: la disputa de Tortosa, in: Ángel de Prado Moura (Hg.), Inquisición y sociedad (Historia y sociedad 74),Valladolid 1999, S. 27– 63, hier S. 28; Sina Rauschenbach, Joseph Albo, der Messias und die Disputation von Tortosa, in: Georgiana Donavin, Carol Poster u. Richard Utz (Hgg.), Medieval Forms of Argument. Disputation and Debate (Disputatio. An International Transdisciplinary Journal of the Late Middle Ages 5), Eugene 2002, S. 53 – 66, hier S. 53; Estrella Ruiz-Gálvez Priego, La conversion, les ‘conversos’ et la prédication de Vincent Ferrer (1391– 1418), in: Didier Boisson u. Élisabeth Pinto-Mathieu (Hgg.), La conversion. Textes et réalités (Collection ‘Histoire’), Rennes 2014, S. 65 – 85, hier S. 76; Nirenberg (Anm. 15), S. 231– 232. Vgl. Ángel Alcalá Galve (Anm. 16), S. 44; Estrella Ruiz-Gálvez Priego (Anm. 16), S. 72. Vgl. Hyam Maccoby (Anm. 16), S. 29; zu Vinzenz’ Einfluss auf die Disputation vgl. Pedro Santonja Hernández, La disputa de Tortosa. Jerónimo de Santa Fe y san Vicente Ferrer, in: Helmántica 63/189 (2012), S. 133 – 152, hier S. 152. Vgl. Martin Aurell, Eschatologie, spiritualité et politique dans la confédération catalano-aragonaise (1282– 1412), Fin du monde et signes des temps.Visionnaires et prophètes en France méridionale (fin XIIIe–début XVe siècle) (Cahiers de Fanjeaux 27), Toulouse, Fanjeaux 1992, S. 191– 235, hier S. 212; Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 246; Ruiz-Gálvez Priego (Anm. 16), S. 77.
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ihre Separierung und Konversion zu befördern.²⁰ Alles in allem waren dies besorgniserregende Entwicklungen für einen konvertierten Kartenmacher. Meciàs Küstenlinienkarte von 1413 ist ein besonders reich ausgestattetes Exemplar mit vielen Bildern und katalanischen Texten, einige davon in Gold ausgeführt (Abb. 1).²¹ Sie zeigt Europa, Nordafrika und Teile Asiens vom westlichen Atlantik bis zum Kaspischen Meer und zum Persischen Golf, ist auf 1413 datiert, sehr wahrscheinlich auf Mallorca entstanden und benennt Mecià de Viladestes als ihren Ersteller.²² Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der Region nördlich und nordöstlich der Ostsee und somit im Grenzbereich des damaligen geographischen Wissens (Abb. 2). Mecià stellt die Region als wenig bewohnt, wild und karg dar, als fremd, was er durch bildliche Repräsentationen verschiedener Monstren und weißer Tiere betont. Solche Grenzbereiche bieten Raum für Deutungen der Natur im Bestreben, die physische Welt und ihre spirituelle Bedeutung in Übereinstimmung zu bringen.²³ Monstren können helfen, Grenzen zu bestimmen und eine bis dahin unbekannte Welt als Teil des göttlichen Schöpfungsplans zu begreifen.²⁴ So interpretiert Isidor von Sevilla (um 560 – 636) Monstren als Zeichen, mit denen Gott auf die Zukunft verweisen wolle, wobei Isidor den Begriff ‚Monster‘ von ‚Ermahnung‘ ableitet: Monstra vero a monitu dicta, quod aliquid significando demonstrent, sive quod statim monstrent quid appareat. ²⁵
Vgl. Jocelyn N. Hillgarth, The Spanish Kingdoms, 1250 – 1516. Bd. 2: 1410 – 1516, Castilian Hegemony, Oxford 1978, S. 129, 141– 144; Aurell (Anm. 19), S. 224; Nirenberg (Anm. 15), S. 231– 232. Vgl. oben Anm. 11. Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11); Inschrift im Hals des Pergaments (Atlantik): Mecia de Viladestes me fecit in ano MCCCCXIII, Transkription vgl. Sandra Sáenz-López Pérez, Imagen y conocimiento del mundo en la Edad Media a través de la cartografía hispana. Tesis Doctoral, 2 Bde., Madrid 2007, Bd. 1, S. 317. Vgl. Jeanne Fox-Friedmann,Vision of the World. Romanesque Art of Northern Italy and the Herford Mappamundi, in: P.D.A. Harvey (Hg.), The Hereford World Map. Medieval World Maps and their Context, London 2006, S. 137– 151, hier S. 147. Vgl. Joyce Tally Lionarons, From Monster to Martyr: The Old English Legend of Saint Christopher, in: Timothy S. Jones u. David A. Sprunger (Hgg.), Marvels, Monsters, and Miracles. Studies in the Medieval and Early Modern Imaginations (Studies in Medieval Culture 42), Kalamazoo 2002, S. 167– 182, hier S. 170; Ian Wood,Where the Wild Things are, in: Walter Pohl, Clemens Gantner u. Richard E. Payne (Hgg.), Visions of Community in the Post-Roman World. The West, Byzantium and the Islamic World, 300 – 1100, Farnham, Burlington 2012, S. 531– 542, hier S. 540 – 541; Karl Steel, Centaurs, Satyrs, and Cynocephali: Medieval Scholarly Teratology and the Question of the Human, in: Asa Simon Mittman u. Peter J. Dendle (Hgg.), The Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous (Ashgate Research Companion), Farnham, Burlington 2012, S. 257– 274, hier S. 263. Isidor von Sevilla (Anm. 1), XI 3, 3; „Monstra aber sind von der Ermahnung her benannt, weil sie etwas Bedeutendes zeigen bzw. weil sie sofort zeigen, was erscheint.“ Übersetzung vgl. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, hrsg. v. Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, XI 3, 3. Zu Monstren als Zeichen göttlichen Willens bei Isidor von Sevilla vgl. David Gordon White, Myths of the dog-man, Chicago, London 1991, S. 1.
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Abb. 2: Küstenlinienkarte, Mecià de Viladestes 1413, Paris, Bibliothèque nationale de France, dép. Cartes et plans, GE AA-566 (RES), Pergament, 84,5 x 118 cm, drehbar, Detail: Ostsee, Baltikum, Region nördlich des Schwarzen Meeres. Mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France, Paris.
1 Königliche Jäger der Vergangenheit Auf der ganzen Karte finden sich nur zwei längere Texte in roter Schrift. Der eine, auf der skandinavischen Halbinsel positioniert, bezieht sich auf die Bewohner Gotias,²⁶ der andere, weit im Nordosten zwischen Albania ²⁷ und Gotia platziert, auf riesige albanische Hunde (Abb. 2).²⁸ Beide sind von bildlichen Repräsentationen begleitet; dem ersten Text ist ein Hirschreiter mit einem Falken²⁹ auf dem Arm zugeordnet, dem Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11): GOTIA. aquesta regio son apelats gots … son gens que … an col e tense lo cap an les espallas e son grans casadors … son…nn…m grans astor ..ayi. Transkriptionen, wenn nicht anders vermerkt, von der Autorin. Vgl. leicht abweichend Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 698. Gemeint ist das kaukasische Albanien, das im Allgemeinen in der Nähe des Kaspischen Meeres verortet wird, z. B. bei Orosius, ‚Historiarum adversum paganos libri VII‘, I 2, 50; Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII, hrsg. v. Karl Zangemeister (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum), Wien 1882, I 2, 50; Isidor von Sevilla (Anm. 1), XIV 3, 34. Vgl. unten Anm. 39. Der Vogel auf Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11) wird dort nicht ausdrücklich identifiziert; ähnliche Vögel werden als gerifaltes auf der anonymen Karte in Neapel, Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele III, Sala dei MSS 8.2 (MS. XII.D.102), Pergament, 85 x 126 cm, drehbar, Ende 14 Jhd., digitale Reproduktion: http://archive.is/ahRdV#selection-229.82– 229.90 (letzter Zugriff am 12.06. 2017), farbliche Reproduktion vgl. Ramon J. Pujades i Bataller, Les cartes portolanes. La representació medieval d’una mar solcada, Barcelona 2007, S. 164– 165, als grifons auf der anonymen Karte in Florenz,
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zweiten ein kämpfender Löwe.³⁰ Der erste Text weist die Menschen der Region als Goten aus, die den Kopf direkt auf den Schultern trügen und große Jäger wären.³¹ Bei der bildlichen Darstellung handelt es sich um eine Herrscherfigur mit dem Falken als Insignie, denn die Falkenjagd galt in Katalonien zur Zeit der Entstehung der Karte als Standardattribut des Adels.³² Von Solinus‘ ‚Collectanea rerum memorabilium‘, einer für Karten häufig genutzten spätantiken Quelle, wusste man ganz generell, dass es in Skythien viele Hirsche gäbe.³³ Vermutlich speist sich die kartographische Verortung dieser Repräsentation aus einer Kombination dieses Wissens mit etwa mündlich tradierten Informationen über die Rentierhaltung und die Jagd in Skandinavien. Verbindungen gab es schon allein deswegen, weil die auf der iberischen Halbinsel hochgeschätzten Falken aus dieser Region stammten.³⁴ Die Darstellung zeigt die Falkenjagd auf eine Art und Weise, wie sie dem Kartenmacher vermutlich aus seiner Heimat vertraut war: ein Reiter mit einem Falken,
Biblioteca Nazionale Centrale, Portolano 16, Pergament, 92 x 131 cm, drehbar, ca. 1440, Reproduktion Pujades i Bataller (Anm. 29), S. 270 – 271, als grifaus auf der Modena-Weltkarte (Anm. 5) bezeichnet. Auf Katalanisch sind diese Begriffe nicht genau trennbar, weshalb ich mich für die Bezeichnung ‚Falke‘ entschieden habe, vgl. Joan Coromines, Diccionari etimològic i complementari de la llengua catalana, Bd. 4, Fl-Li, Barcelona 1984, S. 510; Francisco Bernis, Diccionario de nombres vernáculos de aves (Biblioteca románica hispánica. V. Diccionarios 16), Madrid 1994, S. 100, 210. Sáenz-López Pérez identifiziert einen Hund, der gegen einen Löwen kämpft, vgl. Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 693. Auf dem mir zur Verfügung stehenden Digitalisat kann ich nur einen Löwen erkennen. Ein ähnlicher Text ohne Bild auf der Katalanischen Küstenlinienkarte Neapels (Anm. 29): Prouincia de staqia e de gotia. Hon ha gents meynus de coll que lo cap saten al asputles es son grans casadors e cassen ab gerifaltes; ein ähnliches Bild ohne Falke und ohne Text auf der anonymen Velletri- / BorgiaKarte in Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Borgiano cart. naut. 16, Metall in Niellotechnik graviert und eingefärbt, Durchmesser c. 63 cm, gesüdet, Latein, 1402– 1453, digitale Reproduktion der Umzeichnung: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8444338w.r=.langFR (letzter Zugriff am 12.06. 2017), Transkriptionen vgl. Nils Adolf Erik Nordenskiöld, Om ett aftryck fran XV: de seklet af den i metall graverade världskarta, som förvarats i kardinal Stephan Borgias Museum i Velletri, in: Ymer 11 (1891), S. 83 – 92. Darstellung dann auch auf jüngeren Karten aus dem nordmediterranen Raum: Portolano 16 Florenz (Anm. 29), Modena-Weltkarte (Anm. 5); vgl. Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 652– 653. Vgl. Robin S. Oggins, Falconry and Medieval Views of Nature, in: Joyce E. Salisbury (Hg.), The Medieval World of Nature. ‚A Book of Essays’ (Garland Medieval Casebooks 5; Garland Reference Library of the Humanities 1550), New York 1993, S. 47– 60, hier S. 55; vgl. Alain Guerreau, Les structures de base de la chasse médiévale, in: Agostino Paravicini Bagliani u. Baudouin Van den Abeele (Hgg.), La Chasse au Moyen Age. ’Société, traités, symboles’ (Micrologus 5), Firenze 2000, S. 25 – 32, hier S. 26. Die Darstellung von Hirschreitern ist auch als Repräsentation von Wildmännern bekannt, dann aber ohne Falken, vgl. Betty Kurth, Die deutschen Bildteppiche des Mittelalters. Bd. 2: Tafeln. Erste Hälfte Nr. 1– 168, Wien 1926, Tafeln 108 – 9, 110 – 12, 114, 115 – 16, 118, 119. Gaius Iulius Solinus, Collectanea rerum memorabilium / Polyhistor. Sammlungen denkwürdiger Dinge / Polyhistor, hrsg. v. Kai Brodersen (Edition Antike), Darmstadt 2014, S. 16 – 329, hier S. 19, 9. Pero López de Ayala, Libro de la caca de las aves, http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/ libro-de-la-caza-de-las-aves–0/html/, 1999 (letzter Zugriff am 12.06. 2017) nennt Schweden, Norwegen und den hohen Norden Deutschlands als Herkunftsländer.
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den er mittels Schnüren festhält. Mecià konnte sich Jagd wahrscheinlich nicht anders vorstellen. Allerdings verleiht er der Szene auch eine gewisse Fremdheit, da der Falkner ohne Zaumzeug und Sattel möglicherweise im Seitsitz reitet. Ebenso changiert die Verortung in der gotischen Region zwischen Eigen und Fremd, denn nach dem Selbstverständnis der Iberer stammten sie selbst von den Goten ab, was ihnen Alter und damit Würde zusprach und als Auszeichnung und Herrschaftslegitimation verstanden wurde.³⁵ Daher ist es wahrscheinlich, dass die Darstellung des Hirschreiters als Bedeutungsträger verstanden und das Wissen um nordische Gepflogenheiten zusammen mit den Parallelitäten zwischen Eigen und Fremd als Zeichen der Natur gesehen wurde, das es auszulegen galt. Die Figur eines Jägers erinnert an Johann I., der von 1387 bis 1396 als König von Aragón auch die Grafschaft Katalonien und damit verbunden Mallorca beherrschte. Johanns Vorliebe für die Jagd war seinen Zeitgenossenen bekannt, was in seinem Beinamen El Cacador, der Jäger, Ausdruck fand.³⁶ Mecià stand in indirekter Beziehung zu Johann, denn dieser war Auftraggeber von Cresques Abraham (1325 – 1387), dem Vater von Meciàs Lehrmeister Jefuda.³⁷ Meciàs eigene Auftraggeber sind leider nicht bekannt.Wir können aber davon ausgehen, dass sie oder der Gedanke an Absatzchancen die Gestaltung der Karten beeinflussten. Für die Karte von 1413 bietet sich aufgrund ihrer reichen Ausstattung ein hochgestellter Auftraggeber bzw. Adressat an. Die Darstellung eines adeligen Jägers aus dem ‚Herkunftsland‘ der Spanier könnte sich also auf Johann beziehen und als bedeutungstragendes Element von einem Mitglied der obersten sozialen Gruppen beauftragt bzw.
Vgl. Arne Jönsson, Swedish Gothicism from Saint Birgitta (d. 1373) to the Poetess Sophia Elisabeth Brenner (d. 1730), in: Enrique Martínez Ruiz u. Magdalena de Pazzis Pi Corrales (Hgg.), Scandinavia, Saint Birgitta and the Pilgrimage Route to Santiago de Compostela. El mundo escandinavo, Santa Brígida y el Camino de Santiago. Proceedings of the VIII Spain and Sweden Encounters throughout History, Santiago de Compostela, October, 18 – 20, 2000, Santiago de Compostela 2002, S. 285 – 296, hier S. 287– 288, 291; zum Streit auf dem Konzil von Basel um die Sitzordnungen der Gesandtschaften, in dem die Kastilier ihre gotische Abstammung als Argument anführten, vgl. Josef Svennung, Zur Geschichte des Goticismus (Skrifter utgivna av 44:2B), Stockholm 1967, S. 36. Ob der Beiname zeitgenössisch oder posthum vergeben wurde ist mir unklar, die Jagdleidenschaft war zeitgenössisch bekannt, vgl. Hillgarth (Anm. 20), S. 223 – 225; David J. Viera, Francesc Eiximenis’s dissension with the Royal House of Aragon, in: Journal of Medieval History 22/3 (1996), S. 249 – 261, hier S. 252; Benjamin Gampel, ‘Unless the Lord Watches over the City…’. Joan of Aragon and his Jews, June-October 1391, in: Elisheva Carlebach u. Jacob J. Schacter (Hgg.), New Perspectives on Jewish-Christian Relations (The Brill Reference Library of Judaism 33), Leiden 2012, S. 65 – 89, hier S. 67. Vgl. Gabriel Llompart Moragues, La cartografía mallorquina del siglo XV. nuevos hitos y rutas, in: Boletín de la Sociedad Arqueológica Luliana 91/34 (1975), S. 438 – 465, hier S. 440; Katrin KogmanAppel, Eschatology in the Catalan ‚Mappamundi‘, in: Philippe Buc, Martha Keil u. John Victor Tolan (Hgg.), Jews and Christians in Medieval Europe. The historiographical legacy of Bernhard Blumenkranz, Turnhout 2015, S. 227– 252, hier S. 227– 228. Zum Hintergrund von Cresques Abraham vgl. Katrin Kogman-Appel, Fictive Travel and Mapmaking in Fourteenth-Century Iberia, in: Ingrid Baumgärtner, Nirit Ben Aryeh-Debby u. Katrin Kogman-Appel (Hgg.), Maps and Travel in the Middle Ages and the Early Modern Period: Knowledge, Imagination, and Visual Culture (Das Mittelalter. Beihefte 9), Berlin 2019, S. 136 – 164, hier S. 138 – 139.
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an ein solches adressiert sein. Im Folgenden werden Deutungsmöglichkeiten der Karte aufgezeigt, die zu einem großen Teil auf franziskanischem Gedankengut basieren. Ob die Karte in Zusammenhang zu franziskanischem Umfeld stand und ob dies eine Gegenposition zu dem Dominikaner Vinzenz Ferrer implizieren kann, müsste noch genauer untersucht werden. Der griechische König Alexander der Große (4. Jh. v.Chr.) spielt auf der Küstenlinienkarte des Mecià eine hervorgehobene Rolle; sein Geburtsort wird ausgewiesen und ausdrücklich als macadon bezeichnet.³⁸ Der zweite längere rote – dem Bild des Löwen zugeordnete – Text benennt das ‚Libro de Alexandre‘, ein auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zurückgehendes anonymes Gedicht,³⁹ als Quelle einer Geschichte, wonach der griechische König Alexander der Große von einem albanischen Fürsten einen großen starken Hund geschickt bekommen hätte, der einen Löwen tötete und ein Wildschwein und einen Elefanten besiegte.⁴⁰ Diese kämpfenden Hunde
Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11): macdon. en la ciutat de macadon nayche lo rey alexandri, vgl. leicht abweichende Transkription bei Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 549. Vgl. Z. David Zuwiyya, The Alexander Tradition in Spain, in: Ders. (Hg.), A Companion to Alexander Literature in the Middle Ages (Brill’s Companions to the Christian Tradition 29), Leiden 2011, S. 231– 254, hier 231, 234– 235, demzufolge das Gedicht in Spanien einen Hauptstrang der christlichen Alexanderrezeption umfasst; daran zweifeln lässt allerdings die Tatsache, dass nur zwei Handschriften und drei Fragmente erhalten sind. Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11): en aquest desers ha axi grans cans, e forts de cors, e de cor, e axi forts com a toroS. e fan batala ab los leons, els maten e lo libre de aleexanndri di quem li fo tarames i. ca albanes, e fo mes en batala ab i. leo, e ab i porch sechlat, e ab un alefant, e en mens de tems ho achtot uensut, e ay tan be se uen de uit con de dia. Leicht abweichende Transkriptionen vgl. Joaquín Lorenzo Villanueva, Viage literario a las iglesias de España. Tomo 4, Madrid 1806, S. 28, der in der Fußnote b porch sechlat als Wildschwein übersetzt; Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 693. Am östlichen Ufer der Ostsee findet sich das Bild eines Kynokephalen. Kartographische Paralleldarstellungen: BeatusKarte von St. Sever, 11. Jhd. und Ebstorfer Weltkarte mit Texten über albanische Hunde, die Stiere und Löwen besiegen können, vgl. Leonid S. Chekin, Northern Eurasia in Medieval Cartography. Inventory, Texts, Translation, and Commentary (Terrarvm Orbis 4), Turnhout 2006, S. 153, 177– 178; Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 157; katalanisches Kartenfragment in Istanbul (c. 1375 – 1380), Istanbul, Top Kapu Saray Kutuphane, n. 1828 (49361/2758), Pergament, 50 x 123 cm, drehbar, 3. Quartal 14. Jhd.: in Albania das Bild eines Greifs, der vermutlich gegen einen Hund kämpft, vgl. Marcel Destombes, Fragments of two Medieval world maps at the Top Kapu Saray Library, in: Imago Mundi 12 (1955), S. 150 – 152, hier S. 151; der Text darunter, über Hunde, die mit Elefanten und anderen Tieren kämpfen, nennt den Alexanderroman und Isidor von Sevilla als Quelle, Reproduktion zusammen mit dem italienischen Kartenfragment in Istanbul ebd., zwischen S. 150 – 151; Velletri/Borgia-Karte (Anm. 31): Bild eines Hundes, eines Löwen und eines Greifs ohne Interaktion, in der Nähe die Inschrift Albania magna hic canes fortiores leonibus, Transkription vgl. Nordenskiöld (Anm. 31), S. 90; Portolano 16 Florenz (Anm. 29): das Bild eines mit einem Hund kämpfenden Mannes, Inschrift alans; Modena-Weltkarte (Anm. 5): das Bild eines mit einem Hund kämpfenden Mannes; italienisches Kartenfragment (c. 1460) in Istanbul, Top Kapu Saray Kutuphane, n. 1827 (49360/2757), Pergament, 70 x 83 cm, drehbar, Mitte 15. Jhd.: das Bild eines Löwen und eines Hundes die miteinander kämpfen und eine lateinische Inschrift über die albanischen Hunde des Alexander, die gegen Löwen, Wildschweine und Elefanten kämpfen, welche Leander (vermutlich Leander von Sevilla, möglicherweise Verwechslung mit Isidor) als Quelle nennt.
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sind seit der Antike bekannt, wurden teilweise in Indien, teilweise in Albanien verortet und im Mittelalter vielfach weitertradiert.⁴¹ Im ‚Libro de Alexandre‘ findet sich kein Hinweis auf albanische oder indische Hunde; allerdings wird in einer der beiden vollständigen Handschriften Alexander mit jungen, alanischen Hunden bei der Verfolgung von Wildbret gleichgesetzt.⁴² Die Vorstellung von Alexander als fleischgewordenem jungem Jagdhund war also mittels dieses Gedichts, auf das sich der Kartentext ausdrücklich bezieht, in gehobenen Kreisen Spaniens bekannt. Damit entsteht für bestimmte Rezipienten über die semiotische Verbindung zwischen den beiden roten Texten auf der Karte hinaus eine weitere, nun aber semantische Verbindung: Die Vorstellung von Alexander als Jäger lässt in der Hirschreiterfigur auch ihn anklingen. Es ist möglich, dass Kartenmacher und Kartenrezipienten Johann I. als Herrscher im Vergleich mit Alexander dem Großen beurteilten. Im Katalonien des 14. Jahrhunderts kursierten verstärkt, zum Teil aktiv vom Königshaus gefördert, prophetische und eschatologische Texte.⁴³ Das ‚Breviloquium‘, eine prophetische, vermutlich aus dem Umfeld katalanischer Beguinen stammende Schrift aus den frühen 1350er-Jahren, parallelisiert Mazedonien und Katalonien als kleine Reiche, die große Krieger hervorgebracht hätten, sowie Alexander und den aragonischen König Peter IV. (1336 – 1387), Johanns Vater, als Personen von kleiner Statur, die Großes geschafft hätten.⁴⁴ Die beiden einzigen rotgeschriebenen Kartentexte könnten demnach mit Johann an einen aragonischen König erinnern, der zum einen in der Tradition Alexander des Großen gesehen wird und zum anderen eine wichtige Rolle für die Juden Mallorcas im allgemeinen und für Mecià im Besonderen gespielt hatte.
Vgl. Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 695 – 697. Libro de Alexandre, hrsg.v. Juan Casas Rigall (Biblioteca clásica de la Real Academia Española 2), Barcelona 2014, S. 426 Nr. 2117: Encalcando a Poro, que andava alcado, era di fiera guisa el rey escalentado, com’un alán cadiello que anda encarnado teniendo la batalla que fizo el venado. Transkriptionen der einzelnen Handschriften und kritischer Apparat http://webspersoais.usc.es/persoais/juan. casas/Libro_de_alexandre.html (letzter Zugriff am 24.06. 2017). Eine spätere Karte ordnet die bildliche Darstellung eines mit einem Hund kämpfenden Mannes ebenfalls den Alanen zu, Portolano 16 Florenz (Anm. 29); vgl. Sáenz-López Pérez (Anm. 22), Bd. 1, S. 653 – 654, sie hat die Textstelle des ‚libro‘ nicht identifiziert und geht davon aus, dass es keine textlichen Bezüge zwischen Hunden und Alanen gäbe sowie die Alanen und Albaner verwechselt worden sein dürften. Die von ihr auf die Alanen bezogene Darstellung auf der Modena-Estense-Weltkarte trägt keine entsprechende Bezeichnung. Es gab eine mit alanos bezeichnete Hunderasse, eine Art Bulldogge, die auf Wildschweinjagd spezialisiert war; Johann I. hatte 1391 zwei solche Hunde bestellt, vgl. Benjamin Gampel (Anm. 36), S. 85. Weitere Parallelisierung Alexanders mit Jagdhunden in Walter of Châtillon, The ’Alexandreis’ of Walter of Châtillon. A Twelfth-Ccentury Epic, hrsg. v. David Townsend (The Middle Ages series), Philadelphia 1996, S. 55 (454). Vgl. Martin Aurell (Anm. 19), S. 194. Harold Lee u. Giulio Silano, Summula seu Breviloquium super concordia Novi et Veteris Testamenti, in: Harold Lee, Marjorie Reeves u. Giulio Silano (Hgg.), Western Mediterranean Prophecy. The School of Joachim of Fiore and the Fourteenth-Century Breviloquium (Studies and texts 88), Toronto 1989, S. 164– 322, hier S. 245; vgl. Harold Lee u. Marjorie Reeves, The School of Joachim of Fiore, in: Ebd., S. 3 – 150, hier S. 118 – 119; Aurell (Anm. 19), S. 228.
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2 Königliches Negativ Sowohl Alexander und Johann als auch die Falkenjagd wurden in Spanien zur Zeit der Kartenerstellung im jüdischen und im christlichen Umfeld ambivalent gesehen, wodurch sie sich für eine moralische Deutung der Karte eigneten. Alexander erscheint in der spanischen Literatur als großer Eroberer und Held, der zwar vielversprechend begann, aber – da er seine eigenen, menschlichen Grenzen nicht akzeptierte – bald ohne Gottes Hilfe agierte, weshalb er nichts erreichen konnte und letztlich wegen seines Hochmuts und seiner Gier nach Ruhm unterging.⁴⁵ Johann stand wegen seiner Jagdleidenschaft und seiner Regierungsführung in der Kritik.⁴⁶ Insbesondere dürften ihn die jüdischen bzw. konvertierten Kartenmacher mehrdeutig eingeschätzt haben. Denn einerseits war seine Politik ein Auslöser für die Unruhen von 1391 gewesen, andererseits fungierte er als Auftraggeber und Anlaufstelle für die Petitionen der Kartenmacher. Die wiederholten Erhöhungen königlicher Steuern hatten bestehende soziale Unruhen auf Mallorca befördert, die 1391 in Judenprogrome und Zwangstaufen mündeten, denen auch Mecià und sein Lehrmeister Jefuda unterworfen waren. Johann hatte damals seine Schutzverpflichtung den Juden gegenüber nicht erfüllt, besteuerte im Anschluss die conversos und verfügte ihre Separierung von den Juden bis in die Familien hinein. Dennoch gab es wohl auch Hoffnung auf seine Unterstützung, denn es ist belegt, dass Jefuda sich 1394 mit der Bitte um Hilfe gegen die Steuereintreiber an ihn wandte.⁴⁷ Gute Herrschaft stellte man sich anders vor. Der Staufer Friedrich II. (1196 – 1250) hatte in seiner um 1240 verfassten Schrift ‚De arte venandi cum avibus‘ den Falkner zum Vorbild erhoben. Ein Herrscher müsse erst erlernen, seine natürliche Aggressivität zu kontrollieren, sich selbst und seine Gefolgschaft zu zähmen, um so zum gerechten und damit idealen Herrscher zu werden; beste Mittel dazu seien Studium und Ausübung der Falknerei.⁴⁸ Die Rezeption dieser Ideen in Katalonien ist denkbar. Das
Zur Einordnung in die christliche Alexanderliteratur in Spanien vgl. Z. David Zuwiyya (Anm. 39), S. 237, 241; siehe auch I Makkabäer 1:1– 3. Zur hebräischen Tradition vgl. Saskia Dönitz, Alexander the Great in Medieval Hebrew Traditions, in: Zuwiyya (Anm. 39), S. 21– 39, hier S. 24– 25; allgemein für Lateineuropa vgl. Patrick Gautier Dalché, Quatre notes sur Alexandre et la cartographie médiévale, in: Catherine Gaullier-Bougassas u. Margaret Bridges (Hgg.), Les voyages d’Alexandre au paradis. Orient et Occident, regards croisés (Alexander redivivus 3), Turnhout 2013, S. 213 – 238, hier S. 223. Vgl. unten Anm. 52; Hillgarth (Anm. 20), S. 223 – 225; Viera (Anm. 36), S. 250, 252– 253; Benjamin Gampel (Anm. 36), S. 67, 77; Sarah V. Torres, Journeying to the World’s End? Imagining the Anglo-Irish frontier in Ramon de Perellós’s Pilgrimage to St Patrick’s Purgatory, in: Keith D. Lilley (Hg.), Mapping Medieval Geographies. Geographical Encounters in the Latin West and Beyond, 300 – 1600, Cambridge 2013, S. 300 – 324, hier S. 302– 303. Vgl. Oeltjen (Anm. 15), S. 140, 146 – 147, 155; Nirenberg (Anm. 15), S. 229 – 230, 233 – 234. Vgl. Daniela Boccassini, Falconry as a Transmutative Art. Dante, Frederick II, and Islam, in: Dante Studies, 125 (2007), S. 157– 182, hier S. 165 – 166; Stefan Georges, Das zweite Falkenbuch Kaiser Friedrichs II. Quellen, Entstehung, Überlieferung und Rezeption des ‚Moamin‘ (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 27), Berlin 2008, S. 20 – 21; Martina Giese, The „De arte venandi cum avibus“
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Falkenbuch ist in sizilianischem Umfeld entstanden; das Herrscherhaus von Aragón sah sich über eine Heiratsverbindung und die Herrschaftsansprüche an Sizilien in der Nachfolge Friedrichs, was die Aufnahme seiner Bildungsideale möglich erscheinen lässt.⁴⁹ Zudem wird der Falke bei verschiedenen Personifizierungen als Sinnbild der Mäßigung und der Nächstenliebe, aber auch von Eitelkeit und Laster genutzt.⁵⁰ Moralisierende Deutungen der Falknerei, möglicherweise verknüpft mit Herrschaftsvorstellungen, waren demnach relativ bekannt. Entsprechend kann die Darstellung der Falkenjagd in Bezug auf Johann auch als Repräsentation eines Königs verstanden werden, der zwar durch seine Jagdleidenschaft die Mittel zur Hand hatte, ein idealer Herrscher zu werden, aber ähnlich wie of Emperor Frederick II, in: Karl-Heinz Gersmann u. Oliver Grimm (Hgg.), Raptor and human – falconry and bird symbolism throughout the millennia on a global scale (Advanced studies on the archaeology and history of hunting 1.1– 1.4), Kiel, Hamburg 2018, S. 1459 – 1469, hier S. 1461. Zur Interpretation als Erziehungsbuch, das mit dem idealen Falkner einen idealen Staatsdiener ausbilden will vgl. Johannes Zahlten, Kaiserliche Erziehungsvorstellungen. Friedrich II. und der ideale Falkner, in: Jan A. Aertsen u. Andreas Speer (Hgg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert (Miscellanea Mediaevalia 27), Berlin, New York 2000, S. 499 – 512, hier S. 508. Vgl. Aurell (Anm. 19), S. 191; Anna Laura Trombetti Budriesi, De arte venandi cum avibus, http://www.treccani.it/enciclopedia/de-arte-venandi-cum-avibus_%28Federiciana%29/, 2005 (letzter Zugriff am 25.06. 2017). Eine Handschrift des Falkenbuchs, Valencia, Biblioteca Històrica de la Universitat de València, MS. 0601, Olim 836, f. 3r trägt das Wappen des Hauses Aragon-Sizilien, die Bibliothek datiert auf die 2. Hälfte 15. Jhd., Casey A. Wood u. F. Marjorie Fyfe, Manuscripts and Editions of the ’De Arte Venandi’, in: Casey A. Wood u. F. Marjorie Fyfe (Hgg.), The Art of Falconry being the De arte venandi cum avibus of Frederick II of Hohenstaufen, ND 1999, Stanford 1943, S. lix–lxxxiii, hier S. lxi auf frühes 15. Jhd.; Carl Arnold Willemsen, Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. Kommentar zur lateinischen und deutschen Ausgabe, Frankfurt am Main 1970, S. 73 – 75 vermutet, dass die Handschrift erst im 16. Jhd. von Kalabrien nach Spanien gekommen ist, obwohl sie nach seinen Angaben schon früher in Valencia gewesen sein könnte. Eine weitere Übertragungsmöglichkeit der Idee bietet Dante Alighieris ‚Divina Commedia‘, in der die Zähmung eines Falken mit dem inneren Läuterungsprozess der Seele verglichen wird, so dass sich die Falknerei zum Bild des inneren Wachstums entwickelte; vgl. Boccassini (Anm. 48), S. 171– 172. Auf Falken bezogene Textstellen in Dantes Göttlicher Komödie: Inferno XVII 127– 136, XXII 131– 138, Purgatorio VIII 103 – 107, XIII 67– 72, XIX 62– 69; Paradiso XVIII 43 – 45, XIX 34– 39. Teile aus Dantes Komödie waren Johanns Bruder und in weiteren Kreisen bekannt und wurden von Vinzenz Ferrer in Predigten verwendet, vgl. Rudolf Brummer, Dante in der katalanischen Literatur bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für romanische Philologie 82 (1966), S. 78 – 88, hier S. 79; von Francesco Imperial (gest. vor 1409) adaptiert, vgl. William Holden Hutton, The Influence of Dante in Spanish Literature, in: The Modern Language Review 3/2 (1908), S. 105 – 125, hier S. 112– 113. Vgl. Baudouin Van den Abeele, Le faucon sur la main. Un parcours iconographique médiéval, in: Paravicini Bagliani u. Van den Abeele (Anm. 32), S. 87– 109, hier S. 103 – 104, 106 – 107 mit Beispielen aus dem französischen Raum. Um 1332 entstand in der Steiermark ein vermutlich auf eine spanische Vorlage beruhender Text mit Illustrationen, wobei ein Hirsch als Reittier der Personifikationen der Caritas und der Abstinentia dient, letztere trägt das Bild einer Schlange auf dem Waffenrock, vgl. Joanne S. Norman, Metamorphoses of an Allegory. The Iconography of Psychomachia in Medieval Art (American University Studies, Series 9 History 29), New York u. a. 1988, S. 198 – 199, 205 – 206, 347– 348 Abb. 94, 98. Andererseits hatte bereits Augustinus das Halten von Greifvögeln und das Züchten von Jagdhunden verurteilt, vgl. Georges (Anm. 48), S. 17.
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Alexander an der eigenen Hybris, seinem Mangel an Moral und Selbstkontrolle, scheiterte. Sein Scheitern wurde dadurch offensichtlich, dass er – auch als Sündenstrafe interpretiert – 1396 bei einem Jagdunfall durch einen Sturz vom Pferd ohne Empfang der Sakramente gestorben war.⁵¹ Johann war bereits von Zeitgenossen für seine Jagdleidenschaft und seine Amtsführung kritisiert worden; nach seinem Tod fielen seine Favoriten in Ungnade. Letzteres veranlasste wohl seinen aragonischen Höfling Ramon de Perellós 1397 dazu, einen Bericht über seine Reise zum Fegefeuer des Hl. Patrick zu schreiben. Ramon erzählt, dass er Johann im Fegefeuer antraf, auf gutem Weg in Richtung Erlösung, und ermahnt die großen Könige und Fürsten, keine Ungerechtigkeiten zu begehen, um solche Leiden zu vermeiden.⁵² Ich halte es für wahrscheinlich, dass Mecià auf seiner Karte angesichts der unsicheren, von Judenmissionierung und Thronfolgestreitigkeiten geprägten Zeiten eine solche Mahnung ausdrückte und sie in der Form des negativen Vorbildes seines jagenden Vorgängers an den neuen König Ferdinand adressierte.
3 Königliche Läuterung Diese Mahnung an Ferdinand erhielt zusätzliche Dringlichkeit, da sie in endzeitliche Zusammenhänge eingebettet war. Zum Verständnis ist es zunächst nötig, die Tradition der spezifischen Darstellung des Hirschreiters zu verfolgen. Auf einigen angelsächsischen mappae mundi des 13. Jahrhunderts finden sich im Süden Darstellungen von Hirschreitern, die als Troglodyten bezeichnet und als tanta velocitate pollent, ut feras cursu assequantur und als Schlangenesser beschrieben sind (Abb. 3).⁵³ Einige zeigen
Vgl. Hillgarth (Anm. 20), S. 225. Bericht des Ramon de Perellós in Dorothy M. Carpenter, The Pilgrim from Catalonia / Aragon, in: Michael J. Haren u. Yolande de Pontfarcy (Hgg.), The Medieval Pilgrimage to St Patrick’s Purgatory. Lough Derg and the European Tradition, Enniskillen 1988, S. 99 – 119, hier S. 116; vgl. Torres (Anm. 46), S. 319. Auch sein Sekretär Bernat Metge verortet Johann 1398/99 im Fegefeuer und nennt dessen Jagdleidenschaft als einen der Gründe, Bernat Metge, ‚The Dream‘ of Bernat Metge. Del Somni d’en Bernat Metge, hrsg. v. Antonio Cortijo Ocaña (IVITRA Research in Linguistics and Literature 4), Amsterdam, Philadelphia 2013, 2, 7; 2, 10; vgl. Michael Alan Ryan, To Condemn a King. The Dream of Bernat Metge and King Joan’s Ties with the Occult, in: Magic, Ritual, and Witchcraft 3/2 (2008), S. 156 – 184, hier S. 182; Isabelle Grifoll, Benet XIII. el Cisma d’Occident i la literatura catalana, in: Hélène Millet (Hg.), Le concile de Perpignan (15 novembre 1408 – 26 mars 1409). Actes du colloque international (Perpignan, 24– 26 janvier 2008), Canet 2009, S. 169 – 175, hier S. 170. Transkription und Übersetzung Kugler (Anm. 1), Nr. 35/2: Tracotidi tanta velocitate pollent, ut feras cursu assequantur. „Die Troglodyten sind so schnell, daß sie das Jagdwild im Lauf einholen können.“ Das Bild des Hirschreiters findet sich neben einer Schlange. Weitere Kartenbeispiele: Londoner Psalterkarte London, British Library, Add. MS 28681, f. 9r, Pergament, Durchmesser 9 cm, geostet, nach 1262: Bild eines Hirschreiters, in der Nähe ein Acephale ohne Text, Transkription, Erläuterung und Reproduktion vgl. Bettina Schöller, Wissen speichern, Wissen ordnen, Wissen übertragen. Schriftliche und bildliche Aufzeichnungen der Welt im Umfeld der Londoner Psalterkarte (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 32), Zürich 2015; Fragment der Duchy of Cornwall Karte London,
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Schlangen und Acephale in der Nähe. Das Bild des Reiters wird spätestens Anfang des 15. Jahrhunderts auch auf nordmediterranen Karten genutzt; die hier behandelte Karte des Mecià ist eine der ersten.⁵⁴ Bei Mecià wird der Reiter als Gote und großer Jäger mit dem Kopf auf den Schultern beschrieben. Im Unterschied zu den angelsächsischen Karten sind hier Troglodyten und Acephale miteinander verschmolzen, ohne die Schlange zu berücksichtigen. Was kann das für den Bedeutungsgehalt der Figur heißen? Zunächst soll ein Vorschlag zur christologischen Ausdeutung des Hirsches erfolgen: Aponius, frühmittelalterlicher Verfasser eines Kommentars zum Hohelied, vergleicht Christus mit einem Hirsch.⁵⁵ In Psalm 41,2 der Vulgata wird der Hirsch mit dem nach Gott suchenden Menschen gleichgesetzt, wenn das menschliche Dürsten nach Gott dem tierischen Dürsten nach Wasser gegenüber gestellt wird.⁵⁶ Dieser Psalm bildet die Grundlage für einige Auslegungen in verschiedenen Versionen des ‚Physiologus‘, einer extrem weit verbreiteten allegorischen Interpretation natürlicher Phänomene.⁵⁷ Die viel – auch in Spanien – rezipierte, auf das 11. Jahrhundert zurückgehende lateinische Theobaldus-Version berichtet, dass der im Kampf mit der
Abb. 3: Hereford Weltkarte um 1300, Hereford, Hereford Cathedral, Pergament, 159 x 134 cm, geostet, Detail: Troglodyt. Mit freundlicher Genehmigung von Hereford Cathedral, Hereford.
Duchy of Cornwall Office, Maps and Plans 1, 61 x 53 cm, c. 1260 – 1285: Bild eines Hirschjägers neben einer Schlange, Trocodite (…agi) hanc tenant partem quorum Trocodite velocitate pollent ut feras cursu assequantur, Transkription vgl. Herma Kliege, Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten, Münster 1991, S. 126 Nr. 28, Reproduktion Graham Haslam, The Duchy of Cornwall Map Fragment, in: Monique Pelletier (Hg.), Géographie du Monde au Moyen Âge et à la Renaissance (Memoires de la Section de Géographie 15), Paris 1989, S. 33 – 44, hier S. 34. Hereford World Map, Hereford, Hereford Cathedral, Pergament, 159 x 134 cm, geostet, um 1300, Bild eines Hirschreiters und Schlangenessers, in der Nähe ein Acephale, Trocodite mire sceleres; specu accolunt, serpentes edunt, feras saltibus apprehendunt, Transkription und Reproduktion Scott D. Westrem, The Hereford Map. A transcription and translation of the legends with commentary (Terrarvm Orbis 1), Turnhout 2001, S. 357. Kartenbeispiele vgl. Anm. 31; zur Darstellung auf Meciàs Karte vgl. Anm. 26. Apponius, Canticum canticorum expositionem, hrsg. v. Bernard de Vregille u. L. Neyrand (Corpus Christianorum Series Latina 19), Turnhout 1986, Cant. 4, 15. Ein weiterer Vergleich zwischen gottsuchenden Menschen und Hirschen bei Aurelius Augustinus, Was ist Zeit? (Confessiones 11 / Bekenntnisse 11), hrsg. v. Norbert Fischer (Philosophische Bibliothek 534), Hamburg 2000, 9, 3. Vgl. McCulloch (Anm. 1), S. 172; Nikolaus Henkel, Studien zum Physiologus im Mittelalter (Hermaea N.F. 38), Tü bingen 1976, S. 38, 186 – 187.
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Schlange vergiftete Hirsch durch Wasser wieder erneuert wird und gibt den Rat, dass Menschen, wenn sie von der Schlange, also Satan, zur Sünde verführt worden sind, zu Christus eilen sollen, um sich zu reinigen und wieder zu verjüngen.⁵⁸ Der Hirsch kann also für Christus und für die Menschen stehen, die Schlange für Satan. Dazu zeichnen sich die Troglodyten durch spezielle moralische Qualitäten aus. Nach Solinus sind sie in besonderer Weise gegen bestimmte Sünden gefeit, denn schnellfüßig und schlangenessend lebten sie ohne Besitzstreben in freiwilliger Armut.⁵⁹ Damit sind sie als Feinde Satans ausgewiesen und entsprechen in ihrem Armutsstreben den franziskanischen Gedanken von der Christusnachfolge. In diesem Kontext gesehen kann der Hirsch auf den angelsächsischen Karten, gerade auch weil er dort mit dem schlangenfressenden Troglodyten verbunden ist, in seiner symbolischen Bedeutung als christologischer Kämpfer gegen den Satan stehen. Es ist nicht klar, wie die Übertragung des Hirschreiters von angelsächsischen auf nordmediterrane Karten stattgefunden hat. Die Frage ist, ob mit dem Bild auch die Idee vom Hirsch als Feind Satans transferiert wurde. Für eine Übernahme des Gedankenguts spricht, dass Meciàs Karte unter Berücksichtigung der Ereignisse der Zeit sowie jüdischer Literatur und christlicher Prophetien die Bedeutung des Hirschreiters als Feind Satans aufnehmen und situativ zuspitzen kann. Im Testament des Patriarchen Judah, einem der pseudoepigraphischen ‚Testamente der Zwölf Patriarchen‘, ähnelt Judah den Troglodyten: Ich wußte, daß ich lief wie eine Hindin; so fing ich sie und machte sie für meinen Vater gar, und dieser schmauste sie. Im Lauf ergriff ich die Gazellen, und alles in der Ebene fing ich ein. ⁶⁰ Insgesamt wird Judah als großer Krieger, aber auch als Verlierer in moralischen Kämpfen dargestellt.⁶¹ Explizite Absicht des Testaments des Judah ist es, die Nachkommen dazu zu ermahnen, nicht den eigenen Begierden zu folgen, sondern die Gebote Gottes zu befolgen. Der Fokus liegt dabei auf Habsucht und Unkeuschheit, Sünden, die auch Judah begangen hatte, die von Gott
Theobaldus, ’Physiologus’, hrsg. v. P. T. Eden, Leiden 1972, S. 48 – 51; vgl. McCulloch (Anm. 1), S. 40 – 41, die sich auf eine Schätzung von über 100 über Europa verteilten Handschriften bezieht, ebd. S. 172– 174 für weitere Versionen der Erzählung im ‚Physiologus‘. Zu den beiden Handschriften spanischen Ursprungs die auf Ende 14./Anf. 15. Jhd. und allgemein 15. Jhd. datiert werden vgl. P. T. Eden, Introduction, in: Eden (Anm. 58), S. 1– 22, hier S. 18. Gaius Iulius Solinus (Anm. 33), S. 31, 3. Deutsche Übersetzung nach Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, hrsg. v. Paul Rießler, Augsburg 1928, Testament Judah 2, 2– 3; vgl. die englische Übersetzung in der derzeit maßgeblichen Edition The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Commentary, hrsg. v. Harm W. Hollander u. Marinus de Jonge (Studia in Veteris Testamenti pseudepigrapha 8), Leiden 1985, Testament Judah 2, 2– 3. Die Testamente waren Teil der erzählenden, nicht-gesetzlichen jüdischen Literatur, fanden sich auch fallweise im Anhang der Septuaginta; über die zeitgenössische Rezeption dieses Texts in Spanien ist mir nichts bekannt. Vgl. Tom de Bruin, The Great Controversy. The Individual’s Struggle Between Good and Evil in the ’Testaments of the Twelve Patriarchs’ and in their Jewish and Christian Contexts (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 106), Göttingen 2015, S. 65.
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wegführen und ihren Ursprung im Geist der Täuschung, in Satan, hätten.⁶² Dieser tritt nicht als äußerer Versucher auf, sondern im Rahmen innerer Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse.⁶³ Der Wegfall der Schlange als versuchender Satan auf Meciàs Karte kann entsprechend darauf hinweisen, dass hier nicht auf eine Versuchung von außen, sondern auf den inneren Läuterungsprozess des Menschen rekurriert wird, den die Falknerei symbolisiert und an dem Johann I., wie Judah, gescheitert war. Johanns Scheitern⁶⁴ wiederum könnte – analog zur Mahnung Judahs an seine Nachkommen – als Mahnung an Ferdinand dienen, es doch besser zu machen.
4 Königliche Kämpfer am Ende der Zeiten Der Hirschreiter wird auf Meciàs Karte textuell als Mensch, der den Kopf auf den Schultern trägt, also als eine Form von Acephale, beschrieben, ohne entsprechend visualisiert zu sein.⁶⁵ Die auf circa 1290 zurückgehende, extrem weit verbreitete und immer wieder an neue Ereignisse angepasste Tripolis-Prophetie sagt vorher, dass nach bestimmten Ereignissen Menschen ohne Kopf erscheinen und dann schlimme Zeiten für das Schiff der Kirche folgen werden, bis nach weiteren Wirren der Antichrist hervorkommen wird.⁶⁶ In seinem katalanischen Kommentar zur Tripolis-Prophetie hatte der zum franziskanischen Visionär gewandelte Infant Peter von Aragón (um 1305 – 1381) diese kopflosen Menschen 1377 vornehmlich als Deutsche identifiziert.⁶⁷ Die Platzierung der Figur auf der Karte nördlich des Meeres, das als mar de alamanya e mar de gotiladia bezeichnet wird, könnte sich auf die Tripolis-Prophetie beziehen und damit einen ersten Hinweis auf ihre endzeitliche Einordnung geben.⁶⁸ Eine dezidiert endzeitliche Zuspitzung erfährt das Bedeutungsspektrum des Hirschreiters, wenn er im Zusammenspiel von Alexander-Rezeption, Testament des Judah und Vorstellungen über das aragonische Königshaus gesehen wird. Alle drei wurden eschatologisch interpretiert: Alexander hatte die Endzeitvölker eingesperrt⁶⁹ und so ihr Hervorbrechen
Hollander u. Jonge (Anm. 60), Testament Judah 13, 1– 2; 17, 1– 18, 6; 19, 4; vgl. Bruin (Anm. 61), S. 66 – 67. Vgl. Bruin (Anm. 61), S. 114– 115, 118. Johanns hoher Finanzbedarf wurde von Zeitgenossen auf seine französische Ehefrau zurückgeführt (siehe oben Anm. 46, 52). Siehe oben Anm. 26. Grundlegend Robert E. Lerner, The Powers of Prophecy. The Cedar of Lebanon Vision from the Mongol Onslaught to the Dawn of the Enlightenment, Berkeley, Los Angeles, London 1983, Transkriptionen verschiedener Fassungen vgl. ebd. S. 199 – 237, hier paraphrasiert gemäß der Version des Infanten Peter von Aragón, vgl. ebd. S. 220 – 221. Vgl. Lerner (Anm. 66), S. 146 – 147. Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11). Kurzer Überblick zum Forschungsstand und zur Darstellung auf mittelalterlichen Weltkarten vgl. Hoogvliet (Anm. 2), S. 220 – 221, 224– 228. Jüngst dazu Mordechay Lewy, Der apokalyptische Abessinier und die Kreuzzüge. Wandel eines frühislamischen Motivs in der Literatur und Kartografie des
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verzögert; Judah gilt in den Patriarchentestamenten als Stammvater der letzten Kaiser;⁷⁰ die aragonischen Könige spielen in Prophetien verschiedenste Rollen, die sich auf eine Bandbreite vom Antichrist des Westens bis zum neuen David erstrecken.⁷¹ Insbesondere der kurze, vermutlich in Katalonien in franziskanischem Umfeld zwischen 1296 und 1301 entstandene prophetische Text ‚vae mundo in centum annos‘ fand weite Verbreitung.⁷² Er sagt für die Zeit vor dem Kommen des Antichristen die Universalherrschaft eines christlichen, vermutlich iberischen Endzeitkaisers vorher, den er als spanische Mücken vertilgende Fledermaus allegorisiert.⁷³ Die Figur der Fledermaus wurde in der Folge immer wieder auf verschiedene aragonische oder kastilische Könige bezogen, wobei das Bild der Mücken meist für die Muslime stand.⁷⁴ Im Jahr bevor Mecià seine Karte anfertigte, konnte sich Ferdinand I. den Thron von Aragón sichern, wofür er sich unter anderem dadurch empfohlen hatte, dass er den Kampf gegen die Muslime Spaniens erfolgreich wieder aufgenommen hatte.⁷⁵ Dies legt seine Identifikation als Fledermaus und damit als künftiger christlicher Endzeitkaiser nahe. Die Ereignisse im Rahmen der Thronstreitigkeiten lassen sich in das Raster der Tripolis-Prophetie einpassen. Der Infant Peter von Aragón hatte 1377 unter Hinzuziehung der ‚vae mundo‘-Prophetie eine Textstelle der Tripolis-Prophetie auf die Durchsetzung des Hauses Trastámara in Kastilien hin interpretiert. Gemäß der Tripolis-Prophetie sollte Mars Saturn besiegen, Saturn Jupiter hintergehen und die Fledermaus schließlich Saturn vertreiben, was Peter von Aragón auf den Sieg Heinrichs II. Trastámara (1366 – 1379, Fledermaus) über Peter I. von Kastilien (1350 – 1369, Saturn) umlegte. In beiden Prophetien identifiziert Peter von Aragón die Figur der Fledermaus als Heinrich, wodurch er beide Prophetien verbinden konnte.⁷⁶ Zur Zeit der
Mittelalters (Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des Antiken Judentums 61), Frankfurt am Main 2018, S. 287– 288. Hollander u. Jonge (Anm. 60), Testament Judah 18, 1; 22, 2– 3; 24, 1; vgl. Philipp Kurowski, Der menschliche Gott aus Levi und Juda. Die ’Testamente der zwölf Patriarchen’ als Quelle judenchristlicher Theologie, Tübingen 2010, S. 95 – 97. Vgl. Martin Aurell (Anm. 19), S. 197, 225, 227– 229; Eleazar Gutwirth, Jewish and Christian Messianism in XVth Century Spain, in: Dequeker u. Verbeke (Anm. 16), S. 1– 22, hier S. 12; Grace Magnier, Pedro de Valencia and the Catholic Apologists of the Expulsion of the Moriscos. Visions of Christianity and Kingship (The medieval and early modern Iberian world 38), Leiden 2010, S. 53. Vgl. Lerner (Anm. 66), S. 40; Text wiedergegeben bei José M. Pou y Martí,Visionarios, beguinos y fraticelos catalanes (siglos 13 – 15), Madrid 1991 (Erstveröffentl. 1930), S. 54– 55. Eine Fledermaus werde die Mücken Spaniens fressen, dadurch Spanien retten, die Universalherrschaft über die Welt antreten und zum Schluss die Ägypter demütigen, danach wird der Antichrist erscheinen, vgl. Alain Milhou, La chauve-souris, le nouveau David et le roi caché (trois images de l’empereur des derniers temps dans le monde ibérique : XIIIe–XVIIes.), in: Mélanges de la Casa de Velázquez 18/1 (1982), S. 61– 78, hier S. 64. Vgl. Milhou (Anm. 73), S. 65 – 66; Aurell (Anm. 19), S. 227, 229 – 230. Vgl. oben Anm. 19; Hillgarth (Anm. 20), S. 60; Herbers (Anm. 19), S. 259. Zu Peters Auslegung der Tripolis-Prophetie vgl. Lerner (Anm. 66), S. 142– 145, Nebenfiguren: Peter IV. von Aragón (Mars), der Peter I. militärisch besiegte; Eduard der ‚Schwarze Prinz‘ (Jupiter), der von
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Kartenerstellung ließe sich die Textstelle als Durchsetzung des Hauses Trastámara in Aragón deuten und auf die Person Ferdinands I. (Fledermaus) übertragen, der den Thronprätendenten Jakob von Urgell (um 1378 – 1433, Saturn) vertreiben konnte.⁷⁷ Da mir keine entsprechende zeitgenössische Auslegung bekannt ist, bleibt dies allerdings Spekulation, auch wenn die weiteren Vorhersagen der Prophetie, wie schwere Zeiten für die Kirche und die nahende Endzeit, gut zum Kontext der Zeit passen. Die Christenheit war durch die Konkurrenz von drei gleichzeitig amtierenden Päpsten erschüttert, in Spanien erinnerte Vincenz Ferrer in seinen Predigten permanent an die nahende Endzeit mit der Vorstellung von der Missionierung der Juden am Ende der Zeiten.⁷⁸ Vor diesem Hintergrund kann der Hirschreiter auch unabhängig vom genauen Zusammenhang zwischen der Tripolis-Prophetie und der Karte endzeitliche Konnotation annehmen, was die Epoche des Kartenmachers geschichtlich an das Zeitenende rückt und seiner Botschaft entsprechend große Dringlichkeit verleiht.
5 Religiöse Einheit als Zukunftswunsch Es scheint mir wahrscheinlich, dass diese dringliche Botschaft auf das Lebensumfeld Meciàs anspielt und seine Lebensumstände als converso auf Mallorca betrifft. Zur Zeit der Kartenerstellung war er seit zweiundzwanzig Jahren konvertiert. Auf Mallorca standen viele conversos in Kontinuität zur jüdischen Gemeinde.⁷⁹ Die mallorquinischen conversos müssen die neue Religion schon aus Selbsterhaltungsgründen zumindest nach außen hin auch ausgeübt haben. Selbst wenn wir von einer Konvertierung aus Überzeugung bzw. wachsender Überzeugung im Laufe der Zeit ausgehen sollten, brachten die ehemaligen Juden ihre eigene Kultur und ihr eigenes Wissens in die neue Religionsausübung ein, adaptierten die christlichen Riten an ihre eigenen Bedürfnisse.⁸⁰ Erst indem sie die christlichen Riten den eigenen Gepflogenheiten anpassten, konnten die conversos die Spannung zwischen den christlichen Regeln und den eigenen Gewohnheiten lösen. Auch auf theologischer Ebene sind solche Anpassungen denkbar. Hilfreich können hierzu die ‚Testamente der Zwölf Patriarchen‘ gewesen sein, denn sie enthalten jüdische und christliche Elemente. Sie drücken sowohl die Hoffnung auf die Bekehrung aller Juden am Ende der Zeit, als auch auf die Rückkehr der verlorenen Stämme
Peter I. hintergangen wurde; ebd., S. 122– 123, 131– 132 datiert eine katalanische Übersetzung der Tripolis-Prophetie, welche den ‚vae mundo‘ inkorporiert hat, auf um 1350. Zu den Ereignissen im Thronfolgestreit vgl. Hillgarth (Anm. 20), S. 229 – 235. Nebenfiguren: Ludwig II. von Anjou (Mars), der zunächst Vorrang vor Jakob von Urgell hat; Erzbischof von Zaragoza (Jupiter), der Ludwig unterstützte und unter Billigung Jakobs ermordet wurde, was das Ende der Hoffnungen der Anjou bedeutete, aber Jakob gegenüber Ferdinand I. schwächte. Vgl. Maccoby (Anm. 16), S. 29 – 30; Ruiz-Gálvez Priego (Anm. 16), S. 77– 78; vgl. oben Anm. 18. Vgl. oben Anm. 15. Vgl. Ruiz-Gálvez Priego (Anm. 16), S. 68.
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Israels aus. Dem nordamerikanischen Theologen Joel Marcus zufolge beinhalten sie die Forderung nach Befolgung aller Gesetze, der christlichen und der jüdischen.⁸¹ Diese Forderung steht in oberflächlichem Einklang mit den Predigten Vinzenz Ferrers, der die Juden mit der Argumentation zur Taufe bewegen wollte, dass Christus das Alte Gesetz nicht habe abschaffen, sondern vollenden wollen. Sein wichtigstes Ziel war, dass die conversos Christus als Messias anerkennen sollten. Diese Vorstellung wird in den Patriarchentestamenten bedient.⁸² Solche Ideen von der Vereinbarkeit des jüdischen und des christlichen Glaubens sind zeitgenössisch im Hinblick auf das Zeitenende öfter anzutreffen. Die Tripolis-Prophetie sieht kurz vor dem Auftauchen der ‚Menschen ohne Kopf‘ eine Zeit nur eines Gottes und eines Glaubens kommen.⁸³ Der dem Königshaus und dem Papst nahestehende katalanische Franziskaner Francesco Eiximenis (um 1340 – 1409) prophezeite vor 1404 in seiner volkssprachlichen ‚Vida de Jesucrist‘, dass die Juden nach ihrer Konvertierung am Ende der Zeit fordern werden, dass man neben den Heiligen des Neuen Testaments auch die des Alten ehre, woraufhin Feste für sämtliche Propheten und Patriarchen gefeiert werden.⁸⁴ Auf Meciàs Karte findet die Einheit der beiden Religionen seinen Ausdruck in der Darstellung des Berges Sinai mit zwei Gotteshäusern (Abb. 4), eines am Fuß des Berges für die Hl. Katharina, eines am Gipfel, wo Moses die Gesetzestafeln überreicht bekam.⁸⁵ Ob es sich dabei um einen erneuten Hinweis auf die nahende Endzeit oder auf die Hoffnung auf ein Auskommen der beiden Religionen im Diesseits handelt, muss offen bleiben.
6 Fazit Die Grenzbereiche geographischen Wissens bieten Raum, den grundsätzlich vor den Menschen verborgenen Schöpfungsplan Gottes zu ergründen. Der Mallorquiner converso Mecià de Viladestes trug, möglicherweise geleitet von einem Auftraggeber oder Vermittler, unterschiedliche Informationen aus verschiedensten Quellen zusammen, entschied, welche er wo darstellte, und bekam damit die Gelegenheit sie zu deuten.
Vgl. Joel Marcus, The ‘Testaments of the Twelve Patriarchs’ and the ‘Didascalia Apostolorum’. A Common Jewish Christian Milieu?, in: The Journal of Theological Studies NS 61/2 (2010), S. 596 – 626, hier S. 603, 616 – 617; Ruth Nissé, A Romance of the Jewish East. The Ten Lost Tribes and ‘The Testaments of the Twelve Patriarchs’ in Medieval Europe, in: Medieval Encounters 13 (2007), S. 499 – 523, hier S. 514. Vgl. Marinus de Jonge, Robert Grosseteste and the Testaments of the Twelve Patriarchs, in: The Journal of Theological Studies NS 42 (1991), S. 115 – 125, hier S. 124; Alcalá Galve (Anm. 16), S. 47, 49; Nissé (Anm. 81), S. 520; Ruiz-Gálvez Priego (Anm. 16), S. 83. Vgl. oben Anm. 65. Vgl. Robert E. Lerner, The Feast of Saint Abraham. Medieval Millenarians and the Jews (The Middle Ages series), Philadelphia 2001, S. 109 – 110; vgl. S. 104 für eine weitere, ähnlich gelagerte Prophetie. Für eine ähnliche Stellungnahme vgl. Ruiz-Gálvez Priego (Anm. 16), S. 68. Parallelen zwischen jüdischem und christlichem Messianismus findet Gutwirth (Anm. 71), S. 4– 5. Viladestes-Weltkarte 1413 (Anm. 11); vgl. Sáenz-López Pérez (Anm. 12), S. 395.
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Abb. 4: Küstenlinienkarte, Mecià de Viladestes 1413, Paris, Bibliothèque nationale de France, dép. Cartes et plans, GE AA-566 (RES), Pergament, 84,5 x 118 cm, drehbar, Detail: Berg Sinai. Mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France, Paris.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Darstellung des Hirschreiters auf Meciàs Karte das Wissen über fremde Gegenden unter Rückbezug auf die eigene Geschichte als Mahnung an den neuen König Ferdinand I. auslegt. So verstanden, wäre das Kartenmachen nicht nur ein Mittel, um Machtverhältnisse darzustellen, sondern auch eine Praxis der Ausdeutung der von Gott geschaffenen Welt mit dem Ziel moralischen Rat zu geben, der sich aus dem Versuch ableitet, den an sich verborgenen göttlichen Schöpfungsplan wenigstens in Ansätzen zu verstehen. Dies wirft die Frage auf, ob Mecià selbst oder eher ein Auftraggeber bzw. Vermittler Urheber dieser moralischen Ausdeutung gewesen sein dürfte. Sie muss hier genauso offenbleiben, wie die Frage, ob Ferdinand Adressat oder nur Objekt der Kommunikationssituation ist, in der die Karte steht. Für die Praxis der Ausdeutung der Welt war die genaue Verortung der Darstellung wichtig, denn nur in Skandinavien trafen iberische Herkunfts- und Endzeitvorstellungen auf Wissen um Hirschreiter und Acephale, sodass sie zeichenhaft auf die eigene Erlebenswelt umgelegt werden konnten. Diese war für Juden und Christen gleichermaßen von Glaubens- und Zukunftsunsicherheiten geprägt. Die Karte enthält meiner Meinung nach eine Stellungnahme zu diesen Problemen in der Form eines Lösungsvorschlags, der hofft durch die Verbindung jüdischer mit christlichen Elementen einen gangbaren Weg der Religionsausübung für Juden und Christen zu schaffen. Ansätze dieser Gedanken fanden sich bereits über 100 Jahre zuvor auf der Ebstorfer Weltkarte mit den eingangs diskutierten zwei Hörnern, welche die beiden Testamente versinnbildlichen, auf die sich der Mensch stützen solle. Auf Meciàs Karte wird der Gedanke zwar nicht explizit ausformuliert, aber mit entsprechendem Vorwissen konnte das Zusammenspiel der besprochenen Kartenelemente als Aufruf an Christen und Juden verstanden werden, sich auf ihre Gemeinsamkeiten zu besinnen und sich zu einen.
Bedeutung und Funktion sakraler Räume und Gegenstände
Anne Schaich
Heilige Gefäße unter gutem Verschluss Schränke und Nischen im mittelalterlichen Kirchenraum Abstract: Medieval churches housed and conserved large collections of objects, valuable both in mundane and in spiritual terms. Candles and holy oil demanded different storage conditions from liturgical vessels, vestments and altar cloths, books and other sacred objects. Even secular possessions were housed within the church. Here, we find chests, cupboards and niches whose original role can be ascertained by careful examination of their configuration and situation. Their particular function, together with the identity of their curators can only partially be disclosed by written sources. Concealed locking devices and doors were used to keep knowledge of their existence from anyone but a chosen few senior ecclesiastics. Detailed examination of the form and decoration of individual items can often show what they were intended to conserve, whether it was treasure that was of no more than worldly significance, or treasure of the most profound spiritual significance such as the sacra vasa used for the rite of the Eucharist. This study focusses not on secular chambers such as treasure rooms or libraries but on ecclesiastical store rooms incorporated into churches. Keywords: Kirchenraum, liturgisches Personal, Aufbewahrung, Schrank, baufeste Nischen, Sakristei, Sicherheit, Eucharistieverwahrung, Altarfach Vortmeer wii beiden Brodere geven den bovenschreven Vicarien in ere Macht de besathe to beschermende alle Clenodia in Kelke in Boken mit allen anderen Ornamenten der da sin in deme Schappe bynnen edder buthen… ¹ So beschreiben – im Niederdeutschen des 15. Jahrhunderts – die Brüder Christian und Tidemann van deme Hagen aus Lübeck die Verwahrung ihrer Kelche, Bücher und anderen Kunstgegenstände (Kelke… Boken… Ornamenten) im Dom. Die zuständigen Vikare sollen auch hebben de Macht dat Schapp uppe unde tho to slutende, […] dat dar werde nicht wat aff verloren. ²
Urkundenbuch des Bistums Lübeck 3, Nr. 1954, Z. 58. Urkunde vom 24.1.1483: „Weiterhin geben wir beiden Brüder alle Kleinodien, Kelche und Bücher mit allen anderen Kunstwerken, die sich dort in dem Schrank oder außerhalb davon befinden, in die Obhut der obenstehenden Vikare, um das Besagte zu beschirmen“ (Übersetzung: Anne Schaich). „die Macht haben, den Schrank auf- und zuzuschließen […], dass davon nichts verloren gehe.“ (Übersetzung: Anne Schaich) Vgl. die entsprechenden Stichworte in den Registerbänden der Schleswig-Holsteinischen Regesten und Urkunden, hrsg. vom Landesarchiv Schleswig-Holstein. Dr. Anne Schaich, Schubertstraße 46, 78532 Tuttlingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-011
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1 Orte und Dinge Im Jahr 1483 werden private Wertsachen im Lübecker Dom aufbewahrt, und zwar in einem Schrank, einer Kiste oder Lade, denn so lässt sich das niederdeutsche Wort Schapp übersetzen. In jedem Fall ist es wohl ein bewegliches Behältnis. Die Brüder van deme Hagen beschränken den Verwahrungsauftrag jedoch nicht auf den Schapp, denn auch außerhalb davon scheinen sich Kleinodien zu befinden: b y n n e n e d d e r b u t h e n . Was damit gemeint ist, lässt sich allein anhand der Quelle nicht sagen. Zunächst sei nur festgehalten: Die Brüder vertrauen den Vikaren des Lübecker Domes ihre Wertsachen an, und sie geben ihnen dazu die Schlüsselmacht über den Schapp. Belege für die kirchliche Verwahrung privaten Besitzes oder von Geld und Urkunden der Bruderschaften, sogar des Rates der Stadt, finden sich in Lübeck – entgegen dem heutigen Verständnis des Kirchenraums – häufig. Teilweise haben sie, wie hier, liturgischen Bezug, oft handelt es sich aber um ganz weltliche Dinge, wie rechtliche Dokumente oder bares Geld. Auch in anderen Städten, etwa in Bamberg,³ ist eine solche Verwahrung überliefert. Äußerliche Gründe für diese Vorgehensweise lassen sich leicht finden: Es gab noch keine Banken oder Schließfächer für Privatleute; profanes Vermögen bestand weniger aus Geld als in materiellen Gütern und Urkunden. Diese wollte man einbruchssicher, feuerfest und trocken aufbewahren – Bedingungen, die in Kirchen weitgehend erfüllt wurden. Neben den baulichen Aspekten versprachen sich die Bürger einer Stadt wohl von sakralen Bauten auch spirituellen Schutz und brachten daher ihre privaten Kisten in der örtlichen Pfarr- oder Klosterkirche unter. Wo standen all diese Laden und Schappen? Manchmal gibt es Belege für die Aufstellung in der Sakristei der jeweiligen Kirche, meist wird dieser Raum in den Urkunden lediglich als Ort der Ausfertigung genannt;⁴ über den Standort der Urkundenkisten erfährt man indessen nichts.⁵ Sie waren, wie gesagt, mobil. Die Kästen
Renate Neumüllers-Klauser, Der Bamberger Dom als Stätte mittelalterlicher Rechtspflege, in: Berichte des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 102 (1966), S. 177– 189, hier S. 188. Anne Schaich, Mittelalterliche Sakristeien. Architektur und Funktion am Beispiel Lübecks, München 2000, S. 102. In Baumonografien findet die baufeste Ausstattung teilweise Erwähnung, nicht aber Nischen und Wandschränke ohne klare liturgische Funktion. Die wenigen Überblickswerke zu Kirchenausstattungen nehmen kaum die beweglichen oder eingebauten Verwahrmöglichkeiten für liturgisches Gerät etc. in den Blick: Joseph Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, Freiburg i. Br. 1924; Adolf Reinle, Die Ausstattung deutscher Kirchen im Mittelalter. Eine Einführung, Darmstadt 1988. „Wichtigstes Desiderat aber bleibt die funktionale, ästhetische und sinnstiftende Verortung der Gegenstände im Raum liturgischer Handlung und Repräsentation.“ Diese Feststellung Claudia Meiers von 2010 gilt auch zehn Jahre später noch: Claudia Annette Meier, Formen und Funktionen mittelalterlicher Kirchenausstattung im liturgischen Raum. Ein aktueller Forschungsbericht, in: Norbert Nußbaum (Hg.), Die gebrauchte Kirche. Symposium und Vortragsreihe anlässlich des Jubiläums der Hochaltarweihe der Stadtkirche Unserer Lieben Frau in Friedberg (Hes-
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selbst werden seit frühester Zeit im kirchlichen wie im profanen Bereich verwendet. Sie dienen als Behältnis für private Wertsachen oder den Besitz einer Herrschaft, der Kirche oder gar für Reliquien. Das Material variiert: Meist sind sie aus Holz, Metall, Leder, Textilien oder Elfenbein gefertigt. Noch vielfältiger ist das Dekor, das bisweilen, etwa bei Reliquien, auf den Inhalt hinweist.⁶ Häufig überliefert ist die massivere Schwester der Kästen, die Truhe.⁷ Hier gibt es zwei Varianten: Zum einen die Stollentruhe, bei der die aus wenigen Brettern bestehenden Wangen zwischen zwei stabilen Beinen, den Stollen, eingehängt sind, so dass Bodenfreiheit entsteht. Man kann unterscheiden zwischen Seit- und Vorderstollentruhen. Als Verschluss dient ein flacher Deckel, dessen Schloss in die meist dekorativ gestaltete Vorderseite integriert ist. Solche Truhen wurden bis in die frühe Neuzeit hergestellt. Eigentlich bis heute überdauerte das Leben der klassischen Truhenform mit – oft gewölbtem – verschließbarem Deckel. Sie waren meist noch massiver gearbeitet und oft mit kantenübergreifenden Eisenbändern versehen. Allen Truhen gemeinsam ist, dass sie mittels seitlicher Griffe tragbar waren. Truhen dienten in vielen Wohn- und Geschäftsräumen als Aufbewahrungsmöbel, aber sie finden sich ebenso in Kirchen. Manche Truhen haben einen Geldeinwurfschlitz, dann kann man sie in Räumen mit Publikumsverkehr vermuten, z. B. in der Nähe von Kirchenein- und -ausgängen.⁸ Eine solche armierte Truhe mit Einwurfschlitz, Seitengriffen und starken Schlössern ist beispielsweise in der Annaberger Annenkirche überliefert.⁹ Wenn ein komplizierter Schließmechanismus die Truhen sichert, wird die Platzierung im öffentlichen Raum noch wahrscheinlicher, denn dies wäre im Privatbereich
sen) 1306 – 2006, Stuttgart 2010, S. 105 – 110, hier S. 108. Aus den genannten Bedingungen ergibt sich, dass viele der folgenden Beobachtungen nicht mit Literatur belegt werden können – sie sind schlicht nirgendwo beschrieben. Einzelne oder Gruppen von Kästen und Laden sind im Bereich der Realienkunde, z. B. in Museumskatalogen beschrieben; selten wird hier jedoch ein sakraler Bezug deutlich. Karl Heinrich von Stülpnagel, Monoxylone Behältnismöbel aus mitteldeutschen Kirchen, in: Michael Beyer (Hg.), Zur Kirche gehört mehr als ein Kruzifix. Studien zur mitteldeutschen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte, Festgabe für Gerhard Graf zum 65. Geburtstag, Leipzig 2008, S. 229 – 250; Torsten albrecht, Truhen – Kisten – Laden. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart am Beispiel der Lüneburger Heide, Petersberg 1997. Zu Konstruktion und Aussehen der Truhen mit zahlreichen Beispielen siehe Olaf Karlson, Truhe – Schrank – Altarschrein. Studien zum Bestand mittelalterlicher Möbel der mitteldeutschen Region von ca. 1200 bis ca. 1500, Halle a.d. Saale, Wittenberg 2001; Karl-Heinz Wüstner, Elmar Hahn u. Helen Klotz-Dietrich (Bearb.), Truhen im Wandel der Zeit. Bewahrmöbel aus 4 Jahrhunderten. Begleitbuch und Katalog zur gleichnamigen Sonderausstellung im Rößler-Museum Untermünkheim, Ilshofen 2013; siehe auch Heinrich Kreisel und Georg Himmelheber (Bearb.), Die Kunst des deutschen Möbels, Bd. 1, 3. Aufl. München 1981; Franz Windisch-Graetz, Möbel Europas.Von der Romanik zur Spätgotik. Mit einem Rückblick auf Antike und Spätantike, München 1982. Albrecht (Anm. 6), S. 171. Anne Schaich, Mittelalterliche Sakristeien im deutschsprachigen Gebiet. Architektur und Funktion eines liturgischen Raums, Kiel 2008, S. 150.
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Abb. 1: Annaberg, St. Anna: Truhe mit Geldeinwurfschlitz. Foto: Anne Schaich
nicht nötig. Dass in den Kirchen wie heute Geld für die Armen gesammelt wurde, zeigen einige in situ erhaltene Opferstöcke, wie der nach dem Relief auf der Vorderseite benannte ‚Arme Lazarus‘ aus dem Freiberger Dom. Auch an anderen publikumswirksamen Orten innerhalb des Kirchenraums, wie etwa am Chorausgang, konnten Truhen platziert werden; genaue Angaben finden sich zuweilen in lokalen Quellen, wenn für konkrete Zwecke gespendet werden sollte.¹⁰ Ebenfalls schon seit dem Hochmittelalter gibt es hohe, stehende Schränke, die zunächst in ihren schmalen Proportionen den Truhen sehr ähneln, manchmal gar wie aufrecht gestellte Truhen wirken. Auch sie sind durch Metallbänder und geschmiedete Riegel gut verschließbar. Allerdings weisen sie oft mehrere Türen und innen verschiedene Fächer auf. Manche dieser Schränke haben einen giebelartigen Aufsatz. Heute werden sie oft als ‚Sakristeischränke‘ bezeichnet, und häufig stehen sie auch in der Sakristei, jedoch kann ihr Standort über Jahrhunderte leicht gewechselt haben.¹¹ Wenn in ihrem Innern Aufhängemöglichkeiten wie Haken angebracht sind, könnte man voreilig auf eine Funktion als Kleiderschrank schließen und damit auch auf den Standort in der Sakristei als Raum der Umkleide. Zum einen ist jedoch auch hier selten belegbar, wie alt diese Vorrichtungen tatsächlich sind, denn auch ein Schrank kann umgebaut werden. Zum anderen ist bisher nicht geklärt, seit wann Kleider auf Bügeln hängend verwahrt werden. Priestergewänder wurden schon wegen ihrer Stofffülle zusammengelegt und liegend verwahrt – selbst einfache Paramente dieser Art sind nur schwer an Bügeln oder Haken hängend vorstellbar. Sehr selten ist der Inhalt bestimmter Schränke durch schriftliche Quellen belegt. Wenn sie auffallend dekorativ gearbeitet sind, sollten sie wohl gesehen werden; manchmal ist der Inhalt an der Ausschmückung oder an der inneren Aufteilung erkennbar.Vor allem Heiligenbilder oder Darstellungen, die im Zusammenhang mit dem
St. Edmundsbury in England: Ralph Edwards, The Dictionary of English Furniture, Bd. 2, Woolbridge 1986, S. 2. Ausführliche Beschreibungen, aber wenig zur Funktion verschiedenster Schranktypen bietet Karlson (Anm. 7). Die eigentlichen Sakristeischränke, die im Laufe der Jahrhunderte zu ganzen Schrankwänden anwachsen konnten, sollen hier nicht thematisiert werden, denn ihre Funktion und ihr Standort sind weitgehend gesichert. Vgl. Schaich (Anm. 9), S. 212– 213.
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Abb. 2: Dom St. Marien Freiberg, Opferstock (sog. „Armer Lazarus“). Foto: Otto Schröder
Messopfer stehen, deuten darauf hin, was verwahrt wurde – sie lassen auf Vasa sacra (Heilige Gefässe) oder Reliquien der gezeigten Heiligen schließen. Den genauen Standort der Schränke festzulegen, ist dennoch schwierig. Vorschriften dazu, dass die Vasa sacra für einen bestimmten Altar in dessen Nähe aufbewahrt werden sollten, existieren nicht. Der klassische Ort für Gerätschaften ist die Sakristei. Allerdings wissen wir aus Zisterzienserkirchen, dass Schränke durchaus im Kirchenraum ihren Platz hatten, denn bei den Zisterziensern finden wir – als einzige Quelle dieser Art – die Vorschrift, dass Schränke im Presbyterium stehen sollten, um die Geräte für den Vollzug der Messe aufzunehmen. Der berühmte ‚Kelchschrank‘ in Bad Doberan (um 1300) stand im Chorumgang des Münsters.¹² In seinen vielen kleinen Gefachen waren nachweislich Vasa sacra für den Hauptaltar untergebracht. Dagegen ist der in der Forschung ebenfalls seit langem bekannte Halberstädter „Reliquienschrank“ innen mit den Heiligen Katharina und Kunigunde bemalt und kann daher wohl den entsprechenden Altären der Halberstädter Liebfrauenkirche zugeordnet werden.¹³ Hier kann man nur aus dem offensichtlichen Repräsentationsan-
Annegret Laabs, Malerei und Plastik im Zisterzienserorden. Zum Bildgebrauch zwischen sakralem Zeremoniell und Stiftermemoria 1250 – 1430, Petersberg 2000, S. 97– 102; Norbert Wolf, Deutsche Schnitzretabel des 14. Jahrhunderts, Berlin 2002. Zu Schränken bei den Zisterziensern: P. Fulgentius Schneider, Vom alten Meßritus des Cistercienser-Ordens, in: Cistercienser-Chronik 38 (1926), S. 193. Nachreformatorisch: Christa-Maria Jeitner, Die Sakristei im Dom zu Brandenburg – die Geschichte ihrer Einrichtung nach der Reformation, in: Florian Fiedler (Red.), Dom zu Brandenburg. Eine Tagung des Deutschen Nationalkomitees von ICOMOS und des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege, 2.–3. Dezember 1996 (Hefte des Deutschen Nationalkomitees 25), München o. J. [1996], S. 61– 67. Die Forschung bietet unterschiedlichste Datierungen und Funktionszuschreibungen zu dem Schrank; stellvertretend sei hier genannt: Hans-Joachim Krause, Zur Geschichte und Funktion des Halberstädter Schranks, in: Halberstadt. Studien zu Dom und Liebfrauenkirche (Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse 74/2), Berlin
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spruch auf die Aufstellung im Kirchenraum schließen – allerdings waren nachweislich auch manche Sakristeien öffentlich zugänglich.¹⁴ Deutlich wurde, dass Funktionen, Typologie und Verortung kirchlicher Aufbewahrungsmöbel kaum präzise zu bestimmen sind. Wenden wir uns daher einer weniger mobilen Schrankform im Kirchenraum zu – den baufesten Nischen in den Mauern. Bisher liegt keine systematische Aufstellung der Nutzungsarten aller – durchaus verschiedenen – Nischen im Kirchenraum vor. Die einzige der Autorin bekannte Auflistung ist auf einer Internetseite über mittelalterliche Dorfkirchen in Brandenburg zu finden. Hier werden neben Sakramentsnische, -schrank und -häuschen noch „Piscina und Sacrarium“, Kredenz-, Licht- und Sitznischen aufgeführt.¹⁵ Einigen der hier aufgeführten Nischenarten wurden eigene Untersuchungen gewidmet, vor allem den liturgisch bedeutenderen, nämlich Sakramentsnischen und Piszinen.¹⁶ Für die Eucharistie und ihre Behältnisse regelten die Vorschriften etwa ab dem 4. Laterankonzil 1215, dass sie „unter gutem Verschluss“ (intra claves), am Altar aufbewahrt werden mussten.¹⁷ Die in dieser Zeit, also ab dem 13. Jahrhundert für die 1997, S. 126 – 143; Elisabeth Rüber-Schütte fasste die Diskussion kürzlich zusammen: Elisabeth Rüber-Schütte, So genannter Reliquienschrank aus der Liebfrauenkirche, in: Der Heilige Schatz, Regensburg 2008, S. 376 – 379. In Halberstadt boten auch die Altäre viele Stauraum, dazu s.u. Z. B. die der Marburger Elisabethkirche, vgl. Andreas Köstler, Die Ausstattung der Marburger Elisabethkirche: Zur Ästhetisierung des Kultraums im Mittelalter, Berlin 1995; Anne Schaich, Mittelalterliche Sakristeien: Schlüsselgewalt und Kontrolle, in: Caroline Emmelius u. a. (Hgg.), Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 2004, S. 195 – 210. Http://userpage.fu-berlin.de/engeser/potsdam-mittelmark/ (letzter Zugriff am 4. 3. 2020). Als Autoren sind Theo Engeser und Konstanze Stehr genannt (Jühnsdorf, 1999 – 2004). Neben kurzen Funktionsbeschreibungen der jeweiligen Nischenformen werden Beispiele aus dem Untersuchungsbereich und darüber hinaus erwähnt. Als wissenschaftliche Grundlage sind die Texte zu dürftig und auch nicht ganz korrekt, interessant ist jedoch der typologische Fokus auf Wandnischen als Bauteile. Bei der Zuordnung ist allerdings immer zu bedenken, dass die Nischen als Bestandteile der Architektur lange vor ihrer Nutzung geplant und in die Mauer eingesetzt wurden, so dass eine monofunktionale Zuschreibung ohnehin nur bedingt sinnvoll ist. Zu Sakramentsnischen beispielhaft: Kinga German, Sakramentsnischen und Sakramentshäuser in Siebenbürgen. Die Verehrung des Corpus Christi, Petersberg 2014; Justin E. A. Kroesen, Heiliges Grab und Tabernakel. Ihr Zusammenhang im mittelalterlichen Kirchenraum, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 53/4 (2000), S. 290 – 300; neuer: Ders., Die mittelalterliche Sakramentsnische auf Gotland (Schweden). Kunst und Liturgie, Petersberg 2014; Beate und Alexander Wieckowski, Sakramentsnischen in Dorfkirchen im nordwestsächsischen Raum, in: Michael Beyer (Hg.), Zur Kirche gehört mehr als ein Kruzifix. Studien zur mitteldeutschen Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte, Festgabe für Gerhard Graf zum 65. Geburtstag, Leipzig 2008, S. 251– 264. Grundlegend: Felix Raible, Das Tabernakel einst und jetzt, Freiburg 1908. Zu Piszinen: Justin E. A. Kroesen, Die liturgische Piszina und ihre Ausstattung im Mittelalter, in: Ulrike Wendland (Hg.), … das Heilige sichtbar machen. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Regensburg 2010, S. 237– 256; Fritz Reinboth, Freistehende Piszinen in Zisterzienserkirchen, in: Harz-Zeitschrift 43/44 (1992), S. 141– 144. 4. Laterankonzil 1215, Text nach Peter Browe (übersetzt) bei German (Anm. 16), S. 122, Anm. 691, vgl. S. 110; vgl. Peter Browe, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München 1933, S. 18.
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Eucharistieverwahrung entstehenden Nischen und Schränke sind so deutlich gekennzeichnet, dass sie hier außer Acht gelassen werden. Das gleiche gilt für Piszinen, deren äußere Form durch Höhe, Position, Ausguss etc. ihre Funktion anzeigt und sie von den Aufbewahrungsnischen abgrenzt. Auch Sitznischen oder Sedilien, in einigen Orten bekannt als „Levitensitze“, wären eine Untersuchung wert, weichen aber in ihrer Nutzung vom hier fokussierten Thema ab. Ihre Beschaffenheit – offene, relativ große Wandeintiefungen in Kniehöhe – verweist ebenso augenfällig auf ihre Funktion wie die Platzierung in der meist südlichen Chorwand. Das Augenmerk gilt hier vor allem Aufbewahrungsnischen ohne klar erkennbare Funktion. Bei der Durchsicht lokaler Quellen zu unterschiedlichen Kirchenbauten fand sich ein einziges schriftliches Dokument, das ausdrücklich eine Aufbewahrungsnische beschreibt.¹⁸ Zudem stammt es aus nachmittelalterlicher Zeit, da es aber von einem Schrank „in der Mauer“ des Reventers (das ist die Sakristei) im Lübecker Burgkloster spricht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser schon zur Erbauungszeit der Klostersakristei existierte. Vom Inhalt erfahren wir indes nichts. Ein Problem ist, dass die Wandnischen zwar sehr langlebig und nicht mobil sind, ihr Erscheinungsbild aber verändert werden kann. Sie entstehen in ehemaligen Fenstern, Binnenfenstern, Hagioskopen oder auch Kaminen, sie werden vermauert oder erhalten neue Türen bzw. werden dieser beraubt. Verwechslungsgefahr könnte auch bestehen bei romanischen Altarnischen, die außer Gebrauch gekommen sind.¹⁹ Betrachten wir zunächst die Wandeintiefungen, die im Mittelalter offensichtlich als verschlossene Schränke dienten. In den Bauwerken sind solche Nischen in großer Zahl erhalten, gehäuft in Sakristeien und im Presbyterium. Im Zisterzienserkloster Eberbach finden sich mehrere Wandnischen annähernd gleichmäßig verteilt in allen Chorkapellen sowie an den Nebenaltarstandorten der Seitenschiffe. Da es hier außerdem Piszinen gibt, wie es bei den Zisterziensern für jeden einzelnen Altar vorgeschrieben war,²⁰ dienten die einfacheren Wandeintiefungen sicher anderen Zwecken. Die genaue Untersuchung zeigt: Einige der Nischen haben einen rundum laufenden Falz in der Leibung, in den eine Tür gesetzt werden konnte. Eine von ihnen hat außerdem Löcher im linken Rahmenstein, in die die Türangeln ein-
Lübeck, Archiv der Hansestadt Lübeck 3, B 4, 48, Urkunde vom 6.4.1623. Die Nische ist vielleicht identisch mit dem Schrank, der Ende des 15. Jh. in eine alte Portalnische eingebaut wurde, als der Zugang verlegt wurde: Schaich (Anm. 4), S. 74, oder mit der Schrankfassade im Annenmuseum von 1534, vgl. Max Hasse, Bilder und Hausgerät. Katalog des St.-Annen-Museums für Kunst- und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, Lübeck 1969, S. 96. Justin Kroesen beschreibt eine solche Altarnische in der Dorfkirche von Mästerby auf Gotland, die um 1200 ausgemalt wurde: Justin A. Kroesen, Seitenaltäre in mittelalterlichen Kirchen. Standort – Raum – Liturgie, Regensburg 2010, S. 101. Vgl. Reinboth (Anm. 16).
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Abb. 3: Zisterzienserkirche Eberbach, Südliches Seitenschiff Richtung Chor. Foto: Anne Schaich
griffen. Die Tür wäre also links angeschlagen. Auch im unteren Bereich befindet sich ein Loch, das aber nicht ohne weiteres erklärbar ist. Leider sind Türen von verschließbaren Nischen gerade im Kirchenraum nur sehr selten erhalten, und meist handelt es sich bei näherer Betrachtung um eine – evtl. ehemalige – Sakramentsnische. Eine Ausnahme ist der so genannte ‚Wunderblutschrein‘ aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts in der gleichnamigen Kapelle der Wallfahrtskirche von Bad Wilsnack.²¹ Der Schrank nimmt eine gesamte Schildbogenfläche ein. Die Bemalung der oberen Türen bezieht sich eindeutig auf das berühmte Blutwunder, das die Wallfahrt nach Bad Wilsnack initiierte. Im unteren Bereich sind kleinere, heute ungefasste Türen eingebaut.Wie bei den mobilen Schränken in Halberstadt und Bad Doberan ist der Inhalt des Schranks bekannt, und die Verwahrung der bekannten Reliquie als sicher anzunehmen. Wenn man davon ausgeht, dass die Türen in situ überliefert sind, liegt hier der Beleg für eine Reliquienverwahrung in einem erhaltenen Wandschrank vor. Zwei Fragen bleiben offen: Wurden in den vielen kleinen Fächern weitere Reliquien oder die Gerätschaften für den zugehörigen Altar verwahrt? Und: Wozu diente der heute als Südsakristei bezeichnete Raum zur Zeit des Schrankeinbaus – war er Kapelle oder Sakristei? Zu den Beispielen für Reliquienverwahrung in einer Wandnische gehört auch der sogenannte ‚Tresor‘ für einen Heilig-Kreuz-Partikel in der Zwickauer Marienkirche.²² In der Erscheinung ist er wohl einzigartig: Wie ein barocker Balkon kragt das eiserne Gitter aus der Wand hervor und schützt die inneren Türen aus Metall(!), die die wertvolle Reliquie bargen. Meist ist es umgekehrt: Außen befinden sich massive Holzflügel, nach innen folgen metallene Gittertüren, die oft dekorativ gearbeitet sind. Eine solche Anordnung kann als Hinweis auf Sakraments- oder Reliquienverwahrung verstanden werden. Tatsächlich findet man sie häufig an Nischen, für die eine solche Funktion erwiesen ist. Die Gittertüren erhöhten dabei nicht nur die Sicherheit, sondern ermöglichten auch die im Spätmittelalter an vielen Kirchen übliche ständige
Karlson (Anm. 7), S. 88 – 90. Zur Verbindung von Heiligkreuz- und Heiliggrabnischen: Kroesen 2000 (Anm. 16), S. 294.
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Abb. 4: Zisterzienserkirche Eberbach, Chorkapelle: Wandnische. Foto: Anne Schaich
Anbetung des Heiltums.²³ Wenn man nämlich nur die äußeren Türen öffnete, konnte das Heil ungehindert zu den Gläubigen im Kirchenraum strömen – und sie konnten es in seiner Monstranz auch s e h e n . Oft sind solche zweifach gesicherten Wandschränke zusätzlich zu Sakramentsnischen im selben Chorraum erhalten. Dass es sich um umgenutzte ehemalige Sakramentsnischen handelt, wie etwa im Meißner Domchor, wo eine Sakramentsnische dem großen Sakramentshaus voranging,²⁴ ist sicher kein Einzelfall. Formale Ähnlichkeit zum Zwickauer ‚Tresor‘ weisen die Halberstädter Buchgitter auf, die man im Chor des dortigen Doms findet. Es sind Kästen aus Metallstäben, die auf den vorspringenden Simsen an der Außenseite der Schranken im Chorumgang angebracht sind. Die Bücher wurden auf die Simse gelegt und konnten problemlos gelesen und geblättert werden, denn die Stäbe sind weit genug gesetzt, um hindurch zu greifen und ausreichend hoch, um die Seiten zu wenden. Eine andere Möglichkeit war, Bücher an den Altären selbst anzuketten. Beide Vorkehrungen lösten das Problem, wie Bücher, die immer wieder am gleichen Ort gebraucht wurden – nämlich an einem bestimmten
Browe (Anm. 17), S. 135. Vielleicht sind aus diesem Grund fast nur noch Gittertüren erhalten: Die Holztüren älterer Sakramentsnischen wurden im Spätmittelalter entfernt und an den spätgotischen Sakramentshäusern gar nicht mehr angebracht. Ein seltenes Beispiel für Holztüren vor einer Sakramentsnische, sogar mit der eindeutigen Darstellung einer Messfeier ist in der Soester Wiesenkirche erhalten. Vgl. Nicola Assmann, Das hölzerne Sakramentshaus im Chor der Wiesenkirche in Soest, in: Beiträge zur Kunstgeschichte der Wiesenkirche in Soest, Münster 1992, S. 52– 66. Abb. Schaich (Anm. 9), S. 63.
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Altar – ohne viel Hin und Her in öffentlich zugänglichen Räumen sicher verwahrt werden konnten.²⁵ Doch zurück nach Eberbach, wo die meisten Nischen der Klosterkirche leider keine direkten Hinweise auf ihre Bestimmung liefern. Einige von ihnen weisen weder Falz noch Löcher auf, jedoch kragt der Boden ein wenig vor und bildet ein Sims.
Abb. 5: Zisterzienserkirche Eberbach, Chorkapelle: Wandnischen. Foto: Anne Schaich
Eine solche Nische war nicht verschließbar. Offensichtlich gab es Gegenstände, die weggeschlossen werden mussten und andere, die entweder nicht so wertvoll waren, dass dies nötig war, oder die Nischen lagen in einem anders gesicherten Bereich (z. B. innerhalb der Chorschranken). Eine weitere Möglichkeit: Vielleicht sollten hier Gegenstände zur Schau gestellt werden – aber nur für kurze Zeit? Dauerhaft oder nur für den Gebrauch während der Messe waren im Chor vor allem Vasa sacra unterzubringen: Kelch, Patene und andere Gefäße wie Opferschale, Monstranz, Fistula etc., dazu die nötigen Paramente. Da viele spätmittelalterliche Sakramentshäuser große oder unterteilte Fächer aufweisen, ist wohl davon auszugehen, dass die heiligen Gefäße gewöhnlich dort zusammen mit dem Sakrament verwahrt wurden. Für die übrigen Nischen in Altarnähe bleiben die weniger spirituell verehrten als materiell wertvollen Gerätschaften und Bücher. Dazu zählen: ‒ Vasa non sacra, z. B. Weihrauch-, Öl und Waschgefäße ‒ Bücher ‒ Kerzen und Kerzenhalter, Anzündmaterial ‒ Handtücher ‒ Kleine Paramente, z. B. Velum und Palla, Purificatorium ‒ Ölgefäße und heilige Öle²⁶ ‒ Urkunden
Patrizia Carmasse, Liturgie und Buch in der Tradition der Halberstädter Kirche, in: Harald Meller, Ingo Mundt u. Boje E. Hans Schmuhl (Hgg.), Der heilige Schatz im Dom zu Halberstadt, Regensburg 2008, S. 162, Abb. S. 159. Bücher wurden auch an Lesepulte gekettet: Walter Schürmeyer (Hg.), Bibliotheksräume aus fünf Jahrhunderten, Frankfurt a. M. 1929, S. 9. Sie sollten ebenfalls sub clave verwahrt werden: ODONIS DE SOLIACO (1150 – 1208) PARISIENSIS EPISCOPI SYNODICAE CONSTITUTIONES (MANSI, Concil., XXII, 675). In der Wiesenkirche in Soest ist eine mit einer Gittertür verschlossene Nische als Olearium erhalten.
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Einiges davon war mit Sicherheit dauerhaft in der Nähe des Altars untergebracht, etwa die Kerzen und Kerzenhalter. Sie konnten vermutlich offen liegen, wie vielleicht auch Handtücher und Waschkessel. Bei den meisten Gegenständen kennen wir den Ort jedoch nicht. Trotz intensiver Suche z. B. in Libri ordinarii und anderen lokalen Quellen ist selten auszumachen, welche Gegenstände genau wo gelagert wurden. Hinweise geben allenfalls Dokumente, die die Transportwege vorschreiben. Die entsprechenden Quellen wurden bisher allerdings nur in Bezug auf die Sakristei ausgewertet.²⁷ Fast sämtliche der oben aufgezählten Gegenstände waren immerhin so wertvoll, dass ihre dauerhafte Verwahrung in einer nicht verschließbaren Nische nicht in Betracht kam. Daraus folgt, dass die meisten der heute offenen Nischen entweder zur Untersuchungszeit tatsächlich abschließbar waren oder, wie bereits angedeutet, in einem Bereich lagen, der dem Publikum nur sehr eingeschränkt zugänglich war, oder Gegenstände darin zeitweise zur Schau gestellt werden sollten. Auffällig ist, dass sich die Nischen gerade in Chor- und Kapellenräumen häufen, die ehemals oft abgeschrankt waren. Aber auch diese Nischen sind oder waren oft nochmals verschließbar. Eine Nischenform, die stets offen war, findet sich häufig in der Nähe von Türen. Sie taucht nicht nur im Kirchenraum, sondern auch im Klausurbereich von Klöstern auf und wäre sicher auch in profanen Gebäuden zu finden, soweit die Mauern rund um Ein- und Ausgänge intakt erhalten sind. Es handelt sich um sehr kleine, meist spitzbogige Mauereintiefungen, die vermutlich dem Abstellen von Lichtern dienten. Würde man ihren Putz untersuchen, dann wären sicher Rußspuren nachweisbar. Beispiele finden sich an der kirchenseitigen Tür zur Sakristei des Zisterzienserklosters in Bebenhausen sowie im Schlafsaal des Klosters Eberbach.²⁸ Die Verwendung anderer Nischen ist wohl nur mit genauer Kenntnis des Bauablaufs der jeweiligen Kirche zu klären – soweit die vorliegenden Monografien sie überhaupt in den Blick nehmen. Dazu gehört etwa eine hochgelegene, getreppte Wandöffnung in der Reutlinger Marienkirche²⁹. Sie verweist auf eine oben erwähnte Nischenart: Fenestella oder auch Oculus genannte Binnenfenster, die manchmal später vermauert wurden.³⁰
Vgl. Schaich (Anm. 9). Für Anregungen zu diesem Thema auf dem Symposium des Mediävistenverbandes in Bonn 2017 danke ich Vera Henkelmann. Vgl. Schaich (Anm. 9), S. 201; zu Bebenhausen S. 83. Schaich (Anm. 9), S. 118. Ein ähnliches Fenster in der Lübecker Ägidienkirche: Schaich (Anm. 4), S. 70. Vgl. Katrinette Bodarwé und Clemens Kosch, Fürsten – Äbtissinen – Heilige. Zu prominenten Grablegen des Frühund Hochmittelalters in der Regensburger Frauenstiftskirche Niedermünster, in: Mareike Liedmann und Verena Smit (Hgg.), Zugänge zu Archäologie, Bauforschung und Kunstgeschichte – nicht nur in Westfalen. Festschrift für Uwe Lobbedey zum 80. Geburtstag, Regensburg 2018, S. 350 f. In seinen eigens entwickelten Plänen zur liturgischen Topografie kennzeichnet Kosch auch durch Oculi ermöglichte Sichtbeziehungen. Z. B. Clemens Kosch, Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter, Regensburg 2000. Zu Oculi siehe auch Kroesen (Anm. 19), S. 85.
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2 Verborgen im Altar Ein Ort der Aufbewahrung, der für Außenstehende kaum wahrnehmbar ist, sind die Altarstellen selbst. Auch hier sind nicht die offensichtlich der Reliquienverwahrung dienenden Altarschreine gemeint – ein interessantes Beispiel steht wieder in Halberstadt, nämlich der ‚Heiltumsschrank‘ vom Hochaltar des Domes –³¹ sondern unauffällige, manchmal geradezu getarnte Verstecke. Obwohl es nicht vorgeschrieben war, wurden Gerätschaften, die zusammen mit der Altarstelle gestiftet wurden, um eine Totenmesse zu lesen, wohl oft in deren Nähe aufbewahrt.³² Bei genauem Hinsehen findet man in sehr vielen Retabeln, in Predellen, aber auch in Altarstipen allerlei Türen und Fächer. Sie sind natürlich nicht zu verwechseln mit Vorrichtungen zur liturgisch wirksamen Verhüllung, die sich immer an der Vorderseite der Retabel öffnen (obwohl sie manchmal von hinten bedient werden können).³³ Auch Reliquiensepulchra in Altarmensen sind hier nicht gemeint, sondern solche Fächer, die ohne viel Aufwand von hinten oder von der Seite geöffnet werden können und Platz für Gerät bieten. Am häufigsten findet man kleine Türen seitlich an der Predella.
Abb. 6: Unbekannte schwedische Dorfkirche: Seitliche Klappe in der Predella des Hauptaltars. Foto: Anne Schaich
Olaf Karlson, Der so genannte Heiltumsschrank vom Hochaltar des Domes, in: Harald Meller, Ingo Mundt u. Boje E. Hans Schmuhl (Hgg.), Der heilige Schatz im Dom zu Halberstadt, Regensburg 2008, S. 398 – 401, hier S. 401. Karlson macht hier – unabhängig von der angewandten Technik der Tüchleinmalerei – auf eine Möglichkeit des Verbergens aufmerksam, die wenig untersucht ist, nämlich das Behängen mit Tüchern und Teppichen. Auf Darstellungen mittelalterlicher Altäre sind manchmal Stangen zu sehen, die von der Retabelebene in den Raum ragen und teilweise Tücher tragen: Sybille Steinmetz, Das Altarretabel in der altniederländischen Malerei. Untersuchungen zur Darstellung eines sakralen Requisits vom frühen 15. bis zum späten 16. Jahrhundert, Weimar 1995. Wegen der steigenden Anzahl an Altarstellen reichte der Platz in der Sakristei manchmal nicht mehr aus, vgl. Schaich (Anm. 9), S. 207. Dazu gehören Reliquienaltarschreine und Wechselretabel. Im Barock wird die Altarschauwand häufig zum Aufbewahrungsort des Tabernakels.
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Sie sind von vorne nicht zu sehen, weil sie in den Predellenkörper eingelassen und farblich oft der Holzfassung angepasst sind. Besondere Sicherungen weisen sie nicht auf; nur kleine Haken hindern die Türchen daran, sich von alleine zu öffnen. Da diese Nischen naturgemäß recht schmal sind, sind hier lediglich Kerzen, Anzündmaterial etc. zu vermuten. Auch diese Fächer sind zu unterscheiden von bildlich veränderbaren Predellen, wie sie in der Pfarrkirche von Roßwein-Gleisberg (Sachsen) und der Wiesenkirche in Soest überliefert sind.³⁴ Anders verhält es sich mit den Fächern, die an der Rückseite großer Retabel durch die abwechslungsreiche plastische Gestaltung der Schauseite entstanden. Offensichtlich wurde der Holzkörper dieser Aufbauten wie ein Schrank aufgefasst. Häufig konnten hier mehrere verschließbare Fächer untergebracht werden. Ihre Öffnungsmechanismen sind dieselben wie für die Wandlungen der Vorderseite, jedoch sind sie einfacher zu bewerkstelligen, weil die Türflügel selten die gesamte Fläche in Anspruch nehmen und daher leichter sind. Die Sicherungshaken und -riegel sind stets von einem hier stehenden Menschen zu erreichen. Bildliche Verzierungen finden sich nur, wenn der Raum hinter dem Altar, z. B. zur Beichte, genutzt wurde und daher auch die Retabelrückseite gefasst war.³⁵ Auch Altarblöcke wurden zur Verwahrung genutzt.³⁶ Dazu waren sie mit hölzernen Türen seitlich oder von hinten zu öffnen, wie z. B. die Seitenaltäre im Fritzlarer Dom und im Chorumgang des Halberstädter Domes.³⁷ Eine mittelalterliche Darstellung eines solchen ‚Schranks‘ stammt aus der Schinkelkapelle der Lübecker Marienkirche: Das Relief auf einem hölzernen Wandschrank (!) zeigt in perspektivischer Darstellung Johannes den Täufer knieend vor einem Altar, auf dem ein Kruzifix steht.³⁸ Während der Block vorne durch ein Antependium verhüllt ist, ist an seiner Seite, von der Bildarchitektur beschnitten, gerade noch eine leicht geöffnete Tür zu erkennen. Interessant wird diese Darstellung durch die Bild-im-Bild-Situation. Fast scheint es, als sollte durch die offenstehende Tür auf das Altarinnere hingewiesen werden. Die im Spätmittelalter gängige Gleichsetzung des Altars mit dem Leib Christi, der in der Messe den Gläubigen dargeboten wird, legt Interpretationen des Schrankfaches nahe,
Die Predella in Roßwein-Gleisberg hat hölzerne Schiebetafeln und zeigt außen zwei Heilige, im Innern den Marientod. In der Wiesenkirche in Soest sind auf einem über die Länge klappbaren Brett außen Verkündigung, Geburt und Anbetung der Könige und innen sechs (!) Apostel zu sehen. Vgl. Robert Suckale, Der mittelalterliche Kirchenbau im Gebrauch und als Ort der Bilder, in: Uwe M. Schneede (Hg.), Goldgrund und Himmelslicht. Die Kunst des Mittelalters in Hamburg (Ausst.-Kat.), Hamburg 2000, S. 15 – 25, hier S. 17. Nikolaus Pevsner, John Fleming und Hugh Honour, Art. Altar, in: Lexikon der Weltarchitektur (1971), S. 22– 23. Eine Prüfung mittelalterlicher Altäre auf dieses Merkmal hin würde sicher so viele weitere Beispiele zutage fördern, dass die Fächer ähnlich wie Predella und Aufsatz zum festen Bestandteil der Verwahrmöglichkeiten gerechnet werden könnten. Nach der Wiederherstellung wurde der Schrank 1906 in die Briefkapelle versetzt, siehe Gustav Schaumann, Friedrich Bruns, Die Marienkirche, in: F. Hirsch, G. Schaumann und F. Bruns (Bearb.), Die Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck, hrsg. v. der Baubehörde, Bd. 2: Petrikirche. Marienkirche. Heil.-Geist-Hospital, Lübeck 1920, S. 125 – 446, hier S. 303.
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die ihm eine hohe liturgische Bedeutung zuweisen.³⁹ Unterstrichen wird diese Annahme durch die Tatsache, dass die Fächer im Altarblock wie in Lübeck häufig auf mittelalterlichen Bildern zu sehen sind.⁴⁰ Eine frühe Darstellung findet sich in der Szene der Darstellung im Tempel auf den ‚Pariser Tafeln‘ des Meisters Bertram von Minden.⁴¹ Im Gegensatz zu den Fächern in Retabelrückseiten oder Predellen ist die Benutzung der seitlichen Fächer während des Gottesdienstgeschehens kaum zu verheimlichen. Wenn nicht, wie üblich, durch den Sakristan oder die zuständigen Diakone, alles für den Vollzug der Messe Nötige schon vor ihrem Beginn bereitgestellt wurde, ist denkbar, dass die Fächer in den Liturgieablauf einbezogen wurden. Allerdings ist selbst sehr konkreten lokalen liturgischen Quellen wie ‚Libri Ordinarii‘ nur selten zu entnehmen, auf welche Orte sie sich im einzelnen beziehen, wenn die Bewegung von Gerät im Raum beschrieben wird, und natürlich ist niemals von einer Kammer in einem näher bestimmten Altar die Rede. Manchmal sind die Aufbewahrungsorte im Altar so groß, dass sie zu regelrecht begehbaren Gelassen werden. Dieses Phänomen scheint mit dem größeren Platzbedarf bedeutender Sakralräume einher zu gehen – Beispiele sind der Meißener Dom und das Freiburger Münster, wo jeweils ein paar Stufen an der Rückseite unter die Mensa führen. In Freiburg gibt es sogar kleine Fenster oder Belüftungsöffnungen neben der Tür.⁴² In den wenigen Urkunden, die den Verwahrort von Gegenständen in der Kirche näher bestimmen, wird häufig die Formulierung juxta oder apud, also „neben“ oder „bei“, benutzt, zum Beispiel im Bamberger Dom: Horum igitur authentica et privilegia instrumenta sigillis […] a p u d caput beate Kunegundis virginis in Choro sancti Georgii sunt servata. So heißt es über Dokumente, die b e i dem Kopfreliquiar der Hl. Kunigunde im Georgschor des Doms verwahrt werden sollten.⁴³ Was bedeutet das genau? Möglich wäre eine Verwahrung wie beschrieben im Altar der entsprechenden Heiligen, so dass sich die Formulierung apud auf den Heiligenaltar als Bauwerk (Block und Mensa) bezöge und die Bedeutung der Reliquien darauf übertragen wurde. Die Ur-
Vgl. Kroesen 2000 (Anm. 16), S. 291. Siehe dazu Steinmetz (Anm. 31). Heute im Musée des Arts décoratifs in Paris. Ob die gemalte Kanne des alttestamentarischen Altars vor oder im Block steht, ist schwer zu entscheiden; der Vergleich mit den Lese- oder Betpulten der Maria in Darstellungen der Verkündigung, die oft einem Altarblock mit eingelegten Büchern ähneln, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es sich auch auf dem Tafelbild Meister Bertrams um ein Fach im Block handelt. Vgl. Stephanie Hausschild, Kat. Nr. 2, in: Schneede (Anm. 35). Vermutlich existierte der Raum schon vor der Versetzung des Hauptaltars anlässlich der Erhebung des Freiburger Münsters zur Bischofskirche 1827; seine Maße und Zugänglichkeit wären jedoch nachzuprüfen. Neumüllers-Klauser (Anm. 3), S. 188: „So wie auch die Echtheitsbeweise und die versiegelten Privilegien […] beim Haupt der seligen Jungfrau Kunigunde im Chor des Hl. Georg verwahrt werden.“ (Übersetzung: Anne Schaich). Vgl. eine ähnliche Quelle zum (abgegangenen) Lübecker Johanniskloster: Reliquienverwahrung imposite et incluse a p u d altare […] („gelegt und eingeschlossen beim Altar […]“, Übersetzung: Anne Schaich) in: Urkundenbuch der Stadt Lübeck 8, Nr. 723.
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kunden fanden dann in einem der erwähnten Fächer oder einer Kammer Platz. Die Formulierung würde allerdings nahelegen, dass das Reliquiar ständig auf dem Altar ausgesetzt war. Das gleiche gilt für die Annahme, dass ein Schrank in Altarnähe die Urkunden aufnahm. Eine dritte Möglichkeit ist, dass hier die Papiere mit dem Reliquienbehältnis hin- und hergetragen wurden, wenn man das Heiligenhaupt aus der Schatzkammer oder der Sakristei auf den Altar setzte. Offensichtlich kam es auf den genauen Ort jedoch nicht an; wichtig war allein die ständige räumliche Nähe zum Heiltum, das die Dokumente schützte. Allein die heutige Forschung interessiert, welche der zahlreichen Verwahrungsmöglichkeiten genutzt wurde.
3 Geheimnisvolle Vorgänge Die Wege und Zugänge der verschiedenen Gruppen, die sich im Kirchenraum bewegten, waren genau geregelt.⁴⁴ Nur wenige hatten die Berechtigung, die Bereiche zu betreten, in denen sich Wandnischen oder Schränke befanden. Diese Zonen durften die Reliquien und andere heilige Gegenstände ausschließlich zu liturgischen Anlässen verlassen. Für die Menge der Gläubigen waren die Objekte und ihre Aufbewahrungen nicht nur nicht zugänglich, sondern sie wurden ihnen durch die mehrfachen Sicherungen dezidiert vorenthalten. Es ist zu vermuten, dass Laien gar nicht w u s s t e n , woher die Objekte kamen, wenn sie im Zeremoniell zum Vorschein gebracht wurden, und wohin sie wieder verschwanden, wenn die Messe vollzogen war. Soweit dies eucharistische Gegenstände betraf, hing die Verwehrung des Wissens mit dem Geheimnis der Wandlung zusammen. Die Unfassbarkeit des eucharistischen Geschehens wurde verstärkt durch kostbare Gerätschaften und Behältnisse, die die Heiligen Gestalten umgaben, und die für den Laien ebenso ungreifbar waren wie die Handlung selbst. Er konnte weder wirklich verstehen, was im Sanktuarium vor sich ging, noch konnte er die zugehörigen Utensilien erkennen oder benennen. Es ist gut vorstellbar, dass ihr Erscheinen im Kirchenraum, das ebenfalls im Rahmen eines Zeremoniells erfolgte, durch die schiere Anzahl der Diakone und ihrer reichen Gewänder verdeckt oder zumindest von ihm abgelenkt wurde. Bezeichnend ist, dass im Spätmittelalter, als sich die Gerätschaften der Messfeier immer weiter ausdifferenzierten und immer neue Räume und Behältnisse zu ihrer Verwahrung auftraten, das fromme Volk ein steigendes Bedürfnis entwickelte, die Heiligen Gestalten zu schauen. Es drängte nach vorne zum Hochaltar.⁴⁵ Eine Entsprechung ist für Reliquien festzustellen: Nicht nur die schiere Zahl an Heiltümern,
Vgl. Kosch 2000 (Anm. 30); Köstler (Anm. 14). Bereits im 14. Jahrhundert will man den Moment der Wandlung aus der Nähe sehen: Gerhard Eimer, Mauerdurchbrechender Blick, in: Ders. u. Ernst Gierlich, (Hgg.), Die sakrale Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums – der theologische Aspekt, Berlin 2000, S. 233 – 241, hier S. 233; vgl. Browe (Anm. 17).
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sondern auch die ihrer Weisungen nahm stark zu,⁴⁶ und damit stieg auch der Bedarf an Aufbewahrungsmöglichkeiten. Geheime Verstecke mussten nun für immer mehr Dinge gefunden werden.⁴⁷ Manche Türen, Klappen oder Zugänge von Verwahrungen waren durch verborgene Mechanismen gesichert. Sakristeien hatten oft mehrere Türen hintereinander, die manchmal doppelt und mehrfach zu schließen waren, wie z. B. es an der Annaberger Südsakristei noch heute sichtbar ist; andere Türen waren gar nicht als solche zu erkennen, wie die Zugänge zu den Obergeschossen in Kamenz (St. Marien) und Pfullendorf (St. Jakob).⁴⁸ In Schwäbisch Hall (St. Michael) ist der Zugang zum Sakristei-Obergeschoss hinter einer Wandschranktür verborgen, die ihrerseits ein kompliziertes Schließverfahren aufweist.⁴⁹ Ein ähnliches Vorgehen wandte man auch für Schränke an. Überliefert ist ein „geheim“, d. h. von der Rückseite aus der Sakristei her zu bedienender Reliquienschrank in Seligenstadt.⁵⁰ Da sich viele Nischen und Schränke in Mauern befinden, die Nebenräume abtrennen, ist eine solche Situation sicher kein Einzelfall.⁵¹ Auch von Truhen kennt man ausgeklügelte Schlösser, die an mehreren Stellen schließen und erst sichtbar werden, wenn der Deckel geöffnet und seine Innenseite offenliegt.⁵² Nur Eingeweihte konnten sie öffnen. Aus vielen Quellen zum Amt des Sakristans (oder Messners, Küsters etc.) geht hervor, dass er derjenige war, der außerhalb der rituellen Verwendung die Gerätschaften und Reliquien verwaltete und pflegte.⁵³ Mit Blick auf die Kraft und den Wert, die diesen Dingen zugemessen wurden, trug er enorme Verantwortung. Er sollte daher einen ausgeglichenen, verlässlichen Charakter haben. Zur Vorbereitung der Messe oder Aussetzung von Reliquien war allein der Sakristan befugt, die Vasa sacra et non
Zu Reliquienschauen umfassend: Hartmut Kühne, ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum, Berlin, New York 2000. Zu den Folgen für die Kircheneinrichtung: Kroesen (Anm. 19) und Isnard E. Frank, Die architektonischen Konsequenzen der Häufung der missae pro defunctis im Mittelalter, in: Gerhard Eimer und Ernst Gierlich, (Hgg.), Die sakrale Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums – der theologische Aspekt, Berlin 2000, S. 15 – 32. Vgl. Karlson (Anm. 31), S. 401. Zu Annaberg vgl. Schaich (Anm. 9), S. 148; zu Kamenz und Pfullendorf ebd., S. 172. Eugen Gradmann (Bearb.), Jagstkreis (Die Kunst- und Altertums-Denkmäler im Königreich Württemberg 3), Eßlingen 1907, S. 500. Rolf J., Schneider, Reliquien, ihre Verehrung und die Seligenstädter Schatz- und „Hailtumkammer“, in: Das Münster 54/1 (2001), S. 36 – 44. Auch das neue Sakramentshaus im Meißner Domchor wirft in dieser Hinsicht Fragen auf, vgl. Anne Schaich, Die Sakristeien des Doms zu Meißen, in: Monumenta Misnensia, Jahrbuch für Dom und Albrechtsburg zu Meißen (Neue Folge des Jahrbuchs Ecclesia Misnensis), Bd. 6 (2003/04), S. 24– 38, hier S. 33. Vgl. dazu Albrecht (Anm. 6). Vgl. Schaich (Anm. 4), S. 42– 43. Nur wenige Kirchen hatten neben den entsprechenden Räumlichkeiten einen eigenen Thesaurar, meist ging die Verwaltung von Büchern, Reliquien, Paramenten und Archivalien in einer Person auf.
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sacra aus ihren Verstecken zu nehmen und entweder für die Priester in der Sakristei bereitzustellen oder zu den jeweiligen Altären zu tragen. Die Sakristane besaßen jedoch nicht nur die Schlüsselmacht, sondern waren auch Geheimnisträger: Die oben geschilderten versteckten Mechanismen konnten nur ihnen als Verwalter der Kirchenschätze bekannt sein. Dem Amt des Sakristans kam also eine sehr wichtige Rolle in der Verwaltung des göttlichen Heils zu. Wilhelm von Hirsau schreibt: „Der gesamte göttliche Dienst in der Kirche hängt von niemandem so sehr ab, wie von ihm.“⁵⁴
4 Schluss Gegenstände, die in Schranknischen des mittelalterlichen Kirchenraums geborgen wurden, waren dreifach gesichert: Durch die räumliche Abtrennung, durch die Türen und Gitter und durch die persönliche Fürsorge ihres Verwalters. Vielleicht waren ja auch die Wertgegenstände der Lübecker Brüder Christian und Tidemann in die Obhut von Sakristanen gegeben worden und ihr Schap stand in einer Nische im Kirchenraum, aber vorstellbar wären auch viele andere Formen ihrer Verwahrung. Die Vielfalt an Aufbewahrungsmöglichkeiten im mittelalterlichen Kirchenraum entsprach den komplexen Vorgängen innerhalb des liturgischen Geschehens und wurde gleichzeitig profanen Handlungen in den Kirchen gerecht. Um den Gebrauch einzelner Wandnischen zu erhellen, ist der interdisziplinäre Austausch zwischen Realienkunde, Liturgiegeschichte und Kunstwissenschaft unerlässlich. Neue monografische Forschungen, die die performativen Aspekte von Liturgie berücksichtigen und damit das vielschichtige Wechselspiel liturgischer Praxis und sakraler Architektur aufzudecken, werden sicher noch manche Geheimnisse um die Verstecke im Kirchenraum lüften.
Constitutiones Hirsaugienses, hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 150), Paris 1844– 1973, Sp. 1072 (Übersetzung: Anne Schaich).
Wilfried E. Keil
Für Jahrhunderte verborgen Der Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig Abstract: When the St Mary Magdalen Chapel in Braunschweig was demolished in 1955, a particularly remarkable find was discovered: an extraordinary foundation stone that not only bears inscriptions but also a fully three-dimensional sculpture of the Magdalen carved in the same stone. Symbols of the Evangelists and the date 1499 are carved around the sculpture, and a copper plaque set into the stone bears the name of the saint and the founders of the chapel. The foundation stone was hidden in the chapel’s foundations for more than 450 years, so what was its function? Who were the patrons and who was addressed by the inscriptions? Dated foundation stones have a documentary character. During the act of laying the foundation stone the inscription could have been read, but only by a small number of literate viewers: it had restricted presence. Once buried, did the foundation stone still fulfill a role, despite its apparent absence? Keywords: Präsenz, restringierte Präsenz, Grundstein, Grundsteinlegung, agency, Inschriften Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass Bauinschriften¹ gut sicht- und lesbar sind, um ihren Inhalt zu vermitteln und somit auch der Nachwelt zu überliefern.² Dies
Anmerkung: Dieser Beitrag ist im Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 “Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften” entstanden (Teilprojekt A05 “Schrift und Schriftzeichen am und im mittelalterlichen Kunstwerk”). Der SFB 933 wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Zur Definition des Begriffs „Bauinschrift“ siehe Elisabeth Hohmann u. Hans Wentzel, Bauinschrift, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 2 (1948), Sp. 34– 53; Rolf Funken, Bauinschrift, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 1631. Zur inhaltlichen Unterscheidung siehe auch Rolf Funken, Die Bauinschriften des Erzbistums Köln bis zum Auftreten der gotischen Majuskel (19.Veröffentlichung der Abteilung Architektur des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, Diss. Köln 1980), Köln 1981, S. 2– 3. Siehe hierzu z. B.: Robert Favreau, Fonctions des inscriptions au moyen âge, in: Cahiers de civilisation médiévale 32 (1989), S. 203 – 232, hier S. 232; Renate Kohn, Das Medium Inschrift als Instrument der Informationsvermittlung. Funktion und Aussage hochmittelalterlicher Inschriften im Südosten des Heiligen Römischen Reichs, in: Reinhard Härtel, Günther Hödl, Cesare Scalon u. Peter Štith (Hgg.), Schriftkultur zwischen Donau und Adria bis zum 13. Jahrhundert (Akten der Akademie Friesach „Stadt PD Dr. Wilfried E. Keil, Universität Heidelberg, ZEGK – Institut für Europäische Kunstgeschichte, Seminarstraße 4, 69117 Heidelberg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-012
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könnte man auch generell für Inschriften an und in mittelalterlichen Bauwerken annehmen. Unter diesen gibt es aber Inschriften, die eine eingeschränkte Sicht- oder Lesbarkeit aufweisen. Sie haben somit eine ‚restringierte Präsenz‘.³ Es handelt sich hierbei z. B. um hoch am Kirchenbau angebrachte, für den menschlichen Betrachter nicht sichtbare Inschriften wie das ‚Ave Maria‘ außen am fünften Geschoss des Südostturms des Wormser Domes⁴ oder auch um Inschriften, die sich in einem Raum bzw. Raumabschnitt befinden, zu denen früher oder auch noch heute der Zugang auf einen bestimmten Personenkreis begrenzt war, wie dies beim Juliana-Relief im Ostsanktuarium des selben Baus der Fall war und ist.⁵ Eine besondere Gruppe bilden Grundsteine, da diese im Fundament vermauert wurden und somit im Normalfall noch heute unterhalb der Erde verborgen sind.⁶ Grundsteine sind zu unterscheiden
und Kultur im Mittelalter“, Friesach 11.–15. September 2002, Schriftenreihe der Akademie Friesach 8), Klagenfurt 2008, S. 449 – 480, hier S. 456 – 457. Zu mittelalterlichen Bauinschriften mit eingeschränkter Sichtbarkeit bzw. ‚restringierter Präsenz‘ siehe: Wilfried E. Keil, Überlegungen zur restringierter Präsenz mittelalterlicher Bauinschriften, in: Tobias Frese, Wilfried E. Keil u. Kristina Krüger (Hgg.), Verborgen, unsichtbar, unlesbar. Zur Problematik restringierter Schriftpräsenz (Materiale Textkulturen 2), Berlin, Boston 2014, S. 117– 142. Zur Inschrift siehe: Aquilante De Filippo u. Wilfried E. Keil, Zu den Versatzzeichen und Inschriften am Südostturm des Domes zu Worms, in: Der Wormsgau 27 (2009), S. 205 – 215 u. Abb. 8, hier S. 211; Keil (Anm. 3), S. 119 – 120 u. Abb. 2. Das Juliana-Relief hat drei Inschriften in romanischer Majuskel, eine Bildbeischrift, eine Künstlerinschrift und eine Stifterinschrift. Zu den Inschriften siehe: Rüdiger Fuchs, Die Inschriften der Stadt Worms (Die deutschen Inschriften 29, Mainzer Reihe 2), Wiesbaden 1991, S. 19 – 21, Nr. 18. Zu den Inschriften im Zusammenhang mit ihrer ‚restringierten Präsenz‘ siehe Keil (Anm. 3), S. 121– 122, 132 u. Abb. 3; Jens-Arne Dickmann, Wilfried E. Keil u. Christian Witschel, Topologie, in: Thomas Meier, Michael R. Ott u. Rebecca Sauer (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München, Boston 2015, S. 113 – 128, hier S. 124– 126 u. Abb. 3; Wilfried E. Keil,Von sichtbaren und verborgenen Signaturen an mittelalterlichen Kirchen, in: Irene Berti, Katharina Bolle, Fanny Opdenhoff u. Fabian Stroth (Hgg.), Writing Matters. Presenting and Perceiving Monumental Inscriptions in Antiquity and the Middle Ages (Materiale Textkulturen 14), Berlin, Boston 2017, S. 309 – 351, hier S. 332– 333 u. Abb. 10; Wilfried E. Keil, „Otto hat mich gemacht‟. Das Juliana-Relief im Dom zu Worms, in: Michaela Böttner, Ludger Lieb, Christian Vater u. Christian Witschel (Hgg.), 5300 Jahre Schrift, Heidelberg 2017, S. 86 – 89 u. Abb. 22; Wilfried E. Keil, Remarks on Patron Inscriptions with restricted presence, in: Jordi Camps, Manuel Castiñeiras, John McNeill u. Richard Plant (Hgg.), Romanesque Patrons and Processes. Design and Instrumentality in the Art and Architecture of Romanesque Europe (Third International Romanesque Conference. The British Archaeological Association, Museu Nacional d’art de Catalunya), London, New York 2018, S. 279 – 289, hier S. 280 – 284 u. Abb. 22.6, 22.7. Zur Neudatierung des Juliana-Reliefs und des östlichen Sanktuariums des Domes zu Worms siehe Matthias Untermann u. Wilfried E. Keil, Der Ostbau des Wormser Doms. Neue Beobachtungen zu Bauabfolge, Bauentwurf und Datierung, in: Insitu. Zeitschrift für Architekturgeschichte 2 (2010), S. 5 – 20, bes. S. 16 – 19. Zu Grundsteinen aus kunsthistorischer Sicht siehe Matthias Untermann, „primus lapis in fundamentum deponitur.“ Kunsthistorische Überlegungen zur Funktion der Grundsteinlegung im Mittelalter, in: Cistercienser. Brandenburgische Zeitschrift rund um das cisterciensische Erbe 6/23 (2003), S. 5 – 18; Wilfried E. Keil, Abwesend und doch präsent? Zur restringierten Präsenz von Grundsteinen und ihren Inschriften, in: Gründungen im archäologischen Befund. Mitteilungen der Deutschen Ge-
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von Memorialsteinen, die an die Grundsteinlegung erinnern und sichtbar in einer Wand vermauert sind.⁷ Sie waren also nur bei der Herstellung und dem Akt der Grundsteinlegung sichtbar und falls sie durch eine Inschrift, ein Zeichen oder eine sonstige Markierung gekennzeichnet wurden, auch bei einer potentiellen Auffindung. Eine Inschrift auf einem Grundstein war also im Normalfall nur vor und während der Grundsteinlegung lesbar. Diese Art der ‚restringierten Präsenz‘ wirft besondere Fragen auf, die am Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig und weiteren Artefakten aufgezeigt werden sollen.
1 Die Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig Die im Zweiten Weltkrieg nicht beschädigte Maria-Magdalenen-Kapelle wurde im Herbst 1955 abgerissen, um das Pressehaus Hutfildern der Braunschweiger Zeitung erweitern zu können. Der Grundstein wurde beim Abriss der Kapelle gefunden⁸ und im Pressehaus ausgestellt.
Abb. 1: Braunschweig, Maria-Magdalenen-Kapelle, Stadtarchiv Braunschweig HXVI H II 1 F 2: 7
sellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 26 (2014), S. 17– 24. Zum Forschungsstand über Grundsteine und die Grundsteinlegung siehe Enno Bünz, „lapis angularis“. Die Grundsteinlegung 1010 als Schlüssel für den mittelalterlichen Kirchenbau von St. Michael in Hildesheim, in: Gerhard Lutz u. Angela Weyer (Hgg.), 1000 Jahre St. Michael in Hildesheim. Kirche, Kloster, Stifter, Petersberg 2012, S. 77– 87, hier S. 77– 78. Zu Grundsteinen und überlieferten Grundsteinlegungen im mittelalterlichen England siehe: Nick Holder, Medieval Foundation Stones and Foundation Ceremonies, in: Caroline M. Barron u. Clive Burgess (Hgg.), Memory and Commemoration in Medieval England. Proceedings of the 2008 Harlaxton Symposium, Donington 2010, S. 6 – 23. Zur Unterscheidung von Grundsteininschriften und Memorialinschriften zur Grundsteinlegung siehe Untermann (Anm. 6), S. 7– 11; Bünz (Anm. 6), S. 82; Keil (Anm. 6), S. 18. Wolfgang A. Jünke, Zerstörte Kunst aus Braunschweigs Gotteshäusern. Innenstadtkirchen und Kapellen vor und nach 1944, Groß Oesingen 1994, S. 217.
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Wilfried E. Keil
Abb. 2: Braunschweig, ehemals Maria-Magdalenen-Kapelle, Grundstein, Foto: Wilfried E. Keil.
Durch die Jahreszahl auf dem Grundstein ist der Baubeginn der Maria-Magdalenen-Kapelle für das Jahr 1499 überliefert. Die Kapelle befand sich westlich des heutigen Gymnasiums Kleine Burg, in der Straße Kleine Burg 8. Der Standort war etwa dort, wo sich heute die 1983 gebaute mit Glas überdachte Burgpassage, eine Einkaufsstraße, befindet.⁹ Die Straße Kleine Burg beginnt im Westen des Domplatzes. Das Gebiet gehörte zum Burgbereich, war aber bis ins 17. Jahrhundert nur mit Stegen über den Burggraben verbunden. Ab der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden hier vor allem Wohnhäuser der Kapitulare des Blasiusstiftes.¹⁰ Eine Kapelle an dieser Stelle ist erstmals 1237 in einer Schenkungsurkunde überliefert.¹¹ Über diesen Bau, der der 1955 Wolfgang Kimpflinger, Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Baudenkmale in Niedersachsen 1.1: Stadt Braunschweig 1, Hameln 1993, S. 69; Jünke (Anm. 8), S. 212; Torsten Priem, Die Geschichte der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig vom Mittelalter bis zu ihrem Abbruch im Jahre 1955, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 90 (2009), S. 215 – 241, hier S. 239. Kimpflinger (Anm. 9), S. 69. Hermann Dürre, Die Geschichte der Stadt Braunschweig im Mittelalter, Braunschweig 1861, S. 415. Zu weiteren Pfründen für die Kapelle siehe Ernst Döll, Die Kollegiatstifte Sankt Blasius und Sankt Cyriacus zu Braunschweig (Braunschweiger Werkstücke 36, Diss. Hamburg 1965), Braunschweig 1967,
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abgerissenen Kapelle weichen musste, ist nichts bekannt.¹² Die frühe kirchliche Nutzung der 1955 abgerissenen Maria-Magdalenen-Kapelle ist nicht genau überliefert. Ab 1832 wurde die Kapelle Eigentum des Vereinigten Braunschweigischen Kloster- und Studienfonds. In diesem Jahr kam der Frauenkonvent von St. Aegidien, der nicht dem Kloster St. Aegidien, sondern dem Konvent St. Leonhard angehörte, in die Kapelle und die dazugehörenden Stiftsgebäude.¹³ Das Damenstift wurde 1937/38 aufgelöst.¹⁴ Im Zuge der Erweiterung des Gymnasiums Kleine Burg im Jahre 1905 wurde ein direkt an die Nordostseite der Kapelle angebautes Haus der Stadtsparkasse abgerissen. So konnten die zugemauerten gotischen Kapellenfenster 1907 wieder freigelegt und restauriert werden.¹⁵ Die Maria-Magdalenen-Kapelle war ein kleiner spätgotischer zweijochiger Bau mit einem polygonalen 3/8-Abschluss. Die Joche und der Abschluss waren mit Kreuzrippen gewölbt, die zumindest im Abschluss auf Kopfkonsolen ruhten. Eine Bauinschrift über einem Fenster der Nordseite ist in Abschrift überliefert: „Anno domini m° v° i°.“ Im Jahre des Herrn 1501. Der Stein mit der Inschrift in gotischer Minuskel gilt heute als verschollen.¹⁶ Die Annahme, dass sich die Jahreszahl auf die Erneuerung des Fensters bezieht,¹⁷ ist unwahrscheinlich. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine Inschrift, die die Fertigstellung des Baus angibt.¹⁸
2 Der Abriss der Maria-Magdalenen-Kapelle Im Jahre 1925 wurde ein erster Antrag auf den Kauf des Grundstückes Kleine Burg 8 mit den Stiftsgebäuden und der Kapelle durch die Druckerei und den Verlag Albert Limbach KG, die ihren Hauptsitz auf dem angrenzenden Grundstück Hutfiltern 8 hatte,
S. 178; Priem (Anm. 9), S. 219. Zu weiteren Dokumenten aus der Zeit vor dem Neubau von 1499 siehe Priem (Anm. 9), S. 220. Reinhard Dorn, Mittelalterliche Kirchen in Braunschweig, Hameln 1978, S. 251; Jünke (Anm. 8), S. 212. Paul Jonas Meier u. Karl Steinacker, Die Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Braunschweig, 2. Aufl. Braunschweig 1926, S. 38; Priem (Anm. 9), S. 221. Priem (Anm. 9), S. 221. Jünke (Anm. 8), S. 213; Priem (Anm. 9), S. 223. Zur Inschrift siehe Andrea Bookmann, Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528 (Die Deutschen Inschriften 35, Göttinger Reihe 5), Wiesbaden 1993, S. 188. Bookmann (Anm. 16). Hermann Dürre bezog die Inschrift nur auf eine Erneuerung oder Ergänzung des unter der Inschrift befindlichen Fensters, siehe Dürre (Anm. 11), S. 415. Philipp Julius Rehtmeyer datierte bereits 1707 das Bauwerk nach dieser Inschrift. Siehe: Philipp Juilius Rehtmeyer, Antiquitates Ecclesiasticæ Inclytæ Urbis Brunsvigæ, Oder: Der berühmten Stadt Braunschweig Kirchen-Historie, Teil 1: Die auswendige oder äusserliche Beschaffenheit derer in- und nahe den Braunschweig belegenen Stiffter, Klöster, Kirchen, […],Braunschweig 1707, S. 100. In der späteren Forschung wurde hingegen häufig die Schenkungsurkunde von 1237 zur Datierung benutzt und die Stilistik des Baus bei der Einordnung nicht berücksichtigt. Siehe Dürre (Anm. 11), S. 415; Meier u. Steinacker (Anm. 13), S. 38.
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gestellt. Dieser Antrag scheiterte.¹⁹ 1940 wurde erneut ein Antrag auf Verkauf des Grundstückes gestellt, bei dem die Kapelle ausdrücklich erhalten bleiben sollte.²⁰ Der Antrag wurde vom Finanzministerium abgelehnt und die Stadt zeigte Interesse am Grundstück.²¹ Der Besitzer des Verlags, Harald Voigt, wandte sich inzwischen an andere Politiker, damit diese den Ministerpräsidenten des Freistaates Braunschweig von seinem Anliegen überzeugen. In diesem Zusammenhang kam es von einem unbekannten beratenden Verfasser zu der Einschätzung, dass dem Verlag zumindest ein Vorkaufsrecht eingeräumt werden solle und dass es dem Verlag vielleicht auch genüge, die baufällige Kapelle zu bekommen, die dann abgerissen werden könne, da sie keinen kunsthistorischen Wert habe.²² Harald Voigt hatte andere Grundstücke zu einem Tausch vorgeschlagen.²³ Das Braunschweigische Finanzministerium stellte 1942 dem Verlag die Nutzung der Gebäude in Aussicht und befand, dass die Kapelle für eine neue Durchfahrt oder eine anderweitige Nutzung sofort abgerissen werden könne.²⁴ Nach dem Widerstand des Hochbauamtes und des Denkmalausschusses, wurde dennoch einem Abriss zugestimmt, wenn einige kunsthistorisch wichtige Bauteile geborgen werden würden.²⁵ Der endgültige Tauschvertrag wurde am 4. April 1944 abgeschlossen. Danach kam es zu vertraglichen Streitereien vor Gericht, die 1951 zu einem Vergleich führten.²⁶ Die Kapelle war eines von drei Gotteshäusern in Braunschweig, die die vielen Bombenangriffe im Zeiten Weltkrieg nahezu ohne Schaden überstanden hatte.²⁷ Daher wurde 1946 die Nutzung der Kapelle durch die Evangelisch-reformierte Kirchengemeinde St. Bartholomäus beschlossen. Die Gemeinde konnte nach einer Renovierung in der Kapelle erstmals am 25. Januar 1948 einen Gottesdienst durchführen,²⁸ musste aber bis zum 30. Juni 1953 alle Räumlichkeiten wieder verlassen²⁹ und zog 1954 in ihr renoviertes Gotteshaus St. Bartholomäus.³⁰ Im November 1954 wurde der Abriss der Kapelle angekündigt.³¹ Trotz der Bemühungen von mehreren Seiten Anfang des Jahres 1955 die Kapelle zu erhalten,³² erfolgte im Juli
Wolfgang A. Jünke, Der skandalöse Abriss der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig 1955 (Teil 1), in: Braunschweigische Heimat 105/2 (2019), S. 25 – 30, hier S. 23. Priem (Anm. 9), S. 225 – 226. Ebd., S. 226 – 228. Siehe hierzu ausführlicher: Priem (Anm. 9), S. 228 – 229. Priem (Anm. 9), S. 228 – 230. Siehe hierzu ausführlicher: Priem (Anm. 9), S. 230. Ebd., S. 230 – 231. Ebd., S. 231– 233. Ebd., S. 218. Ebd., S. 233 – 235. Ebd., S. 233. Jünke (Anm. 8), S. 88. Priem (Anm. 9), S. 236 – 237. Ebd., S. 237– 239.
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1955 der Abriss.³³ Einzelne Schmuckelemente wurden geborgen und aufbewahrt. Hierzu zählt der Grundstein mit der Skulptur der Maria-Magdalena und das früher auf der Nordseite befindliche Portal, das 1966 in den Nachfolgebau des alten Zeughauses am Alten Zeughof 1 in der Südfassade eingebaut wurde.³⁴ Andere Bauelemente wie das Maßwerk der Fenster und die Kopfkonsolen galten seither als verschollen.³⁵ Anfang 2018 konnte einer der Konsolköpfe mit einer in der Dornse des Altstadtrathauses verbauten Konsole identifiziert werden.³⁶ Zu den beiden Seiten des Portals befanden sich Steinskulpturen. Paul Jonas Meier und Karl Steinacker datierten eine beschädigte Maria und einen heiligen Bischof Anfang des 16. Jahrhunderts.³⁷ Wolfgang A. Jünke benennt die um 1500 entstandenen Figuren Maria Magdalena und einen Bischof.³⁸ Über den Verbleib dieser Figuren ist nichts bekannt. Die Burgpassage sollte Ende 2018 abgerissen werden und einem Neubau weichen,³⁹ sodass es wiederum zu Veränderungen am früheren Standort der Kapelle kommen könnte. Allerdings verzögert sich der Abriss aus verschiedenen Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.
3 Der Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle Der beim Abriss gefundene Grundstein wurde im Pressehaus Hutfildern 8 in einer Vitrine ausgestellt. 1982 verlegte der Verlag seinen Stammsitz in die Hamburger Straße
Zu einer ausführlichen Studie über den Abriss mit Informationen aus vielen bisher in der Forschung nicht berücksichtigten Archivalien, siehe Jünke (Anm. 19); Wolfgang A. Jünke, Der skandalöse Abriss der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig 1955 (Teil 2), in: Braunschweigische Heimat 105/3 (2019), S. 16 – 23. Werner Spiess, Geschichte der Stadt Braunschweig im Nachmittelalter. Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der Stadtfreiheit (1491– 1671), 2. Halbband, Braunschweig 1966, S. 640; Jünke (Anm. 8), S. 216. Jünke (Anm. 8), S. 219. Jürgen Middel, einer der ehrenamtlichen Mitarbeiter des städtischen Museums im Altstadtrathaus, hat infolge einer Zeitungsserie der Braunschweiger Zeitung über die Kapelle auf diesen verwiesen. Siehe Henning Noske, Die Spur führt ins Altstadtrathaus, in: Braunschweiger Zeitung vom 10.01. 2018. Zwei der Konsolköpfe befanden sich nach Eckhard Schimpf, dem ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung in einem Konferenzraum des Pressehauses Hutfildern 8. Siehe Henning Noske, „Ein Juwel kirchlicher Kunst“, in: Braunschweiger Zeitung vom 8.01. 2018. Meier u. Steinacker (Anm. 13), S. 38. Jünke (Anm. 8), S. 216. Siehe http://moderne-regional.de/braunschweig-abriss-der-burgpassage/ (letzter Zugriff am 15.05. 2019). Der Text auf der Internetseite wurde am 20.03. 2017 veröffentlicht; Henning Noske, Wo einst Magdalenas Kapelle stand, in: Braunschweiger Zeitung vom 30.12. 2017. Der Zeitungsartikel war der Beginn einer Serie von Artikeln über die Kapelle. Die Hinweise verdanke ich Jörg Porsiel.
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277. Der Grundstein wurde mitgenommen.⁴⁰ Das alte Pressehaus wurde in großen Teilen abgerissen und 1983 die mit Glas überdachte Burgpassage errichtet. An der Stelle, an der sich die zentrale Kuppel befindet, stand früher die Maria-MagdalenenKapelle.⁴¹ Ende 2014 ist das Pressehaus erneut umgezogen und der Verbleib des Grundsteins war zunächst ungewiss. Glücklicherweise ist der Grundstein nicht verschollen, sondern befindet sich aktuell im BZV-Medienhaus.⁴² Der beim Abriss der Maria-Magdalenen-Kapelle zu Tage gekommene, für Jahrhunderte verborgene, Grundstein, der zum Neubau der Kapelle 1499 gelegt wurde, ist besonders bemerkenswert, da er außer einer Inschrift noch eine Figur, eine angebrachte Kupfertafel und Ritzzeichnungen aufweist. (Abb. 2) Dies ist nach aktuellem Stand singulär. Der hochrechteckige Stein hat eine Gesamthöhe von 81,5 und eine maximale Breite von 56 und einer Tiefe von 23 Zentimetern. Links oben und unten weist der Stein Abbruchspuren auf, sodass die linke Seite nur eine Höhe von 68 Zentimetern hat.⁴³ Ob die Abbruchspuren beim Bergen aus dem Fundament entstanden oder vorher, lässt sich nicht genau sagen. Jedenfalls war dies beim Anfertigen des Steins noch nicht der Fall. Dies belegen die in den Ecken eingeritzten Medaillons mit den Evangelistensymbolen, die einen Durchmesser von 18 Zentimetern haben. Links oben ist der Mensch des Matthäus eingeritzt, im Uhrzeigersinn folgen der Adler des Johannes, der Stier des Lukas und schließlich der Markuslöwe. Die beiden linken Medaillons sind durch die abgebrochenen Teile nicht mehr komplett erhalten. Vom Einritzen selbst können die Beschädigungen nicht stammen. Anhand der Oberflächenbearbeitung des Steines kann man ablesen, dass die Ritzzeichnungen nach der Glättung der Steinoberfläche entstanden. Aus dem gesamten Stein ist eine vollplastische auf einem Sockel stehende Skulptur der Maria Magdalena herausgearbeitet.⁴⁴
2001 befand sich der Grundstein noch im Pressehaus der Braunschweiger Zeitung in der Hamburger Straße. Siehe Sabine Wehking, Die Inschriften der Stadt Braunschweig von 1529 bis 1671 (Die Deutschen Inschriften 56, Göttinger Reihe 9), Wiesbaden 2001, S. 681– 682, Nr. 269 A, hier S. 681. Jünke (Anm. 8), S. 212; Priem (Anm. 9), S. 239. Laut Eckhard Schimpf, dem ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, befand sich die Redaktion nur bis Juni 1981 im Pressehaus Hutfildern 8. Siehe: Eckhard Schimpf, Burgpassage und „Häusermord“, in: Braunschweiger Zeitung vom 16.09. 2017. Ich danke Herrn Henning Noske von der Braunschweiger Zeitung herzlich für die Möglichkeit den Grundstein im Verlagshaus untersuchen zu können. Sämtliche Maßangaben des Grundsteins mit seiner Skulptur und Kupferplatte stammen vom Verfasser. Die Maße weichen in Teilen von früheren Vermessungen ab. Die Maßangaben folgen nach einer Lage, in der die Skulptur aufrecht stehen würde. Der Grundstein wird in dieser Weise, wenn überhaupt, nur während des Ritus so gestanden haben und nachdem er gelegt wurde, lag der Stein mit aller Wahrscheinlichkeit so, dass die Figur lag und die Skulptur der Maria Magdalena mit ihren Augen nach oben blickte. Wehking (Anm. 40), S. 681. Sabine Wehking schreibt hier: „In der Mitte ist aus demselben Stein eine nahezu vollplastische Figur der Maria Magdalena herausgehauen, die ein Salbgefäß trägt.“ Dies lässt sich besonders an einer Seitenansicht erkennen.Wolfgang A. Jünke war früher der Meinung, dass der Grundstein, der im Pressehaus Hutfildern ausgestellt wurde, ein Ensemble aus Einzelteilen war. Die Maria Magdalena sei vom früheren Portal und wurde gemeinsam mit Steinresten mit Evangelisten-
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Abb. 3: Braunschweig, ehemals Maria-Magdalenen-Kapelle, Grundstein, Seitenansicht, Foto: Wilfried E. Keil.
Maria Magdalena trägt ein Untergewand und ein faltenreiches Gewand, das sie mit ihrer linken Hand festhält. Sie hat langes Haar und trägt ein breites und dickes Stirnband.⁴⁵ Mit der rechten Hand hält sie das für sie charakteristische Salbgefäß. Die Skulptur der Maria Magdalena hat eine Höhe von 56, eine Breite von 19 und eine Tiefe von 11 Zentimetern. Die unter ihr befindliche Konsole hat eine Höhe von 5, eine Breite von 15 und eine Tiefe von 10 Zentimetern. Die Ecken sind abgekantet, sodass der Sockel im Grundriss fünf Teile eines Achtecks mit nicht exakt gleich langen Seitenlängen aufweist. Links von der Skulptur ist senkrecht nach außen gerichtet die Jah-
symbolen und dem Grundstein ausgestellt worden. Siehe Jünke (Anm. 8), S. 216 – 217.. Allein von den Größenverhältnissen hätte es sich nicht um die Maria Magdalena vom Portal handeln können, da diese größer war wie auf alten Fotos zu erkennen ist. Siehe die Abb. bei: Jünke (Anm. 8), S. 216.. Die Figur rechts vom Portal hat auf den Fotos bereits keinen Kopf mehr und weist eine andere Körperhaltung und Gewandgestaltung als die Maria Magdalena des Grundsteins auf. Die Figur am Portal ist daher mit der von Paul Jonas Meier und Karl Steinacker als beschädigt bezeichnete Figur der Maria zu identifizieren. Siehe Meier u. Steinacker (Anm. 13), S. 38. Andrea Bookmann schreibt ohne einen konkreten Beleg zu nennen, dass sich neben der Inschrift des Fensters an der Nordseite mit der bereits genannten Inschrift mit der Jahreszahl 1501 auf einer Konsole eine Skulptur der Maria Magdalena mit Salbgefäß befand, siehe Bookmann (Anm. 16), S. 188. In Hermann Dürres Publikation von 1861 steht allerdings, dass das Fenster eine Maria im Strahlenkranz mit Jesuskind auf dem Arm zeige. Siehe Dürre (Anm. 11), S. 415. Dies ist in der Frontalansicht nicht exakt zu erkennen, wird aber deutlich, wenn man den Kopf mit seinen Haaren von oben betrachtet.
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reszahl 1499 mit einer Ziffernhöhe von 12 Zentimetern eingehauen.⁴⁶ Die Breite der Jahreszahl beträgt 22 Zentimeter. Nach der Jahreszahl befindet sich ein hochgestelltes O mit einer Höhe von 4 und einer Breite von 2,5 Zentimetern. Das hochgestellte O ist von den römischen Jahreszahlen für die arabischen Jahresziffern übernommen worden.⁴⁷ Rechts von der Skulptur ist eine Kupfertafel eingelassen, auf die später näher eingegangen wird. An den Bearbeitungsspuren am Stein lässt sich die Arbeitsabfolge ablesen. Zunächst wurde die Stelle, an der die Skulptur der Maria Magdalena und die Konsole stehen sollte, markiert und der Stein an den anderen Stellen heruntergearbeitet, sodass ein Block für die Skulptur stehen blieb. Am rechten und unteren Rand ist teilweise noch ein Randschlag erkennbar, der bei der Steinbearbeitung an den Rändern vorgenommen wird, bevor der Quaderspiegel abgearbeitet wird. Danach wurde die Skulptur der Maria Magdalena herausgemeißelt. Man kann an einigen Stellen an der der Block bis zur Platte heruntergearbeitet wurde, an den Arbeitsspuren erkennen wie die Ausmaße des Blocks einmal waren. Erst danach wurden die Ritzzeichnungen angefertigt. Dies geht daraus hervor, dass diese teilweise die vom Block der Skulptur heruntergearbeiteten Stellen schneiden. Genauso ist dies beim O der Jahreszahl und der Aussparung für die Kupfertafel der Fall. Über den Grundstein sind Mörtelreste verteilt, die höchstwahrscheinlich vom ursprünglichen Steinversatz bei der Grundsteinlegung stammen. An den Seiten sind zudem auch rote Mörtel- und Zementreste erhalten, die nicht bis ganz nach vorne reichen. Dies lässt auf einen späteren Einbau in eine Mauer schließen, bei der sich der Grundstein etwas nach vorne von der Mauer abhob. Auch auf der Rückseite befinden sich rote Mörtelreste. Zudem weisen drei dicke mit Zement eingelassene Gewindestangen auf eine sichere Befestigung in einer Wand hin. Ob diese Maßnahme im Zusammenhang mit dem roten Mörtel und den Zementresten an den Seiten steht, kann man bisher nicht sagen.⁴⁸ Die Skulptur der Maria Magdalena ist eindeutig auf eine Frontalsicht gearbeitet. Dies lässt sich sehr gut sehen, wenn man die Skulptur von der Seite betrachtet. (Abb. 3) Hier kann man deutlich erkennen, dass die Stellen, die man von Vorne oder einer leichten Schrägsicht nicht erkennen kann, nur grob bearbeitet wurden. Besonders deutlich wird dies, wenn man von unten auf die Hand, die das Salbgefäß hält, blickt. Von der Hand wurden nicht einmal alle Finger ausgearbeitet, sondern nur die, die man von einer Frontalansicht erkennen kann. (Abb. 4) Ein weiteres Indiz für eine Ausarbeitung für eine Frontalsicht ist, dass bei einer Untersicht, das Salbgefäß den Kopf der Maria Magdalena verdecken würde. Bei einer Draufsicht würde man erkennen, dass die Haare oben nur durch grobe Kerbungen angedeutet sind. Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass die Skulptur nur für eine Frontalansicht in höchster Qualität ausgearbeitet wurde. Partien, die man durch eine leichte Schrägsicht sehen konnte, wurden noch in einer passablen Qualität Wolfgang A. Jünke und Torsten Priem nennen fälschlicherweise das Jahr 1489. Siehe Jünke (Anm. 8), S. 212; Priem (Anm. 9), S. 220. Wehking (Anm. 40), S. 682. Eventuell würde hier eine genauere Untersuchung durch einen Restaurator Aufschluss geben.
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Abb. 4: Braunschweig, ehemals Maria-Magdalenen-Kapelle, Grundstein, Salbgefäß und Hand von unten, Foto: Wilfried E. Keil.
ausgeführt bzw. teilweise nur angedeutet und Stellen, die man nur von der Seite oder von oben oder unten sehen konnte, wurden nur grob ausgearbeitet. Dies lässt darauf schließen, dass die Skulptur als Skulptur eines Grundsteins gefertigt wurde, der nach dem Ritus im Fundament vermauert wurde. Rechts der Skulptur ist eine Kupfertafel mit einer Höhe von 29 und einer Breite von 15,5 Zentimetern in den Stein vertieft eingelassen und mit Eisenklammern befestigt. Von den vier Klammern sind bis auf die links unten, die heute noch die Kupferplatte hält, alle abgebrochen. Die komplett erhaltene Klammer wurde mit Teilen des Steins ausgebrochen und später wieder eingefügt. Dies lässt darauf schließen, dass man nach der Auffindung, die Kupferplatte herausgebrochen hatte, um vielleicht erfahren zu können, ob sich etwas dahinter befand. Auf der Kupferplatte ist in einer 6 Millimeter hohen gotischen Minuskel eine Inschrift eingraviert. Die Zeilen sind durch vorgeritzte Linien mit einem Abstand von ca. 9 Millimetern getrennt und die Inschrift ist mit schwarzer Farbe gefasst. Die Inschrift ist eine gotische Minuskel mit Versalien.⁴⁹ (Abb. 5) Oben ist eine Zeile abgesetzt: „ioha(n)nes b.“ Da die Formen der Buchstaben etwas missraten erscheinen, wurde vermutet, dass deswegen der Text noch einmal weiter unten begonnen wurde ohne dass man die andere Stelle durch
Zur Inschrift siehe Wehking (Anm. 40), S. 681.
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Abb. 5: Braunschweig, ehemals MariaMagdalenen-Kapelle, Grundstein, Kupfertafel mit Inschrift, Foto: Wilfried E. Keil.
Glättung beseitigt hatte.⁵⁰ Dies könnte aber auch andere Gründe gehabt haben, wie z. B. eine Betonung des Namens von Johannes Blecker.Vielleicht sollte hierdurch auch kenntlich gemacht werden, dass es sich bei ihm um den Verfasser des Textes handelt. Der danach folgende Absatz beginnt in der Zeilenmitte. Es wird die Heilige Maria Magdalena erwähnt und dann werden die Stifter und Zeugen aufgelistet: Dekan Johannes Blecker, drei Kanoniker, die aus ihren Kurien zum Bau der Kapelle beigetragen haben, der Pfarrer, zwei Vikare und sechs weitere Personen. ioha(n)nes b / S(an)c(t)a ma(r)ia mad(ale)na senior [decan(vs)] / Johan(ne)s blecker decan(vs) n(oste)r detmar(vs) becker / Theodericvs breiger Jordan(vs) de medinck / cano(n)ici deder(vn)t de cvrijs eorv(m) ad ea(n)da(m) ca/ pella(m) bertold(vs) ti(m)merla pl(e)ba(nvs) ibide(m) Jo/ ha(n)nes eldages hinric(vs) cosvelt vicaieij / h(er)ma(nnvs) Jansberch m(a)g(iste(r) vince(n)ci(vs) helmke(n) / honema(n) merte(n) va(n) lvtt(er) claves wi/ ti(n)ck ha(n)s lesse Heilige Maria Magdalena. Der Senior Johannes Blecker, unser Dekan, (und) die Kanoniker Detmar Becker, Dietrich Breiger und Jordan von Meding haben aus ihren Kurien zu dieser Kapelle beigetragen. Bertold Timmerla, ebendort Pfarrer, Johannes Eldages (und) Heinrich Cosvelt, Vikare, Hermann Jansberg, Magister Vincenz, Helmke Honemann, Martin van Lutter, Klaus Witinck, Hans Lesse.⁵¹
Die Versalien haben schlingen- und schleifenförmige Verzierungen. Zierhäkchen wurden an den Buchstaben a, e und r verwendet.⁵² Fehler wurden, wenn überhaupt, wie auf einem Papier durch Neuansatz oder Streichung und Überschreibung verbessert.⁵³ Dies ist bei einer Tafel dieser Art verwunderlich. Eventuell war die handschriftliche Vorlage
Wehking (Anm. 40), S. 681. Zur Inschrift siehe: Wehking (Anm. 40), S. 681– 682 und auch S. XXXVII. Wehking (Anm. 40), S. 681. Ebd., S. 681.
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nicht gut leserlich⁵⁴ oder diese hatte bereits Fehler, die übernommen wurden. Das andere Material der Tafel, Kupfer, ist auch durch die geringe Schriftgröße bedingt. Eine in den Stein gehauene Inschrift hätte einer größeren Schrift bedurft, die mehr Platz gebraucht hätte, wodurch der Grundstein größer und schwerer geworden wäre. Eventuell war auch gar nicht von Anfang an eine so ausführliche Inschrift geplant und man hat mit der eingelassenen Kupfertafel eine passende Lösung gefunden oder die Auftraggeber wollten von Anfang an den Grundstein in einer bestimmten Größe belassen. Aus der Inschrift geht hervor, dass außer dem Dekan noch drei Kanoniker Geld für den Neubau zur Verfügung gestellt haben. Um die Kapelle herum befanden sich die Kurien der Stiftsherren von St. Blasii. Es wird daher angenommen, dass es sich bei der MariaMagdalenen-Kapelle um eine Art Hauskapelle der Kanoniker gehandelt habe.⁵⁵ Von den in der Tafel genannten Personen lassen sich vor allem die Geistlichen auch in anderen Quellen nachweisen.⁵⁶ Mittelalterliche Grundsteine mit Inschriften, die im Fundament vermauert wurden, sind im Gegensatz zu Grundsteinlegungsinschriften, die im Sinne einer Memorialinschrift an die Grundsteinlegung erinnern, kaum überliefert. Dies liegt vor allem an der Tatsache, dass sie im Fundament vermauert wurden, das bei den meisten bis jetzt bestehenden mittelalterlichen Bauwerken noch intakt ist. Schrifttragende Grundsteine treten also nur bei Ausgrabungen oder bei einem (Teil‐) Abbruch eines Bauwerks zu Tage. Bei einigen Artefakten, die heute in Museen aufbewahrt werden oder sekundär verbaut wurden, ist der Fundzusammenhang unklar. Bei diesen Exemplaren stellt sich immer die Frage, ob es sich wirklich um Grundsteine handelt oder nur um Memorialsteine, die an die Grundsteinlegung erinnern.
4 Mittelalterliche Grundsteine als Vergleichsbeispiele Mittelalterliche Grundsteine sind üblicherweise nicht so aufwendig mit einer Skulptur und Kupferplatte gestaltet und weisen auch weniger Informationen durch Inschriften auf. Der älteste bekannte nachantike Grundstein mit Inschrift ist der von St. Michael in
Ebd., S. 681. Spiess (Anm. 34), S. 640. Johannes Blecker studierte 1476 bis 1478 an der Universtität Leipzig. Er wurde im Jahr der Grundsteinlegung 1499 zum Dekan des Stiftes St. Blasii gewählt. Blecker hatte auch einen Doktor in Jurisprudenz. Er stammte nicht aus dem Kreis der Kanoniker, sondern wurde von außerhalb berufen und erhielt erst 1506 ein Kanonikat am Stift St. Blasii. Aus einer Quelle des Jahres 1536 geht hervor, dass er verstorben ist. Dethmar Becker war von 1471 bis zu seinem Tod 1502 Kanoniker an St. Blasii, Dietrich Breiger von 1481 bis zu seinem Tod 1532 und Jordanus von Meding von 1491 bis zu seinem Tod 1529. Barthold Timmerla ist im Kopialbuch von 1490 als Vikar von St. Blasii bezeichnet. Johannes Eldages ist von 1495 bis 1506 als Vikar von St. Blasii erwähnt. Von den genannten Zeugen ist eventuell Martin von Lutter identisch mit dem Ratsherrn Martin Lutter, der von 1504 bis 1507 im Rat der Stadt Hagen war. Siehe Wehking (Anm. 40), S. 681– 682.
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Abb. 6: Hildesheim, St. Michael, Grundstein und darüberliegender Stein mit Wiederauffindungsinschrift, Foto: Wilfried E. Keil.
Hildesheim.⁵⁷ (Abb. 6) Er wurde am 4. Juni 1908 bei den Vorbereitungsmaßnahmen zum Wiederaufbau des 1662 abgerissenen südwestlichen Querarms im Fundament des Treppenturms von Karl Mohrmann gefunden. Der Grundstein ist 74 Zentimeter hoch, 100 Zentimeter breit und 46 Zentimeter tief.⁵⁸ Seine Inschrift in romanischer Majuskel lautet: S(ANCTVS) · BENIAMIN / S(ANCTVS) · MATHEVS · A(POSTOLVS) / B(ERNWARDVS) + EP(ISCOPVS) / M(ILLESIMO) X (DECIMO). („Der heilige Benjamin, der Apostel Matthäus. Bischof Bernward 1010.“)⁵⁹ Die Buchstabenhöhe der Inschrift beträgt 13 bis 14 Zentimeter. Die Zeilen sind durch feine Linien vorgeritzt,⁶⁰ ein Indiz dafür, dass die Inschrift wahrscheinlich von einem auf Inschriften spezialisierten Steinmetzen eingehauen wurde. Die Steinbearbeitung weist zu den anderen Quadern des Fundaments keinen Unterschied auf.⁶¹
Zu den Grundsteinen von St. Michael in Hildesheim siehe Wilhelm Berges, Die älteren Inschriften bis zum Tode Bischofs Hezilos († 1079). Aus dem Nachlass herausgegeben und mit Nachträgen versehen von Hans Jürgen Rieckenberg (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philosophisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 131), Göttingen 1983, S. 50 – 54, Nr. 5; Christine Wulf, Grundsteine von St. Michael, in: Michael Brandt u. Arne Eggebrecht (Hgg.), Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, Ausst.-Kat., Bd. 2, Hildesheim, Mainz 1993, S. 533 – 534, Nr. VIII–10; Untermann (Anm. 6), S. 14– 15; Christine Wulf, Die Inschriften der Stadt Hildesheim. Teil 2: Die Inschriften, Jahreszahlen und Initialen (Die Deutschen Inschriften 58, Göttinger Reihe 10), Wiesbaden 2003, S. 185 – 187, Nr. 6; Christoph Schulz-Mons, Das Michaeliskloster in Hildesheim. Untersuchungen zur Gründung durch Bischof Bernward (993 – 1022), 2 Bde., Hildesheim 2010, Bd. 1, S. 194– 221 und Bd. 2, S. 96 – 104; Bünz (Anm. 6); Keil (Anm. 3), S. 118 – 119 u. S. 18 – 19. Karl Mohrmann, Ein Grundstein aus der Zeit Bernwards, in: Die Denkmalpflege 10 (1908), S. 64. Zur Inschrift siehe Wulf 2003 (Anm. 57). Christine Wulf bezeichnet die Inschrift zudem auch als Kapitalis mit zwei unzialen E. Siehe Wulf 2003 (Anm. 57), S. 186. Die Ritzlinien wurden bisher in der Forschung übersehen, obwohl sie im Streiflicht deutlich sichtbar sind. Nur der Verfasser hat bereits einmal darauf hingewiesen. Siehe Keil (Anm. 6), S. 18. Zum Ritzen im Zusammenhang mit Inschriften siehe Irene Berti,Wilfried E. Keil u. Peter A. Miglus, Ritzen, in: Thomas Meier, Michael R. Ott u. Rebecca Sauer (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München, Boston 2015, S. 519 – 531. Mohrmann (Anm. 58).
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Dies deutet darauf hin, dass der Quader nicht speziell für den Grundstein angefertigt worden sein muss. Es ist eventuell nur einfach ein passender Quader ausgesucht worden. Durch den archäologischen Fund des Grundsteins in Hildesheim konnte der Baubeginn von St. Michael für das Jahr 1010 durch Bischof Bernward nachgewiesen werden.⁶² Trotz reicher Quellenüberlieferung zu St. Michael in Hildesheim ist in anderen Quellen keine Nachricht über die Grundsteinlegung zu finden.⁶³ Karl Mohrmann vermutete aus der Lage des Grundsteins und seiner Inschrift weitere Grundsteine.⁶⁴ Wenige Tage später fand er ein Bruchstück eines weiteren Grundsteins. Das Fragment war 5 Zentimeter dick, 29 Zentimeter lang und 25 Zentimeter breit. Dieses im Andreas-Museum eingelagerte und im Zweiten Weltkrieg verschollene Fragment trug den Inschriftenrest „MIAS“, der auf den Namen „IEREMIAS“ schließen lässt.⁶⁵ Auf die Namen und die damit zusammenhängenden Deutungsmöglichkeiten kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.⁶⁶ Ein Beispiel aus der gleichen Zeit wie der Grundstein der Maria-MagdalenenKapelle ist der des Kreuzgangs im ehemaligen Kloster Bad Herrenalb im Schwarzwald. (Abb. 7) Bei einer Ausgrabung durch den Architekten Karl Kugele im Jahre 1929 wurde in der Südwestecke des Kreuzgangs liegend, ein Grundstein aus rotem Sandstein gefunden.⁶⁷ Er hat eine Höhe von 105 und eine Breite von 65 Zentimetern.⁶⁸ An der Ecke, die zur Außenseite des Kreuzgangs zeigte, ist ein Dreiviertel-Rundstab ausgearbeitet. Auf der oberen Lagefläche ist eine Inschrift in gotischer Minuskel mit einer Buchstabenhöhe von 6 Zentimetern eingehauen. Sie beginnt in der Ecke mit dem
Abb. 7: Bad Herrenalb, Grundstein des Kreuzgangs, Dietrich Lutz, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, DI-Fotoarchiv
Günther Binding, Bischof Bernward von Hildesheim – architectus et artifex?, in: Martin Gosebruch u. Frank N. Steigerwald (Hgg.), Bernwardinische Kunst (Bericht über ein wissenschaftliches Symposium in Hildesheim vom 10.10. bis 13.10.1984), Göttingen 1988, S. 27– 47, hier S. 28. Bünz (Anm. 6), S. 80. Mohrmann (Anm. 58). Karl Mohrmann, Grundsteine aus der Zeit Bernwards, in: Die Denkmalpflege 10 (1908), S. 71. Siehe hierzu mit weiteren Hinweisen Keil (Anm. 6), S. 19. Manfred Kohler, Die Bauten und die Ausstattung des ehemaligen Zisterzienserklosters Herrenalb, Heidelberg 1994, S. 176. Die Maße beziehen sich auf die heutige Aufstellung, die nicht mehr der ursprünglichen Lage entspricht.
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Rundstab und lautet: „bartholome(us) / apt 1496.“⁶⁹ Der Grundstein bezeichnet mit seiner Jahreszahl wohl den Baubeginn des Kreuzgang-Neubaus in spätgotischer Zeit unter dem von 1485 bis 1505 amtierenden Abt Bartholomäus von Richtenberg, dessen Name auf dem Grundstein verewigt ist. Die beiden Grundsteine weisen wie viele andere im Mittelalter eine Jahreszahl und Stifternamen wie in Braunschweig auf. In Hildesheim sind zudem wie in Braunschweig Namen von Heiligen wiedergegeben. Im Gegensatz zum Braunschweiger Grundstein wird deutlich, dass die Grundsteine in Hildesheim und in Bad Herrenalb wie viele andere auch keine besondere Gestaltung aufweisen.
5 Forschungsfragen an Grundsteine Grundsteine mit Inschriften, die dann im Fundament vermauert werden, werfen auf Grund ihrer ‚restringierten Präsenz‘ eine Reihe von Fragen auf. Wer waren die Verfasser, die Steinmetze von Grundsteininschriften und wer waren oder sind die Adressaten? Wer hat beim Akt einer Grundsteinlegung teilgenommen und wer oder was wurde auf dem Grundstein verewigt? Wieso ist es wichtig, einen oder sogar seinen Namen auf einem Grundstein zu verewigen, der nur während der Grundsteinlegung sichtbar ist? Ist die Inschrift in diesem Fall für die Teilnehmenden gedacht? Waren die Anwesenden überhaupt des Lesens kundig? Konnten die Anwesenden die Inschrift überhaupt sehen? Wurde die Inschrift vielleicht vorgetragen? Oder war die Inschrift für einen anderen Adressaten intendiert? Wann war ein Grundstein präsent? Nur bei der Grundsteinlegung oder auch noch danach? War er also für einen Kirchenbesucher scheinbar „abwesend“ und hatte zugleich dennoch eine Präsenz?
6 Präsenz und ‚restringierte Präsenz‘ Die Produktion von Präsenz war nicht nur im Mittelalter, sondern ist auch heute noch ein zentrales Anliegen der christlichen Liturgie. Einen Höhepunkt bedeutet das Sakrament der Eucharistie, das die „Realpräsenz“ Gottes auf Erden während der Messe verbürgt.⁷⁰ Die Formel „Produktion von Präsenz“ wurde vom Literaturwissenschaftler
Zur Inschrift siehe: Renate Neumüllers-Klauser, Die Inschriften des Landkreises Calw (Die deutschen Inschriften 30, Heidelberger Reihe 10),Wiesbaden 1992, S. 78, Nr. 156. Zum Grundstein siehe auch: Keil (Anm. 6), S. 21 u. Abb. 6. Zur sakramentaltheologischen Kategorie der Realpräsenz siehe: Johannes Betz, Die Realpräsenz des Leibes und Blutes Jesu im Abendmahl nach dem Neuen Testament, Freiburg 1961. Zur Real-,Verbalund Aktualpräsenz siehe Annette Hornbacher, Tobias Frese u. Laura Willer, Präsenz, in: Thomas Meier, Michael R. Ott u. Rebecca Sauer (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München, Boston 2015, S. 87– 99, hier S. 89 – 95. Zur Aktual- und Realpräsenz während der Messe siehe auch: Tobias Frese, Aktual- und Realpräsenz. Das
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Hans Ulrich Gumbrecht geprägt. Das Wort Präsenz versteht er primär räumlich. Etwas, was präsent ist, ist in der Reichweite des Menschen, es ist für ihn also greifbar.⁷¹ Die Produktion ist als ein Akt zu verstehen, „[…] bei dem ein Gegenstand im Raum ,vor-geführt‘ wird.“⁷² Also wird „[…] der von den Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der (räumlichen) Greifbarkeit durch im Raum stattfindende Bewegungen zunehmender oder abnehmender Nähe und zunehmender oder abnehmender Intensität beeinflußt […].“⁷³ Die Präsenz wirkt also innerhalb oder infolge eines performativen Aktes. Diese Definition lässt sich auf die Sichtbarkeit von Gegenständen erweitern. Präsent ist etwas, wenn es vorhanden ist, also wenn es greifbar oder sichtbar ist.⁷⁴ Wenn das Artefakt aber nur eingeschränkt sichtbar ist, handelt es sich um einen typologischen Sonderfall der Präsenz, nämlich der ‚restringierten Präsenz‘. Dieser Begriff wurde vom Altorientalisten Markus Hilgert für den theoretischen Überbau „Text-Anthropologie“ des Sonderforschungsbereichs 933 eingeführt.⁷⁵ Die Einschränkung der Präsenz kann auf verschiedene Arten erfolgen, z. B. räumlich, zeitlich oder personell.⁷⁶ Wenn nun ein Artefakt für einen möglichen Betrachter im „Raum“ überhaupt nicht sichtbar ist, d. h. für ihn abwesend erscheint, fragt sich, ob das bloße Wissen um das Artefakt, dennoch eine Wirkung erzeugt. Dann besäße das
eucharistische Christusbild von der Spätantike bis ins Mittelalter (Neue Frankfurter Studien zur Kunst 13), Berlin 2013, S. 110 – 112. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 10 – 11 u. 32– 33. Gumbrecht (Anm. 71), S. 11. Ebd., S. 33. Zum Begriff der Präsenz siehe auch: Hornbacher, Frese, u. Willer (Anm. 70), S. 87– 99. Zur Definition der ‚restringierten Präsenz‘ siehe Markus Hilgert, „Text-Anthropologie“. Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie, in: Markus Hilgert (Hg.), Altorientalistik im 21. Jahrhundert. Selbstverständnis Herausforderungen, Ziele (Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 142), Berlin 2010, 87– 126, hier S. 99, Anm. 20: „Einen typologischen Sonderfall stellen diejenigen Arrangements von Objekten und Körpern dar, innerhalb derer ein oder mehrere Artefakte mit Sequenzen sprachlicher Zeichen so platziert sind, dass nur bestimmte oder gar keine Akteure dieses Geschriebene temporär oder permanent rezipieren können. Solche Arrangements weisen eine restringierte Präsenz des Geschriebenen auf.“ Zum Verhältnis von Präsenz und restringierter Präsenz siehe: Wilfried E. Keil, Sarah Kiyanrad, Christoffer Theis u. Laura Willer, Präsenz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Geschriebenem und Artefakten, in: Wilfried E. Keil, Sarah Kiyanrad, Christoffer Theis u. Laura Willer (Hgg.), Zeichentragende Artefakte im sakralen Raum – Zwischen Präsenz und UnSichtbarkeit (Materiale Textkulturen 20), Berlin, Boston 2018, S. 1– 15, hier S. 2– 6. Zur Präsenz und ‚restringierten Präsenz‘ von Zeichen und Inschriften vom Altertum bis zum Ende des Mittelalters in unterschiedlichen Kulturen siehe die Artikel in folgenden Sammelbänden: Tobias Frese, Wilfried E. Keil u. Kristina Krüger (Hgg.), Verborgen, unsichtbar, unlesbar. Zur Problematik restringierter Schriftpräsenz (Materiale Textkulturen 2), Berlin, Boston 2014; Wilfried E. Keil, Sarah Kiyanrad, Christoffer Theis u. Laura Willer (Hgg.), Zeichentragende Artefakte im sakralen Raum – Zwischen Präsenz und UnSichtbarkeit (Materiale Textkulturen 20), Berlin, Boston 2018. Siehe hierzu auch Keil (Anm. 3). Für Stifterinschriften siehe auch Keil 2018 (Anm. 5). Zur Präsenz des Abwesenden siehe auch Keil (Anm. 6).
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Artefakt eine Wirkmächtigkeit und ist hierdurch effizient. Dies hieße, dass das Artefakt trotz seiner visuellen Absenz eine Präsenz und somit auch eine Effizienz besäße.⁷⁷ Bei einem Grundstein erfolgt die ‚restringierte Präsenz‘ auf verschiedene Arten, nämlich räumlich, zeitlich und personell, allerdings teilweise zu verschiedenen Zeiten.
7 Der Akt der Grundsteinlegung Der Akt der Grundsteinlegung⁷⁸ einer Kirche ist nicht mit der Kirchengründung oder mit der Segnung des Bauplatzes zu verwechseln. Die Grundsteinlegung von Kirchen ist zunächst ein profaner Rechtsakt, eine Feierlichkeit des Baubeginns, bei der konkret das Fundament gelegt wird. Diesem Akt geht die fundatio, der juristische und liturgische Rechtsakt der Kirchengründung voraus.⁷⁹ Ein liturgischer Ritus für die Grundsteinlegung einer Kirche mit der Segnung des Grundsteins ist erstmals unter dem Titel Benedictio et impositio primarii lapidis in ecclesiae fundatione im Pontifikale des Durandus von Mende Ende des 13. Jahrhunderts überliefert.⁸⁰ Zuvor gab es aber bereits Handlungen, die bis ins 10. Jahrhundert zurückgehen, die in den offiziellen Ritus übernommen wurden.⁸¹ Eine Beschreibung einer Grundsteinlegung ist in der Schrift De consecratione des Abts Suger von Saint-Denis wiedergegeben. Dieser berichtet vom Baubeginn des neuen Sanktuariums der Klosterkirche in Saint-Denis am 14. Juli 1140. Bischöfe, Äbte, König Ludwig VII. und weitere Würdenträger zogen mit den wichtigsten Reliquien von Saint-Denis in einer feierlichen Prozession zum Bauplatz. Dort angelangt wurde der Heilige Geist um einen guten Beginn und Abschluss des Bauwerkes angerufen. Danach ging man zu den Fundamenten und die Bischöfe bereiteten mit Weihwasser den Mörtel zu und legten die Steine in die Baugrube. Siehe hierzu Keil (Anm. 6), S. 17. Zur Präsenz als Effizienz, Wirkkraft oder Bedeutung des Textes, siehe Hilgert (Anm. 75), S. 111– 112. Zur Wirkmächtigkeit und Effektivität der Präsenz siehe Hornbacher, Frese u. Willer (Anm. 70), S. 88 – 89, 95, 97. Zum Akt der Grundsteinlegung siehe Karl Josef Benz, Ecclesiae Pura Simplicitas. Zu Geschichte und Deutung des Ritus der Grundsteinlegung im Hohen Mittelalter, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 32 (1980), S. 9 – 25; Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus, 2. überarb. u. erg. Aufl. Darmstadt 1998, S. 283 – 314; Günther Binding u. Susanne Linscheid-Burdich, Planen und Bauen im frühen und hohen Mittelalter nach den Schriftquellen bis 1250, Darmstadt 2002, S. 169 – 178; Dominique Iogna-Prat, Aux fondements de l‘Eglise: naissance et développements du rituel de pose de la première pierre dans l‘Occident latin (v. 960 – 1300), in: Ralf M.W. Stammberger, Claudia Sticher u. Annekatrin Warnke (Hgg.), „Das Haus Gottes, das seid ihr selbst“. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe (Erudiri sapientia 6), Berlin 2006, S. 87– 111; Dominique Iogna-Prat, La Maison Dieu. Une histoire monumentale de l’Église au Moyen Age (v. 800 – v. 1000), Paris 2006, S. 539 – 574; Holder (Anm. 6), S. 9 – 10. Benz (Anm. 78), S. 15, 24. Siehe hierzu auch Untermann (Anm. 6), S. 7. Benz (Anm. 78), S. 9 – 11, 24. Zum Originaltext siehe Michel Andrieu (Hg.), Le Pontifical de Guillaume Durand StT 88 (Le Pontifical romain au moyen-âge 3), Vatikanstadt 1940, S. 451– 455. Benz (Anm. 78), S. 20.
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Hierbei sangen sie einen Hymnus und das ‚fundamenta eius in montibus sanctis‘ bis zum Ende des Psalmes 86. Hiernach legte zunächst der König einen Stein nieder, dann die Äbte und andere Kleriker, die hierbei das ‚lapis pretiosi omnes muri tui‘ aus dem Kirchweihoffizium sangen. Einige der Kleriker legten aus Ehrerbietung und Liebe zu Jesus Christus Edelsteine in das Fundament.⁸² Abt Suger berichtet nicht von einem kirchlichen Ritus, sondern von einer feierlichen Zeremonie, bei der sich Weltliches und Geistliches mischen.⁸³ Die Beschreibung von Abt Suger enthält bereits viele wichtige Teile der Zeremonie, die dann später im Ritus bei Durandus von Mende vorkommen, wie die Anrufung des Heiligen Geistes um eine gute Vollendung und den Gesang bis zum Ende des Psalms 86. Allerdings fehlt noch die zuvor stattfindende Segnung des Bauplatzes und die Segnung des Grundsteins.⁸⁴
8 Weitere mittelalterliche Grundsteine als Vergleichsbeispiele Drei weitere Beispiele sind im Zusammenhang mit dem der Maria-Magdalenen-Kapelle von besonderem Interesse. In der ehemaligen Abteikirche Sainte-Colombe in Saint-Denis-lès-Sens in der Bourgogne sind an den Schiffswänden der Kirche zwei Steine, bei denen es sich um echte Grundsteine handelt, senkundär vermauert. Der in der Nordwand des Kirchenschiffes vermauerte Stein hat eine Höhe von 25 und eine Breite von 25,5 Zentimetern. (Abb. 8) Die Inschrift ist kreisförmig umlaufend und wird von zwei eingekerbten Linien umfasst. Die Schrifthöhe des ersten Buchstabens beträgt 3,8 Zentimeter. In der Mitte der Schrift ist ein Abtsstab und eine ihn haltende Hand eingehauen. Die Inschrift in romanischer Majuskel lautet: T(H)EOBALDVS ABB(AS) hVI(VS) LOCI ME POSVIT, („Theobaldus, Abt des Ortes hat mich gelegt“).⁸⁵
Benz (Anm. 78), S. 10 – 11. Zur gesamten Beschreibung siehe Binding (Anm. 78), S. 303 – 305; Albert Speer u. Günther Binding (Hgg.), Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften: Ordinatio, De consecratione, De administatione, Darmstadt 2000, S. 224– 227; Binding u. Linscheid-Burdich (Anm. 78), S. 169 – 170. In ähnlichem Wortlaut findet sich der Text auch in der Schrift ‚Ordinatio‘ von Abt Suger. Siehe: Speer u. Binding (wie in dieser Anm.), S. 192– 195. Einer der Gründe weshalb die Kleriker Edelsteine in das Fundament gelegt haben, steht in der Bibel bei Isaias 54, 11. In dem Vers erfährt man, dass der Herr Saphire auf die Grundsteine Sions gelegt hat. Is 54, 11: paupercula tempestate convulsa absque ulla consolatione ecco ego sternam per ordinem lapides tuos et fundabo te in sapphyris. Siehe Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem, bearb. u. hrsg. v. Robert Weber u. Roger Gryson, 5. Aufl. Stuttgart 2007, S. 1153. Benz (Anm. 78), S. 11. Andrieu (Anm. 80), S. 454– 455. Robert Favreau, Jean Michaud u. Bernadette Mora, Corpus des inscriptions de la France médiéval 21. Yvonne, Paris 2000, S. 129, Nr. 122.
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Abb. : Saint-Denis-lès-Sens, ehemalige Abteikirche Sainte-Colombe, Theobaldus-Grundstein, cliché Jean-Pierre Brouard © CIFM/CESCM.
Abb. : Saint-Denis-lès-Sens, ehemalige Abteikirche Sainte-Colombe, Heinricus-Grundstein, cliché Jean-Pierre Brouard © CIFM/CESCM.
Der in der Südwand vermauerte Stein ist fast identisch gearbeitet. (Abb. 9) In der Mitte befindet sich wiederum ein Stab, diesmal ein Bischofsstab, wie aus der Inschrift hervorgeht: HEN(RIC)VS ARIhIEP(ISCOPV)S ME POSUIT, („Heinrich, Erzbischof, hat mich gelegt“).⁸⁶ Zu beiden Artefakten ist kein ursprünglicher Fundzusammenhang oder sonst irgendeine Nachricht überliefert. Zudem sind keine Jahreszahlen angegeben. In einer an den Abt Theobaldus adressierte Bulle des Papstes Innocenz II. aus dem Jahre 1142 steht, dass die Fundamente der Kirche am Tag Mariä Verkündigung des folgenden Jahres gelegt werden sollen. Dies wäre dann der 25. März 1143 gewesen. Die Inschrift wird passend auch paläographisch in diese Zeit eingeordnet.⁸⁷ Die fehlenden Jahreszahlen sprechen gegen eine Deutung als Memorialsteine, da diese Jahreszahlen oder sonstige Zeitangaben aufweisen. Es handelt sich aus diesem Grund wahrscheinlich um echte Grundsteine. Die Inschriften selbst belegen, dass die Steine Grundsteine sind, indem sie nicht auf eine Kirchengründung, sondern auf den Akt der Grundsteinlegung selbst verweisen: „N.N. hat mich gelegt.“⁸⁸ Eine Interaktion wird besonders bei diesen beiden Grundsteinen deutlich. Durch die Inschrift: „N.N. hat mich gelegt“ wird das Artefakt zum Aktant, der Stein spricht quasi zu uns und nennt den Akteur, der ihn ins Fundament gelegt hat. Somit wird direkt an den performativen
Favreau, Michaud u. Mora (Anm. 85), S. 130, Nr. 123. Der Steinmetz hat bei Archiepiscopus statt eines C ein I eingehauen. Zu den beiden Grundsteinen siehe auch Keil (Anm. 6), S. 19 – 20. Favreau, Michaud u. Mora (Anm. 85), S. 129. Artefakte, die durch ihre Inschrift von sich selbst sprechen, sind im hohen Mittelalter durchaus üblich. Hier sei vor allem auf die zahlreichen N.N. me fecit-Inschriften verwiesen. Diese sind auch schon in der Antike bekannt. Sie wurden bereits durch griechische Bildhauer und Vasenmaler im 6. Jahrhundert vor Christus verwendet. Siehe hierzu z. B. Margherita Guarducci, Epigrafi di carattere pubblico (Epigrafia greca 3), Rom 1975, S. 472, 479 – 483; François Villard, L′apparition de la signature de peintres sur les vases grecs, in: Revue des Études Grecques 115 (2002), S. 778 – 782. Zur Präsenz bzw. ‚restringierten Präsenz‘ von Signaturen, auch diesen Typus, an mittelalterlichen Kirchen, siehe Keil 2017 (Anm. 5).
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Akt der Grundsteinlegung erinnert und uns dadurch aufgezeigt, dass die Präsenz des Grundsteins und der Akteure hierbei von besonderer Bedeutung waren. Beim Abriss der Kirche der Augustinereremiten in Speyer im Jahre 1865 wurden mehrere Grundsteine gefunden. Auf einen der Sandsteine ist in aufwändiger Freskotechnik in Farbe eine thronende Muttergottes mit dem Jesuskind gemalt. Der Stein hat eine Höhe von 17,8 und eine Breite von 15,3 Zentimetern. Auf zwölf weiß grundierten Ziegelsteinen mit einer Höhe von 28 und einer Breite von 14 Zentimetern sind in schwarzer Freskozeichnung Bildnisse der zwölf Apostel dargestellt, die mit ihren Namen bezeichnet sind.⁸⁹ Der Fundbericht vom 9. Dezember 1865 besagt, dass die Steine gemeinsam in der dritten Schicht des Backsteinlagers von unten, inmitten des Mauerwerks, gefunden wurden.⁹⁰ Die Steine weisen keine Jahreszahl auf. Der Baubeginn lässt sich durch einen Ablassbrief, der die laufenden Bauarbeiten erwähnt, vor 1282 datieren. Ein weiterer Ablassbrief deutet sogar auf einen Baubeginn vor 1277 hin.⁹¹ Zumindest bestand damals bereits das Bauvorhaben. Die Hochaltarweihe ist für das Jahr 1290 überliefert.⁹² Die Apostel sind hier als geistige Grundsteine des Gebäudes der Ecclesia zu verstehen, also nach dem 1. Petrusbrief 2,5, in dem die Apostel als lapides vivi bezeichnet werden, auf denen das domus spiritualis aufbaut. Diese Grundsteine belegen, dass es noch andere Ausnahmefälle gab, bei denen Bildnisse auf Grundsteinen verewigt wurden.
Abb. 10: Wäschenbeuren, St. Johannes Evangelista, Grundstein des spätgotischen Langhauses, Harald Drös, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, DI-Fotoarchiv.
1936/1937 wurde beim Neubau des Langhauses der katholischen Pfarrkirche St. Johannes Evangelista in Wäschenbeuren bei Göppingen ein Grundstein aus rotem Sandstein vom spätgotischen Langhausbau entdeckt, der wahrscheinlich in einen Pfeiler eingebaut war. Der Stein hat eine Höhe von 48 und eine Breite von 95,5 Zentimetern. Im, durch eine eingekerbte Linie umfassten, Mittelfeld ist die Jahreszahl Franz Xaver Portenlänger, in: Meinrad Maria Grewenig (Hg.), Das Mittelalter (Historisches Museum der Pfalz Speyer), Stuttgart 1994, S. 90 – 91, hier S. 90. Renate Engels, Das Augustinerkloster, in: Heinz Josef Engels, Renate Engels u. Kathirn Hopstock, Augustinerkloster. Schule. Sparkasse, Speyer 1985, S. 25 – 87, hier S. 35; Portenlänger (Anm. 89), S. 90. Zur möglichen Anordnung siehe Untermann (Anm. 6), S. 16. Zu den Grundsteinen siehe auch Keil (Anm. 6), S. 20 – 21 u. Abb. 5. Engels (Anm. 90), S. 35; Portenlänger (Anm. 89), S. 90. Engels (Anm. 90), S. 37; Portenlänger (Anm. 89), S. 90.
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1504 eingehauen.⁹³ Die einzelnen Ziffern sind durch Quadrangeln getrennt. Um das Mittelfeld herum ist umlaufend in gotischer Minuskel folgender Text eingemeißelt: in der er Vnser / liebe / Frow Vnd sancti ioha/nniS. Die Ziffernhöhe beträgt 6,5 bis 14 Zentimeter und die Buchstabenhöhe 8 bis 9 Zentimeter.⁹⁴ Der Stein weist durch die Jahreszahl auf die Grundsteinlegung hin. In diesem Fall werden aber keine der dabei beteiligten Personen, sondern die Kirchenpatrone genannt. Das Bauwerk wurde bereits bei der Grundsteinlegung unter den Schutz der Patrone gestellt.⁹⁵
9 Der Grundstein der Maria-Magdalenen-Kirche als Bedeutungsträger Der Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle in Braunschweig weist gleich mehrere Konzepte auf einmal auf, die an anderen Beispielen aufgezeigt werden konnten. Die Jahreszahl bezieht sich wie in Hildesheim, Bad Herrenalb und Wäschenbeuren auf das Jahr der Grundsteinlegung. Im Gegensatz zu Hildesheim und Bad Herrenalb werden Kleriker nicht nur in ihrer Funktion als Bauherren, sondern auch explizit als Stifter genannt. Diese können aber zudem auch die Funktion des Verfassers der Texte bzw. deren Auftraggeber gewesen sein. Die Nennung der Personen weist auch darauf hin, dass diese beim Akt der Grundsteinlegung anwesend waren. Dies wird besonders bei den beiden Grundsteinen aus Saint-Denis-lès-Sens deutlich. Die Nennung der Namen von Aposteln, Stammvätern und Propheten wie in Hildesheim und Speyer bezieht sich auf die Bibel und Bibelexegesen. Mit der Erwähnung der Kirchenpatrone wie in Wäschenbeuren wird der Bau gleich unter den Schutz des Kirchenpatrons gestellt. Dies ist in gewisser Weise auch eine Verpflichtung des Bauherrn zur Vollendung des Baus. Beim Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle wurden nicht nur die Jahreszahl, die Stifter, sondern auch die Patronin der Kapelle genannt und sogar dargestellt, um den Bau von Beginn an unter ihren Schutz zu stellen. Bei der Grundsteinlegung wurde hierbei wohl nicht nur der Heilige Geist zu einem guten Beginn und Abschluss des Baus angerufen, sondern auch die Schutzpatronin. Die Kupferplatte mit den Namen wurde eventuell während des Ritus angebracht. Es ist davon auszugehen, dass der Grundstein während des Ritus so gelegt wurde, dass das Gesicht der Skulptur der Maria Magdalena nach oben gerichtet war, sodass diese auch noch danach am Ritus „teilnehmen“ konnte. Durch eine Skulptur wird im performativen Akt der Grundsteinlegung der Grundstein selbst besonders hervorgehoben.
Die Weihe des Neubaus durch den Augsburger Weihbischof Heinrich Negele, zugleich Titularbischof von Edremit, ist für den 6. Juni 1507 überliefert. Siehe Harlad Drös, Die Inschriften des Landkreises Göppingen (Die deutschen Inschriften 41, Heidelberger Reihe 12),Wiesbaden 1997, S. 116. Durch die Auffindung des Grundsteins kann man auf eine Bauzeit von drei Jahren schließen. Zur Inschrift siehe Drös (Anm. 93), S. 116, Nr. 179. Untermann (Anm. 6), S. 14.
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Welche Vermittlerrolle kommt dem Artefakt zu? Beim Akt der Grundsteinlegung fordert der Grundstein und seine Inschrift durch das Vorhandensein einen anderen Akteur zum Ritual auf. Die Inschrift des Grundsteins vermittelt Hinweise an einen, wie auch immer gearteten, Adressaten. Die Rezeption eines schrifttragenden Artefakts kann auf unterschiedliche Weise und zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen erfolgen. Dies kann schon während des Entstehungsprozesses sein, wenn der Künstler oder der Auftraggeber das Werk überprüft oder auch Jahrhunderte später, wenn Wissenschaftler oder Touristen, für die das Artefakt überhaupt nicht intendiert war, dieses untersuchen bzw. betrachten. Durch das schrifttragende Artefakt werden einem potentiellen Leser Affordanzen, Handlungsoptionen, angeboten.⁹⁶ Diese können vom bloßen Betrachten des Artefakts über das Lesen einer Inschrift bis zur Durchführung einer Handlung gehen. Beim Akt der Grundsteinlegung ist dies der Fall, wenn der Grundstein durch seine Inschrift wie bei den Grundsteinen von Sainte-Colombe in Saint-Denis-lès-Sens oder durch eine andere Weise, z. B. in Form eines Bildnisses, zum Niederlegen des Artefakts auffordert. Der Grundstein besitzt hiermit eine Handlungsmacht, eine agency, durch die er den Rezipienten zu einer Handlung, einen performativen Akt, auffordert. Ein Artefakt kann mehrere Aufforderungen implizieren, wie z. B. zur memoria, dem Totengedenken. Bei dem Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle wird der Betrachter nicht explizit zu einer Handlung, weder durch Schrift noch Bild aufgefordert. Allerdings muss hier das gesamte Ensemble berücksichtigt werden, also der Stein mit der Jahreszahl, den Ritzzeichnungen, der Kupferplatte mit Inschrift und der Skulptur der Maria Magdalena. Diese einzelnen Komponenten beziehen sich aufeinander. In seiner Gesamtheit und im Rahmen des performativen Akts der Grundsteinlegung erfolgen Handlungen an und mit dem Artefakt. Nicht nur das Ritual, sondern auch das Artefakt selbst spricht durch Wort und Bild den Rezipienten an. Den Grundstein, ein beschriftetes Artefakt, kann man in diesem Fall also als Akteur ansehen. Für Skulpturen, die Akteure sind, bzw. die handeln, wurde die Theorie des Bildakts entwickelt.⁹⁷ Es handelt sich in diesem Fall um die Möglichkeit des Bildakts, bei dem den Bildern eine Eigenaktivität zugeschrieben wird. Die Bilder besitzen also eine Handlungsmacht, eine agency. ⁹⁸ Es kommt also zu einer Interaktivität oder Kommunikation zwischen Bild und Betrachter. Analog zum Bildakt kann
Zur Affordanz siehe Richard Fox, Diamantis Panagiotopoulos u. Christina Tsouparopoulou, Affordanz, in: Thomas Meier, Michael R. Ott u. Rebecca Sauer (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München, Boston 2015, S. 63 – 70. Zum Bildakt siehe besonders Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Alfred Gell hat Kunstwerken eine Handlungsmacht, eine agency zugesprochen. Für ihn überträgt der Künstler auf das Kunstwerk eine agency, wodurch diese auf den Rezipienten wirken kann. Hierbei können unterschiedliche Varianten in einem hochkomplexen Beziehungsverhältnis gegeben sein oder auch erst geschaffen werden. Siehe Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998, S. 28 – 50. Bei der Theorie des Bildakts von Horst Bredekamp ist das Bild nicht nur ein Vermittler einer Botschaft, sondern es wird als Urheber angenommen. Siehe Bredekamp (Anm. 97), S. 52.
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man bei Geschriebenem und somit auch bei Inschriften von einem Schriftakt sprechen. Wie beim Bildakt das Bildnis, fordert beim Schriftakt die Schrift zu einer Interaktion zwischen menschlichem Akteur und materiellem Artefakt auf.⁹⁹ Beim Grundstein von Braunschweig kommt der Skulptur der Maria Magdalena als Heilige und Schutzpatronin der Kapelle im Bildakt eine besondere Rolle als Aktant zu. Die Stifter werden durch das Bildnis der Maria Magdalena, also von der Heiligen selbst, in die Pflicht genommen. Welche Wirkung erzeugt die Abwesenheit des Grundsteins mit seiner Inschrift und in diesem Fall auch die Skulptur nach der Grundsteinlegung? War den Klerikern und den Kirchenbesuchern zumindest teilweise bewusst, dass es Grundsteine mit Inschriften gab? Ist ein Wissen um solch eine Präsenz wichtiger als die eigentliche räumliche Präsenz? Ging es bei den Inschriften von Grundsteinen nur um eine Form des juristischen Einschreibens? In Fällen mit Jahreszahl ist dies naheliegend. Oder ging es um die Memoria der Stifter, also um das Seelenheil?
10 Konservierung von Information als kulturelles Phänomen Der Brauch beschriftete Artefakte im Fundament einzulassen, lässt sich bereits in Mesopotamien für das 3. Jahrtausend v.Chr. nachweisen. Hierbei wurden häufig zugleich eine beschriftete Steintafel und eine ebenfalls beschriftete Figur in aus Backsteinen gemauerten Boxen in das Fundament eingelassen.¹⁰⁰ Die Kombination von Tafel und Figur wurde, wie das Braunschweiger Beispiel zeigt, auch in der Übergangszeit vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit verwendet. Aber auch in heutiger Zeit werden Artefakte und Schriftstücke im Erdboden versenkt. Dies ist bei den sogenannten Zeitkapseln der Fall.¹⁰¹ Die erste, die diesen Namen trug, war die ‚Time Capsule of Cupaloy‘. Sie wurde auf dem Gelände der Weltausstellung von 1939 in Flushing Meadows, New York, in der Erde versenkt. Die Kapsel enthielt Alltagsgegenstände und das ‚Book of Record‘, das zudem weltweit Bibliotheken zugeschickt wurde. Für eine Zeitkapsel gibt es ein sogenanntes ‚target date‘. Zu diesem soll die
Tobias Frese u.Wilfried E. Keil, Schriftakte/Bildakte, in: Thomas Meier, Michael R. Ott u. Rebecca Sauer (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München, Boston 2015, S. 633 – 638. Siehe hierzu z. B. Christina Tsouparopoulou, Hidden messages under the temple. Foundation deposits and the restricted presence of writing in 3rd millenium BCE Mesopotamia, in: Tobias Frese, Wilfried E. Keil u. Kristina Krüger (Hgg.), Verborgen, unsichtbar, unlesbar. Zur Problematik restringierter Schriftpräsenz (Materiale Textkulturen 2), Berlin, Boston 2014, S. 17– 31. Auch heute ist es z. B. teilweise noch üblich bei der Restaurierung einer Kirche eine aktuelle Tageszeitung im Bauch des Turmhahns zu verwahren.
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Nachwelt die Zeitkapsel, in diesem Fall nach 5000 Jahren, öffnen.¹⁰² Auch wenn das Beispiel aus heutiger Zeit teilweise eine andere Intention bzw. Motivation hat, besteht immer wieder die grundsätzliche Frage: Warum und für wen wurden diese Artefakte geschaffen?
11 Zur Funktion von Namen auf schrifttragenden Artefakten mit ‚restringierter Präsenz‘ Bei mittelalterlichen Inschriften mit dem Namen eines Stifters eines Werkes konnte Robert Favreau eine doppelte Funktion feststellen: Es geht hierbei nicht nur um die Memoria, sondern auch um das Erbitten von Fürbitte.¹⁰³ Gründe für die Beschriftung von Grundsteinen mit Namen kann man der Bibel entnehmen. Besonders häufig wird Jesus Christus mit dem Eckstein (lapis angularis) gleichgesetzt, der von den Erbauern im Alten Testament verworfen wurde und der für den kommenden Erlöser steht. In Hiob 38, 6 wird gefragt, wer denn den Eckstein gesetzt habe.¹⁰⁴ Die Stelle, auf die sich immer wieder in der Bibel bezogen wird, steht allerdings in Psalm 118 (117), 22. Hierin wird gesagt, dass der Stein, den die Erbauer verwarfen, zum Eckstein wurde. Im folgenden Vers steht, dass dies durch den Herrn geschah.¹⁰⁵ Deutlich wird der Bezug zu Grundsteinen am Beispiel in Bad Herrenalb, wo der Grundstein des Kreuzgangs ein Eckstein ist. Hier hat sich der Abt eventuell wie alle Priester in der Nachfolge Christi gesehen. In dem Brief an die Epheser 2, 19 – 22 berichtet Paulus, dass das Haus Gottes auf dem Fundament der Apostel und Propheten und dem Eckstein Jesus Christus gebaut sei und der ganze Bau zu einem heiligen Tempel emporwachse mit dem die Gläubigen zu einer Wohnung Gottes im Geiste werden.¹⁰⁶ Im ersten Petrusbrief 2, 5 werden die Menschen selbst als lebendige Steine (lapidi vivi) des geistigen Hauses bezeichnet.¹⁰⁷ Durch eine Namensnennung auf einem Grundstein wird ein Kleriker oder Stifter selbst zu einem ‚lebendigen‘ Stein der Kirche im architektonischen und Johannes Endres, Zeitkapsel und Paratext, in: Tobias Frese, Wilfried E. Keil u. Kristina Krüger (Hgg.), Verborgen, unsichtbar, unlesbar. Zur Problematik restringierter Schriftpräsenz (Materiale Textkulturen 2), Berlin, Boston 2014, S. 215 – 232. Favreau (Anm. 2), S. 215. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 761, Iob 38, 6: super quo bases illius solidatae sunt aut quis dimisit lapidem angularis eius. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 919 – 920, Ps 117, 22– 23: 22 lapis autem reprobaverunt aedificantes factus est in caput anguli 23 a Domino est istud hoc est mirabile in oculis nostris. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 1810, Eph 2, 19 – 22: 19 ergo iam non estis hospites et advenae sed estis cives sanctorum et domestici Dei 20 superaedificati super fundamentum apostolorum et prophetarum ipso summo angulari lapide Christo Iesu 21 in quo omnis aedificatio constructa crescit in templum sanctum in Domino 22 in quo et vos coaedificamini in habitaculum Dei in Spiritu. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 1865 – 1866, I Pt 2, 5: et ipsi tamquam lapides vivi superaedificamini domus spiritualis sacerdotium sanctum offerre spiritales hostias acceptabiles Deo per Iesum Christum.
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metaphorischen Sinn. Besonders wichtig im Hinblick auf das Seelenheil sind die Verse in der Offenbarung. In Vers 21, 14 steht, dass die Mauer der Stadt des himmlischen Jerusalem zwölf Grundsteine hat, auf denen die Namen der zwölf Apostel stehen.¹⁰⁸ In Vers 19 und 20 steht, dass jeder einzelne Grundstein der Stadtmauer mit einer anderen Art von Edelsteinen geschmückt wurde.¹⁰⁹ Diese Bibelstellen in der Apokalypse werden der Hauptgrund für eine Beschriftung von Grundsteinen mit Apostelnamen sein und das Motiv für Edelsteine als Beigaben in das Fundament. Den Klerikern waren die Bibelstellen bekannt und wohl auch vielen der Kirchenbesucher. So kann man annehmen, dass selbst, wenn die Existenz eines Grundsteins nicht überliefert wurde, doch viele eine solche vermuteten. Dass die auf der Kupferplatte verewigten Stifter um ihr Seelenheil besorgt waren bzw. sich um dieses kümmerten, geht auch aus ihren Stiftungen hervor. Für den erstgenannten Stifter, Dekan Johannes Blecker wurde durch die Testamentare 1537 eine ewige Memorie am 12. September eingerichtet.¹¹⁰ Auch für die drei Kanoniker sind Stiftungen überliefert. Durch die Testamentare des Kanonikers Dethmar Becker wurden 1505 zwei Memorienfeiern für diesen am 27. April und am 3. November mit je 75 Gulden gestiftet.¹¹¹ Zu Lebzeiten stiftete Becker bereits für Antiphone nach seinem Ableben.¹¹² Durch die Testamentare des Kanonikers Dietrich Breiger erfolgten 1535 gleich mehrere Stiftungen, einmal ebenfalls für eine eigene ewige Memorie am 19. Oktober,¹¹³ dann für ein Fest eines bisher noch nicht verehrten Heiligen,¹¹⁴ für Gesänge¹¹⁵ und Heiligenfeste.¹¹⁶ Für den 1529 verstorbenen Kanoniker Jordan von Medingen wissen wir von einem 1534 ausgestellten Revers an die Testamentare, dass eine Rente zu seiner Memorie am 22. Januar bestätigt wurde.¹¹⁷ Zudem wurde durch die Testamentare Stiftungen für Heiligenfeste,¹¹⁸ Festtage¹¹⁹ und Gesänge vorgenommen.¹²⁰
Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 1904, Apc 21, 14: et murus civitatis habens fundamentum duodecim et in ipsis duodecim nomina duodecim apostolorum agni. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 1904, Apc 21, 19 – 20: fundamenta muri civitatis omni lapide pretiosa ornata fundamentum primum iaspis secundus sapphyrus tertius carcedonius quartus zmaragdus quintus sardonix sextus sardinus septimus chrysolitus octavus berillus nonus topazius decimus chrysoprassus undecimus hyacinthus duodecimus amethistus. Irmgard Haas, Leben im Kollegiatstift St. Blasii in Braunschweig. Die liturgischen Stiftungen und ihre Bedeutung für Gottesdienst und Wirtschaft (Braunschweiger Werkstücke Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek 54), Braunschweig 2011, S. 167, 473 (M81), 511. Den Literaturhinweis verdanke ich Dr. Henning Steinführer, Stadtarchivar in Braunschweig. Haas (Anm. 110), S. 162, 374, 470 (M59), 503, 507. Ebd., S. 207– 208, 217, 380, 489 (SR7). Ebd., S. 166, 472 (M77), 502. Ebd., S. 196. Ebd., S. 213, 222, 495 (T16). Ebd., S. 236, 332, 486 (F59), 492 (SR29), 501 (V37). Ebd., S. 166, 472 (M76), 505. Ebd., S. 195, 341, 486 (F58). Ebd., S. 236, 501 (V36).
Für Jahrhunderte verborgen
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Das Einschreiben von Namen lässt vor allem bei Inschriften mit ‚restringierter Präsenz‘ noch eine andere Deutung als die Memoria und das Erbitten von Fürbitten zu.¹²¹ Im Alten Testament, aber auch in der Offenbarung des Neuen Testaments, stehen mehrfach Belege dafür, dass Gott über ein Verzeichnis verfügt, in das alle Lebenden eingetragen werden. Aus diesem ‚Buch des Lebens‘ kann man auf Grund seiner begangenen Sünden gestrichen werden.¹²² Beim Jüngsten Gericht wird dann das Buch des Lebens geöffnet und jeder wird nach seinen Taten und Werken gerichtet.¹²³ Wer nicht im Buch des Lebens steht, kommt in die Hölle.¹²⁴ Damit das Werk überhaupt mit einem Namen verbunden werden kann, wurde dieses mit dem Namen des Urhebers oder Auftraggebers oder Stifters versehen. Es ist also auch möglich das Einschreiben der Namen eschatologisch zu deuten. Hierbei spielte häufig der Wunsch nach einer möglichst großen Nähe zum Altar eine Rolle, da dort die Realpräsenz Gottes bei der Eucharistiefeier gegeben ist. Der Grund des Eingeschrieben-Seins in das Buch des Lebens wird hierbei ausschlaggebend gewesen sein. Es wäre möglich, dass folgende Vorstellung bestand: Je näher der eigene Name am Altar steht, desto wahrscheinlicher ist es, dass man nicht aus dem Buch des Lebens gestrichen wird. Diesen Gedanken kann man aus dem Bestattungswesen und der damit zusammenhängenden Memoria erklären. Man hatte den Wunsch möglichst nahe bei den Heiligen beerdigt zu werden, um diese beim Jüngsten Gericht als Fürsprecher zu haben. Da früher die Heiligen meistens unter dem Altar bestattet wurden bzw. in einem Altar Reliquien von Heiligen eingelassen wurden, ist der Gedanke der Nähe zum Altar also hier analog dem Wunsch eines Bestattungsortes ad sanctos zu verstehen. Eine Häufung von Namen in der Nähe von Altären und besonders in der Nähe vom Hauptaltar konnte der Verfasser bei einer Vielzahl von Inschriften feststellen. Bei beschrifteten Grundsteinen kann eine Relevanz der Nähe zum Altar bisher nicht vermutet werden, da meistens die Fundzusammenhänge unklar sind bzw. viel zu wenig echte Grundsteine bekannt sind. Allerdings spielt der Gedanke in der Nähe der Heiligen zu sein bzw. seinen Namen in der Nähe des Namens eines Heiligen eingeschrieben zu haben, bei den Beispielen mit der Nennung von Heiligennamen auch eine Rolle. Der eigene Name wird zusammen mit dem Namen eines Heiligen genannt. Und bei einer Stiftung wie der Maria-Magdalenen-Kapelle und dem Grundstein mit der Maria Magdalena liegt der Gedanke nahe, dass sich die Stifter beim Jüngsten Gericht die Unterstützung von Maria Magdalena erhofft haben.
Ebd., S. 213, 222, 491 (SR28), 495 (T15). Zu dieser Deutungsmöglichkeit siehe auch Keil (Anm. 3), S. 135– 137; Keil 2018 (Anm. 5), S. 284– 286. Siehe hierzu z. B. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), Ps 69, 29 und S. 1884– 1885, Apc 3, 5. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 1903, Apc 20, 12– 13. Biblia Sacra Vulgata (Anm. 82), S. 1903, Apc 20, 15. Dies wird immer wieder vorher angedeutet, z. B. S. 1898 – 1899, Apc 17, 8.
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12 Fazit Der Grundstein der Maria-Magdalenen-Kapelle macht deutlich, dass sowohl Inschriften als auch Skulpturen aus dauerhaftem Material nicht zwingend für eine dauerhafte Sichtbarkeit geschaffen wurden. Dennoch wurde ein dauerhaftes Material gewählt, da dies für die Intention entscheidend war. Das schrifttragende Artefakt muss auch noch beim Jüngsten Gericht Bestand haben, damit der Name des Stifters mit seinen Taten verbunden werden kann, um seinem Seelenheil bei der Wägung der guten und schlechten Taten beim Jüngsten Gericht zu dienen. Zudem zeigt der Grundstein auf, dass auch, wenn es nicht explizit der Skulptur und der Inschrift entnommen werden kann, eine Handlungsmächtigkeit vorhanden sein kann. Dies ist auch durch die Einbindung in den Ritus gegeben. Auch ist eine Wirkmächtigkeit durch das bloße Wissen um die Existenz des Artefakts gegeben, selbst wenn dieses eigentlich ‚abwesend‘ erscheint. Bei Kunstwerken kommt es nicht zwingend auf eine dauerhafte Sichtbarkeit an. Mit diesen Erkenntnissen können manche anderen Artefakte unter anderen Gesichtspunkten betrachtet werden.
Esther-Luisa Schuster
Die heimliche inventio der Reliquien Godehards und Bernwards von Hildesheim im 12. Jahrhundert Abstract: The ceremonial translation of relics included the elevatio, i. e. the opening of the grave and the elevation of the mortal remains. Medieval translations contain reports about the elevatio as the formal and ceremonial parts of the translation. For the holy Ottonian bishops Godehard and Bernward of Hildesheim, the translatio has survived. Both texts note a secret opening of the grave in the night before the official ceremony. As a reason the writer mentions the clerics’ worries about not being able to find the tomb during the ceremony. Forgetting the place of burial appears in this case as a most extreme form of keeping something secret. At the same time oblivion seems to be the counterpart of the important memoria. Thus, this paper focuses in a first part on the action during the translation and in the night before and their political implications. What reasons led to the secret search and what consequences followed? The second part concentrates on the spiritual background of memory, oblivion and searching, which can be found in Augustine or Plato. For them, forgetting does not conclusively mean a violation of memoria at all, but includes the possibility of a religious meditation. Keywords: Heiligsprechung, Grabstätte, Hildesheim, Bischof, Verehrung, Vergessen, Erhebung Im von Martina Giese geleiteten Panel „Bergen – Verbergen – Öffnen: Über den Umgang mit kirchlichen Schatzobjekten im mittelalterlichen Hildesheim“ stand geheimes und verborgenes Handeln mit und bei der Konzeption von Hildesheimer Schatzkunst im Vordergrund.¹ Der vorliegende Beitrag fokussiert vor diesem Hintergrund einen arkan-mystischen Vorgang im Zusammenhang mit zwei wichtigen Inspirationsquellen für die Herstellung von Hildesheimer Schatzobjekten – den beiden ottonischen Bischöfen Bernward (993 – 1022) und Godehard von Hildesheim (1022– 1038). Beide gelten als typische Vertreter des ottonischen Reichsepiskopats² und pflegten eine enge Beziehung zum Herrscher. Sowohl Bernward als auch Godehard sorgten durch Stif-
Das Panel wurde vom BMBF-geförderten Verbundprojekt „Innovation und Tradition. Objekte und Eliten in Hildesheim 1130 – 1250“ (www.objekte-und-eliten.de) erarbeitet und durchgeführt. Hierzu z. B. Tina Bode, König und Bischof in ottonischer Zeit. Herrschaftspraxis – Handlungsspielräume – Interaktionen (Historische Studien 506), Husum 2015. Dr. Esther-Luisa Schuster, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-013
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Esther-Luisa Schuster
tungen und Bautätigkeiten für eine Blüte des Bistums. Im 12. Jahrhundert wurden beide heiliggesprochen.³ Bernward und Godehard entsprachen dem Bischofsideal des 11. Jahrhunderts, das auch nach Investiturstreit und Wormser Konkordat im 12. Jahrhundert noch Gültigkeit hatte. In Hildesheim wurden sie als Heilige verehrt. In einer Zeit, in der die päpstliche Heiligsprechung mehr und mehr an Bedeutung gewann, wurden somit bald nach dem Tod der beiden Bischöfe Anstrengungen unternommen, diese Verehrung auch offiziell zu machen und damit eine überregionale Relevanz des Kultes zu sichern.⁴ Godehard wurde 1131, Bernward, dessen Heiligsprechung sozusagen in zwei Etappen erfolgte, 1192/93 zur Ehre der Altäre erhoben. Im Folgenden werden die Kampagne zur Heiligsprechung und die Translation der beiden Bischöfe in aller Kürze nachgezeichnet. Der Schwerpunkt liegt dabei besonders auf einer merkwürdigen Begebenheit am Abend vor der Elevatio: Sowohl bei Godehards als auch bei Bernwards Heiligsprechung erwähnt der Translationsbericht eine heimliche, nächtliche Graböffnung durch Hildesheimer Kleriker. Den Schluss bilden Überlegungen zur Topik des Vorfalls und zur Bedeutung des Vergessens als ‚ultimative Geheimhaltungsstrategie‘.
1 Die Heiligsprechung Godehards von Hildesheim Bischof Godehard von Hildesheim, weitläufiger bekannt unter der süddeutschen Namensvariante Gotthard, war von 1022 bis 1038 Bischof von Hildesheim. Da seine Heiligsprechung vor derjenigen seines Vorgängers Bernwards erfolgte, soll er am Anfang der Betrachtung stehen. Als Heiliger ist Godehard geradezu ein Exportschlager. Die Verbreitung seines Kultes übertrifft die Bernwards bei weitem.⁵ Schon kurz nach Godehards Tod lässt sich eine heiligmäßige Verehrung nachvollziehen.⁶ Die Heiligsprechung, die im Jahr 1131 erfolgte, war eine der frühesten päpstlichen Kanonisationen des 12. Jahrhunderts, in dem sich die Bedeutung der päpstlichen Heiligsprechung erst langsam entwickeln sollte und eine heiligmäßige Verehrung auch noch durch eine bischöfliche Synode erlaubt werden konnte. Über die Durchführung des Kanonisationsverfahrens gibt uns die ‚Translatio Godehardi‘ Auskunft, die zuletzt in
Vgl. Esther-Luisa Schuster, Visuelle Kultvermittlung. Kölner und Hildesheimer Bischofsbilder im 12. Jahrhundert (Eikoniká. Kunstwissenschaftliche Studien 7), Regensburg 2016. Zur päpstlichen Heiligsprechung im 12. Jahrhundert vgl. Marcus Sieger, Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 23), Würzburg 1995. Vgl. Josef Fellenberg gen. Reinold, Die Verehrung des Heiligen Godehard von Hildesheim in Kirche und Volk (Rheinisches Archiv 74), Bonn 1970, hier S. 53 – 55. Vgl. die Aufzeichnung von Wundern noch zu Lebzeiten Godehards in der ‚Vita Godehardi posterior und posthum‘ in den Mirakelberichten: Vita Godehardi posterior, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica SS 11, Stuttgart u. a. 1854, S. 196 – 218, hier besonders S. 206 – 207, 209 – 210, 216 – 218; De Miraculis a Godehardo in Vita patratis et in actibus prioribus non indicatis, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica SS 11, Stuttgart u. a. 1854, S. 218 – 221.
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den ‚Monumenta Germaniae Historica‘ ediert wurde.⁷ Grundlage dieser Edition ist der Text in den ‚Sidera Sanctorum Virorum‘ des Trierer Jesuiten Christoph Brouwers von 1616.⁸ Der Hildesheimer Bischof Berthold (1119 – 1130) unternahm die ersten Anstrengungen zur Heiligsprechung Godehards, starb jedoch vor Vollendung derselben. Das Bistum Hildesheim konnte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Heiligen aus der eigenen Bistumsgeschichte vorweisen. Zwar besaß es die Gebeine des heiligen Bischofs Epiphanius aus Pavia, diese waren aber 962 auf dem Wege des sacrum furtum nach Hildesheim gekommen.⁹ Godehard galt sowohl als Reformer als auch in seiner Umsetzung des Episkopats als Vorbild und eignete sich auch aufgrund seiner asketischen Lebensweise sehr als Bistumsheiliger.¹⁰ Darüber hinaus scheint das Bistum mithilfe der Heiligsprechung die Rechtsansprüche des Bistums Hildesheim auf das Stift Gandersheim untermauern zu wollen.¹¹ Bertholds Nachfolger Bernhard I. (1130 – 1153) verfolgte die Angelegenheit weiter und konnte bei einem Treffen von Papst Innozenz II. mit Lothar III. in Lüttich 1130 die Zusage zur Heiligsprechung Godehards erwirken.¹² Ausgeführt werden sollte die Kanonisation auf dem Konzil in Reims im Oktober 1131. Mit der Unterstützung Erzbischof Norberts von Magdeburg reiste der Hildesheimer Bischof nach Reims und war erfolgreich: Am 29. Oktober 1131 wurde Godehard von Papst Innozenz II. heiliggesprochen.¹³ Als Termin für die Erhebung der Gebeine setzte man den 4. Mai 1132 fest, den Tag vor dem Godehards- und dem Kirchweihfest in Hildesheim.¹⁴ Diese Übereinstimmung des Datums von Kirchweihe und Translation ist häufiger zu beobachten. Kurz vor den Feierlichkeiten zur Elevatio kam bei Bischof und Domkapitel die Angst auf, man könne am Tage der Erhebung das Grab nicht finden, oder aber bei der
Translatio Godehardi Episcopi Hildesheimensis, hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica SS 12, Hannover 1856, S. 639 – 652. Christophorus Brouwer, Sidera illustrium et Sanctorum Virorum qui Germaniam praesertim Magnam olim gestis Rebus ornarunt, Moguntia 1616, München, Bayrische Staatsbibliothek, 4 V. ss. c. 51. Zur Verehrung des Epiphanius in Hildesheim siehe Bernhard Gallistl, Epiphanius von Pavia. Schutzheiliger des Bistums Hildesheim (Hildesheimer Chronik 7), Hildesheim 2000. Vgl. z. B. Hans Goetting (Bearb.), Die Hildesheimer Bischöfe 815 – 1221 (1227) (Germania Sacra, N.F. 20; Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Hildesheim 3), Berlin, New York 1984, hier S. 337. Vgl. Fellenberg (Anm. 5), S. 37. Zur Diskussion der Argumente für und wider diese These vgl. Schuster (Anm. 3), S. 174, mit Anm. 1608. Zum Gandersheimer Streit siehe z. B. Knut Görich, Der Gandersheimer Streit zur Zeit Ottos III., in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 79 (1993), S. 56 – 94 sowie Hans Goetting, Bernward und der große Gandersheimer Streit, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hrsg. v. Michael Brandt und Arne Eggebrecht, Ausst. Kat. Hildesheim, Hildesheim, Mainz 1993, Bd. 1, S. 275 – 282. Zu Einzelheiten vgl. Schuster (Anm. 3), S. 175 – 176. Siehe die Urkunde in: Karl Janicke (Hg.), Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Erster Theil, bis 1221 (Publicationen aus den k. preussischen Staatsarchiven 65), Leipzig 1896, Nr. 199, S. 183. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 642.
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Öffnung seien keine Anzeichen von Heiligkeit zu bemerken.¹⁵ Außerdem fürchtete man angesichts der hohen Anzahl an Pilgern, die in die Stadt strömten, der geordnete Ablauf der Translation könnte gestört werden. Deswegen entschloss man sich, vor der Matutin im Dom das Grab Godehards cum omni devotione ¹⁶ zu öffnen. Mitten in der Nacht betraten also Bischof Bernhard und mehrere Kleriker die Kirche und öffneten das Grab. Zuvor hatte sich der Sarkophag hartnäckig gegen Öffnungsversuche gesperrt. Durch göttliche Hilfe und die Zustimmung des Heiligen selbst gelang es ihnen nun mit leichter Hand.¹⁷ Der Wohlgeruch, welcher dem Grab entströmte, versicherte alle Anwesenden der Heiligkeit des Verstorbenen. Der Körper wurde durch den namentlich benannten Propst Berthold erhoben und zunächst in die „Abgeschiedenheit der Sakristei“¹⁸ gebracht. Am Tag folgte dann die Prozession mit dem Leichnam, auf der sich mehrere Wunder ereigneten. Im Dom wurde der Körper dann vermutlich in einen hölzernen Kasten gelegt, bis um zwei Jahrzehnte später der prachtvolle Godehardschrein¹⁹ (Abb. 1) fertiggestellt wurde. Die Motive für die heimliche Öffnung des Grabes in der Nacht vor der Translationsfeier werden im Translationsbericht deutlich benannt: Zum einen sorgte man sich darum, den heiligen Körper nicht finden zu können, und zum anderen, dass dieser keine Anzeichen von Heiligkeit aufweist. Als diese Anzeichen von Heiligkeit galten allgemein ein vergleichsweise geringer Verwesungsgrad (corpus incorruptum) und ein Wohlgeruch, der dem Körper entströmt.²⁰ Diese Anzeichen waren bei der Kanonisation per viam cultus ²¹ lange als alleinige Merkmale erforderlich, um die Verehrung als Heiligen endgültig zu legitimieren. Es verwundert also nicht, dass hierauf ein so starkes Gewicht gelegt wurde. Bemerkenswert ist jedoch auch die Angst,
Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 642– 643. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 642. Zu solcherart Phänomenen siehe Romedio Schmitz-Esser, Der Leichnam im Mittelalter. Einbalsamierung, Verbrennung und die kulturelle Konstruktion des toten Körpers (Mittelalter-Forschungen 48), Ostfildern 2014, hier S. 122 – 123. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 643. Schrein des hl. Godehard, Hildesheim, 2. Hälfte 12. Jahrhundert/ nach 1153, 65 x 122 x 51 cm, Eichenholzkern, Silber, getrieben, ziseliert, nielliert, vergoldet, Edelsteine, Kupfer, Braunfirnis, Bergkristall, Hildesheim, Hohe Domkirche. Vgl. Schuster (Anm. 3), S. 182– 189 sowie die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprojekts zum Godehardschrein am Dommuseum Hildesheim (2013 – 2015), das von Dr. Dorothee Kemper (Berlin/Bonn) durchgeführt wurde. Vgl. hierzu auch Schmitz-Esser (Anm. 17), S. 138. Es seien mithin auch Fälle nachvollziehbar, in denen durch eine gezielte Behandlung der Leichen vor der Bestattung eine Mumifizierung und damit ein corpus incorruptum herbeigeführt werden sollte, vgl. ebd., S. 149 – 150. Der Wohlgeruch gehe ebenfalls meist auf den Einsatz von duftenden Substanzen zur Einbalsamierung zurück, vgl. ebd., S. 156 – 157. Die Kanonisation per viam cultus war das übliche ‚Verfahren‘ der Heiligsprechung bis sich die Zustimmung durch eine Synode durchsetzte. Eine bestehende Verehrung eines Heiligen durch das Volk an einem Ort reichte aus, um eine Erhebung des Körpers beim zuständigen Bischof zu erwirken. Vgl. Jürgen Petersohn, Bischof und Heiligenverehrung, in: Römische Quartalsschrift 91 (1996), S. 207– 229, hier S. 216.
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Abb. 1: Schrein des heiligen Godehard, Bild: © Dommuseum Hildesheim, Foto: Ansgar Hoffmann
das Grab oder den Körper nicht vorfinden zu können. Hier schwingt implizit die Versicherung mit, dass das Grab vor der Erhebung unversehrt war und keine Verehrung des Körpers vor der Kanonisation stattgefunden hat. Die eigenmächtige Erhebung von Gebeinen und die stark um sich greifende Verehrung von lokalen Heiligen ohne eine Zustimmung aus Rom werden häufig als Grund für die Entwicklung der Heiligsprechung zum päpstlichen Eigenrecht hin angeführt.²² Im Translationsbericht Godehards werden die päpstliche Zustimmung und die Rechtmäßigkeit der Kanonisation besonders betont.²³ Die Episode um die nächtliche Öffnung lässt sich auch vor diesem Hintergrund verstehen. Durch die Vorbereitung der translatio in der Nacht zuvor sollten also zum einen Verzögerungen im Ablauf vermieden und zum anderen Zweifel an einer Rechtmäßigkeit der Heiligsprechung ausgeräumt werden.
2 Die Heiligsprechung Bernwards von Hildesheim Der Aspekt der Verehrung von Gebeinen vor der päpstlichen Erlaubnis zur Erhebung spielt bei der heimlichen Graböffnung Bernwards eine wesentliche Rolle. Die Erzäh Vgl. Otfried Krafft, Papsturkunde und Heiligsprechung. Die päpstlichen Kanonisationen vom Mittelalter bis zur Reformation, Ein Handbuch (Archiv für Diplomatik. Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde, Beiheft 9), Köln u. a. 2005. Z. B. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 642.
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lung um die translatio Bernwards ist sogar über die Hagiographie hinaus, in der Chronik des Arnold von Lübeck, überliefert. Bernward von Hildesheim starb 1022 und wurde in der von ihm gegründeten Klosterkirche St. Michael bestattet. Als Fundator des Klosters und als Kunstförderer im Bistum hatte er sich sowohl um St. Michael als auch um den Hildesheimer Dom verdient gemacht. Zu seinen wichtigsten und bekanntesten Stiftungen gehören zum Beispiel die sogenannte Bernwardtür²⁴ – möglicherweise für den Dom²⁵ – und die Christussäule für St. Michael,²⁶ heute ebenfalls im Dom. Bernward war kurz vor seinem Tod dem Konvent von St. Michael beigetreten und als Mönch gestorben, sodass die Mönche seiner nicht nur als Gründer und Bischof, sondern auch als Mitbruder gedachten.²⁷ An seinem Grab ereigneten sich zahlreiche Wunder, die sorgfältig aufgezeichnet wurden und auch eine Lebensbeschreibung von Thangmar, Bernwards Lehrer, lag bereits vor.²⁸ Vita und Mirakelberichte gehörten zu den erforderlichen Akten einer offiziellen petitio um Kanonisierung in Rom. Nachdem 1131 Godehard von Innozenz II. heiliggesprochen worden war, schien die Angelegenheit dringlicher zu werden. Dennoch sollte es fast 20 Jahre dauern, bis Bischof Bernhard I. von Hildesheim und Abt Burchard von St. Michael bei dem Mainzer Erzbischof Heinrich I. (1142– 1153) die Erlaubnis zur heiligmäßigen Verehrung Bernwards erwirken konnten.²⁹ Dies war keineswegs gleichbedeutend mit der päpstlichen Kanonisation Godehards! Die Erhebung der Gebeine wurde explizit ausgeschlossen.³⁰ Eine Urkunde des Kardinallegaten Octavian aus demselben Jahr erlaubte allerdings die Errichtung eines Altars über Bernwards Grab, der am Kopfende der Grabstätte
Sog. Bernwardtür, Hildesheim, 1015, 472 x 125 (links) bzw. 114,5 cm (rechts), Bronze, gegossen, Hildesheim, Hohe Domkirche,Westportal.Vgl. Michael Brandt, Bernwards Tür (Schätze aus dem Dom zu Hildesheim 3), Regensburg 2010. Zur Frage nach dem ursprünglichen Bestimmungsort vgl. jüngst Gerhard Lutz, Wo ist denn die Tür geblieben? – zur Diskussion um den ursprünglichen Standort der Hildesheimer Bernwardstür, in: Stefan Bürger und Ludwig Kallweit (Hgg.), Capriccio & Architektur. Das Spiel mit der Baukunst: Festschrift für Bruno Klein, Berlin, München 2017, S. 175 – 181. Sog. Bernwardssäule oder Christussäule, Hildesheim, um 1020, 375 cm, D: 58 cm, Bronze, gegossen, Hildesheim, Hohe Domkirche, Südquerhaus. Vgl. Michael Brandt, Die Bernwardssäule (Schätze aus dem Dom zu Hildesheim 1), Regensburg 2009. Thangmari Vita Bernwardi Ep., hrsg. v. Georg Heinrich Pertz, in: Monumenta Germaniae Historica SS 4, München 1841, S. 754– 782, hier S. 780. Ediert in: Thangmari Vita Bernwardi Ep. (Anm. 27). Als ergänzende Lektüre zwingend notwendig: Martina Giese, Die Textfassungen der Lebensbeschreibungen Bischof Bernwards von Hildesheim (Monumenta Germaniae Historica Studien und Texte 40), Hannover 2006. Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim (Anm. 13), Nr. 265 und 266, S. 245 – 246. […] concedimus, ut antistitem beatae memorie B(ernwardum) […] absque translatione omni honore et reverentia excolatis. Siehe Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim (Anm. 13), Nr. 266, Z. 15 – 18; ebenso Nr. 265, Z. 20 – 24.
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platziert und Bernward geweiht wurde.³¹ Über weitere Maßnahmen, um die Heiligsprechung voranzutreiben, berichten die Quellen zunächst nicht. Rund vierzig Jahre später gab der Kardinal Cinthius von S. Lorenzo in Lucina den Anstoß für eine erneute petitio. Diese Begebenheit ist keinesfalls außergewöhnlich. Ähnliches ist beispielsweise aus dem Translationsbericht für Anno II. von Köln (1056 – 1075) bekannt, dessen Gebeine 1183 zur Ehre der Altäre erhoben wurden.³² Hier war es der Kardinallegat Petrus von Tusculum, der die Mönche von St. Michael in Siegburg von der Notwendigkeit der Heiligsprechung Annos überzeugt haben soll.³³ Abt Gerhard von Siegburg reiste 1181 mit einem Empfehlungsschreiben Friedrich Barbarossas im Gepäck nach Rom, um den Papst um die Einleitung des Kanonisationsverfahrens zu bitten. Durch einen Papstwechsel in dieser Zeit verzögerte sich das Verfahren zunächst, durch die Unterstützung des Mainzer Erzbischofs Christian (1163 – 1183) konnte die Kanonisation aber dennoch zu einem günstigen Abschluss gebracht werden.³⁴ Auch im Translationsbericht Bernwards spielt eine Romreise eine größere Rolle. Abt Theoderich von St. Michael in Hildesheim machte sich gemeinsam mit dem Kardinal und den erforderlichen Unterlagen auf den Weg nach Rom. Die beschwerliche Reise, die in der ‚Historia Canonizationis et Translationis Sancti Bernwardi‘ und in der Chronik des Arnold von Lübeck detailliert beschrieben wird,³⁵ führte schließlich zum erwünschten Ergebnis. Papst Coelestin III. stimmte am 19. Dezember 1192 der Verehrung und Erhebung der Gebeine Bernwards zu, wie er es in einer Urkunde von 1193 bestätigte.³⁶ Zusätzlich erließ er ein Mandat, nach dem alle Einkünfte durch Spenden von Pilgern und Gläubigen am Grab Bernwards dem Kloster St. Michael zugutekommen sollten. Außerdem untersagte er die Teilung der Reliquien Bernwards
Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim (Anm. 13), Nr. 268, S. 247, Z. 31– 33: Interim autem secundum ipsius petitione, ad honorem dei et beati confessoris Christi altare super eiusdem pontificis sepulturam edificari et consecrari concedimus. Libellus de Translatione Sancti Annonis Episcopi et Miracula Sancti Annonis Liber primus et secundus. Bericht über die Translation des heiligen Erzbischofs Anno und annonische Mirakelberichte (Siegburger Mirakelbuch), Buch I und II, Lateinisch – Deutsch, hrsg. v. Mauritius Mittler (Siegburger Studien 3), Siegburg 1966, S. 14. Ebd., S. 6. Ebd., S. 11– 12. Historia canonizationis et translationis S. Bernwardi, hrsg. v. Joseph van Hecke, in: Acta Sanctorum Octobris XI, Brüssel 1867, Sp. 1024– 1034. Diese Edition bietet eine verkürzte Darstellung der Begebenheiten. Arnoldi Abbatis Lubecensis Chronica Slavorum, hrsg. v. Johann Martin Lappenberg, in: Monumenta Germaniae Historica SS 21, Hannover 1869, S. 100 – 250, l. V, c. 23, S. 199 – 201. Der bei Leibniz edierte Translationsbericht orientiert sich vermutlich an der Erzählung des Arnold von Lübeck und ist weitaus ausführlicher als die Edition in den Acta Sanctorum: Narratio de Canonisatione et Translatione S. Bernwardi, in: Scriptores Rerum Brunsvicensium Illustrationi Inservientes, Tomus Primus, hrsg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz, Hannover 1707, l. XXXII, S. 469 – 481 Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim (Anm. 13), Nr. 489, S. 465 – 466.
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ohne die Zustimmung des Abtes von St. Michael.³⁷ Die Translation selbst fand erst am 16. August 1194 statt. Bischof Berno von Hildesheim (1190 – 1194) ordnete an, dass am Morgen des Feiertages alle Vorbereitungen getroffen werden sollen.³⁸ Bischof, Abt und einige Mönche begaben sich jedoch mutato consilio ³⁹ – nachdem der Plan geändert worden war – schon vor dem Morgengrauen heimlich in die Kirche, um alle Vorkehrungen für die Erhebung zu treffen und Verzögerungen im Ablauf zu vermeiden. Als diese nächtlichen Vorbereitungen tags darauf bekannt wurden, zweifelte das Domkapitel die Echtheit der sich im Grab befindlichen Gebeine an. Der daraufhin ausbrechende Streit verzögerte die Feierlichkeiten zur Erhebung. Arnold von Lübeck vermutet als Ursache der Auseinandersetzung, dass die Mönche von St. Michael schon weit vor der offiziellen Heiligsprechung Bernwards Gebeine aus dem Grab entnommen, in ihren Zellen verehrt und heimlich zurückgelegt hatten.⁴⁰ Ein Eid Bernos und die Versicherung der Mönche, die Reliquien seien die echten, besänftigte das Domkapitel, sodass die Translation doch noch wie geplant stattfinden konnte.⁴¹ Der Leichnam wurde in den Dom gebracht und kehrte nach dem Hochamt nach St. Michael zurück, während der Kopf und der rechte Arm im Dom verblieben.⁴² Die hochrangigen Reliquien wurden in kostbaren Reliquiaren geborgen.⁴³ Das Kopfreliquiar Bernwards (Abb. 2) wird auch in der Chronik des Arnold von Lübeck als besonders prachtvoll erwähnt⁴⁴ und muss daher zum Zeitpunkt der Erhebung der Gebeine bzw. spätestens zur Vollendung der Chronik 1209/10 bereits vorhanden gewesen sein.⁴⁵ Das Armreliquiar (Abb. 3) wird lediglich als scrinium ⁴⁶ benannt.⁴⁷
Ebd., Nr. 490, S. 466. Arnoldi Abbatis Lubecensis Chronica Slavorum (Anm. 35), S. 200, Z. 20 – 22. Ebd., S. 200, Z. 22– 23: […] mutato consilio ante auroram cum abbate et admodum paucis monachis clam ad tumbam accessit […]. Ebd., S. 200, Z. 33 – 42: […] simpliciores fratres, qui […] clam sepulchro aperiunt, reliquias auferunt, et eas in suis loculis […] venerantur, honorant, adorant. […] Terrentur reliquiarum cultores, et quod factum fuerat non iam factum sed omnino mutatum esse volentes, thesaurum, quem absconditum habuerant, abscondite et diligentissime reposuerunt. Ebd., S. 201, Z. 5 – 6. Ebd., S. 201, Z. 10 – 13. Zur Bedeutung der Körperteile Kopf und Hand siehe Schmitz-Esser (Anm. 17), S. 640 – 650. Arnoldi abbatis Lubecensis chronica Slavorum (Anm. 35), S. 201, Z. 12– 13: caput quidem exquisitissimo opere gemmis preciosis et auro fulvo nimis adornatum. Kopfreliquiar des heiligen Bernward, Hildesheim, um 1194 bis 1210, Mitra, Haarkalotte und Steinfassungen 1780 überarbeitet und erneuert, 55 x 35 cm, Silber, vergoldet, getrieben, Filigran mit Steinbesatz, Hildesheim, Dommuseum, Inv. Nr. DS 10. Vgl. Abglanz des Himmels. Romanik in Hildesheim, hrsg. v. Michael Brandt (Ausst. Kat. Hildesheim), Regensburg 2001, Kat. Nr. 4.17, S. 187– 186. Arnoldi Abbatis Lubecensis Chronica Slavorum (Anm. 35), S. 201, Z. 11. Armreliquiar des heiligen Bernward, Hildesheim, um 1194, 53,3 cm, Silber, getrieben, vergoldet, Filigran mit Steinbesatz, Hildesheim, Dommuseum, Inv. Nr. L 1978 – 2. Vgl. Dommuseum Hildesheim. Ein Auswahlkatalog, hrsg. v. Michael Brandt, Claudia Höhl u. Gerhard Lutz, Regensburg 2015, S. 51.
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Abb. 2: Kopfreliquiar Bernwards, Bild: © Dommuseum Hildesheim
Abb. 3: Armreliquiar Bernwards, Bild: © Dommuseum Hildesheim, Foto: Florian Monheim
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Daraus lässt sich noch nicht ableiten, ob es sich um das fertige Armreliquiar handelte oder lediglich um ein Kästchen, in das die Reliquien übergangsweise gelegt wurden.⁴⁸ Angesichts der präzisen Bezeichnung des Kopfreliquiars und des Verzichts auf das Wort bracchium ⁴⁹ zur Benennung an dieser Stelle ist hier von einer Übergangslösung auszugehen. Hans Jakob Schuffels bewertet die Herausgabe der Reliquien an den Dom als Resultat des Konflikts des Domkapitels mit den Mönchen.⁵⁰ Schließlich hatte der Papst verfügt, dass der Körper Bernwards ohne Zustimmung des Abtes von St. Michael nicht geteilt werden dürfe. Die Auseinandersetzung um die Echtheit der Gebeine wird als Mittel gewertet, die Mönche zur Übergabe der beiden hochrangigen Reliquien zu zwingen. Letztlich geht dies aber aus den Quellen direkt nicht hervor und lässt sich daher kaum verifizieren. Nach der Erhebung Bernwards verzichtete Bischof Berno in einer Urkunde von 1194 mit Zustimmung des Domkapitels auf den ihm zustehenden Teil der Einkünfte, da das Kloster St. Michael durch das Kanonisationsverfahren große Unkosten gehabt habe und fügte sich damit der päpstlichen Anordnung vom Januar 1193.⁵¹ Für die heimliche Öffnung des Grabes von Bernward lassen sich in den Quellen die gleichen Motive fassen wie diejenigen, die schon aus der Schilderung in Godehards Translationsbericht bekannt sind: Auch bei Bernwards Translation befürchtete man Verzögerungen im Ablauf der Feierlichkeiten. Damit waren sicherlich Schwierigkeiten beim Auffinden und Öffnen des Grabes gemeint. Die Ergriffenheit der anwesenden Kleriker beim Anblick des Leichnams, welche das Erkennen des richtigen Körpers beweisen sollte, wird in der ‚Translatio Bernwardi‘ gleichermaßen beschrieben wie in der ‚Translatio Godehardi‘.⁵² In der Chronik Arnolds von Lübeck kommt die legendarische Schilderung des Konflikts mit dem Domkapitel hinzu.⁵³ Der Autor erklärt, welche Beweggründe hinter der nächtlichen Graböffnung gestanden haben könnten: Eine Entnahme von Reliquien aus dem Grab eines heiligmäßig Verehrten auch ohne eine offizielle Heiligsprechung war keineswegs unüblich. Die Befürchtung, man könnte die Grabstätte vergessen haben, erscheint als topische Wendung, die eine vorherige Erhebung von Reliquien als unmöglich darstellt. Im Falle Bernwards ist eine Entnahme von Reliquien vor der Erlaubnis zur Erhebung des Körpers tatsächlich mehr als wahrscheinlich. Denn ein Reliquienverzeichnis des Hochaltars von St. Michael, das anlässlich der Neuweihe nach Umbau Zur mittelalterlichen Verwendung des Wortes scrinium als Bezeichnung für kastenförmige Reliquiare siehe Joseph Braun, Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung, Freiburg 1940, S. 34– 36. Vgl. ebd., S. 61– 62. Hans Jakob Schuffels, Die Erhebung Bernwards zum Heiligen, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hrsg. v. Michael Brandt und Arne Eggebrecht (Ausst. Kat. Hildesheim), Hildesheim, Mainz 1993, Bd. 1, S. 407– 417, hier S. 415. Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim (Anm. 13), Nr. 506, S. 481– 482. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 643; Narratio de Canonisatione et Translatione S. Bernwardi (Anm. 35), S. 476. Arnoldi Abbatis Lubecensis Chronica Slavorum (Anm. 35), S. 200 – 201.
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maßnahmen in der Kirche 1186 – also acht Jahre vor der Erhebung Bernwards – angelegt wurde, vermerkt auch Reliquien Bernwards innerhalb der Reihe der heiligen Confessoren. ⁵⁴ Die Inschrift auf einem bronzenen Altarkreuz mit Kreuzfuß (Abb. 4),⁵⁵ das sicherlich ebenfalls vor der Erhebung Bernwards entstanden ist, nennt Bernwardreliquien als Inhalt des Corpus. Die Inschrift stammt allerdings erst aus dem 15. Jahrhundert – ob die genannten Reliquien also bereits zur Entstehungszeit in dem Kreuz vorhanden waren, ist nicht mit Sicherheit zu sagen.⁵⁶
Abb. 4: Altarkreuz mit Kreuzfuß, Bild: © Dommuseum Hildesheim
Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim (Anm. 13), Nr. 441, S. 429 – 431, hier bes. S. 430, Z. 14. Altarkreuz auf Kreuzfuß, Hildesheim, 2. Hälfte 12. Jahrhundert, 29 cm, Bronze, gegossen, ziseliert, Bergkristall, Hildesheim, Dommuseum, Inv. Nr. DS 92. Vgl. Gerhard Lutz und Felix Prinz (Hgg.), Drachenlandung. Ein Hildesheimer Drachenaquamanile des 12. Jahrhunderts (Kunststücke 1), Regensburg 2016, S. 22– 23. Christine Wulf (Bearb.), Die Inschriften der Stadt Hildesheim (Die deutschen Inschriften 58), Wiesbaden 2003, Nr. 241, in: www.inschriften.net/urn:nbn:de:0238-di058 g010k0024108 (letzter Zugriff am 13.06. 2017).
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Bernward hatte zwar eine Menge Kunstwerke mit seinem Namen versehen lassen, die nach der ersten Erlaubnis seiner Verehrung als Ersatzreliquien umgearbeitet wurden,⁵⁷ doch eine Verbreitung des Kultes, so wie es bei Godehard durch die Schenkung von Reliquien nach der Erhebung des Körpers 1132 möglich war, blieb zunächst aus. An die Knochen Bernwards waren also nicht nur spirituelle Interessen geknüpft, sondern auch die Möglichkeiten einer großflächigen Verbreitung der Verehrung des Klostergründers und Bischofs, die wiederum Pilger nach Hildesheim ziehen sollte. Die Auseinandersetzung mit dem Domkapitel und besonders die Lösung des Konflikts und der bischöfliche Eid dienten vor diesem Hintergrund sozusagen als übergreifende Authentik für die nun verfügbaren Bernwardreliquien.⁵⁸ Im oben bereits erwähnten Translationsbericht des Kölner Erzbischofs Anno wird das Motiv der nächtlichen Graböffnung auf die Spitze getrieben: Im 1186 verfassten ‚Libellus de Translatione Sancti Annonis Episcopi‘ wird beschrieben, dass bei den Vorbereitungen des Verfahrens am Abend vor der Translationsfeier Zweifel über den Ort des Grabes aufkamen, da die Frömmigkeit es geboten hatte, den Begräbnisort nicht eindeutig zu überliefern.⁵⁹ So wurde zunächst erfolglos vor dem Altar der Fußboden geöffnet. Nachdem an diesem Ort nichts gefunden worden war, besann man sich auf das mausoleum, quo eius sepultura cum epitaphio praemonstrabatur,⁶⁰ also das Mausoleum, an dem seine Grabstätte durch einen Epitaph gekennzeichnet wurde, und entdeckte den Körper des Heiligen dort. Im Grab befanden sich zudem der Bischofsring Annos und Bleitafeln mit Angaben zu Anno selbst.⁶¹ Hier wird also die heimliche Öffnung noch durch einen offensichtlichen Irrtum ergänzt. Gleichzeitig weist die Stelle aus dem Translationsbericht auf ein Phänomen hin, das SchmitzEsser als „Zertifizierung“⁶² des Leichnams bezeichnet: Mithilfe von Inschriften und Inschriftentafeln sowie der „Auswahl eines hervorgehobenen Begräbnisortes“⁶³ sollten das Auffinden und die Identifizierung des Körpers erleichtert werden. Damit wurden bereits bei der Bestattung Vorkehrungen für eine mögliche Erhebung getroffen.
Zum Beispiel das sog. Kostbare Evangeliar, um 1015, Einband überarbeitet um 1194, 28 x 20 cm, Hildesheim, Dommuseum, Inv. Nr. DS 18 und das sog. Kleine Bernwardevangeliar, 10. Jahrhundert, Einband überarbeitet 2. Hälfte 12. Jahrhundert, Hildesheim, Dommuseum, Inv. Nr. DS 13. Vgl. Schuster 2016 (Anm. 3), S. 165. Libellus de Translatione Sancti Annonis Episcopi (Anm. 32), S. 14: […] dubitatum est, ubi locorum pavimenti aperiri potuisset […]. Ebd., S. 14– 16. Ebd., S. 16. Schmitz-Esser (Anm. 17), S. 129. Ebd.
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3 Die nächtliche Graböffnung als Motiv Der Vorgang der nächtlichen Graböffnung zur Vorbereitung der Erhebung ist möglicherweise ein Überrest des ersten Teils des Kirchweihritus, aus dem mit dem Ritus der Reliquiendedikation das Vorbild für die Translationsfeier entnommen ist, wie Heinzelmann darlegen konnte. Die in den Altar einzulegenden Reliquien wurden in der Nacht vor der Kirchweihe an einem anderen Ort aufbewahrt. Die Kirchweihe beginnt damit, dass sich der Bischof im Ornat in das Zelt begibt, in dem die Reliquien in der vorangegangenen Nacht cum vigiliis geehrt wurden.⁶⁴ Dies ist auch bereits bei Gregor von Tours bezeugt.⁶⁵ Gleichzeitig handele es sich bei den nächtlichen Graböffnungen um Variationen des revelatio-Archetyps, der schon seit dem 5. Jahrhundert in Translationsberichten zu finden ist. Der Heilige offenbart seine Anwesenheit mit Wunderzeichen und kann dadurch aus dem Verborgenen an die Oberfläche zurückgeholt werden. Damit verbunden ist auch eine intensive Suche durch eine inspirierte Person. Sicherlich liegt hier eine verknappte Variante dieses Motivs vor, das bei weitem nicht so viel Raum in der Geschichte einnimmt, wie beispielsweise die Suche nach dem wahren Kreuz in der Kreuzlegende oder die Auffindung des Erzmärtyrers Stephanus.⁶⁶ Dennoch macht Heinzelmann deutlich, dass das Motiv der Auffindung seit diesen frühen Überlieferungen fester Bestandteil von Translationsberichten ist.⁶⁷ Das Einschlagen des Körpers in Tücher, wie es in der ‚Translatio Annonis‘ beschrieben wird,⁶⁸ entspricht letztlich dem Bestattungsritus, das für die Bestattung Jesu durch Joseph von Arimathia in den Evangelien berichtet wird (Mt 27, 59; Mk 15, 46; Lk 23, 53; Joh 19, 40).⁶⁹ Heimliche Graböffnungen beschränken sich freilich nicht auf die drei hier vorgestellten Fälle. Görich hat in seinem Aufsatz über die ebenfalls clam (heimlich) erfolgte Graböffnung Karls des Großen durch Otto III. verschiedene Beispiele aus dem Hochmittelalter zusammengestellt.⁷⁰ Er betont dabei, dass die Heimlichkeit in diesem Zusammenhang nicht den Zweck habe, eine Tabuverletzung geheim Z. B. im sog. Pontificale Coloniense, Mitte 12. Jahrhundert, Köln, Erzbischöfliche Dom- und Diözesanbibliothek, Cod. 139, fol. 59r: Primum veniat episcopus indutus vestimentis sacri, similiter et clerus in tentorium, in quo reliquie praeterita nocte cum vigiliis fuerunt. Martin Heinzelmann, Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (Typologie des Sources du Moyen Âge occidental 33), Turnhout 1979, S. 48 mit Anm. 19. Eine Beschreibung der Vorgänge z. B. in: Epistola Luciani ad Omnem Ecclesiam, de Revelatione Corporis Stephani Matryris Primi et Aliorum, hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 41), Paris 1844– 1973, Sp. 807– 808. Vgl. Heinzelmann (Anm. 65), S. 80. Libellus de Translatione Sancti Annonis Episcopi (Anm. 32), S. 14. Vgl. auch Schmitz-Esser (Anm. 17), S. 171– 178. Knut Görich, Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen. Überlegungen zu Heiligenverehrung, Heiligsprechung und Traditionsbildung, in: Gerd Althoff u. Ernst Schubert (Hgg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen 46), Sigmaringen 1998, S. 381– 430, hier S. 389 – 390.
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zu halten oder zu verbergen, sondern dass sie „vielmehr ein häufig üblicher, oftmals gebotener Begleitumstand der Suche nach Heiligengräbern und ihrer Öffnung“ gewesen sei,⁷¹ da der Ausgang der Suche nach einem Heiligengrab durchaus ungewiss sein könne.⁷² Die Beweggründe für eine nächtliche, geheime Graböffnung sind demnach folgende: Liturgisch ist der Vorgang offensichtlich aus dem Kirchweihritus entnommen. Rein pragmatisch fürchtete man um einen reibungslosen Ablauf der Feier am Tag der Elevation bzw. generell um das Auffinden des Leichnams. Darüber hinaus unterstreicht es die Rechtmäßigkeit der Heiligsprechung und die Auswahl des richtigen heiligen Körpers, wenn, gemäß dem revelatio-Topos, von Wunderzeichen, einem unverwesten Leib und dem charakteristischen Wohlgeruch berichtet wird. Auf inhaltlicher Ebene ist das Kernthema somit das Erkennen des heiligen Leibes, im Zeremoniell dient die nächtliche Öffnung der Vorbereitung und Ehrung der Reliquien vor ihrer feierlichen Erhebung. Im Hinblick auf das Thema des Symposiums „Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter“ soll zum Abschluss ein kurzer Blick auf das Motiv des Vergessens gerichtet werden, das sowohl im Translationsbericht Godehards als auch in dem Annos zum Tragen kommt. In der kurzen Vorrede zum ersten Kapitel der ‚Translatio Godehardi‘ wird das Thema Vergessen⁷³ explizit benannt. Die Niederschrift des Berichts diene dazu, die vergangenen Dinge nicht dem Vergessen zu übergeben, sondern ins Gedächtnis zurückzurufen.⁷⁴ Im Translationsbericht Annos befürchtet man, den Bestattungsort vergessen zu haben.⁷⁵ Das Vergessen, in diesem Falle das Nicht-Auffinden des Grabes ist im Grunde scheinbar der diametrale Gegensatz zur Memoria,⁷⁶ zur Pflege des Andenkens – gerade eines heiligmäßig verehrten Bischofs. Der Kern der Totenmemoria war allerdings eher die Verewigung des Namens in Nekrologien und Verbrüderungsbüchern, sowie die Aufnahme in die liturgischen Abläufe des Kirchenjahres. Nicht selten wurde ein Verehrungsort geschaffen, der gar nicht mit der Grabstätte übereinstimmte, so zum Beispiel im Kölner Kloster St. Pantaleon, wo eine Tumba im Mönchschor als Stellvertreter für die Grabstätte des als heilig verehrten Bischofs und Klostergründers Bruno von Köln fungierte, die sich in der Krypta befand.⁷⁷ Somit ist eine Verwirrung über die tatsächliche Stelle des Grabes nicht undenkbar. Ebd., S. 391. Ebd., S. 390. Die neuere zeitgeschichtliche Studie bietet einen guten Einstieg in das Themenfeld: Aleida Assmann, Formen des Vergessens (Historische Geisteswissenschaften 9), Göttingen 2016. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 640: Per scripturas enim res praeteritae et brevi tempore in oblivionem tradendae ad memoriam revocantur […]. Siehe oben. Zur Memoria ein Überblick beispielsweise in: Rainer Berndt (Hg.), Wider das Vergessen und für das Seelenheil. Memoria und Totengedenken im Mittelalter (Erudiri sapientia 9), Münster 2013. Zur Rekonstruktion der Kryptafront in St. Pantaleon mit Tumba und Durchblick auf das Grab in der Krypta vgl. Dorothea Hochkirchen, Das romanische Chorpodest mit den Kryptaportalen – aktueller
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Auf der spirituellen Ebene hinterlassen sowohl Vergessen als auch Irrtum eine Leerstelle, die durch göttliche Vorzeichen gefüllt werden kann. Die Furcht, die Realität könne am Tag der Translation das Vorhaben zunichtemachen, indem im Moment der Öffnung, also im Moment des Wiedersehens der fleischlichen Hülle eines Heiligen, die erhofften Kennzeichen des Heiligen ausbleiben, soll sicherlich auch die Gottesfurcht und Bescheidenheit der Kleriker ausdrücken. Der Vorgang lässt sich jedoch auch im platonischen Sinne interpretieren: In der Folge von Ideenschau – Vergessen – Wiedererinnerung bzw. Wiederentdeckung bedeutet das Auffinden des heiligen Körpers, dessen Ort man vergessen zu haben glaubte, gleichzeitig auch eine Schau in die göttlich-allumfassende Weisheit.⁷⁸Vermittels der Lehre des Kirchenvaters Augustinus war dieses platonische Verständnis auch im Mittelalter bekannt. Augustinus argumentiert in der Auslegung des Gleichnisses der verlorenen Drachme (Lk 15, 8 – 10) in ‚Confessiones‘ X, c. 18, dass man nur etwas finden könne, an dessen Verlust man sich erinnere.⁷⁹ Ein Bild des Verlorenen müsse also im Gedächtnis vorhanden sein. Dies gelte auch für abstrakte Dinge, deren Bilder sich a priori im Gedächtnis befinden, wie zum Beispiel das „glückselige Leben“⁸⁰. Diese Bilder sorgten dafür, dass das Aufgefundene als das Richtige erkannt werden könne.⁸¹ Das Vergessen der Grabstelle, die Suche danach und das Erkennen des richtigen, heiligen Körpers, hier sinnlich erfahrbar gemacht durch den Wohlgeruch und die Ergriffenheit der anwesenden Kleriker, entspricht der Erkenntnisphilosophie des Augustinus. Die geheime Graböffnung funktioniert so gleichermaßen als Meditation über die göttliche Weisheit, die gesucht und gefunden werden soll. Das Erkennen der Heiligkeit wird ins Zentrum gerückt.⁸² Das Vergessen ist demnach mitnichten eine, wie eingangs angesprochen, ultimative Geheimhaltungsstrategie. Allein durch die Erinnerung, dass es etwas gibt, das vergessen wurde, wird die Suche danach angeregt und das Bedürfnis nach Erkenntnis geweckt. In der Vorrede des Translationsberichts Godehards, in dem von ad memoriam revocantur ⁸³ die Rede ist, wird der bei Augustinus formulierte Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Vergessen umso deutlicher: REvocare – zurückrufen: Das funktioniert nur, wenn das, was verloren ist, schon einmal da war. Wie sonst sollte
Forschungsstand, in: Colonia Romanica 21 (2006), S. 184– 188 sowie Brigitte Kaelble, Drei Fragmente eines Festbildzyklus aus St. Pantaleon in Köln, in: Colonia Romanica 21 (2006), S. 189 – 204. Vgl. z. B. Harald Weinrich, Lethe – Kunst und Kritik des Vergessens, München 2005, S. 34– 36. Hierzu auch Gerard O’Daly, Remembering and Forgetting in Augustine, Confessiones X, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Memoria – vergessen und erinnern, München 1993, S. 31– 46. Aurelii Augustini Hipponensis Episcopi Confessionum Libri Tredecim, hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 32), Paris 1844– 1973, Sp. 657– 868, hier c. 20, Sp. 791– 792. Siehe ebd., Sp. 791: Verumtamen si forte aliquid ab oculis perit, non a memoria, veluti corpus quodlibet visibile, tenetur intus imago eius, et quaeritur donec reddatur aspectui. Quod cum inventum fuerit, ex imagine quae intus est recognoscitur. Nec invenisse nos dicimus quod perierat, si non agnoscimus; nec agnoscere possumus, si non meminimus: sed hoc perierat quidem oculis, memoria tenebatur. Vgl. hierzu auch Schmitz-Esser (Anm. 17), S. 153. Translatio Godehardi (Anm. 7), S. 640.
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man es „rufen“ und „benennen“? Nicht umsonst sind dies beides Bedeutungen des Wortes vocare. Mithilfe der Schilderung des geheimen Vorgangs wird also auf mehreren Ebenen auf die Legitimation der Heiligsprechung und die Verehrung des Heiligen rekurriert. Das Geheimnis ist hier weniger als Geheimhaltung zu verstehen, sondern als Mittel, um die Rechtmäßigkeit in einem meditativen Rahmen zu unterstreichen.
Kodikologische Beiträge: Von Buchschlössern und paratextuellen Zwischenräumen
Marco Heiles
Gesicherte Geheimnisse? Über Buchschlösser und das, was sie verbergen Abstract: Bookbindings with locks are a rare and neglected feature of medieval and early modern codices. There are three types of book furnishings which were used to lock up a book: (1) locks in and on the board, (2) clasps with a lock and (3) eyelets for padlocks. We know very little about the function of these lockable bindings. This article is therefore based on a list of 42 lockable books in Middle European collections. Although some of the listed bindings were undoubtedly meant to keep a secret, this appears not to be their only function. Lockable bindings have a communicational and social function. They protect precious books from dirt and doodles, tell the potential readers of firework-books that these books keep a secret and exhibit family chronicle books as remarkable objects. Keywords: Buchschlösser, Bucheinband, Geheimhaltung, Schlüssel, Magie Abschließbare Bücher kennen wir heute eigentlich nur noch als Tagebücher. Bei diesen Büchern dient das Schloss dem Schutz der Privatsphäre des Schreibers. Das Buchschloss sichert das Geheimnis der Eintragungen. Dabei ist dieses, zumeist kleine, Schloss allerdings kein unüberwindliches physisches Hindernis, sondern hat vielmehr eine kommunikative Funktion. Das Buchschloss markiert das Geheimnis und verhindert so den Zugriff auf dieses.
Anmerkung: Dieser Text ist eine überarbeitete Version des gleichnamigen Vortrags, dessen Manuskript und Präsentation online zugänglich sind: Marco Heiles, Gesicherte Geheimnisse? Über Buchschlösser und das, was sie verbergen. Vortragsmanuskript und Präsentation. Vortrag gehalten am 20. März 2017 auf dem 17. Symposium des Mediävistenverbandes „Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter“ an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, http://dx.doi.org/10.17613/ M6HD2P (letzter Zugriff am 29. 11. 2019). Dr. Marco Heiles, RWTH Aachen University, Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, Templergraben 55, 52056 Aachen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-014
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1 Eine abschließbare heilkundliche Sammelhandschrift der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Das erste Buchschloss, das mir an einer mittelalterlichen Handschrift begegnet ist, war das der Handschrift Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. 572 (Nr. 2). ¹ Es handelt sich um eine Papierhandschrift von 211 Blatt im Folio-Format mit einem lederbezogenen Holzdeckel mit Buckeln und zwei Hakenschließen mit Lederriemen sowie einem auf dem Vorderdeckel angebrachten Kastenschloss, in das ein nur noch teilweise erhaltener metallener Schlossbügel eingeführt werden konnte (siehe Abb. 1). Der Buchblock besteht aus zwei kodikologischen Einheiten,² die beide wohl in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden sind. Die erste kodikologische Einheit, fol. 1– 104, ist eine deutsch-lateinische Arzneibuchkompilation in schwäbischer Schreibsprache, die u. a. Texte zur Harnschau (fol. 1ra–3ra) und zum Aderlass (fol. 5ra–8ra), ein Monatsregimen (fol. 3ra–4rb), verschiedene Prognosen (fol. 27ra–28ra) und die ‚Verworfenen Tage‘ (fol. 4rb–5ra, 8ra–b), eine Kräuterbuchkompilation – teilweise auf Grundlage des deutschen ‚Macer‘ – (fol. 8va–27ra), medizinische Rezepte – a capite ad calcem – (fol. 28rb–85rb), eine Sammlung von Segen und Beschwörungen, Wunderdrogen-, Schad- und Scherzrezepten – unter der Überschrift Hie vahet an das sechste bch von aller hant kurczwile nacheinander – (fol. 86ra–99ra)³ sowie weitere Segen und Gebete (fol. 100vb–103va) enthält.⁴ Die zweite kodikologische Einheit (fol. 105 – 211) ähnlichen Inhalts, aber in bairischer Schreibsprache wurde im Kolophon auf 1446 datiert. Dieser Teil enthält Auszüge aus Ortolfs von Bayerland ‚Arzneibuch‘ (105ra–
Die Nummern in runden Klammern beziehen sich auf die „Liste abschließbarer Bücher“ im Anhang dieses Beitrags. Dort ist auch die einschlägige Literatur zu diesen Handschriften angegeben. Unter einer kodikologischen Einheit verstehe ich mit Gumbert: „eine geschlossene (diskrete) Reihe von Lagen […], deren Herstellung als ein einheitlicher Vorgang betrachtet werden kann“. Vgl. Johann Peter Gumbert, Zur Kodikologie und Katalographie der zusammengesetzten Handschrift, in: Edoardo Crisci, Marilena Maniaci und Pasquale Orsini (Hgg.), La descrizione dei manoscritti: esperienze a confronto (Studi e ricerche del Dipartimento di Filologia e Storia 1), Cassino 2010, S. 1– 18. „Hier beginnt das sechste Buch von allerlei nacheinander folgendem Kurzweiligem.“ (Übersetzung Marco Heiles) Vgl. zu dieser Sammlung, die u. a. eine bislang noch nicht bekannte Übersetzung von Ps.-Albertus Magnus ‚Liber de virtutibus herbarum, lapidum et animalium‘ / ‚Liber aggregationis‘ enthält: Marco Heiles, Das Wunderbare in der deutschsprachigen Rezeptliteratur des 15. Jahrhunderts, in: Stefanie Kreuzer und Uwe Durst (Hgg.), Das Wunderbare. Dimensionen eines Phänomens in Kunst und Kultur (Traum – Wissen – Erzählen 3), Paderborn 2018, S. 233 – 250. Die inhaltliche Beschreibung folgt auch für die zweite kodikologische Einheit: Wolf Gehrt, Die Handschriften der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. 2o Cod 401– 575 (Handschriftenkataloge der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg V), Wiesbaden 1993, S. 155 – 160. Hinzugezogen habe ich Bernhard Schnell in Zusammenarbeit mit William Crossgrove (Hgg.), Der deutsche ‚Macer‘. Vulgatfassung. Mit einem Abdruck des lateinischen Macer Floridus ‚De viribus herbarum‘ (Texte und Textgeschichte 50), Tübingen 2003, S. 178 f.
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124rb, 176ra–179ra), dem ‚Secretum Secretorum‘ (fol. 124va–129rb) und der ‚Ordnung der Gesundheit‘ (fol. 171ra–175vb) sowie weitere medizinische Rezepte (fol. 131ra– 146ra, 147vb–156va, 175ra–177ra, 179ra–180rb); dazwischen auch ein Kräuterbuch (fol. 129vb–130vb), Volmars ‚Steinbuch‘ (fol. 156va–161vb), Monatsverse (fol. 130vb), Aderlassregeln (fol. 146rb–vb), eine Harnschau (fol. 146vb–147rb), Beschwörungen (fol. 129rb–va), Segen (fol. 147rb–va) und Texte, die in der Beschreibung von Gehrt als „alchemistische und Zauberrezepte“⁵ bezeichnet werden (fol. 162ra–171ra). Abgeschlossen wird die Handschrift von einem griechisch-lateinischen medizinischen Vokabular (fol. 180ra–208vb). Beide kodikologische Einheiten wurden separat durch Inhaltsverzeichnisse (fol. 99rb–100va, 209ra–210vb) erschlossen. Allein aufgrund der inhaltlichen Zusammenstellung der Handschrift können wir davon ausgehen, dass sie von einem medizinischen Praktiker angelegt wurde. Diese Handschrift erregte mein Interesse, da sie dieselbe Bearbeitung des deutschen ‚Macer‘ enthält wie die Handschrift Cod. germ. 1 der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, mit der ich mich seit 2014 sehr intensiv auseinandergesetzt habe.⁶ Über die ‚Macer‘-Bearbeitung hinaus findet sich ein Großteil der Texte der ersten
Abb. 1: Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. 572, Vorderdeckel (Foto: Marco Heiles, gemeinfrei)
Gehrt (Anm. 4), S. 159. Eine ausführliche Beschreibung dieser Handschrift mit Hinweisen zur weiteren Literatur bietet Marco Heiles, Handschriftenbeschreibung: Hamburg, Universitäts- und Staatsbibliothek, Cod. germ. 1, in: Manuscripta Mediaevalia (2018), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/ obj31593540 (letzter Zugriff am 20.12. 2019). Detailliertere Angaben zur Entstehungsgeschichte der Handschrift machen Marco Heiles, Ira Rabin und Oliver Hahn, Palaeography and X-Ray Fluorescence Spectroscopy. Manuscript Production and Censorship of the Fifteenth Century German Manuscript, State and University Library Hamburg, Cod. germ. 1, in: Manuscript Cultures 11 (2018), S. 109 – 132. Abbildungen der fol. 1r–10r, 26v–63r, 64r–76r sind in Wikimedia Commons abrufbar: https://com-
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kodikologischen Einheit des Augsburger Kodex in der Hamburger Handschrift wieder. Diese Tatsache konnte ich nutzen, um eines von zwei zensierten Rezepten des Hamburger Cod. germ. 1 zu rekonstruieren.⁷ In der Augsburger Handschrift lautet dieser Text: [S]o du wellest machen das die tewfel bey dir sitzen so nim einer kregen eyr vnd prene die ze pulfer mit baͦ m ol vnd salb die brawen da mit so sihest du schwarcz tüfel by dir siczen zu yglicher wis als ob es din gesellen sein vnd was du si fragest das selb sagent si dir. ⁸
Die nachträgliche Zensur dieses Rezepts zur Teufelsanrufung ist aber nicht der einzige Unterschied zwischen den Textsammlungen der beiden Handschriften. Vergleicht man die Texte der ersten kodikologischen Einheit der Augsburger Handschrift mit der Parallelüberlieferung im Hamburger Cod. germ. 1 (fol. 1ra–57rb), so erkennt man schnell, dass die Texte der Hamburger Handschrift nach bestimmten Kriterien ausgewählt wurden. Zum einen fehlen alle lateinischen Texte. Zum anderen fehlen alle Texte, in denen unbekannte Worte und Charaktere⁹ benutzt werden. Als Beispiel soll hier eine Rezeptkompilation gegen Nasenbluten dienen:
mons.wikimedia.org/wiki/Category:Hamburg,_Staats-_und_Universitätsbibliothek,_Cod._germ._1. (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Vgl. Marco Heiles, Seelenheil und Prüderie. Zensur in einer deutschen Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts. Manuskript des Monats 12/2014, http://www.manuscript-cultures.uni-hamburg.de/ mom/2014_12_mom.html (letzter Zugriff am 20.12. 2019); Marco Heiles, Salvation of the soul and prudery. Censoring a 15th-century German-language manuscript, Manuscript of the Month 12/2014, http://www.manuscript-cultures.uni-hamburg.de/mom/2014_12_mom_e.html (letzter Zugriff am 20.12. 2019). „Wenn du machen willst, dass die Teufel bei dir sitzen, so nimm die Eier einer Krähe und verbrenne die Eier zu Pulver mit Olivenöl und salbe [dir] die Brauen damit. So siehst du schwarze Teufel bei dir sitzen, so als ob sie deine Freunde wären. Was du sie fragst, das sagen sie dir.“ (Übersetzung Marco Heiles) Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o cod. 572, fol. 94vb–95ra. In Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. germ. 1, fol. 57ra lautet der Text: So du wollest machen daz die [zensiertes Wort] by dir siczent so nim einer kregen eyger Vnd bren die eyger Vnd bren die zu puluer Vnd müsch das mitt boͤ m oͤ ll Vnd salb die brawen da mit so sichestu [zensiertes Wort] by dir siczen zeglicher Wiss als ob sie din gesellen sind Was du sie fragest das sagent sie dir es hilffett vil woll für war etc. „Wenn du machen willst, dass die [zensiertes Wort] bei dir sitzen, so nimm die Eier einer Krähe und verbrenne die Eier zu Pulver und mische dieses mit Olivenöl und salbe [dir] die Brauen damit. So siehst du [zensiertes Wort] bei dir sitzen, so als ob sie deine Freunde sind. Was du sie fragst, das sagen sie dir. Es hilft, für wahr.“ (Übersetzung Marco Heiles). Mit dem Begriff Charakter bezeichne ich hier magische Schriftzeichen. Vgl. zu deren Tradition: Richard L. Gordon, Charaktères between Antiquity and Renaissance. Transmission and Re-lnvention, in: Véronique Dasen und Jean-Michel Spieser (Hgg.), Les savoirs magiques et leur transmission de l’Antiquité à la Renaissance (Micrologus’ Library 60), Turnhout 2014, S. 253 – 300. Belegstellen für mhd. karacter aus dem 13. bis 16. Jh. sammelt Eberhard Nellmann, Wolfram und Kyot als vindaere wilder maere. Überlegungen zu ‚Tristan‘ 4619 – 88 und ‚Parzival‘ 453, 1– 17, in: ZfdA 117 (1988), S.31– 67, hier S. 58 – 64.
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Augsburg, Staats- und Stadtbibl., o Cod. , fol. ra
Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. germ. , fol. vb
Der das plt well verstellen der nassen träff rauten saft in die nasen Oder schrib mit dem plt an die stirnen + opelon + oder schrib on + on + on + Oder schrieb ouech + Indignus + milup das ist war Oder stoß krispel heb es für die nas oder an die prust Oder bind nessel wurtz an die stirnen Nasen ¹⁰
Der das plut der nasen woll verstellen der troeff der troeff [!] nessell safft in die nasen
Oder stosß Crispel stosß das fúr die nasen oder an die brust Oder bind nessel wurcz an die stirnen¹¹
Warum solche Texte im 15. Jahrhundert zensiert bzw. nicht weitertradiert wurden, verrät uns Johannes Hartlieb (†1468) in dessen ‚Buch aller verbotenen Kunst‘ von 1456: Mit den caracteren und unkunden worten verpint sich der mensch mit dem tiüfel und der tiüfel mit dem menschen. ¹² Die caracteren und unkunden worten dienten der Kommunikation mit dem Teufel. Da Sprache nach Augustinus (†430) nicht natur- oder gottgegeben ist, sondern durch Konvention, das heißt durch einen Vertrag oder Pakt zustande kommt, schließt seiner Meinung nach jeder, der mit dem Teufel kommuniziert, einen Pakt mit diesem, errichtet damit eine Gegenkirche und ist auf ewig vom göttlichen Seelenheil ausgeschlossen.¹³ Kurz gefasst, die unbekannten Worte und Charaktere sind aus theologischer Perspektive ein sicheres Indiz für Magie und Aberglaube. Daneben wurden aber auch die weniger offensichtlich superstitiösen Segen – etwa einer gegen Kopfschmerzen, in dem der dreieinige Gott und Maria angerufen werden¹⁴ – nicht übernommen. Auch diese Segen waren kirchlich nicht autorisiert. Wie der 1405 geführte Prozess gegen den Landauer Augustinereremiten Werner von Friedberg zeigt, wurde die (mündliche) Verbreitung solcher Segen kir-
„(1) Wer das Nasenbluten stillen möchte, der träufle Weinrautensaft in die Nase. (2) Oder schreibe mit dem Blut an die Stirn ‚stirnen + opelon +‘, oder schreibe ‚on + on + on +‘ oder schriebe ‚ouech + Indignus + milup‘. Das ist wahr. (3) Oder zerstoße Hirtentäschelkraut und halte es vor die Nase oder an die Brust. (4) Oder binde Brennesselwurzeln (möglicherweise auch Nieswurz) an die Stirn und Nase.“ (Übersetzung Marco Heiles) „(1) Wer das Nasenbluten stillen möchte, der träufle Brennesselsaft in die Nase. (2) Oder zerstoße Hirtentäschelkraut und halte es vor die Nase oder an die Brust. (3) Oder binde Brennesselwurzeln (möglicherweise auch Nieswurz) an die Stirn.“ (Übersetzung Marco Heiles) „Durch die Charaktere und Geheimworte verbündet sich der Mensch mit dem Teufel und der Teufel mit dem Menschen.“ Falk Eisermann und Eckhard Graf (Hgg.), Johannes Hartlieb. Das Buch aller verbotenen Künste, des Aberglaubens und der Zauberei (Esoterik des Abendlandes 4), Ahlerstedt 1989, S. 36 f. Zum Magiebegriff bei Augustinus vgl. Bernd-Christian Otto, Magie. Rezeptions- und diskursgeschichtliche Analyse von der Antike bis zur Neuzeit (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 57), Berlin u. a. 2011, S. 273 – 336. Vgl. auch Claire Fanger und Frank Klaassen, Art. Magic III. Middle Ages, in: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism (2006), S. 724– 731. Vgl. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. 572, fol. 31ra und Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. germ. 1, fol. 14ra.
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chengerichtlich durchaus verfolgt.¹⁵ Auf Grundlage dieser Überlieferungssituation habe ich mich 2014 zu der These hinreißen lassen, das Buchschloss des 2o Cod. 572 diene als „Schutzmechanismus“ für das Seelenheil unbedarfter Leser: „Dieser Kodex ist abschließbar, sodass nur Personen, die um die Gefahren ihrer Lektüre wissen, sie lesen können“.¹⁶ Zur Überprüfung dieser These bedurfte es aber einer breiteren Materialbasis und einer Liste abschließbarer Handschriften.
2 Eine Liste der abschließbaren Handschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Eine „Liste der abschließbaren Handschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“¹⁷ musste ich mir selbst schaffen. Abschließbare Bücher wurden bislang sowohl in der Einbandforschung als auch in der mediävistischen Geschichts- und Literaturwissenschaft zumeist lediglich beiläufig wahrgenommen und noch nie systematisch erfasst.¹⁸ Auch in den Handschriftenkatalogen wurden die Buchschlösser lange Zeit nicht erwähnt und in den Registern derselben sucht man noch heute vergeblich nach einem entsprechenden Eintrag. In Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich deshalb die wenigen bekannten Beispiele in einem Eintrag im Blog „Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte“ auf hypotheses.org zusammengestellt und über verschiedene E-Mail-Verteiler nach weiteren abschließbaren Handschriften gefragt.¹⁹ Dank Hinweisen und Kommentaren von Christian Speer (Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg), Rainer Leng (Universität Würzburg), Joachim Ott (Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena), Georg Adler (Ostseebad Prerow), Vgl. Robert E. Lerner, Werner di Freiberg intrappolato dalla legge, in: Jean-Claude Maire Vigueur und Agostino Paravicini Bagliani (Hgg.), La parola all’accusato, Palermo 1991, S. 268 – 281; Michael D. Bailey, A Late-Medieval Crisis of Superstition?, in: Speculum 84 (2011), S. 633 – 661, hier S. 643, 650 – 565; Michael D. Bailey, Fearful Spirits, Reasoned Follies. The Boundaries of Superstition in Late Medieval Europe, Ithaca, NY 2013, S. 30, 148 – 150. Dass Felix Hemmerli diese Entscheidung fast 50 Jahre später für ein Fehlurteil hält, zeigt, dass der theologische Diskurs hier nicht in fest gefügten Bahnen verlief. Vgl. ebd., S. 182. Heiles, Seelenheil (Anm. 7). Marco Heiles, Liste abschließbarer Handschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (17.09. 2016, zuletzt aktualisiert am 08.05. 2019), https://mittelalter.hypotheses.org/8758 (letzter Zugriff am 20.12. 2019). Grundlage der Liste waren neben der eigenen Anschauung zunächst Roland Hartmann, Verschließbare Einbände des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Manfred von Arnim (Hg.), Festschrift Otto Schäfer zum 75. Geburtstag am 29. Juni 1987, Stuttgart 1987, S. 427– 436; Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, 3. Aufl. Leipzig 1896, S. 399; Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe Nr. 8), 2. Aufl. Tübingen 2009, S. 172; Eike Barbara Dürrfeld, Die Erforschung der Buchschließen und Buchbeschläge. Eine wissenschaftsgeschichtliche Analyse seit 1877, Mainz 2002, S. 65 Anm. 65. Vgl. Heiles (Anm. 17).
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Dorit-Maria Krenn (Stadtarchiv Straubing) und Karin Eckstein (Bayerische Staatsbibliothek) sowie einem Zufallsfund in den Arbeiten von Mathias Kluge²⁰ konnte ich meine ursprüngliche Liste von zunächst 13 auf nun 42 abschließbare Bücher erweitern.²¹ Diese Liste ist diesem Beitrag als Anhang beigegeben.
3 Drei Typen verschließbarer Einbände Betrachtet man die abschließbaren Bücher – mir ist jetzt auch ein abschließbares Druckexemplar des 16. Jahrhunderts bekannt (Nr. 24) – zunächst allein von außen, so lassen sich drei Haupttypen unterscheiden, die ich 2018 in einem Beitrag für die Zeitschrift „Einband-Forschung“ genauer beschrieben habe.²² Ich unterscheide die abschließbaren Bücher und ihre Einbände dabei nach der Art des Verschlusses.
3.1 Verriegelungsverschluss mit Überfallenschloss Bei diesem Typ ist das Schloss auf der Fläche des Vorderdeckels angebracht oder in diese eingelassen. Am Hinterdeckel ist eine Überfalle befestigt, deren Schließhaken in das Schloss eingreift und dort vom Schlossriegel beim Abschließen festgehalten wird. Die anfangs erwähnte Handschrift Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. 572 (Nr. 2) hat ein solches erhabenes Napfkastenschloss auf dem Vorderdeckel (siehe Abb. 1). Ein eingegrabenes Überfallenschloss weist dagegen beispielsweise eine um 1430/35 geschriebene Handschrift des ‚Jüngeren Titurel‘ auf, die seit 1583 als Stammbuch des Johann (Christoph) Fernberger von Egenberg (†1600) und seiner Erben verwendet und dafür im 17. Jahrhundert neu gebunden wurde (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8470 [Nr. 22], siehe Abb. 2). Einen Sonderfall für ein Überfallenschloss stellt das Schloss der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 399 (Nr. 5) aus der zweiten Hälfte des
Mathias Kluge (Hg.), Handschriften des Mittelalters. Grundwissen Kodikologie und Paläographie, 2. Aufl. Ostfildern 2015, S. 108; Mathias Kluge, Die Macht des Gedächtnisses. Entstehung und Wandel kommunaler Schriftkultur im spätmittelalterlichen Augsburg (Studies in Medieval and Reformation Traditions 181), Leiden, Boston 2014, S. 214 und S. 217, Abb. 18. Von den 42 gelisteten Büchern befinden sich allerdings nur 37 in öffentlichen Bibliotheken oder Archiven. Drei Bücher befinden sich in unbekanntem Privatbesitz und zwei Bücher sind Kriegsverluste, deren Verbleib unbekannt ist. Vgl. mit zahlreichen Abbildungen: Marco Heiles, Abschließbare Bücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Einband-Forschung 43 (2018), S. 6 – 19, http://dx.doi.org/10.17613/prct-hf86 (letzter Zugriff am 2. 3. 2020). Die dort entwickelte Terminologie orientiert sich an der von Georg Adler, Handbuch Buchverschluss und Buchbeschlag. Terminologie und Geschichte im deutschsprachigen Raum, in den Niederlanden und Italien vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart, Wiesbaden 2010.
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Abb. 2: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8470, Vorderdeckel (Foto: Bayerische Staatsbibliothek München, CC BY-NC-SA 4.0)
15. Jahrhunderts dar.²³ Diese Handschrift stammt aus dem Besitz des Müncheners Hans Sänftl und enthält neben einem Feuerwerkbuch weitere Rezepte (teilweise in Geheimschrift), mathematische Aufgaben und Aufzeichnungen sowie familienchronikalische Eintragungen. Sie trägt im Vorderdeckel einen komplizierten Schließmechanismus, der bei einer Restauration der Handschrift im Jahre 1964 offengelegt wurde (siehe Abb. 3). Dieses Schloss ist ein Vexierschloss, also ein Schloss, das nur mithilfe einer versteckten Mechanik geöffnet werden kann. Hier müssen dazu die als Buchnägel getarnten, aus den Deckelseiten herausragenden Riegel in einer bestimmten Reihenfolge gezogen werden.
3.2 Verriegelungsverschluss mit Schlossschließe Dieser Typ ist mir bislang lediglich durch das 1630/32 angelegte Salbuch des Bürgerspitals Straubing (Nr. 607) bekannt (siehe Abb. 4). Bei der Schlossschließe handelt es sich um eine mit einer Scharnierplatte am Rückendeckel befestigte Ganzmetall-
Vgl. dazu detaillierter Marco Heiles, Ein Einband des 15. Jahrhunderts mit Vexierschloss. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 399, in: Einband-Forschung 45 (2019), S. 22– 23, http:// dx.doi.org/10.17613/0961– 8 h55 (letzter Abruf am 13.02. 2020). Für ihre Auskünfte zu dieser Handschrift und die Veranlassung der Digitalisierung danke ich Irmhild Ceynowa (Bayerische Staatsbibliothek München), Digitalisat: https://app.digitale-sammlungen.de/bookshelf/bsb00122140 (letzter Zugriff am 20.12. 2019).
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schließe, in die ein Schloss eingearbeitet ist. In dieses greift ein auf den Vorderdeckel gesetztes Hakenlager ein.
Abb. 3: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 399, vorderer Spiegel / Schließmechanismus (Foto: Bayerische Staatsbibliothek München, CC BY-NC-SA 4.0)
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Abb.4: Straubing, Stadtarchiv, Bürgerspital 607 (Foto: Stadtarchiv Straubing)
3.3 Verriegelungsverschluss mit Schlossösen Die für den Buchbinder technisch einfachste Möglichkeit einen Verriegelungsverschluss anzubringen, bieten die (zumeist) an Vorder- und Hinterdeckel angebrachten Schlossösen, in die ein Vorhängeschloss geschoben wird. Mit einfachen Schlossösen ist beispielsweise das Familienbuch Adam Vrindts (Brüssel, Königl. Bibl., ms. II 311 [Nr. 19]), versehen (siehe Abb. 5), das familiengenealogische Eintragungen aus den Jahren 1591– 1613 enthält sowie Koch-, Haushalts- und medizinische Rezepte. Einen komplexeren Verschluss mit Schlossöse weist dagegen ein Verteidigungsdispositiv von 1536 aus dem Besitz des Kurfürsten Ludwig V. von der Pfalz (†1544) auf (Nr. 13). Wieder andere Formen finden sich an den für den Meißener Dom hergestellten Chorbüchern (Nr. 32– 39). Angesicht der immer noch geringen Anzahl bekannter abschließbarer Bücher lassen sich über die technische Entwicklung derselben keine gesicherten Aussagen treffen. Die ältesten mir bekannten abschließbaren Handschriften sind jedoch mit Überfallenschlössern versehen, während ich Schlossösen erst aus dem 16. Jahrhundert kenne und das einzige Beispiel eines Schlossverschlusses aus dem 17. Jahrhundert stammt. Auch seit wann es Buchschlösser gibt, ist mir noch nicht klar. Bei dem ältesten bekannten Buchschloss, dem des Nekrologiums des Benediktinerklosters Bleidenstadt (Berlin, Staatsbibliothek, Ms. lat. qu. 651 [Nr. 18]), das wie dessen mit
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Abb. 5: Brüssel, Königl. Bibl., ms. II 311, Vorderdeckel (Foto: Königliche Bibliothek Belgiens)
Schmelzplatten verzierter Einband bereits vom Ende des 12. Jahrhunderts stammt, scheint zudem fraglich, ob dieses Teil eines verschließbaren Einbandes war.²⁴ Der noch recht gut erhaltene Einband weist keinerlei Spuren einer Überfalle auf, die in das auf dem Rückendeckel angebrachte Überfallenschloss eingreifen könnte. Möglicherweise diente dieses Schloss zur Befestigung des Buches an einem bestimmten Ort oder Möbel. Seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts sind Buchschlösser mit Überfallen über das ‚Rote Buch der Stadt Hamburg‘ von 1301 (Nr. 26) oder das Eidbuch der Stadt Köln von 1341 (Nr. 3) aber sicher belegt.
4 Funktionen abschließbarer Einbände Betrachtet man nun die Inhalte der abschließbaren Bücher, so lassen sich bei grober Sortierung vier Gruppen bilden: (1.) die Amts- und Rechtsbücher,²⁵ (2.) die fachliterarischen Sammelhandschriften,²⁶ (3.) die Stammbücher und Familienchroniken²⁷ sowie (4.) die recht disparate Gruppe der kostbaren Bücher.²⁸ Die Bücher können dabei aber nicht nur einer Gruppe zugehören. Der Gruppe der Stammbücher und Familienchroniken lassen sich auch fachliterarische Sammelhandschriften und ein kostbares Buch zuordnen. Zudem gibt es Untergruppen. Innerhalb der Gruppe der Amts- und Rechtsbücher bilden die Stadtbücher eine eigene Untergruppe,²⁹ innerhalb
Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 11 f. Zu dieser Gruppe zähle ich die Handschriften Nr. 1, 3, 4, 8, 9, 11, 13, 17, 18, 23, 26, 27, 28, 29, 30, 31. Zu dieser Gruppe zähle ich die Handschriften Nr. 2, 5, 6, 10, 12, 19, 20. Zu dieser Gruppe zähle ich die Handschriften Nr. 5, 19, 20, 21, 22. Zu dieser Gruppe zähle ich die Handschriften Nr. 14, 15, 16, 22, 24, 25, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42. Dies sind die Nr. 3, 4, 9, 23, 26, 27, 28, 29, 30, 31.
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der fachliterarischen Sammelhandschriften die Feuerwerksbücher,³⁰ innerhalb der kostbaren Bücher die Chorbücher.³¹
4.1 Geheimhaltung und Kontrolle des Rezipientenkreises Wie die Buchschlösser der heutigen Tagebücher, so sind auch die abschließbaren Einbände des Mittelalters und der Frühen Neuzeit keine unüberwindlichen Hindernisse. Ihre Schlösser können geknackt, ihre Lederriemen durchschnitten und ihre Schlossbügel und Schlossösen durchsägt werden. Die Funktion der Schlösser erschöpft sich daher sicherlich nicht in der Wahrung des diesen Tagungsband bestimmenden Geheimnisses. Im Gegenteil scheint in vielen Fällen die Geheimhaltung keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Will man ein Geheimnis tatsächlich bewahren, dann sollte man es nicht aufschreiben. Ein verschließbarer Einband kann dessen Entdeckung, wie die kryptographischen Methoden heute, nicht verhindern, sondern lediglich verzögern. Hierzu waren schwere eisenbeschlagene abschließbare Büchertruhen sicher besser geeignet als abschließbare Einbände. Die abschließbaren Einbände dienen nicht der Verhinderung der Kommunikation, sondern sind selbst ein Kommunikationsmittel.³² Selbst dort, wo ein verschließbarer Einband ein Geheimnis umgibt, so wie dies vielleicht bei dem militärischen Dispositiv (Nr. 13) der Fall war, bildet das Schloss nicht nur eine physische Barriere, sondern kommuniziert gleichzeitig, dass nur bestimmte Personen Zugang zum Inhalt dieses Dokumentes haben. Wie die zumeist recht problemlos zu entziffernden mittelalterlichen ‚Geheimschriften‘ sind die Buchschlösser Teil einer „rhetoric of secrecy“³³, einer Rhetorik des Geheimnisses, die eine Geheimhaltung stärker inszeniert als gewährleistet. Die Funktion, den Zugang zum Buch auf einen bestimmten Personenkreis zu beschränken, sollte sicher das Schloss des ‚Nördlinger Rechtsbuchs‘ (Nr. 8)³⁴ erfüllen. Auf dem Einband dieser Handschrift mit Texten aus dem Bereich des Westfälischen
Dies sind die Nr. 5, 6, 12. Dies sind die Nr. 14– 16 und 32– 42. Zu dieser Erkenntnis verhalf mir unter anderem eine E-Mail von Rainer Leng (Universität Würzburg), bei dem ich mich für seine Überlegungen herzlich bedanke. Benedek Láng, Ciphers in Magic. Techniques of Revelation and Concealment, in: Magic, Ritual, and Witchcraft 10 (2015), S. 125 – 141, hier S. 125. Vgl. auch Stephan Müller, Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind. Am Beispiel des ‚Trierer Teufelsspruchs‘ (Trier Stadtbibliothek Hs. 564/806 8o), in: Annette Kehnel und Diamantis Panagiotopulos (Hgg.), Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen (Materielle Textkulturen 6), Berlin u. a. 2015, S. 169 – 178. Nördlingen, Stadtarchiv, Bestand Stadtrechte und Ordnungsbücher, R 2 F 2 Nr. 18. Vgl. zur Handschrift: Wilhelm A. Eckhardt, Die Waldecker Handschriften des Staatsarchivs Marburg in der Überlieferung der Femerechtsquellen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 133 (2016), S. 81– 109, hier S. 104.
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Abb. 6: Nördlingen, Stadtarchiv, Bestand Stadtrechte und Ordnungsbücher, R 2 F 2 Nr. 18, Vorderdeckel (Foto: Stadtarchiv Nördlingen, CC BY-SA 4.0)
Femegerichts, die auf dem Spiegel als Archani Regii Iuditii processus atque Privilegia ³⁵ bezeichnet werden, findet sich nicht nur ein Schloss, sondern auch ein Zettel mit der Aufschrift: Kainer soll diß buch vffthun noch lesen er sey dann der Kayserl. freyen Aucht vnd Gericht Freyschöpff bey Kayserl. freyen Aucht vnd vngnad ³⁶ (siehe Abb. 6). Aus Besitzeinträgen wissen wir, dass diese in der zweiten Hälfte des 15. oder zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstandene Handschrift³⁷ in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich von einem Freischöffen der Feme, Georg Mayer (†1533), auf den nächsten, Wolfgang Vogelmann (†1553), überging.³⁸ Auch andere Handschriften des Femege-
Ulrich-Dieter Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. 2: Beschreibung der Handschriften, Köln, Wien 1990, S. 721 (Nr. 1162): „Des geheimen königlichen Gerichts Prozess und Privilegien.“ (Übersetzung Marco Heiles). Ebd.: „Niemand soll bei kaiserlicher freier Acht und Ungnade dieses Buch aufschlagen oder lesen, wenn er nicht Freischöffe der kaiserlichen Acht und Gericht ist.“ (Übersetzung Marco Heiles), Abbildung des Vorderdeckels im Internet abrufbar unter https://mittelalter.hypotheses.org/files/2018/01/ Nördlingen-Stadtarchiv-Bestand-Stadtrechte-und-Ordnungsbücher-R-2-F-2-Nr.–18.jpg (letzter Zugriff am 20.12. 2019). Für Lindners, von Johanek im Verfasserlexikon wiederholte, Datierung um 1510 nennt dieser keine Begründung. Sichere Anhaltspunkte für die Datierung liefern die erst 1437 (‚Arnsberger Weistümer‘) und 1442 (‚Frankfurter Reformation‘) entstandenen Texte der Handschrift sowie die Besitzeinträge. Vgl. Theodor Lindner, Die Veme, Münster, Paderborn 1888, S. 276; Peter Johanek, ‚Femerechtsbücher‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 722– 726. Vgl. auch Oppitz (Anm. 35). Vgl. Lindner (Anm. 37), S. 276.
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richts fordern einen solchen beschränkten Zugang. Der Inhalt der Handschriften sollte allein den Freischöffen und Freigrafen des Gerichts bekannt werden, die dementsprechend auch als „Wissende“³⁹ angesprochen wurden. So findet sich die Geheimhaltungsformel Hie inne sall nyemandes lesen dann eyn frye scheffen ⁴⁰ gleich viermal in bzw. auf der wohl zwischen 1438 – 1441 entstanden Friedberger Handschrift des Femerechts.⁴¹ Die Formel steht auf dem Pergamentumschlag, dessen Rückseite, dem ersten Blatt und dem ersten Blatt der zweiten Lage.⁴² Ein Schloss trägt der Pergamentumschlag freilich nicht. Auch die Femerechtshandschrift Osnabrück, Staatsarchiv, Dep. 3a 1, VIII Nr. 52c, die auf fol. 2v die Formel Dyt bock en sul neymant haven noch lesen … ⁴³ trägt und bei Zuwiderhandlung mit der Verfolgung durch das heymliche gericht ⁴⁴ warnt, ist nur in einen Pergamentumschlag gebunden.⁴⁵ Die in oder auf neun von 27 bekannten Femerechtshandschriften des 15. und 16. Jahrhunderts zu findenden Geheimhaltungsformeln sollten somit allein durch die Autorität des Gerichts die gleiche Funktion wie das Buchschloss der Nördlinger Handschrift erfüllen.⁴⁶ Ein Schloss trägt keine weitere dieser Handschriften.⁴⁷ Die Geheimhaltung konnte aber Etwa auf der ersten Seite des Papierhefts Wertheim, Staatsarchiv, Hs. G VIII B 1, die u. a. die ‚Arnsberger Reformation’, die ‚Süddeutsche Rechtsaufzeichnung‘ und die ‚Arnsberger Weistümer‘ enthält: Dicz Register sal nÿ mant lesen er sey dann wißent. („Dieses Register soll niemand lesen, wenn er nicht wissend ist.“ [Übersetzung Marco Heiles]) Wertheim, Staatsarchiv, Hs. G VIII B 1, fol. 1r. Für die Übermittlung eines Scans dieser Seite danke ich Martina Heine (Landesarchiv Baden-Württemberg). „Hier drin soll niemand außer ein Freischöffe lesen.“ (Übersetzung Marco Heiles). Vgl. Lindner (Anm. 37), S. 206 f. Friedberg (Hessen), Stadtarchiv und Stadtbibl., Depos. Friedberg Convolut 9/1. Die Handschrift trägt auf fol. 1r den Titel Liber arcanorum. Vom heimblichen Gericht. Vgl. zur Handschrift: Eckhardt (Anm. 34), S. 102 f. Vgl. Lindner (Anm. 37), S. 206 f. Eckhardt (Anm. 34), S. 106: „Dieses Buch soll niemand besitzen noch lesen […]“ (Übersetzung Marco Heiles). Gottfried Mascov, Notitia iuris et iudiciorum Brunsvico-Luneburgicorum, Göttingen 1738, Anhang S. 44: „heimliche Gericht“ (Übersetzung Marco Heiles). Vgl. Udo Kühne, Bernhard Tönnies und Anette Haucap, Handschriften in Osnabrück. Bischöfliches Archiv, Gymnasium Carolinum, Bischöfliches Generalvikariat, Kulturgeschichtliches Museum, Niedersächsisches Staatsarchiv, Diözesanmuseum, Pfarrarchiv St. Johann (Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen. Kurzkatalog 2), Wiesbaden 1993, S. 161. Die Liste der Femerechtshandschriften gibt Eckhardt (Anm. 34), S. 100 – 109. Geheimhaltungsformeln finden sich in und auf den Handschriften Coesfeld, Stadtarchiv, Abt. I/I, Nr. 184; Friedberg (Hessen), Stadtarchiv und Stadtbibl., Depos. Friedberg Convolut 9/1; Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. jur. 2589; Nördlingen, Stadtarchiv, Bestand Stadtrechte und Ordnungsbücher, R 2 F 2 Nr. 18; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. Archiv: Bestand Deutsches Reich; Osnabrück, Staatsarchiv, Dep. 3a 1, VIII Nr. 52c; Soest, Stadtarchiv, Abt. A Nr. 3169; Soest, Stadtarchiv, Abt. A Nr. 10922 und Wertheim, Staatsarchiv, Hs. G VIII B 1. Für Handschriften, die neu gebunden wurden, lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass diese niemals in einen abschließbaren Einband gebunden waren. Die Handschrift Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 64.7 Aug. 8o etwa ist eine Zusammenstellung zweier heterogener kodikologischer Einheiten, die erst für Herzog August zusammengefügt wurden. Vgl.: Otto von Heinemann, Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Zweite Abtheilung: Die Augusteischen
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auch durch andere Mittel unterstützt werden: Auch auf der letzten Seite eines 1428 in Heidelberg wahrscheinlich für den Freischöffen Oswald von Wolkenstein (†1445)⁴⁸ geschriebenen Papierhefts mit den ‚Ruprechtschen Fragen‘ findet sich eine Geheimhaltungsformel: Nota die zedel sol nyemand lesen Newr ain freÿ schepf allain pey dem leben vnd sol sen verbrennen ob ich stürb. ⁴⁹ Ein Schloss könnte man an dieses Heft im Halbfolioformat gar nicht anbringen. Es besteht lediglich aus fünf längst in der Mitte zusammengehefteten Folio-Papierblättern. Das längliche Heft wurde dann noch einmal quer gefaltet und mit einem Siegel geschlossen. Reste des Siegelwachses sind noch immer erhalten. Das Coesfelder Femebuch⁵⁰ dagegen, auf dessen Pergamentumschlag ebenfalls steht, das dieses bouk vanden heymeliken rechte nur von einem vrischepene des hilgen romeschen rikes ⁵¹ gelesen werden dürfe, soll Grote zufolge „ehemals […] in einem Kaͤ stchen verschlossen gewesen seyn, mit einer Ueberschrift,
Handschriften V, Wolfenbüttel 1903 (Nachdruck unter dem Titel: Die Augusteischen Handschriften, Bd. 5: Codex Guelferbytanus 34.1 Augusteus 4 o bis 117 Augusteus 4 o [Kataloge der Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel 8], Frankfurt a. M. 1966), S. 126 f. (Nr. 3713). Die Handschriften Soest, Stadtarchiv, Abt. A Nr. 3160 und Soest, Stadtarchiv, Abt. A Nr. 3169 wiederum haben in den 1970er Jahren einen neuen Einband erhalten, ohne dass der alte erhalten oder zumindest fotographisch erfasst wurde (Auskunft von Dirk Elbert, Stadtarchiv Soest). Auch die Handschriften Berlin, Staatsbibl. Ms. germ. oct. 621 (Auskunft von Anne-Beate Riecke, Staatsbibl. Berlin), Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. jur. 2589 (Auskunft von Monika Müller, Staats- und Universitätsbibl. Hamburg) und Bremen, Staatsarchiv, StAB 2-P.6.a.9.c.2.b (Auskunft von Konrad Elmshäuser, Staatsarchiv Bremen) haben ihre ursprünglichen Einbände verloren. Vgl. Ute Monika Schwob, Oswald von Wolkenstein. Ein Freischöffe der Feme, in: Literatur in Bayern 78a: Sonderheft Moder in Bayern (2004), S. 20 – 28; Ute Monika Schwob, Spuren der Femgerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Tirol (Schlern-Schriften 345), Innsbruck 2009, S. 11– 30, 45 – 114. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Historisches Archiv: Bestand Deutsches Reich, fol. 9v (Titel/Kurzregest: Fragen und Antworten über das Freigericht [Wilshörst] 1408 [1428]): „Beachte: Diese Zettel soll bei seinem Leben niemand lesen außer ein Freischöffe und sie sollen verbrannt werden, wenn ich sterbe.“ (Übersetzung Marco Heiles). Abbildungen: http://ha.gnm.de/objekt_start.fau? prj=HA-ifaust&dm=Historisches+Archiv&ref=31518 (letzter Zugriff am 23.12. 2019).Vgl. auch Eckhardt (Anm. 34), S. 105; Lotte Kurras, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Zweiter Teil. Die naturkundlichen und historischen Handschriften, Rechtshandschriften, Varia (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 1/2), Wiesbaden 1980, S. 93; Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein. Edition und Kommentar, 1428 – 1437, Nr. 178 – 276, hrsg. v. Anton Schwob unter Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer und Brigitte Spreitzer, kommentiert von Ute Monika Schwob (Band 3), Wien u. a. 2004, S. 51 (dort mit falscher Bestandsangabe). Coesfeld, Stadtarchiv, Abt. I/I, Nr. 184. Nach Oppitz (Anm. 35), S. 439, Nr. 345 entstand diese Handschrift Ende des 15. Jahrhunderts. Vgl. auch http://www.handschriftencensus.de/16072 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Für Bildmaterial zu dieser Handschrift danke ich Norbert Damberg (Stadtarchiv Coesberg). Carl Wilhelm Grote, Beiträge zur Geschichte der Vehmgerichte, in: Historisch-geographisch-statistisch-literarisches Jahrbuch für Westfalen und den Niederrhein 1 (1817), S. 309 – 334, hier S. 330: „Buch des Heimlichen Gerichts … Freischöffen des Heiligen Römischen Reiches“ (Übersetzung Marco Heiles).
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welche die Eröffnung desselben unter schwerem Fluch verbot.“⁵² Dass die Geheimhaltungsformeln der Westfälischen Feme von den Zeitgenossen ernst genommen und diese eingehalten wurden, kann man auch der Korrespondenz des Nürnberger Rates mit Herzog Ludwig VII. von Bayern-Ingolstadt (†1447) entnehmen. Der Rat der Stadt weigerte sich im Sommer 1432 zwei Monate lang wiederholt Briefe der Feme zu öffnen, die der Herzog ihm zusandte, da dem Rat kein Freischöffe angehöre. Erst durch die Entsendung des im Dienste des Herzog stehenden Freischöffen Johannes Hartlieb (†1468) nach Nürnberg konnte dieses Problem gelöst werden.⁵³
4.2 Soziale Funktionen und Schutz vor Verschmutzung und Nachträgen Welche weiteren Funktionen neben der Kontrolle des Rezipientenkreises den abschließbaren Einbänden zukamen, will ich an wenigen exzeptionellen Beispielen aufzeigen. So hat das Schloss des jüngsten Buches der Listen (Nr. 21) sicher nie ein Geheimnis bewahrt. Bei diesem Exemplar vom Beginn des 19. Jahrhunderts handelt es sich um ein leeres Stammbuch mit Silbereinband. Dieses Buch war ein Sammlerstück. Es wurde allein aufgrund der besonderen Beschaffenheit seines Einbandes – inklusive dem Buchschloss – aufbewahrt und wertgeschätzt. Die verschließbaren Einbände erfüllen auch eine ästhetische Funktion, zeichnen sich durch ihre Besonderheit aus und vermitteln so auch die besondere Stellung des Besitzers dieser Bücher. Eine ähnliche Funktion kann man auch bei der als Stammbuch verwendeten ‚Titurel‘-Handschrift annehmen (Nr. 22, siehe Abb. 2). Sowohl der besondere Beschreibstoff als auch die Eintragungen durch Bekannte der Familie und der spätere Einband sollen die Legitimität und Bedeutung des Adelsgeschlechts unterstreichen. Das Schloss soll dabei die besondere Wertschätzung dieses Gedächtnis-Buches hervorheben. Auch die besonders ausgeklügelte Mechanik des Vexierschlosses des ‚Feuerwerkbuches‘ des Hans Sänftl (Nr. 5, siehe Abb. 3) spricht dafür, dass durch dieses nicht nur ein Geheimnis bewahrt werden sollte. Vielmehr erscheint das Buch dadurch als Schauobjekt. Das Schloss dieser Handschrift, wie die einfacheren Schlösser der an-
Grote (Anm. 51), S. 313. Ein solches Kästchen hat sich in Coesfeld nicht erhalten und aus der Zeit vor der Neuordnung des Archivs 1839 gibt es kein Repertorium (Auskunft von Norbert Damberg, Stadtarchiv Coesberg). Vgl. Nürnberg, Staatsarchiv, Reichstadt Nürnberg, Briefbücher 10, fol. 43r, 65r–71r, 74r–74v, https:// archive.org/details/NrnbergStaatsarchivReichsstadtNrnbergBriefbcher10 (letzter Zugriff am 23.12. 2019).Vgl. auch Marco Heiles, Johannes Hartlieb: Leben und Werk vor 1441. Zugleich ein Beitrag zur Schreiberidentifizierung, Manuskript 2019 (erscheint in ZfdA); Ludwig Veit, Nürnberg und die Feme. Der Kampf einer Reichsstadt gegen den Jurisdiktionsanspruch der westfälischen Gerichte (Nürnberger Forschungen 2), Nürnberg 1955, S. 146, Nr. 17 mit Anm. 912.
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deren Feuerwerksbücher der Liste auch, stellt bei dessen Benutzung das Geheimnis aus und sollte, so vermutet Rainer Leng,⁵⁴ die Reputation seines Besitzers steigern. Auch die in der Liste angeführten Stadtbücher enthalten keine Geheimnisse. Die Eide beispielsweise, die das ‚Rote Buch der Stadt Straubing‘ (Nr. 27) enthält, müssen selbstverständlich öffentlich vorgetragen werden und sind die Grundlage der Stadtverfassung. Die Schlösser, die diese Bücher zuweilen gleich mehrfach tragen, dienen anscheinend dazu, den Text der Bücher vor unbefugtem Zugriff und Veränderung zu bewahren, und zeichnen gleichzeitig den oder die Schlüsselträger aus. Möglicherweise kommt ihnen auch eine rituelle Funktion bei der öffentlichen Verwendung dieser Bücher zu. Mit der Verteilung der Schlüssel auf Vertreter verschiedener Institutionen böte sich zudem eine Möglichkeit, deren Macht innerhalb der Kooperative Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig deren Zusammenhalt zu stärken. Aus den mittelalterlichen Universitäten sind solche Praktiken, etwa bei der Verteilung der Schlüssel zu den Universitätssiegeln, bekannt.⁵⁵ Bei den Stadtbüchern, die ja in ihrer großen Mehrheit ohne Schloss auskommen, hat sich noch niemand dieser Fragestellung angenommen. Bislang kennen wir lediglich für Köln und das ‚Kölner Eidbuch‘ von 1472 die Schlüsselträger des Jahres 1385. Es sind drei Mitglieder des 15-köpfigen Sitzenden Rats:⁵⁶ Costyn vanme horne, Goibel van Mummersloch ind heynrich der Rentmeister Mallich eynen Slussel z dem Eytboich. ⁵⁷ Da sich dieser Eintrag in einer im Historischen Archiv der Stadt Köln aufbewahrten Ratsämterliste von 1383 – 1390⁵⁸ unter der Überschrift officia electorum anno 1385 ⁵⁹ angeführt ist, können wir annehmen, dass der Sitzende Rat die Schlüsselträger aus seinen Reihen wählte. Von der
Mitteilung per E-Mail. Vgl. Andrea Stieldorf, Verschließen und Zugänglich Machen als Ausdruck korporativen Selbstverständnisses. Zum Umgang mit Urkunden und Siegeln in den mitteleuropäischen Universitäten des Spätmittelalters, in: Archiv für Diplomatik 63 (2017), S. 233 – 252. Zum Kölner Rat im 14. Jh. vgl.: Laura Intile, Rat und Gemeinde in der Stadt Köln des 13. und 14. Jahrhunderts, in: Geschichte in Köln 61 (2014), S. 49 – 78. Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1, hrsg. von Leonhard Ennen und Gottfried Eckertz, Köln 1860, S. 82, http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/pageview/3197609 (letzter Zugriff am 13.02. 2020): „Costin vom Horne, Gobel von Mommersloch und der Rentmeister Heinrich jeder einen Schlüssel zu dem Eidbuch.“ (Übersetzung Marco Heiles). Vgl. auch: Walther Stein (Hg.), Akten zu Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jh. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 10/1) Bd. 1, Bonn 1893, S. XXVIII, Anm. 1. (http:// www.ub.uni-koeln.de/permalink/2013/01/katkey:82769 [letzter Zugriff am 13.02. 2020]). Costin/Constantin vom Horne, Gobel von Mommersloch und der Rentmeister Heinrich (Hirtz) von der Landskron waren nachweislich 1382 Mitglieder des engen, sitzenden Rates und konnten somit nach zweijähriger Pause im Jahr 1385, für das wir keine Ratsmitgliederliste haben, erneut in den sitzenden Rat gewählt werden. Vgl. Ennen u. Eckerts (wie oben), S. 78; Wolfgang Herborn, Wahlrecht und Wahlen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Köln, in: Wahlen und Wahlrecht: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10.3.–12. 3.1997 (Der Staat. Beihefte 14), Berlin 2001, S. 7– 53, hier S. 17– 23 mit Tabelle 1. Köln, Historisches Archiv, Repert. 9, C 4. Ebd.: „Gewählte Ämter des Jahres 1385“ (Übersetzung Marco Heiles).
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Möglichkeit, über die Schlüsselvergabe auch andere Verwaltungsinstanzen wie den Weiten Rat oder die Kirchspiele einzubeziehen, wurde zumindest zu diesem Zeitpunkt kein Gebrauch gemacht. Während die soziale Funktion der drei Schlüssel der ‚Kölner Eidbücher‘ (Nr. 3 und Nr. 4), trotz der Kenntnis der Schlüsselträger des Jahres 1385, weitgehend im Dunkeln bleibt, deutet die Gestalt des Einbandes doch darauf hin, welche Funktion dieser hauptsächlich zukam. Der Buchblock des Eidbuches von 1341 (Nr. 3) ist nicht nur von den lederbezogenen Holzdeckeln umgeben, sondern vom Rückendeckel ausgehende Lederklappen umhüllen auch dessen Ober-, Unter- und Vorderschnitt. Dem physikalischen Schutz dieses Buches scheint somit große Bedeutung zugekommen zu sein, was die Frage aufwirft wie und wo das Buch aufbewahrt wurde. Auch im Falle der besonders reich illustrierten Bücher der Liste, einer Darstellung des Leichenbegängnisses Kaiser Ferdinands I. in 31 großformatigen Radierungen aus dem Besitz des kaiserlichen Rats Jakob Oechsel/Taurellus (†1579) (Nr. 24), und den drei aus Burgund importierten Alamire-Gesangbüchern für Friedrich den Weisen (†1525) (Nr. 14– 16),⁶⁰ scheint mir der Schutz der Bücher vor Verschmutzung, Zerstörung und Nachträgen die Hauptfunktion der Schlösser gewesen zu sein. Wie die für den Meißener Dom geschaffenen Chorbücher (Nr. 32– 39) zeigen, waren aber auch Bücher mit entsprechenden Schließen nicht immer vor späteren Eingriffen geschützt. Neben Korrekturen und Nachträgen finden sich in diesen – besonders auf den Zierseiten – auch zahlreiche Einträge von Benutzern des späten 16. bis 18. Jahrhunderts. Diese schrieben ihre Namen und Monogramme nicht nur mit Bleistift und Tinte in die Bücher, sondern ritzten diese auch ein oder stachen sie mit Nadeln in das Pergament.⁶¹ Die für Herzogs Albrecht V. von Bayern (†1579) angefertigten von Hans Müelich (†1573) illustrierten und in Gold und Silber gebundenen Chorbücher mit Musik von Orlando di Lasso (†1594) und Cipriano de Rore (†1565) zeigen aber, dass man auch aus Chormusik ein Geheimnis machen kann. Die darin befindlichen Kompositionen hielt der Herzog in seiner Kunstkammer buchstäblich unter Verschluss. Erst nach dessen Tod konnte Lasso 1584 die Bußpsalmen drucken lassen.⁶² Kehren wir zuletzt zu unserem Ausgangsbeispiel, der medizinischen Sammelhandschrift Augsburg, Staats- und Stadtbibl., 2o Cod. 572 (Nr. 2) zurück. Bislang ist mir
Jena, Universitäts- und Landesbibl., Chorbuch 2, Chorbuch 4 und Chorbuch 5. Aus der Wittenberger Hofkappel Friedrichs des Weisen sind 18 Chorbücher erhalten, darunter 11 aus dem Alamire-Komplex. Warum nur die drei hier aufgeführten Chorbücher abschließbar waren, ist bedenkenswert. Vgl. zur Sammlung: Hannah Mowrey, The Alamire manuscripts of Frederick the Wise. Intersections of music, art, and theology, Ph. D.-thesis, University of Rochester 2010, http://hdl.handle.net/1802/14277 (letzter Zugriff am 13.02. 2020), bes. S. 102– 111, S. 143 – 220. Vgl. dazu die detaillierten Angaben in den in Anm. xxxiii–xl angegebenen Handschriftenbeschreibungen Matthias Eiflers. Martin Bente u. a., Bayerische Staatsbibliothek. Katalog der Musikhandschriften, Bd. 1: Chorbücher und Handschriften in chorbuchartiger Notierung (Kataloge bayerischer Musiksammlungen 5/1), München 1989, S. 13*; Horst Leuchtmann, Orlando di Lasso. I. Sein Leben. Wiesbaden 1976, S. 132– 134.
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nur ein weiterer Fall einer abschließbaren medizinischen Sammelhandschrift bekannt. Das von den Schreibern der ‚Colmarer Liederhandschrift‘ angelegte sogenannte ‚Speyerer Kompendium‘ (Nr. 10) enthält aber keine oder kaum magische Texte. Der Schutz unbedarfter Leser vor diesen ist also nicht der einzige denkbare Grund, aus dem man eine solche Handschrift mit einem Schloss versehen hat. Die Schlösser an den Einbänden scheinen vielmehr immer mehrere Funktionen zu erfüllen und auch für die Anbringung eines Schlosses an ein Buch mag es meist nicht nur einen einzigen Grund gegeben haben. Auch die Art der Aufbewahrung der Bücher scheint eine wichtige Rolle gespielt zu haben, ist doch keines der Bücher aus der Liste mit bekannter Provenienz als Teil einer größeren Büchersammlung oder Bibliothek entstanden.
Anhang: Liste abschließbarer Bücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Die Liste ist eine aktualisierte Version der „Liste abschließbarer Handschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“ auf dem Mittelalter-Blog. Diese Liste konnte mehrmals ergänzt werden, weshalb die Handschriften nicht in alphabetischer Reihenfolge ihrer Bibliotheksorte aufgeführt werden. 1. Aschaffenburg, Hofbibliothek, Ms. 49 Kalender, Weistum des Rheingaus, Schwabenspiegel, Mainz, Peter von Bacharach, um 1400, „eisernes Schloss“i (kastenförmig erhabenes Überfallenschloss) ii auf dem Vorderdeckel, Metallbügel verloren 2. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2o Cod. 572 Rezeptsammlung, Schwaben (Teil I) und Bayern (Teil II), 1446 (Teil II), kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf dem Vorderdeckel, Überfalle teilweise iii erhalten
i
Josef Hofmann und Hans Thurn, Die Handschriften der Hofbibliothek Aschaffenburg (Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg 15), Aschaffenburg 1978, S. 118. ii Vgl. Wattenbach (Anm. 18), S. 399; Ludwig Ritter von Rockinger, Berichte über die Untersuchung von Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels VIII (Sitzungsberichte der phil.-hist. Classe der kaiserl. Akademie der Wissenschaften 118, 10. Abhandlung), Wien 1889, S. 32 f. (Nr. 8); Hofmann u. Thurn (Anm. i), S. 118 – 120; http://www.handschriftencensus.de/2402 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). iii Abbildung des Vorderdeckels: https://www.manuscript-cultures.uni-hamburg.de/mom/2014_12/ Abb8_l.jpg (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Vgl. Schneider (Anm. 18), S. 172; Hartmann (Anm. 18), S. 433; Gehrt (Anm. 4), S. 155 – 160; http://www.handschriftencensus.de/4308 (letzter Zugriff am 23.12. 2019).
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Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 30 (Verf. u. Verw.) V 2 Eidbuch der Stadt Köln von 1341, drei Überfallenschlösser im Vorderdeckel, 1955 iv bei Restaurierung gefertigt, Überfallen mit Lederriemen Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 30 (Verf. u. Verw.) V 4 Eidbuch der Stadt Köln von 1372, 1382, 1392, drei Überfallenschlösser im Vorv derdeckel, verloren München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 399 Feuerwerkbuch, Rezepte, mathematische Aufgaben und Aufzeichnungen, Familienchronik des Hans Sänftl, Bayern (München?) 2. H. 15. Jh. mit Nachträgen, vi Schließmechanismus eines Vexierschlosses mit Überfalle im Vorderdeckel München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 734 Feuerwerkbuch, Büchsenmeisterbuch, Rezepte, Bayern, 3. Viertel 15. Jh. mit vii Nachträgen, Aussparungen für Schließmechanismus im Vorderdeckel New York, Public Libr., Spencer Collection, Ms. 104 Feuerwerkbuch von 1420, Konrad Kyeser: ‚Bellifortis‘, Bildkatalog: Hebezüge und Büchsen, alemannisch, ca. 1445, kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf viii dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten
Auskunft von Max Plassmann (Historisches Archiv Köln). Abbildung des Einbandes in: Rolf Escher, Kölner Fundstücke. Eine zeichnerische Spurensuche, mit einer Einführung von Max Plassmann, Köln 2014, S. 36 (Nr. 18).Vgl.: Dürrfeld (Anm 16), S. 65 Anm. 65; Ilse Schunke, Beiträge zum frühgotischen, vornehmlich Kölner Bucheinband, in: Gutenberg-Jahrbuch (1969), S.255 – 263, hier S. 257 f.; Paul Adam, Kölner Einbandkunst in alter Zeit, in: Archiv für Buchbinderei 23 (1923), S. 39 f., 55 – 57, 69 – 75, bes. S. 55; Walther Stein, Akten zu Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jh. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 10/1) Bd. 1, Bonn 1893, S. XXI– XXII. http://www.ub.uni-koeln.de/permalink/2013/01/katkey:82769 (letzter Zugriff am 23.12. 2019); http://www.handschriftencensus.de/13092 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). v Auskunft von Max Plassmann (Historisches Archiv Köln). Vgl. Schunke (Anm. iv), S. 258; Stein (Anm. iv), S. XXVIII, unter Anm. 1 auch Angaben zu den Schlüsselhaltern des Jahres 1385; http:// www.handschriftencensus.de/13094 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). vi Digitalisat: https://app.digitale-sammlungen.de/bookshelf/bsb00122140 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Vgl.: Heiles (Anm. 23); Schneider (Anm. 18), S. 172; Hartmann (Anm. 18), S. 433 f. und Abb. 5 und 6; Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 351– 500 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V/3), Wiesbaden 1973, S. 156 – 160; http://handschriftencensus.de/9680 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). vii Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00036875/image_2 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Vgl. Schneider (Anm. 18), S. 172; Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691– 867 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V/5), Wiesbaden 1984, S. 181– 185; http://handschriftencensus.de/6356 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). viii Abbildung des Vorderdeckels: https://digitalcollections.nypl.org/items/510d47e0 – 0ee0-a3d9e040-e00a18064a99 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Vgl. Jeffrey Hamburger, Feuerwerkbuch von 1420 and Konrad Kyeser, Bellifortis, in: Jonathan J. G. Alexander u. a. (Hgg.), The Splendor of the Word. Medieval and Renaissance Illuminated Manuscripts at The New York Public Library, New York 2005. S. 344– 352 (Nr. 79); Johann Gottfried Hoche, Ueber ein altes Manuskript, die Kriegsrüstungen der Deutschen im 15ten Jahrhundert betreffend, in: Deutsche Monatsschrift 3 (1793), S. 88 – 92, hier S. 89.
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Nördlingen, Stadtarchiv, Bestand Stadtrechte und Ordnungsbücher, R 2 F 2 Nr. 18 Nördlinger Rechtsbuch, Handschrift des Westfälischen Femegerichts, Nördlingen, 1482, Buchbinder: Hans Stumpf, kastenförmig erhabenes Überfallenschloss ix aus Messing auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten 9. Olomouc (Olmütz), Státní okresní archiv, Archiv města Olomouc, Kinhy, Sign. 166 x Olmützer Stadtbuch von 1350, vier Schlösser (Überfallenschlösser?) 10. Salzburg, Universitätsbibliothek, Cod. M III 3 Heilkundliche Kompilation, Rezepte, Speyer (?), 3. Viertel 15. Jahrhundert, kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf dem Vorderdeckel, Überfalle nur xi teilw. erhalten 11. Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB VI 110 Jos von Pfullendorf: ‚Rottweiler Hofgerichtsordnung‘, Nachträge, Rottweil, um 1435(?), kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf dem Hinterdeckel, Überxii falle erhalten 12. Privatbesitz, Roland Hartmann [Verblieb unbekannt] Feuerwerkbuch von 1420, Süddeutschland, um 1460, kastenförmig erhabenes xiii Überfallenschloss auf dem Vorderdeckel, Überfalle teilw. erhalten 8.
http://www.ub.uni-bielefeld.de/cgi-bin/neubutton.cgi?pfad=/diglib/aufkl/deumonat/030933&seite= 00000092.TIF&werk=Zeitschriften+der+Aufklaerung (letzter Zugriff am 23.12. 2019); http:// www.handschriftencensus.de/15844 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). ix Vgl. Wattenbach (Anm. 18), S. 399; Eckhardt (Anm. 34), S. 104; Oppitz (Anm. 35), S. 721 (Nr. 1162); http://www.handschriftencensus.de/25171 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Den Buchbinder Hans Stumpf (EBDB w000041) identifiziert Ernst Kyriss, Nördlinger Bucheinbände eines Zeit- und Kunstgenossen Johannes Richenbachs. Auf Grund eines hinterlassenen Manuskripts von Otto Leuze, in: Heinrich Schreiber (Hg.), Otto Glauning zum 60. Geburtstag. Festgabe aus Wissenschaft und Bibliothek, Leipzig 1936, S. 119 – 139, hier S. 136 f. Vgl. auch Ernst Kyriss, Schriftdruck auf Einbänden des 15. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 1950. S. 88 – 96, hier S. 89 – 90. x Vgl. Wattenbach (Anm. 18), S. 399. Ferdinand Bischoff, Über das älteste Olmützer Stadtbuch, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien. Philosophisch-Historische Classe 85 (1877), 2. Heft, S. 281– 350, hier S. 283 – 285. Dort auch die Ratsbeschlüsse von 1343 und 1350 zur Anfertigung des Stadtbuches mit vier Schlössern.Vgl. auch Libuše Spácilová, Das älteste Olmützer Stadtbuch als anthroponymische Quelle, in: Hans-Joachim Behr, Deutsch-böhmische Literaturbeziehungen – Germano-Bohemica. Festschrift für Václav Bok zum 65. Geburtstag (Schriftenreihe Studien zur Germanistik 7), Hamburg 2004, S. 287– 306. xi Vgl. Anna Jungreithmayr unter Mitarbeit von Josef Feldner und Peter H. Pascher, Die deutschen Handschriften des Mittelalters der Universitätsbibliothek Salzburg (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 196; Veröffentlichungen der Kommission für Schriftund Buchwesen des Mittelalters III, 2), Wien 1988, S. 193 – 209. xii Digitalisat: http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz343266539 (letzter Zugriff am 23.12. 2019).Vgl. Die Rottweiler Hofgerichtsordnung (um 1430). In Abbildungen aus der Handschrift HB VI 110 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, hrsg. und transkribiert von Wolfgang Irtenkauf (Litterae 74), Göppingen 1981, S. 2. xiii Vgl. Hartmann (Anm. 18), S. 428 und Abb. 3.
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13. Privatbesitz, Roland Hartmann [Verbleib unbekannt] Verteidigungsdispositiv, 1536, aus dem Besitzt des Kurfürsten Ludwig V. von der xiv Pfalz, Schlossöse auf dem Vorderdeckel 14. Jena, Universitäts- und Landesbibliothek, Chorbuch 2 Chorbuch: 7 Messen (Ordinaria), Flandern, ca. 1512– 1518, kastenförmig erhabexv nes Überfallenschloss auf dem Vorderdeckel 15. Jena, Universitäts- und Landesbibliothek, Chorbuch 4 Chorbuch: 9 Messen (Ordinaria) & 3 Meßteile (2 Credos, 1 Kyrie), u. a. von Pierre de la Rue (1450/55 – 1518), Flandern, 1513/14, Überfallenschloss im Vorderdeckelxvi 16. Jena, Universitäts- und Landesbibliothek, Chorbuch 5 Chorbuch: 5 Messen (Ordinaria) & 1 Totenmesse, von Pierre de la Rue, Flandern, in der Werkstatt des Petrus Alamire (1470 – 1536) für Friedrich den Weisen kopiert, xvii 1515/1518, Überfallenschloss im Vorderdeckel, verloren 17. Berlin, Staatsbibliothek, Ms. boruss. fol. 747 Chartularium von St. Severin in Köln, Köln um 1430, Buchbinder: Dietrich von xviii Cronenberg, zwei Überfallenschlösser im Vorderdeckel, verloren 18. Berlin, Staatsbibliothek, Ms. lat. qu. 651 Nekrologium des Benediktinerklosters Bleidenstadt, Bleidenstadt Ende 12. Jh., kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf dem Hinterdeckel, keine Spuren xix einer Überfalle 19. Brüssel, Königl. Bibliothek, ms. II 311 Familienbuch Adam Vrindts, ndl. (Familiengenealogie, Koch- und Haushaltsrezepte und medizinische Rezepte), Niederlande (Antwerpen?), ca. 1591– 1613, xx Schlossösen an beiden Buchdeckeln 20. Dresden, Landesbibliothek, Mscr. M 209 Didaktisch-theologische Sammelhandschrift, familienchronikale Nachträge (Hessen Anfang 16. Jh.), Oberrhein, 1470er, kastenförmig erhabenes Überfallen-
xiv
Vgl. Hartmann (Anm. 18), S. 434– 436 und Abb. 7. Digitalisat und Beschreibung: http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00014277 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). xvi Digitalisat und Beschreibung: http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00014233 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). xvii Digitalisat und Beschreibung: http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00014250 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). xviii Vgl. Schunke (Anm. iv), S. 263 und Abb. 7. xix Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 11 f. mit Abb. 16 und Abb. auf dem Rückencover des Heftes; Dietrich Kötzsche, Eine romanische Grubenschmelzplatte des Berliner Kunstgewerbemuseums, in: Ursula Schlegel und Claus Zoege von Manteuffel (Hgg.), Festschrift für Peter Metz, Berlin 1965, S. 154– 169; Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller, Die abendländischen romanischen Blindstempeleinbände (Denkmäler der Buchkunst 6), Stuttgart 1985, Nr. 131 mit Abb. VD 131 und RD 131. xx Vgl.Heiles (Anm. 22), S. 10, Anm. 9; Fréderic Lyna, Catalogue des manuscrits de la Bibliothèque Royale de Belgique. Tome 13. Héraldique – Généalogie, Brüssel 1948, Nr. 8495, https://archive.org/stream/catalo guedesmanu13brusuoft#page/506/mode/2up (letzter Zugriff am 23.12. 2019). xv
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schloss (?) auf dem Vorderdeckel (Der Schließmechanismus ist bislang ohne xxi Parallele, ob hierbei ein Schlüssel benutzt werden musste, ist nicht sicher.) Leipzig, Grassi Museum für Angewandte Kunst, Objekt-Nr. 1897.0044 Verschließbares Stammbuch mit Silbereinband, unbeschrieben, Deutschland, xxii Anfang 19. Jh., Buchschloss im Vorderdeckel München, Staatsbibliothek, Cgm 8470 Albrecht: ‚Jüngerer Titurel‘, wurde seit 1583 als Stammbuch des Johann (Christoph) Fernberger von Egenberg (1556 – 1600) und seiner Erben verwendet, Regensburg (?) um 1430/35, der Einband inklusive Schloss wurde im 17. Jh. für Christoph Adam Fernberger († 1666) angefertigt, Überfallenschloss im Vorderxxiii deckel Karolavy Vary, Státní oblastní archiv v Plzni – Státní okresní archiv Karlovy Vary, Archiv města Žlutice (1375) 1435 – 1945 (1980), poř. č. 2, sign. Žlutice I, ukn 2 Grundbuch der Stadt Žlutice (Luditz), Žlutice, um 1435/36, kastenförmig erhabexxiv nes Überfallenschloss auf dem Vorderdeckel Sélestat (Schlettstadt), Bibliothèque Humaniste de la Ville de Sélestat, K 1330 Bartholomeus Hannewald: Parentalia Divo Ferdinando Caesari Augusto … A Maximiliano Imperatore Etc. Ferdinando Et Carolo Serenissimis Archiducibus Austriae Fratribus … persoluta Viennae, Augsburg: Wolfgang Meyerpeck d. J. und Joachim Sorg, 1566 (VD16 H 530). Darstellung des Leichenbegängnis Kaiser Ferdinands I. in 31 großformatige Radierungen von Joachim Sorg und Wolfgang
Digitalisat: http://digital.slub-dresden.de/ppn278680275 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Werner J. Hoffmann, Die deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden, Vorläufige Beschreibungen, http://www.ma nuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31600816 (letzter Zugriff am 23.12. 2019). Für Auskünfte zu dieser Handschrift danke ich Werner Hoffmann (Handschriftenzentrum Leipzig). xxii Vgl.: Adler (Anm. 22), S. 173, Abb. 9 – 27. xxiii Vgl. Martin Roland und Peter Wiesinger, Malstil und Schreibsprache. Kunsthistorisch-stilkritische und sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur Lokalisierung des Münchener ‚Jüngeren Titurel‘ (München, Bayerische Staatsbibliothek, CGM 8470) (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 473. Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters 4), Wien 2015, bes. S. 1, 9, 115 – 117. Zur Nutzung als Stammbuch siehe Lotte Kurras, Zwei österreichische Adelige des 16. Jahrhunderts und ihre Stammbücher: Christoph von Teuffenbach und Johann Fernberger von Egenberg, in: Wolfgang Klose, Stammbücher des 16. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Forschungen 42),Wiesbaden 1989, S. 125 – 135, hier S. 131– 135; Lotte Kurras, Die Münchener Titurelhandschrift als Stammbuch des Johann Fernberger von Egenberg, in: Codices Manuscripti 12 (1986), S. 82– 84. xxiv Vgl. Pavlína Hamanová, Z dějin knižní vazby od nejstarších dob do konce XIX. stol. Prag 1959, S. 56, 254 und Abb. 35. Für die Auskunft über den neuen Standort dieses Buches danke ich Milan Augustin (Státní okresní archiv Karlovy Vary). Vgl. auch: http://www.inventare.cz/soap-kv/ap0324 (letzter Zugriff am 27.12. 2019).
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Meyerpeck nach Hans Mayr, kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf dem xxv Vorderdeckel 25. Privatbesitz, ehemals Grace Whitney Hoff, Signatur 374 Notizbuch, leer, 18. Jahrhundert, Überfallenschloss im Vorderdeckel, Einbandxxvi klappe als Überfalle 26. Hamburg, Staatsarchiv, Senat Cl. VII Lit. L a Nr. 2 Vol. 1b Rotes Buch/Stadtbuch der Stadt Hamburg, Hamburg 1301 bis Ende 15. Jh., zwei xxvii Überfallenschlösser im Vorderdeckel, Überfallen aus Silberdraht 27. Straubing, Stadtarchiv, Rotes Buch Rotes Buch/Stadtbuch der Stadt Straubing, Straubing zwischen 1472 und 1481, zwei kastenförmig erhabene Überfallenschlösser auf dem Vorderdeckel, Überfalle xxviii mit Lederriemen
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Vgl. Joseph Walter, Ville des Sélestat. Catalogue général de la Bibliothèque municipale. Première Série: Les livres imprimés. Troisième Partie: Incunables & XVIme Siècle (Nr. 1987), Colmar 1929, S. 479 f.; Hubert Meyer, Jacques Oechsel, alias Taurellus (1524– 1579), notaire public, conseiller impérial, fondateur-bienfaiteur de la Bibliothèque Humaniste, in: Annuaire. Les Amis de la bibliothèque humaniste de Sélestat, Société d’histoire et d’archéologie de Sélestat et environs 29 (1979), S. 7– 26, hier S. 16v19 mit Abb. auf S. 18 (VD) und S. 19 (Exlibris auf fol. 1r). Zum Druck siehe: Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts, http://gateway-bayern.de/VD16+H+530 (letzter Zugriff am 27.12. 2019); Margit Altfahrt, Die politische Propaganda für Maximilian II. (Erster Teil), in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 88 (1980), S. 283 – 312, S. 310 – 312; Wilfried Seipel, Kaiser Ferdinand I. 1503 – 1564. Das Werden der Habsburgermonarchie. Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien. Kunsthistorisches Museum, 15. April bis 31. August 2003, Wien 2003, S. 567– 569 (Nr. XI.26). xxvi Vgl. Amédée Boinet, Bibliothèque de Madame G. Whitney Hoff: Catalogue des manuscrits, incunables, éditions rares, reliures anciennes et modernes. Tome II: 18.–20. siècle, Paris 1933, Nr. 374 (Abbildung des Vorderdeckels). xxvii Vgl. Kluge, Handschriften (Anm. 20), S. 108; Kluge, Macht (Anm. 20), S. 214 und S. 215, Abb. 16; Heinrich Reincke u. Jürgen Bolland (Hgg.), Die Bilderhandschrift des Hamburgischen Stadtrechts von 1497 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 10), Hamburg 1968, S. 146; Jürgen Reetz, Hamburgs mittelalterliche Stadtbücher, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 44 (1958), S. 95 – 139, hier S. 108 f. xxviii Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 8, Abb. 7; Kluge, Macht (Anm. 20), S. 214 und S. 217, Abb. 18; Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns und Bayrischer Gemeindetag (Hg.), 100 Jahre Bayerischer Gemeindetag. 1000 Jahre gemeindliche Selbstverwaltung, München 2012, S. 118 f. (Nr. 1.4) (mit Abb. des Vorderdeckels, des vorderen Spiegels und fol. 1r); Eduard Wimmer, Das rothe Buch im städtischen Archive zu Straubing, in: Archivalische Zeitschrift 9 (1884), S. 120 – 128 (mit Edition auf S. 209 – 352); Eduard Rosenthal (Hg.), Beiträge zur deutschen Stadtrechtsgeschichte. Zur Rechtsgeschichte der Städte Landshut und Straubing, nebst Mitteilungen aus ungedruckten Stadtbüchern, Würzburg 1883, S. 207 f., http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~cd2/drw/F2/rosenthb/liste.htm (letzter Zugriff am 27.12. 2019), dort auch Textauszüge S. 303 – 337.
Gesicherte Geheimnisse?
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28. Straubing, Stadtarchiv, Bürgerspital 607 Salbuch der Bürgerspitalstiftung, Straubing 1630 – 1632, zwei Schlossschließen, xxix Schlüssel erhalten 29. Staatsarchiv Breslau, Zweigstelle Kamenz, 84– 136 – 56 Stadtbuch der Stadt Nowa Ruda (Neurode), Nowa Ruda (Neurode) 1400/1434(?)– xxx 1525, kastenförmig erhabenes Überfallenschloss auf dem Vorderdeckel 30. Kriegsverlust, Verbleib unbekannt, ehemals Glatz/Kłodzko, Stadtarchiv Stadtbuch der Stadt Kłodzko (Glatz), Kłodzko (Glatz) 1324– 1424 (?), Schlossösen für drei Schlösserxxxi 31. Kriegsverlust, Verbleib unbekannt, ehemals Glatz/Kłodzko, Stadtarchiv Amtsbuch der Stadt Kłodzko (Glatz), Kłodzko (Glatz) 1346 – 1390, Schlossösen für xxxii zwei Schlösser 32. Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch I Graduale mit Teilen des Antiphonars (Psalterium und Hymnar), Winterteil (1. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner Dom, zwischen 1500 und xxxiii 1504, Schlossöse auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten 33. Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch II Graduale mit Teilen des Antiphonars (Psalterium und Hymnar), Sommerteil (2. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487–
xxix Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 9, Abb. 8. Auskunft von Dorit-Maria Krenn (Stadtarchiv Straubing). Vgl. auch Johannes Laschinger, Geschichte der Spitalstiftungen in Straubing, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für Straubing und Umgebung 87 (1985), S. 69 – 381, hier S. 284 f. xxx Vgl. Joseph Wittig, Emanuel Zimmer u. Udo Lincke (Hgg.), Chronik der Stadt Neurode, Neurode 1932, S. 26 – 28 mit Abb. auf S. 26 (Kastenschloss in der Mitte des Vorderdeckels); Emanuel Zimmer, Das verschlossene Stadtbuch. Neurodes älteste Urkundensammlung 1434– 1525, Neudruck der Ausgabe Neurode 1908, Lüdenscheid 1993 (Edition, Beschreibung des Einbandes auf S. 7). Die Identität des unter der oben genannten Signatur aufbewahrten Buches mit dem von Zimmer beschriebenen und edierten ist noch nicht zweifelsfrei geklärt. Für die Auskünfte zu diesem Buch danke ich Christian Speer (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und Vicky Kühnold (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). xxxi Vgl. Franz Volkmer und Wilhelm Hohaus, Das älteste Glatzer Stadtbuch 1324– 1412. Im Auszuge bearbeitet (Geschichtsquellen der Grafschaft Glatz 4), Habelschwerdt 1889, bes. S. I, http://fbc.pionier.net.pl/id/oai:www.sbc.org.pl:18270 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). xxxii Vgl. Volkmer u. Hohaus (Anm. xxxi), Vorwort. xxxiii Beschreibung und Digitalisat: Matthias Eifler, Erschließung von Kleinsammlungen mittelalterlicher Handschriften in Sachsen und dem Leipziger Umland, http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31602917 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10. Für die Auskunft zu diesem und den weiteren Naumburger Chorbüchern danke ich Matthias Eifler (Handschriftenzentrum Leipzig).
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1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner Dom, zwischen 1500 und xxxiv 1504, Schlossöse auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch III Graduale mit Teilen des Antiphonars (Psalterium und Hymnar), Sommerteil (1. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner Dom, nach 1506, Schlossöse xxxv auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch IV Antiphonar, Sommerteil (2. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner Dom, nach 1506, Schlossöse auf dem Vorderdeckel, Überfalle verloxxxvi ren Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch V Antiphonar, Sommerteil (1. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den xxxvii Meißner Dom, 1504, Schlossöse auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch VI Antiphonar,Winterteil (1. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner xxxviii Dom, 1504, Schlossöse auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch VII Antiphonar,Winterteil (2. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner
Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/html/obj31602938 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10 mit Abb. 10 – 12. xxxv Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/html/obj31602959 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10. xxxvi Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/html/obj31602980 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10. xxxvii Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/html/obj31603001 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10. xxxviii Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/html/obj31603022 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10.
Gesicherte Geheimnisse?
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Dom, 1500 (1504?), Schlossöse mit Scharnier an Hinterdeckel befestigt, Lochxxxix platte auf dem Vorderdeckel 39. Naumburg, Domstiftsbibliothek, Chorbuch VIII Graduale mit Teilen des Antiphonars (Psalterium und Hymnar), Winterteil (2. Exemplar), Leipzig (?), im Auftrag von Bischof Johannes VI. von Salhausen (1487– 1518) und des Meißner Domkapitels für den Meißner Dom, zwischen 1500 und xl 1504, Schlossöse auf dem Vorderdeckel, Überfalle erhalten 40. München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. A I(1 Chorbuch, Orlando di Lasso: Bußpsalmen, für die Hofkapelle Herzogs Albrecht V. von Bayern von Jean Pollet (Schreiber) und Hans Müelich (Maler) angefertigt, Bucheinband von Kaspar Ritter (Hofbuchbinder Albrechts V.), Schließen und Beschläge von Georg Seghkein (Hofgoldschmied Albrechts V.), München 1565, zwei silberne Überfallenschlösser an der Kante des Vorderdeckels, silberne xli Überfallen 41. München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. A II(1 Chorbuch, Orlando di Lasso: Bußpsalmen, für die Hofkapelle Herzogs Albrecht V. von Bayern von Jean Pollet und Hans Müelich angefertigt, Bucheinband von Kaspar Ritter (Hofbuchbinder Albrechts V.), Schließen und Beschläge von Georg Seghkein (Hofgoldschmied Albrechts V.), München 1565 – 1570, zwei silberne xlii Überfallenschlösser an der Kante des Vorderdeckels, silberne Überfallen
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Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/html/obj31603043 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10 mit Abb. 13 – 15. xl Beschreibung und Digitalisat: Eifler (Anm. xxxiii), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31603064 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Die Schlossöse wurde in der Beschreibung nicht als solche erkannt, der entsprechende Verschluss wird stattdessen als Aufsteckverschluss bezeichnet. Vgl. Heiles (Anm. 22), S. 10. xli Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00089635/image_1 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Vgl. Bente (Anm. 62), S. 54– 56. Buchbinder und Goldschmied werden abgebildet in Samuel Quichelberg, Declaratio imaginum secundi tomi psalmorum poenitentialium [Erläuterungsband zu Mus.ms. AII(1], München, Staatsbibliothek, Mus.ms. AII(2, fol. 158v, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00106846/image_319 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Eine Zahlung über 1138 Gulden aus dem Jahre 1572 an Georg Seghkein/Söckhein für drey grosse gesanng Püecher mit feinem Silber beschlagen und geschmelz, die er in den Jahren 1566, 1571 und 1572 ausgeliefert hat, ist in den Hofzahlamtsrechnungen erhalten. Vgl. Otto Hartig, Die Gründung der Münchener Hofbibliothek durch Albrecht V. und Johann Jakob Fugger. München 1917 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Philologische und Historische Klasse 28/3), http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00004467/image_346 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Dieses Buch und die Nr. 41 u. 42 wurden nicht mit den anderen Büchern der Hofkapelle aufbewahrt, sondern waren allein für den privaten Gebrauch des Fürsten bestimmt.Vgl. Bente (Anm. 62), S. 13*; Leuchtmann (Anm. 62), S. 132– 134. xlii Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0003/bsb00035009/images/ (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Literatur siehe Anm. xli.
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42. München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. B(1 Chorbuch, Cipriano de Rore: Motetten, für die Hofkapelle Herzogs Albrecht V. von Bayern von Jean Pollet (Schreiber) und Hans Müelich (Maler) angefertigt, Bucheinband von Kaspar Ritter (Hofbuchbinder Albrechts V.), Schließen und Beschläge von Ulrich Schniep (Uhrmacher und Instrumentenbauer), München 1559, xliii zwei Buchschlösser im Vorderdeckel, Überfallen nicht erhalten
xliii Digitalisat: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00103729/image_1 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Vgl. Bente (Anm. 62), S. 56 – 58. Ulrich Schniep wird als Libri compacture exornator bezeichnet in: Samuel Quicchelberg, Declaratio pictuarum imaginum, acquorumcunque ornamentorum in libro, Motetorum celeberrimi misici Cypriani de Rore [Erläuterungsband zu Mus.ms. B(1], München 1564, München, Staatsbibliothek, Mus.ms. B(2, fol. 3r, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00108185/ image_6 (letzter Zugriff am 27.12. 2019). Kaspar Ritter wird von Quicchelberg nicht genannt, kann aber über die Stempel als Buchbinder identifiziert werden. Vgl. Ferdinand Geldner, Die Porträt- und Wappensupralibros Herzog Albrechts V. von Bayern. Zur Vierhundertjahrfeier der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Gutenberg-Jahrbuch (1958) S. 298 – 314, hier S. 311.
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Verhüllen und Zeigen Strategien der paratextuellen ‚Anderssichtbarkeit‘ in mittelalterlichen Handschriften Abstract: The paper is dedicated to the phenomenon of secret and ‘veiled’ encoded writing in the early medieval manuscript tradition. The focus lies on paratextual additions that have been handed down in glosses or other secondary entries to a primary text. In addition to general aspects connected with the Latin script of the Middle Ages, particular attention is paid to the specifics of the vernacular, Old High German tradition. With regard to the paratextual use of so-called secret and other writing techniques (such as dry point entries), a special attention is paid to the variation and functional dimensions of the phenomenon of graphical ‘otherness’. Furthermore, in an interdisciplinary perspective, examples from iconography will be used to illustrate the overarching connections between paratextual writing and other fields that build up areas of tension between concealment and visualization. Keywords: Anderssichtbarkeit, Geheim(schrift), Glossierung, Manuscript Studies, Marginalien, Materialität, Medialität, Paratexte, Schriftlichkeit
1 Einleitung Der Verwendung von Geheimschriften und anderen Alphabeten bzw. Schriftsystemen als dem als ‚normalschriftlich‘ geltenden Lateinischen in der frühmittelalterlichen Handschriftenüberlieferung wird in der jüngsten Forschung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt; insbesondere wird der Blick dabei sowohl auf die Vielfältigkeit der funktionalen Deutungsräume als auch auf die materiellen Hintergründe ihrer Anwendungskontexte gerichtet.¹ Die folgenden Ausführungen loten verschiedene Annotationspraktiken in frühmittelalterlichen Handschriften als Träger schriftlichen Elitenwissens auf der Hintergrundfolie des Spannungsfeldes von Sichtbarem und Verborgenem aus. Dazu werden Aspekte der Materialität, der Eintragungs- und Ent-
Der folgende Beitrag ist in ein größeres Forschungsvorhaben eingebettet, das ich im Jahr 2015 am Institut d’Etudes Avancées (IEA) in Paris voranbringen konnte. Für Hinweise und Anregungen möchte ich meinen Mitfellows am IEA und dessen Direktorin Gretty Mirdal, meinen Kolleginnen und Kollegen am Fachteil Ältere Deutsche Philologie in Trier, ferner Michael Embach (Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier) sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Bonner Symposiums ‚Geheimnis und Verborgenes im Mittelalter‘ (März 2017) danken. Prof. Dr. Claudine Moulin, Universität Trier, FB II/ Germanistik – Ältere Deutsche Philologie, Universitätsring 15, 54286 Trier, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-015
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zifferungsstrategien sowie verschiedene Spielarten der paratextuellen Wissenskonstitution, insbesondere in der althochdeutschen Überlieferung, vor dem Hintergrund der lateinischen Schriftlichkeit thematisiert. Im Hinblick auf den zur Verfügung stehenden Platz werden ausgewählte Aspekte herausgegriffen, die das Thema vornehmlich aus interdisziplinärer Sicht beleuchten und die Visualität des Schreibens und Lesens paratextueller Einträge in den Vordergrund stellen.
2 Schriftlichkeit und Paratextualität Die früheste schriftliche Überlieferung der europäischen Vernakularsprachen steht im Kontext der lateinischen Schriftkultur. Für das Althochdeutsche (700 – 1050) begegnen die ältesten Zeugnisse in Form von so genannten Glossen in lateinischen Pergamenthandschriften ab dem frühen 8. Jahrhundert.² Wie auch für seine Nachbarsprachen ist die Überlieferung des Althochdeutschen als prototypisch paratextuell zu deuten: Nicht nur die ältesten Zeugnisse in Form von Glossen sind als Zusätze zu einem lateinischen Basistext zu verstehen, auch die althochdeutsche Textüberlieferung findet sich in der Regel in Form von sekundären Eintragungen auf leer gebliebenem Pergamentraum in lateinischen Codices, etwa an den Blatträndern oder auf leeren Vorder- bzw. Rückseiten. Das Gros dieser volkssprachlichen Texte ist somit im wahrsten Sinne des Wortes ‚marginal‘ oder als Blattfüllsel materialisiert.³ Diese Überlieferung entfaltet, wie ich es nennen möchte, eine Sichtbarkeit ‚zweiten Grades‘ gegenüber der lateinischen Überlieferung der Basistexte, die eigene Funktionalitäten und Verschriftlichungsstrategien besitzt. Wegen seiner grundlegenden Bedeutung erwähne ich den paratextuellen Charakter der althochdeutschen Schriftlichkeit zu Anfang meines Beitrages. Aus dieser Beobachtung lassen sich Erkenntnisse für die schriftlichen Enkodierungskontexte und anschließende Dekodierungsmechanismen paratextueller Schriftlichkeit gewinnen. Unter Paratexten werden – in Anlehnung an die von Gérard Genette⁴ geprägte Begrifflichkeit – diejenigen Einheiten eines mittelalterlichen Buches verstanden, die
Siehe Rolf Bergmann u. Stefanie Stricker (Hgg.), Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften unter Mitarbeit von Yvonne Goldhammer u. Claudia Wich-Reif, Bde. 1– 6, Berlin, New York 2005; ferner auch die aktualisierten Daten im digitalen Glossenportal ‚BStK Online. Ahd. und as. Glossenhandschriftendatenbank‘, online: http://glossen.ahd-portal.germ-ling.uni-bamberg.de/ (letzter Zugriff am 29.09. 2017). Nur wenige Ausnahmen sind hier zu verzeichnen, etwa die Überlieferung zu Otfrid von Weißenburg im 9. Jahrhundert und Notker III. von St. Gallen im 11. Jahrhundert, deren Werk in selbstständigen Handschriften überliefert ist. Zur ‚Marginalität‘ der althochdeutschen Überlieferung siehe ausführlicher Claudine Moulin, Sich einschreiben. Spielarten des Vernakularen als biographische Indikatoren mittelalterlicher Codices, in: Ulrike Gleixner u. a. (Hgg.), Biographien des Buches (Kulturen des Sammelns. Akteure Objekte Medien 1), Göttingen 2018, S. 88 – 112. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2001, insbes. S. 12– 13.
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sekundär zum Basistext stehen und oftmals nachträglich zu diesem angefügt wurden, etwa basistextbezogene Glossierungen oder Kommentare, aber auch nicht-basistextbezogene Eintragungen wie Federproben, Schreibervermerke, Subskriptionen oder weitere Textzusätze, die nicht unmittelbar in Bezug zum Haupttext stehen.⁵ Hinzu kommen typisch textgliedernde bzw. ‐erschließende sekundäre Elemente wie Überschriften oder Register. Die Verschriftlichung der althochdeutschen Überlieferung erfolgt – wie die des lateinischen Basistextes – prototypisch mit dem lateinischen Alphabet, das auch als normalschriftliche Realisierung im Mittelalter betrachtet werden kann – es stellt somit die unmarkierte Variante der graphischen Fixierung in frühmittelalterlichen Codices dar. Während die lateinischen Basistexte in ihrem Gesamtfluss vorwiegend mit lateinischen Buchstaben geschrieben wurden,⁶ ist dies für ihre Paratexte, seien sie lateinisch oder volkssprachlich, nicht zwingend. Diese sind zwar in der Mehrzahl mit Feder und Tinte in lateinischer Schrift fixiert, sie können aber auch in anderen materiellen und medialen Formen aufs Pergament gebracht werden. Sowohl für die lateinischen als auch die volkssprachigen Paratexte ist eine schriftliche Kodierung durch andere Alphabete wie etwa das griechische Alphabet oder durch Runen und andere Notationssysteme möglich, ferner kann das Anbringen der Paratexte durch andere Schreibinstrumente etwa tintenlos mit dem Griffel oder mit dem Rötel bzw. Farbstift vorgenommen werden. Seit dem frühen 8. Jahrhundert sind außerdem sogenannte ‚Geheimschriften‘ belegt, die auf Abwandlungen des lateinischen Alphabets beruhen, dieses mit anderen Zeichen anreichern oder auf erfundene Zeichen zurückgreifen.⁷ Diese Schriften wurden im Frühmittelalter zwar gesammelt und dokumentiert; eingesetzt wurden sie jedoch im gelehrten Wissensraum der Skriptorien nicht für die Verschriftlichung von ganzen Basistexten, sondern im Rahmen des ‚Schreibens zweiten Grades‘, der paratextuellen Zusätze. Für das Althochdeutsche enthalten etwa zehn Prozent der insgesamt rund 1500 bekannten, glossentragenden Handschriften Glossierungen, die verschlüsselt oder in einem anderen Alphabet bzw. Schriftsystem als dem Lateinischen kodiert sind.⁸ Ihre
Zu volkssprachigen Eintragungen in lateinischen Handschriften als Paratexte im Sinne von Genette siehe Claudine Moulin, Zwischenzeichen. Die sprach- und kulturhistorische Bedeutung der Glossen, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 2 (2009), S. 1658 – 1676. Zur Anwendung des dort entwickelten Konzeptes in der neueren Glossenforschung siehe Markus Schiegg, Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit (Germanistische Bibliothek 52), Heidelberg 2015, insbes. S.V, 65 f.; 87– 124; Alderik H. Blom, Glossing the Psalms. The Emergence of the Written Vernaculars in Western Europe from the Seventh to the Twelfth Centuries, Berlin 2017, S. 11– 16. Entsprechendes gilt auch insgesamt für die Überlieferung griechischer Texte in griechischer Schrift. Siehe insbes. Bernhard Bischoff, Übersicht über die nichtdiplomatischen Geheimschriften des Mittelalters, in: Ders., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1981, S. 120 – 148. Die vorliegende Berechnung habe ich anhand der aktualisierten Datenbank des Bamberger Glossenportals (Anm. 2) durchgeführt. Zu Geheimschriftglossen im Gesamtkorpus der althochdeutschen
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Überlieferung, insbesondere in Form der sogenannten bfk-Geheimschrift, bei der die jeweiligen lateinischen Vokalzeichen durch den im Alphabet folgenden Konsonanten ersetzt werden, setzt, soweit bislang zu sehen, im 9. Jahrhundert ein, und weist einen besonderen Höhepunkt im 10. und 11. Jahrhundert auf.⁹ Ferner weisen etwa 13,5 Prozent der althochdeutsche Glossen tragenden Handschriften Griffelglossen auf, deren Überlieferung bereits im frühen 8. Jahrhundert einsetzt.¹⁰ Auch in der althochdeutschen Textüberlieferung in paratextueller Form begegnet verschlüsselte Verschriftlichung, wenn auch nur singulär.¹¹ Als Griffeleintragung ist eine entsprechende Textüberlieferung jedoch nicht bekannt.
3 Alphabet und Geheimnis Das Verständnis der Kodierungsformen der paratextuellen vernakularen Überlieferung des frühen Mittelalters wird zum Teil von einer modernen Sicht auf das Alphabet und dessen Abwandlungen verdeckt, bzw. allzu starr in eine Dichotomie von Klarschrift in Form eines üblichen Standardalphabets (etwa des lateinischen) einerseits gegenüber sogenannten Geheimschriften andererseits funktional geteilt. Jedoch ist nicht alles, was im Mittelalter anders als in lateinischen Buchstaben kodiert wurde, als ‚geheim‘ im heutigen Sinne des Wortes einzustufen.¹² Insofern ist auch die Bezeichnung ‚Geheimschrift‘ für die nachfolgend kurz zu behandelnden Schriften nicht ganz
Glossenüberlieferung siehe auch Andreas Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 240 – 268; Ders., Althochdeutsch in Runenschrift. Geheimschriftliche volkssprachige Griffelglossen (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beiheft 11), Stuttgart 2009, S. 13 – 24. Siehe Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen (Anm. 8), S. 266; Ferner entwickelt sich gegen Ende der althochdeutschen Zeit auch die vornehmlich auf das Kloster Tegernsee verweisende, sog. cglGeheimschrift, vgl. Rolf Bergmann, Ansätze zu einer Geschichte der volkssprachigen Glossographie vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 2 (2009), S. 1542– 1552, hier S. 1547. Zu den althochdeutschen Griffelglossen siehe Elvira Glaser u. Andreas Nievergelt, Griffelglossen, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 202– 229. Gemeint sind hier vornehmlich die sog. ‚Trierer Verse‘ (Trier Stadtbibliothek Hs. 564/806 8°, fol. 65v); siehe ausführlich Falko Klaes, Mittelalterliche Glossen und Texte aus Trier. Studien zur volkssprachigen Überlieferung von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts im lateinischen Kontext (Germanistische Bibliothek 60), Heidelberg 2017, S. 556 – 562, 575 f. Vgl. etwa Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen (Anm. 8), S. 252– 254; Ders., Althochdeutsch in Runen (Anm. 8), S. 21 f., 188 f.; Stephan Müller, Warum mittelalterliche Geheimschriften keine Geheimschriften sind. Am Beispiel des ‚Trierer Teufelsspruchs‘ (Trier Stadtbibliothek Hs. 564/806 8°), in: Annette Kehnel u. Diamantis Panagiotopoulos (Hgg.), Schriftträger – Textträger. Zur materialen Präsenz des Geschriebenen in frühen Gesellschaften, Berlin, München, Boston 2015, S. 169 – 178; Schiegg (Anm. 5), S. 74– 79.
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zutreffend bzw. ahistorisch; ihr Gebrauch ist heute eher als wissenschaftshistorisch bedingt einzustufen. Selbstverständlich gab es im Kontext der diplomatischen bzw. militärischen Geheimhaltungsstrategien seit der Antike eine Tradition der expliziten und funktional eindeutigen Verschlüsselung von Klartexten, in der Forschungsliteratur spricht man in diesem Zusammenhang von diplomatischen Geheimschriften.¹³ Das Vorhandensein von sogenannten Geheimschriften im nicht-diplomatischen Zusammenhang, insbesondere in der gelehrten Handschriftenüberlieferung der mittelalterlichen Skriptorien, muss jedoch in einem differenzierteren Licht betrachtet werden. Hier steht nicht unbedingt die klassische Geheimhaltung von Wissen im Vordergrund, sondern eher eine bestimmte Praxis der gelehrten Auseinandersetzung mit Schriftlichkeit.¹⁴ Wie oben erwähnt werden diese Schriften im Frühmittelalter vornehmlich zur Fixierung von Paratexten, und nicht von Basistexten verwendet. Hier liegt ein Unterschied zum späteren Mittelalter bzw. der darauffolgenden Zeit, da ab dem 12. Jahrhundert durchaus auch in der nicht-diplomatischen Überlieferung ganze Texte bzw. Textteile des Basistextes in Geheimschrift verschlüsselt werden können, etwa in der lateinischen oder volkssprachigen mantischen, alchemistischen oder sonstigen geheimwissenschaftlichen Literatur.¹⁵ Diese Beobachtung hilft, andere Funktionalitäten von sogenannten Geheimschriften im frühen Mittelalter aufzudecken. Die nicht geheimniswahrend indizierte Verwendung der sog. Geheimschriften im frühen Mittelalter kann zunächst im allgemeinen – vor allem durch irische und angelsächsische Impulse¹⁶ bedingten – Interesse des Frühmittelalters an Alphabeten und fremden Schreibsystemen verortet werden. Als prominentes Beispiel ist das in zwei Handschriften des 9. Jahrhunderts¹⁷ überlieferte Traktat ‚De inventione littera-
Vgl. Pascal Ladner, ‚Geheimschriften‘, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (2002), Sp. 1172– 1174. Vgl. auch Bischoff (Anm. 7), S. 146 f., der u. a. auf den engen Zusammenhang zwischen Glossen, Klosterschulen und Geheimschriften für die Zeit vor dem 12. Jahrhundert hinweist. Vgl. Bischoff (Anm. 7), S. 145 – 147; Ders., Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24), 4. Aufl. Berlin 2009, S. 235. Zu nennen wären etwa ein geheimschriftlich kodiertes, lateinisches Lektionar aus dem Zisterzienserkloster Villers-la-Ville (Österreichische Nationalbibliothek Wien, Handschrift 1134, 12. Jahrhundert), vgl. Bischoff (Anm. 7), S. 131; ferner die lingua ignota der Hildegard von Bingen mit ihren besonderen Überlieferungskontexten; siehe hierzu Michael Embach, Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Erudiri Sapientia 4), Berlin 2003, S. 252– 285. Vgl. Bischoff (Anm. 7), S. 142– 145; Elmar Seebold, Die Iren und die Runen. Die Überlieferung fremder Schriften im 8. Jahrhundert als Hintergrund zum ersten Auftreten von Manuskript-Runen, in: Wolfgang Haubrichs u. a. (Hgg.), Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22), Berlin, New York 2000, S. 10 – 37. Siehe die (beiden unvollständigen) Handschriften St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 876 (um 800) und Wien Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1609 (10. Jhd.); ferner die vollständige Überlieferung in zwei Handschriften des 12. Jahrhunderts (Wien Österreichische Nationalbibliothek,
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rum‘¹⁸ zu nennen, das verschiedene Alphabet(system)e zusammenstellt, darunter Runen, Abkürzungssysteme und auch die sogenannten notae Bonifatii. Gemeint sind damit zwei kryptographische Verfahren (die Bonifatius wohl vermittelte, aber nicht erfand). Sie beinhalten einerseits die Ersetzung der Vokale durch Punkte, andererseits die Ersetzung der Vokale durch den jeweils nachfolgenden Konsonanten im Alphabet (die bereits erwähnte bfk-Geheimschrift).¹⁹ Diese Alphabetüberlieferung (vgl. Abb. 1), auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann, ist zugleich auch in einer religiös-auratischen, auf die Bibelüberlieferung bezogenen Dimension zu sehen. Sie kann zweifellos auch einen ‚Verbergungscharakter‘ aufweisen, zielt aber aufgrund der allgemeinen Bekanntheit bzw. der Einfachheit der Systeme wohl nicht primär auf eine Geheimhaltung im diplomatischen Sinne ab. Alphabete und sog. Geheimschriften begegnen neben entsprechenden gezielten Sammlungen auch als Federproben oder Zusätze auf frei gebliebenem Pergamentraum; sie finden sich aber auch in chiffrierten paratextuellen Eintragungen wie etwa Schreibervermerken, Kolophonen, Glossen oder nicht-basistext-zentrierten Zusätzen. Bernhard Bischoff hält in diesem Zusammenhang fest: „Ein eigentümlich spielerisches Verhältnis hatte das Mittelalter zur Geheimschrift. Man bediente sich ihrer in vielen Fällen, in denen eine wirkliche Verschleierung weder begründet noch ernsthaft beabsichtigt war.“²⁰ Bischoff sieht hierin durchaus auch eine praktische Anwendung des Interesses der mittelalterlichen Schreiber an Alphabetsystemen und anderen Schriften.²¹
Codex 1761); Universitätsbibliothek Heidelberg (Ms. Salem 9.39). Siehe René Derolez, Runica Manuscripta. The English Tradition, Brügge 1954, S. 295 – 308, 353. Vgl. B. Rabani de inventione linguarum. Ab Habræa ad Theodiscum, et notis antiquis, hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 112), Paris 1878, Sp. 1579 – 1584; Zur Überlieferung siehe Bischoff (Anm. 7), S. 124, 142; Piergiuseppe Scardigli, Inchoavit et grammaticam patrii sermonii, in: Annemarie Etter (Hg.), O-o-pe-ro-si: Festschrift für Ernst Risch zum 75. Geburtstag, Berlin, New York 1986, S. 654– 660. Siehe hierzu Wilhelm Levison, England and the Continent in the Eighth Century, Oxford 1949, S. 290 – 294; Derolez (Anm. 17), S. 279 – 284; Bischoff (Anm. 7), S. 124, 137; Thomas Klein, Althochdeutsch und Altniederländisch, in: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 57 (2003), S. 19 – 60, hier S. 49 f.; Seebold (Anm. 16), S. 24 f.; Man vgl. auch die Angaben zu Substitutionsverfahren bei Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. v. Wallace M. Lindsay. Oxford 1911, ND Oxford 1987, Buch I, XXV („De notis litterarum“). Bischoff (Anm. 15), S. 234. Zur spielerischen Funktion von Geheimschriften siehe bereits Wilhelm Wattenbach, Anleitung zur lateinischen Paläographie, Leipzig 1886, S. 12– 14. Vgl. Bischoff (Anm. 7), S. 144. Ein solches, im Kontext der Schule verankertes praktisches Interesse an Alphabeten kann in der Handschrift Trier, Bibliothek des Priesterseminars, Hs. 61, fol. 39r–41r und 115v beobachtet werden, die u. a. verschiedene Runenalphabete sowie Anwendungen im Kontext eines geheimschriftlichen Gebrauchs überliefert. Sieh hierzu etwa Derolez (Anm. 17), S.102– 104 u. passim; Klaes (Anm. 11), S. 346 – 349; Michael Embach u. Andrea Rapp (Hgg.), Aufgeschlagen: Mittelalterliche Handschriften aus der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier. Katalog zur Ausstellung in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Trier 2007, S. 49 – 52.
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Abb. 1: Bern, Burgerbibliothek, Cod. 207, f. 1br – Corpus Grammaticorum Latinorum, Fleury (?), zw. 779 – 797, Alphabete mit übergeschriebenen lateinischen Buchstaben
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Man kann darüber diskutieren, ob eine spielerische Haltung tatsächlich im Vordergrund steht; interessant ist jedoch, dass durch die Verwendung von anderen Alphabeten als dem lateinischen in sogenannten Verschlüsselungsverfahren neue mediale Möglichkeiten für die Gestaltung der schriftlichen Materialität von Paratexten geschaffen wurden, die auf eine Andersartigkeit des Umgangs mit den in solchen Schriften enkodierten Einträgen hindeuten. So sieht die neuere Glossenforschung die funktionale Dimension von geheimschriftlichen (lateinischen oder volkssprachigen) Glossierungen nicht mehr hauptsächlich im Bereich der Geheimhaltung bzw. der Verhüllung von tabuisiertem Sprechen, für den es aber dennoch sowohl in der Glossen- als auch in der Textüberlieferung vereinzelte, aber nicht strikt monofunktional zu deutende Beispiele gibt.²² Es wird vielmehr eine funktionale Vielfalt der Verschriftungsverfahren im Bereich der Anwendung von sog. Geheimschriften hervorgehoben, die es noch in einer Gesamtperspektive zu erkunden und zu ordnen gilt.²³
4 ‚Schreiben zweiten Grades‘ und ‚Anderssichtbarkeit‘ Das Augenmerk richtet sich somit auf andere funktionale Bereiche und auch – ganz im Sinne eines material turn – auf die Implikationen der materiellen Erscheinungsformen dieser markierten Kodierung von Schriftlichkeit gegenüber ihrer unmarkierten Variante, dem klassischen lateinischen Alphabet. Damit wird auch das Sehen bzw. das Visuelle als Verschriftlichungsfaktor neu bewertet. Dies betrifft insbesondere Layoutstrategien und das Zusammenspiel von lateinischem Basistext und dessen Glossierung auf der Pergamentseite, ähnlich wie man heute solche sekundären Einträge kursivieren oder andersfarbig hervorheben würde. Hier können sowohl schreiber- als auch leserzentrierte Funktionalitäten herausgearbeitet werden. Das Auge des Lesers erkennt die Glossierung bzw. das ‚Schreiben zweiten Grades‘ nicht nur durch die in der Regel kleinere Glossenschrift bzw. ihre Realisierung durch eine weitere Hand als die des Schreibers, sondern auch durch die visuelle Andersartigkeit der Kodierung, die bis an die Grenzen einer Geheimschrift gehen kann: Textzusätze in bfk-Schrift sehen durch ihre andere, unübliche Verteilung von mittleren und hohen Schäften für das
Siehe zur funktionalen Vielfalt geheimschriftlicher Glossierung Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen (Anm. 8), S. 263 – 266; Ders., Althochdeutsch in Runenschrift (Anm. 8), S. 21 f., der darauf hinweist, dass „[g]erade inhaltliche Relevanz […] den Glossengeheimschriften völlig zu fehlen“ scheint. Vgl. zuletzt im Bereich der althochdeutschen Glossographie Oliver Ernst, Die Griffelglossierung in Freisinger Handschriften des frühen 9. Jahrhunderts (Germanistische Bibliothek 29), Heidelberg 2007, S. 320 – 332; Schiegg (Anm. 5), S. 249 – 256; Klaes (Anm. 11), S. 560 – 562.
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rezipierende Auge anders aus als ihre unkodierten Pendants.²⁴ Sie ermöglichen dadurch ein schnelles, intuitives ‚Sortieren‘ von Wissen und Zuordnungen von Informationen. Manchmal sind nur die althochdeutschen Glossen kodiert, nicht die lateinischen (vgl. Abb. 2), so dass diese visuell auf der Pergamentseite anders markiert erscheinen. Auch Punktgeheimschriften, in der etwa Vokale durch Punkte ersetzt werden, stechen mit ihrer Vermischung unterschiedlicher Zeichensysteme durch ihre Andersartigkeit für das Auge hervor, und generieren dadurch eine andere semiotischvisuelle Markierung. Andreas Nievergelt fasst (in scheinbar paradoxer Weise, da ja zunächst ein Verbergen zu vermuten wäre), ein allgemeines Merkmal von Glossengeheimschriften damit zusammen, „Blickfang zu sein und hervorzutreten“.²⁵ Für den Schreiber bzw. Abschreiber, der eine geheimschriftliche Kodierung einsetzt, vollzieht sich das ‚Schreiben zweiten Grades‘ ebenfalls anders gegenüber der unmarkierten lateinischen Linearität des Basistexts, indem die Glossen entsprechend vorsätzlich ‚verhüllt‘ und somit mit einer ‚Anderssichtbarkeit‘ versehen werden. Layout-Faktoren spielen also nicht nur bei der Herstellung der Handschrift bzw. dem Abschreiben des Basistextes eine Rolle: sie wirken auch auf die späteren Leser und Benutzer dieser Handschrift nach, vielfach über mehrere Jahrhunderte hinweg. Die Codices werden zu Behältern für weitere Eintragungen und Texte, die nicht bei der Anlage der Handschrift geplant waren und auch nicht unmittelbar in Beziehung zum Basistext stehen. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die Textüberlieferung des Althochdeutschen nicht nur als paratextuelles Blattfüllsel überliefert sein kann, sondern zum Teil auch kopfständig zum Basistext. Das ‚Schreiben zweiten Grades‘ nimmt hier gewissermaßen nicht nur Stellung zum Basistext, es ist ähnlich anderssichtbar verhüllt (auch im Hinblick auf die Wirkung der Schäfte) wie etwa in einer bfkGeheimschrift.²⁶ Die ‚Anderssichtbarkeit‘ im Hinblick auf den benutzten Verschriftungscode kann neben Abwandlungen des lateinischen Alphabets (etwa als bfk-Geheimschrift im Sinne einer partiellen Substitutionschiffrierung) auch andere Formen der Verhüllung enthalten: Für die paratextuelle, althochdeutsche Überlieferung begegnet etwa neben der Punktegeheimschrift auch die Verwendung anderer Alphabete als das Lateinische, die auch mit lateinischen Minuskeln versetzt sein können. Zu diesen ‚fremden‘
Vgl. zur optischen Absetzung von Glosseneinträgen auch Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen (Anm. 8), S. 266; ferner Ders., Glossenschrift, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 269 – 281. Nievergelt, Althochdeutsch in Runenschrift (Anm. 8), S. 17, 23 (mit Hinweis auf die Funktion einer „schriftbildlichen Auszeichnung“). Zur ‚Kopfständigkeit‘ paratextueller Überlieferungsformen siehe auch Moulin (Anm. 3); zum Zusammenhang von paratextueller Geheimschriftverwendung und Layout siehe etwa Claudine Moulin, Paratextuelle Netzwerke. Kulturwissenschaftliche Erschließung und soziale Dimensionen der althochdeutschen Glossenüberlieferung, in: Gerhard Krieger (Hg.), Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. Akten des 12. Symposiums des Mediävistenverbandes 2007 in Trier, Berlin 2009, S. 56 – 77, hier S. 70; Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen (Anm. 8), S. 266.
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Abb. 2: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 845, p. 11 – Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae, s. X/XI, mit althochdeutschen Glossen in bfk-Geheimschrift
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Alphabeten zählen insbesondere Glossen in Runenschrift²⁷ oder in griechischen Buchstaben²⁸, bei denen eine vollständige Substitution der Ausgangsbuchstaben vorgenommen wird. Einen besonderen Fall stellen althochdeutsche Glossen in Neumengeheimschrift dar, die insgesamt nur sehr spärlich belegt sind.²⁹ Bei solchen selteneren (oftmals auf lokale bzw. auf bestimmte Schreibtraditionen oder Einzelpersönlichkeiten begrenzten) Kodierungsverfahren, wie etwa Runen- oder Neumengeheimschriften, hat die Forschung neben visuellen, layout-bezogenen Gesichtspunkten insbesondere auf eine intellektuelle Dimension des gelehrsamen „Ausprobierens“ hingewiesen,³⁰ die auf ein Ausloten der praktischen Anwendbarkeit komplexerer Systeme abzielt. Dies knüpft wiederum an den Bischoffschen Ansatz einer intellektuellen Spielerei an, die gleichsam auch als Erprobungslabor für den Umgang mit Schriften fungieren kann. Nicht zuletzt sollte erwähnt werden, dass unterschiedliche geheimschriftliche Verfahren auch in einer Handschrift angewendet werden können,³¹ und dass fremde Alphabete bzw. andere Zeichenformen wie Neumen auch in anderen Kontexten der paratextuellen Praxis, etwa in der Setzung von Verweiszeichen zwischen Lemma und Glosse bzw. Kommentar, verwendet wurden. Diese Beobachtung hilft den Blick aus der engeren Praxis der Glossierung herauszulösen und zeigt, dass die Anwendung anderer Alphabetsysteme, zumindest in bestimmten Skriptorien und Klosterschulen des Mittelalters, zu einem Reservoir an Schriftsystemen bzw. einem Vorrat an graphetischen Formen gehörte, die vielfältig und zum Teil in komplexen Kombinationsmöglichkeiten in der paratextuellen Gestaltung angewendet wurden.
Siehe Bischoff (Anm. 7), S. 128; Derolez (Anm. 17); Nievergelt, Althochdeutsch in Runenschrift (Anm. 8). Siehe etwa die Windrose in der Handschrift Paris, BNF lat. 10195, fol. 1v, mit Eintragung der althochdeutschen Bezeichnungen der Himmelsrichtungen mit griechischen Buchstaben; vgl. hierzu Elvira Glaser u. Claudine Moulin, Die althochdeutsche Überlieferung in Echternacher Handschriften, in: Michele Camillo Ferrari, Jean Schroeder u. Henri Trauffler (Hgg.), Die Abtei Echternach 698 – 1998 (Publications du CLUDEM 15), Luxembourg 1999, S. 103 – 122, hier S. 116 f.; zu althochdeutschen Glossen in griechischer Schrift siehe insbesondere Ernst (Anm. 23), S. 381– 387; ferner Bischoff (Anm. 7), S. 126 f. Insgesamt sind bislang nur zwei Handschriften mit althochdeutscher Neumengeheimschrift bekannt (Archiv des Bistums Augsburg, Hs. 6; München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 3860a), siehe hierzu Schiegg (Anm. 5), S. 211. Zur Neumengeheimschrift vgl. Bischoff (Anm. 7), S. 136; Schiegg (Anm. 6), S. 216 – 228 (mit zahlreichen Abbildungen). Aus kulturhistorischer Sicht, insbesondere in Hinblick auf die wisigothische Überlieferung, siehe zuletzt Elsa De Luca u. John Haines, Medieval Musical Notes as Cryptography, in: Katherine Ellison u. Susan Kim (Hgg.), A Material History of Medieval and Early Modern Ciphers (Material Readings in Early Modern Culture), New York, Oxon 2018, S. 30 – 47. Siehe etwa Schiegg (Anm. 5), S. 256, 329; Nievergelt, Althochdeutsch in Runenschrift (Anm. 8), S. 52, 188 f. Vgl. etwa Schiegg (Anm. 5), S. 209 – 320 zur Handschrift Archiv des Bistums Augsburg, Hs. 6, die Glossen sowohl in bfk-Geheimschrift als auch in Neumengeheimschrift aufweist.
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5 Codex und Griffel Fragen der Grundbedingungen von Schriftlichkeit und Layouts sind eng verbunden mit Fragen nach der Materialität des Schreibinstrumentes. Neben Feder und Tinte, die für das Abschreiben des Basistextes grundlegend sind, stehen dem mittelalterlichen Schreiber andere Instrumente wie etwa der Rötel- oder Farbstift sowie der Griffel zur Verfügung. Letzterer wird bereits bei der Vorbereitung der mise en page, etwa bei der Markierung des Textrahmens und der Blindlinierung der Zeilen, verwendet. Auch der Handschriftenbenutzer bzw. Leser wird – zumindest in benediktinischem Kontext – den Griffel zur Hand gehabt haben, den er zusammen mit einer Wachstafel als ein Element der persönlichen Grundausstattung führte. Als Schreibinstrument auf Pergament ist der Griffel markiert, denn mit ihm wird die Verschriftlichung von Basistexten zwar vorbereitet, nicht aber als deren endgültige Fixierung durchgeführt. Seine Spuren sind für das heutige Auge nicht immer auf Anhieb zu erkennen. Entsprechend lange wurden Griffeleinträge in der Forschung nicht zur Kenntnis genommen.³² Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten für die Glossenforschung grundlegend geändert; beispielsweise in der Kunstgeschichte bleiben Griffelzeichnungen jedoch noch heute eher außerhalb des wissenschaftlichen Fokus, eventuell aufgrund ihres eher zeichenhaften, semiotischen und nicht so sehr bildlichen, künstlerischen Wertes. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Glossenüberlieferung tintenlos mit dem Griffel eingeritzt oder eingedrückt wurde. Auch die Griffelglossierung beruht – wie das Interesse an Alphabeten und Geheimschriften – auf einer insularen Praxis, die im Kontext der irisch-angelsächsischen Klostergründungen auf dem Kontinent weitervermittelt wurde.³³ Die Gründe für Griffelglossierungen sind vielfältig. Zwar sind auch hier Kontexte der Geheimhaltung oder Tabuisierung vorstellbar, aber die jüngste Forschung³⁴ hat andere Szenarien greifbar werden lassen, etwa eine neutrale Handhabung des Griffels bei der Textlektüre als individuelles Schreibinstrument jenseits von Feder und Tinte.³⁵ Ferner kann die Griffelglossierung auch einen Akt der Vorbereitung im Vorfeld einer entsprechenden Fixierung der Glossen durch Feder und Tinte darstellen. Hier sind Griffelglossen ähnlich wie Griffelvorzeichnungen als Skizzen zu werten – nach der anschließenden Ausführung in Farbe oder Tinte (zum Teil auch in Geheimschrift) treten sie in den Hintergrund.³⁶ In Hinblick auf das verwendete Schriftsystem sind
Siehe den Überblick bei Glaser u. Nievergelt (Anm. 10). Vgl. Glaser u. Moulin (Anm. 28), S. 105; Glaser u. Nievergelt (Anm. 10), S. 204. Siehe insbesondere den Beitrag von Claudia Wich-Reif im vorliegenden Band. Siehe Glaser u. Nievergelt (Anm. 10), S. 224– 228; Claudine Moulin, Farsahhan sih selban imu …, lihhamun hreinnan … Alles nur Worte? Askese in Scriptorium und Bibliothek, in: Gerhard Krieger u. Gottfried Kerscher (Hgg.), Askese im Mittelalter. Beiträge zu ihrer Praxis, Deutung und Wirkungsgeschichte (Das Mittelalter 15), Berlin 2010, S. 15 – 37, hier S. 19 f. Ferner gibt es Fälle der Interaktion zwischen Griffel- und Geheimschriftglossierung in verschiedenen Glossierungsschichten einer Handschrift, die also beide Phänomene aufweisen und u. a. im
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Griffelglossen, soweit bislang zu sehen, mehrheitlich an eine normalschriftliche Realisierung gebunden. Althochdeutsche Griffelglossen begegnen nur vereinzelt auch in anderen Alphabetschriften, etwa mit griechischen Buchstaben, in Runenschrift, in bfk-Geheimschrift oder auch in abgekürzter Form. Ihre seltenere Verwendung in einem solchen kombinierten Vorkommen ist somit markiert und eröffnet funktionale Deutungsfelder, die aufgrund der Singularität der Erscheinungen einzeln zu deuten sind und insbesondere intellektuell-experimentelle Elemente aufweisen.³⁷
6 Schriftzeichen, Wörter, Bilder Paratextuelle Überlieferungsformen, die von der üblichen Verwendung des lateinischen Alphabets abweichen, begegnen nicht nur in der Textüberlieferung im engeren Sinne, sondern auch außerhalb der Einbettung in eine geschriebene Textstruktur, etwa in geheimschriftlichen bzw. andersschriftlichen Einträgen in der bildenden Kunst. Zur Illustration dieses noch nicht zusammenhängend erforschten Phänomens sollen zwei lateinische Beispiele angeführt werden, an die auch weiterführende Überlegungen zu den hier aufgeworfenen Fragen anknüpfen können. Ein frühes Beispiel stellen die Fresken in St. Maximin in Trier dar, die vor 935 bzw. in das letzte Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts datiert werden (Abb. 3).³⁸ Sie überliefern in einer Kreuzigungsszene eine in bfk-Geheimschrift verfasste lateinische Inschrift. Die beiden kodierten Lexeme KXDFXS KNFFLKX (>Judeus infelix) stehen über den beiden Schergen zwischen Kreuz und Longinus respektiv Kreuz und Stephaton. Die Inschrift stellt eine der wenigen erhaltenen Geheimschriften auf ikonographischen, künstlerischen Artefakten des frühen Mittelalters dar. Basierend auf einem Kodierungsverfahren, das in der schriftlichen Praxis der Zeit geläufig war, ist ihre Anwendung, so Bernhard Bischoff, „unmittelbar aus dem Buchwesen hervorgegangen“.³⁹ Neben dieser Trierer Inschrift weist Bischoff in seiner Übersicht über die nichtdiplomatischen Geheimschriften des Mittelalters noch auf die „winzige Reduktion des Alphabets“⁴⁰ auf dem berühmten illuminierten Gregorblatt (Stadtbibliothek Trier, Hs. 171/1626, um 983/84) hin (Abb. 4), das einst einer auf das Jahr 983/84 zu datie-
Kontext der oben erwähnten visuellen Gestaltung deutbar sind; siehe hierzu etwa Andreas Nievergelt, Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b. Ein Beitrag zur Funktionalität der mittelalterlichen Griffelglossierung (Germanistische Bibliothek 28), Heidelberg 2007, S. 735 – 760. Siehe hierzu insbesondere die Untersuchungen von Nievergelt, Althochdeutsch in Runenschrift (Anm. 8), S. 189 – 192; Ernst (Anm. 23). Siehe Matthias Exner, Die Fresken der Krypta von St. Maximin in Trier und ihre Stellung in der spätkarolingischen Wandmalerei (Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes und seiner Nachbargebiete Beiheft 10), Trier 1989, S. 21– 29, 78 – 79, 211, 221, 239; Adolf Neyses, Die Baugeschichte der ehemaligen Reichsabtei St. Maximin bei Trier (Kataloge und Schriften des bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Trier VI/1), Bd. 1, Trier 2001, S. 96 – 99; Bischoff (Anm. 7), S. 124. Bischoff (Anm. 7), S. 147. Ders., S. 147.
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Abb. 3: Fresko mit Inschrift in bfk-Geheimschrift, Kreuzigung, Westwand der karolingischen Krypta, St. Maximin Trier (vor 935; jetzt Museum am Dom Trier. Foto: Museum, R. Schneider).
renden Handschrift mit der Briefsammlung von Gregor dem Großen (dem Registrum Gregorii) vorgebunden war.⁴¹ Bei erstem Hinsehen handelt es sich nicht um eine als im engeren Sinne paratextuell zu deutende Eintragung zu einem Bild (wie beim obigen Fresko), sondern zunächst um die bildliche Repräsentation eines Textes auf der vom Schreiber gehaltenen Wachstafel.⁴² Sie ist Bestandteil der wohl auf Paulus Diaconus⁴³ zurückgehenden Darstellung des hinter einem Vorhang seine Hezekielauslegung diktierenden Heiligen Gregor, bei der sein Schreiber zu sehen ist, wie er – aufgrund der eingetretenen, kontemplativen Diktatpause des Autors – in diesen Vorhang mit dem Griffel aus Neugierde ein Loch bohrt. Das mit dem Griffel auf der Wachstafel Geschriebene ist für sich genommen ein Basistext. Er steht – so die Ergebnisse von Carl
Siehe zur Handschrift bzw. den erhaltenen Blättern Carl Nordenfalk, Archbishop Egbert’s ‚Registrum Gregorii‘, in: Katharina Bierbrauer, Peter K. Klein u. Willibald Sauerländer (Hgg.), Studien zur mittelalterlichen Kunst 800 – 1250. Festschrift für Florentine Mütherich zum 70. Geburtstag, München 1985, S. 87– 100; Hartmut Hoffmann, Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 30/1), Bd. 1, Stuttgart 1986, S. 489 f.; Franz Ronig, Meister des Registrum Gregorii, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. Aufl., Bd. 5 (1999), S. 133. Siehe die ausführliche Bildbeschreibung und Analyse des Bildprogramms bei Brigitte Nitschke, Die Handschriftengruppe um den Meister des Registrum Gregorii (Münstersche Studien zur Kunstgeschichte 5), Recklinghausen 1966, S. 35 – 49; Carl Nordenfalk (Anm. 41). Paulus Diaconus, S. Gregorii Magni Vita, hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 75), Paris 1902, Sp. 57– 58, 222; vgl. Carl Nordenfalk, An early medieval shorthand alphabet, in: Speculum 14 (1939), S. 443 – 447, hier S. 443; Nitschke (Anm. 42), S. 35 f.
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Nordenfalk⁴⁴ – in einer an karolingische Minuskelformen angelehnten PseudoKurzschrift, die im strengeren Sinne eine Alphabet-Chiffrierung durch Substitution darstellt und wohl als eigenes System des Trierer Gregormeisters gesehen wird. Die Textstelle überliefert eine die abgebildete Szene verdeutlichende, lateinische Bibelstelle (Sir 14,22; Beatus | vir qui in | sapienti | a sua mo | rabitur |; dt. „Selig der Mann, der über die Weisheit nachdenkt“).⁴⁵ Die Darstellung ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zunächst zeigt sie das zweite zentrale, allerdings im Hinblick auf die Texttransmission flüchtige Medium der frühmittelalterlichen Schriftlichkeit: das Wachstäfelchen mitsamt dessen Schreibinstrument, dem Griffel. Wachstäfelchen und Griffel bilden im Bild das symmetrische Pendant zur Hauptüberlieferungsform der Schriftlichkeit, dem Pergamentkodex, der in doppelter Form (als geschlossenes Buch in Gregors rechter Hand und als offenes auf einem Lesepult, auf der seine Linke ruht) in der rechten Bildhälfte dargestellt wird. Schreiben und Lesen werden somit komplementär in der Miniatur in Szene gesetzt. Ferner gewährt die Darstellung Einblick in den Umgang mit Wachstafel und Griffel im Hinblick auf die verwendeten Kodierungsformen – das Täfelchen bietet in der Regel wenig Platz, und so haben wohl auch Kurzschriften oder andere schnellere Schreibverfahren zur Niederschrift von Entwürfen bzw. entsprechenden Basistexten beim Diktieren Anwendung gefunden. Was in einer realen Schreibsituation als unmarkierter Vorgang zu deuten ist, bekommt durch die Verwendung in der bildlichen Darstellung eine neue, sekundäre Dimension: Das auf der Tafel Geschriebene wird gleichsam als mise en abyme von einem Text in einem Bild in einem Pergamentkodex wieder markiert, es wird – durch die kurzschriftähnliche ‚Geheimschrift‘⁴⁶ – für das Auge der Nichtkundigen zunächst verhüllt, zurückgenommen und verborgen. Gleichzeitig entfaltet der auf dem Täfelchen festgehaltene Basistext paratextuelle Kraft gegenüber dem Bild und fungiert quasi als – ‚verschlüsselter‘ – Kommentar bzw. Botschaft zur abgebildeten Szene. Diese starke paratextuelle Deixis erklärt auch, warum der Text kein Gregorzitat (etwa aus den Briefen oder dessen Hezekielkommentar) enthält – denn mit dem Bibelzitat verweist er in einem ersten Schritt auf das Nachdenken und die göttliche Inspiration durch die sich in der anderen Bildhälfte
Siehe Nordenfalk (Anm. 43), S. 445: „The most significant feature is that the characters never indicate words or syllables but only letters. […] The alphabetical structure makes the present shorthand akin to an ordinary minuscule writing.“; Nordenfalk zeigt in seiner Analyse, dass das Verfahren sich ausführlicher in den Miniaturen des Strahov-Evangeliars (Kloster Strahov, Ms. DF III 3) wiederfindet, die im Umfeld der Gruppe um den Gregormeister entstanden sind; vgl. auch Bischoff (Anm. 7), S. 130, der das Zeichenalphabet wie folgt beschreibt: „Einfache, durch Weglassung, Umkehrung und Brechung entstandene Zeichen, die der Miniator benützt, um in winzigem Maßstab Bibelverse in aufgeschlagenen Büchern und auf der Schreibtafel des Notars Petrus auf dem Trierer Gregor-Bild unterzubringen“. Das Verfahren stellt also keine tironischen Noten dar. Siehe zur Entzifferung und Identifizierung der Stelle Nordenfalk (Anm. 43), S. 443 – 447; Nitschke (Anm. 42), S. 36. Nordenfalk (Anm. 43), S. 446, Anm. 3 weist auf die fließenden Grenzen hin: „It is not always quite easy to distinguish between a shorthand and a cipher script.“
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befindliche Taube auf Gregors Schulter als Symbol des Heiligen Geistes. Der Text könnte jedoch noch weitere Funktionen besitzen, die in der kunsthistorischen Forschungsliteratur unterschiedlich gedeutet wurden. Brigitte Nitschke⁴⁷ etwa setzt die Bibelstelle in Verbindung zu dem abgebildeten Schreiber und dessen positiver Neugierde. Für Carl Nordenfalk⁴⁸ wird mit der Textstelle auf eine Instanz außerhalb des Bildes selbst verwiesen, und zwar auf Kaiser Otto II., jedenfalls sofern – wie lange Zeit vermutet – die Miniatur der Handschrift Chantilly, Musée Condé, Ms. 14 bis⁴⁹ sich im ursprünglichen Codex tatsächlich dem Trierer Blatt gegenüber befand. Aber auch ohne sichere Klärung der genauen, deiktischen Funktion des verschlüsselten Paratextes auf dem Wachstäfelchen, behält dieser eine Bedeutung für das Verständnis des Gregorblattes. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die andere sich anbietende Schreibfläche der Miniatur – das vor Gregor auf dem Lesepult aufgeschlagene Buch – leer bleibt. Die beschriebene Fläche erscheint also als Attribut des aktiv Schreibenden, ähnlich wie die mit demselben geheimschriftlichen Verfahren gefüllten Blätter in den Miniaturen der vier Evangelisten des im Umkreis des Gregormeisters entstande-
Nitschke (Anm. 42), S. 37, die die Kenntnis der gesamten Bibelstelle (Sir 14,1– 15,10) für die Deutung des Bildes voraussetzt: „Erst die Kenntnis dieser Textstelle erlaubt es, die Miniatur in dem ihr unterlegten Sinn zu verstehen. Der dargestellte Vorgang nimmt über seinen Legendencharakter hinaus symbolisch-belehrende Deutung an. Der Schreiber wird in seinem Handeln zum Vorbild erhoben. Er vertritt jene Menschen, die der Weisheit nachforschen und ihr folgen, heimlich an ihrer Türe horchen und ihre Hütte an ihrem Haus aufrichten. Gregor erscheint als derjenige, der die Weisheit innehat, der sie auslegt und lehrt und ihr Haus besitzt.“ Nitschke (S. 37 f.) weist in ihren Ausführungen zudem darauf hin, dass die im Wachstäfelchen verborgene Stelle aus Ecclesiasticus modellgebend für den architektonischen Aufbau der Miniatur sei – die Stelle würde quasi den Entwurf zur bildlichen Ausführung liefern. Nordenfalk (Anm. 41), S. 94 f.: „The use of the sentence that does not come from any of St. Gregory’s own writings undoubtedly requires an explanation and makes sense only if addressed to someone outside the picture with whom St. Gregory also seems to be concerned by holding his head slightly turned half in profile to the right. That someone to whom the pope’s adage applies can only be the emperor who consequently must have had his plyce [sic] on the facing page to the right: […] The pairing of the Chantilly and the Trier miniatures as a diptych is thus strongly motivated from the point of view of content.“ Chantilly, Musée Condé, Ms. 14 bis; siehe Nordenfalk (Anm. 41), S. 89 – 96. Die Annahmen der Zusammengehörigkeit beider Blätter sowie die Identifizierung der auf der Chantilly-Miniatur dargestellten Kaisergestalt als Otto II. sind umstritten; vgl. Hoffmann (Anm. 41), S. 468 f., der jedoch auch Zweifel daran äußert, ob die Einzelblätter aus Chantilly und Trier je miteinander verbunden waren. Zu dieser Problematik und zur Identifizierung des auf der Miniatur dargestellten Kaisers siehe etwa Ulrich Kuder, Die Ottonen in der ottonischen Buchmalerei. Identifikation und Ikonographie, in: Gerd Althoff u. Ernst Schubert (Hgg.), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen 46), Sigmaringen 1998, S. 137– 234, hier S. 138 f.; Ludger Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit (Orbis Mediaevalis 2), Berlin 2001, S. 368 f.
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nen Strahov-Evangeliars, anhand deren Analyse Carl Nordenfalk den Text auf dem Wachstäfelchen des Gregorblattes entziffern konnte.⁵⁰ Das Gregorblatt zeigt noch eine andere Verwendung von Schrift neben dem Text auf der Wachstafel. Die beiden dargestellten Protagonisten werden im Bild schriftlich gekennzeichnet (in der Abbildung kaum sichtbar): über dem Nimbus von Gregor steht GREGORIUS PP, links und rechts vom geknoteten Vorhang über dem Schreiber NO | TA | RI | US. Auch hier tritt die Schrift, in weißer Farbe ausgeführt, in der Bildkomposition für das Auge zurück; dieses bei mittelalterlichen Darstellungen häufig vorhandene, schriftliche Fixieren der an sich eindeutigen Personen wirkt nochmals wie ein wörtliches, aber zurückgenommenes Einschreiben der Szene im Bild, in dem auch das theologisch zentrale Verhältnis zwischen gesprochenem Wort, göttlicher Eingebung und Geschriebenem festgehalten wird.
7 Ausblick: Seite, Rand und Zwischenraum Obwohl für unterschiedliche Durchführungs- und Sichtbarkeitsgrade von Verschriftungspraktiken stehend, wirken Geheimschriften, andere Notationsverfahren und Griffeleintragungen als gängige Gestaltungsmittel der paratextuellen Praxis im Spiel der mise en page des mittelalterlichen Codex, für dessen textuelle und gelegentlich auch bildliche Gestaltung. Insgesamt wird sowohl bei Geheimschrifteinträgen als auch bei Griffelglossierungen in der Interaktion mit der beschriebenen Seite ein – insbesondere auch diachron fassbares – Spannungsfeld zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren sowie dem Markierten und Unmarkierten eröffnet, das entsprechende Zwischenstufen enthält: Sichtbares kann Verborgenes (sog. ‚Geheimschriften‘) enthalten, aber zugleich nicht geheim sein; vermeintlich Unsichtbares (Griffeleinträge) kann verborgen bzw. hintergründig wirken, muss aber ebenfalls nicht unbedingt geheim sein. Umgekehrt kann das Geheimnis theoretisch verschlüsselt oder mit dem Griffel eingetragen werden; dieser Fall stellt jedoch die Ausnahme im Frühmittelalter dar. Dem Geheimen (im klassischen Sinne) begegnet man am ehesten in der verhüllenden Zurücknahme der Schreiberhand, wenn der Name des Schreibers in Geheimschrift platziert wird, oder (eher orale) Zauber- bzw. Segenssprüche am Blattrand schriftlich festgehalten werden.⁵¹ Zur Merkmalsreihe ‚sichtbar‘, ‚unsichtbar‘, ‚verborgen‘ und ‚verhüllt‘ kann noch der Begriff der ‚Andersschriftlichkeit‘ (bzw. der ‚Anderssichtbarkeit‘ aus Leserperspektive) in der Deutung frühmittelalterlicher Paratexte ergänzt werden. Die Aura des Anderen, mit der die Buchstabentabellen, Buchstabenreihen und vielleicht auch manche Randeinträge in frühmittelalterlichen Codices versehen sind, Die Verwendung von kurzschriftähnlichen bzw. -simulierenden Schriften auf Schreibflächen in Miniaturen lässt sich in eine entsprechende, vor allem karolingische Tradition einordnen, vgl. Nordenfalk (Anm. 43), S. 447. Siehe Bischoff (Anm. 7), S. 147; Klaes (Anm. 11), S. 575 f.
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Abb. 4: Trier, Stadtbibliothek, Hs. 171a/1626a, Trier, um 983/84, ‚Gregorblatt‘ (Meister des Registrum Gregorii), Einzelblatt; Foto: A. Runkel, Stadtbibliothek Trier)
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und die prinzipielle Fertigkeit des Umgangs mit verschlüsselten Schriften im Frühmittelalter wird sich im Laufe der Jahrhunderte auch auf die Kodierung von geheimem Wissen in Basistexten außerhalb des diplomatischen Bereichs ausdehnen.⁵² Die vornehmlich paratextuell fokussierte Praxis geht dabei verloren; das Ende ihrer Verwendung im Bereich der Klosterschulen legt Bernhard Bischoff ins 12. Jahrhundert.⁵³ Ein Höhepunkt des Einsatzes von Geheimschriften in Basistexten wird insbesondere in den volkssprachigen geheimwissenschaftlichen und kabbalistischen Traktaten des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit erreicht. In gewisser Weise hinterlassen die paratextuellen Praktiken ihre Spuren bis in den heutigen Sprachgebrauch, und zwar in formelhaften Wendungen wie am Rande bemerkt und zwischen den Zeilen. Während erstere von der räumlichen Marginalität der glossierenden Annotation auf deren inhaltliche Marginalität im Sinne des vermeintlich Beiläufigen hinweist, greift die zweite Wendung auf den Zeilenzwischenraum als Ort des Verborgenen, des Unsichtbaren, des vermeintlich – wie in der Griffelglossierung – nicht auf Anhieb unmittelbar visuell Fassbaren zurück. In beiden Redewendungen bleibt der Akt des Glossierens lebendig.
Siehe zur Kryptographie und Steganographie der Frühen Neuzeit sowie Geheimcodes der Moderne den Überblick bei Giorgio Costamagna, Kryptographie, in: Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Bd. 2 (1996), S. 1608 – 1616; Katherine Ellison, A Cultural History of Early Modern English Cryptography Manuals, Abingdon, Oxon 2017. Bischoff (Anm. 7), S. 145 f.
Claudia Wich-Reif
‚Marginalisierte‘ Exegese
Zwischen-Räume von Bibeln, Bibelkommentaren und Bibelglossaren Abstract: The early Latin and vernacular tradition of the Bible transmission consists of a great variety of different ‘helpmaids’ for understanding and learning: glossed Bibles, glossaries (e. g. Family of Bible glosses M) and commentaries to the Bible (e. g. by Jerome, by Remigius of Auxerre), Glosses to Bible commentaries (to the commentaries mentioned, to Williram a. o.), which might go back to other commentaries (e. g. Walahfrid Strabo relying on Hrabanus Maurus). These may occur as visible ink glosses, which may be somewhat ‘mystified’, or they may occur as nearly invisible scratched glosses. The analysis of these multilayered means of understanding (and learning) will provide attempts to make ‘hidden’ elements of deeper spheres ‘visible’ and understandable. Keywords: Althochdeutsch, Bibel, Essener Evangeliar, Federglossen, Glossen, Griffelglossen, Latein
1 Einführung In der frühen lateinisch-volkssprachigen Bibelüberlieferung finden sich alle möglichen Formen von Verstehens- und Verständnishilfen: glossierte Bibeln, Glossare und Kommentare zur Bibel, Glossen zu Kommentaren zur Bibel, die wiederum aus Kommentaren schöpfen können, diese als sichtbare Federglossen, die ‚verschlüsselt‘ sein können oder als unsichtbare Griffelglossen.¹ Die Betrachtung der mehr- bzw. vielschichtigen zeitgenössischen Verstehenshilfen in der Zusammenschau soll ein Versuch sein, in unteren Schichten Verborgenes zu heben. Dass die Bibel und auch Kommentare sowie lateinische und auch volkssprachige Glossen dazu besonders reich sind, ist nicht erstaunlich: Sie ist neben der den Klöstern zugrunde liegenden Ordensregel der am meisten rezipierte Text im Mittelalter. Mit dem Fokus auf Marginalem in der Volkssprache wird gezeigt, welche Inhalte weitertransportiert wurden
Feder- bzw. Griffelglossen sind nach der Art des für den Eintrag verwendeten Instruments benannt. Federglossen sind mit Tinte auf das Pergament aufgetragen, Griffelglossen sind in das Pergament eingeritzt bzw. eingeritzt. Vgl. dazu Elvira Glaser, Andreas Nievergelt, Griffelglossen, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 202– 229. Prof. Dr. Claudia Wich-Reif, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- u. KulturwissenschaftAm Hof 1d, 53113 Bonn, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-016
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und der Frage nachgegangen, was im Kontext der Bibelrezeption geheim oder doch zumindest verborgen sein konnte und auch, welche Intention die Schreiber mit der Konzeption, die nachweislich nicht singulär ist, gehabt haben könnten. Dabei geht es auch um die Funktion unterschiedlicher Einträge und um Ordnungssysteme auf Handschriftenseiten. Diese sind insofern als verborgen einzuordnen, als man sie kennen muss, um sich an ihnen orientieren zu können.² Eingangs wird der Umfang der Überlieferung deutschen Wortguts zur Bibel in Relation zur weiteren deutschen Glossenüberlieferung skizziert, dann wird ein für die Fragestellung besonders geeigneter Codex, das sogenannte ‚Essener Evangeliar‘, vorgestellt. Der Hauptteil des Beitrags gilt der Vorstellung informationsvermittelnder Schichten in Bibelhandschriften. Damit wird aufgezeigt, inwiefern für Nichteingeweihte geheime oder verborgene Informationen vorliegen. Ausgangspunkt ist jeweils eine Seite aus dem Evangeliar, wobei 71 weitere Handschriften mit in den Blick genommen werden, die in ‚BStK Online. Ahd. und as. Glossenhandschriftendatenbank‘³ zur kombinierten Suche „Bibel“ + „Griffel“ ausgegeben wurden.
2 Zum Umfang der althochdeutschen und altsächsischen Bibelglossierung Sowohl die Bücher des Alten Testaments als auch die des Neuen Testaments sind alle mehr oder weniger reich althochdeutsch (ahd.) oder altsächsisch (as.) glossiert,⁴ am meisten Jesaias in 42 Handschriften mit 4.081 Glossen (1 der Handschriften überliefert allein 578 Glossen), am geringsten der Titusbrief in drei Handschriften mit sieben Glossen (5 der Glossen sind in 1 Handschrift überliefert). Nimmt man in den Blick, wie die Glossen überliefert sind, so sieht man, dass von den 4.081 Jesaias-Glossen nur 124 zum Text überliefert sind, und zwar in nur drei von 42 Handschriften und dass von den Titus-Glossen alle sieben zum Text überliefert sind. Insgesamt gibt es zum Alten Testament deutlich mehr althochdeutsche und altsächsische Glossen als zum Neuen Testament (85,4 % bzw. 14,6 %).⁵
Zur Sichtbarkeit von Schrift, zum Sehen und Übersehen, zum Lesen und Decodieren und auch zu Funktionen von Schriftträgern im Mittelalter vgl. Tobias Frese, „Denn der Buchstabe tötet“ – Reflexionen zur Schriftpräsenz aus mediävistischer Perspektive, in: Tobias Frese,Wilfried E. Keil u. Kristina Krüger (Hgg.):Verborgen, unsichtbar, unlesbar – zur Problematik restringierter Schriftpräsenz. Berlin, Boston 2014, S. 1– 15, bes. S. 2 f. Bei einer Gesamtzahl von 1.477 Handschriften: https://glossen.ahd-portal.germ-ling.uni-bamberg.de/pages/1, Stand 31.08. 2017 (letzter Zugriff am 2. 3. 2020). Wiedergabe des Standes von 2009 nach Rolf Bergmann, Umfang und Verteilung volkssprachiger Textglossierung und Textglossare: Bibel, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 54– 82. Vgl. ebd., S. 80.
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Tabelle 1: Umfang der althochdeutschen und altsächsischen Bibelglossierung Gesamtzahl der ahd. und as. Glossen zur Bibel
. ( %)
Biblisches Buch mit den meisten Glossen
. Glossen in Handschriften, davon zum Text in Handschriften, davon . in Glossaren in Handschriften
AT (, %) Prophet Jesaias
Biblisches Buch mit den wenigsten Glossen
Glossen, davon zum Text in Handschriften
NT (, %) Titusbrief
Über die Relation zwischen Glossierungsdichte und Textinhalt gibt es noch keine Studie. Die Daten sind auch nur bedingt aussagekräftig, da die deutschen Glossen immer in Relation zu den lateinischen Glossen zum Text und gegebenenfalls auch zu anderen volkssprachigen Glossen, etwa altenglischen, gesehen werden müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass in der kleinen tabellarischen Auflistung Bibelglossen in alphabetischen Glossaren gar nicht aufgenommen sind, auch hier schlicht deshalb, weil das bisher nur ganz punktuell untersucht worden ist. Dazu kommen dann noch Glossen aus Bibelkommentaren v. a. des Hieronymus, die glossierte Bibelzitate enthalten. Rolf Bergmann hat vor dem Hintergrund aller Unwägbarkeiten Anfang des 21. Jahrhunderts eine Hochrechnung gewagt.⁶ Die Gesamtzahl aller althochdeutschen und altsächsischen Glossen zur Bibel beträgt 46.014, die der Glossen zu allen anderen Texten 60.792 (Stand: 2009): Tabelle 2: Umfang der althochdeutschen und altsächsischen Bibelglossierung in Relation zum Umfang der althochdeutschen und altsächsischen Glossierung anderer Texte ahd. und as. Glossen zur Bibel
ahd. und as. Glossen zu anderen Texten
. " . plus x
. " . minus x
Berücksichtigt man all das Genannte, ist davon auszugehen, dass etwa die Hälfte der überlieferten althochdeutschen und altsächsischen Glossen Bibelstellen glossieren.
3 Ein gutes Beispiel: Das Essener Evangeliar Es soll nun darum gehen aufzuzeigen, wie sich Schreiber und unterschiedliche Leser, gegebenenfalls auch über mehrere Jahrhunderte hinweg – und damit auch Umnutzungen von Texten bzw. Handschriften in Betracht ziehend – manifestieren, die die Bibel, besser: einzelne Bücher daraus, als Grundtext haben. Das passt generell in die Glossenerforschung des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts: Deut Ebd., S. 77 f.
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sches wird nicht mehr primär katalogisiert und einer grammatischen Analyse unterzogen, sondern Codices werden danach befragt, welche Funktion die Einzeltexte, aber auch die Einzeltexte in ihrem Zusammenspiel in einem Codex zu unterschiedlichen Zeiten gehabt haben können.⁷ Mit dem ‚Essener Evangeliar‘⁸ liegt eine Handschrift vor, die um das Jahr 800 in Nordostfrankreich oder dem nordwestlichen Austrasien geschrieben wurde und sich spätestens im 10. Jahrhundert im Essener Damenstift befand. Dieses gehört zu den Klöstern, für die eine reiche Schreibtätigkeit bezeugt ist.⁹ Im Grenzraum des Niederund Hochdeutschen gelegen, geht es für Einträge, die in Essen getätigt wurden, sowohl um altsächsische bzw. mittelniederdeutsche, aber auch um alt- bzw. mittelhochdeutsche; dabei ist zwischen der Zeit der Eintragung und dem Lautstand derselben zu unterscheiden.¹⁰ Ernst Hellgardt¹¹ und auch Heinrich Tiefenbach¹² haben sich den 33,0 x 23,0 cm großen Codex vorgenommen und die Bausteine einzelner Seiten auf ihre Bezüge und ihre Funktion hin befragt.¹³ Das wird nun mit dem Fokus auf Geheimnisvollem und Verborgenem zusammengeführt und mit weiteren Überlieferungsträgern abgeglichen, die biblische Bücher überliefern, die (auch) althochdeutsch bzw. altsächsisch glossiert sind. Der Codex wurde ausgewählt, weil er lateinische und volkssprachige Glossen überliefert, und das in zwei Sprachen, weil gezeigt werden kann, dass mit der Kommentierung und Glossierung im 10. Jahrhundert eine Funktionsänderung einhergegangen ist,¹⁴ und weil die Glossen in vielen Ausprägungen erscheinen: Es gibt unauffällige, mit Tinte eingetragene Glossen in lateini Rolf Bergmann, Umfang und Verteilung volkssprachiger Textglossierung und Textglossare: Nichtbiblische Texte, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 83 – 122, hier S. 121; Falko Klaes u. Claudine Moulin, Wissensraum Glossen: Zur Erschließung der althochdeutschen Glossen zu Hrabanus Maurus, in: Archa Verbi 4 (2007), S. 68 – 89, bes. S. 69 – 72. ‚Essener Evangeliar‘, Essen, Münsterschatzkammer Hs. 1, BStK 149. BStK = Rolf Bergmann u. Stefanie Stricker, Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, Bde. 1– 5 und Tafelbd. Bearb. unter Mitarbeit v. Yvonne Goldammer u. Claudia Wich-Reif, Berlin, New York 2005. Vgl. z. B. Heinrich Tiefenbach, Altsächsische Überlieferung, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 1203 – 1234, hier S. 1203. Auch in vergleichsweise jungen Handschriften findet sich aufgrund von Abschriftlichkeit nicht selten deutlich älteres volkssprachiges Wortgut. Ernst Hellgardt, Philologische Fingerübungen. Bemerkungen zum Erscheinungsbild und zur Funktion der lateinischen und altsächsischen Glossen des Essener Evangeliars (Matthäus-Evangelium), in: Eva Schmitsdorf, Nina Hartl u. Barbara Meurer (Hgg.), Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag, Münster u. a. 1998, S. 32– 69. Heinrich Tiefenbach, Exemplarische Interpretation altsächsischer Evangelienglossierung, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 387– 397. Hellgardt (Anm. 11) interpretiert fol. 35r und 58r, Tiefenbach (Anm. 12) fol. 34v und 35r, ohne dass dieser aber auf jenen Bezug nimmt. Vgl. Hellgardt (Anm. 11), S. 35. – Entsprechendes lässt sich bei der Handschrift Augsburg, Archiv des Bistums Augsburg Hs 6 (BStK 14) beobachten; vgl. dazu Markus Schiegg, Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit (Germanistische Bibliothek 52), Heidelberg 2015.
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scher und deutscher Sprache, es gibt eine deutsche Tintenglosse in einer Geheimschrift (bfk)¹⁵ und es gibt unsichtbare Griffelglossen. Es gibt Scholien zu ausgewählten Textstellen, die erwartungsgemäß auf den Rändern platziert sind, und diese können lateinisch oder deutsch glossiert sein. Es gibt aber auch Text, der auf dem Rand platziert wurde, weil zwischenzeilig der Platz ausging. Und es gibt Miniaturen, die zum Teil beschriftet sind.¹⁶ Der Codex bietet also gewissermaßen ein Maximum an für die vorliegende Fragestellung Erwartbarem.¹⁷ Zum volkssprachigen Wortschatz: Insgesamt sind 453 altsächsische bzw. althochdeutsche Glossen mit über 1.050 Einzelwörtern auf den Blättern eingetragen, die den Evangelientext überliefern: 187¹⁸ zum Matthäus-Evangelium (109 interlinear, 78 marginal), 27¹⁹ zum Markus-Evangelium (15 interlinear, 12 marginal), 148²⁰ zum LukasEvangelium (87 interlinear, 61 marginal) und 91²¹ zum Johannes-Evangelium (34 interlinear, 57 marginal). Tabelle 3: Die volkssprachigen Glossierungen zu den Evangelien Text
as. bzw. ahd. Glossen
Matthäus-Evangelium
(fol. r-v) interlinear, marginal
Markus-Evangelium
(fol. r-r) interlinear, marginal
Lukas-Evangelium
(fol. v-v) interlinear, marginal
Johannes-Evangelium
(fol. v-v) interlinear, marginal Gesamtzahl (mit über . Einzelwörtern)
Zu unterschiedlichen Typen geheimschriftlicher Glossen vgl. Moulin in diesem Band sowie Andreas Nievergelt, Geheimschriftliche Glossen, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 240 – 268. Die für die vorliegende Fragestellung aber nur von marginaler Bedeutung sind; weiterweisende Literatur bei BStK Online. Inhalt: f. 1r: leer, f. 1v: Federproben, f. 2r–v Ordo lectionum, f. 3r–12v: Capitulare evangeliorum, f. 13r: leer, f. 14r–16r: Hieronymus, Brief an Damasus I., f. 16r–17v: Prolog zur Bibel, Evangelien, f. 18r– 24v: Canones, f. 25r: leer, f. 25v–26v: Praefatio zu Matthäus-Evangelium, f. 27r–28v: Kapitelübersicht zu Matthäus-Evangelium, f. 29r: leer, f. 30r–170r: Evangelien (mit Glossen), f. 170v: Capitulare evangeliorum (Fragment), f. 171r–186v: Homiliar, f. 187v–188v: Capitulare evangeliorum (Fragment). ‚Essener Evangeliar‘ (Anm. 8), fol. 31r–169v: 187, fol. 31r–67v. Ebd., fol. 74r–89r. Ebd., fol. 99v–136v. Ebd., fol. 140v–169v.
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Eine einzige Glosse²² – zum Matthäus-Evangelium – ist in bfk-Geheimschrift²³ eingetragen worden, und zwar zu Mt 6, 17:²⁴ Tu autem ist mit fht thx glossiert, aufgelöst eht thu ‚Du aber‘.²⁵ Wie Claudine Moulin in ihrem Beitrag hervorhebt: Solche deutschen Wortformen übermitteln keine geheimen Inhalte, aber sie stechen orthographisch hervor, denn im Deutschen gibt es keine Wortformen ohne Vokale. Ein Schreiber/ Benutzer konnte damit gewissermaßen ein Lesezeichen setzen. Einem Hinweis von Bernhard Bischoff folgend hat Andreas Nievergelt jüngst noch an die 100 altsächsische Griffelglossen zu den Evangelien entdeckt, die aber noch nicht ediert sind.²⁶ Nach schriftlicher Auskunft²⁷ bestehen die altsächsischen Griffelglossen zu einem großen Teil aus Pronomen, v. a. Relativpronomen, Adverbien und Konjunktionen und haben damit – als grammatische Hilfen, die vor allem dem Verständnis syntaktischer Strukturen dienen – einen ganz anderen Charakter als die oft Syntagmen bildenden Federglossen.²⁸ Mit fol. 34v und fol. 35r ist hinreichend demonstriert, wie das Schriftbild der Seiten einer mittelalterlichen Handschrift gestaltet sein kann:²⁹ Dabei sind informationsvermittelnde Schichten von Korrekturschichten zu trennen.³⁰ Für die Ränder bedeutet dies zum Beispiel: ‒ Gibt es eine Scholie zu einer Textstelle, so wird über derselben eine Majuskel platziert, die sich am Rand am Anfang der entsprechenden Scholie wiederfindet. ‒ Ist eine längere Textpassage aus Versehen beim Abschreiben ausgelassen worden, so erfolgt die Zuordnung mit einer Majuskel in Kombination mit einer Minuskel, die jeweils als Abkürzungen für lat.Wortformen stehen (D durchstrichen für deficit ‚es fehlt‘, h durchstrichen für haec ‚dieses‘).
Ebd., fol. 36r. Eine Liste aller bis zur Publikation von Andreas Nievergelt, Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b. Ein Beitrag zur Funktionalität der mittelalterlichen Griffelglossierung (Germanistische Bibliothek 28), Heidelberg 2007, bekannten 128 Codices, die geheimschriftliche althochdeutsche und altsächsische Glossen tragen dort, S. 649 – 657, davon nur vergleichsweise wenige, die biblische Bücher oder Kommentare und Glossare dazu überliefern. Tu autem cum ieiunas, unge caput tuum et faciem tuam lava, […] „Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und wasche dein Gesicht, […]“ (Anm. 22). StSG = Elias Steinmeyer u. Eduard Sievers (1): Die althochdeutschen Glossen, Bd. 4, Berlin 1879 – 1922. ND Dublin, Zürich 1968 – 1969, S. 288,6. Zu den 26 bis zum Jahr 2009 bekannten Bibelhandschriften mit Griffelglossen sind in den letzten Jahren noch mehrere hinzugekommen; vgl. Glaser u. Nievergelt (Anm. 1), S. 221. E-Mail vom 13.03. 2017. Nach Andreas Nievergelt ist eine Verbindung zwischen Griffel- (bzw. Farbstift‐) und Federglossen nur an ganz wenigen Stellen festzustellen, wo Federglossen mit Griffelskizzen unterlegt, also als Skizzenglossen zu interpretieren sind; vgl. auch Glaser u. Nievergelt (Anm. 1), S. 226. Für die Abdruckgenehmigung danke ich den Verantwortlichen im Domschatz Essen sehr herzlich, insbesondere Frau Jutta Schmitz. Wobei gegebenenfalls mit denselben bzw. vergleichbaren Verweissystemen operiert wird. – Vgl. Tiefenbach (Anm. 12), S. 388, 390 f., 394.
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Abb. 1: Codex Essen, Münsterschatzkammer Hs. 1 (BStK 149), fol. 34v/35r
Nun geht es darum darzustellen, was ein über Jahrhunderte hinweg umfangreich kommentierter und glossierter Codex an Wissen, gegebenenfalls an verborgenem Wissen, überliefern kann.
4 Informationsvermittelnde Schichten – zeitliche Schichtung In der modernen Glossenforschung besteht Konsens darüber, dass jeder kommentierte und glossierte Text und jeder Codex als je individueller Fall zu betrachten ist.³¹ Dabei lassen sich aber Gemeinsamkeiten erkennen: So schöpfen die Scholien aus denselben Quellen, so haben die lateinischen und die volkssprachigen Glossen dieselben Funktionen – wobei es aber deutliche quantitative Unterschiede gibt. Dasselbe lässt sich im Großen und Ganzen für die nach Schreibwerkzeug unterschiedenen Glossen sagen. Ernst Hellgardt weist in seinem Beitrag zum Essener Evangeliar aus dem Jahr 1998 darauf hin, dass „die chronologische Schichtung der Glossen, auch der lateinischen, im sachlichen und räumlichen Kontext ihres Erscheinens für das Verständnis der Glossenfunktionen von erheblicher Bedeutung sein“³² kann. Stellt man die Frage nach der Differenzierung von Elitenwissen in den Vordergrund – letztlich ist
Vgl. z. B. Elvira Glaser, Frühe Griffelglossierung aus Freising (Studien zum Althochdeutschen 30), Göttingen 1996; Nievergelt (Anm. 23). Hellgardt (Anm. 11), S. 37.
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die schriftliche Kommunikation im frühen Mittelalter sowieso nur auf eine kleine literate Elite beschränkt und hat einen „randständigen“ Charakter³³ – , so geht es im Kloster um mehr oder weniger Gebildete und auch um Lehrende und Lernende. Über Lehren und Lernen im Mittelalter wissen wir wenig³⁴ und nicht „in voller Komplexität“.³⁵ Aufgrund von wiederkehrenden Mustern in Handschriften, aber auch aufgrund der Ordensregeln kann man sich solchen Fragen aber zumindest nähern. In der Benediktinerregel³⁶ sind zwei wichtige Aspekte festgehalten: Die Klosterinsassen sollen die biblischen Bücher hören bzw. lesen³⁷, in der Fastenzeit für sich einen Band von Anfang bis Ende³⁸, und: Die Mönche bekommen vom Abt einen Griffel³⁹. Das bedeutet, dass jede bzw. jeder beim Selbststudium in der Bibel unsichtbare Eintragungen in Form von Glossen vornehmen konnte. Ob diese dann in Tintenglossen umgesetzt wurden oder nicht, hing vom Status des Lesers bzw. der Leserin ab und der Frage, ob und wie das selbst angeeignete Wissen weitergegeben werden sollte. Um Muster zu erkennen, wurden neben dem Essener Evangeliar weitere sieben deutsch glossierte Evangeliare⁴⁰, die zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert Jan-Dirk Müller,Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), S. 118 – 132, hier S. 118; vgl. auch Martin Kintzinger, Monastische Kultur und die Kunst des Wissens im Mittelalter, in: Nathalie Kruppa, Jürgen Wilke (Hgg.), Kloster und Bildung im Mittelalter. Mit 133 Abbildungen und einer Faltkarte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218. Studien zur Germania Sacra 28), Göttingen 2006, S. 15 – 47, bes. S. 38 f. Vgl. z. B. Bernhard Bischoff, Elementarunterricht und Probationes Pennae in der ersten Hälfte des Mittelalters, in: Bernhard Bischoff, Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1966, S. 74– 87; Thomas Frese, Eine Klosterschule von innen, in: Kruppa u. Wilke (Anm. 33), S. 49 – 57; Kintzinger (Anm. 33). Nikolaus Henkel, Glossierung und Texterschließung. Zur Funktion lateinischer und volkssprachiger Glossen im Schulunterricht, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 468 – 496, hier S. 472. – Auch Frese (Anm. 34) hält vergleichbare Befunde fest. Er weist darauf hin, dass es nicht zu den Hauptaufgaben im Kloster gehörte, eine Schule zu betreiben (S. 50). „Lesen und schreiben zu lernen war […] zeitlich entkoppelt“ (S. 52), nur wenige Schüler erreichten die Fächer des Quadriviums, ein nicht kleiner Teil lernte nur Lesen und wurde an die für das Verständnis lateinischer Texte unabdingbare Kenntnis der Grammatik gar nicht mehr herangeführt. Benedicti Regula. Editio altera emendata. Recensuit Rvdolphus Hanslik (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 55), Wien 1972. Ebd., 42,4. Ebd., 48,15. Ebd., 55,19. Augsburg, Archiv des Bistums Augsburg Hs 6 (BStK 14, 2. H. 9. Jhd., 251 Glossen, u. a. in Geheimschrift), Entstehungsort: im südlichen Deutschland, vielleicht in Würzburg, Glossen vielleicht in Fulda eingetragen; Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz Ms. theol. lat. 4° 139 (BStK 58, 1. Drittel 9. Jhd., 1 Glosse zu Mt), Entstehungsort: niederdeutsch-angelsächsisches Gebiet, wahrscheinlich in Werden, Glossen in Werden eingetragen; St. Gallen, Stiftsbibliothek 49 (BStK 177, 2. H. 9. Jhd., 5 Griffel- bzw. Rötelglossen zu Lk), Entstehungsort: vielleicht Benediktinerabtei St. Gallen, Glossen an einem unbekannten Ort eingetragen; Augsburg, Universitätsbibliothek Ms. I, 2, 4°, 2 (früher Schloss Harburg, Fürstlich Oettingen-Wallerstein’sche Bibliothek Ms. I, 2, 4°, 2, 1. Drittel 8. Jhd., 23 Glossen) (BStK 275), Entstehungsort: Benediktinerabtei Echternach, auch die Glossen wurden dort
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angelegt wurden, angesehen. Sie zeigen folgende Gemeinsamkeiten: Die Handschriften sind zumeist alt, sie weisen entweder eine sehr reiche Glossierung auf oder sind nur ganz sporadisch glossiert, oft sind Glossen in Geheimschrift eingetragen, mit dem Griffel oder Farbstift oder es sind Rötelglossen. Sind mehrere Evangelien glossiert, so nimmt die Glossierung, auch die lateinische,⁴¹ von Evangelium zu Evangelium ab, ein Phänomen, dass in nicht wenigen stark glossierten Texten zu beobachten ist. Fragt man nun danach, was Evangeliare an Verborgenem enthalten können, so lässt sich die Frage am besten vom Grundlegenden zum Ergänzenden beantworten. Dazu eine Übersicht, die darstellt, in welcher Zeit (Spalte 1) in die acht näher in den Blick genommenen Evangeliare Schreiber (Spalte 3) unterschiedliche Arten von Text in mehreren Sprachen wie (Spalte 3) wo (Spalte 2) eingetragen haben konnten und welche Funktionen diese für Leser, die dann auch selbst zu Schreibern werden konnten, hatten (Spalte 4): Wird der Text in liturgischen Handlungen verwendet (wofür früh schon Evangelistare und nicht Evangeliare mit den Evangelienganztexten angelegt wurden), ist er nur für denjenigen sichtbar, der für die Rezitation bestimmt ist: Die anderen hören zu, während er sich im Codex orientiert, (vor)liest und decodiert. Vergleichbares gilt in Situationen, in denen Wissen weitergegeben wird. In der Vorbereitung kann der Text vom Lehrenden aufbereitet werden, sichtbar oder aber vordergründig unsichtbar mit dem Griffel.⁴² Sobald der Text für die individuelle Nutzung zur Verfügung steht, ist die Entschlüsselung unmittelbar und vom Vorwissen des lesenden Individuums abhängig.
4.1 Bei Anlage eines Codex: Kolumnenüberschriften, Vers- und Abschnittsanfänge Rezeptionshilfen, die bei der Anlage eines Codex mit eingeplant werden können, sind Kolumnenüberschriften. Sie sind typisch für die Überlieferung mehrerer biblischer
eingetragen; Kassel, Universitätsbibliothek, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek 2° Ms. theol. 60 (BStK 333, 2. H. 10. Jhd., 1 Glosse zu Mt), Entstehungsort: unbekannt, Glossen im Benediktinerkloster Abdinghof eingetragen; Merseburg, Domstiftsbibliothek Ms. Nr. 9 (BStK 436, 2. Viertel 9. Jhd., 1 Glosse in Federprobe), Entstehungsort: unbekannt, ebenso Eintragungsort der Glossen; München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 4566 (BStK 710at, 1. H. 9. Jhd., 1 Griffelglosse zu Lk?), Entstehungsort: Benediktinerabtei Benediktbeuern, Eintragungsort der Glossen unbekannt; Paris, Bibliothèque Nationale de France lat. 9389 (BStK 774b, wohl 8. Jhd., 13 Glossen, davon 8 Griffel- und 5 Farbstiftglossen), Entstehungsort: Lindisfarne/Northumbrien oder insulares Zentrum auf dem Kontinent, Glossen Benediktinerabtei Echternach. Handschriften, die keine lateinischen und nur deutsche Glossen aufweisen, gibt es meines Wissens nicht. Ausführlich zu dieser Schreibtechnik Glaser u. Nievergelt (Anm. 1), zu den die Lesbarkeit begünstigenden Lichtverhältnissen vgl. S. 206, 209 f., 224.
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Tabelle 4: Formen und Funktionen von Text in mittelalterlichen Handschriften Zeit
Seitenraum
Schreiber
Leser
einmalig ., ., . oder . Jhd. Text
innerhalb des (ausgenommen Seiten nur Schriftspiegels mit Federproben) obligatorisch Evangelien-Text
., ., . oder . Ränder: oben Jhd. marginal Orientierungshilfen außen
optional Kolumnenüberschriften Evangelienabschnitt, Synopse
Verwendung zur gemeinsamen oder individuellen Lektüre u. a. im Gottesdienst Auffinden von Textstellen
beliebig wiederholbar: Schreiber " Leser " Schreiber nach Textfertigstel- interlinear/ lung marginal Verständnishilfen
optional Griffel-, Tinten-, Rötel-, Farbstiftglossen auf Lat., Ahd./As.
optional Verständnishilfe Griffel-, Tinten-, Rötel-, Farbstiftglossen optional Verständnissicherung durch Ergänzung von Einträgen oder eigene Einträge auf Lat., Ahd./As.
beliebig wiederholbar (?):Schreiber " Leser " Schreiber . oder . Jhd. Verständnishilfen
interlinear und/oder marginal
optional lat. Scholien, deren Herkunft bekannt oder nicht bekannt ist; optional: eigene Ergänzungen auf Lat., Ahd./As.
optional Verständnishilfe optional Verständnissicherung durch Ergänzung von Einträgen oder durch eigene Einträge auf Lat., Ahd./As.
Bücher, sie sind aber keineswegs obligatorisch,⁴³ wie etwa eine Freisinger Handschrift⁴⁴ zeigt: Hier werden die vier Bücher der Könige ohne Kolumnentitel überliefert.⁴⁵ Die Hervorhebung von Vers- und Abschnittsanfängen im Text durch Majuskeln ist üblich, die Markierung durch (farbige) Initialen ist möglich. Man darf annehmen,
Zum kontinuierlichen und diskontinuierlichen Lesen in der Bibel s. z. B. Peter Stallybrass, Books and Scrolls: Navigating the Bible, in: Jennifer Andersen, Elizabeth Sauer (Hgg.), Books and Readers in Early Modern England: Material Studies, Philadelphia 2002, S. 42– 79. Freisinger Handschrift. München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 6220, BStK 501. Es gibt Incipits und Explicits, zwischen die Praefatio des Hieronymus und den Beginn des ersten Buchs der Könige ist ein Kapitelverzeichnis eingeschaltet. Die Anfänge der Bücher sind durch mehrere Zeilen in Majuskeln sowie über mehrere Zeilen reichende Initialen hervorgehoben.
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dass damit, wie auch mit den Kolumnenüberschriften, der Gebrauch erleichtert wurde, indem spezifische Textstellen schneller auffindbar waren. Zum Standard von Evangeliaren gehören üblicherweise vorausgehende Kanontafeln, die einen synoptischen Vergleich zwischen den Evangelien ermöglichen und auf die dann am jeweils äußeren Rand der Textseiten verwiesen wird.⁴⁶ Bei den Kolumnentiteln erfolgt die Information mittels lateinischer Wortformen, bei den synoptischen Verweisen durch eine Kombination von Buchstaben und Ziffern.
4.2 Zeitgleich oder später: Glossen und Scholien Es ist weiter anzunehmen, dass im Essener Evangeliar die neu entdeckten Griffelglossen die erste Glossierungsschicht bilden, die von einer frühen individuellen Erschließung der Evangelien-Texte zeugen.⁴⁷ Gerade im 8. und 9. Jahrhundert ist der Gebrauch des Griffels bei der Lektüre recht üblich, und es sollte für einen Leser keine Überraschung sein, sie vorzufinden. Wie hilfreich diese v. a. syntaktischen Glossen für die Lektüre waren, ist von der Sprache der Glossen und von der Kompetenz der Leser abhängig. Nicht jede Glosse wird für jeden Leser gleich wichtig gewesen sein. Geheimnisvoll wirken mögen die Glossen dann, wenn die Technik aus der Mode kommt; dann könnten sie aber auch einfach verborgen bleiben, wofür die viele Jahre anhaltende Nicht-Erforschung des Phänomens Zeugnis ist.⁴⁸
4.2.1 Marginale Scholien und interlineare Erläuterungen aus Kommentaren Kleinere Ausschnitte aus Kommentaren sind gerade zu biblischen Büchern in mittelalterlichen Codices als marginale Scholien ganz üblich. Die Kommentare schöpfen zum Teil aus anderen Kommentaren, so Walahfrid Strabo aus dem Bibelkommentar seines Lehrers Hrabanus Maurus, der wiederum aus dem Kommentar des Hieronymus schöpft. Im Essener Evangeliar auf fol. 34v (Abb. 1) ist etwa mit den Scholien C und L jeweils ein Exzerpt aus dem Kommentar des Hrabanus Maurus zum Matthäus-Evangelium eingetragen. Ein Beispiel für ein interlineares Kommentar-Exzerpt findet sich auf fol. 35r, Z. 7 (Abb. 1, 2): Zu malo „Übel“⁴⁹ steht die Erläuterung:(?) scilicet eius qui tibi credere non uult sed te cogit iurare „nämlich dessen, der dir nicht glauben will, sondern dich schwören
Vgl. Abb. 1. Vgl. Glaser u. Nievergelt (Anm. 1), S. 223, 225. – Zu Formen und Verfahren des Textstudiums als kulturelle Praktiken vgl. z. B. Henkel (Anm. 35). Auch in lateinischen Handschriften des 15. Jahrhunderts ist diese Eintragungsart noch nachweisbar; vgl. Glaser u. Nievergelt (Anm. 1), S. 224. Mt 5,37: sit autem sermo vester est est non non quod autem his abundantius est a malo est. „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“
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Abb. 2: Ausschnitt aus dem Codex Essen, Münsterschatzkammer Hs. 1 (BStK 149), fol. 34v/35r
lässt“. Der Text findet sich in Bedas Kommentar zum Matthäus-Evangelium wieder.⁵⁰ Dem Leser wird durch die Erläuterung eine zusätzliche Information zu malo ⁵¹ gegeben; dass sie von Beda stammt⁵², muss er nicht wissen, erkennt er dies, wird – gegebenenfalls über sehr viele Jahr(hundert)e hinweg – ein gemeinsamer Wissensraum zwischen Schreiber und Leser geschaffen. Für einen (Ab‐)Schreiber hingegen mag schon in dem Moment, wo Scholien eingetragen werden, die Quelle als ein Element der Texterschließung verborgen sein, nämlich dann, wenn der Schreiber/die Schreiberin nicht weiß, aus welchen Bibelkommentaren die Scholien entnommen sind oder wenn er/sie selbst dieses sein/ihr Wissen nicht unmittelbar weitergibt, weil es nicht zu den kulturellen Praktiken des Mittelalters gehört, Quellen kenntlich zu machen.
4.2.2 Grammatische Informationen Das Verständnis von Abkürzungen konnte durch die Ergänzung von Flexionsinformationen gesichert werden. So wurde auf fol. 34v des Essener Evangeliars (Abb. 1) zur Kürzung o^s interlinear überzeilig i ergänzt. Lies omnis, nicht omnes. Grammatische Informationen, die Relationen im Text erhellen, können für den Leser dunkel bleiben, wenn er sie nicht richtig zuordnen kann.⁵³ Dies kann der Fall sein, wenn über ein lateinisches Deponens eine althochdeutsche Personalendung im Genus verbi aktiv gesetzt wird, er dies aber nicht erkennt oder wenn über einen lateinischen Ablativ eine althochdeutsche Präposition gesetzt wird, um anzuzeigen, wie die Struktur angemessen in die Volkssprache übersetzt werden kann.
Beda, In Evangelium S. Matthaei, in: Beda (Venerabilis), Opera omnia, Bd. 3, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina 92), Paris 1850, hier 92, 29 B/C; vgl. auch Tiefenbach (Anm. 12), S. 396; anders Hellgardt (Anm. 11), S. 40. ‚Essener Evangeliar‘ (Anm. 8), fol. 35r, Z. 7. Auch an anderen Stellen schöpft derjenige oder diejenige – es war ja ein Frauenstift, der bzw. die die Erläuterungen eingetragen hat, aus dem Hraban- bzw. dem Beda-Kommentar. Zum Phänomen vor allem der volkssprachigen Kürzungen vgl. Oliver Ernst, Kürzungen in volkssprachigen Glossen, in: Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch, Bd. 1 (2009), S. 282– 315.
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4.2.3 Synonym, Übersetzung und Paraphrase von (Kommentar‐)Text(teilen) Die schon erwähnte Scholie C auf fol. 34v bietet sowohl eine Erläuterung zur Textstelle als auch ein lateinisches Synonym einer Verbform und eine altsächsische Übersetzung einer weiteren Verbform, die sowohl eine Hilfe in Bezug auf den Wortschatz als auch die syntaktische Struktur ist: C. hoc capitulo suggillat id est damnat phariseos qui dei precepta preuerunt et traditionem ipsorum preposuerung. et dixit quod illorum doctrina nihil proficeret in populis si uel minimum preceptum in lege destruerent; farbrakin ⁵⁴ In diesem Abschnitt verhöhnt er, das ist beschuldigt er, die Pharisäer, die die Gebote Gottes verachteten und ihnen ihre eigene Tradition voranstellten. Und er sagte, dass die Lehre jener nichts nützte unter den Völkern oder wenn sie das kleinste Gebot im Gesetz aufhöben; sie brächen/überträten
Die altsächsische Form wurde wohl später hinzugefügt,⁵⁵ das heißt, wir haben es hier mit einer weiteren, jüngeren Schicht zu tun. Für den Leser ist die Zuordnung zur Textstelle klar: die Scholie bietet eine zusammenfassende Erläuterung zu Mt 5,17– 20, wo es um Gesetz und Propheten geht. Der Leser muss durch die erhellende Erläuterung die Textstelle selbst gar nicht gut verstanden haben. Verborgen im Sinne von unverständlich mag ihm, insbesondere mit zeitlichem Abstand zur Eintragung, die altsächsische Form farbrakin bleiben. Zwei Beispiele für volkssprachige Sätze bieten die interlinear überzeiligen Erläuterungen auf fol. 34v, Z. 29 (Abb. 1): hardo suerian ni scalt ⁵⁶ ‚Du wirst/sollst nicht falsch schwören.‘ Non periurabis. ‚Du wirst keinen Meineid leisten.‘ thu scalt bi goda suerian ‚Du wirst/sollst bei Gott schwören.‘ Reddes autem domino iuramenta tua ‚Du aber wirst deinen Schwur bei Gott zurückgeben.‘
Der lateinische Text wird vergleichsweise frei wiedergegeben. Durch die Verwendung von ahd./as. scolan, das sowohl modal als auch mit Zukunftsbedeutung verstanden werden kann, gehen die altsächsischen Übertragungen insofern über den Text hinaus, als sie als Handlungsanweisungen für den Leser verstanden werden können. Eine volkssprachige Fortsetzung einer lateinischen Scholie findet sich dann mit Scholie R auf fol. 35r (Abb. 1):
Edition bei StSG (vgl. Anm. 25), Bd. 4, S. 287, 43 – 45. – AWB = Althochdeutsches Wörterbuch. Aufgrund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hrsg. v. Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings, ab Bd. 2 hrsg. v. Rudolf Große, Berlin 1968 ff., hier Bd. 1, Sp. 1332. Vgl. Tiefenbach (Anm. 12), S. 395. Edition bei StSG (vgl. Anm. 25), Bd. 4, S. 287, 47– 48 bzw. 49 – 50. – AWB (Anm. 54), Bd. 4, S. 735.
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R. publicani dicuntur qui uectigalia et publica lucra secantur the then frono tíns éscodun endi toln námun ‚Zöllner werden die genannt, die Steuern und staatliche Einnahmen nachgehen, die den Frondienst forderten und Zölle nahmen‘
Solche eigenständigen Fortführungen einer lateinischen Scholie in deutscher Sprache hat die Handschrift des Essener Evangeliars mit wenigen anderen Handschriften gemeinsam.⁵⁷ Die kurzen volkssprachige Sätze stechen inhaltlich-strukturell aus der üblichen Einzelwortüberlieferung hervor, aber nicht von der schriftlichen Gestaltung her. Nach Heinrich Tiefenbach sind sie gerade für die „Essener Glossierungen der Ottonenzeit“⁵⁸ charakteristisch. Ein letztes Beispiel der Texterschließung sei mit Scholie M auf fol. 35r (Abb. 1, 2) gezeigt, bevor wieder die Frage nach Verborgenem in den Blick genommen wird: Das altsächsische Syntagma ni uurekas ist im Zuge des Eintragens der Scholie als Kontextglosse eingetragen worden. Die Scholie verweist auf malo ⁵⁹, ein Lexem, das zwei Zeilen über dieser Stelle interlinear glossiert ist (s.o.): M. id est si quis tibi unum malum irrogat vt nec illud rependas .ni uurekas. ne ei resistas ‚das heißt, wenn jemand dir etwas Böses zufügt, dass du jenes nicht erwiderst – du rächst nicht – und ihm nicht Widerstand leistest‘
Die interlinearen und marginalen Erläuterungen zum Text werden gegeben, um Einzelwörter, Syntagmen und Abschnitte richtig zu erschließen und auszulegen, sei es als Hilfestellung für einen Wissensvermittler oder aber direkt für ein lesendes Individuum. Antizipiert Verborgenes wird offengelegt.
5 Schluss(folgerungen): Glossenschichten – Wissensschichten – Elitenwissen Insbesondere anhand einer ausgewählten Evangeliar-Handschrift konnte gezeigt werden, welche Rolle Verborgenes, auf den ersten Blick nicht Sichtbares und auch Sichtbares durch das Offenlegen von textuellen und intertextuellen Bezügen decodiert werden kann. Damit verbunden ist die Offenlegung von Formen und Verfahren des Textstudiums als kulturelle Praktiken, die sich für einen Codex und dessen Rezipienten ganz gut bestimmen lassen, die sich aber nur ganz bedingt verallgemeinern lassen. Von den 72 „Funden“ in der Datenbank sind einige für die vorliegende Frage nicht relevant, weil sie Bibelglossare, Kommentare zur Bibel oder biblische Schriften ohne althochdeutsche bzw. altsächsische Glossen enthalten, andere sind nur fragmentarisch überliefert. Sind Hilfestellungen zur Texterschließung auf Althochdeutsch
Was Hellgardt (Anm. 11) dazu veranlasst, von einer lateinisch-althochdeutschen Mischsprache zu sprechen; ähnlich Schiegg (Anm. 14), S. 329 f. Tiefenbach (Anm. 12), S. 395. ‚Essener Evangeliar‘ (Anm. 8), fol. 35r, Z. 9.
‚Marginalisierte‘ Exegese
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und Altsächsisch in den Codices gegeben, so normalerweise in Verbindung mit umfangreicheren lateinischen Hilfen, was wieder einmal bestätigt, dass es im Mittelalter in dem kleinen Kreis der Lesenden und Schreibenden immer primär um eine einsprachige lateinische Texterschließung ging. Auffällig sind viele Handschriften mit nur wenigen (Griffel‐)Glossen, was auf eine individuelle Erschließung der Texte hindeutet. Verweiszeichen sind nicht obligatorisch⁶⁰ und auch eine klare Zuweisung von Lemma und Interpretament ist nicht immer gegeben. Eine sehr dichte Glossierung auf nur wenigen Seiten weist auf eine intensive individuelle Auseinandersetzung mit spezifischen Textstellen hin, die dann auch für die Unterweisung i. w. S. nutzbar gemacht werden kann.Vor diesem weiteren Kontext lässt sich abschließend formulieren, dass die Bibel-Handschriften sicherlich im Vergleich sehr wenig im Dunklen lassen, was die Schichtung von Wissen in mittelalterlichen Codices angeht. Man muss nur wissen, wie es funktioniert. Im Abgleich mit typischen Schultexten, mit besonders häufig überlieferten Texten usw. helfen sie uns heute, mittelalterliche Praktiken im Wissenserwerb zu begreifen.
Wie sich z. B. mit der Handschrift Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothekk Ms. A14 (BStK 103) zeigt.
Geheimnis und Verborgenheit als narratives Mittel in der Literatur
Ursula Schaefer
Verborgenes im Altenglischen Lexikalische Anmerkungen zu einer kognitiven Metapher
Abstract: Matters concerning human cognition are usually expressed in terms of sensory perception. We say that a statement is ‘clear’ when we are able to understand it, or speak about a ‘hidden agenda’ when we surmise that a person’s doings may be driven by motives we are not supposed to know. This is studied by cognitive linguistics and in the last ten years or so these heuristics have also been applied to Old English poetry (and also prose). The aim of my paper is to present an analysis of lexical items that belong into the semantic frame of ‘hiding’ because gaining knowledge of something is often expressed in Old English in terms of being (made) visually accessible. My analysis is confined to qualitative sample analyses from the proverb collection ‘Maxims I’, the epic ‘Beowulf’ and a riddle. I will specifically examine terms such as dyrne and digol, both meaning ‘hidden, secret’ and contrastive terms, such as undyrne, gesyne and sweotol, all basically translatable as ‘visible’. Along with analyzing these words in the given contexts I will also discuss aspects concerning the second sensory field related to cognition, namely that of hearing. As shall become clear, the role of hearing is still firmly rooted in the vocality of the earlier Middle Ages, and hence has to be taken much more literally than expressions of visual perception. A final short stocktaking as to what became of the Old English lexical items in Middle English will nourish the assumption that speaking about cognitive states and processes is decreasingly realized by a given or assumed necessity to retrieve something from its state of being hidden. Keywords: Altenglische Lexik,Verstehen und Sehen,Verstehen und Hören, ,Beowulf‘, ‚Maxims I‘, kognitiver Wandel
1 Einleitung Über Kognition, Erkenntnis, Wissen sprechen wir in aller Regel in der Metaphorik sinnlicher Wahrnehmung. So gibt das Grimmsche Wörterbuch als Bedeutung von erkennen an: „durch das gesicht oder gehör erkennen = sehen, hören, gegenstände sinnlich wahrnehmen, unterscheiden, herausfinden“. Daraus folgt dann – metaphorisch –: „geistiges erkennen und einsehen, höher als das blosz sinnliche vernehmen“.¹
S. v. erkennen in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Professor Dr. Ursula Schaefer, Englisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 79085 Freiburg, E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-017
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Und die Tatsache, dass Sehen und Verstehen parallelisiert werden, liegt, so Eve E. Sweetser, an der „focusing ability of our visual sense“.² Den Zusammenhang von Sinneswahrnehmung und Kognition demonstriert eine Bibelstelle bei Mk IV.12, in der Übersetzung Luthers: Auff das sie es mit sehenden Augen sehen / vnd doch nicht erkennen / vnd mit hörenden Ohren hören / vnd doch nicht verstehen. Das zu Erkennende wird im vorangehenden Vers benannt: Es ist das Geheimnis des reichs Gottes, dessen Wissen den Jüngern vorbehalten ist.³ Im Folgenden soll es nicht um das Göttliche gehen, das, wie der Soziologe Alois Hahn feststellt, der „klassische Gegenstand für Geheimnisvolles“ ist, über das man kommunizieren kann, ohne dass es „den Charakter des Geheimnisvollen verliert“.⁴ Mein Anliegen ist – vordergründig – bescheidener. Unter der Vorgabe, etwas zur Frage von Geheimnis und Verborgenem im Mittelalter beizutragen, sind meine Ausgangspunkte Formulierungen wie die folgende. Zu Beginn der altenglischen Spruchsammlung ‚Maxims I‘ sagt der Sprecher: nelle ic þe min dyrne gesecgan gif þu me þinne hygecræft hylest (Z. 2b–3a). W. S. Mackie übersetzt dies mit den Worten: „I will not tell you my secret if you conceal from me your wisdom“.⁵ Es geht hier um Kommunikation, wahrhaft um Austausch, denn wenig später heißt es: gleawe men sceolon gieddum wrixlan (Z. 4; ‚Weise Männer tauschen [sich mit] Sprüche[n] aus‘).⁶ Handelt es sich bei dyrne an dieser Stelle tatsächlich um ein Geheimnis? Heuristisch scheint es fürs Erste sinnvoll, mit Hahn begrifflich zu unterscheiden zwischen „Verheimlichung“ und „Geheimhaltung“. „Verheimlichung“ liegt vor, wenn über eine verfügbare Information gar nicht kommuniziert wird. „Geheimhaltung“ hingegen bezieht sich auf „bereits Mitgeteiltes“, das dadurch Geheimnis bleibt, dass es bewusst nicht weiter kommuniziert wird.⁷ Als Grundbedeutung gibt der Dictionary of Old English (DOE) für das Adjektiv dyrne allerdings „hidden, secret“ an, was beides ab-
Leipzig 1854– 1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 3, Sp. 868 f. Online-Version vom 03.10. 2017. Ich übernehme hier die Rechtschreibung des Originaleintrags. Eve E. Sweetser, From etymology to pragmatics. Metaphorical and cultural aspects of semantic structure, Cambridge 1990, S. 38. Ich zitiere Luthers Übersetzung in der Version letzter Hand von 1545, zugänglich auf: http:// www.zeno.org/Literatur/M/Luther,+Martin/Luther-Bibel+1545/Das+Neue+Testament/Das+Markusevangelium/Markus+4 (letzter Zugriff am 01.10.17). Alois Hahn, Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten, in: Aleida und Jan Assmann (Hgg.), Geheimnis und Öffentlichkeit (Schleier und Schwelle 1), München 1997, S. 23 – 40, hier S. 25. Ich zitiere hier wie im Folgenden die Texte aus dem ‚Exeterbuch‘ nach der Edition: The Exeter Book. Part II: Poems IX–XXXII (EETS, OS 194), hrsg. und übers. von W. S. Mackie, Oxford 1934; S. 32– 45: ‚Gnomic Verses‘ [= ‚Maxims I‘], zitierte Übersetzung S. 33. Deutsche Übersetzungen aus dem Altenglischen sind meine eigenen; zur Bedeutung des Verbs wrixlan siehe Nicholas Howe, The Old English Catalogue Poems (Anglistica XXIII), Kopenhagen 1985, S. 153. Hahn (Anm. 4), S. 23.
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zudecken scheint.⁸ Man muss dabei jedoch immer einbeziehen, dass in solchen Wörterbüchern keine erschöpfenden semantischen Analysen, sondern kontextgesteuerte Übersetzungen bereitgestellt werden. Darin steckt dann auch das kaum zu vermeidende Risiko, dass Konzepte nicht eins zu eins transponiert werden (können). Umgekehrt müssen wir gewärtig sein, dass von uns entwickelte Begrifflichkeit nicht überall und immer heuristisch nützlich ist. Als Ausgangspunkt ist daher erst einmal festzuhalten, dass es im Altenglischen auch diesseits des Göttlichen viel Geheimnisvolles gibt. Ich möchte zeigen, dass in England im 10. und 11. Jahrhundert mit dyrne und anderen Begriffen ‚Verborgenes‘ benannt wird, es sich dabei aber – im weitesten Sinn – nicht um Wissensbestände handelt, deren Weitergabe unterbunden werden soll. Das Gegenteil ist der Fall: Verborgenes kann zutage treten und wird damit sichtbar, wissbar und aufgrund dessen auch kommunizierbar. Dabei handelt es sich, wie eingangs angesprochen, um Spuren der metaphorischen Versprachlichung kognitiver Prozesse durch Sinneswahrnehmung, allen voran die konzeptuelle Projektion „Wissen ist Sehen“:⁹ Weiter könnte man sich kaum von der Systemtheorie, die Hahns Überlegungen zugrunde liegt, entfernen. Ein wenig spiele ich ihr dann doch im folgenden Abschnitt in die Hände, denn ich erlaube mir, vor der Analyse der altenglischen Beispiele einen Exkurs in die deutsche Sprachgeschichte zu unternehmen. Dies geschieht, weil durch einen glücklichen Umstand die Schöpfung des deutschen Worts „Geheimnis“ belegt ist.
2 Exkurs: Luthers „Geheimnis“ Im Jahr 2017 war viel darüber zu lesen, welch großen Beitrag Martin Luther zum Wortschatz der deutschen Sprache geleistet hat. Dies aber ist ein anscheinend weniger bekannter Beleg, aufzufinden in Luthers Schrift ‚Auslegung der Episteln‘ von 1528: Ich kan heutigs tages kein deutsch finden auff das wort mysterion / vnd were gleich gut / das wir blieben bey dem selbigen kriechischen wort / wie wir bey vielen mehr sind blieben / Es heist ja so viel / als secretum / ein solch ding / das aus den augen gethan vnd verborgen ist / das niemand sihet / vnd gehet gemeiniglich die wort an / als wenn etwas gesagt wird / das man nicht verstehet / spricht man / das ist verdackt / da ist etwas hynden / das hat ein mysterion / da ist etwas verborgens. Eben das selbige verborgen heist eygentlich / mysterium / ich heisse es ein geheymnis. ¹⁰
Vgl. den Eintrag s. v. dyrne: „1. hidden, secret; 2. of states of knowledge: unknown, unrevealed, not divulged; 3. of speech 3.a. unintelligible, obscure 3.b. profound, mysterious“; Dictionary of Old English: A to H online, (2016); Verweise auf dieses Wörterbuch erfolgen im Folgenden mit dem Kürzel DOE; dieser wie alle folgenden Einträge im DOE wurden zuletzt am 01.10.17 überprüft. In der kognitiven Linguistik werden kognitive Konzepte konventionalisiert eigentlich in Kapitälchen gesetzt. Martin Luther, Auslegungen der Episteln und Evangelien vom Advent bis auf Ostern, Wittenberg 1528, fol. 37v; zugänglich über: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10329941– 5, Scan 98 (letzter Zugriff am 01.10.17).
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Zweierlei führt uns Luther hier vor Augen: zum einen, dass es zu Beginn der Neuzeit kein deutsches Wort für griechisch mysterion (und lateinisch secretum) gibt, zum anderen, welche Bedeutung ein solches Wort wiedergeben soll. Luther greift bei seiner Wortschöpfung auf das Adjektiv geheim zurück, das, von Heim abgeleitet, historisch zuerst einmal ‚vertraut‘ bedeutete, ebenso wie das noch ältere heimlich. ¹¹ Diese Herkunft spiegelt sich noch im heutigen Adjektiv unheimlich, das ja nicht ‚nicht heimlich‘ bedeutet und so die frühe semantische Geschichte von geheim und heimlich konserviert hat. Luther brauchte ein deutsches Wort für mysterion / secretum, insbesondere – naturgemäß – für das göttliche Mysterium. Onomasiologisch erscheint es deshalb bemerkenswert, dass seine Paraphrasen gänzlich a-theologisch formuliert sind. Darüber hinaus konnte ich bei kursorischer Durchsicht seiner Bibelübersetzung lexikalisch weder das Adjektiv geheim, noch adverbial z. B. insgeheim oder Ähnliches finden. Sein adverbialer Ausdruck beispielsweise für Taten, die ‚im Verborgenen‘ geschehen, scheint vielmehr durchweg heimlich zu sein.¹² Luther argumentiert weiterhin in seinen umschreibenden Annäherungen an mysterium vom wörtlichen Sinn des lateinischen secretum aus. Ich gebe dies noch einmal in heutigem Schriftdeutsch wieder: „Es [= das mysterion] heißt ja soviel wie secretum, etwas, das den Augen entzogen und verborgen ist, das niemand sieht“. Nun mag man zurecht sagen, die Schöpfung abstrakter Begrifflichkeit sei im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein alltägliches Problem von Übersetzern.¹³ Allerdings stellt sich hier nicht nur das Problem, aus dem vorhandenen Wortschatz ein Abstraktum zu konstruieren. Wie angedeutet, scheint die Semantik der Basis für das zu bildende Abstraktum, also heimlich / geheim, zu Luthers Zeit noch schwankend zu sein. Seine Erwägung, gleich das griechische Wort zu entlehnen, ist angesichts dessen verständlich.
Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: https://www.dwds.de/wb/heimlich, s. v. heimlich: „aus einer Bedeutung ‚häuslich, dem begrenzten häuslichen Kreis angehörend‘ entwickelt sich bereits im Mhd. [i. e. Mittelhochdeutschen] ‚fremden Augen entzogen‘, daher ‚geheim, versteckt‘. unheimlich Adj. ‚nicht vertraut, beunruhigend, Unbehagen hervorrufend‘, mhd. unheimlich ‚nicht vertraut, fremd‘ […]“. Im Folgenden verweise ich auf dieses Wörterbuch mit dem Kürzel DWDS. Dieser und alle folgenden Einträge im DWDS wurden zuletzt am 01.10.17 überprüft. Ich habe dazu nach diesen Stichwörtern in der elektronisch durchsuchbaren (orthographisch normalisierten) Lutherbibel von 1545 gesucht: https://www.biblegateway.com/versions/Luther-Bibel1545-LUTH1545/ (letzter Zugriff am 01.10.17). Vgl. z. B. Ursula Schaefer, Travelling the paths of discourse tradition. A sample analysis of the lexical innovation blisfulnesse in Chaucer’s ‚Boece‘, in: Svenja Kranich, Viktor Becher u. a. (Hgg.), Multilingual Discourse Production. Diachronic and Synchronic Perspectives, Amsterdam, Philadelphia 2011, S. 45 – 69.
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3 ‚Maxims I‘ 1 – 4a: Eine Mikroanalyse Im Altenglischen liegt unter anderem mit dem Adjektiv dyrne eine lexikalische Realisation für all das vor, was Luther umschreibt. Nach Auskunft des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS) gab es dieses Adjekiv auch im Althochdeutschen und Altsächsischen: „Adjektiv ahd. tarni, terni ‚unsichtbar, verborgen, verhüllt‘ (8. Jhd.), asächs. darni, derni ‚heimtückisch, böse‘[…]“.¹⁴ Der althochdeutsche Beleg findet sich im ‚Abrogans‘, wo tarni für latens angegeben wird.¹⁵ Offensichtlich war in Luthers Deutsch davon nichts mehr vorhanden, und dass wir heute das ursprünglich vom Adjektiv abgeleitete Verb tarnen wieder im aktiven Wortschatz haben, ist wohl militärischen Sprachpuristen um 1920 zu verdanken, die einen Ersatz für camouflieren suchten – und fanden.¹⁶ Betrachten wir den schon genannten Beleg für altenglisch dyrne noch einmal im Kontext. Mit den in Rede stehenden Zeilen beginnt die Spruchsammlung ‚Maxims I‘.¹⁷ Sie ist überliefert im ‚Exeterbuch‘, einem Kodex aus dem späten 10. Jahrhundert, in dem unter anderem einige Gedichte auf uns gekommen sind, die zur altenglischen Weisheitsliteratur gehören. Hier also die ersten Zeilen der Spruchsammlung: Frige mec frodum wordum ne læt þinne ferð onhælne degol þæt þu deopost cunne nelle ic þe min dyrne gesecgan gif þu me þinne hygecræft hylest ond þine heortan geþohtas · gleawe men sceolon gieddum wrixlan (Z.1– 4a) Befrage mich mit weisen Worten! Lass deinen Geist nicht verhohlen, unzugänglich, was du zutiefst weißt. Ich will dir mein Verborgenes nicht sagen, wenn du mir deine Weisheit verhehlst und deines Herzens Gedanken. Weise Männer tauschen (sich mit) Sprüche(n) aus.
Der Sprecher fordert also eine andere Person auf, von ihm zu lernen, verbindet dies aber mit der Bedingung, der andere (Weise) müsste im Gegenzug ebenfalls das, was wissenswert ist, preisgeben. Das geschieht mit vierfach variierter Aufforderung in der Metaphorik des Offenlegens, genauer, indem gefordert wird, dieses Offenlegen nicht zu unterlassen. Das Offenzulegende wird ausgedrückt mit Nomina aus dem Bereich ‚Geist, Gedanke‘ sowie mit einem Nebensatz.¹⁸ Dagegen steht des Sprechers dyrne, sein ‚Verborgenes‘. All dies kulminiert dann in Z. 4a mit dem ersten Sprichwort der ganzen Sammlung.
DWDS, s. v. tarnen. St. Gallener Handschrift, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 911: https://www.e-codices.unifr.ch/de/list/ one/csg/0911, S. 23 (letzter Zugriff am 01.10.17). DWDS, s. v. tarnen. Diese Spruchsammlung wird in der Literatur sowohl als ‚Maxims I‘ als auch als ‚Exeter Maxims‘ bezeichnet. Ich zitiere weiter nach der Edition von Mackie (Anm. 5). Zu hygecræft (Z. 3a) s. Brian O’Camb, ‚Exeter Maxims‘, ‚The Order of the World‘, and the Exeter Book of Old English Poetry, in: Philological Quarterly 93/4 (2014), S. 409 – 432.
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Dyrne ist hier ein substantiviertes Adjektiv, und diesem (fast) synonym erscheint onhæl (Z. 1b), das mit dem urverwandten verhohlen wiedergegeben werden kann. Als erste Bedeutung von degol (Z. 2a) gibt der DOE, wie bei dyrne, „hidden, secret“ an. Die große semantische Nähe der beiden Adjektive zeigt sich unter anderem in der Möglichkeit, beide in einer alliterierenden Kollokation zu kombinieren, wie zum Beispiel in einer anderen Spruchsammlung, den ‚Cotton Maxims‘: is seo forðgesceaft digol and dyrne dryhten ana wat (Z. 61; ‚die Zukunft ist unbekannt und verborgen; Gott alleine kennt sie‘).¹⁹ Beide Adjektive unterscheiden sich deutlich in der Frequenz: Der DOE gibt für dyrne die Zahl von ca. 80 Belegen an, für digol hingegen ca. 300. Semantisch hilfreich sind hier zwei Belege aus Ælfrics ‚Grammatik‘ (um das Jahr 1000).²⁰ Der DOE vermerkt im letzten Eintrag für digol: „glossing clam esse, latere with personal object in accusative ‚to be hidden from (i. e. unknown to) someone‘“ und zitiert aus der ‚Grammatik‘: „clam te est digele ðe is“ und „latet digele is me, te, nos“.²¹ Auf dem Kontinent verzeichnet zweihundert Jahre zuvor das älteste deutsche Sprachzeugnis, der ‚Abrogans‘ (Sankt Gallen), als eine Glosse für clam „dunchalo vel latentur edho dernico“.²² Zurück zum Eingang von ‚Maxims I‘. Spätestens mit dem Objektsatz þæt þu deopest cunne (Z. 2a; ‚was du zutiefst weißt‘) wird die ontologische Metapher „The Mind Is a Container“ aufgerufen.²³ Dieses Bild des ‚Behälters‘ dient im gegebenen Fall, wie schon angedeutet, nicht dazu, etwas von anderen fernzuhalten. Im Gegenteil: Wie der Text sagt, ist es nachgerade die Pflicht eines Weisen, das dort befindliche Wissen zu teilen. Und mit der Aufforderung, dieses von ihm zu erfragen, suggeriert der Sprecher einerseits die typische formale Lehr-Lern-Situation von Frage und Antwort, was allerdings im Folgenden wieder aufgegeben wird. Andererseits hat das Verb frignan (‚[be‐]fragen‘) kulturhistorisch-medial große Reichweite und ragt in die Mündlichkeit hinein. Wird es mit dem perfektiven ge- präfigiert, hat es die Bedeutung „to learn about (by inquiry), hear (tell) of, find out (mainly in poetry)“.²⁴ Dem gehe ich hier nicht weiter nach, weil das einen weiteren, sehr komplexen semantischen Zusammenhang eröffnen würde.
Ich zitiere die Edition von ‚Maxims II‘ in: Anglo-Saxon Minor Poems, hrsg. von Elliot Van Kirk Dobbie (Anglo-Saxon Poetic Records 4), New York 1942, S. 55 – 57, übernehme jedoch weder die editorische Zeichensetzung noch die Kapitalisierungen. Dabei handelt es sich um eine – eng an Donatus und Priscian angelehnte – Grammatik des Lateinischen, die jedoch in englischer Sprache verfasst ist. Das heißt, die lateinische Grammatik wird in Englisch, und damit auch mit englischen Beispielen, erläutert. DOE, s. v. digol (7); Ælfrics Grammatik und Glossar. Bd. 1: Text und Varianten, hrsg. v. Julius Zupitza, Berlin 1880, S. 272 bzw. 207; zum besseren Verständnis setze ich die altenglischen Wörter nicht kursiv. St. Gallener Handschrift (Anm. 15), S. 218. George Lakoff und Mark Johnson, The Metaphorical Structure of the Human Conceptual System, in: Cognitive Science 4 (1980), S. 195 – 208, hier S. 196. DOE, s. v. gefrignan (B).
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Mündlichkeit wird auch mit der ersten gnomischen Halbzeile gleawe men sceolon gieddum wrixlan (Z. 4a; ‚Weise Männer tauschen [sich mit] Sprüche[n] aus‘) aufgerufen. Ganz allgemein ist giedd, soweit wir das erschließen können, als eine Form der Informationsverbreitung in der Mündlichkeit zu verstehen. Der DOE gibt für giedd die Grundbedeutung „poem, song“ an und charakterisiert das Nomen als häufig „in poetry and glosses“. Der DOE belegt giedd aber auch als Glosse für lateinisch divinatio (‚seherische Ahnung‘), proverbium (‚Sprichwort‘) und vaticinium (‚Vorhersage, Weissagung‘). Bei den glossierten Begriffen können wir zumindest für die letzten beiden als gemeinsamen Nenner so etwas wie ‚verbalisiertes Wissen‘ extrapolieren, das auch in der Grundbedeutung ‚Gedicht, Lied‘ enthalten sein muss. Brian O’Camb übersetzt Z. 4a etwas unentschlossen mit „Wise men ought to exchange poems / proverbs“, ohne die Alternative näher zu erläutern. Ihm geht es in seinem Artikel darum zu zeigen, dass in ‚Maxims I‘ – anders als in den ‚Cotton Maxims‘ – nicht nur Sprichwörter aneinandergereiht werden, sondern gleichzeitig an strategischen Stellen der Sammlung „the value of poets and verse“ hervorgehoben wird.²⁵ Das trifft wohl zu, allerdings handelt es sich da nicht ‚nur‘ um eine sprachlich gebundene Form, in der Information gespeichert und weitergegeben wird. Dichtung ist bedeutend, weil sie Dichtung ist. Dies ist keineswegs tautologisch, weil, wie ich einmal vorgeschlagen habe, die traditionelle altenglische alliterierende Langzeile wohl die aus dem Mündlichen ererbte „Form der Würde“ ist, also all dessen, was würdig ist, weitergegeben zu werden.²⁶ In welchem Zusammenhang steht dies nun mit der Frage nach ‚verborgenem Wissen‘? Zum einen dokumentiert der Beginn von ‚Maxims I‘ in dreieinhalb Zeilen einige Möglichkeiten, über (noch) nicht vermitteltes Wissen zu sprechen. Im Sinn der kognitiven Sprachwissenschaft handelt es sich dabei um die negative Wendung der Metapher „Knowing is Seeing“.²⁷ Oder vielleicht besser gesagt: Die negative Wendung weitet die Metapher aus zu „Impediment to Knowing Is Impediment to Seeing“. Der Beginn von ‚Maxims I‘ bestätigt eindeutig die Projektion von Wissen auf das physische Sehen, und aus den letzten Jahren liegen uns einige Untersuchungen vor, die weitere Illustrationen für derartige kognitive Metaphorik im Altenglischen liefern.²⁸ Im nächsten Abschnitt möchte ich anhand von Stichproben skizzieren, dass, wie zu er-
O’Camb (Anm. 18), S. 410. Ursula Schaefer, Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (ScriptOralia 39), S. 114. Mark Johnson u. George Lakoff, Why cognitive linguistics requires embodied realism, in: Cognitive Linguistics 13/3 (2002), S. 245 – 263, hier S. 254; im Original in Kapitälchen. Z. B. Britt Mize, The representation of the mind as an enclosure in Old English poetry, in: AngloSaxon England 35 (2006), S. 57– 90; Ders., The Mental Container and the Cross of Christ. Revelation and Community in ‚The Dream of the Rood‘, in: Studies in Philology 107/2 (2010), S. 131– 178; Miranda Wilcox, Alfred’s epistemological metaphors: eagan modes and scip modes, in: Anglo-Saxon England 35 (2006), S. 170 – 217; Toril Swan, Metaphors of Body and Mind in the History of English, in: English Studies 90/4 (2009), S. 460 – 475; Katherine O’Brien O’Keeffe, Hands and eyes, sight and touch: appraising the senses in Anglo-Saxon England, in: Anglo-Saxon England 45 (2016), S. 105 – 140.
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warten, wörtliche und metaphorische Bedeutung von relevanten Ausdrücken nebeneinander stehen und bei einigen Belegen nicht eindeutig entscheidbar ist, ob das eine oder das andere vorliegt. Ich bewege mich dazu bewusst kleinräumig insbesondere im ‚Beowulf‘-Epos. Kontextbedingt wird gleichzeitig auch von einer weiteren Metapher die Rede sein, in der die andere, schon von Grimm genannte sinnliche Quelle des Erkennens eine Rolle spielt, nämlich das Hören.
4 Verborgenes, Sichtbares und Gehörtes im ‚Beowulf‘ Wie gerade dargestellt, scheint es im Altenglischen nicht daran zu mangeln, das Vorenthalten von Information beziehungsweise die Qualität des Vorenthaltenseins auszudrücken. So überrascht es nicht, dass das in ‚Maxims I‘ belegte Adjektiv dyrne ‚verborgen‘ auch zahlreich im ‚Beowulf‘ vertreten ist. Ausgehend davon, dass der einzige uns bekannte Text in einem Manuskript aus dem späten 10. Jahrhundert auf uns gekommen ist, halte ich es für vertretbar, seinen Wortschatz zumindest in unserem Zusammenhang an die Seite von Befunden aus dem ‚Exeterbuch‘ zu stellen.²⁹ Beginnen wir wieder mit einer besonderen Situation verbalen Austauschs. Als der Held an den Gestaden der Dänen landet, wird Beowulf mit seinen Mannen vom Küstenwärter gestellt und befragt, wer er sei und in welcher Absicht er komme. Der Küstenwärter ist besorgt, die hochgerüstete Schar dringe bei den Dänen ein, ohne dass man sie gerufen hat. Er erkenne sehr wohl, dass Beowulf dem Aussehen und der Ausstattung nach ein edler Kämpe sein muss (Z. 237a–250a), der Erzähler schränkt das aber mit dem Einschub ein: næfne him his wlite leoge (Z. 250b; ‚es sei denn, sein Äußeres täuschte‘).³⁰ Nachdem sich Beowulf als Gaute und Sohn des Ecgtheow identifiziert hat, verkündet er, in wichtiger Mission zu den Dänen zu kommen. Deshalb stimmt er dem Fragenden zu: ne sceal þær dyrne sum wesan (Z. 271 f.; ‚nichts darf verborgen bleiben‘). Und zur Begründung seines Kommens fügt er an, der Küstenwärter wisse ja (Z. 272b; þu wast), dass die Dänen von einem verheerenden Ungeheuer heimgesucht werden, relativiert dies jedoch umgehend: gif hit is swa we soþlice secgan hyrdon (Z. 272b–273a; ‚wenn es so ist, wie wir es erzählen hörten‘). Dass die Kunde von
Über das definitive Alter des Epos kann keine seriöse Aussage gemacht werden; vgl. dazu neuestens die Beiträge in: Leonard Neidorf (Hg.), The Dating of Beowulf. A Reassessment, Cambridge 2014. Ich zitiere das Epos hier und im Folgenden nach der Ausgabe von Klaeber: Beowulf and the Fight at Finnsburg, hrsg. von Frederick Klaeber, 3. Aufl. Lexington 1959, allerdings ohne editorische Zeichensetzung und Kapitalisierungen. Im Manuskript steht næfre (‚niemals‘). Die Emendation zu næfne (‚es sei denn‘) ist allgemein akzeptiert. Zum Verb leogan vgl. Ursula Schaefer, Deception. An Essay on the Lexicalization of a MultiFacetted Concept in Medieval English, in: Matthias Eitelmann und Nadyne Stritzke (Hgg.), Ex Praeteritis praesentia. Sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zu Wort- und Stoffgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theo Stemmler, Heidelberg 2006, S. 21– 41.
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Grendels Greueltaten bis in die Heimat Beowulfs gedrungen war und der Held deshalb mit seinem Gefolge in See stach, hatte der Erzähler zuvor mit den Worten þæt fram ham gefrægn higelaces þegn (Z 194 f.; ‚das erfuhr zu Hause Hygelacs Gefolgsmann‘) vermerkt.³¹ In der hier diskutierten Szene kann Beowulf das Wissen um Grendels schreckliche Verwüstungen dem Küstenwärter gegenüber als Beleg für die Gutwilligkeit seiner Absichten vorbringen. Der Küstenwärter rechtfertigt daraufhin seine Befragung in Form eines Sprichworts:³² æghwæþres sceal scearp scyldwiga gescad witan, worda ond worca se þe wel þenceð (Z. 287b–289) Jeder tüchtige Schildträger, der wohl überlegt, muss genaue Kenntnis haben von allen Worten und Taten.
Auf dieser Basis kann er Beowulf und seinem Gefolge auch Zutritt in das Land der Dänen gewähren: ic þæt gehyre þæt þis is hold weorod frean scyldinga gewitaþ forð beran wæpen ond gewædu (Z. 290 – 292a) Ich vernehme, dass dies eine dem Herrn der Scyldinge wohlgesonnene Kriegerschar ist. Geht waffentragend und in Rüstung weiter.
Diese Stelle belegt nun unzweifelhaft die metaphorische Projektion des Verstehens auf das Hören, auch wenn die physische Erfahrung direkt vorangeht. Der Küstenwärter schließt aus Beowulfs Auskunft, dass es sich tatsächlich um eine wohlgesonnene Kriegerschar handelt, und basiert darauf die Erlaubnis, dass die Mannen weiter in voller Bewaffnung ins Land dürfen. Aber gehen wir in der Erzählung noch einmal zurück an die Stelle, die den Grund für Beowulfs Aufbruch darlegt. Etwas mehr als hundert Zeilen vor dem Zusammentreffen Beowulfs mit dem dänischen Küstenwärter berichtet der Erzähler des Epos von der Attacke, in der das Ungeheuer Grendel nach einem Fest die Halle des dänischen Königs Hrothgar verwüstet hat: ða wæs on uhtan mid ærdæge grendles guðcræft gumum undyrne þa wæs æfter wiste wop up ahafen micel morgensweg (Z. 126 – 129a)
Der DOE gibt im Eintrag ham n. (6.b.i.) die Bedeutung der Konstruktion fram ham an eben dieser Stelle als „from (sources in) one’s native land“ an, was offensichtlich durch gefrægn insinuiert wird. Wie Alfred Bammesberger überzeugend argumentiert, bedeutet an dieser Stelle gescad nicht, wie allgemein üblich angenommen, ‚Unterschied‘, sondern ‚Bescheid‘; Alfred Bammesberger, The Coastguard’s Maxim Reconsidered (‚Beowulf‘, Lines 287b–289), in: ANQ: A Quarterly Journal of Short Articles, Notes, and Reviews 18.2 (2005), S. 3 – 6.
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Da war in der Morgendämmerung bei Tagesanbruch Grendels Kampfeskraft den Menschen offenbar. Da erhob sich nach dem Fest Wehklagen, großes Geschrei am Morgen.
Konkret könnte man sich denken, dass Hrothgar und sein Gefolge die von Grendel vollbrachte Verwüstung sehen. Doch scheint mir hier die ‚Erkenntnis‘ im Vordergrund zu stehen, was dann zur Wehklage führt. Die Attacken des Ungeheuers dauern weitere zwölf Jahre an, sodass die Kenntnis von Grendels Untaten ihre in der internen Welt des Epos angebrachte Verbreitung findet: forðam [secgum] wearð ylda bearnum undyrne cuð gyddum geomore þætte grendel wan hwile wið hroþgar (Z. 149b–152a) So wurde [den Menschen,] den Söhnen der Menschen, offenbar [und] bekannt in traurigen Gesängen, dass Grendel lange gegen Hrothgar kämpfte.
Zuerst also die Erkennbarkeit, ausgedrückt mit wæs […] gumum […] undyrne (Z. 126 f.; ‚war den Menschen offenbar‘), dann die Verbreitung der Kunde, ausgedrückt mit wearð ylda bearnum undyrne cuð (Z. 149 f.; ‚wurde den Menschen [d. h.: allen] offenbar [und] kund‘). So konnte auch Beowulf im Land der Gauten davon hören, wie er dem Küstenwärter gegenüber berichtet. Hier haben wir uns mit der Form undyrne zu befassen und der semantischen Veränderung, die die Basis dyrne durch un- erfährt. Mit un- präfigierte Adjektive, Partizipialformen und von Adjektiven abgeleitete Adverbien sind in der altenglischen Dichtung bemerkenswert häufig. Frederick Klaeber listet in seinem Glossar zum ‚Beowulf‘ allein fast vierzig verschiedene Formen auf. Sie gehen von uncuð ‚unkundig‘ über unlifgend ‚unlebend‘ (d. h. ‚tot‘) und unrot ‚unfroh‘ bis zu unwrecen ‚ungerächt‘.³³ Hans Marchand gibt für das Altenglische die Zahl von ungefähr 1.250 solcher Formen an. Er stellt weiter fest, dass die allermeisten bis Mitte des 13. Jahrhunderts verschwunden und nur sehr wenige bereits im Altenglischen belegte Formen im heutigen Englisch erhalten sind.³⁴ Am wichtigsten für unsere Diskussion ist aber zum einen die Beobachtung, dass nur solche (primären) Adjektive mit unpräfigiert werden, die nicht „in themselves denote the absence of something“. Zum anderen, dass selbst bei Adjektiven, die ein Antonym „in contrary opposition“ haben (wie z. B. good vs. bad), die mit un- präfigierte Form des ursprünglich positiven Adjektives eine „contradictory opposition“ ausdrückt.³⁵ Marchand illustriert das an
Klaeber (Anm. 29), S. 416 – 417. Hans Marchand, The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. A SynchronicDiachronic Approach, 2. Aufl. München 1969, S. 201. Marchand (Anm. 34), S. 203.
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anderer Stelle mit einem Beispiel aus dem heutigen Deutschen, dem Adjektiv „unklug“, dessen semantische Äquivalent nicht einfach „dumm“ ist.³⁶ Hier kommt uns ein altenglisches Stilmittel zu Hilfe, von dem bereits die Rede war: der Ausdruck eines Sachverhalts durch zwei Wörter derselben Wortart, die sich semantisch annähernd doppeln.³⁷ Solche Kollokationen gehören zum weiter gefassten Stilmittel der Variation, das wir bereits in den Eingangszeilen von ‚Maxims I‘ sehen konnten. Dabei werden die beiden Elemente alternativ, koordiniert oder auch asyndetisch gereiht. Klaeber interpretiert undyrne cuð in Z. 147b als eine solche asyndetische Kollokation. Dasselbe gilt für die Stelle, in der Beowulf dem Dänenkönig berichtet, weshalb er gekommen sei: me wearð grendles þing on minre eþeltyrf undyrne cuð (Z. 409b–410; ‚mir wurde Grendels Sache in meiner Heimat offenbar [und] bekannt‘). Es bedürfte weiterer qualitativer Untersuchungen, um näher bestimmen zu können, ob man aus der Kollokation undyrne cuð schließen kann, dynre und cuð seien Antonyme. Als Antonym zu dyrne kommt aber sicherlich auch gesyne in Frage. Grammatisch handelt es sich bei gesyne um das Präteritalpartizip des Verbs seon ‚sehen‘. Wie Brunner feststellt: Bei transitiven Verben, und das ist der gegebene Fall, wird mit dem Präteritalpartizip eine „vollendete Verbalhandlung“ ausgedrückt, die „stets passive Bedeutung [hat], das heißt, der in dem regierenden Substantiv ausgedrückte Begriff hat die Verbalhandlung erlitten“.³⁸ In der Zusammenschau mit dem Adjektiv dyrne wird dies an folgendem Beleg gut erkennbar. Parallel zur Wahrnehmbarkeit der Verwüstungen durch Grendel im ersten Teil des ‚Beowulf‘ wird im zweiten Teil von den Verwüstungen durch einen Drachen berichtet: wæs þæs wyrmes wig wide gesyne nearofages nið nean ond feorran hu se guðsceaða geata leode hatode ond hynde (Z. 2316 – 2319a) Des Drachens Kampf war weithin sichtbar / bekannt, die Feindseligkeit des bedrohlichen Feindes, nah und fern, wie der Feind das Volk der Gauten hasste und kränkte.
Wieder ist hier vom Wissen um das Wüten eines Ungeheuers und dessen Folgen die Rede. Ähnlich verhält es sich im ersten Teil mit dem Umstand, dass Grendels Mutter ausgerückt ist, seinen Tod zu rächen:
Hans Marchand, Rezension von Karl E. Zimmer, Affixal negation in English and other languages: An investigation of restricted productivity (New York 1964) in: Language 42/1 (1966), S. 134– 142; hier S. 140 – 141. Vgl. dazu jüngst Joanna Kopaczyk und Hans Sauer, Defining and Exploring Binomials, in: Dies. (Hgg.). Binomials in the History of English, Fixed and Flexible. Cambridge 2017, S. 1– 23, und in dem Band Robert D. Fulk, Pragmatic and Stylistic Functions of Binomials in Old English, S. 27– 40. Karl Brunner, Die englische Sprache. Ihre geschichtliche Entwicklung, 2 Bde, Tübingen 1962, Bd. 2, S. 363.
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þæt gesyne wearþ widcuþ werum þætte wrecend þa gyt lifde æfter laþum (Z. 1255b–1257a) Es wurde offenbar, den Menschen weithin bekannt, dass die Rächerin noch immer lebte nach dem Kampf.
Hier wird gesyne mit dem Kompositum widcuð (‚weithin bekannt‘) variiert, was wieder die semantische Nähe von gesyne und cuð illustriert. Dass der formelhafte Ausdruck wide gesyne aber auch eindeutig wörtlich verwendet werden kann, zeigt sich im ‚Beowulf‘ z. B. wenig später, als Hrothgar Grendels Mutter folgt: [lastas] wæron […] wide gesyne gang æfter grunde (Z. 1402b–1404; ‚die Spuren waren […] deutlich sichtbar, ihr Weg auf dem Boden‘). In den ‚Blickling Homilies‘ (Ende 10. Jahrhundert) findet sich zur Predigt an Michaeli ein solcher Umstand – nun aber für die Fußspuren des Erzengels – in einer alliterierenden Kollokation ausgedrückt: Ða fotlastas wæron swutole and gesyne (‚Die Fußspuren waren erkennbar und sichtbar‘).³⁹ Die Grundbedeutung des Adjektivs sweotol wird wiederum von Toller paraphrasiert als „of what may be clearly perceived by the senses“, und die Belege werden dann unterteilt „by sight“, „by hearing“ und „by taste“.⁴⁰ Als zweite Bedeutung gibt Toller „manifest to observation, that may be noticed by all, open, patent“. In den dazu angeführten Belegen erscheint sweotol mehrheitlich in der Kollokation sweotol and gesyne. Hier können wir recht eindeutig den übertragenden Schritt, also die Projektion vom Wissen auf das Sehen auf lexikalischer Ebene festmachen. Ich fasse kurz zusammen. In den diskutierten Beispielen sind dyrne und digol Realisationen der Projektion „Impediments to Knowledge Are Impediemnts to Vision“.⁴¹ Zumindest anhand der im DOE angeführten Belege ist eine wörtliche Bedeutung nicht auszumachen. Im Gegensatz dazu sind gesyne und sweotol sowohl wörtlich als auch metaphorisch belegt. Die präfigierte Form undyrne, die uns gleich noch einmal beschäftigen wird, nimmt eine Zwischenstellung ein. Wenn das Präfix un- tatsächlich nicht an Adjektive tritt, die selbst die Abwesenheit von etwas ausdrücken, wie Marchand feststellt, muss es eine Grundbedeutung von dyrne gegeben haben, die zumindest ‚neutral‘ die Nicht-Sichtbarkeit bezeichnet. Schauen wir dazu noch einmal in das ‚Exeterbuch‘.
The Blickling homilies of the tenth century (EETS OS 63), hrsg. und übers. v. R. Morris. London 1880, S. 203. An Anglo-Saxon dictionary, hrsg. v. T. Northcote Toller, ND London 1988 (zuerst: 1898), S. 951: s. v. sweotol. Vgl. Johnson und Lakoff (Anm. 27), S. 254.
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5 Die Lösung? – Rätsel 42 im ‚Exeterbuch‘ Im ‚Exeterbuch‘ sind über 90 altenglische Rätsel versammelt.⁴² Das zu Erratende, sofern denn die Lösung eindeutig identifizierbar ist, können Naturphänomene wie der Wind (Rätsel 1), Tiere wie der Kuckuck (Rätsel 9) oder alltägliche Gegenstände wie der Rechen (Rätsel 34) sein.⁴³ Einige Rätsel, die als Lösung ‚eigentlich‘ alltägliche Gegenstände, wie z. B. „Schlüssel“ (Rätsel 44), haben, sind so eindeutig zweideutig formuliert, dass sich eine andere – Sexuelles betreffende – Lösung in den Vordergrund schiebt. Weiterhin verrätseln mehrere dieser Gedichte Themen aus dem Skriptorium, wie das Führen einer Feder mit den drei Fingern, das als Reise von vier Gestalten auf einem weißen Feld dargestellt wird (Rätsel 51). Und nicht zuletzt werden in einigen Rätseln Runen verwendet, deren umsortierte Zusammensetzung das Lösungswort ergeben, z. B. „Häher“ (altenglisch higoræ; Rätsel 24). Eine höchst kunstvolle Mischung all dessen findet sich in Rätsel 42, dessen Lösungswörter „Hahn“ und „Henne“ sind. Für uns ist es von Interesse, weil hier das Adverb undernunga und das Adjektiv undyrne in ganz besonderer Weise verwendet werden. Das Rätsel beginnt, wie viele andere auch, damit, dass der Sprecher feststellt, jemanden bzw. etwas gesehen, also jemandem oder etwas bei einem Geschehen zugeschaut zu haben: IC seah wyhte wrætlice twa undearnunga ute plegan (Z. 1– 2; ‚Ich sah, wie sich zwei prächtige Kreaturen im Freien unverhohlen beim [Hochzeits‐]Spiel amüsierten‘), dessen potentielle Folge dann auch beschrieben wird. Nun funktionieren Rätsel in der Regel „by describing something recognizable from an unusual perspective“, wie Jonathan Wilcox sagt, und so machen sie „the familiar strange“.⁴⁴ Hier wird zwar auch zuerst eine Beschreibung gegeben, doch das ist etwas sehr Gewöhnliches, das man täglich auf einem Bauernhof sehen kann, wie sich bald herausstellt. Dann bietet der Sprecher an: ic on flette mæg þurh runstafas rincum secgan þam þe bec witan bega ætsomne naman þara wihta þær sceal nyd wesan twega oþer ond se torhta æsc an an linan acas twegen hægelas swa some (Z. 5b–11a)
Die Zahl schwankt in unterschiedlichen Editionen, da die Textunterteilung in einzelne Rätsel am Beginn des ersten Blocks von Rätseln im ‚Exeterbuch‘ strittig ist; vgl. dazu: The Old English Riddles of the Exeter Book, hrsg. von Craig Williamson, Chapel Hill 1977. Ich zitiere wieder nach Mackie (Anm. 5) und übernehme seine Nummerierung. Jonathan Wilcox, ‚Tell me what I am‘: the Old English riddles. in: David E. Johnson und Elaine Traherne (Hgg.), Readings in Medieval Texts: Interpreting Old and Middle English Literature, Oxford 2005, S. 46 – 59, hier S. 47.
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Ich kann auf dem Boden mit Runenzeichen den Menschen, die Bücher kennen, die Namen beider Kreaturen zusammen verkünden. Da muss NYD [‚Not‘] sein, zwei davon, und [der / die] stolze ÆSC [‚Esche‘], eines auf der Linie; zwei ACAS [‚Eichen‘] und ebensoviele HÆGELAS [‚Hagel‘].
Hier macht der Sprecher die Namen der Kreaturen sichtbar, indem er sie wahrhaft mit Runen ‚ausbuchstabiert‘ und damit die Lösung preisgibt. Dabei bedient er sich der Runen in ungewöhnlicher Weise. Sie haben Namen, und diese verwendet er hier. Sie fungieren aber auch – z. B. in den wenigen Texten, die ganz in Runen geschrieben sind – als Buchstaben mit dem Lautwert des Anlauts ihres Namens.⁴⁵ Wenn sie in einem ansonsten in lateinischer Schrift geschriebenen Text vorkommen (was nicht oft geschieht), können Runen deshalb als Logogramm oder für einen Laut verwendet werden.⁴⁶ In diesem Rätsel werden die Runennamen allerdings in lateinischen Buchstaben ausgeschrieben, und nur bei æsc (‚Esche‘) spielt der Runenname als ganzes Wort insofern eine Rolle, als mit dem grammatisch entsprechenden Genus im attributiven Adjektiv die „stolze Esche“ genannt wird. Ansonsten wird quantitativ angegeben: zweimal N, ein Æ, zweimal A und zweimal H. Daraus ergeben sich dann hana und hæn, also ‚Hahn‘ und ‚Henne‘. Zwar sagt der Sprecher zuvor, wie schon bemerkt, er könne die runstafas (Z. 6a; ‚Runen‘, wörtlich: ‚Runenstäbe‘) auf den Boden schreiben und damit den Menschen den Namen der Kreaturen mitteilen, doch schränkt er den Kreis dieser Menschen mit þam þe bec witan (Z. 7a; ‚denen, die Bücher kennen‘) gleich wieder ein. Das ist allerdings hyperbolisch-ironisch, wie Seth Lerer kommentiert: „[…] runes are not a ‚bookish‘ but an epigraphic script, nor does it take much book-learning to grasp the opening scene“.⁴⁷ Ich glaube zwar, dass das ‚Buchwissen‘ hier nicht dazu dienen soll, die ersten Zeilen zu verstehen, sondern eben nur die Bedeutung der Runen. Abgesehen davon trifft es natürlich zu, dass Runen nur bedingt zur Gelehrsamkeit der Bücherwelt gehören. Der Sprecher fährt fort in der rhetorisch ausgekleideten Metaphorik des Aufschließens und des Verbergens: hwylc þæs hordgates cægan cræfte þa clamme onleac
Siehe dazu neuestens Victoria Symons, Runes and Roman Letters in Anglo-Saxon Manuscripts (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsbände 99), Berlin und Boston 2016. Ich gebe in der Übersetzung die altenglischen Namen der Runen in Großbuchstaben an, um sie als Namen kenntlich zu machen. Im Manuskript sind sie einfach in der insularen Variante der lateinische Schrift transliteriert. So gibt es vier altenglische Gedichte, die am Ende eine ‚Runensignatur‘ enthalten: ‚Fates of the Apostles‘ und ‚Elene‘ (im ‚Vercellibuch‘) sowie ‚Christ II‘ und ‚Juliana‘ (im ‚Exeterbuch‘). Zusammengesetzt ergeben die Lautwerte der Runen den Namen CYNWULF bzw. CYNEWULF. Dabei repräsentieren die Runenzeichen in ‚Juliana‘ nur den entsprechenden Lautwert, während sie in den anderen Gedichten lexikalische Bedeutung haben und sich auch metrisch in den sie umgebenden Text einfügen; vgl. dazu Symons (Anm. 45), S. 85 – 120. Seth Lerer, The Riddle and the Book: Exeter Riddle 42 in Its Contexts, in: Papers in Language and Literature 25/1 (1989), S. 3 – 18, hier S. 7.
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þe þa rædellan wið rynemenn hygefæste heold heortan bewrigene orþoncbendum (Z. 11b–15a) Wer hatte die Schlüsselgewalt, das (Buch‐)Schloss dieses Schatztores zu öffnen, das das Rätsel den Runenkundigen vorenthielt, das Herz verborgen durch die kunstvolle Bindung.
Dies ist, in den Worten von Britt Mize, ein weiterer Beleg für die poetische Verwendung der „basic idea of the mind as a secure enclosure for valuables“.⁴⁸ Und tatsächlich benutzt auch Ælfric das Bild des Schlüssels im englischen Vorwort zu seiner ‚Grammatik‘. Er begründet, weshalb er Donatus und Priscian ins Englische übertragen hat, so: Ðe stæfcræft is seo cæg ðe ðære boca andgit unlicð (‚die Grammatik [wörtlich: die Buchstabenfertigkeit] ist der Schlüssel, der den Sinn der Bücher erschließt‘).⁴⁹ Allerdings kann Lerer überzeugend nachweisen, dass in dem Rätsel (auch) – ganz materiell – eine neue Buchbindetechnik dieser Zeit thematisiert wird, sodass die Realität des zeitgenössischen Skriptoriums die Metaphorik relativiert.⁵⁰ Die Buchschnallen, die nur mit einem Schlüssel zu öffnen sind, hielten tatsächlich dieses Rätsel nicht nur vor den ‚Runenkundigen‘ verborgen. Das aufgeschlagene Buch macht das Rätsel selbst wahrhaft sichtbar, und gleichzeitig ist auch – wörtlich – dessen Lösung zu sehen, nämlich die in lateinischer, genauer: in insularer Schrift wiedergegebenen Runennamen. Der Autor dieses Rätsels zeigt also eine stupende Fertigkeit, seinen Ausdruck zwischen Wörtlichkeit und metaphorischer Bedeutung oszillieren zu lassen. Und er krönt das mit der abschließenden Formulierung: nu is undyrne werum æt wine hu þa wihte mid us heanmode twa hatne sindon·(Z. 15b–17) Nun ist (auch) den Menschen beim Wein offenbar, wie die beiden derben Kreaturen bei uns geheißen werden.
Nach unseren Erkundungen zur Bedeutung von dyrne und undyrne scheint hier endlich klar, dass undyrne eindeutig die Qualität der Sichtbarkeit ausdrückt. Seth Lerer erkennt in seiner Interpretation dieses Rätsels aber noch viel mehr, nämlich einen epistemologischen Wendepunkt, der aus der immer dominanteren Schriftlichkeit resultiert. Er folgt damit explizit der Beobachtung von Katherine O’Brien O’Keeffe, dass um die Jahrtausendwende die visuelle Textrezeption zunehme, und stellt fest: To say, then, that Riddle 42 addresses issues in the ‚literate‘ interpretation of literary experience is in the end to say something about the visual appreciation of that experience. The runes on the
Mize, The representation (Anm. 28), S. 60. Ælfrics Grammatik (Anm. 21), S. 2. Lerer (Anm. 47), S. 12– 15.
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floor, the verbal patterns of the poem, the idioms of craft – all these features coalesce to make the poem and its method of solution a ‚seen‘ thing. ⁵¹
Zwei Dinge sind hier zu kommentieren. Zum einen: Unbestreitbar geht es bei diesem Rätsel um das ‚Angesichtigwerden‘, also eine Rezeption mit den Augen. Das gilt für den ‚öffentlichen‘ Kopulationsakt von Hahn und Henne, und ebenso kann derjenige, der das Rätsel lösen soll, die ausgeschriebenen Runennamen sehen: Der Rätselsteller wäre in der Lage, sie auf den Boden zu malen, zu sehen sind sie dann aber – in lateinischer Schrift transliteriert – innerhalb des Rätsels im aufgeschlagenen Kodex. All dies zeugt – einmal mehr – davon, wie im Rätsel die literate Welt des Skriptoriums zum autoreflexiven Thema wird. Zweitens meint Lerer: „[…] Riddle 42 figuratively presents a notion of interpretation or of thought itself as a form of craft, a learned skill […].“⁵² Ich wäre zögerlich, den Schluss zu ziehen, das Rätsel markiere den Wendepunkt vom hörenden zum sehenden Verstehen. Möglicherweise hat Lerer hier mit etwas zu leichter Hand mit der kognitiven Metaphorik seiner eigenen Sprache gespielt (in der see ‚verstehen‘ bedeuten kann), auch wenn nicht bestreitbar ist, dass in diesem Rätsel das Sehen im Vordergrund steht. Innerhalb der mediävistischen Forschung zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben wir uns viel Mühe gegeben nachzuweisen, dass hörende Rezeption und sich ausbreitende Schriftlichkeit einander keineswegs ausschließen. Ich nenne da exemplarisch aus dem Altenglischen nur die Formel swa we þæt gehyrdon þurh halige bec (z. B. ‚Fates of the Apostles‘ Z. 63; ‚so hörten wir es aus heiligen Büchern‘).⁵³ Das ist die Welt der Vokalität, in der insgesamt die Stimme als ‚Informationsmedium‘ vorherrscht, auch wenn wir es tatsächlich mit ‚Buchwissen‘ zu tun haben. Das Verb hören reflektiert hier immer noch die Realität der Sinneswahrnehmung und drückt doch gleichzeitig den kognitiven Akt des – vermittelten – Verstehens aus.
6 Erträge Angeregt durch die Frage, ob und wie man um die erste Jahrtausendwende in England in der poetischen Volkssprache über Geheimnisse und Geheimnisvolles spricht, zeigen Stichproben, dass recht konsequent von Verborgenem die Rede ist, dass es sich dabei aber nicht unbedingt um ‚Vorenthaltenes‘ handelt. So ist die Tatsache der Zerstörungskraft des Ungeheuers Grendel erkennbar, sichtbar und wird so zu Wissen, das allerdings zuvor niemandem absichtlich vorenthalten wurde. Etwas anders verhält es sich mit der Identität Beowulfs, die der Küstenwärter von ihm erfragt. Die Information Lerer (Anm. 47), S. 17; vgl. Katherine O’Brien O’Keeffe, Visible song. Transitional literacy in Old English verse, Cambridge 1990. Lerer (Anm. 47), S. 18. Vgl. die Interpretation dieser und ähnlicher Stellen in Schaefer (Anm. 26), insbesondere S. 164– 177.
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will Beowulf gerne geben, nichts solle verborgen bleiben. In der Systematik von Alois Hahn handelte es sich hier allenfalls um (das Gegenteil von) Verheimlichung. Schließlich, am Beginn der ‚Maxims I‘, die Verpflichtung, in Sprichwörtern geronnenes Wissen zu teilen. Lerer meint, dieses Wissen sei nur unter den Weisen weiterzugeben, was auf den ersten Blick Hahns „Geheimhaltung“ entspräche.⁵⁴ Alles in allem fragt sich, ob das heuristische Modell Hahns hier wirklich taugt. Die Bedeutungsbreite von dyrne zeigt nämlich, dass es, wie das Vorgehen des Drachens dyrnan cræfte (‚Beowulf‘ Z. 2290a; ‚mit heimtückischer List‘), viel ‚Geheimnisvolles‘ gibt, das auch gar nicht in der Gefahr steht, entdeckt zu werden. Mittelenglisch derne setzt die Bedeutung des ‚verborgen Gemeinisvollen‘ fort, wie die Einträge im Middle English Dictionary (MED) zeigen.⁵⁵ Digol wiederum ist im frühen Mittelenglischen nurmehr schwach vertreten und wird Ende des 13. Jahrhunderts obsolet.⁵⁶ Interessant auch, dass der MED keine Belege mehr für eine Fortführung der präfigierten Form undyrne aufweist. Demgegenüber lebt gesyne weiter, sogar im Binomial mit der Fortsetzung von sweotol: þe sterre was boþen sotel & sene (‚die Sterne waren offenkundig und sichtbar‘).⁵⁷ Im Lauf meiner Untersuchungen habe ich mich darüber hinaus auch mit der Verbreitung von Wissen befasst. In ‚Maxims I‘ handelt es sich um mündliche Weitergabe von weisen Worten, von Sprichwörtern, die geteilt werden sollen. Und im ‚Beowulf‘ wird mehrfach gesagt, der Held habe z. B. die Kunde von Grendels Taten gehört. In Rätsel 42 wird wiederum verdeutlicht, dass des Rätsels Lösung wahrhaft sichtbar ist. Aber hat im Kontext das undyrne im Rätsel dieselbe Bedeutung wie zum Beispiel im ‚Beowulf‘, als Grendels Zerstörungswille zu Tage tritt? Hier lohnt es sich, noch einmal den Grundbedeutungen der Verben sehen und hören zu bedenken. Der schwedische Sprachwissenschaftler Åke Viberg bemerkte schon vor längerer Zeit, dass man bei Verben der Perzeption unterscheiden müsse zwischen Aktivität und Erfahrung: The distinction between an activity and an experience is illustrated by pairs such as look at vs. see and listen to vs. hear. Activity refers to an unbounded process that is consciously controlled by a human agent, whereas experience refers to a state (or inchoative achievement) that is not controlled.⁵⁸
Lerer (Anm. 47), S. 4– 5. Mit Ergänzungen gibt der elektronische, korpusbasierte MED unter https://quod.lib.umich.edu/m/ med/ das 2001 im Druck erschienene Wörterbuch desselben Namens wieder. Ich verweise hier und im Folgenden auf den MED nach Lemma und gegebenenfalls auf weiter differenzierende Nummerierungen; hier MED s. v. derne. Dieser wie alle folgenden Einträge im MED wurden zuletzt am 01.10.17 überprüft. MED, s. v. diȝel. ‚The Journey of the Three Kings‘ (incipit: Wolle ye iheren [!]), Z. 51; in: English Lyrics of the XIIIth Century, hrsg. von Carlton Brown. Oxford 1932, S. 40. Zuvor wird im Gedicht aber auch gesagt, dass die Drei Könige am Hof des Herodes herden sotele tidinge (Z. 32; ‚vernahmen bekannte Nachrichten‘). Das Manuskript, in dem das Gedicht überliefert ist, wird um 1250 datiert; cf. MED s. v. sen 1 (c). Åke Viberg, The verbs of perception: a typological study, in: Linguistics 21 (1983), S. 123 – 162, hier S. 123.
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Im Altenglischen ist Sehen als Aktivität mit sceawian (‚schauen‘) lexikalisiert, dieses Verb durchläuft dann allerdings eine ungewöhnliche Bedeutungsveränderung zu show (‚zeigen‘). ⁵⁹ Gleichzeitig kann seon (‚sehen‘) Aktivität wie Erfahrung ausdrücken. Für das Hören besteht zwar die Möglichkeit, die Aktivität mit heorcnian (‚zuhören‘, ‚horchen‘) auszudrücken, dieses Verb ist jedoch im Altenglischen mit 21 Vorkommnissen im Korpus des DOE nur sehr schwach belegt.⁶⁰ Vielmehr deckt (ge‐)hyran auch hier beides ab.⁶¹ Folgt man der Unterscheidung Vibergs, erschließt sich, weshalb das ‚Ungewusste‘, ‚Unbekannte‘ als ‚Verdecktes‘ ausgedrückt wird. Man kann, um mit Jacob Grimm zu sprechen, auch „mit dem […] gehör erkennen“, und so, metaphorisch, „höher als das blosz sinnliche vernehmen“.⁶² Dies ist beispielsweise wohl der Fall, als der Küstenwärter sagt, er höre (aus den Worten Beowulfs) ‚dass dies eine dem Herrn der Scyldinge wohlgesonnene Kriegerschar ist‘ (‚Beowulf‘, Z. 290). Diese hörende Sinneswahrnehmung scheint dennoch nur begrenzt geeignet, nicht erschlossenes Wissen metaphorisch auszudrücken. Dafür spricht Sweetsers Feststellung, nicht alles sende auditorische Stimuli aus, und somit sei das Sehen „a far more generally useful sense for data gathering“.⁶³ Geheimnisse oder Verheimlichtes, wie Hahn es versteht, haben wir ansatzweise im Beginn von ‚Maxims I‘ entdecken können und auch darin, wie Beowulf seine Auskunftsbereitschaft ausdrückt. Auch wenn Umsicht geboten ist bei dem Versuch, historisch aus lexikalischen Entwicklungen weitere Schlüsse zu ziehen: Die kognitive Einordnung der diskutierten Beispiele erlaubt vielleicht doch eine umfassendere These. Wir haben gerade gesehen, dass das lexikalische Feld der ‚Verborgenheit‘, das altenglisch vielfältig besetzt ist, im Lauf des Mittelenglischen quantitativ deutlich schrumpft. Adjektive wie altenglisch dyrne und digol werden entweder semantisch stark eingeschränkt oder verschwinden ganz aus dem Gebrauch. Das legt die Vermutung nahe, dass sich der kognitive Haushalt – und damit die volkssprachliche Rede davon – im Verlauf des Mittelalters umstrukturiert. Dem nachzugehen wäre eine interessante Aufgabe künftiger mediävistischer Forschung, die nur interdisziplinär bewältigt werden kann.
Der im März 2017 aktualisierte Eintrag für das Verb show im elektronischen Oxford English Dictionary (OED) kommentiert die Sonderentwicklung wie folgt: „In all the continental West Germanic languages the verb has the meaning ‚to look at‘ (compare sense 1), and the complex sense development shown in English, in particular the development of the causative sense ‚to cause to be seen‘ […], is unparalleled. Evidence for this development in Old English is comparatively late […]“ (letzter Zugriff am 01.10.17). Siehe DOE, s. v. heorcnian. Siehe DOE, s. v. hyran1 mit ca. 600 Belegen; s. v. gehyran mit ca. 4.400 Belegen. Siehe Anm. 1. Sweetser (Anm. 2), S. 41.
Janina Dillig
In der Haut des Anderen
Das Spiel mit Identität in ‚Salman und Morolf‘ Abstract: This contribution from the field of literary studies focuses on the question of identity, especially when identity becomes a secret through disguise. In the European Middle Ages, identity was formed by representation which is why Horst Wenzel calls its society a “culture of visibility”. Disguising ones identity then seems to be an offensive act and should therefore be sanctioned by society. Nevertheless, Middle High German Literature offers several examples of heroes who disguise themselves. One example is the epic story ‘Salman and Morolf’ where the hero Morolf widens his room of action instead of being sanctioned. This paper aims at examining the scenes where the hero disguises himself and shedding a light on how identity is constructed in the Medieval. Keywords: ,Salman und Morolf‘, Identität, Maske, Repräsentation, Hybridität, Identitätsverlust „Flieht in’s Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsle! Oder wenigstens ein Wenig fürchte!“¹ fordert Friedrich Nietzsche in seinem Spätwerk ‚Jenseits von Gut und Böse‘ all jene auf, die Wahrheit und Erkenntnis schätzen. Er begründet den Nutzen der Maske damit, dass sie vor Unwissenden und Ignoranten Schutz biete. Schutz ist tatsächlich die häufigste Rechtfertigung für Masken in der Literatur und das gilt in der Neuzeit wie im Mittelalter. Während es in Erzählungen der Gegenwart beispielsweise Superhelden sind, die ihre bürgerliche Identität durch eine Maske schützen, nutzen auch im europäischen Mittelalter die Helden zahlreicher epischer Texte Masken. In der mittelhochdeutschen Literatur sind dies ganz besonders die Helden jener Texte, die heute zumeist unter dem Gattungsbegriff ‚Brautwerbungsepik‘ subsummiert werden.² In diesen Geschichten geht es darum, eine Frau als Braut zu
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, mit einem Nachwort von Volker Gerhardt (Reclams Universal Bibliothek 7114), Stuttgart 1988, S. 32. Unter dem Stichwort ‚Brautwerbungsepik‘ fasst man in der Forschung aktuell Texte wie den ‚König Rother‘, ‚St. Oswald‘, ‚Orendel‘, ‚Ortnit‘, ‚Dukus Horant‘, ‚Kudrun‘ und ‚Salman und Morolf‘ mangels eines besseren Gattungsbegriffes, obwohl die Texte neben Elementen des Brautwerbungsschemas wenig Gemeinsamkeiten besitzen. Die Alternative des Gattungsbegriffs der sog. Spielsmannsepik ist aber noch viel problematischer, vgl. z. B. Rabea Kohnen, Die Braut des Königs. Zur interreligiösen Dr. Janina Dillig, Universität Bamberg, 96045 Bamberg, Kapuzinerstr. 18, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-018
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gewinnen, die sich nicht innerhalb des eigenen Territoriums, sondern in einem fremden Handlungsraum befindet.³ Weil dieser fremde Handlungsraum für den Werber zumeist nur unter Todesgefahr betretbar ist, nutzt der Werber in vielen Erzählungen Masken, um sich zu schützen. Ein Beispiel eines solchen Textes, in dem der Protagonist eine Vielzahl von Masken trägt, ist ‚Salman und Morolf‘.⁴ Die Erzählung ist uns in vier Handschriften, drei beschriebenen Fragmenten und zwei Drucken bezeugt und obwohl diese Überlieferungszeugen alle frühestens aus dem 15. Jahrhundert stammen, wird ‚Salman und Morolf‘ aufgrund zahlreicher intertextueller Verweise in der Forschung auf das späte 12. Jahrhundert datiert.⁵ Das Schema der Brautwerbung wird darin aber nicht schemagerecht erzählt, sondern es werden mehrere Brautwerbungserzählungen verschachtelt und variiert. Auch werden die Masken kaum von König Salman genutzt, obwohl er derjenige ist, der in der Erzählung Salme als Frau (zurück)gewinnen will, sondern von Salmans Bruder Morolf in dessen Funktion als ‚Werbungshelfer‘. Die Figur des Werbungshelfers ist als unentbehrliche Hilfe des Brautwerbers zu verstehen, die aber zugleich aufgrund ihrer Fähigkeiten oft den eigentlichen Brautwerber übertrifft.⁶ Konkret beginnt die Handlung von ‚Salman und Morolf‘ mit einer bereits abgeschlossenen Brautwerbung: Der König von Jerusalem, Salman, hat seine Frau Salme
Dynamik der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen (Hermea 133), Berlin, Boston 2014, S. 7– 13. Das Schema der Brautwerbung wird tatsächlich nur selten schemagerecht auserzählt, sondern in fast allen überlieferten Texten in irgendeiner Form immer auch gebrochen, vgl. z. B. Monika Schulz, Die falsche Braut: Imperative feudaler Herrschaft in Texten um 1200. Zur Instrumentalisierung des nudus consensus in den sogenannten ‚Spielmannsepen‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), S. 1– 20. Salman und Morolf, hrsg. von Alfred Karnein (Althochdeutsche Textbibliothek 85), Tübingen 1979. Der vorliegende Beitrag beruht methodisch auf einer Untersuchung des Zusammenhangs von Identität und Maske in den Tristanbearbeitungen, vgl. Janina Dillig, Identität und Maske. Die Aneignung des Anderen in den Tristanbearbeitungen des 12. und 13. Jahrhunderts (Imagines Medii Aevi 43), Wiesbaden 2019. Vgl. Mike Malm, Salman und Morolf, in: Wolfgang Achnitz (Hg.), Deutsches Literatur-Lexikon – Das Mittelalter. Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen, Bd. 5, Berlin 2013, Sp. 142 und http:// www.handschriftencensus.de/werke/979, (letzter Zugriff am 01.05. 2019). So zitiert etwa Chrétien de Troyes in seinem ‚Cligès‘ die erste Entführung Salmes und damit dezidiert ein zentrales Handlungselement des mhd. ‚Salman und Morolf‘: Cligès Chrétien de Troyes, auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster, hrsg. v. Ingrid Kasten, Berlin, New York 2006, hier V. 5876 – 5878: Lors lor sovint de Salemon, / que sa fame tant le haï, / qu’an huise de mort le traï.. Übersetzung Kasten, S. 323: „Da kam ihm Salomon in den Sinn, / den seine Frau so sehr hasste, / dass sie ihn betrog, indem sie sich tot stellte“. Solche intertextuellen Belege beweisen eine Bekanntheit der zentralen Handlungszüge des Brautwerbungsepos ‚Salman und Morolf‘ bereits im 12. Jahrhundert, vgl. Sabine Griese, Salomon und Markolf. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Studien zu Überlieferung und Interpretation (Hermea 81), Tübingen 1999, S. 3 und 77. Vgl. Christian Schmid-Cadalbert, Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur (Bibliotheca Germanica, 28), Bern, Basel 1985, S. 85.
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aus einem heidnischen Land auf der anderen Seite des Meeres geholt.⁷ Zu Handlungsbeginn leben die beiden zusammen bis dem christlichen König Salman seine Frau Salme zweimal von heidnischen Fürsten mit Hilfe von Zauber geraubt wird und er sie aus fremden Ländern zurückholen muss. Beide Male ist es sein Bruder Morolf, der auszieht, Salme zu finden und Salman hilft, sie zurück nach Jerusalem zu bringen. Während der Rückholaktionen kommt es zu zehn Maskenepisoden, in denen zumeist Morolf seine Identität durch ein Verdecken von Körper(‐teilen) und einem Anlegen von ‚falschen‘ Identitätszeichen zu einem Geheimnis macht. Dieses Verbergen von Identität hinter einer Maske aber sollte nach gängiger Forschungsmeinung zu Identität im europäischen Mittelalter eigentlich gar nicht möglich sein, denn in einer „Kultur der Sichtbarkeit“⁸, wie Horst Wenzel das europäische Mittelalter beschreibt, kann es keine verborgene, nicht öffentlich sichtbare Identität geben. Eine Verortung des Einzelnen in der Gesellschaft geschieht über öffentliche Repräsentation, d. h. Schein ist in der Kultur des europäischen Mittelalters auch Sein. Armin Schulz spricht diesbezüglich von einer „Ideologie des adeligen Körpers“⁹ in der höfischen Literatur und beschreibt damit die Wirkung des Heldenkörpers und seine Ausstattung auf den mittelalterlichen Rezipienten, dessen strahlendes Äußeres die art des Protagonisten veranschaulicht. Adelige Körper sind demnach von kostbarer Kleidung umhüllt, von glänzenden Rüstungen, aber diese Hüllen sind niemals bloß Äußerliches. Körper und Kleidung, Haut und Haar, edle Stoffe, Steine und Metalle bilden in ihrer visuellen Pracht eine Einheit. Das Äußere macht alle Tugenden, allen Adel anschaulich.¹⁰ Neben dem Körper stehen weitere Identitätszeichen wie beispielsweise Kleidung, Haut, Gestik, Sprache oder der Name. Diese ‚soziale Hülle‘ kennzeichnet Identität. Unter diesen Voraussetzungen erscheint es problematisch, wenn ein mittelalterlicher Protagonist sich maskiert und dennoch seine Identität irgendwie erhalten bleibt, denn wenn eine Maske und nicht Identität öffentlich repräsentiert wird, liegt ein forschungstheoretischer Grenzfall vor. Szenen, in denen Masken getragen werden, sind deshalb von besonderem Interesse, wenn es um die spezifischen historischen Voraussetzungen von Identität im Mittelalter geht.
Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 2– 3: Er [Salman] nam ein wip von Endian, / eins heiden dochter her und lobesam. / durch sie wart manig helt verlorn. / ez was ein ubel stunde, / daz sie an die welt wart geborn. // Ir vatter hiez Crispian. / Salmon im si sunder sinen danc nam, / er furte si uber den wilden se, / er hatte sie gewalticliche / uf der guten burge Jherusale. Horst Wenzel, Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 216), Berlin 2009, S. 11. Armin Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik (Münchner Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 135), Tübingen 2008, S. 7. A. Schulz (Anm. 9), S. 7.
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1 Haut als Maske In der Erzählung ‚Salman und Morolf‘ wird die Verwendung von Masken durch Morolf bereits zu Beginn in einer verstörenden Szene eingeführt. Morolf wendet sich hilfesuchend an den greisen Juden Berman, der ihn ahnungslos in sein Haus einlädt. Dort aber ermordet Morolf Berman, häutet den Leichnam, gerbt die Haut und streift sich die Haut des Juden über. Die Haut des Juden wird ihm zur Maske.¹¹ Weder die Maske noch der Mord aber werden vom Erzähler als Normbruch dargestellt, sondern sie dienen einzig zur Unterstreichung der list des Protagonisten: ¹² der vil listige man, er hette der lande vil erfarn. inn der hute ging der ritter lobesan in allen den geberden, als were sie im gewachssen an. ¹³
Die list ist das wichtigste Charakteristikum Morolfs; 79 Mal wird Morolf als listiger man beschrieben.¹⁴ Die list dient hier aber noch nicht der Identifizierung Morolfs, sondern ermöglicht die Maskierung und die damit verbundene Geheimhaltung von Identität. In der Haut des Juden Berman tritt Morolf vor König Salman täuscht den eigenen Bruder erfolgreich. Er kann sogar einen Ring erbitten, den der großzügige König dem scheinbaren alten Bettler überlässt. Während Morolf die Haut trägt, wird er aber weiterhin als ritter beschrieben – er bleibt also Morolf, obwohl er seine Identität hinter einer Maske verborgen hat. Das aber bedeutet nicht, dass Identität Ausdruck einer Substanz ist, die quasi prädiskursiv vorhanden ist, sondern dieser Identitätserhalt gilt lediglich für die Rezipienten. Innerhalb der Erzählung kann Morolf alle täuschen und tritt als alter Mann auf. Das ändert sich erst, als Morolf die fremde Haut ab- und wieder standesgemäße Kleidung anlegt: Also kam der listige man unerkant von dem kunig lobesan. er ging in ein schone kamenate dan, abe zoch er des juden hut, gut scharlach cleider leit er an. ¹⁵
Zuletzt hat Tina Boyer die Szene genauer untersucht, vgl. Tina Boyer, Murder and Morality in Salman und Morolf, in: Journal of English and Germanic Philology 115 (2016), S. 39 – 60. So wird die Szene auch schon vor dem 15. Jahrhundert in der mittelhochdeutschen Überlieferung rezipiert, vgl. Boyer (Anm. 11), S. 45. Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 163. Vgl. MHDBDB am 06.08. 2017. Die Datenbank findet 80 Treffer, einmal aber ist es König Fore, der als listiger man bezeichnet wird, vgl. ‚Salman und Morolf‘ (Anm. 4), Str. 92. Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 169.
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Den Sitten des Hofes entsprechend gekleidet tritt Morolf öffentlich vor seinen Bruder und weist dort den Ring vor, den er maskiert von Salman als Geschenk erbeten hatte: damit wird für alle deutlich, dass der scheinbar alte Mann in Wirklichkeit der maskierte Morolf war und nun dient die Maske auch im Kontext der Erzählung als Affirmation der list Morolfs. Von freuden kuste ine der kunig rich: er sprach: ‚lieber Morolff, din liste sint wunderlich. vor den kann sich nieman wol bewarn in aller dirre welte, wo du wilt in dem lande varn. ¹⁶
Durch die öffentliche Anerkennung der Maske Morolfs wird diese weiterhin nicht negativ konnotiert oder gar sanktioniert. Dass die Umkleidung und die Aufklärung der Maske aber erzählt werden muss, zeigt, dass Identität performativ gebildet und beständig aktualisiert werden muss. Um die Formation von Identität methodisch greifbar zu machen, helfen die diskurstheoretischen Begrifflichkeiten von Michel Foucault und Judith Butler. Foucault bezeichnet die grundlegende Machtordnung einer Gesellschaft als Diskurs. Basis und kleinstes Element eines Diskurses sind Aussagen, die von Individuen getätigt werden müssen. Das Individuum aber existiert nicht unabhängig vom Diskurs, sondern muss sich, um ein Aussagerecht zu erhalten, den Regeln des Diskurses unterwerfen und wird dadurch als Subjekt formatiert. Die Formationsregeln des Diskurses bezeichnet Foucault als „Existenzbedingungen (aber auch Bedingungen der Koexistenz, der Aufrechterhaltung, der Modifizierung und des Verschwindens) in einer gegebenen diskursiven Verteilung“¹⁷. Die Unterwerfung unter diese Existenzbedingungen bzw. gesellschaftlichen Normen ist Vorrausetzung für Identität: „Die Identität des Einzelnen entsteht, wenn er sein eigenes Sein im Verhältnis zu dieser Norm, die ihm gar nicht bewusst sein muss, abgleicht.“¹⁸ Judith Butler bezeichnet diese Unterwerfung unter die Normen des Diskurses als Subjektivation, um damit auf deren zweifache Wirkung hinzuweisen, denn die Annahme von Identität erlaubt auch Handlungsfähigkeit. Subjektivation steht für „den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung“¹⁹. Dieser Prozess aber ist eigentlich irreversibel, denn hat ein Individuum eine Identität angenommen, kann es sie nicht mehr vollständig verwerfen,
Ebd., Str. 172. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, in: Michel Foucault: Die Hauptwerke, hrsg. v. Axel Honneth u. Michael Saar, Frankfurt am Main 2008, S. 471– 699, hier S. 513. Dirk Daiber, Subjekt – Freiheit – Widerstand. Die Stellung des Subjekts im Denken Foucaults, Konstanz 1999, S. 78. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (edition suhrkamp 1744), Frankfurt am Main 2001, S. 8.
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sondern nach Butler nur noch transformieren.²⁰ In diesem Sinn kann eine einmalige Maskierung die Identität Morolfs nicht aufheben, er muss aber nach diesem Bruch mit seinen Formationsregeln seine Identität sehr wohl öffentlich erneuern. Deshalb dient die Maskierung erst nach der Bestätigung von Morolfs Identität durch König Salman einer Unterstreichung der list Morolfs. Gleichzeitig aber bleibt die Maskierung nicht folgenlos, sondern wird zum Handlungsauslöser: Weil die Maske die Klugheit Morolfs affirmiert, lässt sich König Salman davon überzeugen, dass Morolf in der Lage ist, Salme für ihn unerkannt zu finden. Damit konnte Morolf mit Hilfe der Maske etwas erreichen, was ihm ohne Maske nicht möglich war. Methodisch lässt sich dies erklären, weil Morolf mit dem Anlegen der Haut des Juden Berman temporär seine Subjektivation aufgibt und sich anderen Identitätskategorien unterwirft. Diese zweite Subjektivation durch die Maske stellt aber keine doppelte Unterwerfung und damit die Aufgabe jeglicher Handlungsfähigkeit dar, sondern bedeutet für den Maskenträger eine zweite „Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit“²¹, die dem Maskenträger einen anderen Handlungsspielraum eröffnet. Das Tragen der Maske verschafft Morolf deshalb zusätzlichen Aktionsradius. Dennoch lässt die Szene vom Mord am Juden Berman durch Morolf den Rezipienten fassungslos zurück und viele Interpreten weisen darauf hin, dass diese erste Maske Morolfs im Vergleich mit anderen Maskenszenen in ‚Salman und Morolf‘ überzeichnet wirkt, denn Morolf muss im Verlauf der Erzählung nicht erneut einen Mord für eine Maske begehen.²² Theoretisch aber vollzieht Morolf eine vollständige Maskierung: Nach Foucault ist das zentrale Medium der Unterwerfung der Körper, denn dadurch kann das Individuum diszipliniert werden.²³ Statt nur seinen Körper oder Körperteile zu verbergen, trägt Morolf mit der Haut des Juden Berman regelrecht einen anderen Körper. Dieser andere Körper wird konträr zu Morolfs Körper markiert, denn Berman wird über die Identitätskategorien Religion, Stand und Alter als different bzw. marginalisiert gekennzeichnet. Morolf eignet sich damit vollständig andere Identitätskategorien an. Und obwohl er dies nur temporär tut, löscht er vor dem Tragen dieser Identität den Anderen durch Mord vollständig aus. So werden Mord, Häutung, Gerbung und das Ankleiden mit der Haut Bermans zu Tätigkeiten der Aneignung von anderen Identitätskategorien, die Morolf zusätzlichen Handlungsraum ermöglicht. Maskierung wird hier nicht nur partiell, sondern auf allen materiellen Ebenen durchgeführt.²⁴
Vgl. ebd., S. 97. Butler (Anm. 19), S. 19. Vgl. Boyer (Anm. 11), S. 40. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, in: Michel Foucault: Die Hauptwerke, hrsg. v. Axel Honneth u. Michael Saar, Frankfurt am Main 2008, S. 700 – 1019. Im Sinne von Ronja Flick lässt sich das Groteske der Mordszene ebenso wie die skatologischen Szenen als Gestikulation verstehen, da sie keine wirkliche Funktion hat und völlig übertrieben wirkt. Trotz oder eben auch gerade wegen ihrer Groteskheit ist der Mord an Berman letztendlich stabilisierend
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2 Maske und Identität Die narrative Bedeutung der Demonstration dieser Kompetenz Morolfs als Maskenträger zeigt sich während Morolfs Suche nach Salme. Sieben Jahre durchwandert Morolf die Welt bis er in Wendelsee eine Frau findet, von der er meint, es könnte Salme sein. Um sie sicher identifizieren zu können, muss er den Hof von König Fore betreten – der ihm aber als Morolf nicht offen steht. Deshalb streift Morolf erneut die Haut des Juden Berman über und baut die Maske als Greis sogar durch weitere Identitätszeichen aus: Morolff Salmons drut sloff zu dem andern male in die hut. einen kotzen leit er an, einen balmen uff den rucken, ein krucke er under sin achssel nam ²⁵
Humpelnd kann der maskierte Morolf erneut seinen ihm eigentlich zustehenden Handlungsspielraum erweitern, den Hof König Fores betreten und sich später sogar Salme nähern, um sie zu identifizieren. Damit wird die zentrale Rolle von Maskenepisoden im Rahmen des ‚Brautwerbungsschemas‘ deutlich, denn bei diesem Erzählschema steht der narrative Effekt der Grenzüberschreitung im Zentrum. Das Schema beruht auf einer mindestens bipolaren Raumstruktur, und der Werber bzw. der Werbungshelfer Morolf muss von seinem genuinen Handlungszentrum in ein ihm feindlich gesonnenes Handlungszentrum gelangen.²⁶ Dabei wird der Werber durch die räumliche Untergliederung der Erzählung und die daraus resultierende Grenzüberschreitung zum handlungstragenden Held und die Überschreitung der Grenze zwischen den erzählten Polen wird das eigentliche ‚Sujet‘ der Handlung im Sinne Lotmanns.²⁷ Möglich wird Morolf diese Grenzüberschreitung durch das Verbergen seiner Identität durch eine Maske. Der Zusammenhang von Maske und Identität scheint demzufolge im Sinne des Eingangs verwendeten Nietzschezitats darauf zu beruhen, dass die Maske einem Individuum Schutz bietet und dadurch zu einem „Vehikel [wird], das das Tor zur ‚an-
für die (christlichen) Normen, vgl. Ronja Flick, Morolfs Verwandlungen. Überlegungen zur Rezeptionslenkung in den spätmittelalterlichen illustrierten Handschriften und Drucken von ‚Salman und Morolf‘, in: Sprechen, Schreiben, Handeln: interdisziplinäre Beiträge zur Performativität mittelalterlicher Texte, hrsg. v. Annika Bostelmann, Doreen Brandt, Kirstin Skottki u. Hellmut Braun, Münster, New York 2017. Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 185. Vgl. zu Brautwerbungsschema neben Schmid-Cadalbert (Anm. 6) auch: Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, hrsg. v. Manuel Braun, Alexandra Dunkel u. Jan-Dirk Müller, Berlin, New York 2012, S. 193. Vgl. Jurij Lotmann, Die Struktur des künstlerischen Textes, hrsg. v. Rainer Grübel (edition suhrkamp 582), Frankfurt am Main 1973, S. 357.
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deren Welt‘, zu fremden bzw. gegnerischen Bereichen öffnet“²⁸. Doch ist diese Möglichkeit der Grenzüberschreitung nicht völlig gefahrlos, denn es besteht immer die Gefahr der Demaskierung. So hat auch die Maske Morolfs keine vollständige Perfektion, denn das Verhalten Morolfs entspricht für seine Gegenüber nicht immer seiner äußeren Erscheinung. Zwar kann Morolf den Hof von König Fore betreten, doch nach seiner Ankunft in Wendelsee setzt sich Morolf unter eine Linde, obwohl die dort stehende Tribüne nur für Angehörige des Adels gedacht ist: Uff dem hoffe stunt ein linde, die was breit, als uns die aventuer seit. dar under stunde ein gestule wonesan, da geturste nieman uff gesitzen, er were dann von art ein edelman. ²⁹
Als man Morolf vertreiben will, bleibt dieser sitzen und wehrt sich erfolgreich gegen jene, die ihn vertreiben sollen: da erwerte er sich vil schiere / Morolff der tegen lobesan. ³⁰ Trotz seiner Erscheinung wird sein Stand danach öffentlich anerkannt: Konig Foren lachen da began, er sprach: ‚lant ruwen den ellenden man. ich han an sinem libe uß erkorn und prieff an sinen geberden, er ist von hoher art geborn.‘³¹
Es kommt aber zu keiner vollständigen Demaskierung Morolfs, denn König Fore spricht diese Anerkennung Morolfs als Adeligen lachend aus und sie wirkt im Rahmen der Binnenhandlung als ironische Geste des Herrschers, der die Hofgesellschaft amüsiert. Für die Rezipienten bedeutet die Szene eine Demonstration der Identität Morolfs trotz der falschen Haut. Diese Identität besteht auch nachdem Morolf als Pilger am Hofe aufgenommen wurde, denn unter der Haut des Juden trägt Morolf weiterhin eine Rüstung: Morolff truge an dem libe sin ein gut pantzer von stahel, das nam war ein junge hertzogin. ³²
Das Identitätszeichen des Ritters und Heros, die Rüstung, fungiert hier sozusagen als richtige Haut und Morolf weckt nicht nur den Argwohn der Herzogin, sondern auch
Edith Feistner, Rollenspiel und Figurenidentität. Zum Motiv der Verkleidung in der mittelalterlichen Literatur, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 257– 269, hier S. 258. Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 188. Ebd., Str. 193, V. 4– 5. Ebd., Str. 195 Ebd., Str. 213 – 214, V. 1– 3.
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den Argwohn Salmes, die ihn aber zunächst nicht erkennt. Stattdessen gelingt es ihm mit Hilfe der Maske des Greisen mit Salme zu interagieren und sie so zu identifizieren. Danach aber kann Salme auch ihn demaskieren. Dies geschieht jedoch nicht anhand des Äußeren Morolfs, sondern über die Identitätskategorie der Religion: Morolf tritt am Hofe Fore als Sänger auf und beschränkt sich dabei nicht auf heidnische Lieder: die stime die waß wonesam, als sie der künig Davit uß drien buchern nam ³³
Anhand der christlichen Lieder wird die wirkliche Identität des scheinbaren Greisen für Königin Salme eindeutig: Da sprach die frauwe wolgetan: ‚nü swig und laß die rede stan. du bist Morolff, Salmans man. kumet mir der kunig Fore, es muß dir an din leben gan.‘ ³⁴
Nur Salme, die selbst getauft ist, kann die jüdisch-christlichen Lieder identifizieren. Sie ist in der heidnischen Gesellschaft am Hofe König Fores die einzige, die Morolf ebenbürtig ist und aus diesem Grund kann sie nun Morolf erkennen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass Salme am fremden Hof zur einzigen Garantin von Morolfs Identität wird, denn sie hebt nicht nur die Maske auf, sondern stellt auch die Identität Morolfs durch ihre Aussage wieder her. Wie wichtig diese öffentliche Anerkennung seiner Identität ist, zeigt sich nochmals, als der desmaskierte Morolf flieht und nach Jerusalem zurückkehrt. Dort war die lange Abwesenheit ebenso wie das Tragen der fremden Haut des Juden nicht folgenlos, denn die Vollkommenheit von Morolfs adeligen Körper und damit auch dessen repräsentative Funktion ist zunächst beeinträchtigt. Morolf wird in Jerusalem nach seiner langen Abwesenheit nicht mehr als Morolf erkannt: Do sach er den kung Salmon stan under menge werden dienstman. do erkant niemant den elenden man, dar umb der tegen edele vil trübe ougen do gewan. Sin har was im worden halbes gra, da erkante Morolff niemant da. Salmon wollte von dannen gan,
Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 252, V. 4– 6. Ebd., Str. 258.
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Morolff der stolcze tegen her, der batt in ein wille stan. ³⁵
Ähnlich wie nach dem ersten Tragen der Haut des Juden Berman muss Morolf seine Identität erneuern, diesmal sogar zweimal: einmal muss er seinem Bruder, König Salman, erklären, wer er ist, ein zweites Mal muss Morolf vor der versammelten Hofgesellschaft gegen einen Kämmerer seine kämpferische Überlegenheit beweisen. Erst danach wird seine Identität für den gesamten Hof in Jerusalem wiederhergestellt: ‚der kamerer muste den slag vertragen, den im der gut walbruder in die zene hat gesalgen. er sprach: ‚es ist Morolff, czeiget uns die liste sin, wie das wir sollent gewinnen die vil edele kunigin.‘ ³⁶
Damit zeigt sich, dass die Maske trotz Demaskierung durch Salme im ersten Rückholabenteuer die Identität Morolfs nicht aufhebt, aber sie hat sehr wohl Einfluss auf seine Identität, denn Morolf erschließt sich maskiert am Hof von König Fore einen Handlungsraum, der durch Hybridität im Sinne Homi Bhabhas gekennzeichnet ist, dessen Ergebnisse auch auf Maskierungen übertragbar sind, weil er Körper und Identität räumlich versteht. So entsteht nach Bhabha bei Migration durch das „Überlappen und De-plazieren (displacement) von Differenzbereichen“³⁷ wie unterschiedliche Religionen ein dritter Raum als Zwischenraum. In solchen Zwischenräumen wird die Hierarchie von kulturellen Identifikationsmöglichkeiten aufgehoben und es entsteht ein „Darüber hinaus“³⁸. Bhabha versteht dieses ‚Darüber hinaus‘ als einen eigenen, hybriden Schwellenraum der Machtaneignung, der durch die Prozesshaftigkeit von Identität ermöglicht wird. Das Selbst in diesem Schwellenraum nennt Bhabha ein hybrides Selbst, dem eine eigene Form von Handlungsmacht gestanden wird, weil das Individuum im Ort des ‚Darüber hinaus‘ neu konstituiert wird.³⁹ Nicht nur aber lässt sich Migration als ein ‚Akt des Darüber hinaus‘ verstehen, sondern auch das Anlegen einer Maske ist ein solcher Akt, weil dabei andere Identitätskategorien temporär angenommen werden.
Ebd., Str. 347– 348. Ebd., Str. 368 Homi K. Bhabha, Verortungen der Kultur, in: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius u. Therese Steffen (Hgg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 123 – 148, hier S. 124. Ebd., S. 127. Vgl. Michael Göhlich u. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie, in: Benjamin Jörissen u. Jörg Zirfas (Hgg.), Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden 2010, S. 315 – 330, hier S. 325.
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Bei einem einmaligen Akt der Verkleidung wie die Maskierung Morolfs mit der Haut des Juden Berman führt die Erschließung dieses hybriden Handlungsraumes nicht zu einem Verlust von Identität. Morolf muss nur nach Ablegen der Maske seine Identität neu affirmieren. Schwieriger aber wird es im Angesicht von pluralen Masken, denn das Konzept der hybriden Identität Bhabhas erlaubt durch wiederholtes Betreten des Schwellenraums eine Verschiebung von Grenzen und Machtstrukturen. Für den Maskenträger Morolf bedeutet dies, dass das Tragen der Maske als ‚Akt des Darüberhinausgehens‘ hybride Handlungsmächtigkeit bedeuten kann, aber bei einer Iteration der Maske die Gefahr der Veränderung von Identität oder auch des Identitätsverlustes besteht.
3 Iteration der Maske Das zeigt sich im zweiten Teil von ‚Salman und Morolf‘, denn Salmes Rückkehr nach Jerusalem ist nicht von Dauer. Sie wird erneut entführt; beim zweiten Mal von König Principan. Wieder findet Morolf Salme, doch wird diesmal die Haut Bermans nicht erwähnt. Um das Land König Princians betreten zu können, verkleidet Morolf sich zunächst als Krüppel und kann maskiert sogar von Principan selbst erfahren, wo Salme sich aufhält. Diese neue Maske erlaubt ihm wie auch schon die Maskierung mit der Haut des Juden Zugang zu einem feindlichen Hof, sie hat also den gleichen Effekt. Dann aber gerät Morolf in Gefahr, denn Salme beweist sich erneut als die Ebenbürtige Morolfs und demaskiert ihn auch diesmal. Um fliehen zu können, maskiert sich Morolf nun als Pilger. Als Pilger kann er König Principan auf eine falsche Fährte locken und bevor dieser ihn erkennt, wechselt er die Kleidung und tritt als Spielmann auf. Sein Gesang kann den Kämmerer König Princians so faszinieren, dass er erneut entkommen kann. Und kurz bevor er erneut demaskiert wird, gelingt es ihm, die Stadt Akkon in der Maske eines Metzgers zu betreten, um dann mit finanziellem Gewinn in der Kleidung eines Krämers aus Akkon über das Meer zu Salman zurückzukehren. Diese Aneinanderreihung unterschiedlicher Masken dient wie schon die Maske im ersten Teil der Sicherheit des Protagonisten im fremden Handlungsraum, der diesen Dank ihrer Hilfe nicht nur betreten, sondern auch wieder verlassen kann. Die Maskierungen im zweiten Teil aber folgen in einer so schnellen Abfolge, dass die Identität Morolfs zunehmend schwieriger erkennbar wird, wenn sich auch König Principan folgendermaßen äußert: Da das der heiden vernam, er sprach ‚schone frauwe wol gethan, sol niemant uff der strassen gan essis alles Morolff, daz muß mich umer wunder han. ⁴⁰
Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 698.
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Wer Morolf, wer nicht Morolf und wer die Maske ist, wird im zweiten Teil durch die Pluralität der Masken uneindeutig, weshalb Otto Neudeck an dieser Stelle festhält: Wenn in letzter Konsequenz jeder Morolf und Morolf jeder sein kann, ist die eindeutige Zuordnung von außen und innen, ist die Identität von Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben. Indem der einzelne beliebig mit diesen Zuordnungen spielt, setzt er sich nicht nur über die Konventionalität der Zeichen, sondern noch weitergehend über die Verbindlichkeit von gesetzten, sichtbaren Ordnungen hinweg.⁴¹
Der listige Morolf verschwindet durch die schnelle und wiederholte Maskenabfolge hinter seinen Masken; durch seine wiederholte Aneignung eines Anderen wird schlussendlich seine Identität uneindeutig. Hans-Jürgen Bachorski konstatiert an dieser Stelle regelrecht einen Identitätsverlust Morolfs: eine „solche nicht faßbare Identität widerspricht aller ritterlichen Idealität“⁴². Es scheint, dass die Erschließung eines hybriden Handlungsraumes durch den Maskenträger Morolf die Identität Morolfs aufhebt. Dieser hybride Identitätsraum aber führt in dem vielleicht schon vor 1200 entstandenen Text ‚Salman und Morolf’ letztendlich nicht zu einer Aufhebung von Morolfs Identität, denn König Princian ist nicht die letzte Identifizierungsinstanz für Morolf. Obwohl sie sich so weit wie möglich von Morolf fernhält, kann Salme Morolf weiterhin identifizieren. Sie widerspricht König Princian: Do sprach die frauwe wol gethan: ‚daz was Morolff Salmons man. bringent mir den selben spielman. drissig marg des roten goldes sollent ir dar umb zu lone han.‘⁴³
Wie schon zuvor kann Salme Morolf erneut identifizieren und braucht zum Ende der Erzählung hin dafür nicht einmal mehr ein unverkennbares Identitätszeichen wie Religion oder Musik. Diesmal aber folgt anschließend keine Affirmation seiner Identität durch Morolf mehr, womit die Gegenspielerin Salme zu alleinigen Identifizierungsinstanz wird. Selbst wenn die Masken den Träger vollständig verbergen, kann Salme als die Ebenbürtige Morolfs seine Masken als Ausdruck seiner list erkennen. Damit verwundert es nicht, dass die Erzählung endet, wenn die Identifizierungsinstanz des Protagonisten Morolf stirbt. Denn nach Salmes Rückkehr lebt sie nicht mehr als Gattin Salmans, sondern die zweite Rückentführung Salmes zielt von Anfang an
Otto Neudeck, Grenzüberschreitung als erzählerisches Prinzip. Das Spiel mit der Fiktion in Salman und Morolf, in: Wolfgang Frühwald (Hg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4. – 7. Januar 1996, Tübingen 1998, S. 87– 114, hier S. 111. Hans-Jürgen Bachorski, Serialität,Variation und Spiel. Narrative Elemente in Salman und Morolf, in: Danielle Buschinger u.Wolfgang Spiewok (Hgg.), Heldensage – Heldenlied – Heldenepos (WodanGreifswalder Beiträge zum Mittelalter 12), Amiens 1992, S. 7– 29, hier S. 16. Salman und Morolf (Anm. 4), Str. 700.
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auf ihren Tod ab. Dies musste Salman seinem Bruder Morolf versprechen, noch bevor Morolf in das Land von König Princian aufbrach: Dô daz Môrolf ersach, daz dem kunige sô leide beschach: ‚kunig, woltest dû mir dîn trûwe geben, obe ich si herwider brêchte daz ich ir nême hie daz leben?‘ ⁴⁴
Kaum zurückgekehrt nach Jerusalem, erwürgt Morolf die nichtsahnende Salme im Bad: Dar inne ging die fraue wol gethan. Du knuwete vor sie der listige man, der dette ir laßen an der median, daz sage ich uch nit nach won. Er druckte sie also susse, das ir die sele lachende von irem munde schiet. Sie wuhste nit, wie es geriet. ⁴⁵
Mit dem Tode Salmes fällt die Gegenspielerin Morolfs weg ebenso wie der Auslöser für seine Grenzüberschreitungen und damit auch seine Maskierungen. Ohne Salme muss die Handlung zum Ende gebracht werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es trotz der zahlreichen Maskenepisoden in ‚Salman und Morolf’ zu keinem Identitätsverlust Morolfs kommt. Das komplizierte Spiel von Affirmierung von Identität nach dem Ablegen der Maske durch den Protagonisten und die Notwendigkeit einer Identifizierungsinstanz mit Salme zeigen aber, dass Masken und Identität eng zusammenhängen. Nicht nur bieten Masken Schutz, sondern sie stellen eine Form der Handlungsermächtigung dar, indem sie einen hybriden Handlungsraum erschließen. Morolf kann diesen Handlungsraum aktiv nutzen. Die von Morolf so oft eingesetzt Mobilität von Identität steht aber nicht jedem offen, was sich daran zeigt, dass Salme zwar den maskierten Morolf identifizieren kann, sie selbst aber keine Masken trägt. Im Gegenteil, sie verbirgt sich vor Morolf hinter hohen Mauern: er reit da er den kunig Princian und die kunigin in einer closen vant. sie truwete anderß niergent genesen uff dem gantzen ertrich, wollt sie vor Morolff da verwircket wesen. ⁴⁶
Ebd., Str. 614. Ebd., Str. 777 Ebd., Str. 625.
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Damit dienen die Masken in ‚Salman und Morolf‘ nicht nur dem Schutz des Protagonisten und erlauben es ihm, seinen Handlungsraum zu erweitern; der Kontrast mit Salme zeigt auch, dass Masken primär Medium männlicher Handlungskompetenz und Mobilität sind.
Antonella Sciancalepore
Out in the Wild
Imagining Public and Secret Identity Through Animals and Nature in Old French Literature Abstract: In Old French chansons de geste and romance, the movement of the knight between the court and the forest described a trajectory from the public sphere of courtly ideology into an alternative space, where human rules were partially suspended, and the character could grow a new identity. In those genres, the contact with wild nature actively transforms the knight’s habits and body towards an animal-like configuration, before he sheds the animality and returns, improved, inside the court. There are some instances, however, in which the animal is not fully dismissed at the end, and the knight keeps simultaneously both identities, a public one within society, and a secret one outside of it. The animal in those episodes takes a particularly ambiguous role: while chivalric culture normally uses animal symbolism as a public display of knightly virtues (as in genealogical legends and heraldry), here the animal identity is kept hidden, and designates a more problematic avatar of the character. In this article, the author analyses three 12th-century texts in which the knight negotiates his social identity through a secret human/animal alternation: Chrétien de Troyes’ ‘Chevalier au Lion’, Marie de France’s ‘Lai de Bisclavret’ and Beroul’s ‘Tristan’. By doing so, the author demonstrates that these texts use nature and animals to represent the transgression of social roles and the tension between public and secret identities. Keywords: French literature, narrative tools, symbolism, construction of identity, hidden identity, public and secret
1 Introduction Wilderness in medieval culture is both an imagined and a real space. As such, in spite of the urban development, deforestation and environment domestication advancing steadily from the 8th until the 13th century,¹ the forest retains an important place in the imagination of medieval Europe as a space where human laws are sub-
Roland Bechmann, Des arbres et des hommes. La forêt au Moyen-Âge, Paris 1984, pp. 99 – 135. In late antiquity the advancement of wilderness forced European communities to come to terms with the forest, which becomes both a menace and an important pillar of the economy: see for instance Vito Fumagalli, Paesaggi della paura. Vita e natura nel Medioevo, Bologna, 1994. Dr. Antonella Sciancalepore, Université Catholique de Louvain, INCAL, Place Blaise Pascal 1, 1348 Louvain-La-Neuve, Belgium, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110698541-019
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verted, and cultural and social structures lose their validity.² As Pierre Toubert and Jacques Le Goff both highlighted long ago, the wilderness that lay outside of human dwellings constitutes the ever-present internal frontier of medieval life and imagination.³ The characterisation of wilderness as both familiar and alien in the medieval imagination is responsible for the recurrent descriptions found in 12th-century French literature of the forest as a place that is at once well populated yet unsuitable for human life. This situation partially reflects the reality of medieval Europe, where the forest harboured productive members of society – such as foresters, shepherds, charcoal merchants and burners –⁴ as well as a wide range of ‘marginals’ who lived on the very edges of society either by choice – such as hermits – or because they had been ostracised by their own community – such as outlaws, lepers and the mentally ill.⁵ However, in romance and chansons de geste, the representation of the forest as an environment that existed in stark opposition to both city and court is emphasised to the point that the productive forest-dwellers disappear from the texts, leaving behind a wilderness almost exclusively inhabited by socially marginal humans and dangerous forces both natural and supernatural. The forest thus acquired a hybrid position in the imagined landscape of the medieval period, whilst the wilderness, and the ways human characters related to it, played a key role. When the heroes of chivalric literature enter the forest, they tend to undergo some sort of identity shift. The movement of the knight away from the court and into the wilderness designated a movement from the public sphere of courtly ideology into an alternative space, where human rules were partially suspended and the character could foster a new identity that incorporated both natural and animalistic features. Most French epic and romance texts portray life in the wild, and the consequent shift in identity it causes, as a formative experience: contact with wild nature actively transforms the knight’s body and habits, before he overcomes his animality and returns, improved, to the court’s public sphere. In some texts, however, the alternation between court and forest does not end with a full dismissal of the animal. The knight comes to adopt both identities simultaneously: a public one,
The very word “wild” in romance languages (selvaggio in Italian, sauvage in French) has a very transparent etymological link with the late Latin silvaticus (